Jutta Hartmann · ado e.V. (Hrsg.) Perspektiven professioneller Opferhilfe
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Jutta Hartmann · ado e.V. (Hrsg.) Perspektiven professioneller Opferhilfe
VS RESEARCH
Jutta Hartmann · ado e.V. (Hrsg.)
Perspektiven professioneller Opferhilfe Theorie und Praxis eines interdisziplinären Handlungsfelds
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Herausgabe des Buches wurde gefördert von:
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: SatzReproService GmbH Jena Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17290-3
Vorwort
Straf- und insbesondere Gewalttaten gehen mit in ihrer Tragweite weithin unterschätzten sozialen und gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Menschen einher. Dem Sozialstaatsprinzip folgend setzt sich in Deutschland zunehmend der Anspruch durch, Opferhilfe als gesamtgesellschaftliche Aufgabe umzusetzen und Menschen nach einer Opferwerdung qualifizierte Unterstützung anzubieten. Professionelle Opferhilfe leistet einen Beitrag zur Bewältigung der mit Opfererfahrungen verbundenen Verletzungen und Schäden und zur Prävention sekundärer Viktimisierung. Sie entfaltet Relevanz unabhängig von einem möglichen Strafverfahren und – wenn es zu einem solchen kommt – vor, während und nach demselben. Der „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado) ist ein Dachverband professionell beratender Opferhilfeeinrichtungen in Deutschland. Im Jahr 2008 feierte er sein 20-jähriges Bestehen. Dies war Anlass, Entwicklungen und Perspektiven des vielschichtigen Praxisfelds der Opferhilfe zu reflektieren. Ein Ergebnis ist der vorliegende Band, der einen umfassenden Einblick in das interdisziplinär geprägte Arbeitsfeld aus wissenschaftlicher, rechtlicher, psycho-sozialer und praxisreflektierender wie praxisqualifizierender Perspektive bietet. Mit dem Ziel, in zentrale Belange professioneller Opferhilfe einzuführen, sind zentrale Entwicklungen und Erkenntnisse sowie Verfahren und Herausforderungen für die künftige Entwicklung dieses Bereiches zusammengestellt. Die Herausgeberinnen möchten sich bei dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, Gesamtverband Berlin, für die Beratung und Unterstützung der Arbeit des ado bedanken, ebenso bei der Deutschen Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. für die finanzielle Unterstützung des Weiterbildungsprojekts „Konzeption, modellhafte Erprobung und Evaluation bundesweiter Fortbildungsangebote für Menschen, die professionell mit Opfern von Gewalttaten arbeiten“ (2007–2010) sowie bei der Deutschen Klassenlotterie GlücksSpirale für die Ermöglichung des vorliegenden Bandes. Danken möchten wir darüber hinaus Rechtsanwalt Heinz Frese, Vorstand der Hanauer Hilfe e.V., dessen unermüdliches inhaltliches Engagement und Einwerben von Drittmitteln die Arbeit des ado auf unschätzbare Weise trägt. Unser besonderer Dank gilt den AutorInnen des vorliegenden Bandes, die aus Wissenschaft und Praxis kommend ihr Wissen und ihre Erfahrungen für uns systematisiert und zu Papier gebracht haben, sowie Ulla Ruschhaupt und Beate Keibel für das Endlektorat der Texte.
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Vorwort
Den LeserInnen wünschen wir einen anregenden Einblick in die unterschiedlichen Perspektiven professioneller Opferhilfe. März 2010 Jutta Hartmann und für den Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. Astrid Gutzeit und Karin Wagner, Vorstand
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Hartmann Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden. Opferhilfe als professionalisiertes Handlungsfeld Sozialer Arbeit . . . . . . . . I
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Forschungsergebnisse aus viktimologischer und psychotraumatologischer Perspektive
Michael Kilchling Veränderte Perspektiven auf die Rolle des Opfers im gesellschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Helmut Kury Entwicklungslinien und zentrale Befunde der Viktimologie . . . . . . . . . . . . . 51 Ursula Gast Seelische Verletzungen durch Opfererfahrungen und Möglichkeiten . . . . . . 73 der Heilung II
Reformimpulse und Status quo des Opferschutzes aus rechtlicher Perspektive
Brigitte Zypries Opferschutz weiter verbessern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Antony Pemberton/Carmen Rasquete Victims in Europe – Assessment of the Implementation of the Framework Decision on the Standing of Victims in Criminal Proceedings: Preliminary Results . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Beatrice Pawlik Rechte und Pflichten von Opfern im deutschen Rechtssystem . . . . . . . . . . . 113
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Inhaltsverzeichnis
Martina Linke Die Opferperspektive in der Berliner Polizei Zur notwendigen Vernetzung der Akteure der Opferhilfe . . . . . . . . . . . . . . . 147 III Allgemeine und zielgruppenspezifische Opferhilfe aus psychosozialer Perspektive Rosmarie Priet Fachberatung für Kriminalitätsopfer Opferberatung in der Opferhilfe Land Brandenburg e.V. . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Gesa Köbberling Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Bastian Finke Vorurteilsmotivierte Hassgewalt und diversityorientierte Beratung . . . . . . . 207 Barbara Kavemann Unterstützungsangebote bei Gewalt im Geschlechterverhältnis Innovationen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Friesa Fastie Professionelle Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche im Strafverfahren bei (sexualisierten) Gewalttaten im sozialen Nahraum – von Österreich lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 IV Entwicklungsherausforderungen aus praxisreflektierender und praxisqualifizierender Perspektive Hans-Joachim Görges/Lydia Hantke Supervision der professionellen Opferhilfe – Traumatisierung vermeiden helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Jutta Hartmann Weiterbildung als ein Beitrag zur Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe. Konzeptionelle Überlegungen und erste Erkenntnisse eines Praxisforschungsprojekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden. Opferhilfe als professionalisiertes Handlungsfeld Sozialer Arbeit Jutta Hartmann
Qualifizierte Opferhilfe ist zu einem Tätigkeitsschwerpunkt Sozialer Arbeit geworden. Als Profession leistet Soziale Arbeit spezifische Beiträge zu Prävention, Bewältigung und Lösung sozialer Probleme. Sie ist der Menschenwürde verpflichtet und an Rechtswahrung und Rechtsverwirklichung orientiert. Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat zu werden, stellt ein soziales und gesundheitliches Problem mit weithin unterschätzter Tragweite dar. Opferhilfe leistet einen Beitrag zur Bewältigung der damit einhergehenden Verletzungen und Schäden sowie zum Schutz bedeutsamer menschlicher Werte. Dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (GG Artikel 20) folgend, lässt sich ein direkter Anspruch von Opfern auf professionelle Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Situation ableiten. Dennoch ist Opferhilfe in Deutschland auf weiten Strecken mit privaten Einrichtungen verbunden, die Opferberatung in erster Linie mit fortgebildeten Laien ehrenamtlich durchführen. Vor dem Hintergrund, dass die AdressatInnen der Opferhilfe besonderen Verletzungsgefahren ausgesetzt sind und psychosoziale Beratung – verstanden als eine methodisch reflektierte problemzentrierte Interaktion, durch die Wissen vermittelt, Stabilisierung ermöglicht und Entscheidungshilfen gegeben werden – einer qualifizierten Ausbildung bedarf, kann eine nicht adäquate Arbeit hier gravierende Folgen für die Betroffenen mit sich bringen. Seit ca. 30 Jahren wird Opferhilfe auf verschiedenen Ebenen daher auch in professionellem Kontext durchgeführt und seit über 20 Jahren durch den Dachverband professioneller Opferhilfeeinrichtungen „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado) bundesweit vernetzt und befördert. Der vorliegende Beitrag beginnt mit einem kurzen Überblick über das vielgestaltige Feld der Opferhilfe (1). Entlang verschiedener Argumentationsstränge wird im zweiten Teil die Notwendigkeit einer professionellen Opferhilfe erörtert. Dabei folgen alle Argumentationen dem übergeordneten Ziel, in der konkreten Arbeit mit Opfern eine Hilfe zur Bewältigung der primären Viktimisierung und eine Prävention sekundärer Viktimisierung sicherzustellen (2). Bezug genommen wird auf die Notwendigkeit, das Phänomen der Opferwerdung zu begreifen, dem Anforderungsprofil der Opferhilfe zu folgen, das Sozialstaatsprinzip mit Blick auf Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden, zu achten sowie
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den europäischen Beschlüssen und Empfehlungen zur Stellung und Hilfe von Kriminalitätsopfern zu folgen. Im dritten Kapitel stehen Fragen zur Professionalisierung der Opferhilfe im Mittelpunkt (3): Inwiefern kann für dieses Praxisfeld von einem Professionalisierungsprozess gesprochen werden? Wodurch legitimiert sich Kompetenz im Sinne von Zuständigkeit und Können im Feld der Opferhilfe und wie vermittelt sich hier berufliche Identität (vgl. H. von Spiegel 2006: 49)? Schritte zur Etablierung des Handlungsfeldes aufgreifend wird auf die Arbeit des Bundesverbandes ado und die in diesem Rahmen entwickelten Opferhilfestandards und Weiterbildungsangebote sowie auf das Verhältnis zwischen professioneller hauptamtlicher und ehrenamtlicher Tätigkeit eingegangen. Fragen zur Professionalisierung im Feld Sozialer Arbeit gelten über den Gegenstand des Praxisfeldes hinaus in der Regel den Wissensbeständen, auf denen dieses gründet, und dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Diese werden Inhalt dieses Bandes sein und im vorliegenden Text abschließend skizziert (4). Damit soll ein Eindruck davon vermittelt werden, wo Opferhilfe als ein professionalisiertes Handlungsfeld Sozialer Arbeit heute steht.
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Opferhilfe – zu einem vielgestaltigen Handlungsfeld
Zwar hat das Feld der Opferhilfe in den letzten 30 Jahren einen beachtlichen Bedeutungszuwachs erfahren und sich der Opferschutz in Deutschland deutlich verbessert, doch erweist sich dieses Handlungsfeld Laien gegenüber zunächst als recht unübersichtlich. Dies ist besonders dann fatal, wenn Opfer einer Strafbzw. Gewalttat Unterstützung suchen. Peter Giese (2008: o. Seitenzahl) von der Hamburger Opferhilfe folgend ist „Opfer zu sein, ein komplexer Prozess“: „Wenn wir uns ansehen, mit wem das Opfer einer Straftat zu tun hat oder in Kontakt kommt bzw. welche Institutionen mit einem Opfer befasst sind, dann summieren sich diese schnell. Wird die Tat angezeigt, ist die Polizei der Ansprechpartner. Danach folgt die Justiz, eventuell nicht nur im strafrechtlichen Bereich, sondern auch im zivilrechtlichen, wenn es um Ansprüche des Opfers gegenüber dem Täter geht. Das Gesundheitswesen ist involviert, wenn das Opfer körperliche oder psychische Schäden erleidet, sei es über den stationären oder den ambulanten Bereich. Eventuell ist auch eine Einrichtung gefordert, die soziale Entschädigung bietet. Arbeitsrechtliche Aspekte können eine Rolle spielen, wenn die Tat am Arbeitsplatz passiert ist. Und nicht zuletzt sind Beratungseinrichtungen involviert.“
Der Begriff der „Opferhilfe“ steht für eine Unterstützung von Kriminalitätsopfern. Diese hat das Ziel, die Opferwerdung und die damit verbundene Viktimisierung besser verarbeiten und gegebenenfalls heilen zu können. Die dafür notwendigen Kenntnisse über die spezifischen Belange und Bedürfnisse von Opfern und Kompetenzen zum adäquaten Umgang mit diesen, benötigen Fachkräfte in all den genannten Bereichen. Der Begriff der „Opferunterstützung“ bringt die
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Autonomie des Opfers bei der Bewältigung des erlittenen Schadens durch die Straftat besser zum Ausdruck als der der „Opferhilfe“ (vgl. M. Baurmann/W. Schädler 1999: 28f.). Er impliziert, dass durch das Einsetzen eigener Ressourcen des Opfers beste Voraussetzungen geschaffen werden, um aus eigener Initiative wieder zu Kräften zu kommen. Er betont den Subjektstatus der Menschen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind. Gleichwohl hat sich dieser Terminus im Unterschied zu dem der Opferhilfe nicht durchgesetzt. Während sich der Begriff „Opferhilfe“ auf die insbesondere durch Beratungseinrichtungen durchgeführte psychosoziale Begleitung über den gesamten Zeitraum vor, während und nach einem Strafverfahren bezieht – beziehungsweise, wenn es zu keiner Anzeige kommt, auf den gesamten Unterstützungszeitraum unabhängig von einem solchen Verfahren1 – fokussiert der Begriff „Opferschutz“ die Maßnahmen zum Schutze von Kriminalitätsopfern im Rahmen des Ermittlungs- und Strafverfahrens. Gleichzeitig ist psychosoziale Opferhilfe häufig gerade in Bezug auf Opferschutz gefragt, z. B. bei Fragen zu Gewaltschutz und innerer Sicherheit. Vor allem für von Straf- bzw. Gewalttaten betroffene Menschen war eine mangelnde Kenntnis von Opferhilfeeinrichtungen lange Zeit ein großes Problem. Dies hat sich durch das 2. Opferrechtsreformgesetz von 2009 und die damit nicht nur empfohlene, sondern nun verpflichtend vorgeschriebene regelhafte Information von Opfern verändert – mindestens für die Opfer, die mit der Strafjustiz in Kontakt kommen und von dieser informiert werden müssen. Als einschränkend kann auch gewertet werden, dass Opferhilfe in der Öffentlichkeit gemeinhin mit dem „Weißen Ring e.V.“ verbunden wird, der einer privaten Initiative des Journalisten Eduard Zimmermanns folgend im Jahr 1976 gegründet wurde. Vom „Weißen Ring“ werden Opfer vorwiegend durch ehrenamtlich tätige Laien unterstützt.2 Die Gründung dieses Vereins stellte in den 1970er Jahren einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Entwicklung einer Opferhilfelandschaft und für die öffentliche Bewusstwerdung von Opferbelangen dar. Gleichwohl kann von 1
Diesbezüglich gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass eine erhebliche Zahl von Straftaten, insbesondere mit sexuellem oder familiärem Hintergrund – so die langjährigen Erfahrungen in hauptamtlich beratenden Opferhilfeeinrichtungen – nicht angezeigt wird und entsprechend im sogenannten Dunkelfeld verbleibt. Ferner werden in vielen Fällen Täter nicht ermittelt, so dass es zu keiner Hauptverhandlung kommt, oder Täter sind geständig und eine Aussage vor Gericht ist nicht erforderlich. Auch in diesen Fällen kann eine psychosoziale Beratung und Betreuung aber dennoch geboten sein. Insofern Kriminalitätsopfer das wünschen, haben sie dem Sozialstaatsprinzip folgend (siehe 2.3) einen Anspruch auf eine psychosoziale Betreuung vom Beginn der Viktimisierung an und über das gerichtliche Verfahren hinaus bzw. unabhängig von diesem. Opferhilfe ist so gesehen nicht auf bestimmte Zeiträume beschränkt. 2 Als älteste nicht-staatliche Opferhilfeeinrichtung bietet der „Weiße Ring – gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten e.V.“ Opfern finanzielle Zuwendungen, wo die erlittene Straftat zu einer materiellen Notlage geführt hat, und Beratung mit Blick auf mögliche Entschädigungsansprüche. Weitere Unterstützungsangebote fußen auf „persönlicher Betreuung“ und „menschlichem Beistand“. Während die organisatorischen Voraussetzungen von hauptamtlichen Kräften übernommen werden, wird die konkrete Arbeit mit Opfern von Ehrenamtlichen durchgeführt. Vgl. online: http://www.weisser-ring.de (10. 02. 2010).
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einer Vielzahl opferorientierter Initiativen ausgegangen werden, die zusammen dazu beitrugen, dass sich seit Ende der 1970er Jahre die vormals täterzentrierte Perspektive der Kriminal- und Rechtswissenschaft sowie von Politik und Praxis auf Kriminalitätsopfer erweiterte.3 Zunehmend setzt sich seitdem der Anspruch durch, Menschen nach einer Opferwerdung nicht allein zu lassen und ihnen professionelle Unterstützung anzubieten. Der Ausbau professioneller Opferhilfe wird parallel dazu seit Jahren vorangetrieben. So erfahren aus der Tradition der Frauenbewegung erwachsend beispielsweise Frauen und Mädchen, die Opfer sexualisierter Männergewalt werden, bereits seit den 1970er Jahren professionelle Unterstützung über Frauennotrufe, Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser. Als erste allgemeine Opferberatungsstelle wurde 1984 die „Hanauer Hilfe e.V.“ gegründet, initiiert durch das Hessische Ministerium der Justiz. Die Aufgabe der Hanauer Hilfe wurde durch Vereinssatzung darauf festgelegt, „Opfer von Straftaten und Zeugen durch das Betreiben eines Bereitschaftsdienstes Soforthilfe im Rahmen einer sozialarbeiterischen Beratung und Betreuung anzubieten und in qualifizierter Form durchzuführen“ sowie „auf die Bewältigung der Folgen der erlittenen Straftat“ hinzuwirken (H. Frese 2009a: 11). Bundesweit entstanden in Folge zahlreiche weitere professionell arbeitende Einrichtungen der Opferhilfe, so dass sich im Feld der Opferhilfe heute unterschiedliche Typen opferbezogener Beratung finden lassen: • allgemeine Opferhilfe für Opfer aller Deliktarten sowie für deren Angehörige und Zeugen von Straftaten; • zielgruppenspezifische Opferhilfe, z. B. in Fällen häuslicher Gewalt oder bei rechtsextrem motivierter Gewalt; • Zeugenbetreuung, bei der im Rahmen von Straf- und Zivilverfahren vor Gericht Opferzeugen, d. h. Kriminalitätsopfer, die als Zeugen fungieren, unterstützt werden,4 aber auch außen stehende Personen, die die Straftat beobachtet haben; • Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in Kooperation mit Opferhilfeeinrichtungen, in dessen Rahmen Betroffene von Straftaten die Möglichkeit haben, mit Unter3
Heinz Frese (2009b: 35) beschreibt die Zeit zuvor wie folgt: „Seit dem Beginn der Zusammenarbeit zwischen Justiz und Sozialwissenschaften standen über Jahrzehnte hinweg zunächst allein Täter, Tätermotive und mögliche Hilfen für Täter im Mittelpunkt der fachlichen Diskussionen um Straftaten. Die sozialen Dienste der Justiz befassten sich ausschließlich mit der Person des Täters. Während sich die Gerichtshilfe bei der Staatsanwaltschaft um die Aufklärung des Tathintergrundes aus der Sicht des Täters bemühte, sorgten die beim Landgericht angesiedelte Bewährungshilfe und die Sozialarbeit im Strafvollzug für eine resozialisierende Integration des Verurteilten. Vom Kriminalitätsopfer war bis dahin kaum die Rede. Von staatlicher Seite erinnerte man sich nur dann an die Opfer einer Straftat, solange sie für die Durchsetzung des Strafanspruchs im Strafverfahren als Zeugen benötigt wurden.“ 4 Hierzu führt Heinz Frese (2009c: 65) aus: „In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass der ganz überwiegende Teil der Kriminalitätsopfer überhaupt nicht als Zeuge in Erscheinung tritt, sei es, weil die Straftat nicht angezeigt worden ist oder weil der Täter gestanden hat.“
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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stützung von VermittlerInnen eine außergerichtliche Konfliktregelung zu finden und sich über eine Wiedergutmachung zu verständigen;5 • integrierte Opferhilfe, z. B. im Rahmen von Schulsozialarbeit, Seelsorge, der Arbeit von Polizei und Justiz; • ehrenamtliche Opferhilfe. Dabei findet sich Opferhilfe über unterschiedliche Trägerschaften organisiert: • freie Trägerschaften: in Form privatrechtlicher gemeinnütziger Vereine; • staatliche Einrichtungen: Opferberatungsstellen in Trägerschaft der Justiz und Zeugenbetreuung durch das Gericht; • Stiftungen: In Niedersachsen existiert beispielsweise seit 2001 eine Dachstiftung, deren Vorstand das Niedersächsische Justizministerium inne hat.6 Die Arbeit im Feld der Opferhilfe basiert gegenwärtig auf unterschiedlichen Qualifikationen ihrer Anbieter:7 • Die nur oder überwiegend im Feld der Opferhilfe tätigen ‚Profis‘ können als PionierInnen im Feld8 bezeichnet werden, die eine fachliche Spezialisierung ausgehend von unterschiedlichen Grundausbildungen – beispielsweise aufbauend auf einer pädagogischen, psychologischen, sozialwissenschaftlichen oder sozialarbeiterischen Berufsausbildung – aufgebaut und sich ihr Wissen und ihre Kompetenzen über „learning on the job“ erworben und in selbstreflexiven Austauschprozessen über ihr Erfahrungswissen unter anderem im Rahmen des Dachverbands ado als fundiertes Handlungswissen entwickelt haben. • Seit 2009 gibt es speziell für das Feld der Opferhilfe weitergebildete „FachberaterInnen für Opferhilfe“. In berufsbegleitenden Zertifikatskursen, die von der Alice Salomon Hochschule Berlin in Kooperation mit dem ado angeboten werden, werden Wissen und Methoden für einen angemessenen, an viktimolo5
Dabei wird immer wieder die Frage diskutiert, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen ein TOA für Opfer hilfreich sein kann, um die erlittene Straftat und deren Folgen zu verarbeiten bzw. zu überwinden, und wo mögliche Gefahren und Grenzen des TOA liegen (vgl. R. Guntermann 2009; J. Hartmann 2008a). 6 Die Dachstiftung hat in 11 Landgerichtsbezirken unselbständige regionale Opferhilfefonds sowie regionale Opferhilfebüros eingerichtet. Hauptamtliche Fachkräfte bieten für Opfer und deren Angehörige psychosoziale Hilfeleistungen an; Opfer können bei den Opferhilfebüros aber auch finanzielle Hilfen aus den Mitteln der Stiftung Opferhilfe Niedersachsen beantragen. Online verfügbar unter: http://www.opferhilfe. niedersachsen.de (19.02.2010). 7 Zur Systematisierung vgl. Uwe Sielert (2008: 733ff.) mit Blick auf SexualberaterInnen. 8 Für die Hanauer Hilfe führt Heinz Frese (2009a: 12) aus: „Es gab bundesweit keine vergleichbaren Einrichtungen, auch kein speziell für die Beratung und Betreuung von Kriminalitätsopfern ausgebildetes Personal. Um dem konzeptionellen Ziel gerecht zu werden, war von Anfang an klar, dass Opferberatung nur von qualifizierten Fachkräften geleistet werden kann. … Voraussetzung ist danach ein abgeschlossenes (Fach-)Hochschulstudium mit unterschiedlichen beraterischen und therapeutischen Zusatzausbildungen sowie eine mehrjährige Berufserfahrung auf anderen sozialpädagogischen Feldern.“
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gischen Grundsätzen ausgerichteten Umgang mit Menschen vermittelt, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind (vgl. J. Hartmann in diesem Band). • Andere Fachkräfte – beispielsweise SeelsorgerInnen oder SchulsozialarbeiterInnen – führen im Kontext ihres Arbeitsbereichs unter anderem auch spezielle Tätigkeiten der Opferhilfe durch die sie über gelegentliche Fortbildungen fundiert haben. • Viele im Bereich des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens sowie im justiziellen Bereich Tätige sind, ohne dass es ihnen bewusst wäre, gelegentlich in spezifische Tätigkeiten der Opferhilfe eingebunden. Sie agieren auf der Basis ihres allgemeinen pädagogischen, psychologischen und rechtlichen Wissens. Qualifizierende Opferhilfe-Anteile sind in ihren Grundausbildungen nur in seltenen Fällen enthalten. • Darüber hinaus wird Opferhilfe in Form ehrenamtlicher Tätigkeit zum einen seit über 30 Jahren von fortgebildeten Laien im Rahmen der nachbarschaftlichen Hilfe des „Weißen Rings“ durchgeführt und zum anderen schon immer im alltäglichen Leben von Familie, FreundInnen und NachbarInnen als ‚informierte Laien‘ praktiziert. Das Feld der Opferhilfe deckt damit unterschiedliche Bereiche und unterschiedliche Bedürfnisse der Betroffenen ab. Dies ist insofern sinnvoll, als Menschen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind, so entscheiden können, ob sie zum Beispiel in eine reine Fraueneinrichtung oder in eine gemischte Institution gehen, ob sie von einem Mann oder einer Frau beraten werden wollen. Freie Entscheidungen sind wichtig, denn ein Opfer hat vorher auf drastische Weise erlebt, wie seine Interessen nicht berücksichtigt worden sind. Entscheidungsfreiheit kann so gesehen als ein erster Schritt im möglichen Heilungsprozess verstanden werden. Die Möglichkeit, professionelle Hilfe über allgemeine Opferhilfeeinrichtungen zu erlangen, erweist sich innerhalb von Deutschland jedoch als sehr unterschiedlich realisiert. In der Versorgung von Opfern besteht ein ‚NordSüd-Gefälle‘ wie ein ‚Stadt-Land-Gefälle‘. So finden sich südlich der Mainlinie in Bundesländern wie Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern keine allgemeinen Opferberatungsstellen. Und während es in einem Stadtstaat wie Hamburg relativ leicht ist, für einen großen Einzugsbereich ein gutes Beratungsangebot sicherzustellen, erweist sich dies in den Flächenstaaten als wesentlich schwieriger. Als gutes Beispiel auf dem Weg zu einer flächendeckenden Versorgung kann das Land Brandenburg genannt werden. Rosmarie Priet (2008: ohne Seitenzahl), Leiterin der Opferberatungsstellen der Opferhilfe Land Brandenburg e.V., führt zum Ziel der Flächendeckung aus: „Brandenburg ist nach der Fläche das fünftgrößte und mit ca. 2,5 Mio. Einwohnern nach Mecklenburg-Vorpommern gleichzeitig das am dünnsten besiedelte Bundesland. Unter der Trägerschaft unseres Vereins bietet ein Netz von 6 Opferberatungsstellen landesweit
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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Hilfe und Unterstützung für Opfer und Zeugen von Straftaten sowie deren Angehörige. Die Gründung der Beratungsstellen ging 1996 von engagierten Vermittlern des TäterOpfer-Ausgleichs aus, die in ihrer täglichen Arbeit hautnah das Fehlen von Unterstützungsund Beratungsangeboten, vor allem für traumatisierte Gewaltopfer, erlebten. Selbst bei den Sozialen Diensten der Justiz angesiedelt und damit flächendeckend organisiert, war es das erklärte Ziel der Vermittler, dass Kriminalitätsopfern in allen Landgerichtsbezirken psycho-soziale Beratung zugänglich gemacht werden sollte. Von Beginn an lag daher die Priorität auf einer breiten räumlichen Streuung des Opferhilfeangebotes. Angesichts begrenzter Kapazitäten wurde hierbei eine relativ dünne Personaldecke in Kauf genommen und die sechs Beratungsstellen mit nur jeweils einer halben Personalstelle besetzt. Ergänzt wird unser allgemeines Opferhilfeangebot durch zielgruppenspezifische Opferhilfeangebote der Frauenhäuser, der Opferperspektive e.V. sowie der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ‚StiBB‘ und durch den ehrenamtlich tätigen ‚Weißen Ring‘.“
Dass ein Opfer unabhängig von seinem Wohnort eine angemessene Unterstützung und Versorgung erhält und damit bundesweit eine Flächendeckung mit professionellen Opferhilfeeinrichtungen gewährleistet ist, ist ein wesentliches Ziel des Bundesverbands professioneller Opferhilfeeinrichtungen ado. Im Jahre 1988 schlossen sich professionell mit Opfern arbeitende Einrichtungen der Opferhilfe im „Arbeitskreis der Opferhilfen in der Bundesrepublik Deutschland“ zusammen. Im Laufe der kommenden 20 Jahre entwickelte sich aus diesem Arbeitskreis ein Dachverband mit Sitz in Berlin. In Hessen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern konnten dessen Mitgliedsorganisationen bereits verschiedene Modelle entwickeln und umsetzen, um auch in diesen Ländern eine annähernd flächendeckende Beratung für Opfer sicherzustellen. Auf Europaebene existiert seit 1990 der Verband „Victim Support Europe“ (VSE).9 Unter dem Namen „European Forum for Victim Services“ als ein Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen, die Informationen und Hilfen für Kriminalitätsopfer bereit stellen, gegründet, zielt der VSE auf die Weiterentwicklung und Etablierung von Opferrechten und Opferhilfe in ganz Europa. Mittlerweile aus 26 Nichtregierungsorganisationen aus 21 Ländern Europas bestehend und unterstützt von der Europäischen Kommission, entfaltet das politische Engagement des Verbandes beratende Funktion für Europarat und Vereinte Nationen. Um die Bedürfnisse von Opfern EU-weit noch effektiver zu befördern, veröffentlichte die Organisation im Jahr 2009 ein Manifest, in dem sie unter anderem die Aufnahme von Schutz und Förderung von Opferrechten in das nächste EUFünfjahresprogramm für Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit fordert und die Sicherstellung der vollen Umsetzung des EU-Rahmenvertrags zur Stellung des Opfers im Strafverfahren sowie der Empfehlung des Europarats zur Opferhilfe (vgl. 2.4).
9
Online verfügbar unter: http://www.victimsupporteurope.eu (10. 02. 2010).
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Die Bewältigung primärer Viktimisierung unterstützen und sekundäre Viktimisierung verhüten – zur Notwendigkeit professioneller Operhilfe
2.1
Opferwerdung begreifen
Erkenntnisse professioneller Opferhilfeeinrichtungen und empirischer Untersuchungen machen deutlich, wie die Erfahrung einer Straf- bzw. Gewalttat mit erheblichen Auswirkungen auf das Selbsterleben der Opfer einhergeht. Je nach Schwere des erlebten Deliktes kann auf diese Erfahrung mit Vertrauensverlust gegenüber anderen Menschen und den Schutzmöglichkeiten gesellschaftlicher Institutionen reagiert werden. Persönliche Verunsicherungen und eine Veränderung der Lebensperspektive sind nicht selten mit einer Opferwerdung verbunden: „Opfer oder Zeuge einer Straftat zu werden, ist eine Erfahrung, die das Leben der Betroffenen von einem Tag zum anderen verändern kann. Nichts ist mehr wie es einmal war. Hilflos dem Willen eines Täters ausgeliefert zu sein, sich selbst oder anderen nicht helfen zu können, kann die Lebenssituation der Betroffenen einschneidend verändern“ (M. Luscher 2006: 59). Opfer berichten von Gefühlen wie Scham und Schuld, Demütigung und Hilflosigkeit, Angst und Instabilität. Die direkt mit der Tat verbundene Opferwerdung und die damit einhergehenden Schädigungen materieller, physischer und psychischer Art des Opfers und des sozialen Umfeldes werden als primäre Viktimisierung bezeichnet (M. Baurmann/ W. Schädler 1999: 21; H. Haupt et. al. 2003: 31ff.). Erhebliche Bedeutung für die Verarbeitung erlittener Straf- und Gewalterfahrungen kommt dem sozialen Umfeld und helfenden Institutionen zu. Gleichzeitig liegt hier jedoch die Gefahr einer zusätzlichen Verletzung für die Opfer. Schädigend wirkende Reaktionen des sozialen Umfeldes im Zusammenhang mit der Tat werden als sekundäre Viktimisierung diskutiert (ebd.). Der Begriff bezeichnet das seit geraumer Zeit erfasste Phänomen einer Verschärfung der primären Opferwerdung „durch verfehlte Reaktionen im Nahraum des Opfers und durch die formellen Instanzen der Sozialkontrolle“, wie bspw. der Polizei oder der Gerichte (H.-J. Schneider 1979: 367). So können sich Angehörige angesichts des Geschehenen selbst bedroht oder durch den geleisteten Beistand überfordert fühlen und problematisch reagieren. Aber auch Personen aus helfenden, sachbearbeitenden oder strafverfolgenden Einrichtungen zeigen aufgrund fehlenden Wissens Verhaltensweisen mit für das Opfer belastender und schädigender Wirkung. Hierzu zählen neben Teilnahmslosigkeit, Bagatellisierung und Ungeduld auch eine Überidentifikation mit dem Opfer oder unangebrachte Fürsorglichkeit; neben einer Stigmatisierung, Beschämung oder Benachteiligung auch Vorhaltungen zum Verhalten des Opfers oder das – unbewusste – Zuweisen einer Mitschuld. Margarete Mitscherlich (1999: 211) erklärt Mitschuldvorwürfe tiefenpsychologisch: „Nicht selten gewinnen wir den Eindruck, dass wir Täter lieben, wenn eine Identifikation mit ihnen unser Selbstwertgefühl erhöht und unsere Ängste mindert, und Opfer hassen, die uns an unsere eigenen Schwächen und Erlebnisse der Hilflosigkeiten erinnern oder
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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Schuldgefühle in uns erwecken. Mehr oder weniger unbewusst versuchen wir deswegen, den Opfern selbst die Schuld an ihrem Leiden zuzuschieben oder deren Existenz möglichst zu verdrängen.“
Opfer erinnern nach Mitscherlich an eigene Destruktivität und Niederlage. Das Zuweisen von Mitschuld wird so als eine Rationalisierung der eigenen Aggressionen, Schuldgefühle oder Ängste begreifbar. Entsprechende Erfahrungen bedeuten für KlientInnen eine Wiederholung ihrer Ohnmachtserfahrungen und eine Intensivierung des primären Opferwerdens. Dies beeinträchtigt den Verarbeitungsprozess und erschwert Heilung. Nicht selten erleben Opfer die sekundäre Viktimisierung verletzender als die Tat selbst. Als entwertend erweist sich darüber hinaus das Image, das mit dem Begriff „Opfer“ verbunden ist: „Die Opfer gelten als die besiegten Personen (‚victima‘), die Schwachen, die ‚loser‘, die Ohnmächtigen“ (M. Baurmann 1996/2008: 6). Während im internationalen Kontext der Begriff „victim“ unzweifelhaft10 und fester Bestandteil der Wissenschaft über ‚menschengemachte‘ Opferwerdung, der Viktimologie, geworden ist, weichen aufgrund der emotionalen Besetzung des Begriffs viele Menschen aus helfenden Berufen im deutschsprachigen Raum auf vermeintlich weniger belastete Begrifflichkeiten wie „Verwundete“, „Verletzte“, „Geschädigte“ aus und werden diese von Betroffenen stellenweise tatsächlich auch eher angenommen (vgl. M. Baurmann/W. Schädler 1999: 25). Ein Imagegewinn erscheint dabei jedoch fraglich, die Vielfalt der Begriffe und die Inkonsistenz ihrer Verwendung verwirrend, die Einigung, bei Straf- und Menschenrechtsverletzungen von Opfern zu sprechen, demgegenüber sinnvoll sowie eine das Bewältigungspotential von Opfern fokussierende und öffentlichkeitswirksam ausstrahlende Reformulierung des Begriffs wünschenswert. Im Wissen um die mit einer Opferwerdung einhergehenden intra- und interpersonellen Dynamiken stellen sich besondere Ansprüche an helfende Kräfte. Über reines Wissen hinausgehend benötigen diese für die konkrete Arbeit mit Opfern eine auf eigener Selbstreflexion basierende und auf das Bewältigungspotential der Opfer ausgerichtete Handlungskompetenz. 2.2
Bedarfs- und bedürfnisorientiert beraten
Eine wesentliche Anforderung der Opferhilfe liegt grundsätzlich im Wissen um die Situation von Opfern nach der Straftat. Erst aus der Kenntnis der spezifischen 10
Der EU-Rahmenbeschluss zur Stellung des Opfers im Strafverfahren definiert den Begriff „Opfer“ in Artikel 1a) wie folgt: „eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedsstaats darstellen“. Online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=CELEX:32001F0220:DE:HTML (30. 11. 2009).
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Bedürfnisse der Opfer können passende Unterstützungsangebote auf psychosozialer, juristischer und gegebenenfalls medizinischer Ebene abgeleitet werden. Dabei hat sich für eine erfolgreiche Unterstützung die Anerkennung von Leid, Zerstörung und der erfahrenen Hilflosigkeit bei den Opfern als zentral erwiesen. Dies schafft eine Verbindung, die den Opfern einen Zugang zu den eigenen Ressourcen und Bewältigungsstrategien erleichtert. Dabei betont die Opferhilfearbeit die Ressourcenaktivierung; d.h. die Fähigkeiten und Ressourcen der KlientInnen werden ermittelt und angeregt. Neue Kräfte und wachsendes Selbstvertrauen können so in den Betroffenen gefördert werden. Entgegen der landläufigen Assoziation von Opfern mit Passivität betont Opferhilfearbeit deren Aktivität. Es geht um ein ausgesprochen lösungs- und bewältigungsorientiertes Arbeiten. In der Opferhilfearbeit basiert das Fachwissen der OpferhelferInnen sowohl auf einem allgemeinen wie auch auf einem speziellen Fachwissen verschiedener Disziplinen, die sich aufgrund der besonderen Situation und der Bedürfnisse des Opfers einer Straf- bzw. Gewalttat in der Opferhilfearbeit verbinden. Zur Arbeit gehören Kenntnisse aus der krisen- und opferorientierten Beratung, d. h. ein breites Grundwissen aus der traumatologischen Notfallhilfe, Fachkenntnisse aus Medizin, Psychotherapie, der allgemeinen Beratung sowie der spezialisierten Fachberatung mit traumatisierten Menschen. Ebenso relevant sind Rechtskenntnisse, um die Arbeit involvierter Institutionen wie z. B. Justiz, Strafrechtspflege und Polizei verstehen, einschätzen und dem Opfer vermitteln zu können, sowie Kenntnis und Wissen über Versorgungsangebote nachsorgender Institutionen, z. B. von Krankenkassen und Versorgungsämtern, von Trägern örtlicher Beratungs- und Therapieangebote oder Schuldnerberatung. Zu den Grundlagen zählt des Weiteren ein theoretisches Wissen aus der Kriminologie, speziell der Viktimologie. Das Feld der Opferhilfe ist damit interdisziplinär. Die Opferhilfe arbeitet darüber hinaus ganzheitlich und vernetzend (vgl. R. Priet in diesem Band). Opferunterstützung kann bestehen aus Klärungshilfe, psychosozialer Beratung, Krisenintervention, psychotraumatologischer Beratung, langfristiger Betreuung und therapeutischer Unterstützung für Einzelpersonen, Paare, Gruppen, Angehörige von Opfern und Selbsthilfegruppen sowie aus rechtlicher Beratung, Begleitung und Unterstützung der OpferzeugInnen und ZeugInnen im Rahmen des Straf- und Zivilverfahrens, eines Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) oder einer Konfliktschlichtung. Im Bereich der Nachsorge steht die Opferhilfe den Betroffenen nicht nur für psychosoziale Beratungsgespräche zur Verfügung, sondern plant und entwickelt mit den Betroffenen Hilfs- und Unterstützungsangebote, bietet Information und Beratung sowie stabilisiert und unterstützt das Opfer durch psychosoziale Begleitung. Nicht jede Einrichtung kann alle wichtigen Angebote selbst leisten, was regionale soziale Netzwerke und Vermittlung in weitere spezialisierte Einrichtungen notwendig macht. Vernetzungsarbeit und präventives Engagement durch Öffentlichkeitsarbeit zeigt sich z. B. in Form von
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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Fortbildungen und Informationsveranstaltungen für Polizei, Schulen, soziale Einrichtungen, wodurch die dort tätigen Fachkräfte auf die Problematik der Opferwerdung hingewiesen und ihnen erste Orientierungen für einen adäquaten Umgang vermittelt werden. Dabei sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Gewalterfahrung und notwendigen Unterstützung unterschiedlicher Betroffenengruppen zu beachten. Empirische Studien zeigen bspw., dass Frauen Gewalt insbesondere im privaten Raum von ihnen nahestehenden Männern erleben, während Männer Gewalt vorwiegend im öffentlichen Raum von anderen Männern erfahren. Vor dem Hintergrund ungleicher gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse und vor der Folie kultureller Zweigeschlechtlichkeit sind unterschiedliche Gewaltverhältnisse und Verarbeitungsprozesse zu beachten. So stellt die ‚Entprivatisierung‘ häuslicher Gewalt durch neue rechtliche Bestimmungen wie das Gewaltschutzgesetz von 2002 einen wichtigen Schritt in einem Prozess dar, die weithin hingenommene Normalität von Gewalt gegen Frauen zurückzuweisen und das Recht von Frauen auf Schutz und Unterstützung öffentlich zu betonen – ein Prozess, der im Bewusstsein vieler Menschen und in der Veränderung kultureller Geschlechtszuschreibungen relativ langsam voranschreitet. Weiterhin spricht fast die Hälfte der Frauen, die Gewalthandlungen erlebt haben, mit niemandem über das Ereignis. Wenn, dann erfolgt dies mit Personen aus dem nahen sozialen Umfeld. Das professionelle Hilfesystem wird demgegenüber vergleichsweise selten in Anspruch genommen (U. Müller/M. Schröttle 2006). Auf der anderen Seite gilt es zu berücksichtigen, dass sich in unserer Kultur Männlichkeit und Opfersein widersprechen. Insbesondere sexualisierte Gewalt stellt die Männlichkeit des Opfers in Frage. Dies erschwert es wiederum Männern, über sich selbst als Gewaltopfer zu sprechen und professionelle Hilfsangebote wahrzunehmen. Die Vielgestaltigkeit von Gewaltverhältnissen bezieht sich nicht nur auf Geschlechterverhältnisse. Gewaltsituationen unterscheiden sich auch hinsichtlich weiterer sozialer Kategorien wie ethnisch-kultureller Hintergrund, sexuelle Lebensweise, körperlich-geistige Befähigung, Alter, etc. Nur ein differenziertes Wissen über die mit diesen sozialen Positionierungen einhergehenden spezifischen Muster der Opferwerdungen und Opferbedürfnisse ermöglichen eine bedarfsgerechte Unterstützung (vgl. B. Finke; G. Köbberling; F. Fastie; B. Kavemann in diesem Band). Daher haben sich allgemeine sowie zielgruppen- und deliktspezifische Opferhilfeeinrichtungen etabliert. In einer integrierten allgemeinen Beratung wird im Wissen über das Gemeinsame wie das Spezielle unterschiedlicher Opfererfahrungen ein gender- und diversitiysensibler Ansatz angestrebt. Ein bedarfs- und bedürfnisorientierter Umgang mit Opfern basiert auf spezieller Gesprächsführung und angemessenen Kommunikationstechniken, er wahrt in einem möglichen Strafprozess die nötige Neutralität, verfügt über Wissen um die Aufgaben der Prozessbeteiligten und um den Verfahrensablauf und folgt der not-
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wendigen Vernetzung von Polizei, Justiz, RechtsanwältInnen, TherapeutInnen und weiteren sozialen Organisationen. Ein so komplexes Anforderungsprofil verlangt nach qualifizierten Fachkräften. Doch wie organisiert sich Opferhilfe? Wer steht für die Hilfsmöglichkeiten in Verantwortung? 2.3
Sozialstaatsprinzip achten
Werden Menschen Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat, dann sind mehr als zwei Parteien involviert. Wird ein Mensch durch eine solche Tat viktimisiert, „dann hat die Staatsgewalt das Opfer nicht ausreichend schützen können gegen einen gewalttätigen Angriff, gegen die kriminelle Handlung“, so Michael Baurmann vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden (1996/2008: 7). Wir haben es mit einer Trias aus Opfer-Täter-Staat zu tun. Ein Rechtsstaat garantiert Baurmann (2003: 71) folgend die Unversehrtheit seiner Bürger. Kann er diese Garantie im Einzelfall, wenn ein Mensch Opfer einer kriminellen Tat wird, nicht einhalten, dann müsse der Staat Opferschutz, Schutz von Opferzeugen und Opferhilfe leisten, um seinem Auftrag zur Wiederherstellung, zur Restitution zu folgen (G. Fischer/M. Becker-Fischer 1998: 7). Opferhilfe ist so gesehen eine hoheitliche Aufgabe, die auch ethisch fundiert ist: „Wenn ein Kriminalitätsopfer schon durch das Delikt verletzt wurde, dann ist es die wichtigste ethische Pflicht der Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass bei der gesellschaftlichen Nachbereitung der Straftat keine zusätzlichen, unnötigen Verletzungen bei diesem Opfer angerichtet werden.“ (M. Baurmann 1996/2008: 7)
Diese Forderung bezieht sich darauf, die Strafverfolgung und das Gerichtsverfahren so zu gestalten, dass es die Opfer nicht zusätzlich verletzt. Darüber hinaus habe das Opfer jedoch „ein Recht auf Unterstützung bei der Reintegration in seinen Alltag“ (ebd.): „Die Menschen kommen als Hilfesuchende zu den Repräsentanten der staatlichen Macht und wollen dort geschützt werden vor neuerlichen Verletzungen und unterstützt werden bei ihren Konfliktlösungs- und Bewältigungsbemühungen.“ (a. a. O.: 11) Mit Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes (GG) werden Demokratie und das Sozialstaatsprinzip als Ziele der Bundesrepublik Deutschland bestimmt sowie das Rechtsstaatsprinzip als normativ grundlegend bekräftigt, d. h., Verfassung und Gesetz haben im Zweifelsfalle absoluten Vorrang. So stellt das Strafrecht beispielsweise ein Hilfsmittel des Rechtsstaates dar, seine Gesetze durchzusetzen, und hat ein Opfer im Strafprozess „– manchmal gegen seine eigene Befindlichkeit und gegen sein eigenes Bedürfnis – der staatlichen Zeugenpflicht nachzukommen“ (M. Baurmann 2003: 71). Doch dem Sozialstaatsprinzip folgend kann auch die staatliche Unterstützung von Kriminalitätsopfern als Verpflichtung begriffen werden. Dem entsprechend können Opfer im konkreten Falle professionelle Unterstützung erwarten. Doch während an einer Unterstützung und Resozia-
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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lisierung von Tätern ausgerichtete Arbeitsfelder namentlich in diversen Gesetzen benannt werden und damit über das Rechtsstaatsprinzip und das Rechtsressort gewährleistet sind, sowie hierzu passende Berufsbilder und qualifizierte Fachkräfte existieren – BewährungshelferIn, SozialarbeiterIn im Justizvollzugsdienst und GerichtshelferIn – bleibt die Opferhilfe weitgehend ungesichert in der Regel dem sozialen Ressort zugeordnet (vgl. M. Baurmann 1998/2008: 9). Demgegenüber könnte eine funktionierende Strafrechtspflege, die dem Verfassungsgrundsatz des Sozialstaatsprinzips verpflichtet ist, durch zwei Kriterien gekennzeichnet sein: zum einen durch das Bemühen, straffällig gewordene Bürger zu resozialisieren und zum anderen hilfebedürftige Opfer von Straftaten bei deren Reintegration in den Alltag zu unterstützen. Astrid Gutzeit und Markus Wörsdörfer (2008: ohne Seitenzahl) führen aus, was es bedeuten würde, eine entsprechende staatliche Pflichtaufgabe anzuerkennen: „Das bedeutet für die Praxis, dass die Schlechterstellung der Opfer von Straftaten gegenüber den Straftätern – für die der Soziale Dienst der Justiz mit Gerichtshilfe, Bewährungshilfe und Sozialarbeit im Strafvollzug umfangreiche Unterstützung bereithält – durch ein flächendeckendes Netz von Opferhilfestellen beseitigt werden muss. So wie die Sozialarbeit für Straftäter selbstverständlich vom Staat finanziell getragen wird, ist auch die professionelle Betreuung und Unterstützung von Kriminalitätsopfern eine staatliche Aufgabe. Die finanzielle Förderung der Opferhilfe durch das Land muss eine stabile Basis der praktischen Arbeit gewährleisten. Dabei dürfen Hilfen für die Opfer von Straftaten nicht zu Lasten der Täter gehen und Hilfen für die Täter nicht auf Kosten einer unzureichenden Opferunterstützung geleistet werden. Die gesetzlichen Neuregelungen der letzten Jahre können nur dann greifen, wenn die finanziellen und personellen Ressourcen bei den Opferhilfestellen erweitert werden.“
Das Bundesministerium der Justiz greift die Zuständigkeit des Staates für Opferhilfe auf seiner Homepage11 auf: „Als Opfer einer Straftat haben Sie eine ganze Reihe von Möglichkeiten, aktiv für Ihre Rechte einzutreten sowie Schutz und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Staat sorgt dafür, dass Kriminalitätsopfern wirksam geholfen wird. Bund, Länder und unabhängige Opferhilfeeinrichtungen widmen sich diesem Ziel mit großem Engagement.“ Dem Subsidiaritätsprinzip folgend ist gesichert, dass sich der Staat in seiner Aktivität zurücknimmt, wenn freie Träger ihre Bereitschaft erklären, die notwendige Arbeit zu übernehmen und die „hoheitliche Aufgabe“ der Opferhilfe „subsidiär für den Staat“ wahrnehmen (H. Frese 2009a: 14). Freie Träger haben in der Opferhilfearbeit den Vorteil, dass möglichen Schwellenängsten von Opfern begegnet werden kann und ihnen keine 11
Online unter: http://www.bmj.bund.de/enid/4690c299db9dc2dad74602cf8f62e773,bfb193305f74726369 64092d0932363431/Strafrecht/Opferhilfe_133.html (17. 02. 2010). Das Bundesjustizministerium stellt auf dieser Seite auch eine Reihe von Informationsmaterialien zur Verfügung, namentlich die Broschüre „Hilfe für Opfer von Gewalttaten“ des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie die vom Bundesjustizministerium herausgegebenen Broschüren „Opferfibel“, „Mehr Schutz bei häuslicher Gewalt“ sowie die insbesondere an junge Menschen gerichtete Broschüre „Ich habe Rechte“.
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(weiteren) Behördengänge zugemutet werden müssen (H. Frese 2009c: 37). Doch angesichts knapper finanzieller Mittel steht die Existenzsicherung vieler Opferhilfeeinrichtungen immer wieder zur Disposition.12 Auf europäischer Ebene wird die Zuständigkeit des Staates für Opferhilfe mit dem Rahmenbeschluss zur Stellung des Opfers im Strafverfahren von 2001 bekräftigt.13 In Artikel 13, Absatz 1 heißt es: „Die Mitgliedstaaten unterstützen die Einschaltung spezialisierter Opferhilfe-Stellen im Rahmen des Verfahrens, die den Opfern als erste Anlaufstelle dienen und für deren weitere Unterstützung und Betreuung sorgen, sei es durch die Bereitstellung von eigens dafür geschultem Personal in ihren Behörden, sei es durch eine Anerkennung und Finanzierung der Einrichtungen für Opferhilfe“. Soziale Arbeit verdankt sich als Beruf „dem Umstand, dass Notlagen von Menschen als gesellschaftliches Problem erkannt und nicht mehr individuell (durch freiwillige ‚Liebestätigkeit‘), sondern durch Einrichtungen und abgesichert durch einen Rechtsanspruch bearbeitet werden“ (H. v. Spiegel 2006: 50; Hervorh. i. Orig.). Die Einsicht, dass auch die Notlagen von Opfern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellen und deren Bewältigung über einen Rechtsanspruch gesicherter unterstützt werden muss, setzt sich in Deutschland langsam durch (vgl. U. Haas/O. Lobermeier 2005: 32).14 2.4
Europäischen Rahmenrichtlinien und Empfehlungen folgen
Der Ausbau qualifizierter Opferhilfe wird im Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 15. März 2001 über die Stellung von Opfern im Strafverfahren15 gefordert. Der Rahmenbeschluss betont die Wichtigkeit, „Bedürfnisse der Opfer auf integrierte und strukturierte Weise zu berücksichtigen und zu behandeln und dabei partielle oder inkohärente Lösungen, die zu sekundärer Viktimisierung führen können, zu vermeiden“ (Präambel Absatz 5). Der Rat der Euro12
Der „äußere finanzielle Rahmen“ setzt bei den Einrichtungen der Opferhilfe „extrem enge und sehr unprofessionelle Grenzen“ (M. Baurmann 1998/2008: 5), was negative Auswirkungen nicht nur für Opfer, sondern auch für die HelferInnen entwickelt (beispielsweise hinsichtlich von Psychohygiene und der Gefahr von Burn-out (vgl. H. Görges/L. Handke in diesem Band). Michael Baurmann (ebd.) resümiert: „Im Übrigen kosten solche Aktivitäten zur Sicherung der Haushaltsmittel für eine solche Opferhilfe-Einrichtung wahnsinnig viel psychische und physische Energie von Mitarbeiter/innen, die eigentlich für einen anderen Zweck eingestellt worden sind.“ 13 Online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32001F0220:DE: HTML (30. 11. 2009). 14 Vorbild für die weitere Entwicklung könnte bspw. das Schweizer Opferhilfegesetz sein, wonach Kriminalitätsopfer einen Anspruch auf Beratung und Soforthilfe sowie auf längerfristige Hilfen haben, unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist, ob er sich schuldhaft verhalten oder vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. 15 Online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32001F0220:DE: HTML (30. 11. 2009).
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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päischen Union hat eine Reihe von Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen des Verbrechens für Opfer nicht nur als Opferschutz im Rahmen des eigentlichen Strafverfahrens vorgesehen, sondern sieht auch die Einschaltung von spezialisierten Opferhilfeeinrichtungen vor, und zwar in den Zeiten vor, während und nach demselben (Präambel Absatz 10). Der Definition des Begriffs „Organisation zur Opferbetreuung“ in Artikel 1b) folgend wird unter einer solchen „eine rechtmäßig in einem Mitgliedstaat eingerichtete nichtstaatliche Organisation (verstanden), deren unentgeltliche und unter angemessenen Bedingungen geleistete Unterstützung der Opfer von Straftaten die Tätigkeit des Staates in diesem Bereich ergänzt. Zu den Aufgaben spezialisierter Stellen und Opferhilfeeinrichtungen zählt der Rat die Information des Opfers über seine Rechte und Pflichten sowie über den Verfahrensablauf. Weitere Aufgaben sieht er in der Unterstützung des Opfers entsprechend seiner Bedürfnisse, in einer Betreuung während des Strafverfahrens sowie gegebenenfalls auch in einer Unterstützung nach Abschluss desselben. Der Rat der Europäischen Union betont dabei die zentrale Bedeutung einer „angemessenen und sachgerechten Ausbildung“ der mit Opfern in Kontakt tretenden Personen (Präambel Absatz 11).16 Auch die Empfehlungen des Europarats17 von 2006 fordern die Mitgliedsstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um negativen Auswirkungen von Kriminalität zu begegnen und sicherzustellen, dass Opfer umfassende Unterstützung erfahren: „States should provide or promote dedicated services for the support of victims and encourage the work of non governmental organisations in assisting victims“ (5.1.). Hierfür sind die Mitgliedsstaaten aufgefordert sicher zu stellen, dass – “a comprehensive range of services is available and accessible; – standards of good practice for services offering help to victims are prepared and maintained; – appropriate training is provided and co-ordinated; – services are accessible to government for consultation on proposed policies and legislation” (5.6.).
Darüber hinaus sollen die Staaten Opferhilfeeinrichtungen dabei unterstützen, „to – develop appropriate standards for the selection of all paid and voluntary staff providing direct assistance to victims; – organise training and support for all paid and voluntary staff to ensure that such assistance is delivered according to professional standards” (12.1.).
16
Zum EU-Rahmenbeschluss und dessen bisheriger Umsetzung in den EU Staaten siehe A. Pemberton/C. Rasquete in diesem Band. 17 Online verfügbar unter: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1011109&BackColorInternet=9999CC& BackColorIntranet=FFBB55&BackColorLogged=FFAC75 (10. 02. 2010).
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Die im zweiten Kapitel des vorliegenden Beitrags erörterten Herausforderungen belegen die Notwendigkeit professioneller Opferhilfe im Sinne einer fundierten Qualifikation von Fachkräften für die konkrete Arbeit mit Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten geworden sind. Zum einen machen sie die Anforderungen an die hier Tätigen deutlich, sollen diese der anspruchvollen Aufgabe gewachsen sein, die Bewältigung primärer Viktimisierung zu unterstützen und sekundäre Viktimisierung zu verhüten. Zum anderen verdeutlichen sie den rechtlichen Auftrag zu qualifizierter Opferhilfe angesichts des deutschen Sozialstaatsprinzips sowie europäischer Richtlinien und Empfehlungen. Für verantwortungsvolle Aufgaben sind qualifizierte Personen notwendig. Michael Baurmann (1996/2008: 10) schlussfolgert entsprechend: „Für alle Opferhilfe-Einrichtungen müssen qualitative Mindeststandards festgelegt werden, die dann über Personalauswahl sowie Aus- und Fortbildung gesichert werden.“ Bislang sind entsprechende Qualifikationsanforderungen über Grund- und Weiterbildungen nur bedingt sichergestellt. Demgegenüber sind Mitgliedsstaaten mit Artikel 14, Absatz 1 des oben genannten EU-Rahmenbeschlusses jedoch dazu angehalten, „über ihre öffentlichen Stellen oder durch die Finanzierung von Einrichtungen für Opferhilfe Initiativen (zu fördern), damit Personen, die am Verfahren mitwirken oder die auf andere Weise Kontakte zu Opfern unterhalten, eine geeignete Ausbildung erhalten, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der am meisten gefährdeten Gruppen“.
3
Professionalisierung der Opferhilfe – zur Etablierung eines Feldes
Umgangssprachlich wird in der Regel dann von einer „professionellen“ Arbeit gesprochen, wenn diese „fachkundig“ und gut durchgeführt erscheint. Dies führt zu recht subjektiven Bewertungen (vgl. U. Sielert 2008: 729). Weiter findet der Term „professionell“ umgangssprachliche Verwendung, wenn es um eine verberuflichte Tätigkeit geht, um eine Arbeit also, die sich nicht ehrenamtlich oder selbsttätig ausführen lässt. Professionstheoretische Debatten Sozialer Arbeit weisen in eine andere Richtung. Hier existieren unterschiedliche Modelle, die professionelles Handeln zu erklären versuchen. Die klassisch berufsstrukturelle Position fokussiert auf einen „systematisierten wissenschaftlichen Wissensbestand, eine berufliche Ethik, die Beherrschung ‚anerkannter‘ Methoden sowie auf die Verwendung einer spezifischen Fachsprache“ (H. v. Spiegel 2006: 49). Darüber soll Kompetenz verstanden als eine Verbindung von Zuständigkeit und Können legitimiert und berufliche Identität vermittelt werden. Theorie- und Praxiswissen stehen dabei in einem gleichberechtigten Verhältnis. Einher mit einer Profession im klassisch berufsstrukturellen Sinne gehen jedoch auch Kriterien, wie die Autonomie der Berufsausgestaltung in Form des Fehlens fachfremder Vorgesetzter, ein eigenständiges wissenschaftliches Wissen oder ein hoher gesellschaftlicher Status. Aufgrund der kaum erfüllbaren Kriterien gilt ein solches Pro-
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fessionsverständnis in der Sozialen Arbeit als überwunden. Demgegenüber setzen handlungs- und kompetenztheoretische Perspektiven auf die Expertise der Fachkräfte. Interaktionistische Professionskriterien heben eine „berufsrollenförmige Bearbeitung lebenspraktischer Konfliktsituationen von Klienten“ (A. Combe/W. Helsper 2002: 32) in einem abgeschlossenen Handlungsbereich hervor, in dem ExpertInnen eine wissenschaftliche bzw. praktische Ausbildung aufweisen und autorisierte Dienstleistungen im gesellschaftlichen Auftrag erbringen (vgl. J. Ebert 2008: 22). Dabei gilt es als ausreichend, „wenn die Handlungsspielräume eine Berufsausübung nach eigenem Ermessen erlauben und dabei auch fremdes wissenschaftliches Wissen (aus dem Wissensfundus anderer Berufe) kreativ und eigenständig genutzt wird“ (M. Heiner 2004: 16f.). Betonung finden die Antinomien professionellen Handelns, die sich im Spannungsverhältnis zwischen bspw. organisationellen Zwängen und gesellschaftlichen Kontrollfunktionen auf der einen und berufsethischen Werten zum Wohl der KlientInnen auf der anderen Seite äußern und die Einrichtung von „Selbstvergewisserungsinstanzen“ nahe legen (A. Combe/W. Helsper 2002: 32). In der Sozialen Arbeit geht die professionstheoretische Debatte entsprechend in die Richtung, den Handlungsmodus der „Professionalität“ immer weniger mit dem Berufsstatus der „Profession“ zu verquicken. Professionelle unterscheiden sich über Differenzierung und Spezialisierung sowie über den an sie gestellten Anspruch der Selbstreflexion von Laien. Eine wissenschaftliche Fundierung ihres Handelns spielt eine zentrale Rolle. Wissenschaft hilft, „Ereignisse zu verstehen, Entscheidungen vorzubereiten oder nachträglich zu begründen“ (H. v. Spiegel 2006: 55). Handlungsfelder befinden sich dann in einem Professionalisierungsprozess, wenn sie über ein spezifisches Handlungswissen und systematisierte Kompetenzprofile verfügen. Lutz Finkeldey (1995: 315) unterscheidet verschiedene Phasen der Professionalisierung. Nach der Gründung von Selbsthilfeinitiativen und einer Phase der Problemartikulierung werden von Gruppenmitgliedern des Feldes Perspektiven der Qualifizierung und Professionalisierung entwickelt. Über das Angebot eigenständiger Weiterbildungen wird der Prozess der Professionalisierung innovativ vorangetrieben. Verläuft der Prozess erfolgreich, folgt als nächster Professionalisierungs- und Institutionalisierungsschritt die Etablierung des Feldes als sozialstaatlicher Bestandteil. Einige der genannten Professionalisierungsmerkmale wurden für das Feld der Opferhilfe bereits in Kapitel 2 erörtert. Inwiefern sich auch die genannten Phasen im Feld der Opferhilfe wiederfinden lassen soll im Folgenden weiter aufgezeigt werden. 3.1
Dachverband
Als sich im Jahre 1988 professionell arbeitende Einrichtungen der Opferhilfe im „Arbeitskreis der Opferhilfen in der Bundesrepublik Deutschland“ zusammenschlossen, standen Erfahrungsaustausch und die Reflexion ihres in der Praxis er-
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worbenen Wissens auf der Tagesordnung. Im Laufe der kommenden 20 Jahre entwickelte sich aus diesem Arbeitskreis ein bundesweiter Dachverband als Zusammenschluss gemeinnütziger Einrichtungen, die Menschen helfen, welche unmittelbar oder mittelbar Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind.18 Ziel aller Mitgliedsorganisationen ist es, Menschen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind, zu unterstützen – sei es in reiner Parteilichkeit für das Opfer oder im Bemühen einer Konfliktvermittlung zwischen Opfer und Täter. Darüber hinaus intendiert der Dachverband, das in Deutschland relativ junge Thema der Opferhilfe bzw. des Opferschutzes öffentlich voranzutreiben und einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Tätigkeitsbereich bundesweit weiter zu professionalisieren. Der ado setzt sich dafür ein, ein politisch-moralisches Bewusstsein für Opferrechte als Menschenrechte herzustellen. Als Fachverband nimmt er parteilich öffentlich Stellung für die Belange der Opfer von Straftaten (jedoch nicht zu Lasten der Täter) und regt gesetzliche Initiativen an. Als anerkannter Verband wird der ado seit Jahren in Gesetzgebungsverfahren insofern mit eingeschaltet, als er um Stellungnahmen gebeten wird und so aus der Perspektive von Fachkräften Vorschläge in die Diskussion der Gesetzgebungsverfahren einbringen kann. Angesichts der Tatsache, dass viele Disziplinen im Hilfeprozess beteiligt sind, setzt der ado auf Netzwerke, die den Hilfeprozess zu optimieren helfen. Denn für eine effektive Hilfe sind regelhafte Schnittstellen notwendig, d. h. Verpflichtungen bzw. Selbstverständlichkeiten darüber, wo wer mit wem zusammenarbeitet. Dies war nicht immer ganz einfach, denn zwar sind soziale Einrichtungen gewohnt, miteinander zu kooperieren – aber Kooperationen der Justiz mit freien Trägern der Sozialen Arbeit erweisen sich als ungewöhnlicher und Kooperationen mit der Polizei sind nicht immer unbelastet verlaufen (vgl. P. Giese 2008). Hier hat sich in den letzten Jahren sehr viel bewegt, wie dies bspw. die Einrichtung von Interventionsteams bei häuslicher Gewalt zeigt (vgl. B. Kavemann in diesem Band). Den Austausch, die Zusammenarbeit und entsprechende Kooperationsgremien zwischen den AkteurInnen der Opferhilfe zu befördern – auch über regelmäßige Informations- und Erfahrungsaustauschtreffen zwischen den Opferhilfeeinrichtungen sowie über Fachtagungen und ExpertInnentreffen – stellt einen wichtigen Aufgabenbereich des ado dar. Über sein Engagement auf Bundesebene hinaus hat sich der ado dem europäischen Forum für Opferschutz, dem „Victim Support Europe“ angeschlossen. Ist das übergeordnete Ziel der Opferhilfelandschaft, dass ein Opfer nach der Straftat bei der Bewältigung derselben Unterstützung erfährt und nicht noch weitere Schäden erleidet, dann trägt der ado mit seinem Engagement und seinen Mitgliedsorganisationen über deren tägliche Arbeit dazu bei, diesem Ziel näher zu kommen.
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Vgl. im Folgenden online: www.opferhilfen.de (08. 02. 2010).
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In dem von einer Arbeitsgruppe des ado in Anlehnung an das Anforderungsprofil der Opferhilfe (siehe 2.2) entwickelten Angebotsprofil von Opferhilfeeinrichtungen finden sich alle Professionen, die in den Mitgliedsorganisationen des ado tätig sind, wieder.19 Dass professionelle Arbeit mit Opfern zu einem Tätigkeitsschwerpunkt Sozialer Arbeit geworden ist, steht nicht im Widerspruch dazu, dass die in Opferhilfeeinrichtungen tätigen Professionellen zwar zum Großteil SozialpädagogInnen bzw. SozialarbeiterInnen sind, aber häufig auch PsychologInnen, SozialwissenschaftlerInnen, RechtsanwältInnen oder ÄrztInnen (vgl. U. I. Haas/ O. Lobermeier 2005: 35). In der verbandspolitischen Diskussion ist derzeit noch strittig, inwiefern es sinnvoll wäre, aus dem Anforderungsprofil auch eine Art Arbeitsplatzbeschreibung „Opferhelfer/Opferhelferin“ für hauptamtlich Tätige abzuleiten und damit an einem deutlichen Berufsprofil zu arbeiten, oder inwiefern es sinnvoller ist, mit dem Zusatz „FachberaterIn für Opferhilfe“, wie er durch den vom ado in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin angebotenen weiterbildenden Zertifikatskurs erworben werden kann, die grundständige Profession der im Feld der Opferhilfe Tätigen auch in Zukunft offen zu halten.20 Unstrittig sind im ado demgegenüber inhaltliche, personelle und organisatorische Standards, die für eine professionelle Unterstützung von Opfern vor dem Hintergrund der Anforderungen des Arbeitsfelds entwickelt wurden. 3.2
Standards
Als Qualitätsstandards sollen die vom ado entwickelten Standards21 Maßstäbe für eine effektive Opferunterstützung bieten. Die Standards wurden zum einen an den konkreten Bedürfnissen von Kriminalitätsopfern orientiert, wie sie in der alltäglichen Beratungsarbeit vor Ort wahrgenommen wurden. Hier konnte auf das gesamte know how, das sich in diesem Verband befindet und zusammen besteht, zurückgegriffen werden. Zum anderen flossen Erkenntnisse der ersten deutschen wissenschaftlichen Befragung von Kriminalitätsopfern hinsichtlich deren Bedürfnissen und Erwartungen nach der Straftat in die Entwicklungsarbeit mit ein (M. Baurmann/W. Schädler 1999/1991). Dementsprechend sind die nachfolgenden Wünsche und Bedürfnisse von Kriminalitätsopfern von zentraler Bedeutung (R. Guntermann 2008: ohne Seitenzahl): 1. „Die Bewältigung der psychosozialen Tatfolgen, d. h. der Wunsch nach Vertraulichkeit, Akzeptanz und Empathie, nach Entlastung von Ängsten und Spannungen, nach Klärung der Situation und der Entwicklung weiterer Handlungsschritte. 19
Vgl. online unter: http://www.opferhilfen.de/aufgaben.html (11. 02. 2010). Neben der ursprünglichen Grundausbildung kann der Zusatz als weitere Funktionsbezeichnung getragen werden, z. B. „Diplompsychologin und Fachberaterin für Opferhilfe“ oder „Sozialarbeiter und Fachberater für Opferhilfe“ 21 Eine ausführliche Darstellung der Standards in der Opferhilfe ist online verfügbar unter: www.opferhilfen. de/standards (08. 02. 2010). 20
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2. Die umfassende Beratung über zusätzliche Hilfsmöglichkeiten, d. h. die Beratung über Rechtsansprüche und Rechtsmittel, über finanzielle Hilfen und Entschädigungsleistungen, sowie ggf. über weitergehende psychotherapeutische Unterstützungsmöglichkeiten. 3. Die persönliche Begleitung (als eine Art ,Rückendeckung‘) zur Polizei, zu Behörden, RechtsanwältInnen und zu Gerichtsverhandlungen. 4. In geeigneten Fällen und bei geeigneten Täter-Opfer-Konstellationen auch die Bewältigung der Tatfolgen (Stichwort: Konfliktschlichtung und Schadenswiedergutmachung) im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs.“
Für eine qualifizierte Opferunterstützung lässt sich daraus ableiten, dass diese ganzheitlich und interdisziplinär ausgerichtet folgende Aspekte umfassen sollte: – – – – –
„professionelle Klärungshilfe psychosoziale Beratung und Krisenintervention bei Bedarf langfristige Betreuung und therapeutische Unterstützung rechtliche Beratung Begleitung und Unterstützung von OpferzeugInnen im Rahmen des Straf- und Zivilverfahrens – Konfliktschlichtung und Schadenswiedergutmachung im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs.“ (ebd.)
Eine solche Beratungspalette kann Bestandteil des Angebotsprofils einer einzigen Opferberatungsstelle sein oder aber durch Vermittlung und Weiterverweisung an andere geeignete Beratungsstellen oder Berufsgruppen sichergestellt werden. Qualifizierte Opferunterstützung ist den Standards des ado entsprechend darüber hinaus den nachfolgenden Arbeitsweisen und -prinzipien verpflichtet: – „Die Unterstützungsleistung ist unentgeltlich und hat reinen Angebotscharakter. – Die Unterstützung orientiert sich ausschließlich an den jeweils individuellen Opferbedürfnissen. – Nichts darf ohne das ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen geschehen. – Die Gewährung der Unterstützung ist unabhängig von der Erstattung einer Strafanzeige. – Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und auf Wunsch Anonymität müssen gewahrt werden können.“ (ebd.)
Weitere Standards betreffen die Organisationsform der Opferhilfen, die personelle Ausstattung, die Geschäftsführung, Beratung, die Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung sowie die räumliche Ansiedlung und Ausstattung, den Finanzbedarf und die Finanzierung. Während die konzeptionellen Aspekte und Rahmenbedingungen als Muss-Kategorien formuliert sind, ohne deren Gewährleistung eine qualifizierte Opferunterstützung als nicht möglich erscheint, sind die weiteren Aspekte als wünschenswerte „Soll-Kategorien“ nahe gelebt, die in den unterschiedlichen Einrichtungen jeweils angemessene Berücksichtigung finden sollen.
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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Der ado geht davon aus, dass Kriminalitätsopfer einen Anspruch auf eine qualifizierte Beratung und Unterstützung nicht nur in einem moralischen, sondern auch in einem gesellschaftspolitischen Sinne haben. Darauf hinzuwirken, dass die Arbeit zugunsten von Kriminalitätsopfern den genannten Maßstäben entspricht, stellt daher einen wichtigen Aufgabenbereich des ado dar. 3.3
Verhältnis haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeiten
Aus den niedergelegten Standards des ado ist mit Blick auf das Verhältnis von haupt- und ehrenamtlichen Tätigkeiten zu entnehmen: „In Ergänzung zu den hauptamtlichen MitarbeiterInnen können auch geeignete unbezahlte MitarbeiterInnen und Honorarkräfte eingesetzt werden. Eine kontinuierliche Schulung und fachliche Begleitung ist zu gewährleisten.“ Die Standards definieren nicht, welche konkreten Tätigkeiten hier „in Ergänzung“ in Frage kommen, ob damit beispielsweise gemeint ist, Telefongespräche anzunehmen und Öffentlichkeitsarbeit durchzuführen oder ob auch in bestimmten Fällen Beratungsgespräche zu führen sind. Demgegenüber nimmt das vom ado entwickelte Angebotsprofil bislang keinen Bezug auf Ehrenamtlichkeit, sondern setzt eine hohe Professionalität für die Arbeit in den Opferhilfe-Einrichtungen voraus. Darin spiegelt sich die Mahnung Michael Baurmanns (1996/2008: 10) wider: „Das Abschieben der Opferhilfen auf ehrenamtliche, unbezahlte Arbeit wird zu instabilen und unprofessionellen Nachsorgeaktivitäten führen. Die ehrenamtliche, unbezahlte Arbeit mit fortgebildeten Laien eignet sich hier nur als kostensparende Ergänzung zum professionellen Arbeiten. Für alle Opferhilfe-Einrichtungen müssen qualitative Mindeststandards festgelegt werden, die dann über Personalauswahl sowie Aus- und Fortbildung gesichert werden.“
Inwiefern Professionalisierung durch qualifizierte ehrenamtliche MitarbeiterInnen unterstützt und darüber ein zusätzlicher Beitrag zur Qualitätsentwicklung geleistet werden kann, wird seit mehreren Jahren kontrovers diskutiert. Neben hauptamtlicher professioneller Opferhilfearbeit ist unentgeltliche Mitarbeit nicht automatisch mit Qualitätsverlust verbunden, setzt aber Qualitätsmanagement in Form von Supervision, Teameinbindung, etc. voraus. Unbestritten ist, dass partielle Aufgaben von ehrenamtlichen HelferInnen übernommen werden können. Auf der Grundlage der bereits erörterten Qualifikationsherausforderungen des Feldes erscheint es jedoch als notwendig, dass eine Erstberatung stets von Professionellen geleistet wird. Diese können dann einzelne Aufgaben an Ehrenamtliche übertragen und ihnen weiterhin anleitend sowie beratend zur Seite stehen. Die notwendige Qualifikation dieser hauptamtlichen Professionellen bezieht sich dezidiert auf die direkte Arbeit im Kontakt mit den Opfern, auf den hier erforderlichen Einsatz spezifischer Arbeitsmethoden, auf die professionelle Balance zwischen sachlicher Distanz und empathischer Emotionalität und weniger auf organisatorische Voraussetzungen. Professionalität in der Arbeit mit Menschen
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liegt auf qualitativ anderer Ebene als tröstende Gespräche und einfacher menschlicher Beistand – so hilfreich diese im Einzelfall auch sein mögen.22 Bei Fragen zu ehrenamtlicher Tätigkeit bzw. zu bürgerschaftlichem Engagement in der Sozialen Arbeit gilt es daneben immer auch, das Aktivierungspotential auf der einen und die Gefahr einer Instrumentalisierung auf der anderen Seite abzuwägen. Gesellschaftlich betrachtet ist Ehrenamtlichkeit in der Regel zunächst sehr positiv konnotiert. Ute Haas und Olaf Lobermeier (2005: 20; Hervorh. i. Orig.) zählen folgende Potentiale auf: • „Ehrenamtliche Arbeit spart im Vergleich zu professioneller Arbeit Geld. • Zahlreiche Organisationen und Verbände erlangen in der Öffentlichkeit durch die Vermittlung ehrenamtlicher Dienste einen Statusgewinn. • Ehrenamtliche Arbeit kann qualitativ anders mit menschlichen Problemen umgehen und auf Seiten der Organisationen und Verbände noch als Eigenleistung (gegenüber öffentlichen Kostenträgern) ausgewiesen werden. • Die ehrenamtlich Tätigen erhalten Anerkennung innerhalb ihrer Organisationen und Verbände. Ehrenamtliche Arbeit dient als Forum für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst.“
Auf der anderen Seite besteht immer die Gefahr gerade in Zeiten knapper finanzieller Mittel bzw. leerer öffentlicher Kassen Entscheidungen bezüglich des quantitativen Verhältnisses von haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeit nicht nur nach Sachlage, sondern auch oder vor allem nach finanziellen Ressourcen zu treffen (vgl. R. Münchmeier 1992). Weiterhin stellt sich die Frage nach der Motivation der Ehrenamtlichen für die Wahl genau dieses Engagementbereichs. Es ist nicht auszuschließen, dass auch eigene, womöglich noch nicht aufgearbeitete Opfererfahrungen Motor sind. Ute Haas und Olaf Lobermeier (2005: 38) erachten eine Motivationsprüfung für ehrenamtlich Tätige im Feld der Opferhilfe als elementar, um einer Funktionalisierung der Opfer zu begegnen, „um die Eigenständigkeit des Opfers zu respektieren und dessen Ressourcen erkennen und aktivieren zu können.“ Im Projekt „Bürgerschaftliches Engagement in der Opferhilfe“ haben die beiden WissenschaftlerInnen Mindeststandards für die konkrete Begleitung, Unterstützung und Beratung von Kriminalitätsopfern erarbeitet und privaten BürgerInnen eine darauf aufbauende Qualifizierungsmaßnahme angeboten. In der parallel dazu durchgeführten explorativen Studie wurden Empfehlun22
Der ado erörtert daher die Frage, inwiefern es sinnvoll wäre, eine Beschreibung der möglichen Tätigkeiten für Ehrenamtliche zu entwickeln und auch für neben- oder ehrenamtlich ausführbare Tätigkeiten ein Anforderungsprofil zu erstellen. Der ausschließlich als ergänzend verstandenen Hilfe von Ehrenamtlichen könnte durch eine Aufgabenskizze, durch klare Strukturen, Hierarchien und Mitspracherechte eine deutlichere Form gegeben werden. Ziel wäre es, eine für Haupt- wie Ehrenamtliche überzeugende Arbeitsteilung zu finden. Welche Qualifikationen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale sind für eine die professionelle hauptamtliche Arbeit ergänzende ehrenamtliche Tätigkeit im Feld der Opferhilfe sinnvoll? Auf der Basis eines Anforderungsprofils könnten Qualitätsstandards und Auswahlverfahren für Ehrenamtliche überprüft bzw. (weiter)entwickelt werden.
Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden
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gen für die Umsetzung ehrenamtlicher Arbeit im Feld der Opferhilfe entwickelt und unter anderem zusammen mit folgenden Erkenntnissen aufgeführt: • „Ehrenamtliche verfügen nicht unbedingt über ein in sich geschlossenes und konsistentes Weltbild, sondern agieren auf der Grundlage eines eklektizistischen Werte- und Normensystems. Dies ermöglicht ihnen vielfach einen privilegierten Zugang zur Zielgruppe, macht die Arbeit aber auch zum Teil unberechenbar hinsichtlich einer klaren und eindeutigen Zielorientierung. So kann der Wunsch mitzugestalten, eigene Dynamiken entwickeln, die in ihrer Wirkung unvorhersehbar sind.“ (a. a. O.: 87) • „Ehrenamtliche brauchen und fördern eine konstruktive Zusammenarbeit mit Hauptamtlichen, weil diese eine wesentliche Rolle für die Qualitätssicherung innerhalb des Tätigkeitsfeldes einnehmen. Die Hauptamtlichen sollten dabei als stärkende Kraft beratend zur Seite stehen und die Ehrenamtlichen bei Schwierigkeiten unterstützen und ggf. Rückmeldung geben.“ (ebd.) • „Das Tätigkeitsfeld für Ehrenamtliche beschränkt sich weitgehend auf niedrigschwellige kommunikative Hilfen (auf informelle Art und Weise ungezwungen als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen) sowie auf lebensnotwendige praktische Hilfen (Begleitung im Rahmen von ‚Alltagsgeschäften‘).“ (a. a. O.: 88)
Ute Haas und Olaf Lobermeier kommen zu dem Ergebnis, dass die Aufgabenfelder von ehren- und hauptamtlich Tätigen ein klar voneinander abgegrenztes Profil haben müssen (a. a. O: 37). Sie erachten Ehrenamtlichkeit in der Opferhilfe als „dritte Säule“ neben der professionellen Hilfe und der Unterstützung durch Angehörige. Eine Kombination von haupt- und ehrenamtlich Tätigen bietet ihrer Ansicht nach vielfältige Zugänge für Opfer und gewährleisten im Gesamten der Opferhilfelandschaft ein „Höchstmaß an Professionalität“ (a. a. O: 9). 3.4
Weiterbildungsprogramm
Opferhilfetätigkeiten erfordern für die konkrete Arbeit mit den betroffenen Menschen spezifische, immer wieder aufzufrischende Qualifikationen und Kompetenzen, die über Weiterbildungen sichergestellt werden können. Die Entwicklung einer professionellen Identität als Basis qualifizierter Handlungskompetenz zielt auf einen durch wissenschaftliche Aus- und Weiterbildung beförderten „Habitus des systematischen Zweifelns am eigenen Kenntnisstand, an den eigenen Prämissen, Bewertungen und Schlussfolgerungen“ (M. Heiner 2004: 26). Die seit nunmehr 25 Jahren hauptamtlich stattfindende Tätigkeit im Feld der Opferhilfe hat ein beachtliches Handlungswissen generiert und auf Fachtagungen bzw. in verbandsinternen Workshops des ado reflektiert. Dieses Wissen findet seit 2007 Eingang in ein wissenschaftlich gestütztes Weiterbildungsprogramm (vgl. J. Hartmann 2007 u. 2008b).23 Seitdem werden unterschiedliche Fortbildungsinstrumente entwickelt und erprobt, die auf eine qualifizierte Arbeit mit Opfern zielen. Intendiert 23
Online verfügbar unter: http://www.opferhilfen.de/fortbildung.html (30. 11. 2009).
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ist eine Verbesserung der direkten Unterstützung von Opfern von Straf- bzw. Gewalttaten, indem Fachkräfte diese nicht nur aus ihrer jeweiligen berufspraktischen Perspektive, sondern umfassender aus der Perspektive von Opferbelangen professionell begleiten und dabei viktimologischen Grundsätzen folgen. Die Fortbildungsangebote wenden sich an MitarbeiterInnen von Beratungsstellen, Sozialpädagogischen Diensten und weiteren sozialen, polizeilichen, justitiellen und medizinischen Institutionen. Sie sollen Informationen und Techniken für einen angemessenen Umgang mit Menschen vermitteln, die Opfer von Strafbzw. Gewalttaten geworden sind. Neben Einführungen in die Arbeit der professionellen Opferhilfe fokussieren einige der Fortbildungen auf bestimmte Opfergruppen, z. B. Jugendliche, und adressieren andere bestimmte Berufsgruppen, wie LehrerInnen. In Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin werden darüber hinaus bundesweit einjährige berufsbegleitende Zertifikatskurse zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ angeboten. In einem ausgewogenen TheoriePraxis-Verhältnis können hier spezifische Beratungskompetenzen erworben werden. Die Fortbildungsinstrumente zielen auf die Entwicklung einer professionellen Haltung und den Aufbau einer qualifizierten Handlungssicherheit im Feld der Opferhilfe (zum Weiterbildungsprogramm des ado siehe auch J. Hartmann in diesem Band).
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Perspektiven professioneller Opferhilfe – zum vorliegenden Band
Kann vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Entwicklungen im Feld der Opferhilfe begründet von einem Professionalisierungsprozess gesprochen werden? Selbst wenn sich solche Prozesse nach unterschiedlichen Kriterien beurteilen lassen, und gerade weil sie in der Regel „ungleichzeitig und vielschichtig“ (U. Sielert 2008: 731) verlaufen, kann die Frage vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen mit einem Ja beantwortet werden. Deutlich wurde, wie sich eine kontinuierliche Qualitätssicherung der spezifischen, auf das Opfer bezogenen Tätigkeiten feststellen lässt; dies unter anderem über die Entwicklung eines Anforderungs- bzw. Kompetenzprofils und von hohen fachlichen Standards. Diese Entwicklung wird weiter vorangetrieben durch Selbstvergewisserungsprozesse – die zum einen der alltäglichen Arbeit geltend in Supervisionen stattfinden, zum anderen übergreifende Fragen aufnehmend in Debatten im Kontext des Dachverbands sowie auf Fachtagungen geführt werden. Darüber hinaus haben eine zunehmende Systematisierung von Wissensbeständen, zu der der vorliegende Band einen Beitrag leisten möchte, und regelmäßig angebotene Weiterbildungen daran Teil, diese Entwicklung zu fundieren. Der so erkannte Professionalisierungsprozess lässt sich zugleich als ein schlüssiges Resultat des Entstrukturierungsprozesses Sozialer Arbeit in modernen Gesellschaften verstehen. Über die verfassungsmäßige Verankerung des demokratischen Sozialstaatsgebots trägt er
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zu einer Erweiterung und Ausdifferenzierung der öffentlich ausgehandelten Gerechtigkeitsfragen bei und diversifiziert den Zuständigkeitsbereich Sozialer Arbeit: „Im selben Maße, wie solche Gerechtigkeitsprobleme durch sozialstaatliche Gestaltungsprozesse bearbeitbar erscheinen, verändern, verlagern, erweitern und vervielfältigen sich auch die Aufgabenstellungen der Sozialen Arbeit“ (H. J. v. Wensierski 2003: 70). Ziel des vorliegenden Bandes ist es nun, die gesellschaftliche Bedeutung dieses interdisziplinären Handlungsfeldes Sozialer Arbeit weiter ins Bewusstsein zu heben und im weiten Feld von und zwischen Wissenschaft und Praxis die im Feld der Opferhilfe notwendigen fachbezogenen Grundlagen und Handlungskompetenzen vertiefend zu erörtern. So haben insbesondere im Bereich der Viktimologie empirische Forschungsarbeiten und Theorieentwicklung stark zugenommen und entfalten neuere Erkenntnisse der Psychotraumatologie Bedeutung für die Opferhilfe (Kapitel I). Rechtlich wurden nicht nur durch den EU-Rahmenbeschluss neue Maßstäbe gesetzt, sondern auch in Deutschland der Opferschutz über mehrere Gesetzesinitiativen deutlich verbessert und im Bereich der Strafverfolgungsbehörden neue Standards entwickelt (Kapitel II). Um einen Eindruck davon zu erhalten, was berufspraktisch kompetente Opferhilfe auszeichnet und was das spezifische Expertentum in der Opferhilfe ausmacht, ermöglichen vor allem PraktikerInnen einen Einblick in dieses Feld. Neben einer ausführlichen Beschreibung der allgemeinen psychosozialen Beratung in der Opferhilfe stehen zielgruppenspezifische Beiträge mit Blick auf die Phänomene vorurteilsmotivierter Hassgewalt, rechter, häuslicher und sexualisierter Gewalt (Kapitel III). Wie die in den beschriebenen Feldern gesammelten Erfahrungen reflexiv bearbeitet werden können, und wie dabei gewonnene Erkenntnisse entlang des Anforderungsprofils der Opferhilfe zusammen mit entsprechendem Fachwissen Eingang in ein Weiterbildungsprogramm gefunden haben, sind Gegenstand der letzten beiden Beiträge (Kapitel IV). Die Unterscheidung verschiedener Perspektiven – wissenschaftlicher, rechtlicher psychosozialer, praxisreflektierender und -qualifizierender – ermöglicht einen systematisierten Zugang zum Handlungsfeld, weist notwendigerweise gleichzeitig aber fließende Übergänge auf. So erörtern bspw. auch die Beiträge des Abschnitts „psychosoziale Perspektiven“ wissenschaftliche Studien bzw. tragen mit ihrer systematischen und Erfahrungen reflektierenden Herangehensweise dazu bei, neues Wissen hervorzubringen und zu sichern. Entsprechend folgt der Band im Verhältnis Wissenschaft und Praxis weniger einer Transfer-Mentalität denn einer Relationierung, der Idee einer dialogischen Begegnung unterschiedlicher Wissenstypen (vgl. H. v. Spiegel 2006: 58). Theoriediskurse, empirische Forschungsarbeiten, rechtliche Debatten und Handlungswissen aufgreifend, versucht der Band einen Eindruck davon zu vermitteln, wo Opferhilfe als ein professionalisiertes Handlungsfeld Sozialer Arbeit heute steht.
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Offengelassen bleibt die Frage, wie sich die Diskrepanz zwischen Theorieentwicklung, Praxisprofilierung und politischer Sensibilität gegenüber professioneller Opferhilfe auf der einen Seite und deren mangelnde flächendeckende Institutionalisierung auf der anderen Seite erklären und beheben lässt. Literatur Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. (Hg.) (2008): Professionelle Opferhilfe in Deutschland. Standards, Profile, Einrichtungen. Berlin. Baurmann, Michael C. (2003): Professionelles Verhalten von Polizeibeamten gegenüber Opfern und Zeugen – Bericht über ein Modellprojekt mit empirischer Begleitforschung. In: Egg/Minthe (Hg.), S. 69–95. Baurmann, Michael C. (1996/2008): Unterstützung von Kriminalitätsopfern – Wer steht da in der Pflicht? Vortrag anlässlich des 10jährigen Bestehens der Hamburger Opferhilfe 1998. In: Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. (Hg.), S. 5–11. Baurmann, Michael C./Schädler, Wolfram (1999): Das Opfer nach der Straftat – seine Erwartungen und Perspektiven. Eine Befragung von Betroffenen zu Opferschutz und Opferunterstützung sowie ein Bericht über vergleichbare Untersuchungen. Redakt. korr. Nachdruck. BKA-Forschungsreihe. Band 22. Wiesbaden. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2004a): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2004b): Gewalt gegen Männer. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland. Abschlussbericht der Pilotstudie. Berlin. Combe, Arno/Helsper, Werner (2001): Professionalität. In: Otto u. a. (Hg.), S. 29–47. Ebert, Jürgen (2008): Reflexion als Schlüsselkategorie professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit. Hildesheimer Schriften zur Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Band 16. Hildesheim, Zürich, New York. Egg, Rudolf/Minthe, Eric (Hg.) (2003): Opfer von Straftaten. Kriminologische, rechtliche und praktische Aspekte. Kriminologie und Praxis (KUP). Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle e.V. (KrimZ). Band 40. Wiesbaden. Finkeldey, Lutz (1995): Selbsthilfe – ein Alltagsmythos. In: Soziale Sicherheit. Zeitschrift für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. 44. Jg., H. 8/9, S. 312–316. Fischer, Gottfried/Becker-Fischer, Monika (1998): Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer. Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM). Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Frese, Heinz (2009a): 1984–2009. Fünfundzwanzig Jahre Opferhilfe in Hanau. In: Hanauer Hilfe e.V. (Hg.), S. 9–14. Frese, Heinz (2009b): Leitlinien für den Umgang mit Kriminalitätsopfern. In: Hanauer Hilfe e.V. (Hg.), S. 35–42.
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I Forschungsergebnisse aus viktimologischer und psychotraumatologischer Perspektive
Veränderte Perspektiven auf die Rolle des Opfers im gesellschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und rechtspolitischen Diskurs Michael Kilchling
Seit das Verbrechensopfer vor etwa 25 Jahren in Wissenschaft und Politik wiederentdeckt wurde, haben opferbezogene Reformen die deutsche Rechtspolitik ganz wesentlich mitgeprägt (vgl. M. Kilchling 2006). Zu dieser Entwicklung trugen neben Opferschutz-, Opferhilfe-, Opferinteressen- und Selbsthilfeorganisationen auch viele Menschen aus den Rechts- und Sozialwissenschaften, dem Justizbereich, dem Gesundheitswesen und der Sozialarbeit bei. Insbesondere im Bereich des – strafprozessualen wie außerprozessualen – Opferschutzes sind die seither erreichten Fortschritte unübersehbar. Neben der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und seit einigen Jahren auch des Terrorismus gab und gibt es kaum ein Thema, mit dem sich die Strafrechtspolitik ähnlich häufig und in solcher Regelmäßigkeit befasst.1 Kaum ein Wahl-, Partei- oder Regierungsprogramm, das nicht an prominenter Stelle die weitere Verbesserung des Opferschutzes zum Gegenstand hat. Dabei handelt es sich interessanterweise um ein Thema, das mehr oder weniger das gesamte politische Spektrum abdeckt. Doch wie ist es jenseits dieser – pragmatischen – politischen Übereinstimmung um das Bild des Opfers in Wissenschaft und Gesellschaft bestellt, und wie wird dieses in der (Rechts-)Politik aufgegriffen? 1
Gesellschaft
Wenden wir uns als erstes der Gesellschaft und damit dem Bild des Opfers in der Öffentlichkeit zu. So problematisch – um nicht zu sagen: falsch – wie das öffentliche Meinungsbild zur Kriminalität ist häufig auch das Bild vom Opfer selbst. Das gerne zitierte Gut-/Böse-Schema, transportiert in dem Stereotyp vom ,unschuldigen‘, ,guten‘ Opfer als Gegenpart zum ,bösen‘ Täter, beweist dabei eine erstaunliche Langlebigkeit. Gleichwohl hat sich das Bild vom Opfer insgesamt doch differenziert. 1
So zuletzt das Zweite Opferrechtsreformgesetz (2. ORRG) vom 29. 7. 2009, BGBl. I, S. 2280.
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Michael Kilchling
Wie (bzw. woher) kann man dieses überhaupt erschließen? An erster Stelle könnte man zunächst auf die auch in Deutschland so beliebten Umfragen abstellen. Dies ist freilich wenig ergiebig, da es nur wenige Befragungsdaten gibt, die Aufschluss über das Bild des Opfers in der Öffentlichkeit geben könnten. Im Mittelpunkt stehen dort zumeist allgemeine Themen zur Kriminalität und zur Sanktionseinstellung. Dabei wird im letzten Fall mitunter der Eindruck erweckt, als hätten die vermittelten Vorstellungen, wie Straftäter zu bestrafen seien, einen relevanten Opferbezug. Das stimmt natürlich nicht, denn zum einen handelt es sich um allgemeine Bevölkerungsbefragungen, hauptsächlich gespeist von Personen ohne eigene Opfererfahrung, und zum anderen werden hypothetische Fallszenarien abgefragt (vgl. M. Kilchling 1995: 53ff.). Dass solcherart erhobene Daten die Wünsche und Vorstellungen von Opfern nicht richtig abbilden, bedarf da keiner weiteren Erläuterung. Als zweites kann man die persönliche Beobachtung heranziehen. Diese ist freilich determiniert durch das berufliche Wissen, bei allen, die sich professionell mit Opfern befassen oder auch ehrenamtlich mit ihnen zu tun haben. Gleichwohl erleichtert die professionelle Brille natürlich die Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Entwicklung. Dies ist besonders wichtig, wenn es um das Erkennen neuer, mitunter auch bedenklicher Entwicklungen geht. Um ein solches, sehr bedenkliches Phänomen handelt es sich zweifellos bei der überraschenden Karriere des Opferbegriffs in Teilen der aktuellen Jugendkultur. Seit ein paar Jahren breitet sich nämlich das Attribut „du Opfer!“ auf deutschen Schulhöfen (und nicht nur dort) als neues, herabwürdigendes Schimpfwort aus. Jugendsoziologen glauben, Berlin und Brandenburg als Ursprung dieser Modeerscheinung identifizieren zu können (vgl. S. Voss 2003). Mittlerweile hat es sich in verschiedenen Subszenen etabliert und es bis zum eigenen Stichwort auf Wikipedia gebracht.2 Es wird nicht nur gegenüber Mädchen eingesetzt, sondern vor allem auch gegenüber Jungen; und dort kommt der negative Inhalt besonders zum Tragen: Jungen, die dieses Schimpfwort anhören müssen, sollen damit gedemütigt werden. Das Opfer ist nach diesem Verständnis kein Mann, sondern ein Schwächling, der auf Hilfe angewiesen ist.3 Noch problematischer ist die Konnotation des Opferbegriffs in der Rap-Kultur. In Songs von Stars wie Bushido, Fler und anderen, die ebenfalls den schlichten Titel „Du Opfer“ tragen,4 sollen mitunter auch krude antisemitische Assoziationen transportiert werden.5 2
Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_(Schimpfwort) (25. 02. 10). Siehe etwa: „Du Opfer!“, Interview mit Wilhelm Heitmeyer. Süddeutsche Zeitung vom 22.11.2006, www.sueddeutsche.de/kultur/794/406571/text (25. 02. 10); James Redfield: Wir sagen „Du Opfer!“. tageszeitung vom 2. 4. 2008, www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/wir-sagen-du-opfer/ (25. 02. 10); weitere Hinweise auch unter http://de.wikipedia.org/wiki/Opfer_(Schimpfwort) (25. 02. 10). 4 Siehe z. B. Sascha Lehnartz: Deutschland, du Opfer!. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 1. 2008, www.faz.net (25. 02. 10). 5 Siehe nur www.songtext4free.de/songtext-Bushido-Fleraeter-Feat-Eko-1116188.html (25. 02. 10). 3
Veränderte Perspektiven auf die Rolle des Opfers
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Wir sind also konfrontiert mit einer Jugendkultur, in der es angesagt ist, Opfer herabzuwürdigen und den Begriff Opfer selbst als Schimpfwort zu verwenden. Dies hat das Potenzial, die durchaus erfolgreiche Opferpolitik der vergangenen Jahre zu konterkarieren und den Einsatz und die Überzeugungsarbeit vieler zu gefährden. Es bleibt zu hoffen, dass es sich um eine kurzlebige Zeit- und vielleicht auch aktuelle Krisenerscheinung handelt. Ganz sicher ist sie nicht repräsentativ für das Bild des Opfers in der Gesellschaft insgesamt – im Gegenteil könnte man sie auch als jugendkulturelle Gegenreaktion interpretieren: So gesehen wäre sie sogar ein starker Indikator für die mittlerweile gefestigte Verankerung des Opferschutzgedankens in der Gesellschaft. Dritte und wichtigste Erkenntnisquelle ist schließlich der Blick auf die Medien. Diese sind es in der Tat, die das gesellschaftliche Bild des Opfers im Wesentlichen prägen (dazu schon J. Stehr 1989). Heutzutage kennt jeder das Kriminalitätsproblem, freilich nicht oder kaum aufgrund eigenen Erlebens, sondern gefiltert durch die Medien und damit aus zweiter Hand. Die Medien greifen ihrerseits das sogenannte Alltagswissen über Kriminalität, Straftäter und Opfer von Straftaten auf und verstärken es in einem Wechselwirkungsprozess. Auf der Grundlage dieses Alltagswissens wird die gesellschaftliche Wirklichkeit erfahren und bildet die Voraussetzung für die Meinungsbildung und das Handeln der Bürger (siehe zum Ganzen U. Baumann 2000: 12ff.). Nachdem die Situation von Opfern auch in der Presse lange Zeit nahezu routinemäßig übersehen worden war, tendierten nach und nach auch Journalisten zur Sensationalisierung der Berichte über Kriminalitätsfolgen für die Opfer. Während früher dem Täter das journalistische Hauptaugenmerk galt, ist es mittlerweile zur Routine geworden, Betroffenheit zu dokumentieren und durch die Einbeziehung von Details über das Opfer eines Kriminalfalles ,human interest‘ einfließen zu lassen. Eigentlich authentische Alltagsdramen werden in den Massenmedien in Wort und Bild vermarktet und damit zur Ware einer kommerziellen Kulturindustrie. Dementsprechend spektakulär wird das Bild dieser Ware gezeichnet. Diese medialen Vermarktungsformen haben das Potenzial, die Opfer zum bloßen Objekt des öffentlichen Interesses zu erniedrigen und damit in ihrer Menschenwürde zu verletzen. Das Bild, das in den Medien über Täter, Opfer, Kriminalität insgesamt, Kriminalitätsfurcht, Strafbedürfnisse, Strafwirkungen und nicht zuletzt auch über den Strafvollzug vermittelt wird, widerspricht überwiegend dem Erkenntnisstand der damit professionell und wissenschaftlich befassten Disziplinen und bewegt sich daher, um mit dem Kriminologen Peter-Alexis Albrecht zu sprechen, jenseits jeglicher empirischer Realität oder gar Einlösbarkeit (ausführlicher hierzu P.-A. Albrecht 1994). Aus dieser Perspektive können die pressetypischen Verkürzungen mitunter geradezu als Fälschungen erscheinen. Der Kölner Kriminologe Michael Walter hat ferner darauf hingewiesen, dass die Kommunizierung von Kriminali-
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tätsthemen nicht frei von Interessengebundenheit verläuft (M. Walter 1993). Daher müsse Kriminalität in den Medien als eine Erscheinungsform interessenbestimmter Kriminalität – eben als Medienkriminalität – betrachtet werden (H. Kania 2003). Tatsächlich können bei der Kriminalberichterstattung Entstellungen, Verdrehungen oder Verzerrungen von Realität entstehen. Zunächst muss ein nachrichtenwürdiger Anlass – vorzugsweise ein Mord – Aufmerksamkeit erregen, um überhaupt einen Wert als Nachricht zu erlangen. Aspekte des Delikts, des Täters oder des Opfers müssen ungewöhnlich, unerwartet, fremd, pervers oder schockierend sein (U. Baumann 2000: 20ff.). Musterbeispiele hierfür waren in der jüngeren Vergangenheit die auch in den deutschen Medien vielbeachteten österreichischen Fälle der Natascha Kampusch und des Inzest-Täters Josef Fritzl. Was demgegenüber typisch, alltäglich, vorhersehbar oder vorhersagbar ist, stellt keine Meldung mit News-Wert dar. Bemerkenswert erscheinen besonders die Unterschiede in der journalistischen Behandlung der beiden Fälle aus Österreich. Während sich der investigative Eifer der Journalisten im letzteren Fall, dem ,klassischen‘ Muster folgend, fast ausschließlich auf den Täter konzentriert, weist die Berichterstattung im Fall Kampusch ganz andere Merkmale auf. Wohl bedingt dadurch, dass das Opfer nicht unbedingt in jeder Hinsicht das Stereotyp des hilflosen Opfers bedient, glitt das Image der Natascha Kampusch zumindest in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung bald in grenzwertige Bereiche ab. Ist es vor diesem Hintergrund nicht auch mehr als bezeichnend, dass die Kriminalgeschichte – diametral anders als im Fall Fritzl – sehr schnell nur noch unter dem Namen des Opfers behandelt wurde, der Name des Täters hingegen aus der Öffentlichkeit verschwand? Hinzu kommt, dass bestimmte Kriminalitäts- und Viktimisierungsmuster nach einer gewissen Zeitspanne ihren Aufmerksamkeitswert verlieren. Musterbeispiel hierfür ist der Bereich Menschenhandel und Zwangsprostitution. Nach einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Situation dieser Opfer im Vorfeld der FußballWM 2006 ist das Thema derzeit außerhalb der Fachpresse wieder völlig out. Insgesamt kann man freilich sagen, dass – auf der Basis der wenigen empirischen Forschungen zu diesem Bereich – die Opfer tendenziell zumeist schon deshalb in günstigerem Licht erscheinen, weil zu Straftätern generell eher negative Merkmale berichtet werden. Eine Befragung von Opfern aus dem Freiburger MaxPlanck-Institut (U. Baumann 2000) hat vor einigen Jahren ergeben, dass von den befragten Gewaltopfern mehr als die Hälfte (57%) in der Tagespresse über ihren Fall zumindest eine kleine Meldung im Lokalteil gefunden haben. Die Frage, ob in den Medien – Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen – insgesamt wahrheitsgemäß über ihren Fall berichtet wurde, bejahten gut zwei Drittel von diesen. Das gilt tendenziell allerdings eher für die Gewaltopfer mit Eigentumshintergrund. Die negativsten Bewertungen werden hingegen durch Opfer von Sexualdelikten abgegeben: Von diesen empfinden wiederum zwei Drittel die mediale Darstellung als schlecht oder sogar sehr schlecht (U. Baumann 2000: 42).
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Der Schutz des Opfers hat daher im Pressekodex des Deutschen Presserats6 zu Recht einen hohen Stellenwert: in Ziffer 8 ist die Achtung der Intimsphäre explizit aufgeführt. Richtlinie 8.1 bezeichnet die Nennung von Namen und die Abbildung von Tätern und Opfern generell als nicht gerechtfertigt. Was freilich fehlt, ist ein spezieller Entschädigungsmechanismus zugunsten von Opfern, etwa nach dem Vorbild des Opferanspruchssicherungsgesetzes.7 Auch alle wichtigen internationalen Konventionen, Empfehlungen, Standards und anderen Texte, die sich mit dem Schutz von Opfern befassen, betonen nahezu durchweg den Schutz der Opfer vor der Presse als ein ganz wesentliches Element effektiven Opferschutzes.8 Dabei ist es völlig unerheblich, ob man die negativen Folgewirkungen nun der sekundären Viktimisierung zuordnet oder sie, wie es manche Wissenschaftler tun, als eigenständige Kategorie sog. tertiärer Viktimisierung definiert (vgl. M. Kilchling 1995: 67ff.). Dies stellt zugleich den Übergang zu dem nächsten hier etwas näher beleuchteten Bereich her. Die Entstehung nicht nur der vielen nationalen Gesetze und Bestimmungen zum Opferschutz sondern auch der zahlreichen internationalen Instrumente wurden nicht allein von Opfern und Opferverbänden initiiert. Auch die Entwicklung und Weiterentwicklung in der wissenschaftlichen Erforschung der Opfer hatte ganz sicher wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung. 2
Sozialwissenschaften
Dabei sind – nicht zufällig – an erste Stelle die Sozialwissenschaften zu nennen. Denn die vielzitierte Renaissance des Opfers (A. Eser 1989) geht ganz wesentlich auf die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Viktimologie als eigenständigem Forschungszweig innerhalb der Kriminologie zurück (ausführlich H. J. Schneider 2007: 396ff.). Sie erforscht die Opfer systematisch und prägt damit das wissenschaftliche Bild vom Opfer ganz wesentlich. Das Interesse an Opfern von Straftaten intensivierte sich bekanntlich seit den 1970er Jahren unter dem Eindruck des zunehmenden Kontrollverlustes des Opfers über den eigenen Fall (wegweisend N. Christie 1977). Mitverantwortlich dafür war die wachsende Erkenntnis einer Reduzierung der Opfer im System sozialer Kontrolle auf Anzeigeerstattung und Zeugenaussage zur Aufklärung strafbarer Handlungen und Überführung von Tatverdächtigen (weitere Hinweise bei M. Kilchling 2002a: 58). 6
Siehe www.presserat.info/8.0.html (25. 02. 10). Opferanspruchssicherungsgesetz (OASG) vom 8. Mai 1998, BGBl. I S. 905. Vgl. dazu die Kommentierung von St. Claus 2004. 8 Siehe insbesondere die Empfehlung Rec (2006) 8 des Europarats zur Hilfestellung für Opfer von Straftaten. Engl. Version im Internet unter www.search.coe.int/texis/search; alle wichtigen Rechtstexte mit Opferbezug in Printform bei Council of Europe (Hg.) (2006): Victims – Support and Assistance, Strasburg. 7
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Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Opferforschung mag auf den ersten Blick banal anmuten; er ist aber ganz grundlegend und von fundamentaler Bedeutung nicht nur für die Justiz, sondern vor allem auch für die Rechtspolitik: ,Das Opfer‘ als einheitliche Größe und damit als einheitlich zu behandelnde Gruppe gibt es nicht (M. C. Baurmann/W. Schädler 1991; M. Kilchling 1995). Viel zu unterschiedlich sind nämlich sowohl das subjektive Erleben von Opfererfahrungen und deren Bewältigung als auch die Bedürfnisse der Opfer, insbesondere gegenüber Polizei und Justiz. Neben der konkreten Deliktsbetroffenheit – bei der sich Sexual- und Gewaltdelikte sowie der Wohnungseinbruch von der Masse der vielfältigen anderen Delikts- bzw. Viktimisierungsformen abheben – spielen die individuellen Coping-Fähigkeiten und die Bedeutung der individuellen Opfer-Situation und Opfer-Konstitution die Hauptrolle. Selbst so einfache Phänomene wie das selektive Vergessen oder die zeitlich falsche Einordnung von Opfererlebnissen durch Betroffene bei Opferbefragungen, die man lange Zeit nur als erhebungstechnisches Problem bei dem Wunsch nach der möglichst korrekten Messung von Opferquoten interpretiert hat, bekommen vor diesem Hintergrund eine wichtige inhaltliche Dimension. Denn das Vergessen ist natürlich ein wichtiger Indikator für die innere Bewältigung von Opfererfahrungen. Die rechtspolitischen Implikationen, die sich aus diesen Befunden ergeben, sind evident: Für Opfer müssen ausreichende – aktive wie passive – Partizipationsoptionen in allen Verfahrensstadien und hinsichtlich sämtlicher Erledigungsformen zur Verfügung stehen, damit die Opfer so davon Gebrauch machen können (oder auch nicht), dass es ihnen in ihrer ganz persönlichen Situation bestmöglich hilft. Darüber hinaus hat die Wissenschaft wesentlich dazu beigetragen, das schon eingangs angesprochene Gut-/Böse-Stereotyp als falsch zu erkennen. Insbesondere aus der Zusammenschau von Selbstberichts- und Opferbefragungen haben sich grundlegende Erkenntnisse ergeben (V. Schindler 2001 (m. w. N.)). Diese betreffen unter anderem die in der empirischen Realität häufigen Statuswechsel von Tätern und Opfern, Rollenüberschneidungen zwischen beiden sowie die sog. Opfer-TäterAbfolge (Karrieren). Dabei war der Befund, dass Täter sehr häufig in der Vergangenheit selbst Opfer waren, eigentlich schon lange bekannt (H. J. Schneider 2001: 96ff.; 2007: 410f. (jew. m. w. N.)). Diese sicherlich zu dem Basiswissen der klassischen kriminologischen Täterforschung zählende Erkenntnis war freilich in der opferbezogenen Rechtspolitik lange Zeit nicht opportun. Neue Bedeutung haben auch interaktionistische und situative Erklärungsansätze gewonnen. In manchen (kritischen) Situationen ist es eben schlicht Zufall, wer Täter und wer Opfer wird. Ganz wichtig erscheint in unserem Kontext ferner die Erweiterung der Vikitimisierungsperpektive. Neben der Einführung der über die unmittelbaren Viktimisierungsfolgen hinausweisenden Viktimisierungsdimensionen, der sekundären bzw. tertiären Viktimisierung, trug auch die Ausdifferenzierung der Opfertypologien nach dem Grad der Betroffenheit ganz wesentlich zum Erkenntnisgewinn bei.
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Neben den direkten Opfern sind nämlich auch die indirekten Opfer zu berücksichtigen. Der Münsteraner Viktimologe Hans Joachim Schneider hat dies am treffendsten auf den Punkt gebracht, indem er die Beschreibung der indirekten Opfer als „Mitopfer“ eingeführt hat (H. J. Schneider 1990: 406; ausführlicher H. J. Schneider 2001: 102f.). Die Viktimologie hat im übrigen, basierend auf den Erfahrungen während des Bürgerkriegs im früheren Jugoslawien und seiner strafrechtlichen Aufarbeitung vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, auch noch eine wichtige politische Erweiterung der Opferdefinition erfahren, die nicht nur das Opferbild, sondern auch das Verständnis von Viktimisierung weiter bereichert hat. Denn damit wurde der Übergang von der mikro- zur makroviktimologischen Perspektive eingeleitet. Neben die Individualopfer ist damit die neue Kategorie der Kollektivopfer getreten. Diese haben nicht nur spezifische Bedürfnis- und Erwartungsmuster. Wichtig ist darüber hinaus auch die Frage einer adäquaten Berücksichtigung – das heißt vor allem auch: Repräsentation – im Kontext der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, wie und in welchem Umfang neben den Individualopfern auch die Kollektivopfer an den Prozessen in Den Haag (ICTY9, ICC10), Aruscha (ICTR11) oder anderswo teilnehmen können. Dieselbe Problematik stellt sich auch bei den Fragen nach Restitutions- bzw. Reparationsleistungen im Kontext der internationalen Gerichtsbarkeit. Beide Bereiche sind noch nicht befriedigend gelöst.12 Parallel zur gerichtlichen Bewältigung hat sich im Hinblick auf solche makroviktimologischen Postkonfliktsituationen auch ein weiterer Anwendungsbereich für die Mediation entwickelt. Nach dem Vorbild des Täter-OpferAusgleichs bei Individualkonflikten wird deren friedensstiftendes Potenzial heutzutage sowohl in Südafrika (als Ersatz für die strafrechtliche Aufarbeitung) oder in Ruanda praktiziert (dort als ergänzende Komponente zur Strafverfolgung) (vgl. Chr. Hess 2007: 85ff. sowie grundlegend J. Braithwaite 2002). 3
Rechtspolitik
Auch im Bereich der Rechtspolitik fällt die Bilanz im Großen und Ganzen positiv aus. Insbesondere im Hinblick auf die opferbezogenen Reformen im Strafprozessrecht überwiegen eindeutig die positiven Aspekte. Gerade aus international 9
ITY = International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia. ICC = International Criminal Court. 11 ICTR = International Criminal Tribunal for Rwanda. 12 Basierend auf der adversatorischen Prozessstruktur stehen der Integration einer (zusätzlichen) Opferpartei in den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen – anders als im kontinentaleuropäischen Strafprozess wie z. B. dem deutschen, wo das Opfer als Nebenklägerin oder Nebenkläger fast vollwertigen Parteistatus genießt – prinzipielle systemische Hürden entgegen. Leider hat die internationale Strafgerichtsbarkeit im Wesentlichen das opferunfreundliche anglo-amerikanische Prozessmodell adaptiert. Näher dazu etwa Christine Hess (2007: 180ff.). 10
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vergleichender Perspektive eröffnet das deutsche Modell der Nebenklage Opfern eine gute Plattform für die aktive Teilnahme an der juristischen Aufarbeitung ihres Falles (ausführlich M. Kilchling 2006). Problematisch ist freilich, dass diese (auch nach der jüngsten Erweiterung durch das 2. ORRG13) noch zu wenigen Opfergruppen offensteht. Insbesondere sollten die Möglichkeiten der Nebenklage auch Opfern von Wohnungseinbruch, einer Viktimisierungskategorie mit besonders hohem Traumatisierungspotenzial (siehe z. B. G. Deegener 1996), offenstehen.14 Nicht mehr zeitgemäß ist ferner die bisherige Rechtsmittelbeschränkung beim Strafausspruch. Sie geht auf ein Opferbild zurück – das vom rachsüchtigen Opfer (siehe etwa K. Lüderssen 1999) –, das die Wissenschaft längst widerlegt hat (vgl. M. C. Baurmann/W. Schädler 1991; F. Streng 1994; M. Kilchling 1995 u. 2006 (jew. m. w. N.)). Auch die Frage des Opferanwalts auf Staatskosten erscheint noch allzu restriktiv geregelt und vertieft so eher noch die bestehende Unterteilung in verschiedene Opferklassen.15 Im Übrigen hat die Politik aber viele Impulse der Opferbewegung aufgenommen und umgesetzt.16 Das ist im Hinblick auf die Ausgestaltung des Sanktionensystems leider anders. Hier ist es bislang nicht gelungen, der Wiedergutmachung den Stellenwert einzuräumen, den sie nach allen Befunden der Viktimologie unbedingt haben müsste (M. Kilchling 2002a, 2002b (jew. m. w. N.)).
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Exkurs: Rechtswissenschaft
Bleibt abschließend noch ein kurzer Blick auf die Rechts- und dabei namentlich die Strafrechtswissenschaft. Hier wird mitunter auch heute noch – oder muss man sagen: wieder? – ein gewisses Unverständnis gegenüber der prozessualen Aufwertung des Opfers evident (siehe aus jüngerer Zeit stellvertretend M. Wenske 2008; J. Bung 2009). Auch über das Prozessrecht hinaus werden die gesicherten Erkenntnisse der Viktimologie insbesondere dort, wo sie die Grundlagen des Strafrechts und der Strafrechtsdogmatik betreffen, noch immer weithin ignoriert. Manche Kritiker sagen sogar, dass die schon erwähnte Renaissance des Opfers in der Strafrechtstheorie bis heute überhaupt nicht stattgefunden habe (T. Hörnle 2006). 13
Zweites Opferrechtsreformgesetz (2. ORRG) vom 29. 7. 2009, BGBl. I, S. 2280. Im Gegensatz zu der konkreten Regelungstechnik im deutschen StGB, die den Wohnungseinbruch als besonders schweren Fall des Diebstahls qualifiziert (vgl. § 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB), sollte aus viktimologischer Sicht eigentlich eher die Einbruchskomponente Ausgangspunkt der Kriminalisierung sein anstatt des Diebstahlsaspekts, der aus Opfersicht häufig eher nachrangige Relevanz hat. 15 Überspitzt formuliert könnten die Opferrechte der deutschen StPO als doppeltes Zweiklassenrecht qualifiziert werden: nebenklageberechtigte versus nicht nebenklageberechtigte Opfer sowie ,einfache‘ Nebenklageberechtigte versus ,privilegierte‘ Nebenklageberechtigte; nur die letztere Gruppe hat auch den Anspruch auf einen Opferanwalt auf Staatskosten. Siehe hierzu ausführlicher Michael Kilchling 2006. 16 Siehe etwa BT-Drucks. 15/2536 v. 18. 2. 2004 (zum 1. ORRG) und BT-Drucks. 16/12098 v. 3. 3. 2009 (zum 2. ORRG). 14
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Dies gilt namentlich mit Blick auf die Strafzwecklehre. Dass im Zeitalter der absoluten Straftheorien das individuelle Opfer im Rahmen der strafrechtlichen Aufgabenbestimmung keine Beachtung fand, war immanenter Bestandteil der damaligen Doktrin. Heute dagegen ist Bestrafung bekanntlich kein Selbstzweck mehr, sondern bedarf als ultima ratio mit Blick auf die damit verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen der besonderen Begründung. Selbstredend hat die strafrechtliche Intervention, insbesondere die mit dem Strafverfahren verbundenen Belastungen, nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf den Täter, sondern auch für das Opfer – und dies nicht nur für die direkten sondern auch für die häufig mitbetroffenen indirekten Opfer. Als ein Stichwort von vielen muss hier der Hinweis auf die häufig mit der Zeugenrolle verbundenen Gefahren sekundärer Viktimisierung genügen. Erschiene es da nicht notwendig, die durch die Straftat betroffenen Opfer in die Strafzielbestimmung mit einzubeziehen anstatt sie – falls überhaupt – (verdeckt) der Generalprävention zuzuordnen? Dennoch werden auch in den modernen, primär dem Gedanken der Prävention verpflichteten Strafzieldefinitionen die Opfer allenfalls am Rande mitbedacht, und zwar ausschließlich als potentielle Opfer im Rahmen der Zielbestimmung der Generalprävention. In dem gesamten Bereich der spezialpräventiven Funktionen der Strafe wird das Opfer hingegen nach wie vor ausgeblendet (ausführlicher hierzu M. Kilchling 2002a (m. w. N.)). Dabei hat Hans Joachim Schneider bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass auch das Opfer der Resozialisierung bedarf (H. J. Schneider 1990). Jan Philipp Reemtsma (1999) hat diesen Gedanken bei der literarischen Aufarbeitung seiner Erfahrungen wieder aufgegriffen und in einem 2002 zusammen mit Winfried Hassemer herausgegebenen Buch über das Verbrechensopfer weiter konkretisiert (W. Hassemer/J. P. Reemtsma 2002). Neben dem Ausgleich der durch die Tat verursachten Schäden und der Vermeidung der mit der öffentlichen Strafverfolgung verbundenen Belastungen sei für das Opfer von entscheidender Bedeutung, dass der Unrechtscharakter der Tat explizit und rechtskräftig festgestellt werde. Anstatt diese Zwecke allenfalls als Reflexe anders begründeter Strafzwecke zu erreichen zu suchen, sollte die deutsche17 Strafrechtsdogmatik endlich auch opferorientierte Strafbegründungen erarbeiten. Auf der Basis der Erkenntnisse aus der weltweiten viktimologischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte ergeben sich für die konkrete Zielbestimmung einer solchen auf Reintegration des Opfers (in die Gesellschaft und in ein ,normales‘ Leben) ausgerichteten Prävention drei ganz unterschiedliche Aspekte: die schon 17
Interessanterweise erscheint die Strafrechtsdogmatik in Österreich in diesem Bereich bereits weiter entwickelt als in Deutschland. Dort kennt man neben den Strafzwecken im engeren Sinne nämlich auch die übergeordnete Kategorie der Strafrechtszwecke. Auf dieser höheren Ebene wird nicht nur der Opferschutz generell, sondern richtigerweise auch die Wiedergutmachung als eine seiner wichtigsten praktischen Ausprägungen angesiedelt.
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Michael Kilchling
erwähnte Vermeidung der mit der Strafverfolgung verbundenen Belastungen und den Ausgleich der Tatfolgen, die Verhinderung von Reviktimisierung sowie die Wiederherstellung des durch die Viktimisierung gestörten Normvertrauens. Der erste Aspekt einer solchen ,Reintegrationsprävention‘ könnte als Tatfolgenbeseitigung im weiteren Sinne beschrieben werden (zum Begriff M. Kilchling 2002a: 59ff.; L. Sautner/H. Hirtenlehner 2008: 574). Ein ganz wesentliches – wenn nicht das wesentliche Element überhaupt – ist in diesem Zusammenhang ganz sicher die Wiedergutmachung. Die zweite wesentliche Präventionsaufgabe muss darin bestehen, die von der neueren viktimologischen Forschung nachgewiesene Mehrfachviktimisierungs-Dynamik zu durchbrechen bzw. so weit wie möglich erst gar nicht entstehen zu lassen. Denn nach einer Erstviktimisierung steigt das Risiko, innerhalb kurzer Zeit erneut Opfer zu werden (mitunter sogar mehrfach), signifikant an. Auch deshalb sind Opferhilfe- und Präventionsmaßnahmen in diesem Stadium so wichtig (Prävention durch Opferprävention). Um Legalbewährung im ,klassischen‘ spezialpräventiven Sinne geht es schließlich bei dem dritten, bislang am wenigsten erforschten Ziel: der Verhinderung eines möglichen Abgleitens von enttäuschten Opfern in die Straffälligkeit. Kritisch erscheint hierbei vor allem das durch die Opfererfahrung konkret enttäuschte Normvertrauen. Wird dieses Vertrauen in das Recht nicht wiederhergestellt, könnte das mit der Enttäuschung verbundene Frustrationspotential zur Erosion der stabilisierenden Normgeltung in künftigen Konflikt- bzw. sonstigen (kriminogenen) Anreizsituationen führen (sog. Opfer-Täter-Karrieren). Auch insoweit sind die Bezüge zur Wiedergutmachung evident. Doch gerade im Bereich der Wiedergutmachung sind die Defizite in Deutschland, wie schon erwähnt, immer noch besonders groß. Dies gilt für die materielle Schadenswiedergutmachung ebenso wie für die Wiedergutmachung im umfassenden, ggf. auch bloß ideellen Sinne, wie sie häufig im sog. Täter-Opfer-Ausgleich stattfindet. Weitgehend unberücksichtigt bleiben die Opfer bislang, zumindest im Erwachsenenstrafrecht, im Bereich der Geldstrafen (siehe auch M. Kilchling 2002b); daran hat auch die Ausweitung der Zahlungserleichterungen zugunsten der Opferentschädigung nicht Grundlegendes ändern können (vgl. § 42 StGB). Enttäuschte Wiedergutmachungserwartungen sind sicherlich ein ganz entscheidender Negativfaktor für die Tatbewältigung. Durch die Bereitstellung ganz verschiedener Wiedergutmachungsoptionen kommt dem Staat hier sicherlich eine Schlüsselrolle zu. 5
Ausblick
Mit dem veränderten Bild des Opfers in der Wissenschaft hat auch die Entwicklung der Opferrechte in Deutschland eine beachtliche Dynamik erfahren. Dank der vielfältigen Initiativen von Opferhilfeorganisationen kann man heute zu Recht feststellen, dass sich die Opferschutzbewegung nicht nur zu einer der wichtigsten,
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sondern zu einer der erfolgreichsten sozialen Bürgerrechtsbewegungen entwickelt hat, die die Rechtsentwicklung mit Hilfe der Politik nachhaltig beeinflusst hat. Die Vielzahl der in den vergangenen Jahren implementierten Opferschutzvorschriften bleiben freilich Stückwerk, solange nicht auch der dogmatische ,Überbau‘ und damit die Grundkonzeption unseres Strafrechtssystems einer Revision unterzogen wird. Hier herrscht in Deutschland eindeutig noch Nachholbedarf, harren doch insbesondere die viktimologischen Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten – ausgerechnet im Strafrecht selbst – noch immer der theoretischen Berücksichtigung und Umsetzung. Solange dies nicht geschieht, wird die Prognose Schneiders (1990), der das Verbrechensopfer einmal euphorisch als die zukünftige Hauptperson der Kriminalitätskontrolle gesehen hat, wohl noch Utopie bleiben. Literatur Albrecht, Peter-Alexis (1994): Das Strafrecht im Zugriff populistischer Politik. In: Neue Justiz. S. 193ff. Albrecht, Peter-Alexis (Hg.) (1993): Festschrift für Horst Schüler-Springorum. Köln, Berlin, Bonn, München. Baumann, Ullrich (2000): Das Verbrechensopfer in Kriminalitätsdarstellungen der Presse. Freiburg i. Br. Baurmann, Michael C./Schädler, Wolfram (1991): Das Opfer nach der Straftat – seine Erwartungen und Perspektiven. BKA-Forschungsreihe. Bd. 22. Wiesbaden. Braithwaite, John (2002): Restorative justice and responsive regulation. Oxford University Press, New York u.a. Bung, Jochen (2009): Zweites Opferrechtsreformgesetz: Vom Opferschutz zur Opferermächtigung. In: Strafverteidiger (StV) 2009, S. 430ff. Claus, Stefan (2004): Das Opferanspruchssicherungsgesetz (OASG). Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern. Baden-Baden. Christie, Nils (1977): Conflicts as property. In: British Journal of Criminology, S. 1ff. Deegener, Günther (1996): Psychische Folgeschäden nach Wohnungseinbrüchen. Erfahrungen von Opfern nach Einbruchsdiebstahl und Raubüberfall. Mainz. Dornseifer, Gerhard (Hg.) (1989): Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann. Köln. Eser, Albin (1989): Zur Renaissance des Opfers im Strafverfahren. In: Dornseifer (Hg.), S. 723ff. Hassemer, Winfried/Reemtsma, Jan-Philipp (2002): Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit. München. Hess, Christine (2007): Die rechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen. Eine Analyse aus der Perspektive der Opfer. Göttingen. Hörnle, Tatjana (2006): Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht. In: Juristenzeitung (JZ), S. 950ff. Jesionek, Udo/Hilf, Marianne (Hg.) (2006): Die Begleitung des Verbrechensopfers durch den Strafprozess. Innsbruck/Wien/Bozen.
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Michael Kilchling
Kania, Harald (2003): Kriminalitätsberichte im Fernsehen und die Konstruktion subjektiver Kriminalitätswirklichkeit. Berliner Forum Gewaltprävention. Nr. 12, S. 60ff. Kilchling, Michael (1995): Opferinteressen und Strafverfolgung. Freiburg i. Br. Kilchling, Michael (2002a): Opferinteressen und der Strafanspruch des Staates – ein Widerspruch? In: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), S. 57ff. Kilchling, Michael (2002b): Reformentwurf zum strafrechtlichen Sanktionenrecht: Opferfreundlich oder nicht? In: Neue Kriminalpolitik. Heft 1, S. 4ff. Kilchling, Michael (2006): Rechtliche Rahmenbedingungen für die Opferbegleitung in Deutschland. In: Jesionek/Hilf (Hg.), S. 139ff. Lüderssen, Klaus (1999): Opfer im Zwielicht. In: Weigend/Hirsch (Hg.), S. 879ff. Reemtsma, Jan Philipp (1999): Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem. In: Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg. Heft 21. München. auch abgedruckt in: ders.: Die Gewalt spricht nicht. Reclam-Universalbibliothek Bd. 18192, S. 47ff. Sautner, Lyane/Hirtenlehner, Helmut (2008): Bedürfnisse und Interessen von Kriminalitätsopfern als Maßstab des Strafprozessrechts. Bericht von der Linzer Opferbefragung. In: Österreichische Juristenzeitung (ÖJZ), S. 574ff. Schindler, Volkhard (2001): Täter-Opfer-Statuswechsel: zur Struktur des Zusammenhangs zwischen Viktimisierung und delinquentem Verhalten. Hamburg. Schneider, Hans Joachim (1990): Das Verbrechensopfer: Die zukünftige Hauptperson der Kriminalitätskontrolle. In: Universitas, S. 627ff. Schneider, Hans Joachim (1990): Viktimologie. In: Schneider/Sieverts (Hg.), S. 405ff. Schneider, Hans Joachim (2001): Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Schwerpunkte und Fortschritte der internationalen Kriminologie; Überblick und Diskussion. Münster. Schneider, Hans Joachim (Hg.) (2007): Internationales Handbuch der Kriminologie. Band 1: Grundlagen der Kriminologie. Berlin. Schneider, Hans Joachim (2007): Viktimologie. In: Schneider (Hg.), S. 395ff. Schneider, Hans Joachim/Sieverts Rudolf (Hg.) (1990): Handwörterbuch der Kriminologie. Band 5, Lfg. 2. Berlin/New York. Stehr, Johannes (1989): Strafe, Moral und Medien. Über die Logik der massenmedialen Inszenierung von Kriminalität. In: Neue Kriminalpolitik. Heft 3, S. 30ff. Streng, Franz (1994): Bewältigungsstrategien der Opfer von Gewaltdelikten. Befunde und Überlegungen zum Stellenwert des sog. Genugtuungsbedürfnisses. In: Österreichische Juristenzeitung (ÖJZ), S. 145ff. Voß, Stephan (2003): „Du Opfer….!“. Berliner Forum Gewaltprävention. Nr. 12, S. 56ff. Walter, Michael (1993): Gedanken zur Bedeutung von Kriminalität in den Medien. In: Albrecht (Hg.), S. 189ff. Weigend, Thomas/Hirsch, Hans-Joachim (Hg.) (1999): Festschrift für Hans-Joachim Hirsch. Berlin/New York. Wenske, Mark (2008): Weiterer Ausbau der Verletztenrechte? In: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ). Heft 8, S. 434ff.
Entwicklungslinien und zentrale Befunde der Viktimologie Helmut Kury
Sozial abweichendes, von der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft unerwünschtes, verbotenes und damit irgendwann auch als „kriminell“ definiertes Verhalten gehört zu jeder Gesellschaft als „normale“ Erscheinungsform menschlichen sozialen Verhaltens. Das zeigen bereits die ältesten überlieferten Quellen der Menschheitsgeschichte (vgl. H. Kury 2007; E. Schubert 2007). Straftaten stießen auch immer auf großes Interesse der Öffentlichkeit. Schon zu Beginn der Erfindung des Buchdruckes erschienen Anfang des 16. Jahrhunderts sogenannte „Flugschriften“. Das sind Druckschriften geringen Umfangs, die – als Vorläufer der späteren Zeitungen – zu unterschiedlichen Tagesfragen Stellung nehmen „und die in der Regel als Partei- und Streitschriften wissenschaftlicher, religiöser oder politischer Art zur Aufklärung oder öffentlichen Meinungsbildung rasch und weit verbreitet werden sollen. … Durch Berichte von Unglücksfällen, Naturkatastrophen, Mordtaten, Festen und ähnlichem stellen sie ein wichtiges kultur- und zeitgeschichtliches Dokument dar“ (Staatsbibliothek zu Berlin 2000: 130). Wie ernst sie von den Regierungen genommen wurden, zeigen die häufigen Reglementierungen, denen ihr Erscheinen unterworfen war. Schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts versuchten die Reichspolizeiordnungen von 1548 und 1577 ihnen entgegenzutreten, allerdings ohne Erfolg (Staatsbibliothek zu Berlin 2000: 132). Von Anfang an spielten Berichte über Kriminalität, vor allem über spektakuläre Fälle neben anderen „Sensationen“ eine wesentliche Rolle. Kriminalfilme sind heute ein wesentlicher Bestandteil jeden Fernsehprogramms, Kriminalromane einer der meisten beachteten Literaturgattungen. Dabei wurde und wird jedoch nahezu ausschließlich über die Tat und den Täter berichtet, das Opfer rückt dagegen deutlich in den Hintergrund. Das diesem, gerade bei schweren Verbrechen, oft zugefügte und lang andauernde Leid berührt weniger das öffentliche Interesse. Wer beschäftigt sich schon gerne intensiv mit der Frage, wie schlecht es diesem nun gehen mag? Das drückt nur auf die eigene Stimmung und löst etwa noch Ängste aus, dass man dasselbe Schicksal erleiden könnte. Auch von staatlicher Seite kümmerte man sich bis ins letzte Jahrhundert wenig um die Opfer. Der Täter wurde bestraft, damit sollte, neben der Gesellschaft, auch das Opfer seine „Genugtuung“ haben und zufrieden gestellt werden. Erst gegen Mitte des letzten Jahrhunderts beschäftigte sich die Kriminologie und später auch die Rechtspolitik mehr mit dem Opfer von Straftaten.
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Helmut Kury
Entwicklung der Viktimologie
Eine erste systematische und wissenschaftliche Beschäftigung mit Kriminalität setzte erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Zeitalter der Aufklärung ein. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wird vielfach als Beginn einer wissenschaftlichen Kriminologie betrachtet (H. Kury 2007: 59; K.-L. Kunz 2001: 84ff.). Anfang des 18. Jahrhunderts wurden in Frankreich die ersten Kriminalstatistiken erstellt, davor gab es nur mehr oder weniger rudimentäre und regional begrenzte Aufzeichnungen, etwa über Tötungsdelikte. Einzelne Autoren unterteilen die Entwicklungsphasen des Faches in unterschiedliche Stufen, so etwa Schneider (1987: 91) in die drei Epochen der Klassischen Schule des 18. Jahrhunderts, der Positivistischen Schule zu Ende des 19. Jahrhunderts und einer neuzeitlichen Kriminologie der Mitte des 20. Jahrhunderts. Parallel zu diesen Epochen haben sich immer wieder kriminalpsychologische oder kriminalsoziologische Strömungen ergeben, im Rahmen derer etwa versucht wurde, die kriminelle Persönlichkeit bzw. die Kriminalitätsursachen in der Gesellschaft zu untersuchen. So hat etwa Eckartshausen im ausgehenden 18. Jahrhundert empirische Aussagen zur Kriminalitätsentstehung und -prävention gemacht, wie etwa zu Fragen der Entstehung des Verbrechens bzw. einzelner Verbrecherkategorien, zu Kriminalprävention bzw. einer sinnvollen Kriminalpolitik (J. Kürzinger 1986: 178). Eckartshausen war nach Kürzinger (1986: 191f.) „vor 1800 derjenige …, der sich empirisch am eingehendsten mit kriminalpsychologischen Fragen beschäftigt hat“. Ihm bleibe „das Verdienst, erstmals empirische Befunde zu kriminalpsychologischen Fragen zusammenhängend dargestellt zu haben“. 1876 erschien die erste Auflage von Lombrosos „L’uomo delinquente“. Ab dieser Zeit beschäftigte sich somit die Kriminologie mit der kriminellen Persönlichkeit, aber eben noch nicht, oder bestenfalls am Rande und ohne Breitenwirkung, mit dem Opfer von Kriminalität: “Zu sehr ist die traditionelle Betrachtung wohl noch auf Tat und Täter gerichtet, als dass sie dem Verbrechensopfer schon eine größere Beachtung hätte schenken können …“ (G. Kaiser 1996: 532). Sie hatte in „den Theorieansätzen und Forschungen nur den Täter im Visier“ (K. Sessar 1985: 1139). Allerdings wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Täter mehr und mehr in seinen sozialen Bezügen gesehen, was zwangsläufig das Augenmerk auch auf das „Umfeld“ und damit das Opfer lenken musste. Obwohl die Theorie Lombrosos damals weit verbreitet und anerkannt war, gab es bald neuere Untersuchungen, die deren Aussagekraft eindeutig in Frage stellten (vgl. etwa A. Baer 1893). Von Liszt (1898: 234) betonte dann in seiner „Vereinigungstheorie“, dass das Verbrechen das Produkt ist „aus der Eigenart des Täters im Augenblick der Tat und aus den ihn in diesem Augenblick umgebenden äußeren Verhältnissen“. Dieses Konzept wird von der von von Liszt u.a. gegründeten Internationalen Krimi-
Entwicklungslinien und zentrale Befunde der Viktimologie
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nalistischen Vereinigung übernommen und hat die kriminologische Diskussion bis Mitte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst (G. Kaiser 1996: 115). 1.1
Erste Anfänge einer Viktimologie
Die Anfänge der Viktimologie, zumindest einer systematischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Opfer und entsprechender Forschung hierzu, werden in der Regel etwa in der Mitte des letzten Jahrhunderts gesehen (H. J. Schneider 2007: 306). Zwar haben, wie etwa Schwind (2009: 389) ausführt, sich bereits Feuerbach (1828) im Rahmen seiner „aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen“ oder Ferri (1896) in seinen Überlegungen zum „Verbrechen als sozialer Erscheinung“ mit dem Opfer beschäftigt, auch wurden hiernach Opferfragen bereits auf den internationalen Kriminologischen Kongressen 1835 in Paris und 1900 in Brüssel diskutiert, allerdings hatte dies kaum bleibende Auswirkungen auf die weitere Diskussion in der Kriminologie. Schneider (1987: 751) betont: „Seit Mitte des 18. Jahrhunderts befasst sich die Kriminologie mit kriminellem Verhalten und seit Ende des 19. Jahrhunderts mit der kriminellen Persönlichkeit. Das Verbrechensopfer ist erst seit dem 2. Weltkrieg Gegenstand kriminologischer Forschung“. Ein Aufschwung der Viktimologie, der diese zu einem Teilgebiet der Kriminologie und einer international anerkannten interdisziplinären Wissenschaft machte, kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang und sicherlich vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus demselben, vor allem des Holocaust. Nach Kaiser (1996: 532) wird überall „die Rolle des Opfers erst in neuerer Zeit problematisiert und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch erforscht“. Die Entwicklung der Viktimologie wurde dadurch begünstigt, dass neben den individuellen Aspekten von Straftaten mehr und mehr auch deren soziale Hintergründe und das durch Kriminalität geschaffene gesellschaftliche Problem, etwa in der Schädigung des Opfers, erkannt wurden. Hierzu trug vor allem die aufkommende empirische sozialwissenschaftliche Forschung, die sich auch auf die kriminologische Forschung, insbesondere in den anglophonen Ländern, auswirkte, wesentlich bei. Während des Nationalsozialismus erlitt die Soziologie/ Sozialwissenschaft einen deutlichen Niedergang. Allerdings finden sich auch hier vereinzelte viktimologische Ansätze, etwa in den Ausführungen von Roesner (1938) über „Mörder und ihre Opfer“. Eine Analyse der kriminologischen Lehrbücher der ersten Nachkriegszeit zeigt allerdings noch deutlich, „dass damals Verbrechensopfer oder Täter-Opfer-Beziehungen in ihrem Rang entweder gar nicht erkannt oder noch kaum zu den relevanten Dimensionen kriminologischer Analyse gerechnet werden“ (G. Kaiser 1996: 531). Die Bedeutung von Täter-Opfer-Beziehungen wird etwa bei schweren Straftaten, wie Mord, teilweise gesehen, auch die „Eignung“ Einzelner für eine Viktimisierung, allerdings ist der Blickwinkel vor dem Hinter-
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grund der „klassischen“ Kriminologie und deren Fragestellungen noch mehr auf Tat und Täter gerichtet. Für Edmund Mezger (1944: 29) beispielsweise, der noch von einer psychopathologischen Erklärung von Straftaten ausgeht, „die das Verbrechen von der Seite der seelischen Krankheit und der seelischen Abnormität her zu verstehen sucht“, ist die Kriminologie „die Lehre vom seelisch-körperlichen Ursprung des Verbrechens“. Er tritt noch für eine Methode des Verstehens ein, für ein „subjektiv nachfühlendes Nacherleben“ (E. Mezger 1951: 8). Das Opfer hat hier noch keinen Stellenwert und findet entsprechend keine Erwähnung. Es geht zentral noch um Tat und vor allem Täter, auch die sozialen Umstände eines Tatgeschehens werden nach wie vor ausgeblendet. „Kriminologie kommt vom Einzelfall her und zielt wieder zum Einzelfall … Die exakte kriminologisch-kriminalpsychologische Analyse des Einzelfalles ist daher ein unentbehrliches Hilfsmittel, ja im Ganzen betrachtet, das wichtigste Ziel aller Kriminologie“ (1951: 13). Neben solchen traditionellen, in der herkömmlichen Sichtweise von Kriminologie verharrenden Lehrmeinungen, zeigen sich jedoch schon deutliche Vorläufer einer späteren Viktimologie. Nach Schneider (2007: 396) hat die Entwicklung einer eigenständigen Viktimologie mit Hans von Hentig begonnen, der 1941 einen Aufsatz und 1948 einen Band über die Interaktion von Täter und Opfer geschrieben hat. Waren „Täter“ und „Opfer“ bis dahin eher statische Begriffe, konzipierte von Hentig eine dynamische Sichtweise der Verbrechensentstehung. Jetzt ist das Verbrechensopfer „kein passives Objekt mehr, sondern es wird zum aktiven Subjekt im Kriminalisierungs- und Entkriminalisierungsprozess. Es geht nicht allein mehr um die Menschenrechte des Täters, sondern ganz wesentlich und ganz ernst auch um die des Verbrechensopfers“ (H. J. Schneider 1981: 683). Kriminalität und Viktimisierung werden hier nun als Prozesse sozialer Interaktion gesehen. Hier rückt somit auch deutlich ein sozialwissenschaftliches Verständnis des Kriminalitätsgeschehens in den Vordergrund. Von Hentig setzte sich ein für „eine opfer-, gemeinschafts- und täterausgerichtete, sozialpsychologische Kriminologie“ (H. J. Schneider 2007: 396). Bei von Hentig ergänzen sich Täter und Opfer gegenseitig. Andere Autoren unterstützten die neue Blickrichtung einer dynamischen Kriminologie, wie beispielsweise Ellenberger (1954), der die Täter-Opfer-Beziehung untersuchte und bereits betonte, dass sich die Rollen in der Regel abwechseln, man nacheinander Opfer und Täter bzw. umgekehrt sei. Die Lebensgeschichte schwerer Verbrecher würde deutlich deren Viktimisierungen als Kinder in Form von Misshandlungen, Ausbeutung bzw. Verwahrlosung belegen. Gerade die soziale Isolation mache besonders opferanfällig. Diese neue dynamische und gesellschaftsbezogene Sichtweise des Kriminalitätsgeschehens wurde erheblich durch das Erstarken der Sozialwissenschaften begünstigt. Deutlich wird der Blickwechsel, wie Schneider (1981: 683) zu Recht betont, gerade etwa beim Stellenwert der Schadenswiedergutmachung. Bereits Bentham (1896: 271) diskutiert die Wiedergutmachung des beim Opfer angerichteten Schadens durch den Täter, allerdings geht es ihm dabei alleinig um die Bestra-
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fung desselben und die Abschreckung weiterer Täter. Er diskutiert vier „Klassen“ von „Heilmitteln“ gegen Straftäter: Prävention, Unterdrückung, Befriedigung („Satisfactory Remedies“) und strafrechtliche Reaktionen/Strafe: „Satisfactory Remedies consist of reparations or indemnities, secured to those who have suffered from offences“. Für Garofalo (1852–1934) „war die Gewährung von Wiedergutmachung schon ein starkes Mittel zur ,sozialen Verteidigung‘ gegen den Rechtsbrecher” (H. J. Schneider 1981: 683; R. Garofalo 1975). Für Sara Margery Fry (1959) schließlich war Wiedergutmachung dann ein Versuch der Aussöhnung zwischen Täter und Opfer. Beniamin Mendelsohn, ein Jerusalemer Rechtsanwalt, soll 1947 bei einem Vortrag in Bukarest zu dem Thema „Neue bio-psycho-soziale Horizonte: Viktimologie“ auf eine Opferforschung aufmerksam gemacht und der neuen aufkommenden Wissenschaft als erster den Namen gegeben haben (vgl. H.-D. Schwind 2009: 389). Wie Schneider (1975: 21) allerdings betont, hat bereits 1934 Hans von Hentig von einer „Viktimologie“ gesprochen. Nach Schneider (1982: 10) hat vor allem Fredric Wertham in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene Wissenschaft, die sich mit dem Opfer beschäftigt, gefordert. Als ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung einer aufkommenden Opferwissenschaft wird von Hentigs Veröffentlichung über „The criminal and his victim“ (1948) gesehen. Bereits in den Anfängen der Entwicklung einer Viktimologie machte man sich auch Gedanken über eine Typologie der Opfer. Die wohl bekannteste und auch älteste systematische Opfertypologie stammt von Hans von Hentig (1962: 439ff.). Hiernach wurde unterteilt nach Opfern a) aufgrund räumlich-zeitlicher Situation (etwa mehr Viktimisierungen an Wochenenden), b) aufgrund familiärer Stellung (wie Kindes- und Frauenmisshandlung), c) aufgrund beruflicher Stellung (wie Taxifahrer, Prostituierte), d) aufgrund von Gewinn- oder Lebensgier (Betrüger), e) aufgrund von Leichtgläubigkeit (überteuerte Angebote, Versicherungsbetrug), f) aufgrund eigenen aggressiven Verhaltens (etwa Jugendliche), g) aufgrund der Herkunft (Rasse, religiöse Minderheiten), h) aufgrund geringen Widerstandes (Frauen, alte Menschen) und i) aufgrund besonderer biologischer Konstitution (Kinder, körperlich Behinderte). Kaiser (1996: 537) kritisiert zu Recht, dass diese Klassifikationen kaum zusätzliche Erkenntnisse bringen. In der folgenden Forschung wurden weitere Hintergründe für eine Viktimisierung herausgearbeitet, etwa die Bedeutung eines bestimmten Lebensstils, gleichzeitig wurde aber auch auf die vielfach vorliegenden Zufälligkeiten hingewiesen. Nach dem Lebensstilkonzept beeinflusst das eigene Verhalten, insbesondere in der Öffentlichkeit, die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden (vgl. D. Hermann 2003: 82ff.). Weitere neuere theoretische Ansätze, die sich mit der Frage beschäftigen, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden, sind etwa die Routine Activity Theorie (L. E. Cohen/M. Felson 1979: 588ff.), die dem Lebensstil-Konzept ähnelt und das Viktimisierungsrisiko mit Alltags-Routinen wie Arbeiten, Freizeitbeschäftigung oder Ausgehverhalten in Verbindung bringt, die „kulturelle“ Viktimisierungs-
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theorie, die an rassische, ethnische oder religiöse Unterschiede anknüpft (vgl. bereits H. v. Hentig 1962, oben) und durch die jüngere Diskussion um „Hasskriminalität“ bzw. politisch motivierte Kriminalität, vor allem junger Menschen, eine besondere Aktualität bekommen hat (vgl. W. Heitmeyer/J. Müller 1995), sowie die Theorie der „erlernten“ Hilflosigkeit (M. Seligman 1975), die davon ausgeht, dass bei Menschen, die sich über lange Zeit in belastenden, ausweglosen Situationen befinden, eine Verhaltensänderung derart bewirkt wird, die sie leichter wieder zu Opfern werden lässt bzw. ihnen einen Ausweg aus der Opferrolle erschwert. Diese neueren theoretischen Ansätze geben nicht nur Hinweise auf die Hintergründe einer Viktimisierung, sondern auch auf mögliche Präventionsstrategien. Es ist allerdings zu beachten, dass in der Regel Einzelaspekte eines in der Regel komplexen Geschehens betont werden und die Erklärungsansätze sich jeweils auf spezielle Gruppen von Opfersituationen, etwa durch „Straßenkriminalität“, beziehen, andere, wie etwa Viktimisierungen in der Familie, entsprechend vernachlässigt werden. Geht die Routine Activity Theorie davon aus, dass, wie Kriminalität, auch Viktimisierung teilweise vom Lebensstil bzw. den Alltagsgewohnheiten abhängen kann, dann kann die Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung durch eine Änderung dieser Alltagsroutinen partiell verändert werden, etwa, indem bestimmte Örtlichkeiten bzw. Verhaltensweisen gemieden werden. Hier besteht allerdings die Gefahr einer inadäquaten Verhaltenseinschränkung bzw. einer Zuweisung der „Verantwortung“ an die Opfer selbst. „Kulturelle“ Viktimisierungsansätze haben vor dem Hintergrund einer wachsenden Globalisierung und Mobilität in letzter Zeit eine zunehmende Bedeutung erlangt. Wurde „Rassendiskriminierung“ bis vor wenigen Jahren noch vorwiegend als Problem der USA gesehen, werden inzwischen auch die europäischen Länder damit konfrontiert. Durch die Einwanderung von Menschen mit anderen kulturellen bzw. religiösen Hintergründen und damit Wertmaßstäben ergeben sich teilweise erhebliche Konflikte mit der Gastkultur. So werden die „Einwanderer“ etwa auch vor diesem Hintergrund abgelehnt, man denke etwa an die so genannte „Hasskriminalität“. Teilweise ergeben sich Konflikte aus unterschiedlichen Wertvorstellungen, etwa hinsichtlich der Stellung und Rechte von Frau und Kindern in Familie und Gesellschaft. Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit bezieht sich auf psychologische Prozesse, durch die ein Opfer im Kontext schädigender Umwelt- bzw. Erziehungseinflüsse unter Umständen lebenslang geprägt sein kann. So werden beispielsweise Kinder aus sie missbrauchenden Familien nicht nur vielfach schwer geschädigt, sondern „geraten“ in ihren eigenen späteren Familien wiederum in Situationen, in denen sie missbraucht werden. 1.2
Etablierung des Faches
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Viktimologie konstant und stetig weiter. Es war nicht mehr zu übersehen, welch fruchtbare Auswirkungen von ihr
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auf das Gesamtgebiet der Kriminologie ausgingen. Nach Kaiser (1996: 533) nahm die viktimologische Forschung vor allem ab den 1980er Jahren einen „eindrucksvollen Aufschwung“, wobei dieser zweifellos in den Jahren davor schon vorbereitet wurde. Nach Schneider (2007: 396) ist sie „im letzten halben Jahrhundert … vom Rande der Kriminologie in ihr Zentrum vorgerückt“. Geis (1998: 315) vergleicht den durch die aufkommende Viktimologie in der Kriminologie und Kriminaljustiz hervorgerufenen Wandel auf weltpolitischer Ebene mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion: „That shift has seen the increasing integration of victim concerns into research and into the operation of criminal courts and other venues dealing with illegal behavior“. Nach Amelunxen (1970: 18) konnte mit dem Aufkommen der Viktimologie die Erforschung von Kriminalität in einem „Dreiklang von Tat, Täter und Opfer“ erst abgerundet werden. Gelb (2006: 3) betont: „The 1960s saw the rise of the victims’ movement and the development of the victim as a third party (along with the offender and the state) in the criminal justice process. In the ensuing three decades this movement became more coherent and organised, leading to the institutionalisation of victims’ views in the criminal justice system via formal mechanisms such as victim impact statements and victim representation on parole boards“. Zum einen machte die neue Blickrichtung zunehmend deutlich, dass Kriminalität nicht ohne die Berücksichtigung des Opfers, vor allem auch den Auswirkungen einer Viktimisierung auf dieses, verstanden werden kann, dass die Auswirkungen von Straftaten auf die Opfer ein wesentliches gesellschaftspolitisches Problem darstellen. Zum anderen wurde die neue Fachrichtung allerdings auch von den aufkommenden Sozialwissenschaften und deren neuen Forschungsmethoden, vor allem beispielsweise der Umfrageforschung, erheblich und nachhaltig unterstützt. Hinzu kam ein deutlicher Anstieg der registrierten Kriminalitätsbelastung, vor allem auch der Gewaltkriminalität, in einigen Ländern, wie etwa den USA, England und Wales aber auch anderen westlichen Ländern, schließlich spektakuläre Morde an Politikern oder anderen Prominenten. Die ersten Opferstudien zeigten, dass die Polizei bei ihren Strafverfolgungsmaßnahmen in überraschendem Ausmaße auf eine Zusammenarbeit mit Opfern und Zeugen angewiesen ist, da ihr ca. 4/5 aller Straftaten durch diese bekannt gegeben werden. Jung (1993: 583) sieht die Gründe für den Aufschwung der Opferforschung in der anregenden Wirkung, die von den aufkommenden Opferbefragungen ausging, dem zunehmenden Engagement für sozial Schwache, einer verstärkten Sensibilisierung für Erscheinungen der Gewalt allgemein, insbesondere aber hinsichtlich Kindesmisshandlung und Vergewaltigung, schließlich aber auch in einem sich wieder verstärkt bemerkbar machenden „Law-and Order“-Denken. Kaiser (1996: 533) erwähnt als Gründe für eine „Blickschärfung für Funktion und Belange des Opfers“ das Bewusstsein für eine steigende Kriminalität, Verbrechensfurcht und Opferbefragungen, im Anschluss daran ein neues Interesse am Anzeigeverhalten,
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Selbsthilfe und Sozialkontrolle: „Die strategische Rolle des Opfers in seiner Macht zur Definition und Selektion des Verbrechers und damit als Agent strafrechtlicher Sozialkontrolle wird sichtbar“. Kaiser (1996: 532) betont zu Recht, dass von der „Konzeption einer übergreifenden Opferlehre … fraglos eine starke Faszination“ ausging, vor allem auch deshalb, weil sich „damit ein begrüßenswertes sozialpolitisches Anliegen verbindet“. Der Autor betont jedoch weiter (1996: 532f.), dass man zumindest anfangs der „kriminologischen Bedeutung des Opfers nicht stets gerecht (wurde). Denn auch jetzt pflegt man aus der kriminologischen Täterforschung bekannte Fragestellungen häufig nur zu übernehmen und auf die Opferanalyse sinngemäß anzuwenden. So lässt etwa die Frage danach, ob es ein geborenes Opfer gäbe, erkennen, dass sich im viktimologischen Forschungsfeld die kriminologische Wissenschaftsgeschichte zu wiederholen scheint“. Nach Sessar (1985: 1140) bedeutet eine „Opferforschung als Korrelat zur Täterforschung … die Suche nach viktimogenen Faktoren vor allem psychischer und sozialer Art, Charakteristika also, die jemanden attraktiv genug machen, das Ziel einer Straftat zu werden. Ähnlich der Kriminologie, deren Entstehungsbedingungen bei näherem Hinsehen stets den Mehrfachtäter meinen, interessiert sich die Viktimologie für Mehrfachopfer“. Von einer über Einzelaspekte hinausgehenden, systematischen viktimologischen Forschung kann man erst in den 1980er Jahren sprechen. Wie die neue Wissenschaftsrichtung, die sich anfangs erst festigen musste, letztlich umschrieben werden sollte und wie sie etwa von der Kriminologie abzugrenzen bzw. in diese einzufügen sei, war anfangs durchaus strittig. Mendelsohn (1974) etwa hatte ein breiteres, von der kriminologischen Forschung losgelöstes, Verständnis von Viktimologie und wollte für das Opfer charakteristische biologische, psychologische und soziale Merkmale untersucht sehen, ähnlich wie die Kriminologie das für die Täterpersönlichkeit tut. Er sah Kriminologie und Viktimologie vor allem als jeweils selbständige Wissenschaften, wobei letztere sich nicht nur mit Opfern von Straftaten, sondern ebenso mit solchen von Naturkatastrophen oder Unfällen, also „mit allen für die Gesellschaft interessanten Kategorien von Opfern im Hinblick auf alle Arten von Schadensfällen“ beschäftigen sollte. Nach Jung (1993: 582) geht von der Konzeption einer übergreifenden Opferlehre zwar eine „starke Faszination aus, zumal sich damit ein begrüßenswertes sozialpolitisches Anliegen verbindet. Die Zuordnung der Viktimologie zur Kriminologie verdient jedoch den Vorzug. Denn eine allgemeine Opferlehre erscheint im Gefolge der Unschärfe des Opferbegriffs zu wenig konturiert, um als eigenständiges Wissenschaftsgebiet gelten zu können“. Zwar wurde die Auseinandersetzung darüber, ob die Viktimologie eine eigenständige Wissenschaft oder Teil der Kriminologie sein sollte, bis in die 1960er Jahre hinein geführt. Allerdings konnte sich letztlich eine eigenständige Viktimologie als unabhängiges Fach nicht etab-
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lieren. Gerade in der Kriminologie hatte man inzwischen die zentrale Bedeutung des Opfers von Straftaten, auch hinsichtlich der Erklärung derselben, erkannt. Die Viktimologie wurde somit zu einem Teilgebiet der Kriminologie, hier allerdings zu einem zentralen. Die heutige Kriminologie ist ohne die Viktimologie und ihre Forschungsergebnisse nicht mehr denkbar. 1.3
Internationale Kongresse und World Society of Victimology
Zu einer Konsolidierung des neuen Wissenschaftsbereiches der Viktimologie trugen auch wesentlich die ab den 1970er Jahren in dreijährigem Abstand durchgeführten Internationalen Symposien für Viktimologie bei, auf der sich Forscher aus aller Welt trafen und treffen, um ihre Ergebnisse zu diskutieren. Das erste fand 1973 in Jerusalem statt. Hier ging es noch wesentlich um eine Gegenstandsbestimmung und Abgrenzung des neuen Faches. 1975 fand ein Internationales Seminar für Viktimologie in Italien statt.1 Anlässlich des 3. Symposiums in Münster wurde auch eine „World Society of Victimology“ gegründet, die seither die internationalen Symposien ausrichtet. 1980 fand in Washington D.C. ein Weltkongress für Viktimologie statt. Inzwischen gibt es auch mehrere internationale Zeitschriften, die Forschungsergebnisse veröffentlichen und Fragen der Viktimologie diskutieren. Die Internationalen Symposien beschäftigten sich mit zentralen Fragen viktimologischer Forschung, aber auch mit opferrechtlichen Fragestellungen. Durch die Durchführung der umfangreichen internationalen Tagungen in den unterschiedlichen Ländern konnten weltweit Anregungen hinsichtlich Opferforschung aber auch Opfergesetzgebung und Opferpolitik gegeben werden. 1.4
Victim Surveys
Wie bereits erwähnt fällt die aufkommende Beschäftigung mit dem Opfer von Straftaten zusammen mit einem Aufblühen der (empirischen) Sozialwissenschaften, insbesondere der Umfrageforschung, vor allem in den USA. So kommt Kaiser (1996: 534) hinsichtlich der Frage, was den Aufschwung der Viktimologie im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts bewirkte, zusammenfassend zu dem Ergebnis: „Entscheidend ist … die Entwicklung und Anwendung der Opferbefragung sowie die breite und intensive Verknüpfung der neuen Befunde mit dem gesamtkriminologischen Wissen, der Einschätzung innerer Sicherheit, der Kriminalpolitik und – obschon etwas verzögert – der Strafrechtsdogmatik“. Nach Jung (1993: 585) kann die Entwicklung der Opferbefragung „als Gradmesser des Fortschritts für die Viktimologie gelten. Opferbefragungen haben ganz allgemein 1
Die weiteren Internationalen Symposien für Viktimologie fanden dann 1976 in Boston statt, 1979 in Münster/ Westfalen, 1982 in Tokio und Kyoto, 1985 in Zagreb/Jugoslawien, 1988 erneut in Jerusalem, 1991 in Rio de Janeiro, 1994 in Adelaide/Australien, 1997 in Amsterdam, 2000 in Montreal, 2003 in Stellenbosch/Südafrika, 2006 in Orlando/USA und 2009 in Mito/Japan.
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gesehen unser Wissen um die Verbrechenswirklichkeit auf eine differenzierte Grundlage gestellt“. Ein zentrales Problem von Beginn der Aufzeichnung von Straftaten in Kriminalstatistiken war das Dunkelfeld, also der Teil der Kriminalität, der von den offiziellen Kontrollbehörden nicht erfasst und offiziell registriert wurde. Man war sich von Anfang an darüber im Klaren, dass die Aussagekraft der Statistiken dadurch mehr oder weniger beeinträchtigt wird, wobei das Ausmaß des Problems anfangs allerdings deutlich unterschätzt wurde (vgl. H. Kury 1998). Anfang des letzten Jahrhunderts bekam die Dunkelfeldforschung zunehmende Bedeutung. Oba (1908) prägte den Begriff der „Dunkelziffer“. Die empirische Dunkelfeld- bzw. Opferforschung machte mit dem Aufkommen der sozialwissenschaftlichen Umfrageforschung ab Mitte des 20. Jahrhunderts enorme Fortschritte. Es war in den empirischen Sozialwissenschaften zunehmend üblich geworden, ausgewählte Stichproben nach unterschiedlichsten Sachverhalten, Gefühlen, Motiven oder Erinnerungen zu befragen, etwa nach der weiterführenden Anregung des USamerikanischen Sozialpsychologen Allport (1941: 37): „Why not ask them?“. Von daher lag es nahe, diese Methode auch auf den Bereich Straffälligkeit anzuwenden, vor allem auch deshalb, weil „die Überlegungen und Vermutungen zum Dunkelfeld die Befürchtungen aufkommen ließen, dass nicht sehr viele weitere Alternativen zur Verfügung stehen würden“ (M. Amelang 1986: 142). Im Zusammenhang mit der „Wiederentdeckung“ des Opfers von Straftaten entwickelten sich neben den Dunkelfeldstudien zur selbstberichteten Delinquenz vermehrt Erhebungen zur Opferwerdung (sogenannte „Victim Surveys“). Nach Kaiser (1996: 144) wurde die erste Opferbefragung im deutschsprachigen Bereich von Rennert (1965) durchgeführt und zwar zu einem auch heute noch aktuellen Thema, der „Dunkelziffer bei sexuellen Straftaten“. In den USA wurden erste große Studien von der „President’s Commission on Law Enforcement and Administration of Justice“ angeregt. Bei einer nationalen Untersuchung von Ennis (1967) wurde eine repräsentative Stichprobe von 9.644 erwachsenen US-Amerikanern nach eigenen Viktimisierungen bzw. solchen von Haushaltsmitgliedern während des letzten Jahres befragt. Unter anderem wurde auch danach gefragt, ob im Falle einer Viktimisierung die Tat auch angezeigt wurde, wenn nein, warum nicht. Diese bahnbrechenden Untersuchungen, welche die Vorteile, allerdings auch bereits die Probleme der Umfragemethodik im kriminologischen Bereich recht deutlich machten, können als „Marksteine“ der empirisch-kriminologischen Forschung bezeichnet werden. Eines der wesentlichen Resultate der ersten grundlegenden Untersuchungen war, dass vor dem Hintergrund der erfassten Anzeigequote der Anteil der von den offiziellen Kontrollorganen nicht entdeckten Straftaten etwa als genau so groß anzunehmen ist, wie die polizeilich registrierte Kriminalität. Der Umfang dieses Dunkelfeldes erwies sich allerdings stark abhängig von der Art des Deliktes.
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Schneider (1987: 211) etwa kommt in diesem Zusammenhang zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass „mehr als doppelt so viele Straftaten begangen, wie angezeigt werden. … Das Dunkelfeld, das von Delikt zu Delikt und von Land zu Land unterschiedlich ist, ändert seinen Umfang und seine Struktur mit dem Zeitablauf (z. B. mit dem Wandel in der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung, in der Intensität der Verbrechensbekämpfung). Die offizielle Kriminalstatistik erfasst im Wesentlichen die traditionellen Verbrechen, die am schwersten sind und die von den Straftätern am häufigsten begangen werden“. Er betont zu Recht (1987: 213), dass das Dunkelfeld einiger Deliktsgruppen besonders hoch sei und nennt Rauschmittelkriminalität, Wirtschaftsstraftaten, Gewaltanwendung und Sexualstraftaten in der Familie (Frauen- und Kindesmisshandlung, Vergewaltigung in der Ehe, Inzest) und Vandalismus. Nach ihm werden „nahezu die Hälfte aller Straftaten“ angezeigt. Mit dieser Feststellung wird wiederum suggeriert, dass somit etwa jede zweite tatsächlich begangene Straftat offiziell registriert werde und damit in die Statistik Eingang findet. Hierbei würde die Polizeiliche Kriminalstatistik somit ca. die Hälfte aller begangenen Straftaten ausweisen. Heinz (2002: 699) gibt dagegen kritisch zu bedenken, dass man aufgrund von Bevölkerungsbefragungen davon ausgehen müsse, „dass von den persönlich erlittenen Eigentums- und Gewaltdelikten durchschnittlich weniger als die Hälfte der Delikte angezeigt wird, möglicherweise sind selbst diese Befragungsergebnisse noch deutlich überschätzt“ (vgl. H. Kury 2001). Opferbefragungen boten nun, neben zusätzlicher Information über das Dunkelfeld, vor allem auch Wissen über weitere Aspekte des Kriminalitätsgeschehens. Wenn man die Bevölkerung über erlittene Viktimisierungen mittels eines Fragebogens befragt, kann man über dieses Instrument auch gleich weitere Informationen einholen, die von Interesse sind, vor allem zum Anzeigeverhalten, der Furcht vor einer Viktimisierung, der Beeinflussung durch eine selbst erlittene Viktimisierung (Opferschaden), der Einstellung zu den Kontrollorganen (Polizei, Gerichte) oder zu den ausgesprochenen Sanktionen. Dadurch waren nun neben dem reinen Kriminalitätsgeschehen (welche Straftat wurde erlitten, welche Schäden wurden verursacht, wurde Anzeige erstattet?) zusätzliche, ausgesprochen politisch relevante Informationen zum „Umfeld“ von Kriminalität verfügbar. Von Anfang an wurden solche Zusatzinformationen mit erhoben. Es wurde zunehmend deutlich, wie die Bevölkerung Kriminalität erlebt und vor allem auch, was sie als staatliche Reaktion hierauf erwartet. Inzwischen sind die Ergebnisse aus solchen „Zusatzinformationen“ in aller Regel kriminalpolitisch zumindest genauso bedeutsam wie diejenigen über die Kriminalitätsbelastung und deren Entwicklung. Inzwischen wurde die Methode der Opferbefragung auch bei kriegerischen Konflikten zwischen einzelnen Völkern, so etwa dem Nahost-Konflikt, fruchtbar angewandt (vgl. H.-Ch. Rohne 2007). Rohne (2007: 342) appelliert vor dem Hintergrund seiner empirischen Studie, die „von der konventionellen Viktimologie in den letzten Jahren erfolgreich entwickelten Ansätze zur Erfassung der Op-
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ferperspektive … (auch) in dem Bereich kollektiver Konflikte nutzbar“ zu machen.2 Erste größere repräsentative und landesweite Opferstudien, die mehr oder weniger regelmäßig wiederholt wurden, wurden in den USA seit 1972 durchgeführt (R. L. Block 1984), in den Niederlanden seit 1974 (J. J. M. van Dijk/C. H. D. Steinmetz 1980) und in Großbritannien seit 1982 (M. Hough/P. Mayhew 1985).3 Einen erheblichen Fortschritt in der Diskussion international vergleichender Opferforschung brachte die 1989 erstmals durchgeführte International Crime and Victimization Survey – ICVS, die inzwischen weltweit im Wesentlichen mit demselben Instrument und vergleichbarer Erhebungsmethodik fünf Mal wiederholt wurde (1989, 1992, 1996, 2000 und 2005). Dadurch konnten die offiziellen Kriminalstatistiken ergänzende Befunde zur Straftatenbelastung in einzelnen Kriminalitätsbereichen (Straftaten im Zusammenhang mit Fahrzeugen, Diebstahl und Einbruch, Kontaktkriminalität, Sexualstraftaten, körperlicher Angriff) zur Verfügung gestellt und damit internationale Vergleiche auf ein sichereres Fundament gestellt werden. Vor allem aber wurden auch vergleichende Daten etwa zu Anzeigeverhalten, Verbrechensfurcht und Sanktionseinstellung gewonnen. Bei aller methodischen Problematik, die gerade solche international vergleichenden Studien liefern, brachte die ICVS einen erheblichen Erkenntnisgewinn.4 In Deutschland wurden bisher vorwiegend regionale Opferstudien durchgeführt, regelmäßig durchgeführte Victim Surveys gibt es in Deutschland bisher nicht, obwohl Vorbereitungen hierzu getroffen, die Vorschläge politisch allerdings bisher noch nicht umgesetzt wurden. Erste regionale Umfragen wurden von Schwind u. a. (1975) in Göttingen und später in Bochum durchgeführt. Weitere frühe Studien fanden etwa statt von Kirchhoff (1975), Plate u. a. (1985) oder was Kinderdelinquenz betrifft von Remschmidt u. a. (1976). Einen Aufschwung der Opferstudien in Deutschland gab es im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Ende der 1980er Jahre. Eine erste repräsentative Opferstudie in Westdeutschland (einschließlich West-Berlin) wurde kurz vor der Wiedervereinigung 2
Obwohl bereits früh auf theoretische und Methodenprobleme hinsichtlich Verbrechensfurcht und Sanktionseinstellungen und deren Messung hingewiesen wurde (H. Kury 1995), die etwa auch für zumindest einen Teil der unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Resultate verantwortlich sind, ist erst in den letzten Jahren eine Neuorientierung hinsichtlich deren Messung und der Bewertung der Ergebnisse in Anfängen ersichtlich. Methodenstudien machten deutlich, dass etwa die Verbrechensfurcht in der Bevölkerung, aber auch deren Punitivität über die mit „klassischen“ Opferstudien gefundenen Ergebnisse erheblich überschätzt wird (vgl. St. Farrall u. a. 1997; H. Kury u. a. 2009). Es ist zu hoffen, dass diese Erkenntnisse zu einer Verfeinerung der Konzepte und vor allem auch der Messungen derselben führen, gerade auch vor dem Hintergrund der politischen Bedeutung der Ergebnisse. 3 Auch in andern Ländern wurden früh nationale Opferstudien durchgeführt, so etwa in Kanada, Australien, Frankreich, der Schweiz, Spanien oder den Skandinavischen Ländern (vgl. J. J. M. van Dijk 1991: 236). 4 Einen umfassenden Überblick über die bis dahin bereits ausgiebige viktimologische Forschung, einschließlich nationaler und internationaler Opferstudien, geben vier von Kaiser, Kury und Albrecht (1991) herausgegebene Bände. Hier wird die Fülle der bis dahin bereits vorliegenden empirischen Resultate aus der Viktimologie deutlich.
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im Rahmen der International Crime and Victimization Survey (ICVS) durchgeführt (H. Kury 1991; 1993). Hierbei wurden 5.000 per Zufall ausgewählte Bürger ab dem 16. Lebensjahr anhand eines standardisierten Erhebungsinstruments telefonisch befragt. Dadurch, dass die Untersuchung Teil der ersten Welle der ICVS war, konnte anhand dieser Ergebnisse ein erster internationaler Vergleich anhand von mit derselben Methode erfassten Dunkelfelddaten durchgeführt werden. Eine weitere Teilnahme an der ICVS fand in der letzten (5. Welle) statt, an den übrigen Wellen hat Deutschland nicht teilgenommen. Gleich nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten führte das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Forschungsgruppe Kriminologie, in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt die erste gesamtdeutsche Opferbefragung durch, bei welcher 5.000 Personen in Westdeutschland und weitere 2.000 in Ostdeutschland befragt wurden (H. Kury u. a. 1996). Regional begrenzte Opferstudien, die auch einen längsschnittlichen Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland durchführten, wurden etwa vorgelegt von Ludwig/Kräupl (2005). In der Folgezeit wurden weitere große Opferstudien in Deutschland durchgeführt, vor allem unter Berücksichtigung besonderer Bevölkerungsgruppen. Herausragend ist vor allem die von Müller/Schröttle (2004) in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgelegte erste repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, die von 2002 bis 2004 durchgeführt wurde. Befragt wurden mit einem differenzierten methodischen Vorgehen über 10.000 Frauen zu Gewalterfahrungen in und außerhalb der eigenen Familie bzw. Beziehung. Eine gleichzeitig geplante parallele Studie zu Gewalt gegen Männer kam aus finanziellen Gründen über eine Voruntersuchung nicht hinaus.5
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Befunde der viktimologischen Forschung
Die vorliegenden Befunde aus der viktimologischen bzw. von der Viktimologie angeregten Forschung sind kaum noch zu überblicken. Nach Schwind (2009: 391) hat die einschlägige Forschung Ergebnisse vorgelegt zu Themen wie a) Opferdispositionen, b) Rolle des Opfers bei der Verbrechensentstehung, insbesondere zur Frage der Beziehung zwischen Täter und Opfer, c) Neutralisierungstechniken der Täter in Bezug auf bestimmte Opfer, d) Anzeigeverhalten der Opfer, e) Beziehung zwischen Verbrechensfurcht und Viktimisierung, f) Opferverhalten und dessen Einfluss bei der Strafzumessung, g) Verbesserung der Stellung des Opfers im Strafverfahren, h) Reduzierung des Risikos, Opfer zu werden, i) Schadenswiedergutmachung, j) Folgen einer Viktimisierung, etwa hinsichtlich 5
Aufgrund des Älterwerdens der Bevölkerung sind auch alte Menschen als Opfer von Straftaten in Familie und Alters- bzw. Pflegeheimen vermehrt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Nach Ahlf (2007: 515) hat sich in letzter Zeit eine „Gerontokriminologie“ entwickelt, die sich auch mit Fragen einer Viktimisierung alter Menschen beschäftigt.
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Verbrechensfurcht oder Sanktionseinstellungen, und k) Entwicklung von Opferhilfs- und Behandlungsprogrammen. Die zunehmend differenzierter werdenden Befunde der Victim Surveys ermöglichten z. B., die Hintergründe des Zustandekommens von Straffälligkeit neu zu beleuchten. Es konnte etwa gezeigt werden, dass ein Großteil der späteren Straftäter in der Kindheit selbst Opfer von Straftaten bzw. Misshandlungen waren. Wer als Kind Opfer, vor allem von schweren Misshandlungen, geworden ist, ist in einer größeren Gefahr, als Erwachsener selbst zum Täter zu werden (vgl. bereits S. L. Singer 1981). Mit dem neuen Instrument der Victim Surveys versuchte man von Anfang an, Licht in das Dunkel von Kriminalitätsbereichen zu bringen, die durch Hellfelddaten kaum zu erfassen sind, wie (sexueller) Gewalt gegenüber Frauen und Kindern aber auch alten Menschen, damit vor allem auch innerfamiliären Straftaten. Gerade Straftaten in der Familie, in der Regel an Frauen und Kindern als den (körperlich) schwächeren verübt, verursachen bei den Opfern oft gravierende und langdauernde Schäden. Erst eine offenere Diskussion der Problematik vor dem Hintergrund alarmierender Umfrageergebnisse, die Schaffung von Anlaufstellen für die Opfer, Sorgentelefonen, Hilfsprogrammen und gesetzlichen Änderungen bewirkte eine Sensibilisierung und Einstellungsänderung in der Öffentlichkeit, die zur Reduzierung des Problems mithalf. Auch heute sind allerdings, wie neueste Untersuchungen zeigen, Opfer von Sexualstraftaten nach wie vor in der Gefahr, aufgrund ihrer Viktimisierung stigmatisiert und negativer gesehen zu werden als Nichtopfer und zwar international (H. Kury 2003). Die vor allem auch die Kriminalpolitik beeinflussenden Ergebnisse zur Verbrechensfurcht zeigten deutlich die Einflüsse von Kriminalität auf breite Teile der Bevölkerung. Aufgrund verfeinerter Studien weiß man heute, dass die Verbrechensfurcht, zumindest in den westlichen Industrieländern, überschätzt wurde, vor allem heute längst von anderen „Ängsten“, etwa hinsichtlich Arbeitsplatzverlust oder Verarmung, überlagert wird. Umfragen zur Sanktionseinstellung machten eine deutliche Unterstützung für „alternative“ Sanktionen, wie etwa Schadenswiedergutmachung deutlich, und das auch bei Opfern von Straftaten. Sessar (1992: 255) kam etwa auf der Basis seiner groß angelegten Untersuchung zu dem Ergebnis, „dass die Wiedergutmachung die ‚eigentlich‘ akzeptiertere und damit wohl auch funktionalere Form der Friedenssicherung als die Strafe ist …“ Durch die „Vorenthaltung von Alternativen“ bleibe „zwangsläufig die Strafe als friedensstiftende Maßnahme übrig“. Untersuchungen zu den „Alternativen“, wie Täter-Opfer-Ausgleich, Schadenswiedergutmachung oder weiteren Formen der Mediation führten dann auch in Deutschland in den 1980er Jahren zu einem deutlichen Aufschwung der Diversion, vor allem weil man auch zunehmend die schädlichen Wirkungen einer Inhaftierung, gerade bei Jugendlichen, und der bei diesen in der Regel episodenhaften, vorübergehenden Kriminalität, erkannt hatte (vgl. H. Kury/H. Lerchenmüller 1981). Eine solche Entwicklung wäre ohne die Erkenntnisse von Opferstudien, die zeigten, dass selbst Opfer nicht primär eine
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(harte) Bestrafung des Täters wünschen, kaum vorstellbar. Neuere Ergebnisse zeigen, dass die Punitivität in der Bevölkerung ein ausgesprochen komplexes Konstrukt ist, ihr Ausmaß von zahlreichen Variablen beeinflusst wird, etwa der Information über den Täter und die Tathintergründe, aber vor allem auch von Sanktionsalternativen. Hoyle (2002) diskutiert Fragen der Opferbeteiligung am Strafverfahren und betont, dass viele Opfer das Gefühl gehabt hätten, nicht gehört zu werden und nicht mitwirken, ihre Interessen nicht vorbringen zu können. Auch ein „Victim Impact Statement“ habe vielfach zu Enttäuschungen geführt, da bei den Opfern das Gefühl zurückgeblieben sei, dass ihre Einlassungen zu wenig berücksichtigt worden wären. Restorative Justice dagegen „holds the promise of restoring victims’ material and emotional loss, safety, damaged relationships, dignity and self-respect“ (ders.: 101). Hier werde dem Opfer ein Dialog mit dem Täter und auch Vertretern des Kriminaljustizsystems ermöglicht. Er schildert die Ergebnisse eines Projektes aus London, das einerseits die ausgesprochen positiven Auswirkungen von Restorative Justice auf die teilnehmenden Täter und Opfer belegt, andererseits aber auch aufzeigt, wie Opfer ermutigt werden können, sich auf eine Teilnahme einzulassen ohne Gefahr zu laufen, weitere Schäden zu erleiden. Ziel bei solchen Treffen muss es auch sein, gegenseitige stereotype Vorstellungen zu reduzieren, gegenseitiges Verständnis zu fördern. Der Einfluss viktimologischer Ergebnisse auf den Umgang mit Straftätern, vor allem auf das Sanktionsverhalten der staatlichen Kontrollorgane, ist neben der Hilfe für die betroffenen Opfer eines der wichtigsten praktischen Resultate der Viktimologie. Die Erkenntnis, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Opfer von Straftaten in aller Regel einen differenzierteren Umgang mit Straftätern als ein bloßes Abstrafen wünschen, dass selbst in den letzten Jahren, in denen die Punitivität, zumindest in Teilbereichen, wieder gestiegen ist, Resozialisierung der Täter in der breiten Bevölkerung nach wie vor auf breite Zustimmung stößt, trug wesentlich zu einem Umgang mit Straftätern bei, der eher dazu geeignet scheint, in der „Lösung“ des Problems Kriminalität voranzukommen. Die Opferforschung zeigte zunehmend vor allem auch Ergebnisse zu den Auswirkungen einer Viktimisierung auf die Betroffenen, den verursachten Schäden. Diese hängen verständlicherweise von Faktoren ab wie Ausmaß, Art und Dauer der Opferwerdung, Alter und Persönlichkeit des Opfers, aber auch dessen sozialer Situation und insbesondere auch den Reaktionen der Umwelt. In der Regel wird zwischen einer primären und einer sekundären Viktimisierung unterschieden (vgl. H. J. Schneider 2007: 409). Während sich die primäre Viktimisierung auf das „eigentliche“ Tatgeschehen und dessen Folgen beim Opfer bezieht, werden mit sekundärer Viktimisierung Folgeschäden aufgrund eines inadäquaten Umgangs mit dem Opfer umschrieben, etwa im Rahmen der Strafverfolgung des Täters. Zahlreiche empirische Untersuchungen zeigen inzwischen die vielfach katastrophalen, teilweise lebenslang anhaltenden Auswirkungen einer (schweren)
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Viktimisierung auf die Betroffenen und deren soziales Umfeld, etwa die eigene Familie, die hierdurch ebenfalls zu Opfern werden können. Unterschiedliche theoretische Erklärungsansätze versuchen Licht in die Wirkmechanismen beim Opfer nach einer Viktimisierung zu bringen (vgl. etwa E. Tov 1993: 257ff.). Empirische Forschungsergebnisse zeigen teilweise Ähnlichkeiten in den Reaktionen verschiedener Opfergruppen auf traumatisierende Ereignisse. In einer ersten Phase von wenigen Stunden bis einigen Wochen kommt es etwa vor dem Hintergrund des durch die Viktimisierung ausgelösten Schocks zu Kontrollverlust oder Desintegration, in einer zweiten zu Bemühungen, wieder Kontrolle über sein Leben zu bekommen, zu einer oberflächlichen Anpassung an die Lebensnotwendigkeiten, einem „Funktionieren“. In der dritten Phase kann es zu Symptombildungen kommen, zu emotionalen Reaktionen, wie Ängsten. In der vierten Phase kann sich eine neue Lebenseinstellung herausbilden, die fälschlicherweise eine „Verarbeitung“ des Geschehens andeutet. In einer letzten Phase, Jahre nach der Tat, kann es dann zu einer Auseinandersetzung mit den „verdrängten“ Tatfolgen kommen (E. Tov 1993: 262). Menschen haben unterschiedlich ausgeprägte Coping-Strategien, die im Falle einer Viktimisierung auch differenzierte Schäden bewirken. Tov (1993) hat in ihrer eigenen empirischen Untersuchung entsprechend unterschiedliche Verarbeitungsmuster bei Opfern nachweisen können. Eine zentrale Bedeutung für die Verarbeitung von Operschäden spielt das soziale Umfeld, vor allem die eigene Familie bzw. Bezugsgruppe. Diese ist jedoch hinsichtlich eines qualifizierten Umgangs mit Opfern schwerer Straftaten in aller Regel überfordert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass etwa die Familienangehörigen eines Opfers durch die Tat ebenfalls viktimisiert wurden, etwa der Ehemann einer vergewaltigten Frau oder die Eltern eines geschädigten Kindes. Hinzu kommt, dass Laien bestimmten Opfern, vor allem im Bereich sexueller Viktimisierung, auch heute in aller Regel noch eine Mitverantwortung zuschreiben, diese damit stigmatisieren und zusätzlich in eine Opferrolle drängen (vgl. H. Kury 2003). Hier ist die Hilfe professioneller Einrichtungen ausgesprochen wichtig und, berücksichtigt man die enormen gesellschaftlichen Kosten einer Viktimisierung, auch unter finanziellen Aspekten zu unterstützen. Sekundäre Viktimisierungen finden teilweise auch heute noch im Rahmen des Strafverfahrens statt, wenn eine Strafanzeige erstattet wird. Vielfach erleben sich die Opfer, trotz begrüßenswerter Unterstützung im Rahmen von Operschutzmaßnahmen im Strafverfahren, nach wie vor als „bloße Zeugen“, die dem Staat bei der Strafverfolgung helfen, dann aber mit ihren Problemen allein gelassen werden. Die befürchtete Stigmatisierung und Belastung durch ein Strafverfahren dürfte vor allem bei Opfern von Sexualdelikten nach wie vor in erheblichem Umfange dazu beitragen, dass keine Anzeige erstattet wird. Eine wirksame Hilfe muss dem Opfer vor allem Empathie und Respekt entgegenbringen und es als Subjekt akzeptieren. Opferhilfe bedeutet vielfach auch die Einbeziehung des sozialen (familiären)
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Umfeldes in einzelne Maßnahmen. Ihre Bedeutung wird klar, berücksichtigt man die vielfach lebenslang kaum zu bewältigenden Auswirkungen schwerer Viktimisierungen und deren gesellschaftliche Folgen.
3
Ausblick
Kriminologie ohne Viktimologie ist heute nicht mehr denkbar – man wundert sich eher, wie es so lange dauern konnte, bis man das Opfer von Straftaten als wesentlichen Teil von Kriminalität (wieder) entdeckte. Die Opferforschung sollte in Zukunft auch theoretisch weiter fundiert und methodisch verfeinert werden. Nach wie vor stehen einzelne Opfergruppen im Schatten der Aufmerksamkeit und werden eher wenig beachtet, z. B. Männer als Opfer (vgl. L. Jungnitz u. a. 2004), etwa in Institutionen wie dem Militär oder dem Strafvollzug oder auch als Opfer sexueller Gewalt. Sehr begrüßenswert und wichtig ist, dass sich mehr und mehr Hilfsorganisationen um Opfer von Straftaten bemühen. Sicherlich ist richtig, dass an manchen Stellen noch zu wenig getan wird. Die teilweise und immer wieder aufkommende Diskussion darüber, dass zu viel für die Täter und zu wenig für die Opfer getan werde (vgl. Weißer Ring 1990), geht jedoch in die falsche Richtung. Resozialisierung der Täter und Hilfe für deren (Wieder-)Eingliederung ist ein wesentlicher Teil eines wirksamen Opferschutzes. Es kann nicht darum gehen, die hier schon knappen Mittel zu reduzieren, um Mängel bei der Opferhilfe auszugleichen. Vielmehr sind für die Opferhilfe zusätzliche Mittel zu investieren.
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Seelische Verletzungen durch Opfererfahrungen und Möglichkeiten der Heilung Ursula Gast
In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (von 2426 Menschen im Altersspektrum von 14 bis 93 Jahren) untersucht, wie häufig sich klinisch bedeutsame seelische Folgen von traumatischen Erfahrungen finden lassen (A. Maercker et al. 2008). Hierbei wurde bei 2,3% das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)1 gefunden und bei 2,7% partielle PTBS-Syndrome (vgl. Abb. 1). Die Ergebnisse entsprechen weitgehend denen anderer internationaler Studien in vergleichbaren Ländern (vgl. N. Breslau 2009). Traumafolgeerkrankungen, so belegt diese Studie, sind auch in Deutschland nicht selten. Dennoch ist ihre Behandlung immer noch nicht selbstverständlich. Interessant an der Studie von Maercker et al. ist außerdem, dass sich klare Altersgruppenunterschiede zeigen: Bei den über 60-Jährigen fand sich eine deutlich höhere – vermutlich durch den Zweiten Weltkrieg mitbedingte – Prävalenz sowohl für das Vollbild (3,4%) als auch für die Teilform (3,8%) der PTSD2. Es ist eindrucksvoll zu sehen, dass es über 60 Jahre dauerte, bis diese Kriegsfolge erstmals mit einer Studie belegt wird. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges spiegeln sich auch in der Erforschung der Traumafolgeerkrankungen wider: Im Vergleich mit anderen europäischen oder auch nordamerikanischen Ländern widmen sich Medizin und Psychologie diesen Fragestellungen in Deutschland mit deutlicher Verzögerung. Die gesellschaftspolitische Situation Deutschlands in der Nachkriegszeit war durch kollektive Verdrängung von Traumatisierungen, insbesondere auf der Täterseite, gekennzeichnet. Dies hat dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Psychotraumatologie erst mit Verzögerung umgesetzt wurden. Dabei ist, wie oben gezeigt, PTSD kein seltenes Krankheitsbild, und traumatische Erfahrungen sind vielen Menschen bekannt, denn: Seelische Verletzungen sind häufig. In der Normalbevölkerung werden Traumata mit einer Häufigkeit von 56% angetroffen (R. C. Kessler et al. 1995; 2005). Das bedeutet, dass über die Hälfte aller Menschen in ihrem Leben ein relevantes Trauma erleben. Die meisten seelischen Verletzungen heilen aus, ohne dass sie ärztlicher oder psychologischer Behandlung bedürfen. Es gibt jedoch Formen der Verletzung, 1 2
Für eine genaue Definition einer PTBS und einer partiellen PTBS siehe bitte Kapitel 1.2. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) englisch: Post-traumatic Stress Disorder (PTSD).
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die besonders schwerwiegend sind, und bei denen die Gefahr besteht, im weiteren Verlauf eine Posttraumatische Störung zu bewirken. Insbesondere Menschen, die Opfer einer Straftat wurden, sind diesem Risiko ausgesetzt. Dieser Gruppe wendet sich der Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) mit seinen verschiedenen Institutionen und Beratungsstellen in Deutschland in besonderer Weise zu, indem er professionelle Begleitung anbietet, um die Folgen traumatischer Erfahrungen zu mildern. Seine Gründung vor 20 Jahren stellte eine Pionierleistung dar, zumal zu der Zeit das gesellschaftliche und damit verbunden auch das breitere medizinische Interesse für diese Thematik erst begann. Die Vernetzung der professionellen Opferhilfe mit der Justiz, der medizinischen Versorgung und der Polizei ist dem ado hierbei ein besonderes Anliegen, da man durch ein interdisziplinäres Netzwerk den Opfern am ehesten gerecht wird. Im folgenden Beitrag geht es um die Frage, was Medizin und Psychologie zum Verständnis der Menschen mit Opfererfahrungen beitragen, wie sich zurzeit die therapeutischen Möglichkeiten gestalten und was weiterhin erforderlich ist, um diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Hierfür werden die bislang gültigen diagnostischen Kriterien beschrieben (1.2) sowie Forschungsergebnisse der Neurobiologie über posttraumatischen Stress vermittelt (1.3). Auf der Basis dieser Erkenntnisse sollen die verschiedenen Schritte der Behandlung skizziert (1.4) und anschließend
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Abbildung 1: Epidemiologie der PTSD in Deutschland (%) N = 2426, 14–93 Jahre (erstellt nach A. Maercker et al. 2008)
Seelische Verletzungen durch Opfererfahrungen und Möglichkeiten der Heilung
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auf den Kenntnisstand der Psychotraumatologie in der BRD und die Versorgungslage für traumatisierte Menschen eingegangen werden (2). Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Betrachtung der spezifischen Dialektik des Traumas (1.1).
1
Beiträge von Medizin und Psychologie zum Verständnis der Menschen mit Opfererfahrungen
1.1
Erkenntnisse über seelische Verletzungen in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext
Die Anerkennung der posttraumatischen Belastungsstörung als offizielle Diagnose in der psychiatrischen Nomenklatur im Jahr 1980 führte geradezu zu einer Explosion verschiedenster wissenschaftlicher Untersuchungen zu dem Thema, wie Menschen auf überwältigende Geschehnisse reagieren. Es zeigte sich, dass Gewalterfahrungen das seelische, körperliche und soziale Gleichgewicht eines Menschen erheblich stören und zu gesundheitlichen Problemen unterschiedlicher Art und Ausprägung führen können. Mit diesen Erkenntnissen geriet die Wahrnehmung von Gewalt als wichtiger Faktor für gesundheitliche Störungen zunehmend in das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Kostenträgern. Auch führte diese veränderte Wahrnehmung zu einem neuen Verständnis und einer veränderten Einschätzung verschiedener Krankheitsbilder, so z. B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die inzwischen als komplexe posttraumatische Belastungsstörung angesehen werden kann. Inzwischen belegt eine Reihe von Studien zur Risikoforschung, dass häusliche Gewalt weltweit als eines der größten Gesundheitsprobleme gilt, vor allem für Frauen und Kinder. Neben akuten körperlichen und seelischen Verletzungen kommt es häufig zu chronischen, psychischen und psychosomatischen Beschwerden (J. S. Middlebrooks/A. C. Audage 2008; V. J. Felitti et. al. 1998). Die Erkenntnisprozesse in der Psychotraumatologie entwickelten sich allerdings keineswegs linear, sondern vielmehr in Sprüngen, dazwischen lagen immer wieder Phasen der Stagnation. Grundsätzlich sind die verschiedenen Formen der posttraumatischen Erkrankungen seit über 100, z. T. seit über 150 Jahren beschrieben, doch werden diese Erkenntnisse häufig wieder vergessen und verdrängt. Hermann (1992; 2003) spricht von der Dialektik des Traumas, die den individuellen, aber auch gesellschaftlichen Erkenntnisprozess prägt. Je größer die gesellschaftliche Solidarität mit den Opfern, desto größer die damit verbundene Unterstützung beim Heilungsprozess. Problematisch wird es jedoch mit der Solidarität, wenn die Interessen der Opfer und der Gesellschaft divergieren. Wissenschaftler(innen) und Therapeut(inn)en werden unweigerlich von diesem Interessenskonflikt mitgeprägt. In Abwesenheit von sozialer Kontrolle und starker politischer Menschenrechtsbewegungen tritt an die Stelle der aktiven Zeugen-
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schaft unvermeidlich der aktive Prozess des Vergessens. Verdrängung, Abspaltung und Verleugnung sind Phänomene sowohl des sozialen wie des individuellen Bewusstseins. Seit Bestehen der Psychiatrie und Psychotherapie als Wissenschaft kann man diese Dynamik im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess verfolgen: Dies gilt für die verschiedensten Formen von Traumatisierungen und betrifft sowohl die Folgen eines schweren Unfalls wie auch Kriegstraumatisierungen oder staatlich sanktionierte und innerfamiliäre Gewalt. Während für die Behandlung körperlicher Verletzungen in Deutschland ein gutes medizinisches Versorgungsnetz zur Verfügung steht, gilt dies für seelische Störungen noch nicht. Die bislang unzureichende Versorgungslage hängt unter anderem damit zusammen, dass psychische Erkrankungen insgesamt einer gesellschaftlichen Tabuisierung unterliegen. Zusätzlich wird der gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurs über Traumafolgestörungen von der bereits beschriebenen spezifischen Dynamik des Verdrängens und Vergessens geprägt. Es ist sinnvoll, sich diese Dialektik stets zu vergegenwärtigen und sie sich bei Entscheidungsprozessen in Beratungssituationen, Diagnosestellung, gutachterlichen Fragestellungen, Wiedergutmachungsansprüchen und Therapiebegehren immer wieder erneut bewusst zu machen. 1.2
Definitionen und Diagnosekriterien
Zu einer psychischen Traumatisierung kommt es, wenn ein Ereignis die psychischen Belastungsgrenzen eines Individuums übersteigt und nicht angemessen verarbeitet werden kann. Beispiele für Erlebnisse, die Traumata auslösen können, sind Gewalt, Krieg, Mord, Folter, Vergewaltigung, körperliche, seelische oder sexuelle (Kindes-)Misshandlung, Unfälle, Katastrophen oder Krankheiten. Auch die bloße Zeugenschaft eines solchen Ereignisses kann auf die beobachtende Person traumatisierend wirken. Emotionale Vernachlässigung, Verwahrlosung, soziale Ausgrenzung, Zwangsräumung, Obdachlosigkeit oder Mobbing können ebenfalls zu einer Traumatisierung führen sowie der plötzliche Verlust eines nahen Angehörigen. In der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10), die in Europa und Deutschland Anwendung findet, wird ein traumatisches Ereignis definiert als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes…, die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde“ (H. Dilling et al. 1991: 157). Traumatische Ereignisse werden grundsätzlich sehr unterschiedlich verarbeitet. Sie können ausheilen, sie können aber auch schwerwiegende Folgen für die traumatisierte Person beinhalten, die von Leid- und Angstgefühlen bis hin zu schwerwiegenden psychischen Störungen reichen. In der Regel kommt es zunächst zu einer akuten Belastungsreaktion mit einer Vielzahl möglicher Symptome: Unruhe, Reizbarkeit, psychomotorische Übererregung oder Verlangsamung, Apathie, Rück-
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zug, Schreckreaktionen, Angst, Depressionen, eine eingeengte Gefühlslage, Verwirrtheitszustände, Schmerzen, funktionelle Magen-Darm-Beschwerden; aggressive und feindselige Reaktionen bis hin zu paranoiden Reaktionen werden beschrieben. Im Idealfall klingen all diese Symptome spontan wieder ab. Dies bedeutet, dass nicht jede Gewalt, nicht jedes schreckliche Erlebnis später auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führt. Viele Menschen entwickeln ausreichend Selbstheilungskräfte und finden soziale Unterstützung. Beides ermöglicht ihnen, auch schreckliche Erlebnisse zu integrieren und zu verarbeiten. Wenn ein Trauma jedoch zu schwerwiegend ist, oder wenn keine soziale Unterstützung zur Verarbeitung des Erlebten zur Verfügung steht, kann es zu Folgereaktionen in Form von beeinträchtigenden und behandlungsbedürftigen Symptomen kommen. Für die Forschung und klinische Praxis ist es wichtig herauszufinden, welche Faktoren dazu führen, dass eine manifeste posttraumatische Belastungsstörung entsteht. Denn so kann man gegebenenfalls entsprechende Risikogruppen oder Risikopatient(inn)en benennen und durch frühzeitige Behandlung den Verlauf der Störung günstig beeinflussen. Folgende Symptome kennzeichnen eine akute posttraumatische Belastungsstörung (siehe auch Übersicht 1): • sich aufdrängende belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma, Intrusionen in Form von wiederkehrenden Bildern und Alpträumen, Nachhallerinnerungen (Flashbacks), daneben Erinnerungslücken (Amnesie); • Übererregungssymptome mit der Unfähigkeit, sich zu entspannen, häufig verbunden mit Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrter Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen; • Affektintoleranz in Form von Überempfindlichkeit gegenüber Gefühlen: Gefühle können häufig schwer ausgehalten werden, weil sie in heftiger und schmerzlicher Intensität vorkommen; • Vermeidungsverhalten gegenüber traumaassoziierter Stimuli: Traumatisierte Menschen versuchen alle Reize zu vermeiden, welche sie an das Trauma erinnern; • emotionale Taubheit, die zu einem sozialen Rückzug, zu Interessenverlust und innerer Teilnahmslosigkeit führen kann. Posttraumatische Symptome können auch mit Verzögerung auftreten (z. B. im Anschluss an eine zusätzliche Belastung), wodurch eine Diagnosestellung erschwert sein kann, da der Zusammenhang zum auslösenden Trauma möglicherweise nicht erkannt wird. Die in medizinischen Manualen (ICD-10 und DSM-IV) formulierten Kriterien, die oben vorgestellt wurden, decken allerdings das in der klinischen Praxis beobachtbare Spektrum traumabedingter Störungen nicht vollständig ab. Aus diesem Grund wurde verschiedentlich Kritik an dem eng gefassten PTBSKonzept in ICD-10 und DSM-IV geübt. Es wird vor allem bemängelt, dass die
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Langzeitfolgen nach Traumatisierungen in Kindheit und Jugend oder auch nach Extremtraumata wie Folter oder Konzentrationslagerhaft weit über die in ICD-10 und DSM-IV definierte Symptomatik hinausgehen, und gleichzeitig wird betont, dass diese die Persönlichkeit der Betroffenen in nachhaltiger und umfassender Weise verändern können. In der therapeutischen Praxis zeigt sich häufig, dass gerade diese Menschen nicht die bereits beschriebene Kernsymptomatik der PTBS entwickeln, sondern andere Symptombildungen im Vordergrund stehen können. In der medizinischen Diagnose wird im ICD-10 bislang wie folgt unterschieden (siehe dazu auch Übersicht 1): 1. akute Belastungsreaktionen (F 43.0), die unmittelbar auf das belastende Ereignis folgen und kurzfristig andauern; 2. posttraumatische Belastungsstörungen (F 43.1), bei denen die Belastungsreaktionen anhalten und chronische Formen annehmen; sie können zu Intrusionen (einschießende, als störend erlebte Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke) mit ihrer Extremform, den Flashbacks (Nachhallerinnerungen) führen. Sie können durch bestimmte Trigger (Schlüsselreize) ausgelöst werden und die Erinnerung an das zurückliegende Trauma erneut wachrufen. Daneben treten Vermeidungsverhalten mit sozialem Rückzug und emotionaler Taubheit, verbunden mit anhaltenden erhöhten Erregungssymptomen auf; 3. andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0), die im Zusammenhang von Mehrfachtraumatisierungen (oft bereits in der Kindheit) oder länger andauernden traumatischen Situationen auftreten. Kritisch ist bei den bisherigen Diagnosekategorien zu bewerten, dass Traumafolgen sich häufig in komplexer Form abbilden und sich daher nicht angemessen in den Diagnosemanualen widerspiegeln. Diskutiert werden daher auch weitere Diagnosen, so die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist (J. Herman 1992; M. Sack 2004; siehe auch Übersicht 2), sowie die Entwicklungstraumastörung, die bei längerer Traumatisierung im Kindesalter die entsprechenden Beeinträchtigungen beschreibt (B. van der Kolk 2007; siehe dazu Übersicht 3). Wünschenswert wäre es, wenn hier in den Folgemanualen Verbesserungen eingearbeitet würden, die den komplexen Formen der Traumastörungen besser Rechnung tragen. Übersicht 1: PTBS-Diagnose (vgl. ICD-10, siehe auch G. Flatten et al. 2004a) A. Traumatisches Lebensereignis B. Symptomgruppen • Intrusionen • Vermeidung / emotionales Numbing • Hyperarousal
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C. Zeitkriterium: Symptome bestehen länger als einen Monat D. Klinisches Beeinträchtigungskriterium Übersicht 2: Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen (vgl. J. Herman 1992; M. Sack 2004) A. Störungen der Regulierung des affektiven Erregungsniveaus (1) chronische Regulationsstörung der Affekte (2) Schwierigkeit, Ärger zu modulieren (3) selbstdestruktives und suizidales Verhalten (4) Schwierigkeit, sexuelles Sicheinlassen und Kontaktverhalten zu modulieren (5) impulsive und risikoreiche Verhaltensweisen B. Störungen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins (1) Amnesie (2) Dissoziation C. Somatisierung D. Chronische Persönlichkeitsveränderungen (1) Änderung in der Selbstwahrnehmung: chronische Schuldgefühle; Selbstvorwürfe, Gefühle, nichts bewirken zu können; Gefühle, fortgesetzt geschädigt zu werden (2) Änderung in der Wahrnehmung des Schädigers: verzerrte Einstellungen und Idealisierungen des Schädigers (3) Veränderung der Beziehung zu anderen Menschen: (3) (a) Unfähigkeit, anderen zu vertrauen und Beziehungen mit anderen aufrechtzuerhalten (3) (b) die Tendenz, erneut Opfer zu werden (3) (c) die Tendenz, andere zum Opfer zu machen E. Veränderungen in Bedeutungssystemen (1) Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit (2) Verlust der bisherigen Lebensüberzeugungen Übersicht 3: Entwicklungstraumastörung (vgl. B. van der Kolk 2007) A. Chronische Traumatisierung mit Beeinträchtigung der Entwicklung: Kind reagiert mit Angst, Hilflosigkeit, Scham, Wut, Hoffnungslosigkeit B. Wiederholte und fixierte Dysregulationen im Gefühl, Verhalten und Körper sowie Beziehungen (Anklammern und/oder Misstrauen), Regulation durch Vermeidung, Aggression, Dissoziation, Selbstverletzung, Überanpassung; starke Schwankungen in Wissen, Gefühl, Verhalten C. Verallgemeinerte negative Erwartungshaltung in Bezug auf sich selbst, auf den Verlust von Bindungspersonen, auf Hilfsangebote, auf zukünftige Gewalterfahrungen
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D. Die Beeinträchtigung zeigt sich in wichtigen Lebensbereichen wie Schule, Familie, Freundesgruppe, Beruf; mit dem Gesetz in Konflikt geraten Auch gibt es traumaassoziierte Störungsbilder, die neben oder anstelle von akuter oder komplexer PTBS auftreten können. Hierzu gehören folgende (G. Flatten et al. 2004a und b): 1. depressive Störungen 2. dissoziative Störungen 3. Somatisierungsstörungen bzw. Konversionsstörungen, insbesondere somatoforme Schmerzstörungen 4. Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Persönlichkeitsstörungen 5. Essstörungen, insbesondere Bulimia nervosa 6. Angsterkrankungen 7. Substanzmissbrauch 8. körperliche Erkrankungen. Diese Symptomvielfalt und unterschiedliche Art und Weise der Ausprägung posttraumatischer Folgeerkrankungen erschweren häufig die Diagnose. Für Kliniker(innen) ist es daher wichtig, diese verschiedenen Ausprägungsformen zu kennen und gegebenenfalls an eine posttraumatische Genese zu denken. Auch sollte die Erfragung traumatischer Erfahrungen in die alltägliche Anamneseerhebung aufgenommen werden, da Patient(inn)en nicht spontan über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen. 1.3
Neurobiologische Modelle
Die neurobiologische Forschung hat zum Verständnis von Traumafolgen erheblich beigetragen. Die Grundannahme besteht darin, dass Menschen durch das Trauma einem extremen Stress und Angstreiz ausgesetzt sind, auf die der Körper und das Gehirn mit einem Notprogramm reagieren. Bei anhaltender Stressreaktion werden entsprechende Stresshormone ausgeschüttet. Diese wirken sich ungünstig auf Nervenzellen aus, insbesondere auf Nervenzellen des Hippocampus. Über diesen erfolgt normalerweise das Lernen und Sortieren von neuen Wissensinhalten, er wird deshalb auch als kaltes Gedächtnis bezeichnet. Bei extremem Stress kann der Hippocampus diese Aufgabe jedoch nicht erfüllen. Stattdessen werden traumatische Erfahrungen über die Amygdalae oder Mandelkerne erinnert. Hier werden die mit einer Erfahrung verbundenen Gefühle gespeichert. Normalerweise besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Hippocampus. So werden Verknüpfungen geschaffen zwischen dem Erlebten und den damit verbundenen Gefühlen. Die Mandelkerne (heißes Gedächtnis) tragen dazu bei, dass wir an unangenehmen Erlebnissen sehr rasch lernen und diese in Zukunft zu vermeiden versuchen.
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Bei einer extremen seelischen Verletzung arbeiten Hippocampus und Amygdala nicht mehr aufeinander bezogen. Vielmehr werden die Verletzungen als Gefühlszustände, Bilder oder körperliche Reaktionen erinnert, nicht aber als konkrete Ereignisse im Zusammenhang mit der äußeren Realität. Es entsteht eine hippocampale Amnesie, das heißt, es besteht keine Erinnerung an die konkrete reale Situation. Diese biologisch begründete Dissoziation hat nicht nur die typischen PTSD-Symptome zur Folge, sondern bewirkt auch, dass Traumatisierte nicht immer gute Zeugen sind. Sie haben – neurobiologisch bedingt – Schwierigkeiten, das Erlebte in einen logischen Kontext zu bringen. Bei der nicht geglückten Traumaverarbeitung überwiegt das emotionale Gedächtnis (heißes Gedächtnis) zu Lasten des autobiographischen Gedächtnisses (kaltes Gedächtnis). Es besteht ein Nebeneinander von intensiven Erinnerungszuständen (Intrusionen) einerseits und Erinnerungslücken bezüglich der konkreten Erlebnisse andererseits. In der akuten Stressreaktion werden zudem vermehrt körpereigene Opiate freigesetzt. Diese können zu einer Art Betäubung oder Erstarrung führen, die Schmerzwahrnehmung wird gehemmt (vgl. Totstellreflex im Tierreich). Diese Reaktion erlaubt dem Organismus, eine überwältigende Belastung nicht bei klarem Bewusstsein zu überstehen und auch die traumatische Erfahrung nicht exakt zu erinnern. Doch können bei anhaltenden Traumatisierungen diese einstigen Schutzmechanismen später erhebliche Beeinträchtigungen darstellen (L. Reddemann/C. Dehner-Rau 2004; K. Grawe 2004). 1.4
Traumazentrierte Psychotherapie zur Unterstützung der Opfer, seelische Verletzungen zu verarbeiten
Bei der Behandlung von Traumafolgeerkrankungen hat sich ein phasenorientierter Ansatz bewährt. Dieser Ansatz beinhaltet drei Phasen, die sich wie folgt darstellen: 1. Stabilisierung mit Erlernen von Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbstfürsorge 2. Traumaexposition (im Sinne eines geplanten Wiedererlebens des Traumas) mit Integration der traumatischen Erfahrungen 3. Trauer und Neuorientierung Bei komplexen und lang anhaltenden Traumata und bei solchen, die im Laufe der kindlichen Entwicklungsphase erlitten wurden, spielt die Stabilisierungsphase thematisch und zeitlich die größte Rolle. Die gesamte Therapie kann entsprechend langwierig sein, da in diesen Fällen für die Stabilisierungsphase mit Zeiträumen von Jahren gerechnet werden muss. 1.4.1 Stabilisierung In der Phase der Stabilisierung zielt die Therapie darauf ab, die Patient(inn)en dabei zu unterstützen, dass sie wieder Kontrolle über ihre Gefühle, Erinnerungen,
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Gedanken und ihr Verhalten erlernen sowie eine einheitliche und angemessene Wahrnehmung von sich selbst erlangen. Einige zentrale Punkte der Stabilisierungsphase sollen im Folgenden genauer benannt werden: Bei der Vereinbarung der Behandlungsziele zu mehr Selbstkontrolle ist es notwendig, den Patient(inn)en zu erklären, auf welchem Wege und mit welchen Arbeitsmitteln diese erreicht werden können. Eine transparente Darstellung der Therapiemethode fördert eine stabile therapeutische Arbeitsbeziehung und vermittelt den Patient(inn)en auch eine realistische Vorstellung hinsichtlich der Prognose ihrer Erkrankung. Aufgrund der zurückliegenden Willkürerfahrungen können viele Patient(inn)en kein Gefühl für eigene Gestaltungsmöglichkeiten oder Selbstwirksamkeit entwickeln. Dies macht sich in der Therapie häufig durch ein ratloses und abwartendes Verhalten mit hohen Erwartungen an Aktivitäten seitens der Therapeutin/ des Therapeuten bemerkbar. Von daher ist es besonders wichtig, die Patient(inn)en zu einer aktiven Mitarbeit zu gewinnen. Wissensvermittlung und Information über Trauma und Traumafolgen helfen den Betroffenen, ihre Symptome als solche zu erkennen und realistischer einzuschätzen. Die Basis und der Anfang der therapeutischen Arbeit ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Therapeut(in) und Patient(in). Viele Patient(inn)en mit komplexen posttraumatischen Störungen haben von frühester Kindheit an schwere Beziehungstraumatisierungen erlebt und daher große Schwierigkeiten, sich auf eine vertrauensvolle Beziehung einzulassen. Sie sind in einem Familiensystem mit Gewalt und Willkürerfahrung groß geworden, in denen sie wenig Möglichkeiten hatten, ein Gefühl von Selbstbestimmtheit oder Selbstkompetenz zu entwickeln. Ein zuverlässiger therapeutischer Rahmen mit klaren, überschaubaren Regeln ist daher eine wichtige Voraussetzung, damit die Patient(inn)en ein Gefühl für Sicherheit und Vertrauen in der therapeutischen Beziehung entwickeln können. Häufig ist es sinnvoll oder notwendig, dass Therapeut(inn)en die auftretenden Schwierigkeiten, sich auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit einzulassen, mit den Patient(inn)en offen ansprechen. Die Kenntnisse von Übertragungsund Gegenübertragungsgeschehen, die sich in der therapeutischen Beziehung entwickeln, helfen der Therapeutin/ dem Therapeuten und auch den Patient(inn)en, alte Muster zu erkennen, welche die aktuelle Beziehungsgestaltung in unangemessener Weise belasten. Verzerrende Übertragungsmuster müssen immer wieder reflektiert werden, um Reinszenierungen möglichst zu vermeiden. Die Arbeit an der äußeren und inneren Sicherheit der Patient(inn)en ist zu Beginn der Behandlung ein weiteres wichtiges Thema. Hierbei muss auch auf aktuelle Gefährdungen, z.B. durch weiterhin bestehende Täterkontakte oder missbräuchliche Beziehungen geachtet werden, sowie darauf hingearbeitet werden, diese zu beenden. Denn ein Mensch kann nicht gesunden, wenn er weiterhin Gewalt ausgesetzt ist. Auch Gewalt gegen sich selbst muss unterbunden werden. Deshalb werden zur Gewährleistung der inneren Sicherheit Absprachen hinsichtlich Suizid und Selbstverletzungsimpulsen getroffen.
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Weitere Elemente helfen den Betroffenen, Wirksamkeit und Handlungsfähigkeiten im Umgang mit sich selbst zu erlernen (L. Reddemann/U. Sachsse 2000). Die wichtigsten Inhalte sind dabei: • lernen, sich sicher(er) zu fühlen und wahrzunehmen, welche Maßnahmen dafür erforderlich sind; • das Wissen und Informationen über Trauma und Traumafolgen; • das Erlernen von ichstärkenden Imaginationen, die ein Gegengewicht zu negativen inneren Bildern schaffen; • die Arbeit an den Affekten: Gefühle müssen bewusst wahrgenommen, benannt und ausgehalten werden. Hier helfen Achtsamkeitsübungen, um im Hier und Jetzt und über eine bewusste Körperwahrnehmung wieder Zugang zum eigenen Gefühl zu bekommen sowie dieses auch regulieren zu lernen; • lernen, Bedürfnisse zu beachten: Diese Fähigkeit ist vielen traumatisierten Menschen abhanden gekommen, oder sie haben es nie erlernen können, wenn sie in Familien aufgewachsen sind, in denen ihre kindlichen Bedürfnisse nicht beachtet und darüber in Grenzen verletzender Weise hinweggegangen wurde; • lernen, sich selbst beruhigen zu können: Auch dies haben Traumatisierte häufig nicht lernen können, weil beruhigende und tröstende Beziehungspersonen nicht (oder nicht ausreichend) zur Verfügung standen. Vor der eigentlichen Traumaexposition müssen zudem zusätzliche Techniken zur besseren Kontrolle über die traumatischen Erinnerungen eingeübt werden. Hierzu eignen sich verhaltenstherapeutische als auch tiefenpsychologisch orientierte Techniken. Zu Letzteren gehören insbesondere auch imaginative Techniken, wie sie hier in Deutschland von Luise Reddemann und Ulrich Sachsse bekannt gemacht wurden (L. Reddemann/U. Sachsse 2000; L. Reddemann 2004). Die Stabilisierungsphase beinhaltet außerdem das Stoppen von Flashbacks, Deponieren traumatischer Erfahrungen in einem Safe und das Aufsuchen eines inneren sicheren Ortes. Erst wenn Möglichkeiten zur Distanzierung und Selbsttröstung eingeübt und eine ausreichende Stabilität und Sicherheit im Alltag erreicht sind, kann eine Traumaexposition durchgeführt werden. Durch diese verlieren die traumatischen Erinnerungen ihre Tendenz zu spontanen und unkontrollierbaren Reassoziationen. 1.4.2 Traumabearbeitung Ziel der Traumabearbeitung ist es, sich die erlittene seelische Verletzung noch einmal bewusst zu machen und in einer kontrollierten und begleiteten Situation nachzuerleben. Das Traumaopfer und die Therapeutin/ der Therapeut vereinbaren also, dass die traumatischen Erinnerungen kontrolliert und in einer sicheren Umgebung noch einmal innerlich aufgerufen und nacherlebt werden. Man spricht dabei von einer Exposition mit Transformation durch Entgiftung der traumatischen
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Erinnerungen und durch kognitive und emotionale Umstrukturierung. Die kausale Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne einer folgerichtigen, an den Ursachen arbeitende Behandlung, ist also eine kontrollierte Traumaexposition (entsprechend der 2. Phase). Bei komplexen Traumatisierungen kann die Traumabearbeitung einschließlich der Exposition und Abreaktion nur in kleinen Schritten erfolgen und muss sehr gut vorbereitet sein (R. P. Kluft 1996). 1.4.3 Trauer und Neuorientierung In der 3. Phase wird sich mit dem Leben nach dem Trauma auseinandergesetzt, sie zielt auf eine Akzeptanz möglicherweise bleibender Beeinträchtigungen und richtet den Blick in die Zukunft. Diese nachintegrative Phase beinhaltet ebenso die Trauerarbeit um die erlebten Verletzungen. Hier stellt auch die Verarbeitung von Schuld und Scham ein wichtiges Thema dar. Die Patient(inn)en müssen außerdem in ihrem innerpsychischen Erleben und Reagieren sowie im sozialen Verhalten ein völlig verändertes Selbst- und Lebensgefühl gewinnen und hierbei neue Bewältigungsstrategien aufbauen. Schließlich geht es um Zukunftsorientierung und darum, trotz des Traumas und den damit verbundenen Einschränkungen ein neues Leben aufzubauen. Grundsätzlich ähnelt diese nachintegrative Phase stärker den sonst üblichen tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien, sie ist vornehmlich konflikt- und beziehungsorientiert. Diese Behandlungsphase sollte überwiegend im ambulanten Rahmen erfolgen.
2
Entwicklung der Psychotraumatologie in Deutschland
2.1
Die derzeitige Versorgungslage in Deutschland
In Deutschland wurden, wie bereits beschrieben, die Erkenntnisse der Psychotraumatologie nur zögerlich aufgenommen. Zwar hatte der jüdische Berliner Arzt Hermann Oppenheim (Begründer der Deutschen Gesellschaft für Neurologie) schon 1889 die traumatische Neurose beschrieben, doch war dieses Wissen im Laufe zweier Weltkriege weitgehend verloren gegangen. In den angloamerikanischen Ländern waren es vor allem die Bürgerrechtsbewegung, die Frauenbewegung und die Kinderschutzbewegung, die den gesellschaftlichen Boden für eine Neubesinnung der Psychotraumatologie bereiteten. Diese Impulse bewirkten schließlich, dass Traumafolgestörungen, vor allem die posttraumatische Belastungsstörung, in den 1990er Jahren langsam auch wieder in der Wahrnehmung von deutschen Psychotherapeut(inn)en auftauchte. Dazwischen liegen Jahre der Diskussion um die Störung als ‚Willenskrankheit‘, lange Kämpfe von NSVerfolgten um ihre Entschädigungen und große Schwierigkeiten, eine einfache PTBS bei einer Polizistin, einem Feuerwehrmann oder einem überfallenen Bank-
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angestellten gutachterlich anerkannt zu bekommen (E. Fischer-Homberger 1975; B. van der Kolk et al. 2000). Trotz der in Deutschland nicht gerade günstigen Vorzeichen hat die Versorgung psychisch traumatisierter Menschen in den letzten zehn Jahren eine deutlich positive Entwicklung genommen. Durch eine große Zahl von PsychotherapieStudien im Bereich der posttraumatischen Belastungsstörung ist es seit Erstellung der ersten wissenschaftlichen Leitlinie für PTBS gelungen, wesentliche Fortschritte im Bereich der Versorgung traumatisierter Patient(inn)en zu erreichen (G. Flatten et al. 2004a und b). Diese Leitlinien treffen fachübergreifend auf einen hohen Konsens und werden zunehmend in Teile der Versorgung aufgenommen. Zentral ist dabei die Etablierung einer traumazentrierten Psychotherapie, wie sie auch in den internationalen Leitlinien als effektiv nachgewiesen ist (J. I. Bisson et al. 2007). Hinsichtlich der fachpsychotherapeutischen Ausbildung lässt sich feshalten, dass die posttraumatische Belastungsstörung trotz des deutlichen Nachholbedarfs in den meisten medizinischen und psychologischen Ausbildungen zumindest erwähnt wird. Auf dem Ärztetag 2006 in Magdeburg wurde zudem beschlossen, die Bundesärztekammer zu beauftragen, die ärztliche Fortbildung im Bereich der Psychotraumatologie zu stärken (DÄBL 2006). Ein weiterer Meilenstein in der Verbesserung der Versorgungslage war die Gründung von zwei neuen Fachgesellschaften in den späten 1990er Jahren: die deutschsprachige Fachgesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT e.V.) und die Fachgesellschaft für EMDR3 (EMDRIA-Deutschland e.V.). Das Curriculum der DeGPT wird bundesweit von circa 18, meist staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten oder Ärztekammern angeboten. Beide Fachgesellschaften haben zertifizierte Fortbildungen zur Psychotraumatologie mit den Abschlüssen Traumaspezifische Psychotherapie (DeGPT) und EMDR-Therapeut (EMDRIA) etabliert und in Deutschland jeweils circa 1.000 approbierte Psychotherapeut(inn)en zertifiziert. Die Deutsche Fachgesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat weiterhin eine spezielle Sektion zum Bereich der Psychotraumatologie ins Leben gerufen. In einer zunehmenden Zahl von Lehrbüchern über wichtige psychotherapeutische Richtlinienverfahren ist traumazentrierte Psychotherapie mittlerweile fest verankert (z. B. in W. Wöller/J. Kruse 2001). Zudem wurde eine Reihe spezifischer (Lehr)-Bücher zu dem Thema verfasst (z. B. U. Sachsse 2004; A. Maercker/ R. Rosner 2006). Zusätzlich wurde 2006 einem Antrag der Fachgesellschaft EMDRIA auf Anerkennung von EMDR als wissenschaftliche Methode vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie zugestimmt. Auf regionaler Ebene gibt es darüber hinaus Netzwerke von Traumaambulanzen (z. B. in NRW) und einige 3
EMDR = Eye-Movement Desensitization and Reprocessing.
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spezialisierte stationäre Einrichtungen, in denen traumatisierte Patient(inn)en, die in anderen Settings wenig profitieren, aufgenommen werden können. Dass auch die Versorgung von akut traumatisierten Menschen deutlich besser geworden ist, zeigt die Betreuung, die durch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) den Opfern des Tsunami Ende Dezember 2004 angeboten werden konnte. Indem bereits kurz nach dem Ereignis eine Notfalltelefonnummer eingerichtet wurde und durch eine Kooperation des Bundesamtes, der Kammern und der beiden Traumafachgesellschaften (DeGPT e.V. und EMDRIA-Deutschland e.V.) gelang es, dass bereits im Januar eine Vermittlung von insgesamt über 300 Betroffenen kurzfristig in entsprechend qualifizierte Therapien erfolgen konnte. 2.2
Noch ausstehende Aufgaben
Trotz dieser durchaus positiven Entwicklung und einer bereits deutlichen Verbesserung sowohl in der Versorgung von traumatisierten Menschen als auch in der Akzeptanz der verschiedenen Erkrankungen ist der Prozess in Zukunft allerdings nicht abgeschlossen. Es gibt weitere, noch offene Punkte, die es hinsichtlich der Versorgungslage in Deutschland zu bedenken und zu verbessern gilt. Dabei steht außer Frage, dass posttraumatische Belastungsstörungen und andere Traumafolgeerkrankungen zu einer hohen Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen. Nach wie vor werden die Symptome von Ärzt(inn)en, Psycholog(inn)en, Berater(inne)n und Betroffenen oft nicht richtig eingeschätzt. Dies verzögert eine leitliniengerechte Behandlung, die die Gefahr einer Chronifizierung aber messbar mindern könnte. Vorhandene, gut ausgebaute Versorgungsangebote sind oft fragmentiert, maßnahmenheterogen und inhaltlich nicht aufeinander abgestimmt. Für eine konstruktive Arbeit im medizinischen und psychosozialen Bereich werden daher Kooperations- und Koordinationsstrukturen, z. B. in Form von Netzwerken, dringend empfohlen (G. Flatten et al. 2004a). Fehlend in einer sich verbessernden und etablierenden Versorgungsstruktur ist die Einbettung der leitlinienorientierten Behandlung in die Strukturen der Richtlinienpsychotherapie sowie die flächendeckende Aufnahme psychotraumatologischen Grundlagenwissens in die psychotherapeutische Ausbildung von Ärzt(inn)en, Psycholog(inn)en sowie Kinder- und Jugendtherapeut(inn)en. Besonders wichtig ist hier die Verbesserung der Prävention und Behandlung traumatisierter Kinder, die im Bereich der gesetzlichen Versicherung deutlich unterbetont scheint. Aber auch im Bereich psychosozialer Beratungseinrichtungen der Opferhilfe ist zumindest ein entsprechendes Hintergrundwissen zur Prävention einer PTSD hilfreich. Dieses sollte über Weiterbildungen sichergestellt werden (z.B. über einen berufsbegleitenden Zertifikatskurs zur „Fachberater/in für Opferhilfe“, den der ado in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin durchführt, oder
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zum „Traumafachberater“, wie von der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie empfohlen). Auch wenn systematische Studien hinsichtlich der Versorgung weitgehend fehlen, besteht weitgehend Konsens bezüglich der folgenden Empfehlungen (siehe auch G. Flatten et al. 2004a): 1. Differentialdiagnostik und Behandlung eines PTSD-Patienten/einer PTSDPatientin setzt in der Regel einen ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten mit entsprechender spezieller Fortbildung im Bereich der Psychotraumatologie voraus. Das heißt also, der entsprechende Therapeut sollte über entsprechende Erfahrungen im Bereich der spezifischen Stabilisierungstechniken (z. B. Techniken zum Unterbrechen der flashbackartigen Erinnerungsüberflutungen) sowie über eines oder mehrere der international anerkannten traumabearbeitenden Verfahren und ihrer Indikationsstellung verfügen. 2. In Zusammenarbeit mit dem behandelnden Primärarzt und Beratungsstellen sollte, je nach Art und Dauer der Störung und dem derzeitigen medizinischen, sozialen und emotionalen Grad der Stabilisierung (z.B. ein Unfallopfer, das noch chirurgisch behandelt wird, ein misshandelter Jugendlicher, der im Elternhaus lebt, eine vergewaltigte Frau mit komplizierender Panikstörung), ein Behandlungsplan entwickelt werden. 3. Eine ambulante und spezifisch traumabearbeitende Therapie bildet im Idealfall die Grundlage der Behandlung. Die Behandlungsdauer kann dabei von einigen wenigen Sitzungen bis zu einer mehrjährigen Psychotherapie reichen. 4. In Fällen mit schwieriger Diagnosestellung sowie zur Bearbeitung besonders schwer belastender Erinnerungen – speziell bei wenig stabilen Patient(inn)en – sind spezielle Trauma-Schwerpunktstationen für erwachsene Traumaopfer mit entsprechend speziellen Therapieangeboten zu empfehlen. 5. Im Bereich der Kliniken haben sich auch halbambulante und psychosoziale Angebote als Ergänzung des ambulanten und stationären Angebotes für Erwachsene bewährt. Abgeschlossene systematische Studien liegen hierzu jedoch nicht vor. Die Prognose scheint in der Regel bei spezifischer Behandlung in den wenig komplexen Fällen bei der Mehrzahl der Patient(inn)en gut. Mit zunehmender Chronifizierung, Komorbidität und Komplexität verschlechtert sich die Prognose, aber auch bei derartigen Fällen können durch die spezifischen Techniken zum Teil wesentliche Verbesserungen der Störung erreicht werden. Da Psychotraumatologie – wie kaum eine medizinische Disziplin – stark vom gesellschaftlichen Resonanzboden abhängig ist, ist eine Vernetzung und gute Öffentlichkeitsarbeit unerlässlich, um die skizzierten Ziele zu ereichen. Auch aus dem Grunde wünsche ich mir ein beständiges Interesse sowohl der breiten
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Öffentlichkeit als auch seitens der Medizin und Psychologie. Tagungen, Seminare und Kongresse wie beispielsweise die des Arbeitskreises der Opferhilfen in Deutschland e.V. (ado) leisten bei dem Vorhaben des Ausbaus und der weiteren Vernetzung der Opferhilfe einen erheblichen Beitrag. Literatur Bisson, Jonathan/Dix, Pamela/Ehlers, Anke/Johnston, Janet/Jones, Christopher/King, Rebecca/ Matthews, Rosa/Murphy, Andrew/Nuttall, Peggy/Oliveira, Cesar De/Pilling, Stephen/ Richards, David/Taylor, Clare/Thomas, Lois/Turner, Stuart/Wilder, Heather/Yule, William (2007): Post-traumatic stress disorder. The management of PTSD in adults and children in primary and secondary care. In: National Clinical Practice Guideline 26. National Collaborating Centre for Mental Health commissioned by the National Institute for Clinical Excellence. Breslau, Naomi (2009): The Epidemiology of Trauma, PTSD, and Other Posttrauma Disorders. In: Trauma, Violence & Abuse 10, S. 198–210. Dilling, Horst/Mombour, W./Schmidt, M. H. (1991): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern/Göttingen/Toronto. Deutscher Ärztetag (2006): Entschließungen zum Tagesordnungspunkt II: Behandlung von Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen: gegen Stigmatisierung – für Stärkung der ärztlichen Psychotherapie. Dokumentation: Deutscher Ärztetag. In: Deutsches Ärzteblatt 6, S. 280–284. Felitti, V. J./Anda, R. F./Nordenburg, D./Williamson, D. F./Spitz, A. M./Edwards, V./Koss, M. P./Marks, J. S. (1998): Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of death in adults: The adverse childhood experiences (ACE) study. In: American Journal of Preventative Medicine 14(4), S. 245–258. Fischer-Homberger, Esther (1975): Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern. Flatten, Guido/Gast, Ursula/Hofmann, Arne/Liebermann, Peter/Reddemann, Luise/Siol, Thorsten/Wöller, Wolfgang/Petzold, Ernst (2004a): Posttraumatische Belastungsstörung. Leitlinie und Quellentext. Stuttgart. Flatten, Guido/Gast, Ursula/Hofmann, Arne/Liebermann, Peter/Reddemann, Luise/Siol, Thorsten/Wöller, Wolfgang/Petzold, Ernst (2004b): Leitlinie der AWMF. Online verfügbar unter: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF (25. 02. 2010). Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen. Herman, Judith (1992): Trauma and Recovery. The Aftermath of Violence. New York. (Dt.: Herman, Judith (2003): Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn.) Kernberg, Otto/Dulz, Bilger/Sachsse, Ulrich (Hg.) (2000): Handbuch der Borderlinestörungen. Stuttgart. Kessler, Ronald C./Wai Tat Chiu, Olga/Demler, Kathlen R./Merikangas, Ellen E./Walters, E. E. (2005): Prevalence, severity, and comorbidity of 12-month DSM-IV disorders in the National Comorbidity Survey Replication. In: Archives of General Psychiatry 62, S. 617–627.
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II Reformimpulse und Status quo des Opferschutzes aus rechtlicher Perspektive
Opferschutz weiter verbessern Brigitte Zypries
Die Einrichtungen der professionellen Opferhilfe, die im Arbeitskreis der Opferhilfen (ado) zusammengeschlossen sind, helfen seit zwei Jahrzehnten vielen Menschen, die Opfer einer Straftat geworden sind. Das ist eine großartige Arbeit. Dafür danke ich Ihnen vielmals und gratuliere Ihnen ganz herzlich zum 20-jährigen Jubiläum.1 Die Bekämpfung von Kriminalität und Gewalt ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Allerdings darf sich eine Gesellschaft nicht darauf beschränken, nur für die Bestrafung der Täter zu sorgen. Sie muss auch denen beistehen, die das Opfer einer Straftat geworden sind. Dieser Aufgabe ist der Staat in den letzten Jahren ein gutes Stück gerecht geworden. Erinnern wir uns: Als das Thema „Opferschutz“ vor etwa 20 Jahren auf die Agenda der Rechtspolitik kam, hatten es Opfer im Strafverfahren oft nicht leicht. Häufig fühlten sie sich allein gelassen und hilflos den Belastungen des Strafverfahrens ausgesetzt. Die Justiz reduzierte sie nur zu oft auf die Rolle eines ‚Beweismittels‘. Ihre Gefühle spielten keine Rolle. Eigene Rechte im Verfahren hatten sie kaum und Hilfsangebote bestanden nur selten. In jener Zeit kam das Schlagwort von der „sekundären Viktimisierung“ durch das Strafverfahren auf – vor Gericht ein zweites Mal Opfer zu werden, das ist viel zu oft vorgekommen. Manche von Ihnen kennen sicher die Berichte darüber, dass die Opfer einer Vergewaltigung, die im Prozess als Zeugin aussagen, selbst von Gericht und der Staatsanwaltschaft – aus Versehen – mit „Angeklagte“ angesprochen wurden. Inzwischen hat sich die Situation verändert und verbessert. Bei den meisten Beteiligten eines Prozesses besteht ein Bewusstsein dafür, dass die Aussage der Opfer zwar Beweismittel ist, aber dass diese Menschen mit großem Einfühlungsvermögen behandelt werden müssen und dass sie Subjekte im Verfahren sind. Dass dies heute so ist, verdanken wir auch den Opferhilfeeinrichtungen des ado. Sie haben mit ihrer Arbeit entscheidend dazu beigetragen, einen wichtigen Bewusstseinswandel zu erreichen – in der Justiz, in der Gesellschaft und auch in der Politik. Auch der Gesetzgeber hat in den vergangenen 20 Jahren viel für die Stärkung der Opferrechte getan. Wir haben wichtige Gesetze geschaffen, die verhindern sol1
Der folgende Beitrag gibt die Rede der damaligen Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, MdB, wieder, die diese beim Fachtag „Perspektiven professioneller Opferhilfe“ des Arbeitskreises der Opferhilfen in Deutschland e.V. (ado) am 6. November 2008 anlässlich dessen 20-jährigem Jubiläums in Berlin gehalten hat.
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len, dass Straftaten begangen werden und Menschen zu Kriminalitätsopfern werden: Ein Beispiel dafür ist das Gewaltschutzgesetz. Es hilft insbesondere den Opfern von häuslicher Gewalt. Durch gerichtliche Schutzanordnungen oder mit dem Instrument der Wohnungszuweisung. „Der Täter geht, das Opfer bleibt“ ist ein wichtiger Grundsatz, den wir damit verwirklicht haben. Dem Schutz potenzieller Opfer von Schwerkriminalität dient auch der Ausbau der Sicherungsverwahrung und die Reform der Führungsaufsicht. Mit beiden Instrumenten wollen wir erneute Taten von weiterhin hoch gefährlichen Tätern verhindern. Ich weiß, dass die Ausweitung der Sicherungsverwahrung umstritten ist. Weil die Sicherungsverwahrung die ultima ratio unseres Strafrechts darstellt, muss sie auch auf extreme Einzelfälle beschränkt bleiben. Breitere Anwendung findet dagegen die 2007 verstärkte Führungsaufsicht. Mit ihr können Straffällige auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe angeleitet, betreut und kontrolliert werden. Damit schaffen wir mehr Sicherheit vor weiteren Straftaten und sorgen so für Opferschutz durch Prävention. Ein anderes Beispiel für bessere Prävention ist der neue Anti-Stalking-Paragraph. Mit ihm hat der Gesetzgeber von der schärfsten Waffe Gebrauch gemacht, die zum Schutz von Stalking-Opfern zur Verfügung steht. Er hat die typischen Verhaltensweisen der beharrlichen Nachstellung unter Strafe gestellt, sofern sie die Lebensgestaltung des Betroffenen schwerwiegend beeinträchtigen. Dies gibt Polizei und Justiz ein Mittel an die Hand, um frühzeitig zugunsten von Stalking-Opfern zu intervenieren. Und dies macht den Opfern Mut, sich zu wehren, denn es zeigt: Stalking ist keine Privatsache, sondern strafbares Unrecht. Eine erfolgreiche Prävention ist der beste Opferschutz. Aber wir wissen auch, dass sich nicht alle Straftaten verhindern lassen. Deshalb dürfen wir die Opfer nach einer Tat mit ihrem Leid nicht allein lassen. Gerade wenn es zu einem Prozess kommt, müssen wir sie vor weiteren Belastungen schützen. Ein Mensch, der Opfer einer Straftat geworden ist, hat schon Schlimmes durchgemacht. Umso wichtiger ist es, die Belastungen im anschließenden Strafverfahren so gering wie möglich zu halten. Dieses Ziel verfolgte schon das Opferschutzgesetz von 1986 und diesem Ziel sind auch die weiteren Gesetze zur Fortentwicklung und Stärkung der Opferrechte verpflichtet. 1986 wurden Opfer im Strafverfahren erstmals ausdrücklich mit eigenen Rechten ausgestattet. Die Neugestaltung der Nebenklage gab damals mehr Opfern und wirksamer als zuvor die Möglichkeit, sich am Verfahren zu beteiligen. 1998 wurde mit dem Zeugenschutzgesetz die Videovernehmung eingeführt, auch dies war ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Opferrechte im Verfahren. 1999 haben wir dann den Täter-Opfer-Ausgleich im Strafverfahrensrecht verankert. Der wohl wichtigste Schritt in jüngster Zeit war das Opferrechtsreformgesetz von 2004. Mit ihm haben wir die Möglichkeit eröffnet, aus Gründen des Zeugenschutzes Anklage direkt beim Landgericht zu erheben. Wenn es nötig ist, muss ein Opfer vor unnötig häufigen Vernehmungen geschützt werden. Damit ersparen wir ihm auch eine wiederholte Begegnung mit dem Beschuldigten in einer Beru-
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fungsverhandlung. Wir haben damals auch die Möglichkeiten der Videovernehmung erweitert, denn auch sie schützt den Betroffenen vor Begegnungen mit dem Täter. Die Opfer brauchen im Strafverfahren aber nicht nur Schutz, sondern auch Beistandsrechte, um nicht nur Objekt zu sein, sondern auch selbstbewusst auftreten zu können. Wir haben deshalb geregelt, dass ein Verletzter zu jeder Vernehmung eine Vertrauensperson mitnehmen darf. Außerdem haben wir die Berechtigung zur Nebenklage erweitert, zunächst auf Straftaten nach dem Gewaltschutzgesetz und später auch auf Straftaten wie Menschenhandel und Stalking. Seit 2007 ist eine Nebenklage zudem in Verfahren gegen Jugendliche möglich. Nicht zuletzt brauchen Opfer schwerer Straftaten die Beiordnung eines kostenlosen Rechtsanwalts. Diese Unterstützung im Prozess haben wir erweitert, damit das Strafverfahren nicht zu einer erneuten Traumatisierung des Opfers führt. Es darf aber nicht nur um die Verbesserung der Rechtslage gehen, sondern auch um die Information der Opfer über ihre Rechte. Dies gilt ganz besonders für Kinder und Jugendliche, die als Opfer einer Straftat in ihrer Entwicklung betroffen sind und bei denen ein Strafverfahren oft Ängste auslösen kann. Für diese Betroffenen haben wir die Broschüre „Ich habe Rechte“ erarbeitet. Dies war ein ganz besonderes Projekt, denn dieses Heft haben die Juristen im Bundesjustizministerium zusammen mit Jugendlichen und Beteiligten aus der Praxis geschrieben. Auf diese Weise ist es gelungen, in verständlicher Sprache den Ablauf eines Strafverfahrens zu erklären und deutlich zu machen, wie Kinder und Jugendliche als Betroffene daran mitwirken können. Alles dies zeigt, dass wir in den vergangenen Jahren eine Menge getan haben, um die Opfer von Straftaten besser zu schützen und ihre Rechte zu stärken. Diese Verbesserungen dürfen aber für die Politik kein Anlass sein, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Im Interesse des Opferschutzes müssen wir das Recht ständig fortentwickeln. Wie das geschehen kann, dazu hat nicht zuletzt der ado in jüngster Zeit wieder wertvolle Anregungen gegeben. Im Bundesjustizministerium haben wir uns deshalb entschlossen, ein neues Gesetz zur Stärkung des Opfer- und Zeugenschutzes im Strafverfahren zu erarbeiten. Derzeit sind wir dabei, einen ersten Diskussionsentwurf zu erstellen. Entscheidungen sind noch nicht getroffen, wir sind noch mitten in den Beratungen. Gerade deshalb ist es mir sehr wichtig, Ihnen heute einige Eckpunkte unserer Überlegungen vorzustellen und ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Wir verfolgen mit dem geplanten Gesetz drei Ziele: • Wir wollen mehr Rechte für die Verletzten im Strafverfahren, • wir wollen mehr Rechte für Zeugen, • und wir wollen mehr Schutz für jugendliche Opfer und Zeugen im Strafverfahren.
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Zunächst zu den Rechten der Verletzten. Hier wollen wir die Nebenklage noch konsequenter an den Bedürfnissen der Opfer ausrichten. Studien haben gezeigt, dass die Beteiligung der Opfer im Verfahren vor allem dort am meisten gewünscht wird, wo die Opfer von der Tat besonders schwer betroffen waren. Deshalb soll künftig bei allen Delikten eine Nebenklage möglich sein, bei denen das Opfer unter schweren Tatfolgen zu leiden hat. Im Gegenzug ist bei relativ leichten Delikten, wie einer Beleidigung oder einer einfachen Körperverletzung ohne nachhaltige Folgen, eine Nebenklage nicht notwendig. Auch dort, wo es um gewerbliche Schutz- und Urheberrechte geht, wollen wir künftig auf die Nebenklage verzichten. Sie ist in diesem Bereich systemwidrig und deshalb haben die Fachleute hier schon seit langem eine Streichung gefordert. Wir wollen aber nicht nur die Nebenklage der Opfer in dieser Weise konzentrieren, sondern den besonders schwer betroffenen Opfern auch ganz konkret mehr staatliche Unterstützung durch einen Opferanwalt zukommen lassen. Wir wollen die Beiordnung eines Opferanwalts ausweiten und dabei noch stärker auf die Interessen der Betroffenen abstellen. Bei bestimmten Gewalttaten soll die Beiordnung eines kostenlosen Opferanwalts möglich werden, wenn der Verletzte schwere körperliche oder seelische Schäden erlitten hat oder diese voraussichtlich erleiden wird. Ich möchte Ihnen dazu ein ganz konkretes Beispiel nennen: In Zukunft kann sich eine Frau, die Opfer einer Nötigung in einem besonders schweren Fall geworden ist, also zum Beispiel einer sexuellen Nötigung, dem Verfahren gegen den Angeklagten als Nebenklägerin anschließen. Damit kann sie selbst oder vertreten durch ihren Rechtsanwalt Fragen und Anträge stellen. Sofern sie durch die Tat körperlich oder seelisch schwer geschädigt wurde, kann sie daneben auch einen kostenlosen Opferanwalt bekommen. Bei jugendlichen Opfern planen wir ebenfalls Verbesserungen beim Opferanwalt. Sie sollen über die bisherigen Delikte hinaus dort einen Anspruch auf einen Anwalt bekommen, wo eine Tat typischerweise besonders gravierende Folgen haben kann. Wir denken da an Delikte wie die Aussetzung, die Nötigung zu sexuellen Handlungen oder die Zwangsheirat. Diese Regelungen zur Nebenklage und zum Opferanwalt wollen wir mit verbesserten Verfahrensrechten flankieren: So soll verbindlich geregelt werden, dass dem Vertreter der Nebenklage der Termin der Hauptverhandlung mitgeteilt wird. Außerdem planen wir, die Informationspflichten gegenüber Opfern zu erweitern. Bisher spricht die Strafprozessordnung nur davon, dass der Verletzte einer Straftat darauf hingewiesen werden „soll“, dass er Unterstützung von Opferhilfeeinrichtungen erhalten kann. Meine Überlegungen gehen dahin, daraus eine Muss-Vorschrift zu machen. Wir wollen auch im Gesetz deutlich machen, wie diese Hilfe im Einzelnen aussehen kann und beispielhaft die Opferberatung oder die psychosoziale Prozessbegleitung nennen. Dies gibt der Praxis – also auch Ihnen – Gelegenheit, diese Begriffe dann mit Leben zu füllen.
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Wir überlegen zudem, die Voraussetzungen zur Prozesskostenhilfe noch besser an die spezielle Situation des Strafverfahrens anzupassen. In Zukunft soll es im Fall der Bedürftigkeit für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nur noch darauf ankommen, dass der Verletzte seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder dass ihm dies nicht zuzumuten ist. Dies ist auch in rechtlich einfach gelagerten Fällen denkbar, wenn ein Opfer etwa an schweren Folgen der Tat zu tragen hat. Auf die „Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage“ soll es deshalb nicht mehr ankommen. In solchen Fällen dürfte eine Vertretung ohne Anwalt ohnehin kaum zumutbar sein. Als weitere Verfahrensvereinfachung wollen wir es Verletzten, die im Ausland Opfer einer Straftat geworden sind, erleichtern, die Tat in Deutschland anzuzeigen. Und schließlich wollen wir bedürftige Opfer von besonders schwerwiegenden Straftaten davor schützen, dass sie von ihren Anwälten mit Honorarforderungen konfrontiert werden, weil sie einmal eine Vergütungsvereinbarung geschlossen haben. Was die Rechte und den Schutz der Zeugen angeht, so regeln wir zunächst, dass jeder Zeuge das Recht hat, einen Zeugenbeistand hinzuzuziehen. In der Rechtsprechung ist das seit langem anerkannt, aber so etwas muss auch im Gesetz festgeschrieben sein, schon allein im Interesse der Rechtsklarheit. Mehr Zeugenschutz bedeutet auch, darauf zu achten, dass die Wohnadressen von Zeugen noch besser geschützt werden. Zwar gibt es da schon heute Möglichkeiten, aber von ihnen wird in der Praxis offenbar zu wenig Gebrauch gemacht. Der ado hat auf dieses Problem hingewiesen und hat Verbesserungen angemahnt. Diese Anregungen wollen wir jetzt aufgreifen. Wie wir dies konkret tun wollen, will ich an einem Beispiel zeigen: Angenommen, jemand wird als Zeuge einer Straftat geladen und es liegen konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass er wegen dieser Aussage gefährdet ist. Er muss zum Beispiel befürchten, überfallen zu werden oder Beschädigungen seines Autos fürchten. Schon nach geltendem Recht ist es in diesen Fällen möglich, dass er seine Wohnanschrift nicht nennen muss, weil ein konkreter Anlass dafür besteht, dass er oder seine Rechtsgüter gefährdet sind. Diese Regelung wird jedoch in der Praxis kaum angewandt. Wir überlegen daher, im Gesetz ausdrücklich vorzusehen, dass die Polizei den Zeugen in den genannten Fällen dabei unterstützen soll, eine andere ladungsfähige Anschrift als seine Wohnadresse anzugeben, so dass die Wohnadresse nicht in die Akte und damit auch nicht in die Anklageschrift gelangt. Darüber hinaus wollen wir die Fälle, in denen Zeugen ihre Wohnadresse nicht nennen müssen, erweitern um solche Fälle, bei denen die Gefahr besteht, dass auf das Opfer in unlauterer Weise eingewirkt wird. Dies ist etwa dann zu befürchten, wenn Zeugen – etwa durch einen Stalker – telefonisch belästigt werden. Nach unseren Überlegungen soll auch für diese Zeugen die Möglichkeit bestehen, schon bei der polizeilichen Vernehmung auf die Angabe ihrer Wohnanschrift zu verzichten. Uns sind außerdem Fälle aus dem Bereich des Rechtsextremismus bekannt geworden, in denen die Wohnadresse von Zeugen, die rechtsextreme Aktivitäten bei der Polizei angezeigt hat-
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ten, auf einschlägigen Webseiten im Internet veröffentlicht wurde. Auch so etwas soll in Zukunft nicht mehr passieren können. Wir wollen einen besseren Schutz der Zeugen, ohne dadurch die Wahrheitsermittlung oder das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren zu beeinträchtigen. Ich habe gesagt, dass wir gezielt den Schutz jugendlicher Zeugen und Opfer verbessern wollen. Wir planen deshalb, die Altersgrenzen in den verschiedenen Schutzvorschriften von 16 auf 18 Jahren anzuheben. Hier geht es etwa um den Ausschluss der Öffentlichkeit, die Entfernung des Angeklagten aus dem Gerichtssaal, die Vernehmung des Zeugen nur durch den Gerichtsvorsitzenden und manches mehr. In Zukunft sollen diese Schutzvorschriften auch für 16- und 17-Jährige angewendet werden. Zum einen sind die Belastungen, die für sie mit einem Prozess verbunden sind, häufig nicht geringer als für 15-Jährige. Außerdem sehen auch die einschlägigen internationalen Abkommen eine Schutzaltersgrenze von 18 Jahren vor. Verbrechensopfern zu helfen, ihnen Mut zu machen und neues Vertrauen zu wecken, ist keine einfache Arbeit, ganz im Gegenteil; dieses Engagement ist vor allem dann gefragt, wenn sich Menschen in – auch psychisch – sehr schwierigen Situationen befinden. Eine gute Vorbereitung und eine professionelle Arbeit sind deshalb sehr wichtig. Es ist daher richtig, dass der ado immer wieder auf die notwendigen Qualitätsstandards für die Opferhilfe hinweist und diese kontinuierlich weiterentwickelt. Ich freue mich daher sehr, dass Sie im Verlauf dieser Tagung die verschiedenen Aspekte einer guten und professionellen Opferhilfe zum Thema machen. Ich bin auch dankbar für Ihre Ideen zur Stärkung der Opferrechte, die Sie an uns herantragen. Wir brauchen diese Anregungen aus der Praxis für unsere Arbeit, auch wenn nicht jeder Vorschlag 1 zu 1 umgesetzt werden kann. Wir alle haben ein gemeinsames Anliegen: Wir wollen all jenen Menschen das Leben erleichtern, die Opfer von Gewalt und Kriminalität geworden sind. Wir brauchen dafür kluge Gesetze und Vorschriften. Wir brauchen aber vor allem Menschen, die sich engagieren und für ihre Mitmenschen einsetzen. Der ado und seine Mitglieder leisten hier unverzichtbare Arbeit und mein großer Dank gilt allen, die tagtäglich mit großem persönlichem Einsatz den Opfern von Straftaten beistehen. Der Schutz vor Verbrechen bleibt für mich eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Trotzdem bleibt eine Welt ohne Straftaten leider eine Utopie. Umso wichtiger ist es, dass der soziale Rechtsstaat beides leistet: Er muss die Täter zur Verantwortung ziehen, aber er muss auch den Opfern einer Straftat beistehen. Für dieses Ziel müssen wir auch in Zukunft eng zusammenarbeiten und deshalb kann der Arbeitskreis der Opferhilfen auch in Zukunft auf meine Unterstützung zählen.
Victims in Europe – Assessment of the Implementation of the Framework Decision on the Standing of Victims in Criminal Proceedings: Preliminary Results Antony Pemberton/Carmen Rasquete
On the 15th of March 2001 the European Union Framework Decision on the standing of victims in criminal proceedings was adopted. We think it is safe to say that this event is a milestone in more than one way. It is the first time that there is a so-called ‘hard-law instrument’ concerning victims of crime available at the international level. The Framework Decision codifies rules at the supranational level concerning the legal position of victims that are binding concerning the domestic legal order of the member states. Prior to 2001 only soft-law instruments were available in this field, like the resolution of the General Assembly of the United Nations and the Recommendation of the Council of Europe.1 The Framework Decision not only approaches matters forcefully, but also speedily. For the largest part the provisions were required to be implemented within one year. There are only a few exceptions to this rule, with articles 5 and 6 requiring implementation by 2004 and article 10 by 2006. This strict regime – the combination of binding norms and the short period for adaptation of national law – leads to a number of questions, which we would like to discuss with you: • The background and context of the Framework Decision (1); • The European Commission’s negative evaluation of the progress in the development of the Framework Decision (2); • The concept of implementation in Framework Decisions and the reasons why that is complicated in the situation of the Framework Decision for victims (3); These complexities provided the motivation for the project VINE – Victims in Europe (4); • Some preliminary observations and conclusions on the basis of the results of the project VINE (5 and 6).
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Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power, GA Res. 40/34 of 29th of November 1985; Recommendation (1985)11 on the Position of the Victim in the Framework of Criminal Law and Procedure, 28th of June1985; and of later date than the Framework Decision Recommendation (2006)8 on Assistance to Crime Victims, 14th of June 2006.
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The background and context of the Framework Decision
In recent years Europe has been flooded by a wave of Framework Decisions in the field of criminal justice. This is a marked contrast to the situation well into the nineties. Then the EU held the opinion that it did not have the competence to interfere with the criminal justice affairs of the member states. This perspective also applied with respect to the position of victims of crime. When non-governmental organizations for victim assistance applied for possible financial support from Brussels, the answer was invariably negative. The reason given was that they were active in the field of criminal justice and that this was not ‘Europe’s business.’ With this background in mind it is remarkable that the Framework Decision on victims eventually belonged to the first generation of Framework Decisions in the area of criminal justice. How can this sudden advance of victims be explained? The heart of the matter is the position of the so-called cross-border victims. A cross-border victim does not always speak the language, does not understand the host country’s legal system and has often returned to his country of origin long before the trial. These specific problems of ‘foreign’ victims were linked with the classic European freedoms and in particular with the freedom of persons to travel without restrictions (without discrimination based upon nationality) within the European common space. This consideration has been the main incentive for European competence in the protection of victims of crime. But it is not feasible to regulate the position of cross-border victims in a practical sense, without paying attention to national victims as well. European standardization of the position of cross-border victims may lead to the situation that crossborder victims enjoy rights not open to nationals, which would again be at odds with the freedoms relating to the European common space. This is the reason that the content of the Framework Decision, although it is still inspired by the phenomenon of cross-border-victimization, ultimately applies to all victims of crime. How does this background of the Framework Decision impact its provisions? We believe the content of the Framework Decision can be characterized in two ways. First: as to the main theme, the document is extremely similar to the other previously existing international instruments. Second: concerning the details, all the supranational texts differ. Where the differences in details may be mere coincidences in other surroundings, in the case of the Framework Decision they appear to be caused by deliberate choices that follow the national law of the member states. We will elaborate this observation below. The main theme of the Framework Decision follows the international consensus also evidently expressed by other legal instruments. At its core it includes the following basic rights for victims of crime:
Victims in Europe
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• A right to respect and recognition at all stages of the criminal proceedings (article 2); • A right to receive information and information about the progress of the case (article 4); • A right to provide information to officials responsible for decisions relating to the offender (article 3); • A right to have legal advice available, regardless of the victims’ means (article 6); • A right to protection, for victims’ privacy and their physical safety (article 8); • A right to compensation, from the offender and the State (article 9); • A right to receive victim support (article 13); • The duty for governments to promote mediation in criminal cases for offences which it considers appropriate for this sort of measure (article 10); • The duty for the State to foster, develop and improve cooperation with foreign States in cases of cross border victimization in order to facilitate more effective protection of victims’ interests in criminal proceedings (article 12). The shortest and most accurate summary of the general of the Framework Decision is probably the 8th article of its preamble: “The rules and practices as regards the standing and main rights of victims need to be approximated, with particular regard to the right to be treated with respect for their dignity, the right to provide and receive information, the right to understand and be understood, the right to be protected at the various stages of procedure and the right to have allowance made for the disadvantage of living in a different Member State from the one in which the crime was committed.”
As to the details of the different provisions the first point of interest is the phrasing of articles 5 through 7 of the Framework Decision. In these articles, which relate to safeguards for communication (translators), to legal assistance and to reimbursement of expenses incurred due to participation in the criminal procedure, the scope is restricted to “the victim having the status of witnesses or parties.” This is a meaningful restriction. The United Kingdom insisted on this particular phrasing. The background is that common law systems do not recognize the socalled ‘partie civile’. There is no possibility for the injured party to adhere a claim for compensation to the criminal justice procedure, which is a common legal figure on the continent. The way the Framework Decision is phrased means that every victim who is not heard as a witness in the court case is deprived of the three procedural rights mentioned. It seems evident that the government of the United Kingdom has insisted on this restriction, expecting that this would diminish the need for substantial changes in its national legislation.
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This cautious approach is also evident in other aspects of the Framework Decision. Concerning ‘mediation’ for example, the Framework confines itself to the rather vague instruction that member states “shall seek to promote mediation in criminal cases for offences which it considers appropriate for this sort of measure”. That offers a lot of leeway. As to the providing of victim support through non-governmental organizations the Framework Decision decrees that this should be promoted or encouraged (article 13). However the details of the Framework Decision can not be fully explained by the calculated reservations of the member states. There are also many provisions that will evidently necessitate extensive change in national legislations. A prime example is the ambitious basic requirement in article 2 that not only demands respect and recognition for all victims, but above all requests specific treatment for victims who are particularly vulnerable. This will involve changes in legislation almost everywhere in Europe. The implications of the provisions relating to the right to receive information are also far-reaching (article 4). None of the previous international victims’ rights instruments contain such comprehensive requirements on this issue. In advance the question should have been raised whether the member states were prepared for the enormous logistic consequences implied by these provisions. The level of translation facilities for victims must be of the same level as those for suspects (article 5). Probably no member state met this requirement when the Framework Decision was adopted.
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The European Commission’s evaluation
What were the consequences of the Framework Decision after its adoption? We emphasize that the time allowed for implementation was extremely tight. For most provisions it was required for them to be transposed into national law by March 2002, exactly one year after adoption of the Framework Decision. Bearing in mind the sometimes far-reaching requirements of the Framework Decision, these tight deadlines may not have been very realistic. In March 2004 the European Commission report on the compliance with the Framework Decision was published. The report was extremely negative in its assessment. It commences with the observation that member states have a considerable amount of discretion when transposing the Framework Decision requirements. It is not necessary, for example, that national legislation adopts the same terminology as the Framework Decision. However, after this rather mild opening, the Commission points out serious shortcomings on a large scale. The overall conclusion is that: ”no Member State can claim to have transposed all the obligations arising from the Framework Decision”, and no Member State has correctly transposed the first paragraph of article 2 (European Commission 2004: 7). The latter is a particularly fundamental charge, because the paragraph mentioned is more or less the root of all other concrete victims’ rights:
Victims in Europe
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“Each Member State shall ( …) make every effort to ensure that victims are treated with due respect for the dignity of the individual during proceedings and shall recognise the rights and legitimate interests of victims with particular reference to criminal proceedings.”
The Commission’s overall judgement is then subsequently documented by a long list of more specific shortcomings. We will restrict ourselves to a number of rather typical examples. According to the Commission only one country, Finland, has adequately transposed the requirement to inform the victim of the release of the suspect or the convicted offender. Nearly no member state has done enough to meet the requirement that victims should also have the right not to receive information (the so-called opt-out procedure). The requirement that victims should be reimbursed for expenses made during the procedure is inadequately implemented almost everywhere. We could add many other examples, but the point should be clear. According to the Commission the member states have not adequately complied with their obligations. Subsequently many governments sent a reply to the critical report of the Commission. In their rebuttal most countries claim that the Commission has misjudged the situation. The member states are of the opinion that the existing legislation in fact bears closer resemblance to the Framework Decision than the Commission report suggested. Nevertheless most countries admitted that substantial changes are still required. 3
The concept “implementation” of Framework Decisions
The previous section has shown various differences of opinion between the member states on the one hand and the European Commission on the other, concerning the requirements that follow from the Framework Decision on the position of victims in the criminal procedure. At first glance this gap in perception is quite remarkable. After all, the legal status of Framework Decisions is clear. Member states are obliged to reach the result laid down in the Framework Decision. However, the way they reach this result is left to their own discretion. They can choose the means they consider appropriate to reach the prescribed goals. So far, so good. However in practice the concept of implementation has proved to be considerably more complicated. First of all, there is no clear, formalized fact-finding procedure in place at the European level. The member states submit a report, but the Commission does not have the option to verify its veracity. In addition the Commission does not have the possibility to request follow-up information concerning the reports. As a consequence the Commission has a strong tendency to rely completely on the literal text of the formal legislative provisions the member states supply. This means that the Commission’s evaluation more or less entirely focuses on adoption of Framework articles into national legislations. This implies that the Commission can not
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review the actual practice existing in the various countries. It may well occur that a certain country follows the Framework requirements in practice, but is ostracized because this practice has no formal legislative base. A good example is article 8 paragraph 3 of the Framework Decision, which relates to separate waiting rooms for victims and offenders. The conclusion is then that in the described approach the Commission takes ‘implementation’ to be synonymous with the law being ‘transposed’ while from the victims’ perspective the emphasis should be on ‘compliance.’ A similar observation is applicable to the content of fixed administrative guidelines. In the Netherlands, for example, the victims’ legal position is laid down, amongst others, in the so-called instructions of the prosecution service. The regulations contained in these instructions are publicized, have external effects and are acknowledged by the Supreme Court as being part of ‘the law of the land.’ They are law in a material sense. If these ‘instructions’ comply with the Framework Decision requirements, then we do not see any reason to question the sufficiency of implementation. We observe another problem relating to implementation and compliance. The content of many of the norms are phrased in such an ‘open’ fashion that it is hard to ascertain whether a member state fulfils the obligation or not. This is easily illustrated with an example. Article 8 paragraph 1 of the Framework Decision ensures “a suitable level of protection for victims and, where appropriate, their families or persons in a similar position, particularly as regards their safety and protection of their privacy, where the competent authorities consider that there is a serious risk of reprisals or firm evidence of serious intent to intrude upon their privacy.” But what level of protection of the victims’ physical safety meets the standard of being suitable? The final problem concerning implementation is due to the peculiar character of this Framework Decision. If one reviews the current list of Framework Decisions in the field of criminal justice it is quite obvious that most of their topics are relatively small, confined subjects. For example the Framework Decisions regarding protection against euro counterfeiting (2000/383/JBZ), on money laundering (2001/500/JBZ), on combating trafficking in human beings (2002/629/JBZ) and even in the case of the European Arrest Warrant (2002/584/JBZ). The Framework Decision on victims is of a completely different nature. It contains provisions that affect large portions of the Code of Criminal Procedure. Implementation therefore does not only require the introduction of a number of legislative provisions, but also careful reflection on the entire criminal procedure. Together this forms the basis of project VINE – Victims in Europe, in which not only implementation in a formal legal sense is reviewed, but also law in the material sense, organization implementation and the actual impact on victims of crime.
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Project “Victims in Europe” – aims and methodology
APAV, as a Portuguese victim support organization,2 felt the need to investigate the actual existing rights in Europe and to push forward basic principles that would allow victims to feel supported and to be able to act in awareness of their rights. We also understood that this is an issue that will be effective only if these EU-principles can be applicable in all the 27 Member States. Accordingly, APAV presented the following project to Victim Support Europe,3 a network of 22 nongovernmental victim support organizations in 19 European countries, which provide assistance and information to victims of crime, which immediately embraced it. Therefore, the project “Victims in Europe,” co-financed by the European Commission under the Criminal Justice Program, has been promoted by APAV on behalf of Victim Support Europe, with the cooperation of 16 European organizations.4 The project aims to provide the European Commission and other interested parties with more comparative information about how the Framework Decision already operates in all EU-member states. A review of the newly implemented legislation of the Councils Framework Decision in all member states has been undertaken by independent reviewers and has included material concerning legislation in addition to formal legislation. Furthermore compliance in practice has been reviewed, by means of a survey of the organizational implementation. Finally the impact of the legislative and organizational developments on the ‘lived experience’ of victims has been gauged. Besides the importance of the report in terms of knowledge and consciousness regarding the present status of the implementation of the Framework Decision in the 27 member states; the report proves important in establishing national governmental awareness of necessary improvements in the position of victims, as national governments have been specific targets of the dissemination of the results. In sum, the project Victims in Europe aims to: 1) develop crucial knowledge on the implementation of the Framework Decision in each of 27 EU member states; 2) perform a comparative analysis between the results achieved; 2
The Portuguese Association for Victim Support (APAV) is a social solidarity private institution, a legal entity for public use, whose statutory aim is to promote and contribute to inform, protect and support citizens who have been victims of penal offences. Online: www.apav.pt/portal_eng (08. 02. 2010). 3 Founded in 1990, Victim Support Europe exists to promote the establishment and development of victims’ rights and victims’ services throughout Europe. Online: www.victimsupporteurope.eu (08. 02. 2010). 4 Namely: InterVICT (The Netherlands); Weißer Ring (Germany); Bíly Kruh Bezpecí (Czech Republic), Victim Support Malta (Malta), Fehér Gyuru Közhasznu Egyesület (Hungary); Victim Support Scotland (Scotland); Brottsofferjourernas Riksförbund (Sweden); Victim Support Northern Ireland (Northern Ireland); Steunpunt Algeemen Welzijnswerk (Belgium); Pomoc Obetiam Násilia (Slovakia); Weisser Ring Austria (Austria); Supporting Victims of Crime and Combating Corruption Foundation (Bulgaria); INAVEM (France); Slachtofferhulp Nederland (The Netherlands); Victim Support England & Wales (England); Victimology Society of Serbia (Serbia).
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3) carry out a global evaluation on the implementation of the Framework Decision at an European level; 4) promote a discussion on the relevancy of the Framework Decision in what concerns victims’ rights in the process of criminal justice. The 2001 Framework Decision (FD) on victims within criminal proceedings can be considered a milestone, since it is the first international ‘hard-law’ instrument on the position of victims and therefore may contribute greatly to the improvement of the position of victims across Europe. It was because of this that we chose the assessment of its implementation as the basis of our project. In what concerns the assessment of the implementation of the FD, two surveys were designed: one legal and one organizational. One of the responsibilities of APAV was to develop the organizational survey and to comment on the legal survey, which was undertaken by Intervict.5 The need to have these two surveys was due to the fact that it was already identified by the member states that there was a divergence between the formal transposition of the FD and the existence of actual and adequate rights of victims that comply with their needs. Therefore, practice in countries may well comply with the objectives of the Framework Decision, without underlying formal legislation. Accordingly the organizational survey has the objective to gather information on the effectiveness of measures designed to implement FD provisions in practice. The legal survey aims to understand the degree of implementation in a legal sense. For example: If we are trying to assess the implementation of security and protection of victims in the court house, we want to know: 1. if there is a law regarding this right but also 2. if in practice there are the necessary conditions, procedures and resources to allow it. The questionnaires that we developed cover the whole of the Framework Decision and follows its sequence. To answer our survey, experts on victim’s issues in the 27 Member States were contacted in order to provide invaluable information on the legal and organizational situation of victims in their countries. This network of contacts was created with the cooperation of: • Portuguese Department of Justice • Victim Support Europe (and it’s network) 5
The International Victimology Institute Tilburg (INTERVICT) promotes and executes interdisciplinary research that can contribute to a comprehensive, evidence-based body of knowledge on the empowerment and support of victims of crime and abuse of power. Online: www.tilburguniversity.nl/intervict (08. 02. 2010).
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• Directories of Services for victims of crime • APAV’s network • Project partners. For the legal questionnaire, the definitions of key actors were the following: • Victim support organizations • Representatives of the Department of Justice • Independent academics working in the victimology field. For the organizational questionnaire, the key actors defined were the following: • Civil society (NGO, community based organizations that develops their activities on the victims rights) • Public Bodies • Judicial sector (judges, probation officers, prison officers, lawyers, prosecutors) • Criminal investigation (police) • Research sector (academics, research institutes). Up to September 2009 the research team has collected 218 answers on the organizational questionnaire and 97 answers to the legal, from the 27 member states.6 One of our main objectives with this article is to highlight some of the preliminary results that we have gathered so far. Feel free to accompany the following presentation with the Framework Decision.7 5
Preliminary results of the organizational survey
In what concerns the organizational data and taking into account the Framework Decision as a whole, according to the respondents’ opinion and experience victims feel that they have an inappropriate role in the criminal proceedings (51.8%) and that they are inadequately recognized by the professionals involved in the criminal justice system (56%) (cf. article 2). And what does this mean in more practical terms? Let us bring the analysis a little bit further… In the Hearings, and provision of evidence (cf. article 3), according to our analysis victims are aware of the possibility to be heard and provide evidence (60%). 6
Thank you to all the organizations and actors that cooperated in this project and are committed with us in pushing forward the victims’ rights in the 27 Member States. 7 Online available: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:082:0001:0004:EN: PDF (30.11.2009). Auf deutsch online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX: 32001F0220:DE:HTML (30.11.2009).
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However: Respondents’ answers show that the questioning by criminal justice authorities is extensive and intrusive (about 40%) and therefore this questioning hampers victims’ participation in the criminal justice system (about 48%). Right to receive information (cf. article 4): In general victims have an easy access to information concerning: • The type of services or organizations where they can obtain support (51%); • The type of support available for them (47%); • Legal advice or legal aid (46%) [note: however, respondents also feel that the legal aid that victims receive is inefficient (43%).] • Where and how they can report an offence (71%). Despite this fact, it is important to underline the difficulty that victims have in the access to information on: • Their role in the criminal proceedings (43%); • The conditions to obtain protection (48%); • Special arrangements when they are resident in another member state (55%); • The outcome of their report (41%). Besides the difficulty for victims to access information, it is also the respondents’ opinion that the information provided to victims by the criminal justice authorities does not reach victims on time (45%). And what is the status concerning the Communication safeguards (cf. article 5)? It is insufficient (56%) and inefficient (50%) in regards to victims’ understanding or involvement in the criminal proceedings. Victims’ expenses with respect to criminal proceedings (cf. article 7) In what regards reimbursement of victims’ expenses, we discovered that victims are not aware of the possibility of receiving reimbursement for their participation in the criminal proceedings (47%). • Besides this, the procedures to apply for reimbursement are complex (45%), it does NOT reach victims on time (44%) and there are insufficient resources available for the reimbursement of expenses (43%) or inadequate reimbursement of expenses (47%). Right to protection (cf. article 8): In what regards the protection and privacy of the victims, respondents share the opinion that victims do not feel secure to report a crime (46%) [nor their family or related persons: 50%] nor to testify in court (45%): • Inadequacy of proceedings in order to avoid contact between the victim and the offender within the court house (47%);
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• Poor conditions of the room available in the court house for the victims to wait until giving testimony (53%). Privacy is NOT assured for victims (55%) nor are they sufficiently protected from the media (57%). Right to compensation in the course of criminal proceedings (cf. article 9): When we analyze the implementation concerning this right, data shows an inadequacy of the compensation provided by offenders (59%), given the victims’ needs. It also shows a complexity of the procedures to request for compensation (44%) an unreasonable duration of the proceedings in order to get compensation (67%). Penal mediation in the course of criminal proceedings (cf. article 10): According to the respondents’ answers victims are NOT aware of the possibility of penal mediation (56%). And besides this, it is considered difficult to access the procedures for penal mediation (49%). Victims resident in another member State (cf. article 11): Data reveals a general lack of knowledge on the provision of rights to cross-border victims. Besides this, it is their opinion that there are insufficient procedures in order to minimize difficulties faced when the victim is a resident in another member state (39%) and uncoordinated cooperation between organizations of the different countries (31%); there is insufficient cooperation between the authorities in order to protect the interests of these victims (29%) and unawareness concerning the possibility to file a complaint in their own country (39%). Specialist services and victim support organizations (cf. article 13): The key actors contacted share the opinion that there is insufficient funding for victims support organizations (56%), but that victims have easy access to victim support organizations (54%) and that their needs are adequately met by victim support organizations (47%). Training for personnel involved in proceedings or otherwise in contact with victims (cf. article 14): Finally we would also like to show some key findings on the training of personnel involved: There is insufficient knowledge of professionals to deal with the victims (45%) and insufficient resources available to train professionals (52%). 6
Preliminary observations of the legal survey
6.1
The position of cross-border victims
Improving the position of cross-border victims lies at the heart of the Framework Decision. However, although there is some improvement visible in their situation, their position does not have seem to have changed much since the implementa-
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tion. Article 11 deals with the organization of the process and the possibility that the victim was not able, or in the case of severe crimes, unwilling to report the crime in the country where it was committed. The Framework Decision specifically mentions three alternatives. In the first place it allows the victim to make a statement immediately after an offence was committed. This offers victims the possibility to report the offence before returning home. This avenue is open to victims in 11 countries. However it is mostly a specific instance of a more general provision which also applies to residents of the countries themselves. The Framework Decision also states, article 11 section 2: “Each Member State shall ensure that the victim of an offence in a Member State other than the one where he resides may make a complaint before the competent authorities of his State of residence if he was unable to do so in the Member State where the offence was committed or, in the event of a serious offence, if he did not wish to do so.” This method, whereby a victim reports the offence once he returns home, is not available in many countries, with respondents stating that the member state itself should have jurisdiction before allowing the filing of a report. 6.2
Use of vague language and harmonization
We have already emphasized that the Framework Decision, in part due its use of vague language, offers the member states considerable room for interpretation. This can hamper the harmonization of the victims’ position. After all: when member states interpret key concepts differently, this will have a subsequent impact on the practice in different countries. An example is the concept ‘particularly vulnerable victim’ in article 2 paragraph 2. According to the article this type of victim is entitled “to specific treatment best suited to his or her circumstances.” This may well impact the whole process of victim assistance for these victims. It is therefore remarkable that the Framework Decision does not breathe a word about the criteria by which a victim may be considered particularly vulnerable. It is completely up to the member states’ discretion to define this concept. However, the degree of unanimity is large. Children and mentally disabled victims are considered vulnerable in (nearly) all member states, and victims of domestic and sexual violence in most. This phenomenon is visible regarding other key concepts as well and we would suggest that the cooperation of those working in the field of victims of crime at the European and international level play a larger role in this harmonization. 6.3
Harmonization and established criminal justice procedures including the position of the offender
Harmonization and also improvement of the victims position is far more problematic due to engrained differences in the criminal justice process and the treat-
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ment of offenders across the European Union. We have already mentioned the difference between adversarial and inquisitorial systems. But our impression of the results of VINE until now is that it has also proved far more difficult to change the position of victims in those situations where that might appear to clash with the position of offenders. A good example may be found in the results concerning information, where marked progress has been made concerning the information given to victims at the initial stages, but much more resistance is found in disseminating information concerning the release of the offender from prison. Granting additional procedural rights to victims is always controversial, due to the possible tension of procedural rights for victims and the position of the offender. The criminal justice establishment is still weary of victims and therefore resistant to change. 6.4
Improvement
The results show improvement in many aspects of the victims’ position in the period since the adoption of the Framework Decision. But that improvement does not equally apply to all aspects of the Framework Decision. We have already noted the difficulties encountered when engrained criminal justice principles or suspects’ and offenders’ rights may be put under pressure. And of course money matters. Many of victim support organizations will agree with the fact that costly innovations will not be supported or implemented in a fashion that meets victims’ needs. The funding of many victim support organizations is no doubt a case in point. Moreover we can question whether developments can be rightly termed improvements. The rise of penal mediation and other forms of restorative justice, for example, is not necessarily in the interests of victims. This depends to a large extent on the exact form that these initiatives take. This relates to the wider phenomenon that the form and shape of the implementation of victims’ rights and services determines their usefulness. 6.5
The importance of Victim Support Europe
We already concluded that the effects of the Framework Decision have not been qualitatively different from earlier soft-law instruments. There has been improvement, but not so much on difficult or costly issues. There is harmonization, but this seems to be mainly due to cooperation between those working in the field, rather than the literal text of the Framework Decision. Governments and the criminal justice establishment still need continual convincing of the importance of victims’ rights in a manner that is more constructive than tough sentencing proposals. In all these matters we foresee Victim Support Europe to have a vanguard position within the European Union. It has been and will be in a large part due to
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the efforts of this organization that the Framework Decision will improve and harmonize the victims’ position across Europe. References Council of the European Union (2001): Council Framework Decision of 15 March 2001 on the standing of victims in criminal proceedings 2001/220/JHA. In: Official Journal of the European Communities. L 82/1. 22 March. Online: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:L:2001:082:0001:0004:EN:PDF (30. 11. 2009). European Commission (2004): Report from the Commission on the basis of Article 18 of the council Framework Decision of 15 March 2001 on the standing of victims in criminal proceedings (SEC(2004)102). Online: http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/victims/ com2004_054en021.pdf (08. 02. 2010).
Rechte und Pflichten von Opfern im deutschen Rechtssystem Beatrice Pawlik
Der vorliegende Beitrag bietet einen Einblick in die gesetzlichen Regelungen zu Rechten und Pflichten von Menschen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat geworden sind. Der Einblick orientiert sich an den im Bereich der Opferhilfe gesammelten Erfahrungen und kann aufgrund deren Komplexität nur fragmentarisch dargestellt werden. Mit dem Beitrag ist beabsichtigt, interessierten Menschen, die mit dem Rechtswesen noch nicht oder nur bedingt vertraut sind, eine Vorstellung über die Vielfalt rechtlicher Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu vermitteln. Um den Zugang zu diesem Aufgabengebiet der Opferhilfe zu erleichtern, wird im ersten Kapitel ein Fallbeispiel eingeführt und im Laufe des Textes immer wieder zur Veranschaulichung aufgegriffen. Zuvor beginnt der Beitrag mit einer kurzen Einführung in das deutsche Rechtssystem und einem groben Überblick zu einzelnen, im Bereich der Opferhilfe relevanten Rechten (1). Das zweite Kapitel wendet sich dem Strafverfahren mit seinen einzelnen Verfahrensabschnitten zu. Hier werden die praxisrelevanten Rechte und Pflichten von Opfern vorgestellt (2). Im dritten Kapitel steht das Zivilverfahren im Mittelpunkt, wobei insbesondere die zum Strafverfahren unterschiedlichen Rollen der Prozessbeteiligten hervorgehoben werden (3). Im Anschluss wird das für eine effektive Opferhilfe interessante Adhäsionsverfahren vorgestellt (4). Abschließend werden die Vor- und Nachteile eines Zivil- und Adhäsionsverfahrens erörtert (5) und weitere sozialrechtliche Entschädigungsmöglichkeiten vorgestellt (6).1
1
Übersicht zum deutschen Rechtssystem und Einführung eines Fallbeispiels
In den verschiedenen Rechtsgebieten sind unterschiedliche Rechtsverhältnisse geregelt. Das öffentliche Recht regelt das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und den übrigen Hoheitsträgern sowie das Verhältnis der Verwaltungsträger zueinander. Hierzu gehören zum Beispiel das gesamte Prozessrecht, das Strafrecht und das Sozialrecht. Das Privatrecht, das juristisch Zivilrecht genannt wird, regelt demgegenüber die Beziehungen von rechtlich (nicht wirtschaftlich) gleichge1
Aufgrund des begrenzten Rahmens muss auf die Darstellung eines Verfahrens nach dem Gewaltschutzgesetz sowie auf die vertiefende Erörterung von Entschädigungsmöglichkeiten von Straftatopfern an dieser Stelle verzichtet werden.
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Beatrice Pawlik
stellten Rechtssubjekten (natürlichen oder juristischen Personen) untereinander. In der Bundesrepublik werden im allgemeinen Sprachgebrauch vier Rechtsgebiete unterschieden, die vorwiegend die in der Tabelle aufgeführten Rechtsverhältnisse umfassen: Verfassungsrecht
Verwaltungsrecht
Zivilrecht
Strafrecht
Grundrechte
Sozialrecht Entschädigungsrecht
Schadensersatz Schmerzensgeld Herausgabe
Straftat Verurteilung Vollstreckung
Die einzelnen Rechtsgebiete verfügen über unterschiedliche Prozessrechte, mithin über unterschiedliche prozessuale Möglichkeiten, die jeweiligen Rechte durchzusetzen. Opferrechte finden in jedem Bereich – Privat- und Öffentlichem Recht – ihre gesetzliche Grundlage. Sie sind in allen Rechtsbereichen dokumentiert, greifen ineinander und bauen teilweise aufeinander auf. Auch sind sie sehr unterschiedlich ausgestaltet. Je nach Interesse des Opfers sind in der Verfolgung und Durchsetzung der Rechte entsprechend unterschiedliche Rechtswege und Gestaltungsmöglichkeiten zu beachten. Zu differenzieren sind zunächst materielle und Prozessrechte. Dabei ist wiederum auf den konkret in der Sachlage einzuhaltenden Rechtsweg zu achten. Die umfassende Beratung über Verletztenrechte ist besonders schwer, da für die gleiche Rechtsverletzung mehrere Verfahren zwar mit gleicher Zielrichtung, aber mit unterschiedlichen prozessualen Rechten und Pflichten möglich sind. Hinzu kommt, dass die Rechtswege teilweise miteinander verknüpft sind oder auch auf Normen eines anderen Rechtsgebietes verweisen. Opfer- und Verletztenrechte sind damit eine vielschichtige Querschnittsthematik. So werden ganz unterschiedliche Rechte tangiert, je nachdem, ob wir es mit einem finanziell hintergangenen Ehemann zu tun haben, der eine Strafanzeige wegen Betruges zu Lasten seiner Ehefrau erstattet oder ob wir ein Opfer einer schweren Körperverletzung beraten, das Kosten einer medizinischen Behandlung, Schmerzensgeld und Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung begehrt. Die Verletzte2 eines vorsätzlichen oder grob fahrlässigen, rechtswidrigen Handelns kann vom Täter auf dem Zivilrechtsweg Schadensersatz und Schmerzensgeld einklagen. Sie kann aber gegebenenfalls auch nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG)3, dem Bundesversorgungsgesetz (BVG)4 oder dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)5 Ersatzansprüche geltend machen. Zudem 2
Entsprechend des diskutierten Fallbeispiels wird im folgenden Text die weibliche Form für die Opferpersonifizierung und die männliche für die Täterbeschreibung benutzt. 3 Opferentschädigungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985 (BGBl. I S. 1), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. Juni 2009 (BGBl. I S. 1580) geändert worden ist. 4 Bundesversorgungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl. I S. 21), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2495) geändert worden ist. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2495) geändert worden ist.
115
Rechte und Pflichten von Opfern im deutschen Rechtssystem
gibt es diverse Opferfonds, aus denen unter Umständen Schmerzensgeldzahlungen geleistet werden.6 Der folgende Überblick7 stellt für die Opfervertretung interessante Gestaltungsmöglichkeiten in der Wahrnehmung der Rechte der oben vorgestellten Rechtsgebiete beispielhaft dar. Die einzelnen Rechte haben unterschiedliche Voraussetzungen und können auf unterschiedlichen Wegen durchgesetzt werden. Strafrechtlich
Zivilrechtlich
Sozialrechtlich
Passive und aktive Beteiligungsrechte an der Strafverfolgung: • Strafanzeige nach § 77 Strafgesetzbuch (StGB)8 • Informationsrechte, §§ 171, 406h, 385, 397 Strafprozessordnung (StPO)9 • Einsicht in die Ermittlungsakte durch den Rechtsanwalt, §§ 147 (Verteidiger), 385 (Privatklage), 406e (Verletzte), 475 (aufgrund berechtigtem Interesse) StPO • Zeugnisverweigerungsrechte, §§ 52ff. StPO • Vernehmung auf Ton-/Bildaufnahme, § 58a StPO • Recht auf Verweigerung der Personalien, § 68 StPO
Materiell-rechtliche Ansprüche nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB)10: • Besitzstörung/verbotene Eigenmacht – Selbsthilfe, Anspruch auf Beseitigung/ Unterlassung, §§ 854ff. • Mobbing – §§ 1004 i.V. m. 823 gegen den Täter; §§ 611 i.V. m. Nebenpflichten aus Arbeitsertrag gegen den Arbeitnehmer • Schadensersatz, §§ 812ff., 823ff. • Schmerzensgeld, § 253 • Wohnungszuweisung, § 1361b
Materiell-rechtliche Ansprüche nach Sozialgesetzbuch Siebtes Buch bis Zwölftes Buch (SGB VII bis XII)12: • Kriegsopferrente/-entschädigung • Heilbehandlung • Versorgungskrankengeld bei schädigungsbedingter Arbeitsunfähigkeit • Hilfen zur beruflichen Rehabilitation • Grundrente • Pflegezulage • Schwerstbeschädigtenzulage • Berufsschadensausgleich • Ausgleichsrente • Witwen- und Waisenversorgung • Elternversorgung
Nach §§ 1, 2 Gewaltschutzgesetz (GewSchG)11: • Betretungsverbot • Wohnungszuweisung • Platzverweis • Kontaktaufnahmeverbot
(Fortsetzung auf S. 116)
6
Z. B. Heidelberger Opferfonds, CURA, DAV-Stiftung contra Rechtsextremismus und Gewalt. Die angegebenen Rechte sind nicht abschließend; der Überblick stellt aber dar, welche vielfältigen Möglichkeiten bei der Vertretung eines Straftatopfers möglich sind. 8 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 2. Oktober 2009 (BGBl. I S. 3214) geändert worden ist. 9 Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2437) geändert worden ist. 10 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch das Gesetz vom 28. September 2009 (BGBl. I S. 3161) geändert worden ist. 11 Gewaltschutzgesetz vom 11. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3513). 12 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 17. Juli 2009 (BGBl. I S. 1974) geändert worden ist. 7
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Beatrice Pawlik
Fortsetzung von S. 115 Strafrechtlich
Zivilrechtlich
• Ausschluss der Öffentlichkeit, § 171b GVG13 • Entfernung des Angeklagten in der Hauptverhandlung, § 247 StPO • Rechtsbeistand, § 68b StPO • Rechtliches Gehör, § 33 StPO • Privatklage, §§ 374ff. StPO • Anschluss zur Nebenklage, § 395ff. StPO • Rechtsmitteleinlegung, § 401 StPO • Adhäsionsverfahren, §§ 403ff. StPO • Prozesskostenhilfe, §§ 379, 397a, 404 StPO
Nach Opferanspruchssicherungsgesetz (OASG)14: • Forderungspfandrecht aufgrund öffentlicher Darstellung der Tat, § 1 • Auskunftsanspruch, § 4
Der Strafverfolgungsanspruch verbleibt beim Staat.
Sozialrechtlich
Die prozessuale Durchsetzung erfolgt durch Erhebung der Klage oder das Einstweilige Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht. Auch hier sind prozessuale Rechte, aber auch Die prozessuale Durchsetzung Pflichten zu berücksichtigen. erfolgt durch Erhebung der Kla- Diese unterscheiden sich ge oder das Einstweilige Rechts- kaum von denen im Zivilschutzverfahren vor dem Zivilge- verfahren. Im Sozialrechtsricht. Dabei sind wiederum prostreit besteht jedoch nach zessuale Rechte, aber auch § 103 Sozialgerichtsgesetz Pflichten zu berücksichtigen. (SGG)16 der Amtsermittlungsgrundsatz, welcher das Bsp.: Verfahren für den Kläger • Prozessvertreter, §§ 78ff. Zivil- sehr viel einfacher gestaltet. prozessordnung (ZPO)15 • Beweisantrag, aber nicht förmlich sowie Darlegungslast, §§ 138, 253 ZPO • Bestreiten, § 138 Abs. 3 ZPO
Ein Fallbeispiel: Die jugendliche Sandra lernt auf einer Geburtstagsfeier den erwachsenen André kennen. Nachdem sich beide in der darauf folgenden Zeit immer öfter treffen, führen sie für einen kurzen Zeitraum eine persönliche und auch sexuelle Beziehung. Sandra lernt André als einen überaus verantwortungsvollen und zuvorkommenden jungen Mann kennen. Zu ihrem Bedauern beendet André aber die Beziehung. Beide haben danach weiterhin ein freundschaftliches Verhältnis zueinander und treffen sich hin und wieder. So auch eines abends. André fuhr zu Sandra, um mit ihr über seine berufliche Entwicklung zu reden. Als er bei Sandra ankam, bemerkte sie, dass er Alkohol getrunken hatte. Sie wollte deswegen eigentlich das Treffen sogleich beenden, aber André schlug ihr vor, ein Stück spazieren zu ge13
Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2474) geändert worden ist. 14 Gesetz zur Sicherung der zivilrechtlichen Ansprüche der Opfer von Straftaten vom 8. Mai 1998 (BGBl. I S. 905). 15 Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3202; 2006 I S. 431; 2007 I S. 1781), die zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 24. September 2009 (BGBl. I S. 3145) geändert worden ist. 16 Sozialgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 1975 (BGBl. I S. 2535), das zuletzt durch Artikel 9 Absatz 6 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert worden ist.
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Rechte und Pflichten von Opfern im deutschen Rechtssystem
hen. Plötzlich packte André Sandra von hinten und sagte: „Küss mich!“ Sandra bekam Angst, da sie etwas abseits in einen Wald gegangen waren und sie sich hilflos fühlte. Sie forderte André auf, sie in Ruhe zu lassen und ihr keine Angst zu machen. André hörte aber nicht auf, sondern zwang sie durch sein aggressives Verhalten – aber ohne körperliche Gewalt anzuwenden – ruhig zu sein und vergewaltigte sie. Sandra weinte lautstark, versuchte aber nicht wegzulaufen. Sie hatte schreckliche Angst. Nach der Tat drohte er ihr, dass er sie umbringen würde, wenn sie jemanden davon erzählen würde. Dann brachte André Sandra wieder zu ihrer Haustür, wo er seine Drohung nochmals wiederholte. Erst zwei Tage später konnte die beste Freundin Sandra überzeugen, bei der Polizei Strafanzeige zu erstatten. Sandra wurde mehrfach polizeilich vernommen. André wurde aufgegriffen und die Untersuchungshaft angeordnet. Es stellte sich heraus, dass er als Jugendlicher bereits mehrfach wegen Sexualstraftaten verurteilt worden war. André wurde wegen Vergewaltigung angeklagt. 2
Das Strafverfahren
2.1
Verfahrensablauf
Das Strafverfahren ist in folgende Verfahrensabschnitte eingeteilt: Ermittlungsverfahren
Hauptverfahren
II. (III.) Instanz
Vollstreckung
für Beweissicherung
zur Beweisführung
für Überprüfung
zur Resozialisierung
2.2
Das Ermittlungsverfahren
2.2.1 Inhalt Das Ermittlungsverfahren gilt nach § 397 Abs. 1 Abgabenordnung (AO)17 als eingeleitet, sobald die Staatsanwaltschaft, eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes oder die Finanzbehörde eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen. Grundsätzlich entscheidet allein die Staatsanwaltschaft über den Abschluss des Ermittlungsverfahrens durch Einstellung, Strafbefehlsantrag oder Anklage. Nach Abschnitt I 1. Nr. 1 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV)18 liegt das vorbereitende Verfahren in den Händen der Staatsanwaltschaft. Im Rahmen des Gesetzes verfolgt sie Straftaten und leitet verantwortlich die Ermittlungen der sonst mit der Strafverfolgung befassten Stellen. 17
Abgabenordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 2002 (BGBl. I S. 3866; 2003 I S. 61), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2474) geändert worden ist. 18 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1. Januar 1977 geändert mit Wirkung vom 1. Januar 2008.
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Beatrice Pawlik
In dem Fallbeispiel wurde das Ermittlungsverfahren mit der Anzeigenaufnahme Sandras durch die Polizei eingeleitet. Dadurch ist ein Anfangsverdacht19 gegen André begründet worden, sich wegen einer Sexualstraftat schuldig gemacht zu haben. Die weiteren Ermittlungen wurden durch die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Verfahrens“ geführt. Die hatte entschieden, André zunächst aufzusuchen und ihn zu vernehmen. Dann ist die Polizei auch nochmals mit Sandra zum Tatort gegangen, um gegebenenfalls weitere Beweise zu finden. Der in der Nacht von Sandra getragene Slip wurde für eine labortechnische Untersuchung einbehalten und Freunde von Sandra und André wurden nach Anweisung der Staatsanwaltschaft zeugenschaftlich vernommen. André wurde in die Untersuchungshaft genommen. Nach Abschluss des Verfahrens erhob die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Gericht die Anklage.
2.2.2 Strafanzeige Zu Beginn eines jeden Strafverfahrens steht zunächst die Anzeige der Tat, die bei der Staatsanwaltschaft, Behörden und Beamten des Polizeidienstes bzw. auch den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich gestellt werden kann.20 Eine Strafanzeige ist die Mitteilung eines Sachverhaltes, der nach Meinung der Anzeigenerstatterin Anlass für eine Strafverfolgung bieten kann. Beachtenswert ist, dass zunächst nur der subjektive Verdacht einer Straftat oder eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Sachverhaltes vorliegt, verbunden mit der Anregung der Anzeigenerstatterin, es möge geprüft werden, ob die Tat zu verfolgen ist. Ein Strafantrag hingegen ist das Verlangen einer Person, dass jemand wegen eines bestimmten Sachverhaltes strafrechtlich verfolgt wird. Bei sogenannten absoluten Antragsdelikten, die ausdrücklich im Gesetz bestimmt sind, wie beispielsweise ein Hausfriedensbruch oder eine Beleidigung, ist zwingend ein Strafantrag zur Anklageerhebung erforderlich. Er muss innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis von der Tat und von der Person des Täters gestellt werden. Die beschuldigte Person muss nicht namentlich bekannt sein. Sie muss aber zumindest individualisierbar sein, d.h. ihr Auffinden und Unterscheiden von anderen Personen muss mit Hilfe von konkreten Angaben wie Geschlecht, Alter, Größe, Haarfarbe, etc. möglich sein. 2.2.3 Rechte und Pflichten des Opfers Dem Opfer selbst steht in der Phase des Ermittlungsverfahrens kein selbstständiges Mitwirkungsrecht an der Untersuchung der Straftat zu. Es fungiert hier lediglich als Zeuge. Aus Sicht des Opfers notwendige Ermittlungshandlungen können im Wesentlichen nur bei der Staatsanwaltschaft angeregt werden. Es bestehen jedoch keine Rechte, in die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bewusst lenkend einzugreifen. Sandra war vor ihrer Strafanzeige zu ihrem Gynäkologen gegangen und hatte ihm erzählt, was ihr passiert war. Er untersuchte sie auf Verletzungen und dokumentierte die Ergebnisse in einem Befundbericht. Sandra hatte in der Tatnacht ihren Slip, welcher mit etwas 19 20
Geregelt in § 152 Abs. 2 StPO. Nach § 158 Abs. 1 StPO.
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Blut verschmiert war, in eine Plastiktüte gesteckt. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter diesen Slip sieht und Fragen stellt. Sie übergab den Slip nach ihrer ersten Vernehmung der Polizei. Mit diesen Handlungen unterstützte Sandra die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und lenkte unbewusst die Ermittlungen dahingehend, dass der Slip untersucht und ihr Arzt später zeugenschaftlich vernommen wurde.
Als Zeugin ist die Geschädigte einer Straftat grundsätzlich ein persönliches Beweismittel – eine Beweisperson, die in einem nicht gegen sie selbst gerichteten Strafverfahren Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen gibt. Gegenstand eines Zeugenbeweises sind ausschließlich Tatsachen, keine Rechtsfragen, Erfahrungssätze, Schlussfolgerungen oder Mutmaßungen. Im Gegensatz dazu ist diejenige, die nur in Augenschein genommen wird, die ihre Wahrnehmungen jedoch nicht bekunden muss, keine Zeugin. Dennoch hat natürlich jedes Opfer – wie auch jede Zeugin – Rechte, die die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft durchaus beeinflussen können. Im Einzelnen sind dies: § 406e StPO – Akteneinsicht Liegt ein berechtigtes Interesse vor, kann jede Verletzte einer Straftat durch einen Rechtsanwalt Einsicht in die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte nehmen. Bei einer nebenklageberechtigten Verletzten (siehe unter 2.3.2) liegt das berechtigte Interesse immer vor, andernfalls muss es ausdrücklich dargelegt werden. Ein berechtigtes Interesse ist beispielsweise gegeben, wenn geprüft werden soll, ob zivilrechtliche Ansprüche gegen den Beschuldigten bestehen. Soweit überwiegend schutzwürdige Interessen des Beschuldigten entgegenstehen, ist die Akteneinsicht zu versagen, z.B. bei Steuergeheimnissen oder wenn kein hinreichender Tatverdacht besteht. Sandra musste im Laufe der Ermittlungen mehrfach vor der Polizei ihre Aussage wiederholen und vertiefen. Sie wusste anfangs aber nicht, ob André auch schon vernommen wurde und eine Aussage gemacht hatte. Sie erhielt während der Ermittlungen mehrfach Anrufe von einer unbekannten weiblichen Stimme, die sie immer wieder bedrohte und sagte, sie solle aufpassen, was sie sage, sie mache eine Familie kaputt. Da sich Sandra schon früh im Ermittlungsstadium anwaltliche Hilfe nahm, hat sie sehr frühzeitig erfahren, dass André zwar eine abstreitende Aussage gemacht hat, jedoch bereits in Untersuchungshaft genommen wurde. Auch wusste sie aufgrund von Telefonvermerken der Polizei, dass die beängstigenden Anrufe von Andrés neuer Freundin kamen.
Weitere Rechte einer Zeugin, unabhängig davon, ob sie Opfer der Straftat ist oder nicht, sind folgende: §§ 48, 161a StPO – Erscheinenspflicht In diesen Vorschriften ist geregelt, dass jede Zeugin verpflichtet ist, für ihre Aussage vor dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft zu erscheinen. Im Umkehrschluss muss eine Zeugin einer Ladung der Polizei zur Zeugenvernehmung nicht nachkommen.
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§ 57 StPO – Aussagepflicht/Belehrung Gleichfalls besteht bei einer Erscheinenspflicht auch die Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen Aussage. § 57 StPO regelt dahingehend die Belehrungspflicht des Vernehmungsbeamten. Er hat insbesondere die Möglichkeit einer Vereidigung der Zeugin aufzuzeigen und über die Strafbarkeit einer falschen uneidlichen und eidlichen Aussage zu belehren. Der Vernehmungsbeamte hat hierbei wiederum § 60 StPO zu beachten, der das Vereidigungsverbot einer Zeugin unter 18 Jahren regelt. Wird das Zeugnis, also die Aussage oder die Eidesleistung ohne gesetzlichen Grund, mithin ohne Vorliegen eines Weigerungsgrundes verweigert, so sind der Zeugin die hieraus resultierenden Kosten sowie ein Ordnungsgeld oder auch Ordnungshaft aufzuerlegen. Ist die Zeugin nicht schuldfähig, beispielsweise ein Kind unter 14 Jahren, ist ein Ordnungsgeld oder die sogenannte Beugehaft unzulässig. Für André bestand weder vor der Polizei noch vor Gericht die Pflicht, eine Aussage zu machen. Jedem Beschuldigten steht es nämlich frei, sich zu dem Tatvorwurf zu äußern. André konnte deshalb nicht gezwungen werden, an der Überführung seiner Person und an der Findung von Beweismitteln gegen sich selbst mitzuwirken. Dieses Recht eines Beschuldigten geht soweit, dass er sogar falsche Angaben machen kann. So erzählte André beispielsweise, dass Sandra mit ihm freiwillig in den Wald gegangen war, und dass sie es war, die mit ihm dort Geschlechtsverkehr haben wollte.
§ 58 Abs. 2 StPO – Gegenüberstellung Jeder Zeugin, nicht nur der Opferzeugin, obliegt die Pflicht, eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen oder dem Beschuldigten nach § 58 Abs. 2 StPO zu dulden, wenn sie zur Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist und durch die Staatsanwaltschaft oder per richterlicher Anordnung durchgeführt wird. Die Gegenüberstellung soll in der Art und Weise durchgeführt werden, dass mehrere Personen gleichen Alters, gleichen Geschlechts und ähnlicher Erscheinung gegenübergestellt werden. § 81c StPO – körperliche Untersuchung Nach § 81c StPO ist jede Zeugin, unabhängig ob Opferzeugin oder nicht, verpflichtet, eine körperliche Untersuchung zu dulden, um Tatspuren und Tatfolgen festzustellen, soweit diese zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Untersuchung kann auch gegen den Willen der Opferzeugin vorgenommen werden. Nach Abs. 2 Satz 2 dieser Vorschrift sind aber Blutproben nur vom Arzt vorzunehmen. Ein Weigerungsrecht für die Blutentnahme besteht nur, soweit ein Zeugnisverweigerungsrecht – hierzu sogleich – besteht. § 81c Abs. 3 StPO besagt, dass bei Minderjährigen, die mangels Verstandesreife oder bei Erwachsenen, die wegen einer psychischen Krankheit von der Bedeutung des Weigerungsrechtes keine genügende Vorstellung haben, der gesetzliche Vertreter über die Blutentnahme entscheidet. Ist ein Elternteil aber selbst Be-
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schuldigter der aufzuklärenden Straftat, kann die Blutentnahme nur auf besondere richterliche oder in Eilfällen auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgen. Die körperliche Untersuchung ist nach § 81d StPO von einer Person gleichen Geschlechts oder einem Arzt vorzunehmen, wenn sie das Schamgefühl verletzen kann. Auf Verlangen der betroffenen Zeugin soll eine Vertrauensperson zugelassen werden. Will die zu untersuchende Person einen besonderen Arzt damit beauftragen, soll diesem Willen entsprochen werden. Auf diese Möglichkeiten ist das Opfer der Straftat ausdrücklich hinzuweisen. Da eine körperliche Untersuchung mit erheblichen Eingriffen in die Intimsphäre des Opfers verbunden ist, ist gemäß RiStBV Abschnitt I Nr. 4 immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Da Sandra bereits bei ihrem behandelnden Gynäkologen war, der sie untersucht hatte, musste sie nicht noch einmal eine körperliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Der Arzt wurde von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, schriftlich darzulegen, was genau er bei Sandras Untersuchung festgestellt hatte, und zu welchem Befund er gekommen war.
§ 68a StPO – Verbot der Bloßstellung des Zeugen In § 68a StPO ist bestimmt, dass Fragen, die dem Opfer oder dessen nahen Angehörigen zur Unehre gereichen oder deren persönlichen Lebensbereich betreffen, nur gestellt werden sollen, wenn dies unerlässlich ist. Dadurch soll das Recht des Opfers und der Zeugin auf eine angemessene Behandlung und auf Ehrenschutz gewahrt werden. Es darf durch die Art der Vernehmung nicht zu einer Herabstufung zum bloßen Verfahrensobjekt kommen. Bei der Vernehmung der Geschädigten sind die Staatsanwaltschaft und die untersuchenden Stellen gehalten, die Vernehmung mit besonderer Einfühlung und Rücksichtnahme durchzuführen. Dies trifft insbesondere auf Fälle zu, in denen die Vernehmung des Opfers erkennbar mit einer erheblichen psychischen Belastung verbunden ist. Der Staatsanwalt hat gemäß RiStBV Abschnitt I Nr. 4c darauf zu achten, dass die Belastung des Opfers möglichst gering gehalten und im Strafverfahren auf dessen Belange besondere Rücksicht genommen wird. Fragen nach Vorstrafen sind nur zu stellen, um die Glaubwürdigkeit zu beurteilen. So sind beispielsweise Fragen nach einer Verurteilung wegen einer früheren Falschaussage oder wegen Betruges zulässig. Fragen nach einer Eintragung im Erziehungsregister hingegen sind nicht statthaft. Neu ist seit Oktober 2009, dass Fragen nach Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der konkreten Sache betreffen, wie beispielsweise die Beziehung zum Beschuldigten, ausdrücklich zu stellen sind, wenn es erforderlich erscheint. § 52 StPO – Zeugnisverweigerungsrecht Das Opfer hat als Zeugin in dem Verfahren wie jeder andere Zeuge, Aussageverweigerungsrechte nach den §§ 52, 55 StPO. Hierauf ist das Opfer ausdrücklich hinzuweisen und zu belehren.
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§ 52 StPO enthält das Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten zum Schutz der Familie. Dieses Recht besagt, dass eine Zeugin, die zugleich Angehörige des Beschuldigten ist, nicht zu einer Aussage verpflichtet werden kann. Von diesem Recht sind insbesondere Eltern, Kinder, die Ehegattin oder die Verlobte, aber auch der Lebenspartner des Beschuldigten umfasst. Nicht geschützt sind hingegen Pflegekinder des Beschuldigten. Bei einem minderjährigen Zeugen hat der Vernehmungsbeamte zu prüfen, ob der Zeuge über eine ausreichende Vorstellung hinsichtlich der Tragweite seiner Aussage verfügt. Ein minderjähriger Zeuge darf dann nur vernommen werden, wenn er zur Aussage bereit ist und beide gesetzlichen Vertreter zustimmen. Ist aber ein gesetzlicher Vertreter selbst Beschuldigter, ist dem minderjährigen Zeugen ein Ergänzungspfleger nach § 1909 BGB beim Familiengericht zu bestellen, der dann über die Zustimmung der Zeugenaussage des Minderjährigen entscheidet. Kommt bei einer Zeugin ein Zeugnisverweigerungsrecht in Betracht, ist sie ausdrücklich hierüber zu belehren. Wurde die Zeugin versehentlich nicht über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt, besteht ein Verwertungsverbot, d. h. ihre Aussage darf nicht bei einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichtes berücksichtigt werden. Ändert sich das Angehörigenverhältnis während des laufenden Verfahrens, so ist die Zeugin vor ihrer weiteren Vernehmung nochmals ausdrücklich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen. Nur wenn sie nach erneuter Belehrung trotzdem aussagt, darf auch ihre frühere Aussage verwertet werden. Schon im Ermittlungsverfahren gegen André teilte seine neue Freundin den Polizeibeamten mit, dass sie mit ihm verlobt sei. Daraufhin wurde sie über ihr Recht, die Aussage zu verweigern, belehrt.
§ 55 StPO – Auskunftsverweigerungsrecht Hiernach kann jede Zeugin die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung sie selbst oder einen nahen Angehörigen der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Auch über dieses Recht ist jede Zeugin vor ihrer Vernehmung ausdrücklich zu belehren. Der Unterschied zu § 52 StPO ist insbesondere, dass auch keine Auskunft über andere nahe Angehörige als den Beschuldigten erteilt werden muss, wenn die Gefahr einer Verfolgung besteht. § 55 StPO bezieht sich aber nur auf bestimmte einzelne Fragen. Auf nicht belastende Fragen muss die Zeugin antworten. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO hingegen umfasst die gesamte Aussage. Sandra hatte nach ihrer Anzeigenerstattung nächtliche Anrufe und SMS-Nachrichten erhalten, in welchen sie beleidigt und beschimpft wurde. Die Anruferin bedrohte Sandra, dass sie grundlos eine Familie zerstöre und drohte Rache an. Die neue Freundin Andrés wurde bei ihrer polizeilichen Aussage darauf angesprochen, ob sie diese Anruferin gewesen sei. Zuvor wurde sie aber belehrt, dass sie hierzu keine Angaben nach § 55 StPO machen
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muss. Die Freundin räumte ihre Anrufe und Nachrichten an Sandra ein. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen sie wurde jedoch nicht eingeleitet.
Ein Aussageverweigerungsrecht muss ausdrücklich erklärt werden. Eine Zeugin darf belastende Tatsachen nicht einfach verschweigen. Über eine Selbstbelastung trifft die Zeugin allein die Entscheidung, auch die Minderjährige oder Verstandesunreife. Wahrheitswidrige Angaben in dieser Situation können bis zum Ende der Vernehmung widerrufen werden. Werden unwahre Angaben nicht rechtzeitig widerrufen, so macht sich die Zeugin selbst wegen falscher uneidlicher oder eidlicher Aussage strafbar. § 53 StPO – Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger Diese Vorschrift enthält das Recht abschließend aufgeführter Berufsgruppen, keine Zeugenaussage machen zu müssen, die im Zusammenhang mit ihrer Berufsausübung stehen. Die hiervon umfassten Berufsgruppen sind: • Geistliche • Verteidiger und andere Rechtsanwälte • Ärzte, Psychologen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten • Mitglieder und Beauftragte einer anerkannten Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz • Mitarbeiter von Suchtberatungsstellen, die von einer Behörde oder Anstalt des öffentlichen Rechts eingerichtet oder anerkannt sind. Andere, nicht aufgeführte Berufsgruppen haben kein Recht, ihr Zeugnis zu verweigern. Durch dieses Recht soll das Vertrauensverhältnis zu diesen Berufsgruppen geschützt werden, die wegen ihrer besonderen Fachkunde oder wegen besonders persönlichen Tatsachen mit der Bitte um Hilfe aufgesucht werden. Sandra suchte auf Anraten der Polizei eine Opferschutzeinrichtung auf. Dort wurde sie bis zum rechtskräftigen Abschluss betreut und psychologisch beraten. Die betreuende Fachberaterin stellte an Sandra bewusst keine Fragen über den Tathergang und auch nicht über den Täter. Damit wollte sie der Gefahr begegnen, als Zeugin im gerichtlichen Verfahren aussagen zu müssen.
§ 58a StPO – Aufzeichnung auf Bild-Ton-Träger Eine Vernehmung einer Zeugin kann unter Umständen auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet werden. Sie soll bei Personen unter 18 Jahren, die durch die ermittelte Straftat verletzt sind, aufgezeichnet werden, wenn dies zur Wahrung ihrer schutzwürdigen Interessen geboten erscheint. Bei anderen Zeugen soll die Aufzeichnung erfolgen, wenn zu befürchten ist, dass die Zeugin in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann, die Aussage aber zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Hierdurch sollen häufig belastende Mehrfachvernehmungen der
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besonders schutzbedürftigen Zeugin erspart werden. Die Aufzeichnung bezweckt auch den Schutz der Zeugin vor Einschüchterung und Repressalien Dritter in der Vernehmung während der Hauptverhandlung. Diese Vorschrift ist als Signal für die Praxis zu verstehen und soll bereits im Ermittlungsverfahren zwingend berücksichtigt werden, z. B. bei Minderjährigen oder bei kranken und alten Menschen, bei Opfern von Gewalt- und Sexualstraftaten oder Personen, die sich von ihrer kriminellen Vergangenheit losgesagt haben. Die Aufzeichnung dient aber auch der Beweissicherung, besonders bei Erstaussagen kindlicher Zeugen. Durch die Aufzeichnung entsteht jedoch ein Spannungsverhältnis mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz im Strafrecht und sie ist daher einzelfallbezogen und nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anzuwenden. Mit Blick auf die Verwertbarkeit der Zeugenaussage sollte die Aufzeichnung im Rahmen der richterlichen Vernehmung erfolgen, auch schon im Ermittlungsverfahren. Die Duldung der Aufzeichnung ist Bestandteil der Zeugenpflicht. Verweigert die Zeugin aber in der Hauptverhandlung berechtigterweise das Zeugnis, darf auch die Aufzeichnung nicht abgespielt werden. Im Rahmen der Akteneinsicht, beispielsweise durch einen Verteidiger, ist auch die Aufzeichnung herauszugeben. Grundsätzlich ist bei einer richterlichen Vernehmung der Zeugin, dem Staatsanwalt, dem Beschuldigten und dem Verteidiger die Anwesenheit zu gestatten. Der Richter kann den Beschuldigten jedoch von der Vernehmung ausschließen, wenn dessen Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde. Dies ist anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass die Zeugin sonst nicht wahrheitsgemäß aussagen würde. Besteht die Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohle der Zeugin bei Anwesenheit der Berechtigten, soll der Richter die Vernehmung allein durchführen. Den zur Anwesenheit Berechtigten sind dann zeitgleich Bild und Ton zur Kenntnis zu geben, z.B. durch eine Videovernehmung mit gleichzeitiger Übertragung in ein anderes Zimmer. Erfolgt dies nicht, kann die aufgezeichnete Vernehmung nicht in die Hauptverhandlung ersatzweise eingeführt werden. Leider sind bis heute nicht alle Polizeipräsidien und auch nicht alle Gerichte mit derartigen Medien ausgestattet. Daher findet diese Art der Vernehmung nur selten statt, meist nur bei ausdrücklichen Hinweisen des Zeugenbeistandes bzw. des Opfervertreters. § 68 StPO – Angaben zu den Personalien Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- und Aufenthaltsortes der Zeugin ihr Leben, ihr Leib oder ihre Freiheit oder die einer anderen Person gefährdet wird, so ist die Zeugin darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit besteht, eine andere ladungsfähige Anschrift als ihren Wohnsitz anzugeben. Ihr soll gestattet werden, Angaben zu ihrer Person nicht oder nur eingeschränkt machen zu müssen, sofern ein begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch eine umfangreiche Angabe über ihre Person, ihre
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Rechtsgüter oder die einer anderen Person gefährdet werden oder dass auf die Zeugin oder eine andere Person in bedrohlicher Weise eingewirkt wird. Die zurückzuhaltenden Daten der Zeugin sind durch die Staatsanwaltschaft zu verwahren und auch bei einem Akteneinsichtsgesuch, z. B. des Verteidigers, nicht preiszugeben. Die Personalien der zu schützenden Zeugin dürfen auch nicht in der Anklageschrift aufgenommen werden, da diese dem Angeklagten zugestellt wird. Ist die Zeugin gleichzeitig Verletzte der Straftat, stehen ihr weitere Rechte zu, die Einfluss auf die Ermittlungen haben können. Diese Rechte sind folgende: § 406f StPO – Beistand Zeugenbeistand nach Abs. 1 Nach Abs. 1 dieser Vorschrift kann sich jede Verletzte bereits im Ermittlungsverfahren eines Rechtsanwaltes als Beistand bedienen. Diesem ist die Anwesenheit bei Vernehmungen der Verletzten uneingeschränkt zu gestatten. Der Zeugenbeistand darf die Vernehmung aber nicht stören, da er sonst ausgeschlossen werden kann. Das Anwesenheitsrecht besteht jedoch nur während der Vernehmung, nicht davor oder danach, da er lediglich als Zeugenbeistand fungiert. Der Zeugenbeistand erhält keine Benachrichtigung von der Vernehmung und auch keine Ladung zur Hauptverhandlung. Die Vernehmung der Verletzten findet daher auch dann statt, wenn ihr Zeugenbeistand verhindert ist. Ist die Zeugin nicht gleichzeitig Verletzte der Straftat, richtet sich die Möglichkeit einen Beistand zu nehmen nach § 68b StPO. Dieser Zeugenbeistand kann auch schon bei der konkreten Gefahr, dass er den Untersuchungszweck gefährde, ausgeschlossen werden. Vertrauensperson nach Abs. 2 § 406f Abs. 2 StPO eröffnet der Verletzten die Möglichkeit, auf Antrag eine Vertrauensperson zu ihrer Vernehmung hinzuzuziehen. Hierüber entscheidet der Vernehmungsleiter oder der Richter nach pflichtgemäßem, nicht überprüfbarem Ermessen. Entscheidend ist bei der Ermessensausübung, ob durch die Anwesenheit der Vertrauensperson der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Die Vertrauensperson soll die psychologische Betreuung während der Vernehmung ermöglichen. Etwaige Rechte hat die Vertrauensperson nicht. Sie kann auch keine Rechte der Zeugin geltend machen. § 406d StPO – Informationsrecht Der Verletzten ist auf Antrag die Einstellung des Ermittlungsverfahrens und der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens mitzuteilen. Ferner ist ihr auf Antrag mitzuteilen, ob gegen den Verurteilten freiheitsentziehende Maßnahmen angeordnet, beendet oder erstmalig Lockerungsmaßnahmen oder Urlaub gewährt werden. Voraussetzung ist jedoch ein berechtigtes Interesse an dieser Information.
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Sandra stellte bereits sehr früh im Ermittlungsverfahren einen Antrag nach § 406d StPO. Daher erfuhr sie auch bei ihrer zweiten polizeilichen Vernehmung sogleich, dass André nach seiner Vernehmung verhaftet und in die Untersuchungshaft genommen wurde.
§ 406h StPO – Hinweispflichten Die Verletzte muss möglichst frühzeitig und schriftlich auf ihre Rechte aus den §§ 406d, 406e, 406f und 406g StPO hingewiesen werden. Ihr muss mitgeteilt werden, dass sie sich mit der Nebenklage der öffentlichen Klage anschließen und sich hierzu eines Rechtsanwaltes bedienen kann. Ferner muss sie auf die Möglichkeit eines Adhäsionsantrages hingewiesen werden. Ihr ist auch mitzuteilen, dass sie eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz beanspruchen oder bei Bedarf einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz stellen kann. Nunmehr ist die Verletzte auch darauf hinzuweisen, dass sie Unterstützung und Hilfe durch eine Opferhilfeeinrichtung erhalten kann, etwa in Form einer Beratung oder einer psychosozialen Prozessbegleitung. Voraussetzung für diese Hinweispflichten ist aber die korrekte Mitteilung ihrer Anschrift. Sandra erhielt von der Polizei gleich nach ihrer Anzeigenerstattung ein Merkblatt, in welchem ihr die Möglichkeiten einer Nebenklage, eines Adhäsionsantrags sowie eines Rechtsbeistandes kurz erläutert wurden. Die ermittelnde Polizeibeamtin übergab ihr auch einige Flyer verschiedener Opferhilfeorganisationen, an welche sie sich wenden konnte.
2.2.4 Abschluss der Ermittlungen Der Staatsanwaltschaft obliegt es zu entscheiden, wann die Ermittlungen abgeschlossen sind. Dabei prüft sie, ob alle notwendigen Ermittlungen getätigt sind, so dass die Entscheidung getroffen werden kann, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten besteht. Bieten die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft genügend Anlass, die öffentliche Klage zu erheben, so reicht sie die Anklageschrift beim zuständigen Gericht ein.21 Das ist regelmäßig der Fall, wenn eine Verurteilung überwiegend wahrscheinlich ist. Andernfalls kann das Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft nach folgenden Normen abgeschlossen werden: Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO Eine Einstellung nach dieser Vorschrift erfolgt, wenn der Beschuldigte nicht hinreichend der Straftat verdächtig ist oder ein Verfahrenshindernis22 vorliegt. Hierüber ist die Verletzte per Bescheid unter Darlegung der Gründe zu informieren, sofern sie einen Strafantrag gestellt hat. Gegen diesen Einstellungsbescheid kann sie nach § 172 StPO innerhalb von 14 Tagen eine Beschwerde einlegen, um so gegebenenfalls doch die Anklage zu erreichen. 21 22
Geregelt in den §§ 169a, 170 Abs. 1 StPO. Z. B. wurde kein Strafantrag bei einem absoluten Antragsdelikt gestellt, oder die Straftat ist bereits verjährt.
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Einstellung nach § 153 StPO Die Voraussetzungen für eine Einstellung hiernach sind: • Es handelt sich bei der Straftat um ein Vergehen, • dem Täter ist nur eine geringe Schuld vorzuwerfen, und • es besteht kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Die Einstellung erfolgt durch die Staatsanwaltschaft, ohne Zustimmung des Gerichts, wenn die Tat nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist. Liegt beispielsweise eine Qualifikation eines Diebstahls nach § 244 StGB vor, also z. B. ein Bandendiebstahl, muss das Gericht einer Einstellung nach § 153 StPO zustimmen. Einstellung nach § 153a StPO Weiterhin kann die Staatsanwaltschaft ein Verfahren einstellen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: • Es liegt ein Vergehen vor, • der Täter, nicht notwendig die Verletzte, stimmt der Einstellung zu, • die Zustimmung des Gerichts und der Staatanwaltschaft liegen vor und • eine Auflage wird erteilt. Die Staatsanwaltschaft kann hiernach zunächst vorläufig das Ermittlungsverfahren einstellen und dem Täter eine Auflage oder Weisung, wie z. B. die Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Verletzte erteilen, sofern diese Auflage geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen. Wird die Auflage dann tatsächlich erfüllt, wird das Verfahren endgültig eingestellt. Einstellung nach § 154 StPO Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung in dem aktuellen Verfahren, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die bereits gegen den Täter rechtskräftig verhängt oder wegen einer anderen Straftat zu erwarten ist, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt. Hier handelt es sich stets um einen so genannten Mehrfachtäter. Zwar war André bereits als Jugendlicher wegen einer Sexualstraftat verurteilt. Eine Einstellung nach § 154 StPO kam dennoch nicht in Betracht, da er die damals verhängte Strafe bereits vollständig verbüßt hatte.
Entscheidet sich die Staatsanwaltschaft dafür, das Verfahren gegen den Täter nicht einzustellen, so kann sie entweder eine Anklage erheben oder einen Strafbefehl nach den §§ 407ff. StPO beantragen. Das Strafbefehlverfahren ist ein ver-
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einfachtes Verfahren zur Bewältigung der leichten Kriminalität durch einen schriftlichen Strafbefehl. Die Besonderheit des Strafbefehlverfahrens besteht darin, dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung ohne mündliche Hauptverhandlung führen kann. Dies entlastet das Gericht und die Staatsanwaltschaft und kann dem Täter die Bloßstellung durch eine öffentliche Hauptverhandlung ersparen. Da die getätigten Ermittlungen einen hinreichenden Tatverdacht gegen André begründeten, und die Staatsanwaltschaft aufgrund der ermittelten Beweise eine hohe Wahrscheinlichkeit für seine Verurteilung prognostizierte, reichte sie beim Landgericht eine Anklageschrift wegen Vergewaltigung im besonders schweren Fall ein, mit dem Antrag, das Hauptverfahren zu eröffnen. Sandra erhielt über ihren Rechtsbeistand zeitgleich diese Information, da sie rechtzeitig einen Antrag nach § 201 StPO stellte. Nach dieser Vorschrift ist nun auch der Nebenklageberechtigten die Anklageschrift auf Antrag zu übersenden.
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Das Hauptverfahren
Das Hauptverfahren wird gemäß § 207 StPO per Beschluss eröffnet, indem die Anklage vom Gericht zugelassen wird. Die Prüfung über die Zulassung der Anklage erfolgt im Zwischenverfahren ohne jegliche Beteiligung anderer. 2.3.1 Passive Rolle des Opfers Auch im Hauptverfahren ist das Straftatopfer in erster Linie Zeugin und damit Objekt der Beweisführung. Ihr stehen aber auch hier die gleichen Rechte und Pflichten zu, die bereits im Ermittlungsverfahren geltend gemacht werden konnten. Nach § 69 StPO soll in der Vernehmung während der Hauptverhandlung darauf hingewirkt werden, dass das Opfer und jede Zeugin ihre polizeiliche Aussage hier nochmals im Zusammenhang wiederholen können. Nach § 241a StPO führt der Vorsitzende in Anwesenheit der Beteiligten die Vernehmung von Zeugen unter 18 Jahren allein durch, d. h. nur er stellt die Fragen an die Zeugin. Fragen anderer Beteiligter, wie z. B. des Verteidigers oder des Angeklagten, sollen durch den Vorsitzenden Richter gestellt werden. Nur wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen kein Nachteil für das Wohl der minderjährigen Zeugin zu befürchten ist, können die anderen Beteiligten ihre Fragen selbst an sie richten. 2.3.2 Aktive Rolle – Nebenklage Die Nebenklage bietet Opfern von Straftaten unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, sich der öffentlichen Klage, sprich der Anklage der Staatsanwaltschaft gegen den Straftäter, anzuschließen. Dies ist auch bei einem Antrag im Sicherungsverfahren möglich. Dadurch erlangt das Opfer die Chance, nicht
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nur passiv, sondern durch Geltendmachung von Rechten aktiv im gesamten Strafverfahren mitzuwirken und sich stärker zu schützen. Damit kann das Opfer sein persönliches Interesse auf Genugtuung verfolgen und durch seine aktive Beteiligung auch das Verfahrensergebnis beeinflussen. 2.3.2.1 Voraussetzungen Für eine Nebenklage ist zunächst eine Anschlusserklärung gegenüber dem Gericht abzugeben. Da einem Opfer das zuständige Gericht meist erst bei Erhebung der Anklage bekannt wird, kann die Erklärung auch schon zuvor im Ermittlungsverfahren gegenüber der Polizei oder der Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Die Anschlusserklärung wirkt dann mit Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft. Ferner muss das Opfer zum Anschluss befugt sein. Die Befugnis ist in § 395 StPO geregelt. Hiernach kann sich mit der Nebenklage anschließen, wer durch eine rechtswidrige Tat nach 1. den §§ 174 bis 182 StGB, also eine der aufgezählten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 2. den §§ 211, 212 StGB, mithin Mord und Totschlag, die versucht wurde, 3. den §§ 221, 223 bis 226 und 340 StGB, einem vorsätzlichen Körperverletzungsdelikt, 4. den §§ 232 bis 238, 239 Absatz 3, §§ 239a, 239b und 240 Absatz 4 StGB, einer Straftat gegen die persönliche Freiheit, 5. § 4 des GewSchG, 6. speziellen Urheber- und Wettbewerbsrechten verletzt ist. Auch kann sich die Person, 1. deren Kinder, Eltern, Geschwister, Ehegatten oder Lebenspartner durch eine rechtswidrige Tat getötet wurden oder 2. die durch einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 StPO die Erhebung der öffentlichen Klage herbeigeführt hat, mit der Nebenklage dem Strafverfahren anschließen. Wer durch eine andere rechtswidrige Tat, insbesondere wegen eines Beleidigungsdeliktes, einer fahrlässigen Körperverletzung, einem Bandendiebstahl, einem Raub oder einer räuberischen Erpressung oder wegen eines räuberischen Überfalls auf Kraftfahrer, verletzt ist, kann sich ebenso der Anklage anschließen, wenn dies aus besonderen Gründen, vor allem wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung ihrer Interessen geboten erscheint. Weiterhin muss die Verletzte prozessfähig im Sinne der §§ 51, 52 ZPO sein. Diejenige, die sich vertraglich binden kann ohne die Zustimmung eines gesetzlichen
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Vertreters, ist prozessfähig. Ein geschädigtes Kind wird durch seine gesetzlichen Vertreter vertreten. Sollte das Kind durch die Eltern keine Unterstützung erfahren, kann auch das zuständige Jugendamt beim Familiengericht am Wohnort des Kindes einen Antrag auf Bestellung eines Ergänzungspflegers stellen. Dieser Ergänzungspfleger nimmt dann im Strafverfahren die Stellung der gesetzlichen Vertreter ein und kann beispielsweise einen Rechtsbeistand mit der Durchführung der Nebenklage bevollmächtigen. Liegen alle Voraussetzungen vor und erscheint eine Verurteilung aufgrund der Nebenklagestraftat möglich, lässt das Gericht nach Anhörung der Staatsanwaltschaft die Nebenklägerin per Beschluss zu. Gegen die Nichtzulassung oder den Widerruf der Nebenklage steht sowohl der Antragstellerin als auch der Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel der Beschwerde zu. Auch Sandra hat sich dem Strafverfahren gegen André mit der Nebenklage angeschlossen. Ihr Rechtsbeistand hatte auch schon ganz zu Anfang der Ermittlungen für sie die Anschlusserklärung an die Staatsanwaltschaft gesandt.
Nach dem erfolgten Anschluss stehen der Verletzten in ihrer Position als Nebenklägerin zahlreiche Verfahrensrechte zu, die in der Hauptverhandlung zum Tragen kommen. 2.3.2.2 Weitere Prozessrechte Die nach erfolgreichem Anschluss zusätzlichen Rechte der Verletzten sind vorwiegend in § 397 StPO geregelt. Die weitergehenden Rechte sind jeweils kursiv dargestellt. Da die Anklageerhebung gegen André erst viele Monate nach der Tat erfolgte, machte sich Sandras Rechtsbeistand nochmals über eine erneute Akteneinsicht23 ein umfassendes Bild von den gesamten Ermittlungen. Als Nebenklägerin erhielt Sandra nicht nur eine Vorladung des Landgerichtes für ihre Aussage gegen André. Sie, beziehungsweise ihr Rechtsbeistand, erhielt auch sämtliche Hauptverhandlungstermine vorab zur Kenntnis. Sie konnte sich gemeinsam mit ihrem Rechtsbeistand einrichten und während der gesamten Hauptverhandlung, d. h. auch bei der Anklageverlesung, der Anhörung Andrés und auch bei den Beweiserhebungen wie den Zeugenbefragungen, den Gutachtendarlegungen, etc., anwesend sein24. Dieses Recht konnte, musste Sandra aber nicht wahrnehmen. Da ihr Rechtsbeistand die gesamten Verhandlungstage stets anwesend war, wusste dieser genau, welche Angaben André gemacht und welche Fragen das Gericht gestellt hatte. Auch Sandra, vertreten durch ihren Rechtsbeistand, konnte an André Fragen richten. Dadurch konnte der Rechtsbeistand Sandra sehr gut auf ihre Aussage vorbereiten, da er zumindest teilweise erkennen konnte, welche Fragen das Gericht bzw. Andrés Verteidiger an sie richten würden. Als Geschädigte in dem Strafverfahren hatte Sandra das Recht, vom Gericht angehört zu werden. 23 24
Nach § 406e StPO. Nach § 406g StPO hat jede Verletzte, auch ohne den Anschluss zur Nebenklage, das Recht, in der Hauptverhandlung anwesend zu sein.
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Das Anhörungsrecht steht jedem Opfer zu, auch wenn der Angeklagte geständig ist. Dadurch soll der Geschädigten der Straftat die Möglichkeit gegeben werden, ihre Gedanken und Empfindungen dem Täter mitzuteilen. Sehr oft begreift der Täter, vor allem der Jugendliche, leider erst dann, was er mit seiner strafbaren Handlung wirklich angerichtet hat. Wie auch der Angeklagte hat die Nebenklägerin ein Ablehnungsrecht hinsichtlich des Richters oder des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit nach den §§ 397, 24, 31, 74 StPO. Unmittelbar vor ihrer Aussage erhielt Sandra einen Anruf. Der unbekannte männliche Anrufer drohte ihr, dass sie ja keine falschen Angaben vor Gericht machen solle, denn wenn André verurteilt werde, komme er zu ihr. Sandra war verständlicherweise vor ihrer gerichtlichen Vernehmung sehr aufgeregt und hatte nun besonders große Angst, André erstmalig nach der Tat wieder gegenüberzutreten. Aufgrund dieser Vorkommnisse beantragte ihr Rechtsbeistand die Entfernung25 Andrés aus dem Sitzungssaal während ihrer Vernehmung. Zusätzlich beantragte er die Anwesenheit einer Vertrauensperson26. Da neben dem Rechtsbeistand andere Beistände oder Vertreter ausgeschlossen sind, musste sich Sandra entscheiden, ob es ihr wichtiger sei, die Vertrauensperson bei sich zu haben oder die Öffentlichkeit bei ihrer Vernehmung auszuschließen27. Da Sandra unmittelbar vor ihrer Aussage offensichtlich von Andrés Freunden bedroht wurde, bestand für das Gericht die erhebliche Gefahr, dass Sandra in Anwesenheit Andrés nicht die Wahrheit sagen würde. Auch war zu befürchten, dass ihr bei seiner Anwesenheit eine Körperverletzung o. ä., wie von dem Anrufer angedroht, zugefügt werden würde. Daher gab das Gericht dem Antrag auf Entfernung Andrés während ihrer Vernehmung statt. Weiterhin wurde Sandra durch ihre Beraterin der Opferhilfeeinrichtung in den Verhandlungssaal begleitet. Sie setzte sich als Vertrauensperson direkt neben Sandra. Dadurch konnte sie Sandra unmittelbar moralisch unterstützen und auch Sandras Blickfeld in Richtung der Verteidigung einengen. So war es für Sandra deutlich leichter, über die gesamte Straftat zu sprechen und auch sehr persönliche und intime Fragen zu beantworten. Als der Verteidiger versuchte, Sandra durch seine wiederholenden Fragen in Widersprüche zu bringen und sie durch sehr intime Fragen zu irritieren, beanstandete ihr Rechtsbeistand diese Fragen und beantragte eine Entscheidung des Gerichtes über deren Zulässigkeit.28 Da Sandra zum Zeitpunkt der Tat schon mehrere Jahre Kampfsport praktizierte, sich gegen die Übergriffe Andrés aber nicht zur Wehr setzte, versuchte die Verteidigung darzulegen, dass es sich in der Tatnacht um einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Sandra und André handelte. Sandra bekundete hingegen, dass sie in der Tatnacht sehr eingeschüchtert von André war und dass sie wegen seiner körperlichen Überlegenheit Angst hatte, sich zu wehren. Das Gericht hielt es für entscheidend, ob es für Sandra aufgrund ihrer Kampfsporterfahrungen möglich gewesen wäre, sich erfolgreich gegen Andrés Über25
Die Entfernung des Angeklagten nach § 247 StPO dient grundsätzlich der Wahrheitsfindung, nicht dem Interesse der Zeugin. Dennoch kann auch eine konkrete Gefahr der Gesundheitsgefährdung der Zeugin die Entfernung rechtfertigen. 26 Nach § 406f Abs. 3 StPO. 27 Nach § 171b GVG i.V.m. § 338 StPO. 28 Beanstandungsrecht von Anordnungen des Vorsitzenden und von Fragen nach den §§ 397 Abs. 1, 238 Abs. 2, 242 StPO.
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griffe zu verteidigen. Zur Klärung dieser Frage wurde ein Dozent im Fachbereich Sport als sachverständiger Zeuge vor dem Gericht angehört. Da dieser sachverständige Zeuge weder Sandra noch ihre Fertigkeiten im Kampfsport kannte, hielt es ihr Rechtsbeistand für erforderlich, Sandras Trainer hierüber zu hören. Um dies zu erreichen, stellte er zunächst einen entsprechenden Beweisantrag und leitete selbst zum nächsten Termin die Ladung des Trainers als Zeugen in die Wege.29 Nach dem Abschluss der Beweisaufnahme hielt Sandras Rechtsbeistand wie die Staatsanwaltschaft und der Verteidiger einen Schlussvortrag30, in welchem er nochmals genau darlegte, was Sandra in der Tatnacht erlebt hatte und welche Folgen sie dadurch erlitt. Hiermit konnte er das Gericht nochmals für die Schwere der Tat sensibilisieren, um eine angemessene Verurteilung Andrés zu erreichen. André wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.
2.4
II. (III.) Instanz
Ein Rechtsmittel kann von dem Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft eingelegt werden. Legt nur der Angeklagte ein Rechtsmittel ein, gilt das Verböserungsverbot, d. h. die nächste Instanz darf keine höhere Strafe urteilen, als gegen die sich der Angeklagte gerade erwehren will. Nach § 401 StPO kann die Nebenklägerin unabhängig von der Staatsanwaltschaft oder dem Angeklagten ein Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen, jedoch nur, wenn sie durch das Urteil auch beschwert ist. D. h. sie kann mit dem Rechtsmittel nicht das Ziel verfolgen, eine andere Rechtsfolge herbeizuführen, oder dass der Angeklagte wegen einer anderen Straftat bestraft wird, die nicht zum Anschluss zur Nebenklage berechtigt.31 Sie kann also keinen anderen Rechtsfolgeausspruch, mithin keine höhere Freiheitsstrafe begehren. Bei einem Freispruch hingegen ist ein Rechtsmittel der Nebenklägerin stets zulässig. Das Rechtsmittel kann von der Nebenklägerin auch nicht zugunsten des Angeklagten eingelegt werden. Folgende Rechtsmittel sind möglich: 2.4.1 Berufung – §§ 400, 312ff. StPO Gegen Urteile eines Amtsgerichts ist die Berufung zulässig. Sie ist innerhalb einer Woche nach Verkündung des Urteils schriftlich beim Amtsgericht, dessen Urteil angefochten wird, einzulegen. In der Berufungsverhandlung kann der Strafsachverhalt vollständig einer neuen, unabhängigen Überprüfung unterzogen werden. Damit ist sie eine völlig neue (zweite) Tatsacheninstanz. Grundsätzlich muss die Berufung nicht begründet werden. Aufgrund der Beschränkung des Rechtsmittels der Nebenklägerin sollte jedoch stets eine Klarstellung erfolgen und dargelegt werden, warum Berufung eingelegt wird. 29
Beweisantragsrecht nach § 244 Abs. 3 bis 6 StPO; Selbstladung von Zeugen nach §§ 220, 245 StPO. Erklärungsrecht nach § 397 I S. 3 i.V. m. §§ 257, 258 StPO. 31 Nach § 400 StPO. 30
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2.4.2 Revision – §§ 400, 333ff. StPO Die Revision ist ein Rechtsmittel mit begrenzten Prüfungsmöglichkeiten und zwar ausschließlich zur Überprüfung von Rechtsfehlern. Daher werden in der Revisionsinstanz keine Tatsachen, sondern nur noch Rechtssachen geprüft. Das Revisionsgericht prüft nur, ob der festgestellte Sachverhalt korrekt zustande gekommen ist und ob das Gericht alle Beweise fehlerfrei gewürdigt hat. Sind tatsächlich Verfahrensfehler begangen worden, prüft es zudem, ob das Urteil hierauf basiert. Das Revisionsgericht stellt sich also die Frage, ob ohne diesen Verfahrensfehler eine andere Entscheidung getroffen worden wäre. Nur wenn es diese Frage bejaht, wird die fehlerhafte Entscheidung aufgehoben. Die Revision ist binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, einzulegen. Sie ist an sehr strenge Formvorschriften gebunden. Werden diese Förmlichkeiten nicht eingehalten, so ist sie schon unzulässig. In der Revisionsschrift, welche binnen eines Monats nach Einlegung der Revision bei dem Gericht einzureichen ist, sind dann konkrete Anträge zu stellen und eine genaue formgebundene Begründung niederzulegen. Die Revision kann nur damit begründet werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. Welche konkrete Gesetzesverletzung die Revision rechtfertigt, ist abschließend in § 338 StPO32 geregelt. Andere Gründe stützen das Rechtsmittel nicht. 2.5
Vollstreckung
Die Vollstreckung des Urteils erfolgt erst, soweit es rechtskräftig ist. Rechtskräftig ist ein Urteil, wenn gegen dieses kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann. Die Vollstreckung eines Strafurteils erfolgt vorwiegend nach den §§ 449ff. StPO und dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG)33. Vollstreckungsbehörde ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft am geurteilten Gericht, auch bei einer Verlegung des Inhaftierten in ein anderes Bundesland. 2.6
Kosten
Grundsätzlich hat der Verurteilte die Kosten des Strafverfahrens zu tragen. Auch die Kosten der Nebenklage und des Rechtsbeistandes hat er zu zahlen. Jedoch bleibt das Opfer immer Kostenschuldner gegenüber dem von ihr beauftragten Rechtsbestand, da diese miteinander einen Vertrag geschlossen haben. Damit hat 32
Gründe sind u. a. die fehlerhafte Besetzung des Gerichtes, die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft bei einem Verhandlungstermin oder das Fehlen einer Begründung im Urteil. 33 Strafvollzugsgesetz vom 16. März 1976 (BGBl. I S. 581, 2088), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2274) geändert worden ist.
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das Opfer bei Nichtzahlung der Rechtsanwaltskosten durch den Täter diese zunächst auszugleichen. Auf Antrag der Nebenklägerin nach § 397a StPO ist ihr aber ein Rechtsanwalt als Beistand beizuordnen, wenn • sie Geschädigte einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen Menschenhandels ist, und die Tat ein Verbrechen darstellt, • sie Verletzte eines (versuchten) Tötungsdelikts ist, • sie das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, oder sie ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann, die Tat aber ein Vergehen darstellt oder • das an ihr begangene Verbrechen zu einem schweren körperlichen oder seelischen Schaden geführt hat oder voraussichtlich führen wird. Liegen diese Voraussetzungen vor, wird der beigeordnete Beistand wie ein Pflichtverteidiger durch die Landeskasse bezahlt. Kann eine Beiordnung nicht erfolgen, ist der Nebenklägerin für die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes auf Antrag Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren, wenn • sie ihre Interessen nicht ausreichend selbst wahrnehmen kann, oder es ihr nicht zuzumuten ist und • wirtschaftliches Unvermögen vorliegt. Wird ihr die PKH allerdings versagt, hat die Nebenklägerin bei Nichtverurteilung des Angeklagten die Kosten ihres Beistandes selbst zu tragen. Gegen die Ablehnung der PKH besteht keine Beschwerdemöglichkeit. Sandra erhielt nach Antragstellung einen Rechtsbeistand nach § 397a Abs. 1 Satz 1 StPO beigeordnet. Dieser wurde zunächst von der Landeskasse bezahlt. Diese Kosten wurden sodann André nach seiner Verurteilung auferlegt.
3
Zivilverfahren
Im Zivilverfahren geht es ausschließlich um die Durchsetzung privatrechtlicher Ansprüche, sei es Schadensersatz, Schmerzensgeld, Feststellung, Rückgewähr oder Unterlassung, nicht aber um die Bestrafung eines Täters. Das Zivilverfahren ist daher nicht durch den Staat, sondern von der Betroffenen selbst zu führen. Die materiellen Ansprüche des Opfers, die auf unterschiedliche gesetzliche Vorschriften gestützt werden können, werden prozessual mit Hilfe der in der ZPO geregelten Rechte und Pflichten gerichtlich durchgesetzt. Gemäß den §§ 23, 71 GVG ist für eine Zivilrechtstreitigkeit, deren Wert die Summe von 5.000 “ nicht übersteigt, das Amtsgericht, ab einem höheren Betrag das Landgericht sachlich zuständig. Örtlich ist das Amts- bzw. Landgericht zuständig, in welchem das Tatgeschehen beziehungsweise der Beklagte seinen Wohnsitz hat.34 34
Geregelt in den §§ 32, 12 ZPO.
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3.1
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Die Rollen der Prozessbeteiligten
3.1.1 Die Verletzte = Klägerin = Partei Im Gegensatz zum Strafverfahren ist das Opfer im Rahmen eines Zivilverfahrens die Partei, von welcher die staatliche Rechtsschutzhandlung, also das Urteil, im eigenen Namen begehrt wird. Anders als im Strafverfahren hat die Anspruchsberechtigte ihre Forderungen beim zuständigen Gericht mit der Einreichung einer Klageschrift35 anhängig zu machen. Mit Einreichung dieser Klageschrift nimmt sie die Stellung einer Klägerin ein. Sandra hatte gegen André einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes. Sofern sie dieses auf dem zivilrechtlichen Weg begehrt hätte, hätte sie vor einem Zivilgericht einen bestimmt formulierten Antrag auf Zahlung stellen müssen. Diesen Antrag hätte sie begründen und dabei nochmals ausführlich darlegen müssen, was ihr von André zugefügt worden war. Als Klägerin hätte sie für den begehrten Anspruch die Darlegungs- und Beweislast gehabt, denn im Zivilverfahren gilt der sog. Beibringungsgrundsatz36. Das bedeutet, dass sie in ihrer Klage alle Gründe hätte angeben müssen, aus denen sich ihre Forderungen ergaben. Sie hätte substantiiert darlegen müssen, warum sie die Ansprüche stellt, und alle vorgebrachten Tatsachen und Behauptungen unter Beweis37 stellen müssen. Da im Zivilverfahren der Beibringungs- und nicht der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, ist das Gericht nicht verpflichtet, auf eigene Nachforschung die Wahrheit zu ermitteln, sondern Sandra hätte alles selbst beweisen müssen. Dies hätte eine doppelte Belastung für sie bedeutet, weshalb ihr davon abzuraten war.
3.1.2 Der Täter = Beklagter = Partei André hätte in einem Zivilverfahren die Rolle des Beklagten eingenommen. Er hätte sich gegen die Klage wehren können, indem er seine eigene Sachverhaltsschilderung dargestellt und seine Behauptungen mit entsprechenden Beweisangeboten untermauert hätte. Auch er hätte seine Darstellungen und Beweise mit der Klageerwiderung nach § 277 ZPO in den Prozess eingebracht.
Im Zivilverfahren stehen sich somit die Klägerin und der Beklagte auf „gleicher Augenhöhe“ gegenüber. Prozessual stehen den Parteien die gleichen Rechte, aber auch Pflichten zu. Im Zivilprozess gilt die Wahrheitspflicht, d. h. hier darf keine Partei, auch nicht der Täter, die Unwahrheit sagen. Er kann sich lediglich auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Dem Beklagten obliegt aber auch nicht die Darlegungs- und Beweislast. Diese obliegt der Klägerin und erschwert ihr damit den Erfolg eines solchen Verfahrens.
35
Inhalt und Form einer Klageschrift sind in den §§ 253ff. ZPO genau definiert. Sie muss einen bestimmten Antrag und eine substantiierte Begründung enthalten. 36 Nach § 356 ZPO hat die beweispflichtige Partei sämtliche Beweise dem Gericht beizubringen. 37 Z. B. durch die Angabe von Zeugen, Erstellen eines Sachverständigengutachtens, Vorlegen von Urkunden, etc.
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3.1.3 Der Zeuge, geregelt in den §§ 373ff. ZPO Der Zeuge hat im Zivilverfahren die gleiche Funktion wie im Strafverfahren. Er hat seine Wahrnehmungen zu bekunden. Die Klägerin und der Beklagte sind dabei nicht Zeugen, sondern Partei. Die wahrheitsgemäße Aussage steht im Zentrum des abzulegenden Zeugnisses. Ebenso besteht die Pflicht zum Erscheinen auf gerichtliche Vorladung hin. Kommt ein Zeuge seinen Pflichten nicht nach, können gegen ihn Ordnungsmittel wie Ordnungsgeld oder Ordnungshaft verhängt werden. Der Zeuge hat auch im Zivilverfahren das Recht, einen Zeugenbeistand nach § 90 ZPO hinzuziehen. Die Kosten eines Beistandes hat der Zeuge aber stets selbst zu tragen. Die eigenen Kosten und Auslagen des Zeugen, wie z. B. Fahrtkosten für die Anreise zum Gericht, werden durch die Landeskasse ersetzt. 3.1.4 Der Sachverständige, geregelt in den §§ 402ff. ZPO Der Sachverständige wird aufgrund seiner speziellen Fachkunde als Berater für bestimmte entscheidungserhebliche Beweisfragen herangezogen. Die Auswahl des Sachverständigen wird vom Gericht vorgenommen. Er vermittelt dem Gericht das nötige Fachwissen zur Beurteilung von Tatsachen und zieht im Wege der Wertung aus diesen Tatsachen konkrete Schlussfolgerungen. Das Gericht muss, falls es nicht selbst die erforderliche Sachkunde für die Beurteilung von Spezialfragen besitzt, den Sachverständigenbeweis auch ohne Antrag einer Partei anordnen. Jedoch kann das Gericht einen Antrag einer Partei auf Zuziehung eines Sachverständigen mit der Begründung der eigenen Sachkunde zurückweisen.38 3.2
I. Instanz und einige Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung
3.2.1 Rechtsanwalt Jede Partei kann sich in jeder Phase des Verfahrens eines Rechtsanwaltes als Prozessbevollmächtigten bedienen. Bei Verfahren vor dem Landgericht ist sie hierzu verpflichtet, denn nach § 78 ZPO besteht bei diesen Verfahren sogar ein Anwaltszwang. Dem Zivilverfahren gehen vorwiegend außergerichtliche Kommunikationsversuche und Aufforderungsschreiben zwischen der Verletzten (Klägerin) und dem Täter (Beklagten) voran. Darin legt die Verletzte oder ihr Rechtsanwalt meist schon ihre Ansprüche dar und fordert zu deren Ausgleich auf. Werden die Forderungen nicht ausgeglichen, sollte eine Klageschrift an das zuständige Gericht gesandt werden. Das Gericht stellt dann diese Klage dem Täter förmlich39 zu. 38
Z. B. wenn der Kausalzusammenhang zwischen Tat und Tatfolge unklar ist, prüft ein Sachverständiger, ob durch den Tathergang nach medizinischen oder technischen Gesichtspunkten die Tatfolge so eintreten konnte. 39 Nach den §§ 270, 271, 166ff. ZPO mit einem entsprechenden Nachweis des Zustellungsdatums.
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3.2.2 Richter Jede Partei hat ab Anhängigkeit der Klage bei Gericht die Möglichkeit, den mit der Klage befassten Richter nach § 42 ZPO wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.40 Hierbei sind sehr strenge Form- und Fristvorschriften zu beachten. 3.2.3 Partei Wer sich als Beklagter gegen die Klage nicht verteidigt, kann trotzdem verurteilt werden, wenn er auf die Klageschrift nicht reagiert. Dann ergeht in der Regel ohne mündliche Verhandlung ein so genanntes Versäumnisurteil nach den §§ 330ff. ZPO. Wenn sich der Beklagte also gegen eine Schadensersatz- oder Schmerzensgeldklage einer Verletzten verteidigen will, muss er aktiv werden und dem Gericht innerhalb der gesetzten Fristen den Sachverhalt aus seiner Sicht vollständig und wahrheitsgemäß schildern. Dies erfolgt meist in der Klageerwiderung im Sinne des § 277 ZPO. Diese schriftliche Erwiderung reicht er ebenfalls bei dem Gericht ein; sie wird an die Klägerin weitergeleitet. Nach dem Schriftwechsel der Parteien kommt es in der Regel zu einem oder, je nach Umfang der Sache, auch zu mehreren mündlichen Verhandlungsterminen,41 zu welchen meist die Parteien zumindest aber der beauftragte Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter erscheinen müssen.42 Erscheint zum mündlichen Termin ein Beteiligter nicht, so kann auf Antrag des anderen wiederum ein Versäumnisurteil ergehen. Den Parteien steht es jederzeit frei, das Gerichtsverfahren zu beenden, indem sie eine Einigung herbeiführen, beispielsweise einen gerichtlichen Vergleich schließen. Der Beklagte kann auch den Klageanspruch anerkennen,43 oder die Klägerin kann auch auf ihre Ansprüche verzichten.44 Es liegt also weitestgehend in der Hand der Parteien auch während des laufenden Verfahrens über den Streitgegenstand, um den gerade prozessiert wird, eine einvernehmliche Regelung zu erzielen, womit das Gerichtsverfahren beendet wird. 3.3
Verhandlung
Kommt es nicht zu einer einvernehmlichen Einigung, werden sämtliche erhobenen Beweise und das Tatsachenvorbringen durch den befassten Richter aufgenommen, entsprechend frei gewürdigt45 und ins Urteil eingebunden. 40
Eine Besorgnis der Befangenheit ist nach § 42 Abs. 2 ZPO gegeben, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. 41 Geregelt in § 279 ZPO. 42 Das Gericht ordnet bei einer Klage, die im Zusammenhang mit einer Straftat erhoben wurde, meist das persönliche Erscheinen der Parteien nach § 141 ZPO an, um den zugrunde liegenden Sachverhalt unabhängig von einem bereits abgeschlossenen Strafverfahren aufzuklären. 43 Nach § 307 ZPO ergeht dann ein Anerkenntnisurteil. 44 Nach § 306 ZPO erfolgt dann meist eine Klageabweisung. 45 Nach § 286 ZPO entscheidet das Gericht nach freier Überzeugung, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist.
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3.4
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Gerichtliche Entscheidung
Das Urteil ergeht im Zivilprozess in der Regel nicht am Schluss der Sitzung, sondern erst später, meist nach etwa drei Wochen in einem gesonderten Verkündungstermin.46 Zu diesem Termin müssen die Beteiligten nicht erscheinen. Das Urteil wird dann den Parteien schriftlich zugestellt. In den Entscheidungsgründen finden sich zunächst der vom Gericht festgestellte Sachverhalt und die richterliche Beweiswürdigung, in welchem der Richter darlegt, welchen Aussagen oder Urkunden er gefolgt ist, und welche Beweismittel nicht überzeugten. Daran schließt sich die rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes an. Schließlich ist im Urteil auch die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens niedergelegt. Gegen dieses Urteil kann gegebenenfalls ein Rechtsmittel eingelegt werden, um eine Überprüfung durch die nächst höhere Instanz zu erzwingen. Die wichtigsten Rechtsmittel im Zivilverfahren sind die Berufung47 und die Revision48. Wird ein Anspruch gerichtlich bestätigt und entsprechend tituliert, kommt der Gegner aber seinen Pflichten aus dem Urteil nicht freiwillig nach, kann gegen ihn das Zwangsvollstreckungsverfahren nach den §§ 704ff. ZPO geführt werden. Dabei wird vorwiegend der zuständige Gerichtsvollzieher beauftragt, eine Sach- oder Gehaltspfändung oder auch eine Kontenpfändung nach den §§ 850ff. ZPO durchzuführen. Wäre André bei einer Zivilklage zu einer Schmerzensgeldzahlung verurteilt worden, hätte Sandra die Zahlung durch eine Pfändung in Andrés Haftkonto bei der Justizvollzugsanstalt erzwingen können.
3.5
Kosten, geregelt in den §§ 91ff. ZPO
3.5.1 Allgemein In jedem Gerichtsverfahren entstehen Kosten. Diese sind in Gerichts- und außergerichtliche Kosten zu unterteilen. Die Gerichtskosten sind im Zivilverfahren gleich zu Beginn des Prozesses, also mit der Klageschrift als Vorschuss zu zahlen.49 Erst bei Einzahlung dieses Gerichtskostenvorschusses wird die Klage dem Beklagten zugestellt. Sie stellt eine Pauschalgebühr dar, welche nach dem Streitwert berechnet wird. Die Berechnung der außergerichtlichen Kosten, die die 46
Geregelt in den §§ 310ff. ZPO. Die Voraussetzungen sind in den §§ 511ff. ZPO geregelt: Sie kann nur eingelegt werden, wenn der Streitwert 600,00 “ übersteigt oder ausdrücklich durch das Gericht zugelassen wurde. Sie ist innerhalb eines Monats einzureichen. 48 Die Voraussetzungen sind in den §§ 542ff. ZPO geregelt: Sie muss im Berufungsurteil vom Berufungsgericht ausdrücklich zugelassen werden, andernfalls ist nur eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Sie wird i. d. R. zugelassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder zur Fortbildung des Rechts notwendig erscheint. Die Revision ist innerhalb eines Monats einzulegen. 49 Gemäß § 12 GKG Gerichtskostengesetz vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2479) geändert worden ist. 47
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Rechtsanwaltskosten beinhalten, erfolgt nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG)50. Die genaue Summe der Kosten hängt vom Streitwert51 und den erarbeiteten, gesetzlich genau umschriebenen Gebührentatbeständen52 ab. Der Rechtsanwalt darf nach der Berufsordnung nicht weniger gegenüber dem Mandanten abrechnen, als das RVG vorschreibt. Er darf weder kostenlos beraten, noch unterhalb der gesetzlichen Gebühren rechtlich vertreten, da sonst seine Unabhängigkeit in der Rechtspflege nicht mehr gewährleistet ist. 3.5.2 Kostenlast Über die Kostenersatzpflicht entscheidet im Zivilprozess grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens.53 Das Gericht bestimmt im Urteil, dass diejenige Partei, die im Prozess unterliegt, in der Regel nicht nur ihre eigenen Gerichts- und Anwaltskosten zu zahlen, sondern auch dem siegreichen Gegner die Kosten zu erstatten hat. Bei einer teilweisen Klagestattgabe bzw. -abweisung entscheidet der Prozentsatz des Obsiegens, worüber das Gericht befindet. Die Kostenentscheidung ist von Fall zu Fall unterschiedlich zu beurteilen. Teilweise, z. B. bei einer Mehrheit von Parteien auf der Kläger- oder der Beklagtenseite, kann die Kostenentscheidung sehr kompliziert sein, da auch unterschiedliche Gebührentatbestände und Ausnahmeregelungen gesetzlich vorgeschrieben sind. Das Kostenrisiko ist daher im gesamten Prozessverlauf und bei den gewählten Prozesshandlungen im Auge zu behalten. 3.5.3 Prozesskostenhilfe (PKH) geregelt nach den §§ 114ff. ZPO Parteien, die nicht imstande sind, die Kosten des Prozesses selbst zu tragen, haben dennoch die Möglichkeit, durch eine Klageerhebung ihre Rechte durchzusetzen bzw. sich gegen eine Klage zu wehren. Jede Partei kann nach den §§ 114ff. ZPO beim zuständigen Gericht einen Antrag auf Bewilligung der Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes stellen. Die Bewilligung ist von drei Voraussetzungen abhängig: • Der beabsichtigte Prozess oder die beabsichtigte Verteidigung gegen die Ansprüche des anderen hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, • die Prozessführung ist nicht mutwillig54 und 50
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718, 788), das zuletzt durch Artikel 7 Absatz 4 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert worden ist. 51 Der Streitwert ist in § 2 ZPO geregelt und wird durch den geltend gemachten Anspruch bestimmt. Verlangt die Verletzte z. B. 1.000,00 “ Schmerzensgeld, beträgt der Streitwert 1.000,00 “. 52 Die Gebührentatbestände sind im RVG geregelt und sind im Zivilverfahren meist die Verfahrens- und die Terminsgebühr. 53 Geregelt in den §§ 91ff. ZPO. 54 Mutwillig handelt, wer wegen eines Anspruches klagt, den eine vernünftige, nicht bedürftige Person nicht verfolgen würde.
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• die Partei ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht oder nur teilweise in der Lage, die Kosten des Verfahrens zu tragen. Neben der nachzuweisenden Bedürftigkeit anhand der „Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ erfolgt eine summarische, gerichtliche Vorprüfung der Erfolgsaussichten des beabsichtigten Prozesses. Nach Prüfung und Bewilligung der PKH werden die Gerichts- und die eigenen Rechtsanwaltskosten durch die Landeskasse getragen. Die PKH kann auch mit einer Beteiligung an den Kosten durch eine Ratenzahlung der Partei bewilligt werden. Die Angaben in der PKH-Erklärung werden vom Gericht bis zu 4 Jahre nach Abschluss des Rechtsstreits überprüft. Abhängig vom Ergebnis einer solchen Nachprüfung kann das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe widerrufen oder auch nachträglich ändern und beispielsweise eine Ratenzahlung anordnen. Zu beachten ist immer, dass die PKH nur die Gerichtskosten und die des eigenen Rechtsanwalts abdeckt. Bei einem Unterliegen im Verfahren sind die dem Prozessgegner entstandenen Kosten nach § 91 ZPO zu erstatten, welche nicht von der PKH umfasst sind. 3.5.4 Beratungshilfe (BRH) §§ 1ff. Beratungshilfegesetz (BerHG)55 Die Beratungshilfe ist eine staatliche und von der Anwaltschaft getragene Sozialleistung für die Rechtsuchende, die die Kosten für die Beratung oder außergerichtliche Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht aufbringen kann. Ihr darf aber keine andere, zumutbare Möglichkeit für eine Hilfe zur Verfügung stehen.56 Mit der Beratungshilfe können die Kosten eines Rechtsberaters für besonders einkommensschwache Personen übernommen werden. Der Beratungshilfeschein sollte beim Amtsgericht am Wohnsitz der Rechtsuchenden beantragt werden, bevor ein Anwalt aufgesucht wird. Jedoch kann auch der Rechtsanwalt nachträglich einen Antrag stellen. Wenn die Beratungshilfe dann aber abgelehnt wird, müssen die Anwaltskosten von der Rechtsuchenden selbst getragen werden. Der Rechtsanwalt muss von der Rechtsuchenden eine zusätzliche Gebühr von 10,00 “57 verlangen. Nur in Ausnahmefällen darf er darauf verzichten. Der Rechtsanwalt erhält von der Landeskasse im Falle der Rechtsberatung 30,00 “ und im Falle der außergerichtlichen Vertretung 70,00 “. Damit sind die Gebühren, die der Rechtsanwalt in einem Beratungshilfemandat erhält, natürlich wesentlich geringer als in regulär abgerechneten Mandaten. Daher nehmen viele Rechtsanwälte derartige Mandate nicht an. 55
Beratungshilfegesetz vom 18. Juni 1980 (BGBl. I S. 689), das zuletzt durch Artikel 27 des Gesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586) geändert worden ist. 56 Z. B. eine Rechtsschutzversicherung, der Mieterverein oder das Jugendamt. 57 Nach Nr. 2500 VV RVG.
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In Strafsachen umfasst die Beratungshilfe allerdings nur eine Beratung, nicht die Vertretung in einem Ermittlungsverfahren.
4
Adhäsionsverfahren
Opfer von Straftaten haben zumeist auch einen vermögensrechtlichen Schaden zu beklagen. Bei Vermögens- und Eigentumsdelikten, wie beispielsweise einem begangenen Betrug oder einem Diebstahl, ist der Schaden immanent. Aber auch die Verletzte durch Delikte gegen ihre Persönlichkeit, wie bei einer Körperverletzung oder einem sexuellen Missbrauch, hat Ansprüche auf Wiedergutmachung in Form von einer Schmerzensgeldzahlung. Für Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche sind grundsätzlich die Zivilgerichte zuständig. In den §§ 403ff. StPO sind jedoch Ausnahmen derart geregelt, dass zivilrechtliche Ansprüche auch im Strafverfahren gegen den Angeklagten geltend gemacht werden können, wenn die Ansprüche durch dessen Straftat verschuldet wurden. Die Geltendmachung erfolgt im Rahmen des Adhäsionsverfahrens. Sandra erlitt zwar keine Schädigung an ihren Sachen, aber sie war einige Tage krank geschrieben und begab sich zur Verarbeitung der von André begangenen Straftat in psychologische Beratung bei einer Opferhilfeeinrichtung. Sie erlitt durch die Tat erhebliche psychische Beeinträchtigungen. Hierfür verlangte sie im Strafverfahren eine Schmerzensgeldzahlung von André als zumindest kleine Entschädigung und Genugtuung für das Leid, das er ihr angetan hat. Um dies zu erreichen, hatte ihr rechtlicher Vertreter einen Antrag an das Gericht gestellt, André zu einer Geldzahlung zu verpflichten.
Der Antrag ist nur gegen den Angeklagten zulässig, nicht gegen Mithaftende nach Vorschriften des BGB. 4.1
Verfahren
Der Adhäsionsantrag ist wie eine zivilrechtliche Klage aufzubauen und spätestens bis zum Beginn der Schlussvorträge zu stellen. Er muss den Gegenstand und Grund des Anspruches genau bezeichnen und sollte möglichst alle Beweismittel enthalten.58 Zum Grund des Anspruchs gehören alle Tatsachen, die den Antrag plausibel, juristisch schlüssig machen. Die Angabe von Beweismitteln ist nicht zwingend erforderlich, da das Gericht diesen Mangel unter Berücksichtigung seiner Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO heilen muss. Dennoch ist in der Praxis anzuraten, vorliegende Beweise anzugeben und dem Gericht dadurch die Entscheidungsfindung zu erleichtern. Wie auch im Zivilprozess ist ein bestimmter Zahlungsantrag bei einer Schadensersatzleistung zu stellen; bei der Geltend58
Nach § 404 StPO.
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machung von Schmerzensgeld ist dies nicht zwingend erforderlich. Die Antragstellung hat die gleiche Wirkung wie die Erhebung einer Klage beim Zivilgericht. Daher sollte die Kostenfolge eines Antrages immer berücksichtigt werden. Sandra hatte durch ihren Rechtsbeistand ihre Krankschreibung sowie eine Bestätigung der Inanspruchnahme der Opferhilfeeinrichtung unter Darstellung ihrer psychischen Belastbarkeit und Beeinträchtigung dem Gericht vorlegen lassen. Damit konnte sie die psychischen Folgen der Vergewaltigung mit einem guten, fundierten Bericht darlegen und beweisen.
4.2
Entscheidung
Unabhängig vom Streitwert ist immer das urteilende Strafgericht zuständig. Der Antrag wird abgelehnt, wenn er unzulässig ist, z. B. weil die Voraussetzungen nicht erfüllt sind oder wenn er unbegründet ist, beispielsweise wenn schon eine Zivilklage beim Amtsgericht vorliegt, oder der Schaden nicht aufgrund der Tat entstanden ist. Das Gericht kann den Adhäsionsantrag ablehnen und keine Entscheidung darüber treffen, wenn sich durch den Antrag das Strafverfahren erheblich verzögert. Wird allerdings nur Schmerzensgeld beantragt, muss das Gericht zumindest dem Grunde nach entscheiden. 4.3
Kosten
Vorteilhaft im Adhäsionsverfahren ist, dass kein Gerichtskostenvorschuss eingezahlt werden muss, und das Verfahren meist deutlich schneller beendet ist. Aufgrund des Kostenrisikos sollte die Antragstellerin, wenn möglich, immer Prozesskostenhilfe nach § 404 StPO i.V. m. §§ 114ff. ZPO beantragen. Andernfalls hat sie bei Ablehnung des Antrages die Kosten des Rechtsanwaltes zu tragen. Zu beachten ist auch, dass die Antragstellerin bei einem unbegründeten Antrag auch die Kosten des verteidigten Angeklagten zu tragen hat. Dies kann beispielsweise erfolgen, wenn ein deutlich zu hohes Schmerzensgeld gefordert wird. 5
Abwägung Zivilverfahren vs. Adhäsionsverfahren
Eine generelle Einschätzung einer vorzugswürdigen Anspruchserhebung, sei es Zivil- oder Adhäsionsverfahren, gibt es nicht. Es sollte daher stets eine Einzelfallabwägung vorgenommen werden. Bei der Abwägung im Einzelfall sind besonders die Bedürfnisse und Interessen der Verletzten zu berücksichtigen. Bezugspunkte für die Interessenabwägung sollten zumindest sein: • die Zahlung des Gerichtskostenvorschusses durch die Klägerin • die ihr obliegende Beweis- und Darlegungslast • die doppelte Belastung durch eine Zeugenaussage im Strafverfahren und zusätzlich die Prozessführung der Zivilklage
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• die im Zivilverfahren mögliche Hinzuziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte als Beweismittel • die Gesamtkosten des angestrebten Verfahrens • die zeitliche Dauer des gewählten Verfahrens • die Beachtung der Verjährungsvorschriften bei Abwarten des Strafverfahrens. Sandra hatte sich nach anwaltlicher Beratung für die Stellung eines Adhäsionsantrages entschieden. Dies hatte den Vorteil, dass sie gleichzeitig mit Andrés Verurteilung auch einen vollstreckbaren Titel erhielt, mit welchem André auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet wurde. Sie musste daher nicht zusätzlich eine zivilrechtliche Klage erheben und nochmals das gesamte Geschehen darlegen und beweisen. Da André wegen der Straftat verurteilt wurde, hatte er auch Sandras sämtliche Kosten zu tragen.
6
Sozialrechtliche Entschädigungsansprüche
6.1
Opferentschädigungsgesetz (OEG)
Leitgedanke des vom Bundestag 1976 einstimmig beschlossenen Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten ist, dass die staatliche Gemeinschaft für die Opfer von Straftaten einstehen muss, wenn es ihr trotz aller Anstrengungen zur Verbrechensverhütung nicht gelingt, Gewalttaten völlig zu verhindern. Wenn die Opfer von Gewaltdelikten erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig werden, so muss ihnen der Staat Schutz gewähren. Dieser Schutz ist Ausfluss des Sozialstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG).59 Die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem OEG sind, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger und tätlicher Angriff60 begangen wurde, und dadurch das Opfer eine Schädigung an seiner Gesundheit erlitt. Als Angriff zählen etwa die ‚klassischen‘ Körperverletzungen, aber auch Sexualdelikte und einige Sonderfälle, etwa die extreme Vernachlässigung eines Kleinkindes. Nicht ausreichend sind z. B. bloße Drohungen mit Gewalt oder die Schaffung einer allgemeinen Gefahrenlage. Als Folge eines derartigen Angriffes sind nach § 1 OEG der Verletzten die Leistungen nach dem BVG zu gewähren. Diese sind insbesondere eine Rentenzahlung, auch für Hinterbliebene von Straftatopfern, die Übernahme der Heilbehandlungskosten, die Übernahme der Kosten einer Krankenhausbehandlung und auch die Zahlung von notwendigen Bestattungskosten. Die Leistungen können allerdings versagt werden, wenn die Geschädigte die Schädigung selbst
59
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch das Gesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2248) geändert worden ist. 60 Ein tätlicher Angriff ist jede in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung.
144
Beatrice Pawlik
(mit-)verursacht hat, oder wenn es aus anderen Gründen unbillig wäre, Versorgung zu gewähren.61 Für die Bewilligung der Leistungen ist ein Antrag beim örtlichen Versorgungsamt zu stellen. Dieser sollte so früh wie möglich gestellt werden, damit die Tatfolgen noch konkret diagnostiziert werden können. Zudem werden keine Heilbehandlungskosten mehr übernommen, wenn die Antragstellung erst ein Jahr nach der Straftat gestellt wird. Wird der Antrag abgelehnt, ist gegen den Ablehnungsbescheid ein Widerspruch binnen eines Monats einzulegen. Wird auch dieser abgelehnt, besteht nur noch die Möglichkeit der Klageerhebung vor dem Sozialgericht am Wohnort der Verletzten. 6.2
Opferanspruchsicherungsgesetz (OASG)
Die Verletzte einer Straftat hat nach dem Opferanspruchsicherungsgesetz ein Pfandrecht an Forderungen, die ein Täter einer rechtswidrigen Tat im Hinblick auf die öffentliche Darstellung der Tat gegen einen Dritten erwirbt.62 Ein solches Pfandrecht besteht auch, wenn die öffentliche Darstellung die Person des Täters, insbesondere seine Lebensgeschichte, seine persönlichen Verhältnisse oder sein sonstiges Verhalten zum Gegenstand hat, oder gar die rechtswidrige Tat für die öffentliche Darstellung bestimmt ist. Voraussetzung für ein Pfandrecht an den Einnahmen aus der Vermarktung der Tat ist, dass die Darstellung innerhalb von fünf Jahren nach Beendigung der Tat veröffentlicht wird. Zur Prüfung und Durchsetzung eines Pfandanspruches gibt § 7 OASG der Verletzten einen Auskunftsanspruch über das Bestehen und den Umfang einer Forderung gegen den Täter und gegen jeden Dritten, der an der Veröffentlichung beteiligt ist. Literatur Bundesministerium der Justiz (Hg.) (o. J.): Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1. Januar 1977, geändert mit Wirkung vom 1. Januar 2008. Berlin. Online: www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_01011977_420821R5902002.htm (03. 03. 10). Fischer, Thomas (2009): Strafgesetzbuch und Nebengesetze. Kommentar, 56. Aufl. München. Hamm, Rainer/Leipold, Klaus (Hg.) (2010): Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 5. Aufl. München 2010. 61
So z. B., wenn die gewährte Rentenzahlung auch dem Täter zugute kommt, da er der Vater der Geschädigten ist und beide weiterhin in einem Haushalt leben, oder wenn die Geschädigte es unterlassen hat, das ihr Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Verfolgung des Täters beizutragen, insbesondere unverzüglich Strafanzeige zu erstatten. 62 Bekannt sind in diesem Zusammenhang der Spielfilm „Rotenburg“ oder die Verfilmung des Lebens von Arno Funke alias Dagobert in „Das Phantom – Die Jagd nach Dagobert“.
Rechte und Pflichten von Opfern im deutschen Rechtssystem
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Justizministerium Baden-Württemberg (Hg.) (1999): Bericht der Kommission für Opfer- und Zeugenschutz im Strafverfahren. Schlussbericht. Justizportal Baden-Württemberg. Karlsruhe. Meyer-Goßner, Lutz (2009): Strafprozessordnung – Mit GVG und Nebengesetzen. Kommentar, 52. Aufl. München. Niedersächsisches Justizministerium (Hg.) (2008): Der Zivilprozess. Veröffentlicht am 08. 05. 2008. Hannover. Online: www.mj.niedersachsen.de/master/C1412719_N1406050_ L20_D0_I693.html (03. 03. 10). Thomas, Heinz/Putzo, Hans (Begr.) (2009): Zivilprozessordnung mit FamFG – Verfahren in Familiensachen, GVG, Einführungsgesetze, EG-Zivilverfahrensrecht. Kommentar, 30. Aufl. München. Wetterich, Paul (Hg.) (1982): Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet, 5. Aufl. Münster, Aschendorff. Widmaier, Gunter (Hg.) (2006): Strafverteidigung. Anwaltshandbuch. München. Zöller, Richard (Begr.) (2010): Zivilprozessordnung mit FamFG (§§ 1–185, 200–270, 433–484) und Gerichtsverfassungsgesetz, den Einführungsgesetzen, mit Internationalem Zivilprozessrecht, EG-Verordnungen, Kostenanmerkungen. Kommentar, 28. Aufl. Köln.
Die Opferperspektive in der Berliner Polizei – zur notwendigen Vernetzung der Akteure der Opferhilfe Martina Linke
Für Opfer von Straftaten ist die Polizei häufig die erste Anlaufstelle. Von deren Reaktion ist abhängig, ob sich das Opfer ausreichend vertreten fühlt und in welchem Maße das Opfer bereit und fähig ist, an der Aufklärung der Straftat mitzuwirken. Neben diesem individuellen Aspekt der Opfer-Polizei-Beziehung entscheidet die Reaktion der Polizei in nicht unerheblichem Maße auch über das Vertrauensverhältnis zwischen ihr und der Bevölkerung, was beispielsweise Wirkung auf das Anzeigeverhalten der Bevölkerung entfalten kann. Darüber hinaus haben das Eingehen auf das Opfer und dessen Unterstützung Auswirkungen auf den Grad der ‚Kriminalitätsfurcht‘ in der Bevölkerung. Als Opfer werden von der Polizei natürliche oder juristische Personen angesehen, die in einem von der Rechtsordnung geschützten Rechtsgut verletzt werden. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die durch eine Straftat Betroffenen auch Träger des verletzten Rechtsguts sind oder ob sie als strafantragsberechtigt oder als verletzt im Sinne des Prozessrechts gelten. Somit kommen als Opfer Verunglückte oder Tatzeugen oder Geschädigte ebenso wie Helfer – also auch Polizisten und Polizistinnen selbst – in Betracht. 1
Gesetzlicher Auftrag der Polizei
Der gesetzliche Auftrag der Polizei ergibt sich aus dem § 163 Strafprozessordnung (StPO): „(1) Die Behörden und die Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. Zu diesem Zweck sind sie befugt, alle Behörden um Auskunft zu ersuchen, bei Gefahr im Verzug auch, die Auskunft zu verlangen, sowie Ermittlungen jeder Art vorzunehmen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln. (2) Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes übersenden ihre Verhandlungen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft. Erscheint die schleunige Vornahme richterlicher Untersuchungshandlungen erforderlich, so kann die Übersendung unmittelbar an das Amtsgericht erfolgen. (3) Bei der Vernehmung eines Zeugen durch Beamte des Polizeidienstes sind § 52 Absatz 3, § 55 Absatz 2, § 57 Satz 1 und die §§ 58, 58a, 68 bis 69 entsprechend anzuwenden. Über eine Gestattung nach § 68 Absatz 3 Satz 1 und über die Beiordnung eines Zeugenbeistands entscheidet die Staatsanwaltschaft; im Übrigen trifft die erforderlichen Entscheidungen die die
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Martina Linke
Vernehmung leitende Person. Bei Entscheidungen durch Beamte des Polizeidienstes nach § 68b Absatz 1 Satz 3 gilt § 161a Absatz 3 Satz 2 bis 4 entsprechend. Für die Belehrung des Sachverständigen durch Beamte des Polizeidienstes gelten § 52 Absatz 3 und § 55 Absatz 2 entsprechend. In den Fällen des § 81c Absatz 3 Satz 1 und 2 gilt § 52 Absatz 3 auch bei Untersuchungen durch Beamte des Polizeidienstes sinngemäß.“
Das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes Berlin (ASOG), das die Aufgaben, Zuständigkeiten und Befugnisse der Berliner Ordnungsbehörden und der Berliner Polizei regelt, weist die Aufgaben der Gefahrenabwehr und Verhütung von Kriminalität der Polizei zu. Die internen Polizeidienstvorschriften definieren unter anderem das Ziel, sekundäre Viktimisierungen von Opfern in Einsatzlagen bei der Gefahrenabwehr, wie auch bei der Bekämpfung der Kriminalität zu verhindern. 2
Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin
Die Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin ermöglicht einen Einblick in die Entwicklung der Anzahl betroffener Opfer von erfassten Straftaten im Jahres-, Geschlechter- und Altersgruppenvergleich (siehe Abbildungen 1–41). Die erste Abbildung zeigt, wie sich die Zahl der Opfer von Straftaten im Jahresvergleich 2006/ 2007/ 2008 verändert hat. Deutlich zeigt sich ein zahlenmäßiger Unterschied von männlichen und weiblichen Opfern der durch die Statistik erfassten Straftaten. Hier dominiert in allen drei Jahren die Anzahl betroffener Männer: dies sogar noch deutlicher mit Blick auf die erfasste Gewaltkriminalität (Abbildung 2). Unter Gewaltkriminalität werden eine ganze Palette von Straftaten subsumiert: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme, Angriff auf den Luftund Seeverkehr. Während Männer bis zum sechzigsten Lebensjahr häufiger Opfer einer der genannten Gewaltdelikte werden, dominieren in der Gruppe der über 60-Jährigen leicht die Frauen. Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik wird in Relation zur Bevölkerungszahl die Bevölkerungsgefährdungszahl (BGZ) abgeleitet. Für alle Altersgruppen und für alle Opferdelikte, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik Berlin erfasst sind, stieg diese von 2006 zu 2007 an und war im Jahr 2008 in allen Altersgruppen wieder rückläufig. Bei einer Bevölkerungszahl in Berlin von 3.431,7 Mio. Einwohnern (2008) ergibt sich eine BGZ von 2.334. Deutlich höher, mit 3.670, war die BGZ bei Opfern unter 21 Jahren, etwas überdurchschnittlich, mit 2.459, bei 1
Sämtliche nachfolgend aufgeführten statistischen Erhebungen wurden der Polizeilichen Kriminalstatistik Berlin aus den Jahren 2006, 2007 und 2008 entnommen.
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Die Opferperspektive in der Berliner Polizei
Erwachsenen zwischen 21 und 59 Jahren, während bei Opfern, die 60 Jahre und älter sind, die BGZ deutlich darunter liegt. Die Bevölkerungsgefährdungszahl in Berlin zeigt auf, dass junge Menschen unter 21 Jahren am höchsten gefährdet 9LLLLL ELLLL :LLLL HLLLL ALLLL L
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Martina Linke
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Abbildung 4: Bevölkerungsgefährdungszahl nach Altersgruppen der Opfer im Vergleich im Jahr 2006/ 2007/ 2008
Die Opferperspektive in der Berliner Polizei
151
sind. Eine Besonderheit ergibt sich bei Raub. Die Opfer unter 21 Jahren weisen, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, eine mehr als doppelt so hohe Gefährdung auf, Opfer eines Raubdelikts zu werden. Beim Straßenraub stieg die Opferzahl von 3.392 im Jahr 2006 auf 3.514 im Jahr 2007 und sank im Jahr 2008 auf 2.776.
3
Strategien zur Verhinderung sekundärer Viktimisierung
Die Einführung des Lehrstoffs „Opferschutz“ in das Curriculum der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege im 2. Semester Kriminologie für Fachhochschüler der Schutz- und Kriminalpolizei ist erfolgreich abgeschlossen. Dieser Stoff ist inzwischen auch fester Bestandteil in der Ausbildung zum mittleren Dienst der Schutzpolizei. Zudem werden regelmäßige Fortbildungen zum „Opferschutz“ in der Zentralen Serviceeinheit der Berliner Polizei durchgeführt. Auch unter dem Aspekt der hohen Gefährdung junger Menschen erfolgte die Einführung des qualifizierten Jugendsachbearbeiters in allen Polizeidienststellen zur Bearbeitung von Jugendkriminalität. Als Folge davon ist unter anderem die Erhöhung des Anteils der Anwendung der Diversionsrichtlinie im Jugendstrafverfahren gem. § 45 Abs. 2 JGG 2. Alt. zu sehen. Entscheidend ist hierbei der direkte Kontakt zwischen Opfer und Täter, wobei der Wiedergutmachungsgedanke im Vordergrund steht. Mit dem Programm „Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes“ (ProPK), einem länderübergreifenden Vorbeugungsprogramm, wird das Ziel verfolgt, die Bevölkerung, Multiplikatoren, Medien und andere Präventionsträger über Erscheinungsformen der Kriminalität und Möglichkeiten zu deren Verhinderung aufzuklären. Das Programm bietet mit eigenem Internetauftritt für Opfer von Straftaten vielfältige Informationen. Weiterhin informiert die Berliner Polizei in ihrem Internetportal über Opferschutz, indem sie Hinweise dazu bietet, welche Rechte Opfer haben und an wen sie sich wenden können, um in dieser Situation Hilfe zu erhalten. Auch werden Präventionsmöglichkeiten zur Abwendung des Opferwerdens vorgestellt. Im Internetportal werden darüber hinaus Netzwerke sichtbar, indem z. B. auf die Landeskommission „Berlin gegen Gewalt“ verwiesen wird – die wiederum über Themen, Veröffentlichungen sowie Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner im Zusammenhang mit der Gewalt- und Kriminalitätsprävention in Berlin informiert – oder auf das Informationssystem der Prävention im Netz (Präventionsdatenbank), das Präventionsaktivitäten in Berlin, anderen Bundesländern und bundesweit online recherchiert. Ab 1997 wurden zunächst in drei Polizeidirektionen in Berlin Opferschutzbeauftragte berufen und erste Konzepte entworfen. Seit 2003 erfolgte die Einrichtung von Opferschutzbeauftragten in allen Polizeidirektionen und die Implementierung des Themas in der Zentralstelle für Prävention des Landeskriminalamts Ber-
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Martina Linke
lin. Zum Tätigkeitsfeld der Opferschutzbeauftragten gehören die Sammlung und Auswertung praktischer Erfahrungen, wissenschaftlicher Erkenntnisse, Probleme und Fragestellungen zum Opferschutz. Es werden Handlungsvorschläge zur Erstellung von Hinweisen und Empfehlungen für die einzelnen Dienstbereiche der Direktion erarbeitet sowie Schulungen und Informationsgespräche in den Dienstbereichen durchgeführt. In ausgewählten Einzelfällen erfolgt durch die Opferschutzbeauftragten eine gezielte Stabilisierung der Opfer und Zeugen. Die Opferschutzbeauftragten fungieren als Mittler zwischen den mit der Deliktsbearbeitung/ Anzeigeaufnahme betrauten Sachbearbeitern der einzelnen Dienstbereiche und den Opferhilfeeinrichtungen. Sämtliche Maßnahmen verstehen sich unter Wahrung der Neutralitätspflicht der Polizei als Angebot. Dabei wird stets berücksichtigt, dass Opferschutzbeauftragte keine Sozialarbeiter sind, sondern eine Vermittlungsfunktion innehaben. Sie stehen als Kooperationspartner der Berliner Polizei für die zuständigen Behörden und Opferhilfeeinrichtungen zur Verfügung. Mit dem Engagement der Schutz- und Kriminalbeamten und dem erfolgreichen Prozess der Umsetzung in der Berliner Polizei konnten die jetzt bestehenden Standards zum Opferschutz erreicht werden. Dabei war und ist die kompetente und kontinuierliche Unterstützung u. a. der Opferhilfe Berlin e.V. sehr hilfreich. Zum Vorteil für Opfer ist ein Netzwerk bestehend aus Polizei und Opferhilfeeinrichtungen in der Stadt entstanden. Literatur und Quellen Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes Berlin (ASOG) = Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin. Online: http://www.umweltdigital.de/nd/216393/v/5/vorschrift.html (07. 03. 10). Berliner Polizei. Online: http://www.berlin.de/polizei/ (07. 03. 10). Informationssystem der Prävention im Netz (Präventionsdatenbank). Online: http://www.berlin.de/ lb/lkbgg/praevention_im_netz/index.html (07. 03. 10). Jugendgerichtsgesetz (JGG). Online: http://www.gesetze-im-internet.de/jgg/index.html (07. 03. 10). Landeskommission Berlin gegen Gewalt. Online: http://www.berlin.de/lb/lkbgg (07. 03. 10). Opferhilfe Berlin e.V. Online: http://www.opferhilfe-berlin.de/ (07. 03. 10). Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK). Online: http://www. polizei-beratung.de/ (07. 03. 10). Polizeiliche Kriminalstatistiken Berlin. Online: http://www.berlin.de/polizei/kriminalitaet/ pks.html (07. 03. 10). Strafprozessordnung (StPO). Online: http://www.gesetze-im-internet.de/stpo/ (07. 03. 10).
III Allgemeine und zielgruppenspezifische Opferhilfe aus psychosozialer Perspektive
Fachberatung für Kriminalitätsopfer Opferberatung in der Opferhilfe Land Brandenburg e.V. Rosmarie Priet
Aufgabe der Opferberatung ist es, Opfern von Straftaten Unterstützung bei der Wiederherstellung von Sicherheit und bei der Bewältigung der Straftatfolgen zu leisten sowie dazu beizutragen, dass es nicht zu weiteren Belastungen im Gefolge der Straftat kommt. Hierbei hat sich die Beratung an den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten und deren Lebenssituation ganzheitlich zu erfassen. Die Opferhilfe Land Brandenburg e.V. setzt dies mit einem Beratungsangebot um, das folgende Bereiche umfasst: Beratungsangebot der Opferberatungsstellen
im Land Brandenburg
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In die Beratung fließen Kenntnisse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen ein: Hierzu gehören vor allem die klinische Psychologie (insbesondere Psychotraumatologie), die Viktimologie sowie das Straf- und Sozialrecht. In der Opferhilfe sind diese Kenntnisse systematisch auf der Grundlage der individuellen Problemlage der Ratsuchenden in die Beratung einzubeziehen. Die Matrix hierfür bilden die allgemein als hilfreich anerkannten Bedingungen für die Bewältigung erlebter Gewalt. Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt ausgehend von der Situation von Kriminalitätsopfern hilfreiche Bedingungen für die Bewältigung der erlebten Straftat rekonstruieren sowie diese mit dem realen Belastungserleben von Opfern konfrontieren (1). Aus diesen Erkenntnissen lassen sich im nächsten Schritt Ziele, grundlegende Prinzipien sowie Haltung und Arbeitsweisen der Beratung in der allgemeinen Opferhilfe ableiten (2). Diese bilden die Grundlage für die Strukturierung der Beratungsinhalte und Interventionen in der Opferberatung, wie ich
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Rosmarie Priet
sie vor dem Hintergrund meiner 10-jährigen Erfahrung in der Opferhilfe Land Brandenburg e.V. daran anschließend zunächst systematisch im Beratungsverlauf darstelle (3) und abschließend anhand einer ausführlichen Fallvignette beispielhaft veranschauliche (4).
1
Situation von Kriminalitätsopfern
Für die meisten Kriminalitätsopfer stellt die erlebte Straftat einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben dar. Psychische Verletzungen und Angst, erneut Opfer zu werden, sind die am häufigsten genannten Folgen bei Betroffenen (M. Baurmann/W. Schädler 1999: 112ff.). Je nach subjektiver Bedeutung des Erlebten kann die Reaktion der Betroffenen von einer leichten und vorübergehenden Verunsicherung bis hin zur existenziellen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses reichen. Letzteres gilt insbesondere für Opfer von Gewalt, die den größten Teil der Klientel in der Opferhilfe Brandenburg bilden. Dort haben es die BeraterInnen zumeist mit Sexualstraftaten und Fällen von Körperverletzung, aber auch mit Straftaten gegen die persönliche Freiheit und mit Raubüberfällen zu tun. Oftmals finden diese Straftaten im Kontext häuslicher Gewalt, Stalking oder auch rechter Gewalt statt. 1.1
Traumatisierung
Die von den Opfern erlebte Gewalt stellt in den meisten Fällen ein psychisches Trauma dar. Ein Psychotrauma wird definiert als „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (G. Fischer/P. Riedesser 2009: 84). Etwas einfacher formuliert handelt es sich bei einem Psychotrauma um eine bedrohliche Situation für Leib und Leben, die die Person nicht bewältigen kann und der sie wehrlos und hilflos ausgeliefert ist. Nach einem traumatischen Erlebnis leiden viele Betroffene unter quälenden Ängsten, Schlafstörungen und Alpträumen. Der Organismus ist darauf eingestellt, eine Wiederholung der erlebten Gewalt um jeden Preis zu vermeiden. So sind die meisten Gewaltopfer innerlich angespannt und extrem wachsam. Sie schauen sich auf der Straße häufig um, sind bei jedem ungewohnten Geräusch sofort in Alarmbereitschaft, etc. (Hyperarousal). Dabei scheinen die Erinnerungen an das Trauma geradezu ein ‚Eigenleben‘ zu führen. Sie können nicht in der gleichen Weise gesteuert werden wie andere Erinnerungen, sie drängen plötzlich und ungewollt ins Bewusstsein und können mit den gleichen quälenden Empfindungen einhergehen wie das Trauma selbst (Intrusionen). Daher unternehmen Be-
Fachberatung für Kriminalitätsopfer
157
troffene den Versuch, Orten und Situationen aus dem Weg zu gehen, die sie an das Trauma erinnern. Diese Vermeidung wiederum kann selbst zum Problem werden; sie führt zu Einschränkungen in der Alltagsgestaltung und zum Rückzug aus dem sozialen Umfeld. Ursache für die ungewollten Wiedererinnerungen ist die veränderte Wahrnehmungsverarbeitung und Gedächtnisbildung während der traumatischen Situation, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte (vgl. z. B. G. Fischer/P. Riedesser 2009). Normalerweise funktioniert die Gedächtnisbildung zweigleisig, und zwar im sogenannten impliziten und expliziten Gedächtnis.1 Die Informationen werden in beiden Gedächtnissystemen miteinander verschaltet. Anders hingegen ist es während einer traumatischen Situation: Im Zustand des Ausgeliefertseins an eine bedrohliche Situation, in der weder Flucht noch Kampf möglich sind, verfallen Betroffene instinktiv in einen Zustand der Erstarrung. Die ausgeschütteten Stresshormone sorgen für Schmerzunempfindlichkeit und schützen vor dem Zusammenbruch. Die Wahrnehmung und das Zeitempfinden verändern sich. Die Situation wird als unwirklich (wie ein Traum oder Film) erlebt oder so, als betrachte man von außen das Geschehen. Dies dient dem Überleben und ist mit dem Totstellreflex vergleichbar. Dabei blockieren die Stresshormone die bewusste Wahrnehmung und die Speicherung des Geschehens im expliziten Gedächtnis. Es können lediglich Erinnerungsfragmente gespeichert werden. Im impliziten Gedächtnis hingegen sind die Wahrnehmungseindrücke aufgrund ihrer hohen emotionalen Bedeutung besonders tief ‚eingegraben‘. Dort sind sie dem bewussten Zugriff nicht zugänglich, nicht miteinander verschaltet und auch raumzeitlich nicht eingeordnet. Ist die Gefahr vorüber und der Schockzustand abgeklungen, beginnt die sogenannte ‚Einwirkphase‘, die einige Wochen andauern kann. Da die Stresshormone nun nicht länger die bewusste Verarbeitung blockieren, kann die nachträgliche Konsolidierung und Speicherung der lediglich implizit gespeicherten Informationen durch das explizite Gedächtnis erfolgen. Während des Verarbeitungsprozesses dringen die abgespaltenen Erinnerungen nun in das Bewusstsein. Dies löst intensive Gefühle von Angst und Wut, aber auch Schuld und Scham aus. Betroffene versuchen, die quälenden Erinnerungen an das Trauma zu vermeiden und die Kontrolle über sich zurückzuerlangen. Sie pendeln zwischen Wiedererinnerung und Vermeidung. Diese Pendelbewegung ist Ausdruck der Selbstheilungskräfte der Psyche, die im gelungenen Fall auf eine schrittweise Integration der einzelnen Erinnerungsfragmente in das explizite Gedächtnis hinausläuft. 1
Bei dem expliziten Gedächtnis handelt es sich um unser bewusstes Gedächtnis, in dem Tatsachen und Ereignisse gespeichert sind, die räumlich und zeitlich eingeordnet werden können. Bei dem impliziten Gedächtnis handelt es sich um unser unbewusstes Gedächtnis, in dem z. B. automatisierte Verhaltensweisen, Wahrnehmungseindrücke und Emotionen gespeichert sein können.
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Rosmarie Priet
Zur Blockierung der Verarbeitung kommt es z. B., wenn – nicht raumzeitlich eingeordnete – traumatische Erinnerungsinhalte als gegenwärtig erlebt werden und es wie in der ursprünglichen traumatischen Situation zur Blockierung der bewussten Wahrnehmung und Gedächtniskonsolidierung kommt. Als Reaktion auf diese erneut überwältigende Erfahrung verstärken Betroffene ihr Vermeidungsverhalten; es kommt zu einem Teufelskreis. Der Verarbeitungsprozess stagniert und die Symptomatik chronifiziert sich. Zur Blockierung der Traumaverarbeitung tragen u. a. auch Scham- und Schuldgefühle bei. Viele Gewaltopfer, insbesondere Opfer von Sexualstraftaten, leiden unter ihnen. Sie entstehen aufgrund von nachträglichen Bewertungen des Traumas und resultieren meist aus einer verzerrten Einschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten, wobei es zur negativen Bewertung des eigenen Handelns und zur Selbstabwertung kommt. Mitschuldvorwürfe oder Bagatellisierungen von Seiten der Polizei aber auch aus dem sozialen Umfeld verstärken die Selbstzweifel und tragen erheblich zu depressiven Reaktionen und sozialem Rückzug bei. Das Pendel erstarrt auf der Vermeidungsseite. In der ausgesprochen sensiblen Einwirkphase entscheidet sich, ob die Traumaverarbeitung gelingen kann oder nicht. Auf diesen Prozess wirken in dieser Phase unterschiedliche Faktoren ein, die in der Psychotraumatologie in unterschiedliche Faktorengruppen zusammengefasst werden. Die wichtigste Unterteilung ist die in Risiko- und Schutzfaktoren. Zu den Risikofaktoren gehören zum einen die objektiven Situationsbedingungen, wie z. B. die Schwere und Dauer der Gewalt oder die Schwere der Verletzungen, und zum anderen die individuellen Faktoren, wie z. B. belastende Vorerfahrungen, psychische Vorerkrankungen, ungünstige Bedingungen in der Kindheit und mangelnde soziale Unterstützung. Zu den Schutzfaktoren zählen unter anderem ein ausgeprägter Kohärenzsinn,2 sicheres BinAblauf der Reaktionen nach dem traumatischen Ereignis Auslöser
Schockphase
Einwirkphase
Erholungsphase oder Chronifizierung
Traumatisches Ereignis
Verwirrtheit Orientierungslosigkeit Betäubtsein Kontrollverlust
Wiedererinnerung Vermeidung Übererregung
Verarbeitung des Erlebnisses oder Langzeitfolgen
Augenblick
1 Stunde bis 1 Woche
ca. 2–4 Wochen
ab 1.–3. Monat nach dem Trauma
nach C. Lüdke/K. Clemens 2004: 40
2
Der Kohärenzsinn nach Aaron Antonovski „beschreibt das überdauernde und dennoch dynamische Gefühl des Vertrauens, dass die internale und externale Umwelt strukturiert, vorhersagbar und erklärbar ist, Lebensereignisse/Traumata bewältigbar sind, die Anforderungen des Lebens Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen“ (U. Ehlert 2009: 837).
Fachberatung für Kriminalitätsopfer
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dungsverhalten und soziale Unterstützung. Hierbei können bereits vorhandene Dispositionen von hilfreichen sozialen Beziehungen (korrektive Faktoren) unterschieden werden, die bei der Traumaverarbeitung förderlich wirken (G. Fischer/P. Riedesser 2009: 160–262). Zu den förderlichen korrektiven Faktoren ist auch die psychotraumatologische Beratung der Opferhilfe zu zählen. Sie setzt vorrangig in den ersten Wochen und Monaten nach dem traumatischen Erlebnis an und kann entscheidend dazu beitragen, dass die Ausbildung einer Posttraumatischen Belastungsstörung verhindert und die Verarbeitung gefördert wird. 1.2
Heilende Bedingungen versus belastende Realität
Die Verarbeitung des Traumas gelingt nur, wenn eine individuell stimmige Balance zwischen Erinnerungsarbeit und Erholung hergestellt werden kann. Hilfreich hierfür sind Bedingungen, die sich maximal von den traumatischen Situationsbedingungen unterscheiden. In erster Linie gehören hierzu die Wiederherstellung von Sicherheit, die Wiedererlangung von Kontrolle nach dem erlebten Kontrollverlust und Beruhigung nach dem extremen Stress, d. h. vor allem die Abwesenheit weiterer Belastungen. Die Wiederherstellung von Sicherheit meint hierbei keineswegs lediglich die Abwesenheit weiterer Gefährdung, sondern auch das subjektive Erleben von Sicherheit. Um dieses wiederherstellen und verlorengegangenes Vertrauen in andere Menschen aufbauen zu können, ist Voraussetzung, dass das nahe soziale Umfeld, aber auch staatliche Institutionen die Opferwerdung anerkennen und erfahrbare Solidarität zeigen. Tatsächlich ist das Opfer jedoch oftmals mit einer nachfolgenden komplexen Belastungssituation konfrontiert: Typischerweise folgt der primären Viktimisierung die erste Befragung durch die Polizei, die erste Hinweise zur Ergreifung des Täters benötigt. Gleichzeitig findet die ärztliche Behandlung statt und später folgt die ausführliche, unter Umständen stundenlange, Vernehmung durch die Kriminalpolizei. Vor dem Täter hat das Opfer meist große Angst. Es fürchtet die Wiederholung der Tat oder seine Rache für die Anzeigenerstattung, vor allem, wenn er auf freiem Fuß bleibt. Angehörige und Freunde reagieren zunächst mit Verständnis, später aber oft abwehrend und ungeduldig, da sie selbst mit der Situation überfordert sind. Ist eine Krankschreibung nötig, ergeben sich Spannungen mit den KollegInnen wegen der Vertretungsbelastung; der Arbeitgeber droht eventuell sogar mit Kündigung. Nicht selten sind finanzielle Schwierigkeiten die Folge und die ohnehin bestehenden Spannungen in der Familie verstärken sich. Wenn sich dann nach einigen Monaten die Gerichtshilfe meldet und einen Opferbericht erstellen möchte oder der Täter-Opfer-Ausgleich angeregt wird, bedeutet dies für die Opfer eine erneute Belastung. Meistens trifft dann nach ein bis zwei Jahren Ungewissheit über den Stand des Strafverfahrens plötzlich und unerwartet die Terminladung zur Gerichtsverhandlung ein. Bei den Betroffenen, die in der Zwischenzeit zur Ruhe gekommen sind, wird das traumatische Erleben wieder
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aktualisiert. Im Übrigen erfahren längst nicht alle Straftatopfer von den ihnen zustehenden Ansprüchen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Wird aber ein entsprechender Antrag gestellt, gestaltet sich die Erlangung der Entschädigungsleistungen mühsam und zieht sich unter Umständen jahrelang hin. 1.3
Belastungserleben von OpferzeugInnen im Verfahren
Die Erfahrungen des Opfers im Ermittlungs- und Strafverfahren haben eine besondere Bedeutung bei der Verarbeitung des Geschehens. Dies gilt insbesondere für die Gerichtsverhandlung, in der sich letztlich entscheidet, ob der Staat das dem Opfer angetane Unrecht anerkennt und der Täter verurteilt wird. Philipp Reemtsma, der selbst Entführungsopfer geworden war, beschreibt die Bedeutung der Strafe für das Opfer so: „Was die Strafrechtstheorie nicht kümmern muss, ist das Opfer. Gleichwohl ist für das Opfer die Strafe von hoher Bedeutung. Nicht, weil sie die Rachebedürfnisse erfüllt, denn das tut sie meistens nicht. Sondern weil die Strafe die Solidarität des Sozialverbandes mit dem Opfer demonstriert. Die Strafe grenzt den Täter aus und nimmt damit das Opfer herein (…) [sie] ist von entscheidender Bedeutung für das seelische Weiterleben.“ (P. Reemtsma 1997: 216)
Während des Ermittlungs- und Strafverfahrens kann das Opfer erneut Ohnmacht und Ausgeliefertsein erleben oder aber die Möglichkeit der Einflussnahme und die Anerkennung seiner Opferrolle erfahren. Folgende Bedingungsfaktoren wirken hierbei beeinträchtigend: a) Lange Dauer des Verfahrens Nach der Vernehmung durch die Polizei hören Betroffene meist erst wieder etwas von dem Stand des Verfahrens, wenn es durch die Staatsanwaltschaft eingestellt
Fachberatung für Kriminalitätsopfer
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wurde oder wenn sie die Terminladung zur Gerichtsverhandlung erhalten. Dazwischen liegt ein Zeitraum von mehreren Monaten oder sogar Jahren. Die Angst vor dem Täter in Verbindung mit der Unkenntnis über den Stand des Verfahrens belastet die Opfer. Viele fragen sich, ob überhaupt etwas im Verfahren passiert, ob ihnen vielleicht nicht geglaubt wurde und haben Angst davor, dass der Täter sich für die Anzeigenerstattung rächt. Solange das Verfahren noch läuft, kann das Opfer mit dem Geschehenen nicht abschließen. Die Fortdauer der Belastung sorgt für eine schlechte Erholung von den psychischen Tatfolgen (R. Volbert 2008: 320). b) Fehlende Informationen Betroffene verfügen meist nur über ein unzureichendes Wissen bzw. falsche Vorstellungen über den Gang des Verfahrens und ihre eigenen Rechte und Pflichten. So kommt es z. B. vor, dass sie davon ausgehen, der Täter sei in Haft, begegnen ihm dann aber unerwartet auf der Straße. Dies löst nicht selten einen Schock aus und die Ängste verstärken sich. Hinzu kommen Enttäuschung und Verbitterung über die Polizei und Justiz: „Die tun ja überhaupt nichts“, „Muss der mich denn erst umbringen, damit etwas passiert?“ sind häufig geäußerte Gedanken, die bei einigen in die Schlussfolgerung münden: „Noch einmal würde ich keine Anzeige machen“. Sie erleben sich erneut als Opfer. c) Unvorhersehbarkeit der Vernehmungsbedingungen in der Gerichtsverhandlung Die Notwendigkeit, in der Hauptverhandlung noch einmal aussagen zu müssen, stellt eine hohe Belastung für die meisten Opfer dar. Angst macht insbesondere die Konfrontation mit dem Täter und mit den traumatischen Erinnerungen. Hinzu kommt, dass die Bedingungen der Aussage vollkommen unklar sind. Die längste Zeit wissen die OpferzeugInnen nicht, ob überhaupt eine Verhandlung stattfindet, wenn ja, wann sie stattfindet und ob dort ihre Aussage wirklich benötigt wird. Sie wissen nicht, wie lange die Aussage dauern wird und welche Fragen gestellt werden. Vor allem wissen sie nicht, ob der Täter, Journalisten oder Freunde des Täters anwesend sein werden. Selbst wenn sie ihre Rechte kennen und z. B. den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen, wird darüber erst am Verhandlungstag entschieden. Eine Entlastung im Vorfeld kann so nicht eintreten.
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Fachberatung in der Opferhilfe
Auf der Grundlage des geschilderten Erlebens der Opfer während und nach der erfahrenen Straftat, den abgeleiteten hilfreichen Bedingungen sowie der diesen oftmals nicht entsprechenden belastenden Realität lassen sich nun die Grundzüge für die Fachberatung in der Opferhilfe skizzieren.
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2.1 Ziele der professionellen Opferhilfe In der Opferhilfe wird die Situation des Opfers ganzheitlich erfasst. Dabei werden folgende Ziele verfolgt: • Wiederherstellung von Sicherheit Hierzu gehören die Persönlichkeits- und Risikoeinschätzung des Täters sowie die konkrete Erarbeitung von Sicherheitsstrategien. • Unterstützung bei der Bewältigung der Straftat Hierzu gehören die psychotraumatologische Beratung, die Krisenintervention und stützende Gespräche. • Vermeidung weiterer zusätzlicher Belastungen im Nachgang der Straftat (sekundäre Viktimisierung) bzw. Unterstützung bei der Bewältigung derselben Hierzu gehören die Informationen über Opferrechte und Handlungsmöglichkeiten, die Zeugenbetreuung, die soziale Beratung und die Angehörigenberatung. 2.2
Beratungsprinzipien
Die unter 1.2 beschriebenen heilenden Bedingungen nach einem Trauma bilden die Grundlage für die Gestaltung der Beratungsbeziehung in der Opferhilfe: Die drei zentralen Prinzipien sind Sicherheit, Wahrung der Selbstbestimmung und Solidarität. Einerseits ist den KlientInnen ein hohes Maß an emotionaler Sicherheit zu bieten. Andererseits soll ihnen ein Maximum an Kontrolle über die Beratungssituation überlassen werden, um dem erlebten Kontrollverlust während des Traumas eine korrigierende Erfahrung entgegenzusetzen. In der Beratung ist daher sowohl Kompetenz, Halt und Festigkeit zu vermitteln als auch Transparenz zu gewährleisten und den KlientInnen die Entscheidung über das Beratungsgeschehen zu überlassen. Daraus resultiert, dass sowohl strukturierende und haltgebende Interventionen notwendig sind als auch Interventionen, die am individuellen Befinden der KlientInnen orientiert sind und ihnen in transparenter Weise Raum für ihre Bedürfnisse lassen. Zwischen beiden Polen gilt es, eine ausgewogene auf die KlientInnen und ihre jeweils aktuelle Befindlichkeit abgestimmte Balance herzustellen, damit sie sich weder durch die strukturierenden Elemente fremdbestimmt fühlen noch durch eine zu starke Betonung der Selbstbestimmung überfordert werden. 2.3
Grundhaltung: der klientenzentrierte Beratungsansatz
Die Basis der Beratungsarbeit bildet die klientenzentrierte Beratung und Therapie nach Carl Rogers (vgl. z. B. J. Finke 1994), die mit ihrem humanistischen Menschenbild meiner Erfahrung nach die am besten geeignete Grundhaltung für die Beratung von traumatisierten Opfern bietet. In der Psychotraumatologie bewährte verhaltenstherapeutische, imaginative und systemische Methoden werden auf der Grundlage des klientenzentrierten Ansatzes systematisch einbezogen. Die in
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der klientenzentrierten Beratung zu verwirklichende Grundhaltung basiert auf drei Basisvariablen: bedingungsfreies Akzeptieren, einfühlendes Verstehen und Echtheit. Diese stärken den Selbstwert der Opfer und das Vertrauen in ihre eigenen Kräfte, die durch die traumatische Erfahrung erschüttert sind. Zugleich helfen sie den KlientInnen, sich zu öffnen und Gedanken, Erfahrungen und Empfindungen mitzuteilen, für die sie sich schämen. Die klientenzentrierte Beratung in der Opferberatung orientiert sich weniger an dem non-direktiven Ansatz als an der interaktionellen Position. Um den KlientInnen Halt und Sicherheit vermitteln zu können, zielt die BeraterIn – vor allem zu Beginn der Beratung – nicht auf eine einsichtsorientierte Selbstexploration der KlientInnen, sondern versteht sich als „Dialog-Partner“, der „als engagierter und zuverlässiger Andere, Lösungen aufzeigt und Bewältigungskompetenzen fördert“ (J. Finke 2007: 69). Eine auf die Selbstexploration ausgerichtete Beratung würde die KlientInnen aufgrund ihrer geringen Belastbarkeit überfordern. Als greifbares Gegenüber haben die BeraterInnen den KlientInnen emotionale Sicherheit und Kompetenz zu vermitteln. Daher wird der verstehend-spiegelnde Aspekt vorsichtig eingesetzt und besteht vor allem zu Beratungsbeginn vornehmlich im einfühlenden Wiederholen. Dieses ermutigt und bestätigt die KlientInnen, fördert den Gesprächsfluss und wirkt durch Akzentsetzung strukturierend. Erst später im Beratungsverlauf können zunehmend das für die klientenzentrierte Beratung charakteristische konkretisierende Verstehen sowie das selbstkonzeptbezogene Verstehen zum Einsatz kommen.3 Von den drei Interventionsformen der Echtheit4 findet in der Beratung der Opferhilfe vor allem das Selbsteinbringen Eingang, und zwar als eigene solidarische Stellungnahme in Form von Ich-Botschaften und als Zurverfügungstellung fachlichen Wissens, das sich vor allem aus der Psychotraumatologie, der Viktimologie und dem Recht (Straf- und Sozialrecht) speist. 2.4
Vernetzungsarbeit
Eine gute Zusammenarbeit mit den Institutionen, mit denen das Opfer zwangsläufig in Kontakt kommt, ist für eine gelungene Opferhilfe wesentlich. Sie ist Voraussetzung dafür, dass Betroffene über das Beratungsangebot informiert und weitervermittelt werden. Die Polizei, die meist als erste Kontakt zum Opfer hat, spielt hierbei eine große Rolle. Zudem verhilft eine gute Zusammenarbeit zu einem besseren Verständnis für die Arbeitsweisen anderer beteiligter Institutio3
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Das konkretisierende Verstehen bezieht sich auf den Zusammenhang von Situation und Gefühlen bzw. Verhalten der KlientInnen. Das selbstkonzeptbezogene Verstehen fokussiert auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen und nachträglicher Bewertung (z. B. Scham- und Schuldgefühlen). Weitere Stufen des einfühlenden Verstehens stellen das organismusbezogene Verstehen und das Interpretieren dar (J. Finke 1994: 49). Diese finden in der Opferberatung keine Anwendung, sondern bleiben der Therapie vorbehalten. Interventionsformen der Echtheit sind: Konfrontieren, Beziehungsklären und Selbsteinbringen (J. Finke 1994: 67).
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nen. Nicht zuletzt ermöglichen gute Kontakte kurze Wege im Rahmen der konkreten Fallarbeit und ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen, z. B. im Fall von Stalking. Als generell sinnvoll hat sich die Zusammenarbeit mit VertreterInnen der Polizei, der Justiz, des Versorgungsamtes, der Kommune und anderer freier Träger erwiesen. Ziele der Kooperation sind der Fachaustausch über die jeweiligen Tätigkeitsbereiche, Arbeitsansätze und Kompetenzen sowie eine verbesserte Koordination des Opferschutzes und der Opferhilfe. Damit wirkt Vernetzung zudem präventiv. Arbeitskreise, gemeinsame Informationsveranstaltungen und Fortbildungen werden genutzt, um für die Situation von Opfern zu sensibilisieren und sekundäre Viktimisierungen zu verhindern. 3
Beratungsverlauf
3.1
! # Weitervermittlung
Erstkontakt
Der Erstkontakt ist von besonderer Wichtigkeit für den Beratungsverlauf. Er stellt Weichen und ermöglicht den KlientInnen einen ersten Eindruck von dem Beratungsangebot. Um Sicherheit zu vermitteln, gilt es, ein ruhiges, ungestörtes Setting in einer angenehmen Atmosphäre vorzuhalten. Die meisten KlientInnen suchen zum ersten Mal eine Beratungsstelle auf und wissen nicht, was sie dort erwartet. Wichtig ist es daher, sie über die Rahmenbedingungen, die Dauer, den Verlauf und die Inhalte der Beratung zu informieren und ihre Zustimmung einzuholen. Dies gewährleistet Transparenz und vermittelt Sicherheit. Gleich zu Beginn werden die KlientInnen darüber informiert, dass sie den genauen Tathergang nicht zu schildern brauchen. Zu klären ist auch, ob die KlientInnen sich im Beratungsraum sicher fühlen. Um den KlientInnen die Gelegenheit zu geben, ihre Erlebnisse, ihr Befinden und ihre Bedürfnisse in der für sie angebrachten Art und Weise und Gewichtung einbringen zu können, sollte das Gespräch mit einer offenen Frage beginnen. Vorrangiges Ziel ist die Herstellung eines guten Beratungskontaktes. Daher sollten in der ersten Phase des Gesprächs vor allem einfühlendes Wiederholen, stützende und emotional entlastende Interventionen stehen, wie sie unter dem Punkt „psychotraumatologische Beratung“ beschrieben werden.
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3.2
Problemanalyse
Die für die Beratung notwendigen Informationen ergeben sich meist im Gesprächsfluss. Ein ‚Ausfragen‘ sollte vermieden werden. Betonen die KlientInnen ausschließlich ein Interesse an einer sozialen Beratung (vgl. 3.7), gilt dies natürlich nicht. In diesem Fall werden die entsprechenden Angaben (Einkommensverhältnisse, Personenstandsangaben, etc.) erfragt, um die gewünschten Informationen und Hinweise zu erhalten. Ähnliches gilt für KlientInnen, die ausschließlich Informationen über den Verfahrensablauf und ihre Rechte möchten. Dabei ist es wichtig, im Auge zu haben, dass die sachlichen Anfragen die Funktion eines vorsichtigen Herantastens an eine unbekannte und verunsichernde Beratungssituation haben können. In der Beratungspraxis kann immer wieder beobachtet werden, dass insbesondere Männer diesen Weg wählen. Die Opferwerdung und das Angewiesensein auf Unterstützung widersprechen dem Rollenbild von Männlichkeit. Das für sie sichere Terrain sozialer und rechtlicher Beratung erleichtert die Kontaktaufnahme und ermöglicht es, zu einem späteren Zeitpunkt auch über psychische Probleme zu sprechen. Während des Gesprächs gilt es darauf zu achten, Informationen über relevante Bereiche, in denen sich Folgen der primären und sekundären Viktimisierung manifestieren können, zu erhalten: Sicherheit
Täterkontakt? Persönlichkeitseinschätzung des Täters Risikoanalyse
Psychisches Befinden
Diagnostische Einschätzung (Symptome/Verlauf, Prognose) Problembezogene Anamnese Ressourcenanalyse frühere Lösungsversuche Erfassen allgemeiner Persönlichkeitsmerkmale
Ermittlungs- und Strafverfahren
Straftatbestand Täter gefasst? Jugendliche auf Opfer- oder Täterseite Strafantrag notwendig? Strafverfolgungsinteresse des Opfers Vorstellungen und Befürchtungen des Opfers
Soziale Situation
soziale Einbindung (Familie, Freunde, Wohnen) Situation in Schule, Ausbildung, Beruf wirtschaftliche Situation OEG-Antrag gestellt?
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Priorität in der Beratung hat die Sicherheit der KlientInnen. Einige Ratsuchende befinden sich weiterhin in Gefahr, wenn sie die Opferberatung aufsuchen. Dies kann z. B. der Fall sein bei Opfern häuslicher Gewalt oder bei Stalkingopfern. Besteht eine akute Gefahrensituation oder sind Kinder mitbetroffen, kann ein besonderer Handlungsdruck entstehen. Anhaltspunkte für eine Gefährdung sind achtsam wahrzunehmen, da insbesondere Opfer häuslicher Gewalt5 dazu neigen, Gefahrenmomente zu verharmlosen. Gibt es Anhaltspunkte für eine Gefährdung, werden Täterkontakte genauer erfragt, ggf. eine Persönlichkeitseinschätzung des Täters und eine Risikoanalyse vorgenommen. Die diagnostische Erhebung zielt darauf ab, einzuschätzen, ob die Betroffenen bereits eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben oder gefährdet sind, eine solche zu entwickeln. Hierfür bietet sich der Einsatz des vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln entwickelten Screeninginstruments „Kölner Risikoindex“ an, mit dessen Hilfe eine Einschätzung des Erkrankungsrisikos bereits kurz nach dem Trauma erfolgen kann. Grundlage ist die Einteilung in drei Risikogruppen: Die sogenannten „Selbstheiler“ verarbeiten das Trauma adäquat und ohne spezielle fachliche Unterstützung. Menschen, die zur „Hochrisikogruppe“ zählen, sind hingegen besonders gefährdet, Langzeitfolgen zu entwickeln. Bei der Gruppe der „Wechsler“ entscheidet maßgeblich die Situation nach dem traumatischen Erlebnis darüber, ob sie das Trauma verarbeiten können oder eine Posttraumatische Belastungsstörung ausbilden (G. Fischer/P. Riedesser 2009: 350–353). Aus der Einordnung in eine dieser Gruppen ergeben sich erste wichtige Hinweise für die Beratungsplanung. Aufgrund der erhöhten Suizidalität bei Personen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist es ratsam, immer auch das Suizidrisiko abzuklären. Ebenso müssen komorbide6 Störungen in Betracht gezogen werden. Bei zwei Dritteln der Personen mit PTBS entstehen diese sekundär zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einem Drittel der Fälle ließ sich eine vorbestehende Störung feststellen (A. Boos 2005: 25). Wichtige komorbide Krankheitsbilder einer PTBS sind (T. Siol/G. Flatten/W. Wöller 2004: 66–69): • Angststörungen • Depressive Störungen
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Der Begriff „häusliche Gewalt“ umfasst die Formen der physischen, sexuellen, psychischen, sozialen und emotionalen Gewalt, die zwischen erwachsenen Personen stattfindet, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben. Das sind in erster Linie Erwachsene in ehelichen oder nichtehelichen Lebensgemeinschaften, aber auch in anderen Verwandtschaftsverhältnissen (BIG o. J.: 4). Komorbidität: ein oder mehrere zusätzlich zur Grunderkrankung vorliegende diagnostisch abgrenzbare Krankheits- oder Störungsbilder.
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• Somatoforme Störungen • Dissoziative Störungen • Suchterkrankungen Die Opferberatung verfolgt einen ressourcenorientierten Ansatz. Der Erhebung von Ressourcen kommt folglich eine große Bedeutung zu. Bei der Stabilisierung hat die Aktivierung der Bewältigungsstrategien Vorrang, die den KlientInnen vertraut sind. Erst wenn diese ausgeschöpft sind, werden neue angeregt. Ressourcen können aus der Vergangenheit, der Gegenwart und aus Zukunftsvorstellungen geschöpft werden. Mögliche Fragen sind: „Was hat Ihnen bisher geholfen, wenn Sie in einer Krisensituation waren?“, „Was beruhigt/ entspannt Sie?“ Frühzeitig erhobene Ressourcen erleichtern auch in der Beratung stabilisierende Interventionen. Bei alldem ist es wichtig, wie die KlientInnen ihre Problematik selbst verstehen; sonst berät man zwangsläufig an ihnen vorbei. Zu klären ist z. B., ob die KlientIn ihre Ängste vor dem Täter als Signal für eine reale Gefahr oder als Folge des Psychotraumas begreift. Im ersten Fall wird zuvorderst eine Analyse der Gefährdungssituation erfolgen. Eine anschließende Realitätsprüfung kann dazu führen, dass auch die KlientIn versteht, dass es sich um traumatische Ängste handelt. Erst dann sollte die Beratung in Richtung angstreduzierender psychologischer Interventionen gehen. Werden diese gleich zu Beginn angeboten, würde sich die KlientIn nicht ernstgenommen fühlen, und es könnte sein, dass eine tatsächliche Gefährdung übersehen wird. 3.3
Zieldefinition und Konkretisierung des Beratungsangebots
Hier findet nun ein Abgleich zwischen dem konkreten Beratungsangebot, das auf der Grundlage der Problemanalyse erarbeitet wurde, und den Erwartungen der KlientInnen statt. Das Beratungsangebot wird hinsichtlich Umfang, Inhalten und Methoden möglichst genau erläutert. Den KlientInnen vermittelt das Wissen um die Ziele und Inhalte der Beratung Sicherheit sowie Transparenz und wahrt damit ihre Selbstbestimmung. Für die psychotraumatologische Beratung wird ein Beratungsplan erstellt, der von Zeit zu Zeit überprüft und ggf. modifiziert wird. Für Menschen, die in die Gruppe der sog. „Selbstheiler“ fallen, ist es meist hilfreich, die vorübergehenden Belastungsreaktionen einordnen und dadurch besser mit ihnen umgehen zu können. Für sie reichen ein- bis zweimalige Beratungen aus, in denen sie Informationen und Verhaltensempfehlungen erhalten. Menschen, die der Gruppe der „Wechsler“ zuzuordnen sind, kann die Opferhilfe Land Brandenburg e.V. eine psychotraumatologische Beratungsreihe von 5–15 Sitzungen anbieten, die sämtliche Elemente der nachfolgend beschriebenen psychotraumatologischen Be-
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ratung enthalten kann. KlientInnen, die in die „Hochrisikogruppe“ fallen, wird frühzeitig eine Psychotherapie empfohlen und überbrückend bis zum Beginn der Therapie eine stabilisierende Beratungsreihe zur Verfügung gestellt, die sich bei der Opferhilfe Land Brandenburg e.V. auf max. 25 Sitzungen erstreckt. Dieses Angebot gilt ebenso für KlientInnen, die bereits prätraumatisch an einer schweren psychischen Störung litten. Hinterbliebene von Getöteten erhalten ebenfalls eine längerfristige Beratungsreihe. Unabhängig vom Erkrankungsrisiko profitieren alle Betroffenen von einer Akutintervention während und direkt nach dem Trauma. Hierzu gehören Maßnahmen direkt vor Ort, in der Rettungsstelle oder zu Hause. In der Schock- bzw. frühen Einwirkphase wird psychologische Nothilfe angeboten, die insbesondere in dem Wegführen vom Tatort, beruhigenden Interventionen, einer Orientierung in Raum und Zeit, Vermittlung von Sicherheit und der Unterstützung strukturierender Handlungen besteht. Die Opferhilfe wird allerdings kaum wegen Akutinterventionen angefragt. Dies übernehmen im Land Brandenburg in der Regel die MitarbeiterInnen der Notfallseelsorge. Die soziale Beratung und die Zeugenbetreuung werden bedarfsabhängig durchgeführt. Im Rahmen der sozialen Beratungen finden meist zu Beginn ein- bis zweimalige Beratungen statt, in denen die Situation geklärt, Unterlagen gesichtet, Informationen und Unterstützung bei Antragstellungen oder Rechtsmitteleinlegungen gegeben werden. Ähnliches gilt für die Zeugenbetreuung. Danach folgen weitere Beratungstermine in Abhängigkeit von dem Gang des weiteren Verfahrens (vgl. 3.7 und 3.8). Eine klare und transparente Beratungsplanung vermittelt eine sichere Orientierung und gibt den KlientInnen zugleich Gelegenheit, Einfluss zu nehmen. Sind sie mit bestimmten Aspekten des Beratungsangebots nicht einverstanden, wird gemeinsam ein Kompromiss gefunden. Dies kann sich auf die zeitlich-organisatorische Ebene wie auch auf einzelne Inhalte beziehen. Hierbei wird immer versucht – soweit dies auch fachlich sinnvoll ist – auf die Bedürfnisse der KlientInnen einzugehen. Manchmal kommt es aber auch vor, dass es nicht zu einer Einigung kommt. Dafür kann es vielfältige Gründe geben. Ein wichtiger ist der, dass sich Ratsuchende zwar als Opfer fühlen, nicht aber zur eigentlichen Zielgruppe der Opferberatung gehören, wie bspw. Menschen mit paranoiden Wahnvorstellungen. 3.4 Wiederherstellung von Sicherheit Hat sich in der Problemanalyse herausgestellt, dass KlientInnen nach wie vor gefährdet sind, ist das vorrangige Ziel der Beratung die Wiederherstellung von Sicherheit. Je nach Opfergruppe und Gewalthintergrund spielen hierbei unterschiedliche Faktoren eine Rolle, die sich auf die objektiven und subjektiven
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Handlungsmöglichkeiten auswirken. Kurz skizzieren möchte ich das Vorgehen bei Opfern häuslicher Gewalt. Die Beratung von Opfern häuslicher Gewalt erfordert spezielle Kenntnisse der Dynamik von Gewaltbeziehungen und eine professionelle Umgehensweise mit scheinbar widersprüchlichen Bedürfnissen der Betroffenen. Auf der Grundlage der jeweiligen Beziehungsdynamik und -geschichte ist der Beratungsbedarf mit den meist weiblichen Opfern abzustimmen. Die meisten Betroffenen häuslicher Gewalt suchen die Opferberatung auf, wenn sie nach einer langjährigen Beziehung mit zunehmender Gewalt in einer ambivalenten Bindung Überlegungen über eine mögliche Trennung anstellen oder sich bereits getrennt haben. Entsprechend den „Musterverläufen“ von Cornelia Helfferich und Barbara Kavemann (2004: 48; vgl. auch B. Kavemann in diesem Band) sind diese dem Muster „ambivalente Bindung“ bzw. „fortgeschrittene Trennung“ zuzuordnen. Neben Informationen über Handlungsmöglichkeiten und der Erarbeitung eines konkreten Sicherheitsplanes steht in der Beratung dieser Klientinnen die Ambivalenzberatung im Mittelpunkt, die die Stärkung der Entscheidungskompetenz zum Ziel hat. Damit die Klientinnen sich nicht bedrängt fühlen, ist die Verwirklichung einer wertschätzenden Grundhaltung besonders wichtig. Die Beratung ist ergebnisoffen, und zwar auch und vor allem in Bezug auf die Frage nach der Trennung. Ambivalenzen werden als normal gespiegelt, zugleich aber klar Stellung gegen Gewalt bezogen. Damit kann der Tendenz zur Bagatellisierung der Gewalt entgegengewirkt und der Klientin eine realistischere Gefahreneinschätzung ermöglicht werden. Gleichzeitig sollten die Betroffenen nicht mit Abgrenzungsvorschlägen überfordert und ‚Rückschritte‘ immer mitgedacht werden. Sind Kinder ebenfalls von der häuslichen Gewalt betroffen, werden sie in die Beratung mit einbezogen bzw. berücksichtigt. Hierbei ist die Frage zu klären, ob die betroffene Frau in der Lage ist, ihre Kinder zu schützen bzw. durch die Beratung wieder hierzu befähigt werden kann. Muss diese Frage verneint werden, wird die Klientin ermutigt, weitere Hilfen in Anspruch zu nehmen. Im Falle von Kindeswohlgefährdung müssen ggf. auch andere Jugendhilfeeinrichtungen eingeschaltet werden. Hinsichtlich der Beratung von Stalking-Opfern orientiert sich die Opferhilfe Land Brandenburg e.V. an dem von der Technischen Universität Darmstadt – Arbeitsgruppe Stalking – entwickelten Beratungsmodell (J. Hoffmann 2006) und hat darauf aufbauend ein Stalking-Handbuch erarbeitet. Die Stalking-Beratung umfasst neben der Fall- und Risikoanalyse die Aufklärung der Betroffenen über die Persönlichkeit und Motive von Stalkern sowie eine hierauf gründende Verhaltensberatung und Stabilisierung. Die Einbindung der Opferberatung in ein Netzwerk verschiedener psychosozialer Einrichtungen, die zielgruppenspezifische Angebote vorhalten, erweist
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sich insbesondere in Fällen akuter Gefährdung als absolutes Muss. Die Zusammenarbeit mit Frauenhäusern, Jugendämtern oder auch Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel und Zwangsheirat ermöglicht es, betroffenen Klientinnen schnell einen sicheren Zufluchtsort vermitteln zu können. 3.5
Psychotraumatologische Beratung
Die psychotraumatologische Beratung dient der psychischen Stabilisierung und schafft damit vor allem bei stagnierenden Prozessen die Basis für die Verarbeitung des traumatischen Geschehens. Sie wirkt präventiv der Ausbildung von Traumafolgestörungen entgegen und bildet bei bereits manifesten Traumafolgestörungen die Brücke in eine traumazentrierte Psychotherapie. Auf der Grundlage der diagnostischen Einschätzung kommen folgende Interventionen zum Einsatz: Normalisierung der Reaktionen: Viele KlientInnen sind über ihre eigenen Reaktionen beunruhigt und haben Angst, verrückt zu werden. Die Normalisierung der Reaktionen wirkt hierbei entängstigend und damit entlastend. Den Betroffenen wird vermittelt, dass das, was sie durchmachen, eine adäquate Reaktion auf ein ungewöhnliches Ereignis darstellt. Entlastend wirken z. B. Sätze wie: „Viele Menschen erleben Ähnliches nach einer Gewalttat wie Sie.“ Hoffnung und Zuversicht vermitteln: Die Vermittlung von Zuversicht stärkt das Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte und macht den KlientInnen Mut. In diesen Zusammenhang gehört auch die prognostische Einschätzung der weiteren Entwicklung. Die Inanspruchnahme der Beratung wird als erster hilfreicher Schritt gespiegelt. Aufklärung/Psychoedukation: Die Information der KlientInnen über den Zusammenhang zwischen ihrem Befinden und der erlebten Gewalt ermöglicht eine sinnvolle Einordnung ihrer Symptome als Bewältigungsversuche einer überwältigenden Erfahrung und fördert das Verständnis für das eigene Erleben. Dies wirkt entlastend, da mit dem Verstehen der eigenen Reaktionen das Erleben von Kontrollverlust verringert wird. Zudem bilden diese Informationen die Voraussetzung zum Verständnis für nachfolgende Verhaltensempfehlungen. Hilfreich ist hierbei der Einsatz von Metaphern und Bildern (z. B. Wundheilung). Sie sind sofort einleuchtend und brauchen kaum erklärt zu werden. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn KlientInnen im Rahmen ihrer posttraumatischen Belastungsreaktion unter Konzentrationsstörungen leiden. Erst wenn eine gewisse Konzentrationsfähigkeit wiedererlangt wurde, können auch veranschaulichende Grafiken zur Darstellung z. B. der neurobiologischen Hintergründe verwendet werden. Verhaltensempfehlungen: Ausgehend von den Informationen über das erlebte Trauma lassen sich allgemeine Empfehlungen ableiten. Sie zielen in erster Linie
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auf Beruhigung und den Abbau von Stresshormonen. Die Absenkung des Hyperarousal fördert die Verarbeitung des traumatischen Geschehens. Konkrete Verhaltensweisen, die an den vorhandenen Ressourcen anknüpfen, werden mit den KlientInnen gemeinsam erarbeitet. Hierbei spielen Bewegung und entspannende, angenehme Aktivitäten eine große Rolle. Wenn irgend möglich, sollten daher in dieser Zeit mögliche Belastungen umgangen werden. Um Distanz zum Geschehenen aufzubauen, kann es sinnvoll sein, auch räumlichen Abstand herzustellen. Angenehme Tätigkeiten, die entspannen und ein Wohlgefühl erzeugen, sollten jetzt Vorrang haben und ganz bewusst in den Tagesablauf integriert werden. Dies signalisiert dem verletzten Ich Sicherheit und Fürsorge und wirkt beruhigend auf den erhöhten Arousal. Hilfreich kann es sein, mit einer Vertrauensperson über das Geschehene zu sprechen und sich dafür Zeit zu nehmen. Den Betroffenen wird vermittelt, dass sie selbst darüber bestimmen, wann, wie viel und mit wem sie über das Erlebnis sprechen möchten, welche Schritte sie nun einleiten möchten, etc. Sie, die während der erlebten Gewalt vollkommen in der Hand eines anderen waren, sollten baldmöglichst wieder erleben, dass sie selbst Einfluss auf ihre Lebenssituation und sich selbst nehmen können. Ressourcen aktivieren und stärken: Die Betroffenen werden angeregt, vorhandene Ressourcen zu nutzen. In der Krisensituation verengt sich die Wahrnehmung oftmals auf den erlebten Schrecken und seine Folgen. Vorhandene Ressourcen werden kaum wahrgenommen bzw. nicht bewusst genutzt. Hierbei kann der YogaKurs vor einem Jahr, die Entspannung beim Stricken oder das Hören der Lieblingsmusik eine genauso große Rolle spielen wie Stabilisierungstechniken (s. u.). Wenn KlientInnen in der Beratung Situationen beschreiben, die sie als angenehm erleben, wirkt sich oftmals allein schon die Vorstellung positiv auf ihre Stimmung aus. Es lohnt sich, das Lächeln, die Entspannung in der Mimik, etc. zu spiegeln. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen Gedanken, Emotionen und Empfindungen erfahrbar und ein erster Hinweis für die Regulierung von Gefühlszuständen gegeben. Selbstwertstärkung: Das Selbstwerterleben ist aufgrund der erfahrenen Gewalt meist gestört. Eine Selbstwertstärkung wird in erster Linie durch die positiv wertschätzende Beziehungsgestaltung und durch die Entlastung von selbstabwertenden Scham- und Schuldgefühlen erreicht. Hilfreich sind auch die Identifizierung konkreter selbstabwertender Gedanken und die Erarbeitung von Ich-stärkenden Kognitionen, z. B. „Ich habe überlebt“, „Ich bin jetzt in Sicherheit“, „Ich schaffe das“. Selbstfürsorge anregen: Oftmals haben wir es in der Beratung mit Menschen zu tun, deren Selbstkonzept von überhöhten Ansprüchen an ihre eigene Funktionsfähigkeit gekennzeichnet ist. Sich selbst etwas Gutes zu tun und einen liebevollen Umgang mit sich zu pflegen, ist vielen fremd. So wird ein leistungsorientierter
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Mensch eher dazu neigen, die innere Verletzung zu ignorieren und sich zu überfordern, z. B. in dem er sich zu früh mit dem Tatort konfrontiert. In der Beratung schätzen wir diese Bewältigungsstrategie wert und anerkennen sie in ihrer Sinnhaftigkeit. Zugleich werden wir bei den KlientInnen aber auch Verständnis für die Verletzungen wecken und regen eine heilsame Balance zwischen Erholung und Konfrontation an, um einer Blockierung des Selbstheilungsprozesses zu begegnen. Aktivierung sozialer Kontakte: Das Erleben von Entfremdung und die Angst vor traumaassoziierten Auslösereizen können zu einem Vermeidungsverhalten führen. Sozialer Rückzug bis hin zur Isolation kann die Folge sein. Hier stehen eher selbstwertstärkende und ermutigende Interventionen im Vordergrund, damit Betroffene nach und nach ihren Rückzug aufgeben und soziale Kontakte wieder aufnehmen können. Hilfreich kann hierbei auch eine Angehörigenberatung sein (vgl. 3.6). Einbezug absehbarer „kritischer Ereignisse“ in die Beratung: Insbesondere im Rahmen der mittel- und langfristigen Beratungsreihen werden absehbare belastende Ereignisse vor- und nachbereitet, wie z. B. Gutachtertermine und Zeugenvernehmungen (vgl. 3.8). Umgang mit Schuld- und Schamgefühlen: Die Tendenzen zur Selbstbeschuldigung beziehen sich vor allem auf die angebliche Vorhersehbarkeit des Ereignisses („Ich hätte doch wissen müssen, dass er so reagiert.“) und die Verantwortungsübernahme für die Geschehnisse („Ich habe ihn schließlich provoziert.“). Kognitiv lässt sich meist ein sogenannter „Denkfehler der Retrospektive“ (A. Boos 2005: 103) feststellen: Die nachträgliche Einschätzung erfolgt unter Einbezug des Wissens um den Ausgang der Situation; wichtige handlungsleitende Aspekte werden ausgeblendet. Dies führt zu einer Wahrnehmungsverzerrung, die noch zusätzlich durch die subjektiv erlebte Zeitausdehnung während des Traumas unterstützt wird. So kann der Eindruck entstehen, eine Flucht oder Gegenwehr wäre möglich gewesen, obwohl dazu tatsächlich keine Zeit/Gelegenheit war. Die Neigung zur Selbstbeschuldigung kann unterschiedliche Quellen haben (vgl. G. Fischer 2008: 70): • Leugnung der erfahrenen Hilflosigkeit und Ohnmacht durch Verantwortungsübernahme • Wendung der Wut gegen das eigene Selbst (insbesondere wenn der Täter aus dem sozialen Nahfeld stammt) • Schuldgefühle der Überlebenden. Bei der Bearbeitung der quälenden Schuld- und Schamgefühle kommt zunächst das Verfahren des selbstkonzeptbezogenen Verstehens zum Einsatz. Mit Sätzen
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wie „Sie nehmen es sich übel, ihn nicht durchschaut zu haben“ wird den KlientInnen ihre negative Selbstbewertung gespiegelt. Daraufhin folgen entlastende normalisierende Interventionen durch Aussagen wie z. B.: „Viele Menschen haben sich in einer ähnlichen Situation genauso verhalten wie Sie“. Zur weiteren Entlastung erhalten die Betroffenen gezielt Informationen über das Verhalten von Menschen in Extremsituationen, vor allem über den dabei erlebten Kontrollverlust, den Zeitfaktor und den retrospektiven Denkfehler im Sinne von ‚im nachhinein weiß man immer alles besser‘. Gemeinsam mit den KlientInnen werden dann die Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen noch einmal überprüft, um zu einer realistischeren Einschätzung zu kommen. Wichtig bei diesem Beratungsschritt ist es, im Auge zu behalten, dass es um die gegenwärtig erlebten Gefühle und nachträglichen Bewertungen und nicht um das traumatische Erleben geht. Differenzieren und Benennen von Affekten: Viele KlientInnen erleben ihre Gefühle als diffus quälende Zustände und können sie nicht benennen. Sie erklären z. B.: „Mir geht es schlecht“. Einfühlendes und konkretisierendes Verstehen hilft den KlientInnen, Erlebnisinhalte differenzieren und benennen sowie den Zusammenhang zwischen Gefühlen, Situationen, Gedanken und Körperempfindungen herstellen zu können. So lassen sich dann auch Auslöser für Intrusionen identifizieren. Auch hier ist zu beachten, dass es um die gegenwärtig erlebten Gefühle und nicht um das traumatische Erleben geht. Hilfreich können Achtsamkeitsübungen, Stimmungsprotokolle und das Führen eines Tagebuches sein. Sie helfen, die Selbstwahrnehmung zu schärfen und bieten zudem die Möglichkeit, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und sich zu entlasten. Umgang mit Dissoziationen und Flashbacks in der Beratungssituation: Dissoziationen und Flashbacks sind zu vermeiden, da sie das Risiko einer Retraumatisierung beinhalten und die Traumaverarbeitung blockieren können. Anzeichen von Dissoziationen und Flashbacks sind z. B., wenn die KlientInnen plötzlich wie starr und weggetreten wirken, ihr Blick ins Leere geht oder aber sie plötzlich sehr erregt, aggressiv oder ängstlich werden, zu zittern beginnen, etc. Wenn die KlientInnen im diagnostischen Gespräch Dissoziationen und Flashbacks angeben, wird sofort besprochen, was ihnen hilft, um diese zu beenden. Für den Fall ihres Auftretens in der Beratung wird das Vorgehen abgestimmt. Oftmals reicht es, die KlientInnen mit ihrem Namen direkt anzusprechen, um sie wieder in Kontakt zu bringen, z. B.: „Frau Krüger, hören Sie mir noch zu? Mir scheint, Sie sind mit ihren Gedanken woanders.“ Weiter angezeigt sind Unterbrechungen des dissoziativen Zustandes durch Themenwechsel, Aufstehen und Umhergehen im Raum oder auch Zubereiten und Trinken von Tee. Die Reorientierung in Raum und Zeit kann gestützt werden durch die Vermittlung von Sicherheit: „Es ist vorbei; Sie sind jetzt in Sicherheit“ sowie durch die Anregung, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Um den KlientInnen Mittel an die Hand zu geben, mit
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deren Hilfe sie selbst Dissoziationen und Flashbacks verhindern und belastende Gefühlszustände regulieren können, werden Beruhigungs- und Distanzierungstechniken, insbesondere Achtsamkeitsübungen und Imaginationsübungen eingeübt, wie sie z. B. von Luise Reddemann (2001) beschrieben werden. Achtsamkeitsübungen: Achtsamkeitsübungen schärfen die Wahrnehmung im Hier und Jetzt und helfen daher, sich von der traumatischen Erinnerung zu distanzieren. Bei belastenden Gefühlszuständen und Ängsten, Grübeln, Schlaf- und Konzentrationsstörungen wirken Achtsamkeitsübungen beruhigend. Im Unterschied zu anderen Verfahren, die gezielt Entspannung induzieren, bergen sie ein geringeres Risiko für das Auftreten von Dissoziationen und Flashbacks. Imaginationsübungen: Imaginationsübungen wirken als positive Gegenbilder zu den Schreckensbildern des traumatischen Erlebens. Da das Unbewusste nicht zwischen Vorstellung und Realität unterscheidet, helfen sie bei regelmäßiger Übung, die innere Grundspannung zu reduzieren und können eingesetzt werden, wenn die KlientInnen sich unwohl fühlen oder Angst haben. Sie vermitteln je nach Inhalt Sicherheit, Geborgenheit, Stärkung, Trost und Zuversicht. Einige Imaginationsübungen können besonders gut als Distanzierungstechnik eingesetzt werden (z. B. Tresortechnik/ Bildschirmtechnik). Die Übungen werden in ihrer Wirkweise erklärt und eingeführt und nach Durchführung der Übung nachbesprochen. Hierbei ist wichtig zu beachten, dass die Übungen bei psychiatrischen Erkrankungen, Asthmaerkrankungen, Herz-Rhythmus-Störungen und Suizidalität kontraindiziert sind. Grübelstopps: Um Gedankenkreise zu durchbrechen, eignen sich die oben beschriebenen Imaginations- und Achtsamkeitsübungen. Andere Möglichkeiten sind bspw. sich laut Stopp zu sagen, aufzustehen und irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, sich zu bewegen, Sport zu machen, etc. Tages- und Wochenstrukturierung: Für KlientInnen, die vorrangig depressiv auf das traumatische Ereignis reagieren und unter Antriebs- und Interesseverlust, Erschöpfung und Kraftlosigkeit leiden, sind neben anderen stabilisierenden Interventionen Aktivitätsaufbau und eine klare Tages- und Wochenstrukturierung förderlich, um den depressiven Teufelskreislauf zu durchbrechen. Hierbei ist auf eine ausgewogene Balance zwischen Erholungsphasen und Aktivitäten, zwischen Rückzug und sozialen Kontakten zu achten. Die Tages-/Wochenplanung wird mit den KlientInnen in Form eines Stundenplanes gemeinsam erarbeitet. Aufhebung des Vermeidungsverhaltens: Das Vermeidungsverhalten, das einige KlientInnen reflexhaft zeigen, um nicht an das Trauma erinnert zu werden, ist als sinnvoller Schutzmechanismus zu verstehen. Dennoch kann es die Lebensgestaltung der Betroffenen erheblich einschränken und die Verarbeitung des Traumas blockieren. Wenn KlientInnen in der Beratung deutlich machen, dass sie ihr
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Vermeidungsverhalten aufgeben wollen, werden sie ermutigt, dies in Form gestufter Konfrontation zu tun, um sich nicht zu überfordern. Hierbei kann es sich darum handeln, allein zum Einkaufen, wieder zur Schule oder Arbeit zu gehen, etc. Wichtig ist, dass Dissoziationen und Flashbacks durch Konfrontation vermieden werden. Dafür kann es sinnvoll sein, zunächst eine Angsthierarchie aufzustellen und dann die Konfrontation mit der am wenigsten beängstigenden Situation zu beginnen. Erst wenn diese keine Ängste mehr auslöst, nehmen die KlientInnen die nächst höher bewertete Angstsituation in Angriff. Hilfreich kann es hierbei sein, die jeweiligen Situationen vorzubereiten und bereits erarbeitete Entspannungsverfahren und positive Selbstinstruktionen einzubauen. Durch die korrigierenden Erfahrungen gewinnen die Betroffenen wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und können sich ihren Alltag ‚zurückzuerobern‘. Stützende Traumaverarbeitung: Im Unterschied zur Psychotherapie wird in der psychotraumatologischen Beratung keine geleitete Traumakonfrontation durchgeführt. Die psychotraumatologische Beratung hat nicht heilende, sondern vorrangig stützende und präventive Wirkung. Dennoch schafft sie mit Hilfe der Stabilisierung die Voraussetzung für die Traumaverarbeitung. Sprechen die KlientInnen von sich aus über das traumatische Erleben, erleichtern die BeraterInnen diese spontan auftretenden Prozesse durch einfühlendes Verstehen und stützende Begleitung. Falls sich überwältigende Affekte zeigen, wird mit Beruhigungs- und Distanzierungstechniken gegengesteuert. 3.6
Beratung für Angehörige und Vertrauenspersonen
Gerade Angehörige und Vertrauenspersonen erfahren mit als erste von der Opferwerdung Betroffener. Sie erleben unmittelbar, welche Folgen das Geschehen bei diesen auslöst und sind mit betroffen. Einige zeigen ähnliche Symptome wie die Opfer, hauptsächlich Furcht und Misstrauen. Andere wiederum erleben Schuldgefühle, weil sie das Opfer nicht haben schützen können. Angehörige fühlen sich oftmals den veränderten Bedingungen und den für sie komplizierten Reaktionen der Geschädigten nicht gewachsen und sind mit der Doppelbelastung überfordert, selbst mit dem Geschehen klarzukommen und gleichzeitig Halt für die Betroffenen zu bieten. Es finden sich sowohl Vermeidung von Gesprächen mit dem Opfer, um ‚nichts aufzuwühlen‘, wie auch bohrendes Nachfragen in der irrigen Annahme, das Opfer müsse die Tat bearbeiten und dürfe auf keinen Fall etwas verdrängen. Die Beratung verfolgt hier das Ziel, eine konstruktive Kommunikation zwischen Opfer und Angehörigen wieder in Gang zu setzen. Meist werden Angehörigengespräche für Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher und für LebensgefährtInnen der KlientInnen durchgeführt.
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Dabei erfolgt fast immer eine ausführliche Psychoedukation der Angehörigen und Vertrauenspersonen. Sie werden eingehend über die psychische Bedeutung und die Auswirkungen der Opferwerdung auf die Betroffenen informiert, um ihnen damit deren Verhaltensweisen und Schwierigkeiten verständlich zu machen. Auch hier betonen wir, dass solche Reaktionen normal sind und für das Opfer wichtige Überlebensstrategien darstellen. Solche Erklärungen sind beruhigend für Angehörige, Vertrauenspersonen und für die Opfer selbst. Gemeinsam können dann hilfreiche Strategien im Umgang miteinander erarbeitet werden. 3.7
Soziale Beratung
Die Folgen der primären Viktimisierung für die soziale Lebenssituation der Betroffenen sind vielfältig: Vorübergehende Krankschreibung, langwierige RehaMaßnahmen, Verlust des Arbeitsplatzes, bleibende Behinderungen, finanzielle und familiäre Probleme sind nur einige Themen in der sozialen Beratung. Ziele der sozialen Beratung sind die Verbesserung der sozialen Teilhabe und die Sicherung der wirtschaftlichen und materiellen Lebensgrundlagen. Wenn notwendig und möglich, geht es auch um die Reintegration in den Arbeitsmarkt. Im Rahmen der sozialen Beratung werden Ratsuchende u. a. über Möglichkeiten finanzieller Hilfen, Entschädigungs- und Sozialversicherungsleistungen informiert und beraten. Die Beratung wird so durchgeführt, dass die Kompetenzen der Betroffenen, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, gefördert werden. Dabei gilt es abzuschätzen, inwieweit die KlientInnen bei der Durchsetzung von Ansprüchen konkrete Unterstützung benötigen, und welche Angelegenheiten die KlientInnen selbst erledigen können. Gemeinsam wird geklärt, in welchen Fällen Informationen oder das vorherige Durchsprechen einer unangenehmen Situation ausreichend oder aber die Vermittlung zwischen KlientInnen und Behörden sinnvoll ist. Inhalte der sozialen Beratung sind Informationen und Unterstützung bei der Durchsetzung von Ansprüchen in Bezug auf: • finanzielle Unterstützung und soziale Entschädigungsleistungen (z. B. Opferentschädigungsgesetz, Weißer Ring, Stiftungen) • Schmerzensgeld- und Schadenersatzansprüche (z. B. Täter-Opfer-Ausgleich, Adhäsionsverfahren, Zivilverfahren) • Arbeitsförderung (z. B. Umschulung, Fort- und Weiterbildung) • Maßnahmen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Familienhilfe, Erziehungsberatung) • Sozialversicherungsleistungen (z. B. Behandlungen, Reha-Maßnahmen, Arbeitslosengeld)
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• soziale Förderung (z. B. Grundsicherung) • Probleme mit dem Arbeitgeber, der Schule, der Ausländerbehörde, etc. 3.8
Zeugenbetreuung
Damit sich die traumatische Erfahrung von Wehr- und Hilflosigkeit im Ermittlungs- und Strafverfahren, insbesondere in der Gerichtsverhandlung, in der ja meist der Täter ebenfalls anwesend ist, nicht wiederholt, wird Betroffenen die Zeugenbetreuung angeboten. Diese beginnt in der Opferhilfe gegebenenfalls schon vor der Anzeigenerstattung und ist keinesfalls auf das Strafverfahren oder gar die Gerichtsverhandlung beschränkt. So können auch Betroffene aus dem sog. „Dunkelfeld“, die noch unschlüssig sind, ob sie eine Anzeige erstatten wollen, unterstützt werden. Die Zeugenbetreuung dient dem Ziel, die subjektiv wahrgenommene Kontrolle im Verfahren zu erhöhen und beinhaltet die Vermittlung von Informationen und Handlungsmöglichkeiten. Während der Zeugenbetreuung wird jedoch über straftatrelevante Sachverhalte nicht gesprochen. So werden Suggestionseffekte und vor allem der Eindruck vermieden, die Aussage sei ‚eingeübt‘ worden. Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Zeugen wären die Folge und auch die Akzeptanz bei den Prozessbeteiligten für die Zeugenbetreuung selbst wäre gefährdet. Die Zeugenbetreuung wird an den Erwartungen und dem Strafverfolgungsinteresse der Betroffenen ausgerichtet. Es kann durchaus vorkommen, dass Betroffene keinerlei Interesse an einer Strafverfolgung haben. Dieser Umstand kann unterschiedlich motiviert sein: Es kann sich sowohl um ein Opfer handeln, das keine oder nur geringe Schädigungsfolgen davongetragen hat und nun den weiteren Aufwand als unverhältnismäßig betrachtet. Es kann sich aber auch um Opfer handeln, die aus Angst vor der Rache des Täters die Anzeige zurückziehen möchten oder um Betroffene, die in einer ambivalenten Beziehung zum Täter stehen und sich angesichts einer möglichen Verurteilung schuldig fühlen. Die Informationen können bei den KlientInnen Ängste oder auch Empörung und Ärger auslösen. Diesen Gefühlen wird in der Zeugenbetreuung Raum geben, um so die Möglichkeit zu schaffen, gemeinsam Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Da es sich bei der Vorbereitung einer Gerichtsverhandlung im Prinzip um eine Konfrontation mit dem Täter in sensu7 handelt, besteht das Risiko, dass traumatisierte KlientInnen unter Umständen mit Dissoziationen oder Flashbacks reagieren. Treten diese auf, wird gegengesteuert. Doch auch angesichts großer Ängste von KlientInnen sollte man nicht der Versuchung erliegen, die Situation vor Gericht zu verharmlosen oder Versprechungen zu machen, die nicht eingehalten werden können. 7
in sensu = in der Vorstellung
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Inhalte der Zeugenbetreuung: Verlauf
Beratungsinhalte
vor und nach der Anzeigenerstattung
Informationen über: – Ablauf des Ermittlungs- und Strafverfahrens – Pflichten und Rechte des Opferzeugen (z.B. Informationsrechte, Vertrauensperson bei der Vernehmung, Nebenklage, Opferanwalt) – Entschädigungsmöglichkeiten – Täter-Opfer-Ausgleich – Glaubhaftigkeitsgutachten – mögliche Verfahrensausgänge Zusammenarbeit mit NebenklagevertreterInnen
vor der Gerichtsverhandlung
Informationen über: – Rolle und Aufgaben der Prozessbeteiligten – Ablauf der Gerichtsverhandlung und der Aussage Besuch eines Gerichtssaals Besuch bei RichterIn (kindl. und jugendl. Opferzeugen) allgemeine Verhaltensempfehlungen Bearbeitung von Befürchtungen Anregung von Selbstfürsorge Einsatz von Distanzierungstechniken Organisation eines geeigneten Warteraums
während der Gerichtsverhandlung
Begleitung und Stabilisierung
nach der Gerichtsverhandlung
Nachbereitung der Vernehmung und Aufklärung über den Verfahrensausgang
Die Aussage vor Gericht kann, wenn angemessene Bewältigungsformen vorhanden sind bzw. zur Verfügung gestellt werden, die Selbstwirksamkeitserwartung erhöhen und zur Verarbeitung des traumatischen Geschehens beitragen. Es besteht die Chance, dass das Opfer das Strafverfahren positiv erleben kann, weil es sich im Nachhinein erfolgreich hat wehren können und dabei auch Solidarität erfahren hat. Wie eine Untersuchung von Lind und Tylor zeigt, wächst trotz der Belastung einer Gerichtsverhandlung die Zufriedenheit, wenn ZeugInnen ihren eigenen Standpunkt darstellen und ein gewisses Maß an Einfluss ausüben können (R. Volbert 2008: 320). Im Rahmen der Evaluation des schleswig-holsteinischen Zeugenbegleitprogramms konnte festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche, die eine Zeugenbegleitung erhielten, eine geringere Belastung und eine bessere Aussagequalität aufwiesen. Zugleich äußerten alle Verfahrensbeteiligten,
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dass sie durch die Zeugenbegleitung entlastet gewesen seien (Dannenberg u. a. 1997: 106ff.). 3.9
Weitervermittlung
Flankierend zur Beratung in der Opferhilfe werden die KlientInnen über weitere Beratungsangebote informiert und ggf. an den Täter-Opfer-Ausgleich, an RechtsanwältInnen, ÄrztInnen und TherapeutInnen oder andere soziale Einrichtungen vermittelt. Meist findet die Beratung in einem Netzwerk statt, so dass eine Aufgabenteilung möglich wird, die insbesondere bei komplex gestalteten Fällen notwendig und hilfreich ist. 3.10 Integration des Ereignisses Die Integration des Ereignisses führt meist zu bleibenden Veränderungen, die in der Beratung reflektiert werden. Die Veränderungen betreffen oftmals Beziehungen zu nahen Angehörigen oder Freundschaften, die sich in der Krisensituation zu bewähren hatten. Neue Freundschaften oder auch Trennungen waren die Folge. Das Sicherheitsgefühl ist nicht mehr das alte und die Einstellung zu sich selbst, zu anderen Menschen und der Gesellschaft kann sich generell geändert haben. Im Idealfall können die KlientInnen die durch die Traumatisierung ausgelösten Veränderungen akzeptieren. Aufgrund des erschütterten Welt- und Selbstverständnisses kommen dabei auch existenzielle Themen wie Recht und Gerechtigkeit, der Sinn des Lebens oder der eigene Tod zur Sprache. Die BeraterInnen positionieren sich als parteiliche UnterstützerInnen auf der Seite der Betroffenen und anerkennen die Erschütterung und die Fassungslosigkeit, die allmählich zu einer neuen Sicht auf die Welt, die Mitmenschen und sich selbst führen kann. 3.11 Abschluss und gegebenenfalls Nachbesprechung Bei langfristigen Beratungen sollte der Abschied beachtet werden, da sich meist eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt hat, die im Alltagsleben der KlientInnen eine wichtige Funktion eingenommen haben kann. Wenn die KlientInnen es wünschen, kann zunächst auch die Frequenz der Sitzungen verringert oder eine Nachbesprechung angeboten werden. Der Abschied beinhaltet meist eine Bilanzierung des Beratungsverlaufs und ein gegenseitiges Feedback.
4
Fallvignette
Frau Krüger, 45 Jahre (alle Angaben anonymisiert), arbeitet bereits seit vielen Jahren in einem Café. Sie ist allein, als kurz vor Feierabend ein Stammkunde he-
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reinkommt. Seine Annäherungsversuche hat sie schon mehrfach zurückweisen müssen. Er droht ihr, sie umzubringen, wenn sie nicht macht, was er will und versucht, sie zu vergewaltigen, lässt dann aber plötzlich von ihr ab und flüchtet. Sie bleibt zunächst wie gelähmt liegen, ruft dann die Polizei an. Zwei Tage nach der Tat will sie ihre Arbeitstätigkeit wieder aufnehmen, erlebt aber kurz nach Betreten des Cafés eine Panikattacke und ist seither krankgeschrieben. Eine Woche nach der Tat sucht sie auf Anregung der Polizei die Beratungsstelle auf. Erstgespräch Die Beraterin begrüßt die klein und zierlich wirkende Klientin an der Tür und bittet sie herein. Frau Krüger wirkt ausgesprochen angespannt und ängstlich. Während die Beraterin sie in den Beratungsraum führt und ihr etwas zu trinken anbietet, beginnt sie ein Gespräch über den Anfahrtsweg. Darauf geht Frau Krüger gern ein und so entspinnt sich zunächst ein Gespräch über die schwierige Parkplatzsituation in der Potsdamer Innenstadt. Die Klientin wird über einige Eckdaten der Beratung (Dauer, Form, Vertraulichkeit) informiert und als ihr versichert wird, dass sie den Tathergang nicht zu schildern braucht, wirkt sie sichtlich erleichtert. Nachdem die Klientin anfangs den Blickkontakt scheute, schaut sie die Beraterin nun direkt an. Die Beraterin leitet sodann das Gespräch mit der Frage ein, was sie in die Beratungsstelle geführt habe, und die Klientin berichtet, dass ein Mann versucht habe, sie an ihrem Arbeitsplatz zu vergewaltigen. Während die Klientin langsam und stockend berichtet, begleitet die Beraterin sie, in dem sie ihre Äußerungen wertschätzend bestätigt und zum Teil einfühlsam mit eigenen Worten wiederholt. Als die Klientin berichtet, dass ihre Kollegin auf ihre Krankschreibung mit den Worten „Oh nein, wo gerade soviel zu tun ist …“ reagiert habe, kämpft sie mit den Tränen. Die Beraterin ermutigt sie, ihre Gefühle zuzulassen, achtet aber auch darauf, dass sie nicht in das traumatische Erleben abgleitet. Im weiteren Gespräch berichtet die Klientin über massive Schlafstörungen, eine quälende innere Anspannung und Angstattacken an Orten, wo viele Menschen sind. Sie habe das Gefühl, verrückt zu werden. Die Beraterin klärt sie im Rahmen der Psychoedukation darüber auf, dass sie normale Reaktionen auf ein Trauma erlebe, und dass viele Menschen ähnliche Veränderungen erlebt haben, die wieder zurückgegangen sind. Die Beraterin erwähnt weitere Symptome (Konzentrationsstörungen, Grübeln), die Frau Krüger überrascht bei sich wiedererkennt. Die Informationen entlasten sie. Frau Krüger macht sich große Sorgen darüber, ob sie je wieder in dem Café arbeiten könne. Angesichts der Panikattacke fühle sie sich als Versagerin. Sie ist ausgesprochen leistungsorientiert und neigt dazu, sich zu überfordern. Sie be-
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absichtigt, innerhalb von drei Tagen wieder arbeiten zu gehen. Allerdings mache ihr schon die Vorstellung Angst. Die Beraterin kann ihr mithilfe einfacher Metaphern (Wunde) die Notwendigkeit einer Erholungszeit und anderer hilfreicher Strategien nahebringen. Als wichtiges Element der ‚Wundversorgung‘ wird der Schutz vor weiteren Belastungen betont und eine Verlängerung der Krankschreibung (Selbstfürsorge) angeregt. Die Beraterin erklärt ihr, was andere KlientInnen als hilfreich erleben, um die Selbstheilungskräfte zu unterstützen. Auf diese Weise kann die Beraterin allgemeine Verhaltensempfehlungen vermitteln, ohne sie zu ‚verordnen‘. Der Klientin fallen eigene Aktivitäten ein, die sie beruhigen und als positive Gegengewichte zum erlebten Schrecken wirken können. Eine wichtige Ressource sei ihr Lebensgefährte, der für sie da sei und ihr Mut mache. Im Zusammensein mit ihm grübele sie auch nicht. Sie liebe es, Fahrrad zu fahren und löse gern Kreuzworträtsel. Die Beraterin regt an, in der nächsten Zeit ganz bewusst diese Aktivitäten zu planen und umzusetzen. Frau Krüger hat zudem große Angst, dass der Täter seine Drohung, sie umzubringen, wahrmachen könne. Diese Angst wird von der Beraterin vor dem Hintergrund der erlebten Gewalt sowohl als traumatische Angst als auch als Realangst verstanden. Da unbekannt ist, ob der Täter noch auf freiem Fuß ist, besteht auf jeden Fall das Risiko einer zufälligen Begegnung. Die Beraterin klärt sie über ihre Informationsrechte auf und bietet ihr an, sich diesbezüglich zu erkundigen (Wiederherstellung von Sicherheit). Sichtlich erleichtert nimmt Frau Krüger das Angebot an. Die Beraterin fasst die Ergebnisse der Problemanalyse zusammen (siehe Übersicht auf S. 182). Prognostisch ist bei der Klientin von einem mittleren Erkrankungsrisiko auszugehen. Die Beraterin bietet ihr daher am Ende der ersten Sitzung eine mittelfristige Beratungsreihe von 10–15 Sitzungen an. Als Inhalte der Beratung werden die Reduzierung der Symptomatik, insbesondere des Grübelns und der Ängste festgelegt sowie eine Zeugenbetreuung und die Unterstützung bei der Antragstellung nach dem Opferentschädigungsgesetz vereinbart. Die Beraterin macht der Klientin Mut und spiegelt ihr den Schritt in die Beratungsstelle als ersten Schritt auf dem Weg zur Verarbeitung des erlebten Traumas. Noch vor der zweiten Sitzung kann in Erfahrung gebracht werden, dass der Täter aufgrund einschlägiger Vorstrafen in U-Haft ist. 2.–4. Sitzung Frau Krüger hat nach dem letzten Gespräch Mut geschöpft und einige der Verhaltensempfehlungen umsetzen können. Sie hat auch den Eindruck, ihre eigenen Reaktionen wieder etwas besser steuern zu können. Die Nachricht, dass der Täter in U-Haft sei, war besonders erleichternd. Dies hat sie allerdings dazu verleitet, er-
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Sicherheit
Täterkontakt: ungewiss
Psychisches Befinden
Intrusionen: Panikattacke, Flashbacks Trigger: Tatort, Orte, an denen viele Menschen sind Vermeidung: sozialer Rückzug, Grübeln über Arbeitssituation Hyperarousal: Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, innere Anspannung, Wachsamkeit Selbstabwertung keine Suizidgefahr Verlauf: Klientin befindet sich in der Einwirkphase KRI: Einstufung als „Wechslerin“ Prognose: mittleres Erkrankungsrisiko Ressourcen: Lebensgefährte, Fahrradfahren, Kreuzworträtsel, gute Kontakte zu Familie (Mutter, Schwester) und Freunden Persönlichkeitsstil: selbstunsicher, leistungsorientiert, geringe Durchsetzungsfähigkeit, kaum Zugang zu eigenen Bedürfnissen.
Ermittlungsverfahren
Klientin formuliert klares Strafverfolgungsinteresse Ermittlungsverfahren läuft klärungsbedürftig: Täter in U-Haft?
Soziale Situation
Klientin lebt zusammen mit Lebensgefährten Krankschreibung und Lohnfortzahlung durch Arbeitgeber OEG-Antrag noch nicht gestellt/ Berufsgenossenschaft ist informiert
neut einen ‚Testbesuch‘ im Café zu machen. Dort machte ihr die Kollegin wegen der zusätzlichen Vertretungsbelastung Vorwürfe, und sie erlebte daraufhin einen Flashback. Nachdem der Klientin Raum für ihre Enttäuschung über die Reaktion der Kollegin gegeben wird, wendet sich die Beraterin den Versagensängsten von Frau Krüger zu. Sie ist es gewohnt, mit Willensstärke alles zu meistern, was sie sich vornimmt. Ihre Arbeitsunfähigkeit stellt einen Widerspruch zu ihrem Selbstideal dar und sie reagiert darauf mit Selbstvorwürfen, die sie zusätzlich schwächen. Wichtig ist an dieser Stelle, ihre Willensstärke als Fähigkeit wertzuschätzen, dabei zugleich die verleugneten Bedürfnisse nach Erholung zu stärken und sie von dem Leistungsdruck zu entlasten. Die Beraterin betont, dass die meisten Menschen in einer Situation wie der ihren zuerst Abstand und Erholung benötigen. Zur weiteren Entlastung erläutert die Beraterin anhand einer Grafik den neurobiologischen Hintergrund der Traumatisierung. Die Beraterin erarbeitet gemeinsam mit der Klientin einen Plan für einen gestuften Wiedereinstieg in die Arbeit, der sich an ihrem jeweiligen Befinden orientieren soll. Der Arbeitgeber, mit dem die Klientin den Plan abspricht, ist hiermit einverstanden. Voraussetzung hierfür ist aber zunächst die Stabilisierung der Klientin.
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Im weiteren Beratungsverlauf können weitere Auslöser der ungewollten Wiedererinnerungen identifiziert werden. Hierzu gehören vor allem Situationen, in denen sich Frau Krüger von anderen bedrängt fühlt. Ihr sozialer Rückzug resultiert aus der Angst vor solchen Situationen. Die Beraterin erarbeitet gemeinsam mit ihr, wie sie ihre Wünsche formulieren, aber auch wie sie sich gegen Erwartungen anderer abgrenzen kann. Die Beraterin ermutigt sie, mit Menschen, denen sie vertraute, wieder in Kontakt zu gehen (Aufhebung der sozialen Entfremdung). Schließlich überwindet die Klientin ihre Ängste und erzählt ihrer besten Freundin und ihrer Schwester von dem Übergriff. Entgegen ihren Befürchtungen reagieren diese ausgesprochen verständnisvoll. Die Beraterin bietet der Klientin weiterhin Achtsamkeits- und Imaginationsübungen an. Sie erläutert ihr die Wirkweise und führt sodann die sogenannte „SichereOrt-Übung“8 durch. Frau Krüger stellt sich den Heuboden ihrer Großeltern vor, auf dem sie sich als Kind oft aufgehalten hatte. Einen Schwerpunkt bei der Vergegenwärtigung des Vorstellungsbildes stellt der Duft des Heus dar. Um das Vorstellungsbild noch intensiver in sich aufsteigen lassen zu können, besorgt sie sich später ein Säcken mit Heu, an dem sie immer dann riecht, wenn sie sich ihren „Sicheren Ort“ vorstellen möchte. Diese Imaginationsübung wirkt beruhigend auf belastende Gefühlszustände und Ängste und soll der Klientin beim Einschlafen helfen. Die vorangestellte Achtsamkeitsübung soll zudem den Zugang zu Körperempfindungen und Gefühlen ermöglichen. Weiterhin erarbeiten die Beraterin und die Klientin Strategien, mit denen Frau Krüger das Gedankenkreisen durchbrechen kann sowie beruhigende Kognitionen, die beim Auftreten von Ängsten eingesetzt werden können („Jetzt bin ich in Sicherheit“). Die angebotenen Übungen kann die Klientin gut annehmen. Ihre Konzentrationsstörungen lassen nach, sie kann wieder lesen und sich damit einen weiteren stärkenden Lebensbereich zurückerobern. Gleichzeitig beginnt sie, sich mit dem Geschehenen vor dem Hintergrund ihrer Schuld- und Schamgefühle auseinanderzusetzen. So wirft sie sich vor, dass sie sich nicht genügend gewehrt habe und dass sie den Täter bei seinen vorherigen Annäherungsversuchen nicht deutlich genug zurückgewiesen habe. Sie schämt sich sehr deswegen und hat bisher noch mit niemandem darüber gesprochen. Die Beraterin unterstützt sie dabei, die dahinterstehende Leugnung der erlebten Ohnmacht zu erkennen. Dieses Motiv geht mit dem Wissen um die Abfolge der Geschehnisse eine fatale Allianz ein (Denkfehler der Retrospektive) und führt dazu, dass sie vermeintliches Fehlverhalten bei sich zu erkennen glaubt. Mithilfe des 8
Die „Sichere-Ort-Übung“ (nach L. Reddemann 2001) beinhaltet die Imagination eines Ortes, der Sicherheit, Geborgenheit und Wohlgefühl vermittelt. Hierbei kann es sich um einen realen oder auch um einen fantasierten Ort handeln. Während der Übung werden alle Sinnesebenen angesprochen. Die Vorstellung vom sicheren Ort wird schließlich mit einem „Anker“ verknüpft, um einen leichteren Erinnerungsabruf zu ermöglichen. Die Vorstellung dieses Ortes wirkt als positives Gegengewicht zu Angst und Ohnmacht.
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bereits erläuterten neurobiologischen Traumamodells gelingt es ihr, ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen. So kann sie ihre Schlussfolgerungen noch einmal überprüfen. Erst auf der Grundlage einer genaueren ernsthaften Überprüfung kann sie dann auch annehmen, dass die Verantwortung für die Tat bei dem Täter und nicht bei ihr liegt. Eine Sitzung wird dazu verwandt, die Klientin über den Verfahrensablauf und die Möglichkeiten der Nebenklage zu informieren (Zeugenbetreuung). Frau Krüger ist es wichtig, dass es zu einer Verurteilung mit Haftstrafe kommt. Die Länge der ausgeurteilten Haftstrafe spielt allerdings keine Rolle für sie. Die Beraterin vermittelt ihr daraufhin eine in der Nebenklage erfahrene Rechtsanwältin. In der gleichen Sitzung wird auch der Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz ausgefüllt. Die Berufsgenossenschaft ist zwar als Kostenträger für Behandlungsund Reha-Maßnahmen zuständig, da die versuchte Vergewaltigung als Arbeitsunfall gilt. Für den Fall der Ablehnung von Leistungsansprüchen durch die Berufsgenossenschaft sollte aber zur Sicherung der Ansprüche immer auch ein Antrag beim Versorgungsamt gestellt werden (soziale Beratung). 5.–10. Sitzung Trotz der mit dem Arbeitgeber getroffenen Absprache über den gestuften Wiedereinstieg wird der Klientin nach vierwöchiger Krankschreibung gekündigt. Die Klientin berichtet, dass sie zu Beginn wütend reagiert und dann resigniert habe. Sie erscheint deprimiert und hoffnungslos und erklärt: „Ich bin doch überhaupt zu nichts mehr nutze.“ Sie säße manchmal stundenlang wie gelähmt auf dem Sofa. Hier interveniert die Beraterin mittels konkretisierenden Verstehens, mit Sätzen wie: „Nach dieser Nachricht fühlen Sie sich müde und ausgelaugt“, „Wenn Sie in diesem Zustand sind, dann fühlen Sie die Enttäuschung über ihren Arbeitgeber nicht so“. In einem zweiten Schritt spiegelt sie der Klientin ihre Selbstabwertungen als Reaktion auf die primäre Emotion: Wut gegenüber dem Arbeitgeber. An diese Wut kann Frau Krüger wieder anknüpfen. Im weiteren Gespräch erkennt sie bei sich auch Erleichterung, nicht mehr an den Arbeitsort/Tatort zurückkehren zu müssen. Die Beraterin bespricht mit der Klientin eine Tages- und Wochenplanung mit dem Ziel des Aktivitätsaufbaus und der Wiederaufnahme von sozialen Kontakten, von denen sie sich nach der Kündigung erneut zurückgezogen hat. In die Planung fließen die bereits erarbeiteten Ressourcen ein, d. h. morgendliches Kaffeetrinken mit Kreuzworträtsel, tägliches Fahrradfahren, Achtsamkeits- und Imaginationsübungen, Besuche bei ihrer Freundin, etc. Aber auch Hausarbeit, Kochen und Einkaufen stehen auf dem Programm, das sie als Stundenplan verbindlich für sich einführt. An den Wochenenden sollen Unternehmungen mit ihrem Lebensgefährten als ‚Highlights‘ an erster Stelle stehen. An dieser Stelle wird es nun
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wichtig, den Lebensgefährten von Frau Krüger in die Beratung einzubeziehen, da er zunehmend ungeduldig auf Frau Krüger reagiert und von ihr verlangt, ‚nun wieder zur Normalität zurückzukehren‘. Die Beraterin lädt ihn zu einem gemeinsamen Gespräch ein und klärt ihn über Traumafolgen auf. Er hatte schon befürchtet, seine Freundin würde sich in etwas hineinsteigern und reagiert erleichtert. Dies wiederum ermöglicht Frau Krüger, ihre Bedürfnisse klar zu formulieren, und so können sie gemeinsam die Wochenendgestaltung besprechen. Die Achtsamkeitsübungen weitet Frau Krüger auf Anregung der Beraterin hin auch auf alltägliche Tätigkeiten aus; das Spektrum der Imaginationsübungen wird noch um die ‚Baumübung‘ und die Übung ‚Gepäck ablegen‘ erweitert, die ihr das Gefühl von Stärke und Entlastung vermitteln. Frau Krüger erlebt besonders die Tagesstrukturierung und das Fahrradfahren als sehr hilfreich. Die depressive Symptomatik geht zurück. Nach dem Aufenthalt bei ihrer Schwester an der Ostsee, der sich nach einem Monat anschloss, ist sie nahezu beschwerdefrei. Im Verlauf unserer Gespräche stellt sich heraus, dass sie eigentlich schon seit einigen Jahren mit ihrer Arbeit im Café unzufrieden ist. Frau Krüger entschließt sich, eine Umschulung zu beantragen. Die Chance auf einen neuen Arbeitsbereich gibt ihr Hoffnung und Zuversicht. Der Umschulungsantrag ist bei dem zuständigen Kostenträger der Berufsgenossenschaft zu stellen. Hierfür fertigt die Beraterin einen umfangreichen Bericht über den Beratungsverlauf von Frau Krüger mit einer entsprechenden Befürwortung an. 11.–15. Stunde In diesen Sitzungen wird das Ende der wöchentlich stattfindenden Beratungsreihe eingeleitet. Es werden monatlich stattfindende Beratungssitzungen vereinbart, in denen nun die Festigung des Erreichten, die Bilanzierung und die Zukunftsperspektiven im Vordergrund stehen. Nachdem ihre Rechtsanwältin Akteneinsicht erhalten hat, wird auch noch einmal ausführlich das Strafverfahren thematisiert. Frau Krüger wurde durch ihre Rechtsanwältin in groben Zügen über die Aussage des Beschuldigten informiert. Dieser ist einschlägig vorbestraft und hat in seiner Aussage bei der Polizei angegeben, dass er Frau Krüger keinesfalls bedroht habe, und sie freiwillig mit ihm habe intim werden wollen. Auch wenn Frau Krüger bereits zuvor davon ausgegangen ist, dass er die Tat wohl nicht eingestehen würde, wühlt sie diese Informationen doch sehr auf. Sie ist ausgesprochen wütend und fragt sich zugleich verunsichert, wem das Gericht Glauben schenken wird. Beruhigend ist für sie die Information, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat und offensichtlich davon ausgeht, dass es zu einer Verurteilung kommen wird. Dennoch ist der Verfahrensausgang ungewiss, was für Frau Krüger Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem ist.
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Psychologische Stellungnahmen über die Tatfolgen und den Beratungsverlauf sind sowohl für das Strafverfahren als auch für das Arbeitsamt und das Versorgungsamt zu fertigen. Regelmäßig verlangt zudem die Berufsgenossenschaft Berichte über den Beratungsverlauf. Schließlich wird der Antrag auf Umschulung bewilligt und Frau Krüger kann eine Ausbildung zur Altenpflegerin antreten. 16.–19. Sitzung Sobald der Gerichtstermin feststeht, meldet sich Frau Krüger absprachegemäß. Nun folgt die konkrete Vorbereitung der Gerichtsverhandlung. Angst macht ihr vor allem die bevorstehende Konfrontation mit dem Täter und, dass man ihr bei Gericht nicht glauben könnte. Sie befürchtet zusammenzubrechen. Die Beraterin legt ihr zunächst den Ablauf der Verhandlung und die Aufgaben sowie die Rolle der Prozessbeteiligten dar, um eventuell vorhandene falsche Vorstellungen zu korrigieren. Danach geht es um die Klärung, welche Rechte Frau Krüger in Anspruch nehmen will. Trotz des bestehenden Anwesenheitsrechts als Nebenklägerin entscheidet sie sich, vor ihrer Aussage draußen zu warten, um so ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin nicht zu gefährden. Zugleich erspart sie sich damit auch die zusätzliche Belastung, die das Anhören der Aussage des Angeklagten meist bedeutet. Weiterhin wünscht sie eine Gerichtsbegleitung durch die Beraterin und den Ausschluss der Öffentlichkeit während ihrer Aussage. Die Beraterin erklärt ihr, dass sie als Vertrauensperson zwar keine Befugnisse habe und auch nicht eingreifen könne, aber sie durch ihre Anwesenheit stärken und sie vor und nach der Aussage stabilisieren könne. Für den Fall, dass das Gericht die Beraterin als Teil der Öffentlichkeit betrachten würde – was leider sehr oft vorkommt – muss die Klientin eine Priorisierung ihrer Wünsche vornehmen. Sie entscheidet sich für die Begleitung. Die Beraterin informiert daraufhin die Rechtsanwältin über die Absprachen, damit sie die entsprechenden Anträge bei Gericht stellen kann. Sodann bespricht die Beraterin mit der Klientin den konkreten Ablauf der Vernehmung selbst und erläutert ihr u. a. die möglichen Strategien der Verteidigung. Sie bereitet die Klientin darauf vor, dass der Verteidiger das Ziel verfolgen könnte, sie zu verunsichern und ihr Widersprüche nachzuweisen. Die Erfahrung zeigt, dass es in jedem Fall besser ist, die KlientInnen auf mögliche Belastungen vorzubereiten. So können sie sich innerlich wappnen und haben die Möglichkeit, sich von Unterstellungen und Vorwürfen zu distanzieren. Dazu gehört auch, die Klientin auf mögliche Überraschungen vorzubereiten, wie z. B. dass die Verhandlung vertagt werden kann oder sie im Fall eines umfassenden Geständnisses des Angeklagten keine Aussage mehr zu machen braucht. Die Inhalte der Aussage werden bei der Beratung selbstverständlich nicht besprochen. Während der gesamten Vorbereitung achtet die Beraterin darauf, wie die Informationen auf die Klientin wirken. Frau Krüger zeigt am meisten Angst bei der
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Vorstellung, dem Täter wieder begegnen zu müssen. Die Beraterin wiederholt bereits erarbeitete positive Kognitionen und Distanzierungstechniken, die sie beruhigen und gemeinsam erarbeiten sie einige ‚Mutmachsätze‘, die sie sich aufschreiben will. Auf der Suche nach einem symbolischen Anker für positive Gefühle fällt Frau Krüger ein Foto ihrer Schwester ein, das sie mit in den Gerichtssaal nehmen will. Am Verhandlungstag ist Frau Krüger sehr aufgeregt und ängstlich. Der Beginn der Verhandlung verzögert sich um eine Stunde. Die Beraterin macht ihr Mut und unterstützt sie dabei, die Wartezeit zu überstehen. Als die Verhandlung beginnt und sie den Angeklagten wiedersieht, belastet sie das zu ihrem eigenen Erstaunen weniger als sie befürchtete. Das Gericht gibt dem Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit und auf Begleitung durch die Vertrauensperson statt. Das gibt Frau Krüger Mut für die Aussage. Nach anfänglichem Stocken berichtet sie flüssig über den Tathergang. Als der Verteidiger ihr unterstellt, sie habe den Angeklagten durch ihr Verhalten ermutigt, legt sie ihren Standpunkt klar dar. Nachbesprechung Mit dem Gerichtsurteil von zwei Jahren ohne Bewährung ist Frau Krüger zufrieden. Sie führt den Ausgang des Verfahrens auch auf ihr Aussageverhalten zurück und ist stolz auf sich. Die Nachbesprechung dient der Klärung einiger Sequenzen der Verhandlung, die ihr im nachhinein eingefallen und unklar sind. Zwischenzeitlich hat der Angeklagte Berufung eingelegt. Da die Beraterin sie schon vorher über diese Möglichkeit informiert hat, ist sie nicht überrascht. Die Berufung wird später wieder zurückgenommen. Selbstverständlich verlaufen nicht alle Strafverfahren für die KlientInnen so zufriedenstellend wie es bei Frau Krüger der Fall ist. Es kommt sehr wohl vor, dass Zeugenaussagen als widersprüchlich wahrgenommen werden oder peritraumatische Dissoziationen die Wahrnehmung während des traumatischen Ereignisses in einer Weise verzerrt haben, dass eine klare Schilderung des Tathergangs nicht möglich ist. Unter Umständen kann dann keine Verurteilung erfolgen. In diesen Fällen ist eine Weiterführung der Beratung nötig, um den Betroffenen die Möglichkeit einer Verarbeitung dieses häufig als Unrecht erlebten Verfahrens zu ermöglichen. Abschluss In der Abschlusssitzung bilanziert Frau Krüger, dass sie sich verändert habe und anderen Menschen gegenüber vorsichtiger geworden sei. Sie schätzt ihre jetzige Haltung als realitätsgerechter ein und bewertet die Veränderung keineswegs negativ. Sie habe auch gelernt, dass sie bisher in ihrem Leben den Schwerpunkt zu sehr auf Arbeit und Leistung gelegt habe und dies wolle sie zukünftig ändern.
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Rosmarie Priet
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Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext Gesa Köbberling
Der Verein „Opferperspektive“1 berät Opfer rechter Gewalt im Land Brandenburg. Der Beratungsansatz des Vereins verbindet Beratung von Betroffenen, Intervention vor Ort sowie lokale und überregionale Öffentlichkeitsarbeit. Damit soll auf das Thema „rechte Gewalt“ aufmerksam gemacht und für die Situation der Betroffenen sensibilisiert werden. Im Folgenden wird diskutiert, was unter „rechter“ bzw. „rechtsmotivierter Gewalt“ verstanden wird sowie das Beratungsfeld und der Beratungsansatz des Vereins „Opferperspektive“ vorgestellt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, welche Bedeutung Konzepte von „Kultur“ und „Verschiedenheit“ für die Beratung haben und in welcher Art und Weise sie in die Beratung einfließen. Insbesondere drei Gründe sprechen dafür, sich aus der Perspektive der Opferhilfe mit dem Thema zu befassen: 1. Von rechter Gewalt sind sehr unterschiedliche Menschen betroffen. Es sind Menschen mit unterschiedlichen Biografien, die unter unterschiedlichen Bedingungen leben. Darauf muss sich die Beratung einstellen, wenn sie sich an den Bedürfnissen der Ratsuchenden orientieren will. 2. Die (von den TäterInnen angenommene) Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen ist Anlass von deren Gewalterfahrung. Es ist notwendig, die Bedeutung dieser Gruppenzugehörigkeit auch für den Beratungsprozess zu reflektieren. 3. Probleme, Missverständnisse und Konflikte im Beratungsverhältnis werden von Beratenden und KlientInnen oft auf die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen zurückgeführt. Eine wichtige Rolle bei der Deutung zwischenmenschlicher Begegnung spielt in diesem Zusammenhang das Konzept „Kultur“. 1
Was zeichnet „rechte Gewalt“ aus?
Was unter „rechter Gewalt“ verstanden werden kann und welches die besten Begriffe für das Phänomen sind, ist immer wieder Gegenstand theoretischer und politischer Auseinandersetzungen. Kann man nur dann von einer rechtsextremen Tat sprechen, wenn die TäterInnen in rechtsextremen Strukturen organisiert sind oder mit ihrer Tat bewusst politische Ziele durchzusetzen versuchen? Muss der 1
Informationen zum Verein Opferperspektive vgl. Opferperspektive o.A. a.
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Gesa Köbberling
Täter oder die Täterin bewusst kalkulieren, dass seine oder ihre Tat nicht nur Folgen für das direkte Opfer hat, sondern sich auf weitere Teile der Gesellschaft auswirkt? Oder kann man erst dann von einer rechtsextremen Tat sprechen, wenn mit ihr das Ziel verfolgt wird, das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu überwinden? Für die Opferperspektive sind nicht der Grad der Organisierung in der „rechten Szene“ oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Gruppierung des Täters oder der Täterin ausschlaggebend für die Einordnung eines Vorfalls als „rechte Gewalt“. Entscheidend ist das Motiv für die Gewalttat. Dieses Herangehen entspricht den Vorgaben des Meldesystems für politisch motivierte Straftaten, das 2001 von der Innenministerkonferenz (IMK) beschlossen wurde (K. Wendel o. A.). Gewalttaten werden dann als „rechtsmotiviert“ eingeordnet, wenn angenommen werden kann, dass die Handlungen der TäterInnen durch rechtsextreme Ideologie bestimmt sind. Diese Ideologie zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass sie von der Ungleichheit von Menschengruppen ausgeht. Dabei muss kein geschlossenes rechtsextremes Weltbild zur Tat führen. Dennoch ist die Gewalt nicht willkürlich. Sie richtet sich gegen bestimmte Menschengruppen, die ideologisch abgewertet werden. Menschen werden aus rassistischen oder antisemitischen Motiven angegriffen. Rechtsmotivierte Gewalt trifft aber auch Menschen mit Behinderung, Obdachlose, politische GegnerInnen, Homosexuelle und Jugendliche, die alternativen oder nicht-rechten Jugendkulturen angehören. Von „rechter Gewalt“ oder „rechtsmotivierter Gewalt“ zu sprechen, ist allerdings nicht unproblematisch. Ganz davon abgesehen, dass die Formulierung „rechtsmotivierte Gewalt“ sehr sperrig ist und sich kaum jemand etwas darunter vorstellen kann, ist der Begriff theoretisch eingebettet in die Rechtsextremismusforschung. Sie hat sich in Deutschland relativ eigenständig und getrennt von anderen Fachgebieten (beispielsweise der Rassismusforschung) entwickelt. Insofern wird „rechte Gewalt“ häufig allein auf (organisierte) Neonazis bezogen, die wiederum als gesellschaftliches Randphänomen verstanden werden. Für die Analyse des Phänomens aber ist entscheidend, dass die Ideologiemomente, die zur Gewalt führen, gesellschaftlich sehr viel breiter verankert sind. Gruppen, die von rechtsmotivierter Gewalt betroffen sind, sind in der Regel auch von institutioneller Diskriminierung und alltäglicher Abwertung betroffen. Rechtsmotivierte Gewalt kann als „unerwünschte Zuspitzung und Radikalisierung von Einstellungen verstanden werden, die in der ,Mitte der Gesellschaft‘ verankert sind, und durchaus als akzeptable Elemente demokratischer Positionen gelten“ (D. John 2007: 306). Im englischsprachigen Raum verwendet man hingegen die Begriffe „hate crime“ oder „bias crime“. Die mit diesen Begriffen verbundene theoretische Tradition öffnet zwar einen erweiterten Blick auf Phänomene von Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt aufgrund bestimmter (äußerer) Merkmale und Vorurteile. Durch den Bezug auf Vorurteile und den emotionalen Zustand „Hass“ wird das Phänomen jedoch auf individualpsychologischer Ebene verhandelt und die gesellschaftliche Einbettung des Phänomens begrifflich ausgeblendet.
Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext
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Die große Mehrheit der KlientInnen, die von der Opferperspektive unterstützt werden, lassen sich grob in drei Gruppen einordnen: 1. Politische AktivistInnen und GegnerInnen der rechten Szene. Dazu gehören jugendliche „Antifas“, aber auch andere AktivistInnen, die sich gegen Neonazis und Rassismus positionieren, beispielsweise VertreterInnen von Gewerkschaft oder Kirche. 2. Angehörige alternativer Jugendkulturen und Jugendliche, die nicht in das enge neonazistische Weltbild passen. Dazu gehören Skater, Punks oder Jugendliche mit bunten Haaren oder Rastazöpfen. 3. Menschen, die aus rassistischen Gründen angegriffen werden. Dazu gehören Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund wie zum Beispiel ausländische Studierende, migrantische Gewerbetreibende oder Schwarze Deutsche. In Brandenburg sind diese drei Opfergruppen ungefähr gleich groß (vgl. Opferperspektive o.A. b). Nur vereinzelt werden durch die Opferperspektive Menschen beraten, die aufgrund ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung, ihres sozialen Status (zum Beispiel Wohnungslose) oder aus antisemitischen Gründen angegriffen werden. Dies mag mit Gründen zusammenhängen wie dem Vorhandensein anderer Beratungsstrukturen (z. B. in Bezug auf homophobe Gewalt), einem besonders hohen Dunkelfeld (Gewalt gegen Wohnungslose und Menschen mit Behinderung) oder der Tatsache, dass Menschen nicht aufgrund äußerer Merkmale einer abgewerteten Gruppe zugeordnet werden können. So zielt typischerweise eine antisemitische Straftat eher auf symbolträchtige Sachbeschädigungen (Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gedenksteine, Sachbeschädigungen und Anschläge auf erkennbar jüdische Einrichtungen), als auf direkte Gewalt gegen Einzelpersonen. Im Weiteren liegt der Fokus dieses Artikels auf der besonderen Situation der Menschen, die aus rassistischen Motiven angegriffen werden und auf den besonderen Anforderungen, die sich an die Beratung dieser Zielgruppe stellen. 2
Spezifische Dimensionen der Opfererfahrung
Opfer einer Straftat, insbesondere einer Körperverletzung zu werden, ist für die meisten Menschen ein einschneidendes, krisenbehaftetes Ereignis. Durch die Viktimisierung erleben die Betroffenen ihre eigene Machtlosigkeit. Sie sind dem Geschehen ausgeliefert. Das Selbst- und Weltverständnis ist erschüttert. Das eigene Sicherheitsgefühl und Vertrauen werden beschädigt, ebenso der Glaube daran, durch das eigene Handeln etwas bewirken zu können. Die Betroffenen erfahren eine massive Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit. Wie schwer die Folgen einer Gewalttat für die Betroffenen sind und wie lange Betroffene brauchen, um in ihr Leben zurückzufinden, ist sehr unterschiedlich und hängt nicht nur von der Schwere der Gewalttat ab. Opfer rechter Gewalt reagieren oft sehr in-
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Gesa Köbberling
tensiv, auch wenn sie, äußerlich betrachtet, nicht besonders schwer verletzt scheinen. Das bestätigen auch Studien, die die Auswirkung von Delikten mit und ohne diskriminierendem Hintergrund vergleichen (J. McDevitt u. a. 2001; G. Herek u. a. 2002). Was sind spezifische Dimensionen dieser Viktimisierung? Um die Bedeutung für die Betroffenen zu verstehen, darf sie nicht als punktuelles Ereignis, sondern muss sie als Prozess verstanden werden. Denn in die subjektive Erfahrung der Tat gehen vielfältige Aspekte ein: welche Bedeutung aus ihr spricht, ihr Kontext, die Lebenssituation der Betroffenen, die Reaktionen des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes auf den Angriff und die unmittelbaren Ereignisse vor und nach der Tat. Rechtsmotivierte Gewalt bezieht sich immer auf die Gruppe, der die TäterInnen das Opfer zurechnen. Die Betroffenen erleben, dass hinter der Tat die Abwertung ihrer Person steht. Das wiegt für die Betroffenen besonders schwer, wenn die Ablehnung auf unveränderlichen Merkmalen wie zum Beispiel der Haut- oder Haarfarbe beruht. Die Abwertung bestimmter Menschengruppen, die hinter der Gewalt steht, weist dabei über die einzelne Gewalttat hinaus. Die lange Tradition rassistischer Ideologien trägt nach N. Hall (2005: 68f.) und K. Craig-Henderson u. a. (2003) dazu bei, dass „hate crimes“ schwerer wiegen als andere Gewalterfahrungen. Dabei lassen sich Ideologien der Ungleichwertigkeit nicht nur unter rechten SchlägerInnen finden. Sie sind auch in Asylgesetzgebung und Abschiebepraxis eingeschrieben sowie in Denkweisen über „Ausländerkriminalität“ und „unüberwindbare kulturelle Differenz“. Vor diesem Hintergrund meinen die TäterInnen, gesellschaftliche Legitimation für ihr Handeln zu besitzen. Dass diese Denkweisen von breiten Teilen der Gesellschaft geteilt werden, begründet umgekehrt für die Betroffenen die Angst vor erneuter Viktimisierung. In der Regel trifft rechte Gewalt Menschen, die vielfältiger Diskriminierung unterworfen sind, und denen in der Gesellschaft subalterne, d. h. untergeordnete Positionen zugewiesen werden. Oft werden MigrantInnen mehrfach Opfer von Gewalt. Sehr oft haben sie schon zuvor eine Vielzahl von Abwertungen wie Beleidigungen und Herabwürdigungen erfahren.2 Vor dem Hintergrund sich wiederholender Abwertungserfahrungen wirkt die Gewalt besonders schwer. Hinzu kommt eine weitere Dimension rassistischer Gewalt: Sie bezieht sich auf die Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen. Damit richtet sich die durch die Gewalt transportierte Botschaft nicht nur an das angegriffene Individuum, sondern an die gesamte Gruppe, zu der es gezählt wird (N. Hall 2005: 68). Insofern wirkt sich die Gewalt auch auf die gesamte Gruppe aus („kollektive Viktimisierung“). Wie schwer eine Tat wiegt, hängt maßgeblich von den Erfahrungen ab, die nach der Tat gemacht werden. Mit welchen Reaktionen auf die Tat müssen die Betrof2
Vgl. Opferperspektive 2009.
Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext
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fenen umgehen? Welche Ressourcen stehen ihnen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zur Verfügung? Die Lebensbedingungen von ausländischen Studierenden, migrantischen Gewerbetreibenden, Schwarzen Deutschen, ArbeitsmigrantInnen und ihren Kindern und Enkeln, AsylbewerberInnen oder TouristInnen unterscheiden sich sehr voneinander. Die Bedingungen, die Viktimisierung zu verarbeiten, sind für viele Betroffene, die aus rassistischen Motiven angegriffen werden, unzureichend. Im Folgenden wird die Situation von AsylbewerberInnen als Beispiel besonders einschränkender Rahmenbedingungen vorgestellt. Mit unsicheren Aufenthaltstiteln befinden sich die Betroffenen in einer Lebenssituation, die durch allgemeine Unsicherheit geprägt ist. Die Unterbringung in oft abseits gelegenen Flüchtlingsunterkünften stellt eine besondere Stresssituation dar und befördert die soziale Isolation. Flüchtlinge unterliegen zudem der sogenannten Residenzpflicht, d. h. sie dürfen den Landkreis, in dem sie leben, nur mit besonderer Erlaubnis der Ausländerbehörde verlassen. Dadurch werden soziale Beziehungen zu Familie, FreundInnen und Bekannten außerhalb dieses Gebiets verhindert und das in der Regel dünne Unterstützungsnetz weiter beschnitten. Auch der Zugang zu professioneller Unterstützung ist durch die Residenzpflicht erschwert. Dazu kommt die finanziell prekäre Situation: Viele Flüchtlinge unterliegen einem Arbeitsverbot und beziehen Sozialleistungen, die unter dem Regelsatz für InländerInnen liegen. Diese Leistungen werden in vielen Fällen nicht als Bargeld, sondern in Form von Gutscheinen ausgezahlt. Regelungen wie diese stellen nicht nur ganz praktische Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen dar; sie befördern auch negative Bilder von Asylsuchenden. Die alltägliche Konfrontation mit negativen Stereotypen beinhaltet die Gefahr sekundärer Viktimisierungen. Alltägliche Formen von Diskriminierung und Rassismus entwickeln nach einer Gewalterfahrung für die Betroffenen häufig eine bedrohliche Dimension neuer Art. Gleichzeitig führen gesellschaftlich weit verbreitete Stereotype dazu, dass Opfer rassistischer Gewalt in vielen Fällen mit Schuldvorwürfen konfrontiert werden, und ihr Opferstatus angezweifelt wird. Im öffentlichen Diskurs wird der politische Hintergrund der Gewalttat gerne geleugnet. Bei den Strafverfolgungsbehörden fehlt in vielen Fällen die Sensibilität, Rassismus zu erkennen und zu benennen. Der Umgang mit der Polizei ist oft durch gegenseitige Vorurteile belastet. Menschen, die nicht in Deutschland sozialisiert wurden, fällt es schwer, die Abläufe eines Ermittlungs- und Strafverfahrens zu verstehen. Sprachliche Schwierigkeiten befördern Situationen, in denen das Gefühl des Ausgeliefertseins reaktiviert wird. Oft sind Betroffene auch besonders verletzlich aufgrund traumatischer Erfahrungen in ihrer Fluchtgeschichte oder durch migrationsbedingten Stress.
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Das Beratungsangebot
Das soziale Umfeld ist mit der Unterstützung der Betroffenen oft überfordert, insbesondere dann, wenn die Verletzten heftig auf eine Tat reagieren oder unzureichende Unterstützungssysteme zur Verfügung stehen. Dennoch greifen Opfer rassistischer Gewalt in der Regel kaum auf die Angebote der allgemeinen Opferhilfe zurück. Daher versucht die Opferperspektive, mit ihrem Angebot den spezifischen Bedürfnissen dieser Opfergruppe gerecht zu werden und dazu beizutragen, dass die negativen Folgen eines Angriffs für die Betroffenen abgemildert werden. Praktische Unterstützungsleistungen zielen darauf, die Position der Betroffenen zu stärken, das Gefühl des Ausgeliefertseins zu überwinden und Handlungsfähigkeit wieder zu gewinnen. Dazu gehören psycho-soziale Krisenintervention, praktische Unterstützungsleistungen wie die Vermittlung von DolmetscherInnen für den Besuch von ÄrztInnen oder die Unterstützung bei Umzügen; ebenso wie die Unterstützung im Ermittlungs- und Strafverfahren beispielsweise durch die Vermittlung von NebenklageanwältInnen sowie Beratung und Begleitung im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens. Bei Bedarf wird auch zu anderen Unterstützungssystemen vermittelt, beispielsweise zu PsychotherapeutInnen oder zu Beratungsangeboten in ausländerrechtlichen Fragen. Da die Art und Weise, wie rassistische Gewalt erfahren und verarbeitet wird, maßgeblich vom Kontext der Gewalt, den Reaktionen des Umfeldes und der Lebenssituation der Betroffenen abhängt, umfasst der Beratungsansatz auch diese Bereiche. Durch Gespräche, Diskussionen und allgemeine Informationen werden diejenigen über die Situation der Geschädigten informiert, die mit ihnen in direktem Kontakt stehen: das soziale Umfeld, Freundeskreise und Familie, Polizei und Gericht sowie MedienvertreterInnen, SozialarbeiterInnen und lokalpolitische AkteurInnen. Im lokalen Rahmen sollen Impulse gegeben werden, adäquat auf einen Angriff zu reagieren, d.h. Solidarisierungen mit den Geschädigten zu unterstützen und ein Problembewusstsein für die Fatalität von Schuldvorwürfen zu wecken. Wenn möglich werden stärkende Netzwerke angeregt und unterstützt, beispielsweise Flüchtlingsselbstorganisationen oder UnterstützerInnenkreise. Eng mit den Betroffenen abgesprochene fallbezogene Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel zum Gerichtsverfahren zielt darauf, den Sichtweisen der Betroffenen Geltung zu verschaffen sowie für das Problemfeld und die Situation der Betroffenen zu sensibilisieren. Die Dokumentation rechter Gewalt und überregionale Öffentlichkeitsarbeit sollen für die Situation der Betroffenen sensibilisieren und ein Problembewusstsein für Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt herstellen.
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Kritik an Konzepten interkultureller Kompetenz
Rund ein Drittel der Ratsuchenden, die von der Opferperspektive betreut werden, sind Menschen, die aus rassistischen Gründen angegriffen werden. Deshalb scheint es unmittelbar einleuchtend, dass sich die auf Opfer rechter Gewalt spe-
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zialisierte Opferhilfe dadurch auszeichnet, dass ihre MitarbeiterInnen in besonderem Maße ,interkulturell kompetent‘ sein müssen. „Interkulturelle Kompetenz“ ist in den letzten 15 Jahren zu einem Schlüsselbegriff in der Sozialen Arbeit geworden (P. Mecheril 2008: 15). Es ist wichtig und notwendig, dass sich Soziale Arbeit in einer Einwanderungsgesellschaft mit den Folgen der Migration und den daraus entstehenden neuen Formen von Heterogenität, Ausgrenzung und Benachteiligung beschäftigt und sich neuen Zielgruppen öffnet. In Hinblick auf eine interkulturelle Öffnung in diesem Sinne hat die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit noch einen langen Weg vor sich. Der Fokus auf die Kategorie „Kultur“, auf „interkulturelle Kompetenz“, verstanden als „Anerkennung kultureller Differenz“ durch Professionelle wird jedoch von verschiedenen TheoretikerInnen zu Recht kritisch besprochen. Im Folgenden wird zunächst auf diese Kritik am Umgang mit dem Konzept „Kultur“ eingegangen, um dann ein Modell zur Analyse interkultureller Situationen vorzustellen und auf die Beratung von Opfern rassistischer Gewalt zu beziehen. „Kultur“ ist zu einer wesentlichen Kategorie geworden, mit der Begegnungen von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen wahrgenommen und interpretiert werden, mit der soziale Realitäten, Konflikte und die Erfahrung von Fremdheit erklärt werden. „Kultur“ ist nach Paul Mecheril (2004: 376) zur zentralen „Differenzdimension“ geworden. Auch im professionellen sozialarbeiterischen oder pädagogischen Handeln werden Schwierigkeiten und Konflikte leicht auf „kulturelle Differenz“ zurückgeführt. Als Lösungsstrategie erscheint PraktikerInnen das Erlernen „interkultureller Kompetenz“ (A. Kalpaka 2004: 31f.). Diesen Vorstellungen liege jedoch in der Regel ein problematischer Begriff von Kultur zugrunde (P. Mecheril 2008; A. Kalpaka 2004). Eine „Tendenz zur Kulturalisierung“ sei unverkennbar (G. Auernheimer 2008: 35). Statt Kultur als in gesellschaftlichen Bedingungen eingebettete „soziale Praxis“ (P. Mecheril 2004: 23) und als umkämpftes Feld (ders. 2008: 19) zu verstehen, welches sich ständig verändere und zu dem sich Menschen aktiv verhalten, komme in vielen Konzepten „interkultureller Kompetenz“ die Vorstellung einer nach innen homogenen „Kultur“ zum Tragen, die mit Herkunft, Nation oder Ethnie verknüpft werde, wobei diese Kulturen jegliches Denken, Handeln und Fühlen der Menschen determiniere. Ein solcher Bezug auf die Differenzkategorie Kultur tendiert P. Mecheril zufolge dazu, jegliche wahrgenommenen Unterschiede zwischen MigrantInnen und NichtMigrantInnen als kulturell bedingt zu interpretieren. Diese Überbetonung der Dimension des Kulturellen führt dazu, dass andere „Differenzlinien“ wie ökonomische Dimensionen oder Geschlechterverhältnisse außer Acht gelassen werden. Problematisiert wird aber nicht nur, dass die Überbetonung der kulturellen Differenz zu einer Ausblendung anderer Dimensionen führt, sondern die Differenzlinie „Kultur“ selbst mit produziert. Der „affirmative Bezug auf kulturelle Differenz“ trägt P. Mecheril (2008: 21) zufolge zur Unterscheidung in „Wir“ und „Nicht-Wir“ anhand ethnischer und nationaler Linien bei. Die Trennung zwischen
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,kulturellen Gruppen‘ wird befördert und der Sonderstatus der ,kulturell Anderen‘ aufrecht erhalten: „Der kulturalistische Bezug auf kulturelle Differenz bewirkt eine Binnenhomogenisierung und das Herausstellen von Unterschieden auf der Ebene des Interkulturellen“ (P. Mecheril 2008: 20). Dies kann die Funktion erfüllen, die als ,naturgegeben‘ verstandene ,kulturelle Andersheit‘ als Legitimation für Degradierung und Exklusion zu nutzen (ders. 2004: 377). Dieser Bezug auf „kulturelle Differenz“ und daraus abgeleiteten Vorstellungen von „interkultureller Kompetenz“, die darauf zielt, sich Wissen über ‚fremde‘ Kulturen anzueignen und kulturelle Unterschiede anzuerkennen, hat auch für PraktikerInnen im professionellen Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund eine entlastende Funktion. Impliziert ist damit eine Konstellation, in der sich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Kompetenzen aneignen, um mit Minderheiten umzugehen. Die eigene dominante Position in dieser Konstellation wird dabei nicht reflektiert. Da der Fokus auf „Anerkennung kultureller Differenz“ nicht die Frage nach den Bedingungen dieser Differenz ermöglicht, stellt sich den PraktikerInnen auch nicht die Frage nach Veränderung der Bedingungen. Zur Veranschaulichung werden im Folgenden zwei Situationen aus der Beratungspraxis geschildert, in denen die Kategorie „kulturelle Differenz“ herangezogen wurde: In einem Telefonat weist eine Beraterin einen Kripobeamten darauf hin, dass eine DolmetscherIn für die Zeugenvernehmung bestellt werden müsse. Der Beamte berichtet daraufhin von seinen Erfahrungen mit AfrikanerInnen. Er wisse um ihre manchmal aufbrausende Art. Da er sich mit ihrer Kultur auseinandergesetzt habe, bleibe er inzwischen als Polizist gelassener. Obwohl der Vernehmungsbeamte dem Zeugen noch nicht begegnet ist, erwartet er aufgrund dessen Herkunft (Demokratische Republik Kongo) kulturelle Differenzen, die zu Problemen während der Vernehmung führen. Durch die kulturalistische Interpretation konfliktiver Erfahrungen, die der Polizeibeamte vermutlich in vergangenen Vernehmungen gemacht hat, bleiben andere Dimensionen, die in der problematischen Konstellation eine Rolle spielen und das Verhalten des Zeugen begründen können, unbeachtet: die für Opferzeugen belastende Vernehmungssituation, die möglicherweise besonders erschwert ist durch Sprachschwierigkeiten sowie durch schlechte Vorerfahrungen des Zeugen mit der Polizei. Schließlich bleibt durch die kulturalisierende Interpretation der Situation das eigene Verhalten des Polizeibeamten, das möglicherweise den Ärger des Zeugen hervorgerufen hat, unberücksichtigt. Ein weiteres Beispiel: Ein achtjähriger Junge aus einer libanesischen Familie wird angegriffen. Dem Berater gelingt es nicht, die Interessen des Jungen zu erfahren. „Ich weiß nicht“ antwortet der Junge auf entsprechende Fragen und schaut dabei immer wieder zum Vater und zu den älteren Geschwistern. Der Vater der Familie hingegen formuliert unterschiedliche Anliegen, die legitim und verständlich sind, aber nur sehr begrenzt mit dem Angriff zu tun haben. In der
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Fallbesprechung wird die Situation u. a. so interpretiert, dass man es hier mit einer typischen orientalischen Familienkonstellation zu tun habe. Der Vater bestimme, was gut für die Kinder sei, ein Konzept von autonomen Interessen der einzelnen Familienmitglieder gebe es nicht. Ob damit Teile der Wirklichkeit getroffen sind, muss offen bleiben. Doch geht es hier nicht eher um die Frage nach dem kindlichen Entwicklungsstand denn nach der Kultur? Zu bezweifeln ist, ob sich ein achtjähriges Kind einer deutschen Familie anders verhalten und unabhängig von den Äußerungen seiner Eltern einem fremden Berater gegenüber autonom seine Interessen artikuliert hätte. 5
Reflexion der Mehrschichtigkeit „interkultureller Situationen“
So notwendig die Kritik an verkürzten Konzepten von „interkultureller Kompetenz“ ist, kann die Konsequenz jedoch nicht sein, Unterschiede zu negieren. Herkunft ist ein wesentliches Strukturmoment, welches soziale Verhältnisse und ihre subjektive Deutung strukturiert. Da „Kultur“ in den letzten Jahren zu einem dominanten Muster für die Deutung von Konflikten und zwischenmenschlichen Beziehungen geworden ist, ist es auch im Alltagswissen der BeraterInnen verankert und strukturiert ihre Wahrnehmung. Das Gleiche gilt für die Ratsuchenden. Die Gefahr ist deshalb groß, dass die Gründe für ein gescheitertes Beratungsverhältnis in der Herkunft bzw. der „Kultur“ der KlientInnen gesucht werden. Menschen, die bei der Opferperspektive Hilfe suchen, sind aufgrund ihrer (vermeintlichen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verletzt worden. Die Bedeutung dieser Gruppenzugehörigkeit, die durch den Angriff gewaltförmig markierte Differenz, spielt eine wesentliche Rolle in der Art und Weise, wie die Gewalt erfahren und verarbeitet wird. Daher ist davon auszugehen, dass die Gruppenzugehörigkeit, also die Wahrnehmung von Differenz im Beratungsprozess eine entscheidende Rolle spielt. Es ist also notwendig, für die Beratung ein reflexives Verhältnis zu dieser Kategorie aufzubauen, um weder in die Falle zu treten, mit der Rede von kulturellen Unterschieden die Unterschiede zu vergrößern und unüberwindbar zu machen, noch Differenzen zu leugnen. Georg Auernheimer hat ein Modell entwickelt, welches hilft, verschiedene Dimensionen dieser Erfahrung von „Fremdheit“ zu reflektieren, die mit der Kategorie „Kultur“ erklärt wird. Er stellt vier Ebenen interkultureller Kommunikation vor, die analytisch zu trennen sind, praktisch miteinander eng zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen (G. Auernheimer 2008: 45): 1. 2. 3. 4.
Machtasymmetrien Kollektiverfahrungen Fremdbilder differente Kulturmuster oder Scripts.
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Machtasymmetrien
Für G. Auernheimer steht die Frage nach der Verteilung von Macht an erster Stelle, um interkulturelle Situationen zu verstehen. Macht ist für ihn die „Überlegenheit hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten (…), der Chance, die Regeln zu setzen“ (G. Auernheimer 2008: 47). Macht beinhaltet größere gesellschaftliche Teilhabe und größere Gestaltungsmöglichkeiten. Sie beruht auf institutionellem Status, ökonomischen Möglichkeiten, sozialen Beziehungen und Zugang zu Ressourcen und Informationen. Interkulturelle Beziehungen sind fast durchgängig durch eine ungleiche Verteilung von Macht gekennzeichnet. Menschen, die von rassistischer Gewalt betroffen sind, nehmen in der Regel gesellschaftlich marginalisierte bzw. subalterne Positionen ein. Ihnen ist der Zugang zu hegemonialen Teilen der Gesellschaft verschlossen und sie besitzen nur geringe Mittel, sich öffentlich bemerkbar zu machen. Die Situation von AsylbewerberInnen ist durch Beschneidung von Handlungs- und Verfügungsmöglichkeiten und vielfältige rechtliche Einschränkungen und Sonderregelungen, wie der Residenzpflicht oder dem Verbot, Lohnarbeit nachzugehen, geprägt. Ihre geringe Macht durchzieht (fast) alle Lebensbereiche und prägt ihre Erfahrungen während und nach der Viktimisierung. Im Sprechen von „kultureller Differenz“ wird diese Dimension der gesellschaftlichen Position unsichtbar gehalten. Beispielsweise wird rassistische Gewalt immer wieder mit „Fremdenangst“ erklärt. Diese Erklärung suggeriert, Rassismus entstünde aus der Begegnung sich kulturell fremder Gruppen. Ob Gruppen als fremd wahrgenommen und abgewertet werden, hängt jedoch eng mit ihrem Status zusammen: Ein Schwede wird als weniger ,kulturell fremd‘ empfunden und ist weniger mit Diskriminierung und Abwertung konfrontiert als eine Polin, obwohl beide gleichermaßen ,AusländerInnen‘ und ,EuropäerInnen‘ sind. Diese Machtasymmetrien werden von der mächtigeren Gruppe meist vergessen oder nicht wahrgenommen. In den Köpfen derer, die der unterlegenen Gruppe angehören, sind sie hingegen häufig präsent. Die beschriebenen Dimensionen von Macht bestimmen nicht nur den Kontext der Beratung. Auch zwischen BeraterInnen und KlientInnen bestehen Unterschiede hinsichtlich des gesellschaftlichen Status, Bildungshintergrundes, der finanziellen Ressourcen, etc. Ebenso ist im Beratungssetting selbst eine unterschiedliche Verteilung von Macht angelegt: Das Setting wird von den BeraterInnen gesetzt. Sie übernehmen eine gestaltende Rolle im Gespräch und Beratungsverlauf. Machtasymmetrien entstehen auch durch die unterschiedlichen Fähigkeiten, sich sprachlich auszudrücken. Als BeraterIn – im Gegensatz zu den Ratsuchenden, die dies durchaus wahrnehmen – ist man versucht, diese Unterschiede zu ignorieren und ihre Bedeutung für den Beratungsprozess zu unterschätzen.
Rechte Gewalt – Beratung im interkulturellen Kontext
5.2
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Kollektiverfahrungen
Sehr eng verbunden mit den Machtasymmetrien wirken als weitere Dimension interkultureller Kommunikation Kollektiverfahrungen. Auch sie sind vor allem Angehörigen der unterlegenen Gruppe gegenwärtig. Gemeint sind Erfahrungen, die eine Gruppe miteinander teilen, die über die individuelle Erfahrung hinaus reichen und weiter getragen werden. Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten treten sich meist nicht einfach als Individuen gegenüber. In ihre Kommunikation geht die Geschichte der Beziehungen zwischen diesen Gruppen ein. Beispielsweise spielt die Geschichte des Zweiten Weltkrieges bei der Begegnung zwischen Deutschen und PolInnen eine Rolle, selbst wenn niemand von ihnen den Krieg erlebt, also direkte individuelle Erfahrungen damit gemacht hat. Der Holocaust beeinflusst die Kommunikation und die Erwartungen, die Angehörige verschiedener Gruppen zueinander haben, ebenso wie Kolonialismus und Sklaverei oder die Ausbeutung der ,Dritten Welt‘. Oben wurde bereits beschrieben, wie die lange Tradition rassistischer Ideologien dazu beiträgt, dass rassistisch motivierte Gewalt für Betroffene besonders schwer wiegt. Für den Verlauf einer Begegnung zwischen Minderheitsangehörigen und RepräsentantInnen der Mehrheitsgesellschaft sind nicht nur die direkte Situation und individuelle Erfahrungen von Bedeutung, sondern auch Erzählungen und Berichte von anderen Angehörigen der eigenen Community (G. Auernheimer 2008: 50). So führen beispielsweise Berichte über rassistische Polizeigewalt oder diskriminierende PolizeibeamtInnen dazu, dass nicht nur die direkt Betroffenen Misstrauen gegenüber der Polizei entwickeln, sondern auch Angehörige der Community, die wissen, dass es sie hätte ebenso treffen können. Wissen über Diskriminierung wird innerhalb einer Community weiter getragen und Teil des gemeinsamen Erfahrungsschatzes. Diskriminierte Gruppen entwickeln durch diese Kollektiverfahrungen oft ein generelles Misstrauen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft oder bestimmten Institutionen gegenüber. Dieses – aus Sicht der diskriminierten Gruppe nicht unvernünftige – Misstrauen kann den Aufbau eines vertrauensvollen Beratungsverhältnisses mit BeraterInnen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, sehr erschweren, während BeraterInnen ein Vertrauensvorsprung gegeben wird, von denen vermutet wird, dass auch sie Rassismuserfahrungen gemacht haben. Kollektive Erfahrungen rassistischer Diskriminierung begründen eine besondere Verletzlichkeit oder Sensibilität bestimmten Themen gegenüber. Problematische Situationen werden leicht mit Rassismus erklärt, auch wenn andere Deutungen der Situation denkbar wären. Betroffenen wird deshalb häufig vorgeworfen, „zu empfindlich“ zu sein. Das Aufeinandertreffen von einer besonderen Sensibilität auf Seiten der Angehörigen von Minderheiten vor dem Hintergrund eines kollektiven Wissens über Rassismus und aufgrund vielfacher eigener Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen und auf der anderen Seite der Tendenz von Ange-
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hörigen der Mehrheitsgesellschaft, kollektive (Diskriminierungs-)Erfahrungen und Machtasymmetrien nicht wahrzunehmen, ist Grund für viele Irritationen und Missverständnisse im Rahmen interkultureller Kommunikation. 5.3
Fremdbilder
Eine weitere Dimension, die in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gruppen eine Rolle spielt, sind gegenseitige Bilder über den Anderen. Bilder über den Anderen, oft negative Stereotype, halten sich hartnäckig. Sie finden sich in gesellschaftlichen Diskursen, lenken die eigenen Wahrnehmungen und Erwartungen an Angehörige der anderen Gruppe und sind in der Regel emotional aufgeladen. Diese Bilder steuern, was wir wahrnehmen, wie wir Situationen deuten, was wir von unserem Gegenüber erwarten. Vorurteile und Stereotype hängen wiederum mit den Dimensionen der Macht und der kollektiven Erfahrungen zusammen. Viele Stereotype und Vorurteile gegenüber Schwarzen haben ihren Ursprung im Kolonialismus und dienen der Legitimation ihrer niedrigeren sozialen Stellung. Auch BeraterInnen sind nicht frei von Stereotypen, die das Blickfeld derart einengen können, dass sie nicht mehr in der Lage sind professionell zu beraten. So gilt bspw. das Kopftuch heutzutage als Symbol für Fremdheit schlechthin und ruft eine Vielzahl von Assoziationen und Vorurteilen hervor. Wenn eine Frau mit Kopftuch in die Beratung kommt, kann es sein, dass bei dem Beratenden diese Bilder so bestimmend werden, dass es schwierig wird, ein unbelastetes Gespräch zu führen. Damit Fremdbilder nicht unkontrolliert die Beratung beeinflussen, ist es notwendig, ein reflexives Verhältnis zu ihnen zu entwickeln. 5.4
Differente Kulturmuster oder „Scripts“
Mit differenten Kulturmustern fasst Georg Auernheimer (2008) bestimmte Deutungsmuster, Normen, Werte, Sitten und nonverbale Ausdrucksformen zusammen, bestimmte Umgangsformen und Handlungen, die sich je nach Kontext, zu unterschiedlichen historischen Zeiten, in sich verändernden Bedingungen unterscheiden und verändern können. Gemeint ist die Art und Weise, wie wir scheinbar natürlich, ohne nachzudenken, auf eine Situation reagieren, sie deuten oder Schlussfolgerungen ziehen, die Art und Weise, wie wir zusammenleben und unsere sozialen Beziehungen gestalten. Gibt man sich bei einer Begrüßung die Hand, küsst man sich oder klopft sich auf den Rücken? Wie groß ist der Abstand zu anderen Menschen, den man als ,normal‘ empfindet, und wann hat man das Gefühl, dass jemand einem zu nahe rückt? Im Sprechen über „kulturelle Differenz“ wird diese Dimension interkultureller Kommunikation oft überbewertet. P. Mecheril (2008: 20) führt an, dass im Alltag
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regelmäßig Situationen gemeistert werden, in denen unterschiedliche „kulturelle Scripts“ aufeinander treffen, ohne dass dies als problematische Situation kultureller Differenz wahrgenommen werde. G. Auernheimer (2008: 57) weist darauf hin, dass Situationen, in denen kulturelle Differenzen zu Missverständnissen führen, dann leicht aufgeklärt oder mit Humor genommen werden können, wenn die Beziehung zwischen den Beteiligten nicht von vornherein asymmetrisch ist. Trotz der Tendenz, kulturelle Differenzen zu überschätzen, dürfen die Bedenken gegenüber kulturalisierenden Sichtweisen nicht dazu führen, blind für Differenzen zu werden (G. Auernheimer 2008: 57). Auch eine Verleugnung kultureller Differenzen kann für BeraterInnen eine entlastende Funktion haben, nicht die eigenen Sichtweisen und inneren Konzepte in Frage stellen zu müssen. Es ist immer wieder eine Herausforderung, mit dem Wissen umzugehen, dass die eigenen inneren Konzepte nicht universell sind und es unterschiedlich sein kann, wie über Verletzung und Gefühle gesprochen wird, was als hilfreich empfunden wird, wie Körper und Geist, Emotion und Ratio gedacht werden, welche Vorstellung man von Krankheit hat, was man dagegen tun kann und welche Erwartungen an das soziale Umfeld bestehen.
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„Kultur“ in der Beratung von Opfern rassistischer Gewalt
Ein bewusster Umgang mit der Wahrnehmung von kultureller Differenz ist in der Beratung von Menschen, die aus rassistischen Gründen angegriffen werden, besonders wichtig. Der Anlass der Gewalt ist die Gruppenzugehörigkeit der Betroffenen, die Tatsache, dass sie im Weltbild der Angreifer als „Ausländer“, als „NichtDeutsche“ identifiziert werden. Vor diesem Hintergrund kann ein unreflektierter Umgang mit den Differenzkategorien „Kultur“ und „Herkunft“ dazu führen, dass BeraterInnen sekundäre Viktimisierungen auslösen. Kultursensibilität von Beratung bzw. der sensibilisierte Umgang mit der Differenzkategorie „Kultur“ darf sich, G. Auernheimer folgend, nicht nur auf Aneignung von Wissen beschränken, sondern betrifft auch Haltungen und Praxen der BeraterInnen sowie die institutionellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen des Beratungsangebots, die jeweils auf die Dimensionen Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und kulturelle Differenzen zu beziehen sind (G. Auernheimer 2008: 57). 6.1
Wissen
Notwendig für ein reflexives Verhältnis zu interkulturellen Dimensionen in der Beratung von Opfern rechter Gewalt ist Wissen über die Machtverhältnisse, die ihr Leben strukturieren. Wissen über die Lebenswelten der Ratsuchenden beinhaltet z. B. grundlegende Kenntnisse über Asylrecht und Sonderregelungen für AsylbewerberInnen wie die Residenzpflicht oder das Arbeitsverbot sowie über
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strukturelle Formen von Diskriminierung zum Beispiel auf dem Wohnungsmarkt. Wissen über diese strukturellen Dimensionen ist notwendig, weil davon abhängt, welche Möglichkeiten die Ratsuchenden zur Verarbeitung der Gewalterfahrung überhaupt haben und welche Unterstützung sie brauchen. Ebenso sind Kenntnisse über rechtsextreme Strukturen auf lokaler Ebene und rechtsextreme Ideologie notwendig, um die Erfahrung der Betroffenen verstehen und Handlungsmöglichkeiten ausloten zu können. Wissen über Rassismus und seine Wirkung auf Betroffene sowie das Zusammenwirken von alltäglichen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, diskriminierenden Strukturen und Gewalt ist eine Voraussetzung, um die Problemlagen der Ratsuchenden zu verstehen. Relevant für die Beratung ist auch ein Verständnis von typischen Prozessen und Reaktionen auf (kollektive) Abwertungserfahrungen wie das generalisierte Misstrauen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber und der Rückzug in die eigene Community sowie Selbstethnisierungstendenzen. Kenntnisse über rassistische Bilder, die im Kolonialismus ihren Ursprung haben und bis heute wirken, helfen, Berichte von Betroffenen über demonstrativ vor ihnen geschälte Bananen oder ihnen aus einer Gruppe junger Männer entgegenschallende Affengeräusche einzuordnen. Ein fehlendes Wissen und reflexives Verhältnis zu Stereotypen und ethnisierten Fremdbildern kann sich darin äußern, dass AsylbewerberInnen nach einer rechtsmotivierten Tat in der Absicht, sie zu „empowern“ nahe gelegt wird, eine afrikanische Trommelgruppe zu gründen. Dabei bleibt außer Acht, ob die Betroffenen mit Musik und insbesondere dieser Musik überhaupt etwas anfangen können und welche Bilder mit der Reduzierung von AfrikanerInnen auf Trommelmusik und Tanz reproduziert werden. 6.2
Haltungen
Aus dem Wissen um Machtasymmetrien ergibt sich die notwendige reflexive Haltung zur eigenen Position in der Gesellschaft sowie im Beratungsprozess, die Bereitschaft, eigene Privilegien und Hierarchien wahrzunehmen, sowie die eigenen kulturell geprägten Haltungen, Denkweisen und inneren Werte zu reflektieren. Um in der alltäglichen Arbeit vereinfachenden Erklärungsmustern kritisch gegenüberzustehen, Pauschalisierungen aufzudecken und Zuschreibungen aufzubrechen, bedarf es einer Kultur der Reflexion und des kollegialen Austauschs, die es ermöglicht, immer wieder alternativen Interpretationen einer Situation Raum zu geben. P. Mecheril (2008: 15) verweist mit seinem paradoxen Begriff „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ auf Anforderung in interkulturellen Situationen, mit NichtWissen produktiv umzugehen. Trotz Wissen über relevante Strukturen der Ungleichverteilung von Macht, über kollektive Erfahrungen, Fremdbilder und die Kulturgebundenheit von Gefühlen können wir nicht wissen, wie genau die ver-
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schiedenen Dimensionen in der subjektiven Sicht der Ratsuchenden zusammen spielen, wie sie ihre Situation interpretieren, welche Handlungsmöglichkeiten sie für sich sehen. Wir müssen bereit sein, uns auf die Perspektiven der Betroffenen einzulassen, von ihren Rassismuserfahrungen zu lernen und eine entsprechende Sensibilität zu entwickeln und auch bei befremdlich erscheinenden Reaktionen der Betroffenen eine fragende Haltung zu behalten. Eine weitere Herausforderung in der Beratung von Opfern rassistischer Gewalt ist es, ein Gesprächsklima herzustellen, in dem trotz der Machtasymmetrien ein Austausch auf gleicher Augenhöhe möglich ist. Nur so wird es dem Ratsuchenden ermöglicht, Vertrauen aufzubauen. Dazu gehört auch, ein paternalistisches, das heißt überfürsorgliches, dominantes und kontrollierendes Verhalten zu vermeiden. 6.3
Praxis, die auf „Empowerment“ zielt
Dem Wissen um die Bedeutung von Machtasymmetrien kann praktisch Rechnung getragen werden, indem versucht wird, strukturelle Ungleichheiten auszugleichen und Einschränkungen abzubauen. Zugangsbarrieren für die Beratung werden durch einen aufsuchenden Ansatz herabgesetzt, bei dem sich die Ratsuchenden den Ort des Beratungsgesprächs wählen können.3 Strukturelle Behinderungen des Zugangs zu Unterstützungsleistungen sollen praktisch abgebaut werden: Die Überlegung, wie die Fahrt zum Gespräch mit einer AnwältIn oder zur Therapie finanziert werden kann, gehört ebenso zu den Aufgaben der BeraterInnen, wie die Unterstützung der KlientInnen gegenüber Sozialamt oder Ausländerbehörde, wenn Ratsuchende beispielsweise aufgrund von Residenzpflicht Schwierigkeiten haben, TherapeutInnen oder AnwältInnen außerhalb ihrer Landkreisgrenze aufzusuchen. Machtasymmetrien im Beratungssetting können durch die Arbeit mit DolmetscherInnen reduziert werden, eine einfache Sprache und ein wertschätzender Umgang mit KlientInnen kann ein weiterer wichtiger Aspekt sein, Asymmetrien im Beratungsverhältnis abzubauen. Diversität in der Teamzusammensetzung kann dazu beitragen, Schwellen herabzusetzen und für die Ratsuchenden stärkend wirken, indem die klassische Rollenverteilung aufgebrochen wird, in der auf der einen Seite Angehörige der Mehrheitsgesellschaft als Professionelle in einer starken Position sind, während Angehörige von gesellschaftlichen Minderheiten Rat suchen und damit in einer schwächeren Position sind. Paul Mecheril (2004: 380) schlägt vor, „Handlungsfähigkeit“, bzw. „Empowerment“ und „Teilhabe“ als Bezugspunkte der Beratung in der Migrationsgesellschaft zu wählen. Damit sei der Fokus des Beratungshandelns auf die Bedingungen gerichtet, die die Handlungsmöglichkeiten der Ratsuchenden einschränken. 3
Das Beratungssetting in einem klassisch eingerichteten Beratungszimmer wirkt auf manche Ratsuchenden eher abschreckend.
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Die Verbindung individueller Beratung direkt Betroffener mit lokaler Intervention und Öffentlichkeitsarbeit, nimmt dies praktisch auf. Durch Öffentlichkeitsarbeit kann den Betroffenen rassistischer Gewalt öffentliches Gehör verschafft werden, ihre Perspektiven, die sonst kaum wahrgenommen werden, können sichtbar werden. Im lokalen Rahmen werden Betroffene praktisch darin unterstützt, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung ihre Interessen zu vertreten, sich Teilhabemöglichkeiten zu erschließen. Das praktische Eintreten für die Perspektive der Betroffenen auch in seiner politischen Dimension zeigt den Ratsuchenden, dass die Strukturen ungleicher Verteilung von Macht als wesentliche Problemdimension erkannt werden. Diese parteiliche Positionierung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass zwischen BeraterInnen und Ratsuchenden, die aufgrund von Kollektiverfahrungen professionellen Beratungsangeboten oder BeraterInnen, die der Mehrheitsgesellschaft angehören, skeptisch gegenüber stehen mögen, ein vertrauensvolles Beratungsverhältnis entstehen kann. In einem solchen Verhältnis wird es möglich, problematische Situationen, in denen Konzepte von Kultur und Differenz eine Rolle spielen, gemeinsam zu analysieren und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten.
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Vorurteilsmotivierte Hassgewalt und diversityorientierte Beratung Bastian Finke
Vorurteilsmotivierte Hassgewalt beschreibt nach internationalen Definitionen „Gewaltkriminalität, die gegen eine Person oder gegen eine Sache allein oder vorwiegend wegen der Rasse, der Religion, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der politischen oder sexuellen Orientierung, des Alters oder der geistigen oder körperlichen Behinderung dieser Person oder des Eigentümers oder Besitzers dieser Sache gerichtet ist“ (DFK/BMJ 2003). Menschen werden aufgrund von bestehenden Vorurteilen gegenüber solchen Merkmalen Opfer von Gewaltkriminalität – auch dann, wenn nur angenommen wird, sie verfügten über ein solches Merkmal. Es ist dieses Element des Vorurteilsmotivs, das Hassgewalt von gängigen Verbrechen unterscheidet. Gewaltstraftaten aufgrund von Vorurteilen, so genannte ‚hate crimes‘, zielen auf einen Aspekt der persönlichen Identität, der unwandelbar oder elementar zum persönlichen Bewusstsein des eigenen Selbst gehört. Diese Merkmale sind mehr oder weniger offenkundig. Ziele von hate crimes können eine oder mehrere Personen oder auch das Eigentum einer oder mehrerer Personen sein, auch das Eigentum einer Gruppe, die ein besonderes Merkmal teilt. Der Täter wählt sein Opfer aufgrund dessen Zugehörigkeit oftmals willkürlich aus. Entscheidend ist, was das Opfer repräsentiert. Das zeigt, dass Mitglieder solcher Gruppen mit jedem anderen auswechselbar sind. Die Gewalttat enthält damit einen Botschaftscharakter. Die Botschaft zielt nicht nur auf das unmittelbar betroffene Opfer, sondern ebenso auf die größere Gemeinschaft, der das Opfer angehört. Intendiert ist Einschüchterung. Solche Verbrechen vermitteln sowohl dem Opfer als auch dessen Gruppe, dass sie nicht willkommen sind, dass sie kein Recht auf volle Partizipation am Leben in der Gesellschaft haben sollen. Weil die Täter das Gleichstellungsideal von Mitgliedern der Gesellschaft verletzen, gefährden sie demokratische Gesellschaften und spalten Gemeinschaften (OSCE/ ODIHR 2008: 19). Vorurteilsmotivierte Gewalttaten bedrohen das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft. Angriffe auf Menschen wegen bestimmter Merkmale richten sich gegen die gesellschaftliche Vielfalt, sind Angriffe auf die Menschenwürde als Gemeinschaftswert (DFK/BMJ 2003). Aufgrund dieser Überlegungen hatten sich Bund und Länder in Deutschland bereits im Jahr 2001 darauf verständigt, den bisherigen kriminalpolizeilichen Meldedienst „Staatsschutz“ umzugestalten. Ziel ist es, mehr Informationen über
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vorurteilsmotivierte Taten und Täter zu gewinnen. Zentrales Erfassungskriterium ist weiterhin die „politisch motivierte Tat“. Als politisch motiviert gelten Taten, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit oder Rasse richten. Darüber hinaus gelten die Kriterien: Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuelle Orientierung, Behinderung, äußeres Erscheinungsbild und gesellschaftlicher Status (hib 2001). Weitere Erkenntnisse sollen helfen, effektive Strategien gegen diese demokratiebedrohende Gewalt zu entwickeln. Wie Hassgewalt in den USA, Europa und Deutschland diskutiert und wie ihr auf rechtlicher Ebene begegnet wird, wird Gegenstand des ersten Teils dieses Aufsatzes sein (1). Vorurteilsmotivierte Gewalt auf gesellschaftlicher Ebene anzugehen, verlangt umfassende Konzepte und gezielte Programme. Die Europäische Union und andere europäische Institutionen haben sich dieses Themas in den vergangenen 10 Jahren verstärkt angenommen, da auch die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft davon abhängt, wie erfolgreich Vorurteile in Europa bekämpft werden. Diesem Bemühen folgen auch „Diversity-Konzepte“, die sich aus Ansätzen zur Überwindung von Diskriminierung, Vorurteilen und vorurteilsmotivierter Gewalt entwickelt haben und zielgruppen- und ressourcenorientierte Arbeit leisten. Ungleichheit, vor allem ungleiche Voraussetzungen, die gesellschaftlichen Teilgruppen eine faire Mitwirkung an und Gestaltung von Gesellschaft verwehren, sollen in einem langfristigen Prozess überwunden werden. Neben der Sanktion und Aufklärungsarbeit kommt in diesem Prozess vor allem auch der Opferhilfearbeit große Bedeutung zu. Professionelle Hilfestellungen für Betroffene von Gewalterfahrungen verfolgen in der Regel das Ziel, Menschen darin zu bestärken, dass sie ihren Selbstwert und ihre Handlungsautonomie wiedererlangen. Dies vor dem Hintergrund, dass während des Verbrechens über sie „verfügt“, ihnen sämtliche Autonomie „entrissen“ wurde.1 In der Unterstützung von zielgruppen- und ressourcenorientierten Einrichtungen bekunden Gesellschaften ihre Aufmerksamkeit und ihre Solidarität mit Betroffenengruppen, die Opfer von vorurteilsmotivierter Hassgewalt geworden sind. Der Ausdruck dieser Anteilnahme stärkt das Gemeinschaftsgefühl und verhindert, dass sich Gruppen ausgeschlossen fühlen. Der Diversity-Ansatz in der Beratungsarbeit wird daher Gegenstand des zweiten Teils dieses Aufsatzes sein (2). Am Beispiel von MANEO, dem schwulen Anti-Gewalt-Projekt in Berlin, das sich seit zwanzig Jahren für Toleranz, Akzeptanz und Vielfalt, gegen Homophobie und Hassgewalt sowie für schwule und bisexuelle Jugendliche und Erwachsene einsetzt, wird dieser Ansatz vertiefend dargestellt. Es wird herausgearbeitet, dass für eine Begleitung des Genesungsprozesses von Betroffenen nicht nur Wissen 1
Betroffene bekunden solche Ohnmachtserfahrungen (= ohne Macht sein) immer wieder eindrücklich.
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um den Verlauf des traumatischen Erlebnisses relevant ist, sondern neben individuellen Informationen zum Verlauf der bisherigen Biographie und Persönlichkeitsentwicklung sowie zu Erfahrungen hinsichtlich stabilisierender sozialer Netze und über Fähigkeiten im Umgang mit Gewalt und Konflikten, darüber hinaus auch Kenntnisse über die gesellschaftliche Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte sowie um die Situation der Betroffenengruppe in anderen Kulturen und Ländern.
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Vorurteilsmotivierte Hassgewalt
1.1
Hassgewalt in den USA
Der Begriff „hate crimes“ (Hassgewalt) stammt ursprünglich aus den USA und beschreibt heute meist strafrechtlich relevante Handlungen. Er hat sich in der geschichtlichen Tradition eines Rechtsstaates entwickelt, der auf Einwanderung, Besiedelung, Vertreibung der Ureinwohner und Sklaverei gründete. Menschen aus allen Kontinenten besiedelten den nordamerikanischen Kontinent. Marc Coester (2008) hat in seinem Buch „Hate Crimes“ die geschichtliche Entwicklung der hate crime-Gesetze in den USA nachgezeichnet. Mit den „Bill of Rights“, jenen zehn Verfassungszusätzen von 1791, waren erstmals rechtliche Maßstäbe gegen die Unterdrückung der farbigen Bevölkerung in den USA gesetzt worden. Diese wurden jedoch von Gesetzen einzelner US-Staaten unterlaufen, die Segregation und Ausgrenzung beförderten. Während der Phase der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen 1955 und 1968 wurden dann neue, weiterreichende Bürgerrechtsgesetze verabschiedet. Weil noch immer klare gesetzliche Vorschriften fehlten, um konsequent gegen diskriminierendes und gewalttätiges Verhalten bundesweit durchzugreifen, führte dann 1978 Kalifornien als erster Bundesstaat die erste hate crime-Gesetzgebung für sein eigenes Land ein.2 Amerikanische Bürgerrechtsorganisationen griffen diesen Gesetzgebungsprozess auf und entwickelten einen Modell-Gesetzentwurf. Die Vorlage hatte durchschlagenden Erfolg. Fast alle Bundesstaaten übernahmen in den Folgejahren mindestens einen Teilaspekt aus der Vorlage. Aufgrund geregelter rechtlicher Zuständigkeiten und Kompetenzen kann in den USA der Bund nur in Ausnahmen einzelstaatliche Zuständigkeiten an sich ziehen. Dies betrifft auch den Bereich vorurteilsmotivierter Hassgewalt. Um Zuständigkeiten war in der Vergangenheit immer wieder heftig gestritten worden. Der Bund öffnete sich über die Einfüh2
Das Gesetz sieht eine Strafverschärfung bei Verbrechen vor, die aufgrund bestimmter Merkmale des Opfers begangen wurden. Man orientierte sich weiter an den Merkmalen: Rasse, Hautfarbe, Religion, Nationalität oder Herkunftsland. Ein prägnanter Name war zwar noch nicht geboren; „trotzdem kann ‚8 Penal Code of Carlifornia 190.2‘ als erstes wirkliches hate crime Gesetz betrachtet werden“ (M. Coester 2008: 84).
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rung des „Hate Crime Statistics Act“ 1990 als Bundesgesetz eine Tür.3 Ein weiteres Beispiel ist der 1994 durchgesetzte „Hate Crimes Sentencing Enhancement Act“, der eine Straferhöhung von mindestens drei Stufen vorsieht, wenn beispielsweise in Einrichtungen, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen, ein hate crime nachgewiesen werden kann. Weil es zwischen hate crime und Hassreden (hate speach) in der US-amerikanischen Gesellschaft einen Grundkonflikt gibt, darf dieser hier nicht unerwähnt bleiben. Denn gerade mit dem Problem der hate speach rücken Fragen nach der Einstellung und Motivation eines Straftäters in den Mittelpunkt. Im amerikanischen Recht ist jedoch festgelegt, „dass das Motiv nicht berücksichtigt werden darf“ (M. Coester 2008: 102). Die Motivation fällt demzufolge allgemein unter den Schutz der freien Meinungsäußerung. Infolge dessen haben sich US-amerikanische Gerichte viele Male in den Einzelstaaten mit der Frage des Motivs auseinandergesetzt und zu verdeutlichen versucht, dass Gesetze gegen hate crimes nicht auf die Meinung oder Gedanken des Täters, sondern nur auf das konkrete Verhalten zielen dürfen. Erst in den 1990er Jahren stellte das Oberste US-amerikanische Gericht, der ‚Supreme Court‘, mit einer Grundsatzentscheidung mehr Rechtssicherheit im Umgang mit den hate crime-Gesetzen vor allem in Bezug auf gewalttätige, strafrechtlich relevante Handlungen her (M. Coester 2008: 111f.). In der Diskussion um Klassifizierungsmerkmale, nach denen in den USA unter den ‚Hate Crime Statistics Act‘ vorurteilsmotivierte Straftaten gesammelt werden, wird fortlaufend diskutiert, auf wie viele Merkmale sich diese erstrecken sollen. Beispielsweise könnten hate crimes gegen Menschen stattfinden, weil sie reich sind oder lange Haare tragen oder Rockmusiker sind, usw. (U.S. Department of Justice 1999). Auch der unzeitmäßige Begriff ‚Rasse‘ wird immer wieder diskutiert. Die UNESCO hatte bereits in einem Papier von 1952 darauf hingewiesen, „das Konzept der Rasse vollständig aufzugeben und von Ethnien zu sprechen, da hierbei die Kennzeichen der Nation, Religion, Geographie, Sprache und Kultur der verschiedenen Bevölkerungsgruppen deutlicher herausgestellt werden können“. Matthew Shepard Act Am 06. 10. 1998 lernte der 21-jährige Student Matthew Shepard in einer Bar auf dem College-Campus in Laramie (US-Bundesstaat Wyoming, nahe Denver), zwei 21- und 22-jährige Männer kennen. Sie nahmen Matthew Shepard in ihrem Auto mit, bedrohten ihn dann mit einer Pistole, raubten ihn aus und schlugen ihn 3
Die Definition, nach der das FBI heute Hassgewalt erfasst, lautet: „A hate crime, also known as a bias crime, is a criminal offense committed against a person, property, or society that is motivated, in whole or in part, by the offender‘s bias against a race, religion, disability, sexual orientation, or ethnicity/national origin.“ (U.S. Department of Justice. Federal Bureau of Investigation. http://www.fbi.gov/ucr/cius_04/ offenses_reported/hate_crime/index.html (11. 03. 2010)). In dieser Vorlage ist noch nicht der Aspekt beinhaltet, dass sich ein Hassverbrechen auch als Tat gegen die Gesellschaft richten kann.
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mit der Pistole mindestens 18 Mal gegen den Kopf. Außerhalb der Stadt auf einem weitläufigen Feld fesselten sie ihn mit den Schnürsenkeln seiner Schuhe wie eine Vogelscheuche an einen Zaun und überließen ihn schwer verletzt seinem Schicksal. Die Freundinnen der später ermittelten Täter berichteten unter Eid, dass ihnen die Beschuldigten berichtet hatten, wie Matthew Shepard um sein Leben vergebens gefleht habe. Die Täter brachen nach ihrer Tat noch in die Wohnung ihres Opfers ein. Matthew Shepard wurde 18 Stunden später von zwei Radfahrern zufällig gefunden. Bis zu seinem Tod am 12. 10. 1998 erwachte er nicht mehr aus dem Koma. Die Täter wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Schicksal von Matthew Shepard verursachte in den USA große Betroffenheit und Anteilnahme. Als Reaktion auf diesen Fall setzte sich erstmals eine Initiative im Staat Wyoming dafür ein, das bestehende „Hate-Crime-Law“ des Staates um das Merkmal „sexuelle Orientierung“ zu ergänzen. Seit 2001 wurde auf Bundesebene mehrfach mit dem „Local Law Enforcement Hate Crimes Prevention Act“ (LLEHCPA), auch als „Matthew Shepard Act“ bekannt,4 dafür eingetreten, das Merkmal „sexuelle Orientierung“, darüber hinaus auch Hassgewalt aufgrund des Geschlechts (gender) sowie von Behinderung (disability) bundesweit und gesetzlich in den hate crime-Gesetzen zu verankern. Die Gesetzesinitiative scheiterte mehrfach, obgleich das FBI in seinen regelmäßig veröffentlichten „Hate Crime Statistics“ auf die Bedeutung der Hassgewalt gegen die sexuelle Orientierung in den USA hinwies.5 Nach dem Sieg von Präsident Barack Obama, der angekündigt hatte, den „Matthew Shepard Act“ zu unterstützen, stimmten 2009 das Repräsentantenhaus und der Senat dem Gesetz zu. Präsident Obama unterzeichnete dann im Rahmen einer feierlichen Zeremonie im Beisein von Menschenrechtsaktivisten und großer medialer Präsenz am 28. 10. 2009 das Gesetz. 1.2
Hassgewalt in Europa
Der Begriff „Hassgewalt“ gewinnt zunehmend auch in Europa an Bedeutung, hier aufgrund der Bemühungen, Europa zu einen und gewaltsame Konflikte unter Staaten und Ethnien zukünftig zu verhindern, gerade auch in Anbetracht der Kriege und Gewaltherrschaften, die das Europa des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Entsprechend gibt es in zahlreichen europäischen Ländern Überlegungen, vorurteilsmotivierte Gewalt als Konzept für das eigene Strafrecht zu überneh4
Neben der allgemeinen Bezeichnung „Matthew Shepard Act“ wird das Gesetz auch als „Matthew Shepard und James Byrd Jr. Hate Crime Prevention Act“ bezeichnet. Erinnert wird daran, dass am 07. 06. 1998 im Bundesstaat Texas der 49-jährige behinderte Afroamerikaner James Byrd entführt und von seinen Peinigern hinter einem Auto zu Tode geschleift wurde. 5 Der vom FBI in den USA 2007 veröffentlichte Bericht „Hate Crime Statistics 2006“ erklärt, dass die Gewalt gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender und Transsexuelle – kurz „LGBT“ – gegenüber dem Vorjahr um 18% zugenommen habe, und so die Gewalt gegen LGBT insgesamt 16% aller registrierten hate crimes in den USA ausmachen (vgl. OSCE/ODHIR 2008: 112).
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men. Hierbei gibt es jedoch angesichts der unterschiedlichen Rechtstraditionen und -systeme Vorbehalte. Am weitesten in Europa geht bislang Großbritannien, wo seit 1998 hate crimes eine Strafverschärfung für rassistisch- oder religiösmotivierte Straftaten nach sich ziehen. In England, Wales und Schottland wurde das Gesetz 2008 unter anderem hinsichtlich der Merkmale Behinderung und sexuelle Orientierung erweitert (HM Government 2009). Eine rechtliche Grundlage für eine Sanktionierung von Diskriminierung auf gesamteuropäischer Ebene, auch auf Grundlage der sexuellen Orientierung, legte der „Vertrag von Amsterdam“ 1999, hier der Artikel 13, der somit in den EGVertrag aufgenommen wurde (Europäische Gemeinschaft 2002; auch: Europäisches Parlament, Rat und Kommission 2007b). Nachfolgend hat dann der Rat der EU mehrere Gleichbehandlungsrichtlinien erlassen (Europäische Gemeinschaft 2000). Mit der Unterzeichnung des „Vertrages von Lissabon“ 2007 (Europäische Gemeinschaft 2007), der schließlich am 1. 12. 2009 ratifiziert werden konnte, wird nunmehr auch eine Grundrechte-Charta Bestandteil des Vertrags über die Europäische Union (Art. 6 Abs. 1 EU-V) und erhält damit Verfassungsrang. Auf dem Ministerratstreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 2003 in Maastrich unterstrichen die Teilnehmerstaaten die Gefahren und das Potential, die hate crimes für das Zusammenleben in Gesellschaften und Demokratien beinhalten.6 Sie verpflichteten sich, solche Verbrechen zu bekämpfen. Dem folgten verschiedene Beschlüsse, die das „Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte“ (BDIMR, engl.: ODIHR) der OSZE mit dem Mandat ausstatteten, sich mit hate crimes eingehender zu befassen, auch mit dem Anliegen, zukünftig verschärfend gegen hate crimes in Europa vorzugehen (OSCE/ODHIR 2008: 7). Dem folgte mit dem Ministerratsbeschluss der OSZE 2006 in Brüssel die Aufforderung an das ODIHR, Daten über hassmotivierte Gewalt in der OSZE-Region zu erfassen (OSCE Ministerial Council 2006). Mit diesem Mandat ausgestattet, entwickelte das ODIHR einen Leitfaden (OSCE/ODIHR 2009), in dem hate crime wie folgt definiert wird: „,Hate crimes‘ sind kriminelle Handlungen mit einem Vorurteilsmotiv. Dieses Motiv ist das Unterscheidungsmerkmal, das es von anderen Verbrechen abhebt. Ein ‚hate crime‘ ist kein bestimmtes Delikt. Es kann sich um eine Einschüchterungshandlung, Drohungen, Beschädigung von Eigentum, tätliche Angriffe, Mord oder um jede andere Straftat handeln. Daher meint der Begriff ‚hate crime‘ oder ‚Vorurteilsverbrechen‘ eine Kategorie von 6
Hate crimes beinhalten Verletzungen des Gleichheitsideals von Mitgliedern der Gesellschaft. „Die Gleichheitsnorm ist ein Grundwert, der die vollkommene Menschenwürde zu verwirklichen erstrebt und allen Menschen eine Gelegenheit geben will, ihr vollständiges Potential zu verwirklichen.“ Weil hate crimes nicht nur auf das Individuum zielen, sondern stets auch eine einschüchternde Botschaft gegenüber der ganzen Gruppe mit den selben Merkmalen besitzt, haben hate crimes das Potential, stets die öffentliche Ordnung nachhaltig zu gefährden sowie Gesellschaften und Demokratien zu destabilisieren (vgl. OSCE/ ODIHR 2008: 17).
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Verbrechen, jedoch kein bestimmtes Delikt in einem Strafgesetzbuch. Eine Person kann ein ‚hate crime‘ in einem Land begehen, wo es keine bestimmte strafrechtliche Sanktion gegen Voreingenommenheit oder Vorurteile gibt. Der Begriff meint eher ein Konzept als eine juristische Definition.“ (OSCE/ODIHR 2009b: 16)
Was hate crimes elementar ausweisen, ist‚ dass es sich bei diesen Taten um „Identitätsverbrechen“ handelt. Hinsichtlich der zu schützenden Merkmale, anhand derer hate crimes sanktioniert werden, verweist der Leitfaden einerseits auf bestehende internationale Abkommen, die bereits Merkmale festgelegt haben, als auch auf weitere Merkmale, die von einzelnen Mitgliedsstaaten von Rechts wegen unterschiedlich gehandhabt werden. Hierzu zählt auch das Merkmal „sexuelle Orientierung“, das erneut auch deshalb besondere Beachtung findet, weil die ODIHR bereits in ihrem Bericht von 2008 betont hatte, dass homophobe und transphobe Übergriffe und Gewalttaten zu den Fällen zählen, die ein besonders hohes Dunkelfeld nicht angezeigter oder auch gemeldeter Delikte aufweisen, und dass Gewalttäter deshalb kaum belangt bzw. bestraft werden. Dieser Zusammenhang war auch bereits von UN-Experten, u. a. dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, sowie vom Kommissariat des Europarats für Menschenrechte herausgestellt worden (OSCE/ODIHR 2008: 111). Damit hate crimes auf Staatsebene wirkungsvoll verfolgt werden können, so der Leitfaden von 2009, müssen die Taten identifiziert und ermittelt werden. Denn, „wenn ‚hate crimes‘ wie andere Delikte behandelt und nicht als eine besondere Verbrechenskategorie begriffen werden, werden sie nicht richtig bearbeitet. Dies kann sich auf verschiedene Weisen manifestieren: Ermittler, die dem Opfer misstrauen oder es versäumen, Beschuldigungen bezüglich eines Vorurteilsmotivs richtig zu untersuchen; Staatsanwälte, die bei der Wahl der Anklagepunkte das Delikt bagatellisieren; und Gerichte, die es versäumen, ihre Befugnisse anzuwenden, um den Motiven des Täters gerecht zu tragen (korr.: gerecht zu werden)“ (OSCE/ODIHR 2009b: 23).
Dies setzt u. a. berufsspezifische Schulungen von Polizei, Staatsanwälten und Richtern voraus. Spezielle hate crime-Gesetze können darüber hinaus allgemein gesellschaftliches Bewusstsein für Ausmaß und Eigenart vorurteilsmotivierter Verbrechen schaffen, insgesamt für das Problem vorurteilsmotivierter Gewalt und letztendlich Ermittlungsarbeiten befördern. Auf zahlreiche internationale Menschenrechtsabkommen und Verträge wird hingewiesen, die bereits hate crimes hohe Priorität beimessen, ebenso auf den EU-Rahmenbeschluss „zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ vom 28. 11. 2008 und Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (OSCE/ODIHR 2009: 26f.). Auch vor dem Hintergrund der beschriebenen internationalen Abkommen und Verpflichtungen werden mittlerweile in vielen europäischen Staaten Daten bezüglich rassistischer und antisemitischer Gewalt erhoben. Dies gilt jedoch bezüglich des Merkmals „sexuelle Orientierung“ nicht in allen Staaten. In vielen Staaten fehlen weiterhin gesetzliche Regelungen, die Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender und Transsexuelle als
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Bürgerinnen und Bürger gleichstellen und entsprechend Diskriminierung und vorurteilsmotivierte Gewalt sanktionieren. Neben der OSZE hat sich bereits das Europäische Parlament zwei Mal mit entsprechenden Resolutionen besorgt über die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen (LGBT) in Europa geäußert, vor allem nachdem wiederholt Gleichberechtigungs- und LGBT-Demonstrationen und -Feste in einzelnen osteuropäischen Ländern verboten wurden und es hier zu ernsthaften Übergriffen gekommen war, ohne dass verantwortliche Stellen, die Politik und die Polizei für ausreichend Schutz gesorgt hatten (Europäisches Parlament 2006; Europäisches Parlament 2007a). 1.3
Hassgewalt in Deutschland
Das US-amerikanische hate crime-Konzept, mit dem strafrechtlich relevante Handlungen fokussiert werden, wird zunehmend auch in Deutschland thematisiert. Vor dem bedeutsamen historischen Hintergrund des Nationalsozialismus und des Holocaust stellen in Deutschland – anders als beispielsweise in den USA – Strafgesetze neben Handlungen auch Meinungsäußerungen unter Strafe, beispielsweise mit dem § 130 StGB (Volksverhetzung). Somit kann Hassgewalt in Form von verfassungsfeindlich bekundeten Zielen und Taten, die Grundrechte in Deutschland in Frage stellen, bereits mit dem geltenden Strafrecht strafverschärfend geahndet werden. Das Merkmal „sexuelle Orientierung“ ist jedoch im Grundgesetz nicht enthalten.7 In einzelnen Bundesländern, z. B. in Berlin und Brandenburg, ist das Merkmal „sexuelle Identität“ aufgenommen.8 Den ersten umfassenden Ansatz, sich mit dem hate crime-Konzept in Bezug auf die deutsche Situation zu beschäftigen, um darüber Aspekte der Prävention zu erarbeiten, hat das Bundesministerium für Justiz mit der Einsetzung der Expertengruppe „Primäre Prävention von Gewalt gegen Gruppenangehörige – insbesondere junge Menschen“ eröffnet (DFK/BMJ 2006). Neben dieser Arbeit ist vor allem auf das Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) von Wilhelm Heitmeyer hinzuweisen, das eine Langzeitstudie beinhaltet (W. Heitmeyer 2005: 13ff.). Mit dem sozialwissenschaftlichen Begriff „Gruppenbezogene 7
Das deutsche Grundgesetz betont, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Das Merkmal Behinderung wurde 1994 noch hinzugefügt. „Artikel 3 GG entstand vor dem Hintergrund der Nazi-Gräuel. Keiner sollte mehr vom Staat aufgrund bestimmter Kriterien ungleich behandelt, verfolgt, verurteilt – oder gar noch schlimmer – ermordet werden. Damit erklärt sich auch der Kriterienkatalog des Gleichheitsartikels, der etwa die Rasse, das Geschlecht, die Religion und die politische Anschauung umfasst. Zwei unter den Nazis als ‚unwertes Leben‘ betrachtete und verfolgte Gruppen schafften es damals aber nicht ins Grundgesetz: die Behinderten und die Homosexuellen. Die Behinderten wurden 1994 der Liste hinzugefügt. Damit sind die Homosexuellen die einzige unter den Nazis systematisch verfolgte Gruppe, die nicht Schutz im Grundgesetz gefunden hat“ (R. Kastl. In: CSD-Magazin 2009: 13). 8 Artikel 10, Abs. 2, Berliner Landesverfassung; Artikel 12, Abs. 2, Verfassung des Landes Brandenburg.
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Menschenfeindlichkeit“ wird der Versuch unternommen, unterschiedliche feindselige Einstellungen neu zu konzipieren: „Das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) ist darauf ausgerichtet, Ausmaß, Entwicklung und Ursachen von feindseligen Mentalitäten in der Mehrheitsbevölkerung gegenüber schwachen Gruppen zu untersuchen. Dazu wird ein Syndrom herangezogen, in dem Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie, Abwertung von Homosexuellen, Behinderten, Obdachlosen, die Reklamierung von Etabliertenvorrechten und Sexismus enthalten sind. Es geht um Abwertung, Diskriminierung und Gewaltbereitschaft gegenüber schwachen Gruppen. Das gemeinsame Grundmuster stellt die Ideologie der Ungleichwertigkeit dar“ (W. Heitmeyer 2007: 172).
Die Gleichwertigkeit und die Unversehrtheit dieser Gruppen werden durch die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Frage gestellt. Bei Heitmeyer ist ein wichtiger Ursachenarbeitsansatz die Annahme von Desintegration. Heitmeyer spricht hier nicht von einem Phänomen, sondern von einem Syndrom (vgl. auch M. Bochow 1992: 3). Anders als ein einzelnes Symptom weist ein Syndrom auf eine komplexe Ursache hin. Mittlerweile umfasst das Konzept von Heitmeyer zehn Symptome (W. Heitmeyer 2009: 37). Aufgezählt werden: Etabliertenvorrechte, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sowie Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Behinderten, Obdachlosen und Islamophobie. Neben sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und soziologischen Analysen, die vor allem vor dem Hintergrund der Hellfeld- und Dunkelfeldproblematik unerlässlich sind, werden Daten über vorurteilsmotivierte Gewalt in Deutschland seit 2001 auf Grundlage der Neuordnung des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes (KPMD), politisch motivierte Kriminalität (PMK), gesammelt (BMI/BMJ 2001: 263). Zentrales Erfassungskriterium des neuen Meldesystems ist jetzt die „politisch motivierte Tat“. Eine zuvor eher dominierende Orientierung am Extremismusbegriff machte vor dem Hintergrund sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse auch eine Änderung der zu verwendenden Terminologie erforderlich. Benötigt wurde ein Definitionssystem, welches das tatauslösende politische Element in den Mittelpunkt stellt, zumal die politische Motivation unabhängig vom Merkmal der Systemüberwindung schon überwiegend Zuweisungskriterium für die kriminalpolizeiliche Bearbeitung geworden war. Eingeführt wurde ein neues Themenfeld „Hasskriminalität“, mit dem nun auch Taten erfasst werden sollen, die sich gegen eine Person aufgrund ihrer Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Herkunft, äußeren Erscheinungsbildes, Behinderung, sexuellen Orientierung, gesellschaftlichen Status richten (BKA 2007). Die von den Länderpolizeien an das BKA gemeldeten Informationen haben zum Ziel, Daten nicht nur bundeseinheitlich besser zu erfassen und zu bewerten, sondern gerade auch die Sanktion aber auch Präventionsarbeit zu befördern (Der Polizeipräsident in Berlin 2006: 2).
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1.4
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Hassgewalt gegen Homosexuelle in Deutschland
Seit 2001 werden mit der Neuordnung des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes (KPMD-PMK) erstmals auch Zahlen zu Hassgewalt gegen Homosexuelle erfasst. Die Zuordnung schafft derzeit jedoch noch viele Ungenauigkeiten. Bisweilen werden Gewalttaten gegen die sexuelle Orientierung ausschließlich dem Bereich „PMK-rechts“ zugeordnet (Deutscher Bundestag 2009), obgleich das Feld „Sonstige“ hier die Möglichkeit bietet, alle Gewalttaten gegen die sexuelle Orientierung zu erfassen (BMI/BMJ 2006: 135). Das schwule Anti-Gewalt-Projekt in Berlin MANEO beklagt diese Ungenauigkeiten seit Jahren.9 Derzeit wird in den schwullesbischen Szenen, bestärkt von Vertretern aus Gesellschaft und Politik, die Erweiterung des Artikels 3 im deutschen Grundgesetz um das Merkmal „sexuelle Identität“ gefordert (siehe: www.artikeldrei.de (03. 03. 10)). Die Veranstaltungen zum Christopher Street Day (CSD)10 2009 in Deutschland unterstützten bereits diese Kampagne; dies vor dem Hintergrund, dass der bisherige Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben in der deutschen Gesellschaft ein mühseliger und schmerzhafter war. Nachdem 1994 der § 175 Strafgesetzbuch (StGB) abgeschafft worden war, der männliche Homosexualität 123 Jahre lang in Deutschland kriminalisierte, hat der Deutsche Bundestag im Jahr 2000 endlich anerkannt, dass den Homosexuellen im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland schweres Unrecht zugefügt wurde.11 Angesichts vieler neuer rechtlicher Regelungen, die in den letzten 20 Jahren in Deutschland verabschiedet wurden, ebenso vom Europäischen Parlament, dem Europarat und der OSZE und damit den europäischen Raum insgesamt betreffend, mussten sich in den letzten 20 Jahren Polizei und Justiz hierzulande nahezu komplett umstellen. Aus einer Diskriminierungs- und Verfolgungspolitik gegenüber Homosexuellen und Homosexualität in Deutschland entwickelte sich eine aktive Antidiskriminierungspolitik.12 9
Berlin hat folgende Zahlen an das BKA gemeldet: „Bei der Darstellung handelt es sich um Fallzahlen, die im Kriminalpolizeilichen Meldedienst – Politisch Motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) als Straftaten im Themenfeld Hasskriminalität, Unterthema ‚sexuelle Orientierung‘ bewertet wurden: 2003: 17, 2004: 16, 2005: 14, 2006: 27.“ 10 Mit dem „Christopher-Street-Day“ (CSD), im englischsprachigen Raum auch als „Gay Pride“ oder „Stonwall“ bekannt, erinnern jährlich Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender mit einer Vielzahl von Veranstaltungen an den legendären Aufstand vom 28. Juni 1969 in der Christopher Street in New York. Vgl: http://de.wikipedia.org/wiki/Stonewall und vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Christopher_Street_Day (04. 03. 10). 11 2002 wurden die Urteile nach §§ 175 und 175a Ziff. 4 StGB aufgehoben. Eine Wiedergutmachung hat jedoch bisher nicht stattgefunden. 12 Das 2006 in Deutschland in Kraft getretene „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) verbietet Diskriminierungen im Zivil- und Arbeitsrecht auch aufgrund der sexuellen Identität. Dennoch musste beispielsweise Anfang 2008 von der EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet werden, weil die Bundesregierung es versäumt hatte, Bestimmungen zur Gleichbehandlung homosexueller Partnerschaften gemäß den EU-Richtlinien in diesem Bereich einzuführen (Süddeutsche Zeitung, 10. 02. 2008. „Berlin soll Gesetz gegen Diskriminierung verbessern“. Siehe auch unter: www.euractiv.com/ de/soziales-europa (11. 03. 10)).
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Parallel hierzu verändert sich in der deutschen Gesamtbevölkerung nur langsam Haltung und Einstellung gegenüber homosexuellen Lebensweisen und sexueller Orientierung. Auf einzelne Ergebnisse von Langzeitstudien wurde bereits hingewiesen (W. Heitmeyer 2005: 26; M. Bochow 1992; M. Bochow 1993). Angesprochen sei auch das „European Social Survey“, das im Rahmen europaweiter Befragungen, u. a. auch bezüglich Einstellungen zu Homosexualität und Homosexuellen zwischen den einzelnen Staaten Vergleiche aufzeigt (MANEO 2009: 15). Untersuchungen sind gerade deshalb von Bedeutung, weil sie nicht nur ein gesellschaftliches Klima aufzeigen, sondern auch auf mögliche Auswirkungen und Folgen für Betroffene, vor allem auf deren gesundheitliche Risiken hinweisen. Im Kontext der Abwertung von Homosexualität in unserer Gesellschaft haben Hass und Verbrechen gegen Homosexuelle immer schon eine Rolle gespielt. Trotzdem werden Homosexuelle weiterhin „zugleich unter Umkehrung von Tatsachen durch die tief verwurzelten Vorurteile in einer Täterrolle wahrgenommen“ (Ch. Limmer 2003: 167): Schwule würden Jungen missbrauchen, Lesben Mädchen verführen, von Kriminalität im Homosexuellenmilieu ist die Rede. Solche und andere gesellschaftlich tief verwurzelte Einstellungen führen nach wie vor zu einer fragwürdigen Verwischung der Unterschiede zwischen Tätern und Opfern. Den Hintergrund hierzu spielen geschichtliche Erfahrungen um Verfolgung und Ausgrenzung. Konkret leben in unserer Gesellschaft noch immer viele schwule Männer, die aufgrund des Strafparagraphen 175 (StGB) verfolgt und über den Nationalsozialismus hinaus in der alten Bundesrepublik noch bis 1969 im Zuchthaus eingekerkert wurden. Nur noch wenige homosexuelle Männer sind bekannt, die das KZ überlebt haben, weit mehr erinnern sich an die Zeit danach. Mit ‚Homosexuellen-Listen‘ bzw. ‚Rosa Listen‘ wurden homosexuelle Männer in Polizeikarteien geführt. Die in der Kaiserzeit entstandenen Listen dienten den Nazis zur systematischen Verfolgung schwuler Männer. ‚Rosa Listen‘ sollen noch bis in die 1980er Jahre hinein von den Länderpolizeien geführt worden sein.13 Als 2005 bekannt wurde, dass mit Hilfe eines neu eingeführten polizeilichen Computerprogramms in Bayern, Thüringen und Nordrhein-Westfalen erneut Homosexuelle erfasst werden könnten,14 konnte durch öffentlichen Druck die besondere Speichermöglichkeit von Thüringen und Nordrhein-Westfalen blockiert werden. Lediglich das Bayerische Innenministerium, das die Software produziert hatte, weigerte sich, Homosexualität als Speichermoment aus dem Programm zu nehmen. 13
Am 13. 08. 1979 berichtete die Zeitschrift „Der Spiegel“ unter der Überschrift „Der San-St. Uffz. verfiel der Sinnlichkeit“ darüber, dass noch immer Homosexuelle in Karteien geführt werden. Am 14. 07. 1980 berichtete „Der Spiegel“ unter der Überschrift „Dicker Hammer“, wie Hamburgs Polizei auf einer öffentlichen Toilette hinter einem spanischen Spiegel Homosexuelle beobachtete, filmte und registrierte, die sich dort trafen bzw. aufhielten. 14 Die Zeitschrift „Der Spiegel“ berichtete am 23. 07. 2005 unter der Überschrift „Polizei-Software – Kennwort *omsex*“, dass für Polizeibehörden Bayerns, Thüringens und Nordrhein-Westfalens Homosexuelle noch immer eine besondere Tätergruppe darstellten.
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Viele Menschen meinen, dass sich mit den veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen nun auch die objektiven Realitäten verändert haben. Doch wie selbstverständlich wird von religiösen Gruppierungen in allen großen Religionen Homosexualität weiter offen als Sünde wider die Natur erklärt, mit der Folge, dass einige von ihnen meinen, Homosexualität ‚heilen‘ zu können.15 Neben einer Vielzahl extremer fundamentalistischer Strömungen gibt es parallel dazu offene und liberale Haltungen von Kirchen und Religionsgruppen, die Homosexuelle willkommen heißen. Als bedrohlich müssen jedoch deutlich die Gruppen eingestuft werden, die Homosexuellen mit Gewalt drohen. In Anbetracht dieser Widersprüche kann von einer ‚Entwarnung‘ hinsichtlich der Gewalt gegen Homosexuelle keine Rede sei. Vorurteile halten sich beispielsweise auch in der Medizin und Psychologie, wo Homosexualität als abnorme sexuelle Störung behandelt und erst am 17. Mai 1990 mit einem Beschluss der Weltgesundheitsorganisation WHO als Krankheitsbegriff aus dem ICD, dem Klassifikationssystem aller Krankheiten, gestrichen wurde. Ein weiterer Bereich ist die Kriminologie, wo gerade männliche Homosexualität nach wie vor mit Pädophilie vermischt wird, so dass homosexuelle Männer, die beispielsweise von jungen Männern vorurteilsmotiviert angegriffen wurden, erst einmal in Verdacht geraten, sie könnten die Jugendlichen belästigt haben, so wie männliche Betreuer, Erzieher und Jugendgruppenleiter pauschal unter einem Generalverdacht stehen, sie könnten sich an Jungen vergehen. Antihomosexualität, d. h. Einstellung und Haltung gegen Homosexualität und Homosexuelle, ist dabei nicht losgelöst aus dem Kontext eines überwiegend patriarchalen und heterosexistisch geprägten sozialen Geschlechterrollenverständnisses in unserer Gesellschaft zu verstehen. Die Rede ist von strukturellen Merkmalen, die die Gesellschaft im Hier und Heute beeinflussen. An Jungen wie an Mädchen richten sich Rollenerwartungen durch gesellschaftliche Institutionen wie Eltern, Familie, Schule, Arbeitsplatz und soziale Gruppenverbände. Die Einflüsse der Bürgerrechtsbewegung und der frauenemanzipatorischen Aufklärungsarbeit in den 1960er und 1970er Jahren, schließlich die Sorge um die öffentliche Gesundheit aufgrund der AIDS-Krise in den 1980er Jahren, beförderten – unterstützt durch staatliches Handeln – die Aufklärungsarbeit und mehr Bewusstsein über Diskriminierung und Gewalt gegen Homosexuelle in der Gesellschaft. Finanzielle Förderungen von Frauenprojekten einerseits und AIDS-Projekten für 15
Das von fundamentalistischen Evangelikalen in Bremen 2008 organisierte Christival wollte ein Seminar anbieten, in dem man angeblich Wege heraus aus der homosexuellen Neigung erlernen kann. Schirmherrin der Veranstaltung war Familienministerin von der Leyen (vgl. Die Welt, 09. 01. 2008: „Von der Leyen und die ‚Heilung‘ der Schwulen“). Heftige Proteste führten dazu, das Seminar aus dem Programm zu streichen. In den USA werden von christlich-fundamentalistischen Religionsgemeinschaften regelmäßig Seminare und Camps angeboten, auf denen Homosexuelle sich von dem Laster befreien können sollen (vgl. ARD Tagesschau vom 12. 08. 2007: „US-Organisation ‚Exodus‘ setzt auf Umerziehung: ‚Man muss das Schwulsein in den Griff bekommen‘“).
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Schwule andererseits führten dazu, dass der Diskurs um lesbenfeindliche und um schwulenfeindliche Gewalt stärker geführt werden konnte, vor allem mit den Betroffenen selbst. Dadurch wurde der öffentliche Druck auf die Politik erhöht, Lesben- und Schwulenarbeit nicht nur im Kontext einer Gesundheitspolitik, sondern als notwendige Emanzipations- und Aufklärungsarbeit, vor allem im Kontext einer Gleichstellungspolitik zu behandeln. Diese Entwicklung, die sich ab den 1980er Jahre über die nächsten 30 Jahre vollzog, war von zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der schwulen Szenen begleitet. Aus Berichten schwuler Projekte, die Anfang der 1990er Jahre vor allem in den alten Bundesländern veröffentlicht wurden, geht hervor, dass weiterhin ein tiefes Misstrauen gegenüber der staatlichen Exekutive Polizei bestand. Bis 1994 trat die Polizei aufgrund des bis dahin noch bestehenden Strafparagraphen 175 als Verfolgungsbehörde von männlicher Homosexualität auf. Kontrollen an schwulen Treffpunkten und Razzien in Szeneeinrichtungen waren keine Seltenheit. Weit verbreitet war noch immer die Annahme der Verführbarkeit junger Männer, die vor Homosexualität und Homosexuellen geschützt werden sollten (B. Finke 1992). Die Bereitschaft über die Aufnahme eines „kritischen Dialoges“ oder gar partielle Zusammenarbeit mit der Polizei von Teilen der schwulen Szenen führte in den späten 1980er und Anfang der 1990er Jahre zu heftigen Auseinandersetzungen (B. Finke 2009: 10ff.), zwischen jenen, die gesellschaftlichen Änderungen tief misstrauten, und jenen, die sich an ideologischen Grundsatzdiskussionen und damit verbundenen Grabenkämpfen nicht mehr länger beteiligen wollten. Letztere proklamierten einen pragmatischen Kurs, das Ende ihrer ‚Opferrolle‘ sowie mehr gesellschaftliche Sichtbarkeit und Gehör. Sie stellten sich gegen Übergriffe und polizeiliche Willkür und setzten sich für die Belange der Diskriminierten und Gewaltbetroffenen ein. Sie kamen aus der Mitte der schwulen Szenen. Sie drängten danach, Gleichstellungspolitik konsequent einzufordern, somit den Strafparagraphen 175 (StGB) und vor allem gewalttätige Übergriffe öffentlich anzuprangern. Sie boten Kooperationen mit der Politik, der Verwaltung, ebenso mit der Polizei an.16 Seit 1990 mehren sich Berichte von schwulen und lesbischen Gruppen über lesben- und schwulenfeindliche Gewalt, ebenso wissenschaftliche Untersuchungen, die schwulen- und lesbenfeindliche Gewalt fokussieren.17 Die Berichte machen deutlich, dass Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von lesbischen Frauen, 16
In dieser Entwicklung entstand 1989 u. a. Deutschlands erstes Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen bei der Berliner Senatsverwaltung. 17 In diesem Zusammenhang sei auf die Veröffentlichungsreihe der Deutschen AIDS-Hilfe „DAH-Aktuell“ verwiesen. In dieser hat Michael Bochow seine deutschlandweit durchgeführten Untersuchungen unter homosexuellen Männern zu Sexualverhalten, u. a. auch zu Gewalterfahrungen, 1993, 1996, 1999, 2001, 2003 veröffentlicht. Vgl. auch: Niedersächsisches Sozialministerium (Hg.) (1993): Antischwule Gewalt in Niedersachsen. Von Jans Dobler. Hannover.
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schwulen Männern und auch transidentischen Menschen in unserer Gesellschaft differenziert betrachtet werden (DFK/BMJ 2003: 170).18 Hinsichtlich Wirkung und Auswirkung von unmittelbaren homophoben Gewalterfahrungen auf Betroffene sind sich die Berichte in ihren Ergebnissen jedoch einig: Homophobe Gewaltstraftaten zielen wie vorurteilsmotivierte Gewaltstraftaten insgesamt nicht nur auf den Körper, sondern auf die Identität des angegriffenen Menschen. Dabei steht homophobe Gewalt in Deutschland – wie deutlich wurde – in einem eigenen geschichtlichen Kontext: im Kontext einer staatlich angeordneten gesetzlichen Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte, einer sozialmedizinischen Geschichte, die Homosexualität bis in die 1980er Jahre pathologisiert, einer religionsgeschichtlichen Betrachtung, bei der viele unterschiedliche Religionen Homosexualität als Sünde brandmarken. Einflüsse dieser Art wirken nachhaltig und können von den biographischen Entwicklungen homosexuell lebender Menschen nicht losgelöst betrachtet werden und bedingen ein erhöhtes gesundheitliches Risiko: „Die klinische Erfahrung in der psychosomatisch-psychotherapeutischen Behandlung homosexueller Patienten bestätigt, dass jene im Vergleich zu heterosexuellen Patienten ungleich stärker der Viktimisierung ausgesetzt sind, eben aufgrund der sexuellen Identität“ (C. Messer 2009: 29). Die nach wie vor existierende gesellschaftliche Abwehr von Homosexualität verstärkt innere Konflikte. Danach entsteht bereits „eine echte Viktimisierung homosexueller Menschen… durch eine Remobilisierung der eigenen innersten AblehnungsBefürchtungen, in der Regel ausgelöst durch abfällige Bemerkungen auf der Straße, am Arbeitsplatz oder in einem anderen alltäglichen Kontext.“ (ebd.) Dieser wiederkehrenden Verunsicherung zu widerstehen, setzt eine sehr gefestigte Identität und Ich-Stärke voraus. Gerade gleichgültige oder auch vorwurfsvolle Haltungen befördern die Ausprägung psychischer Störungsbilder (a. a. O.: S. 30). Derart bedenkliche Entwicklungen setzten sich beispielsweise auf Schulhöfen fort, wenn Lehrer gegenüber homophoben Äußerungen nicht einschreiten und Schülern auch noch vorwerfen, selbst an homophoben Reaktionen Schuld zu sein.19 18
Projekte und Untersuchungen, die sich mehr mit schwulenfeindlicher Gewalt beschäftigen, orientieren sich bei der Bemessung und Bewertung der Gewalt vorwiegend an (straf-)rechtlich relevanten Tatbeständen, ohne die strukturellen Bedingungen zu vernachlässigen (vgl. MANEO/Mann-O-Meter e.V. (Hg.) (2009): MANEO-Kriterien. Ein Arbeitsleitfaden zur besseren Erkennung von vorurteilsmotivierter, schwulenfeindlicher Gewalt (Hassgewalt). 1994-R. Berlin. Online: www.maneo-fallmeldungen.de). Projekte und Untersuchungen zu lesbenfeindlicher Gewalt sind weniger an strafrechtlich relevanten Definitionen orientiert, „sondern legen vor allem Wert auf die Beschreibung des strukturell verankerten, Gewalt begünstigenden Kontextes“ (Ch. Limmer 2003: 177). (Vgl. auch die Definition zu lesbenfeindlicher Gewalt, in: Lesbenberatung, EWA-Frauenzentrum, Frieda Frauenzentrum, Sonntagsclub (Hg.) (1997): Dokumentation der Fragebogenauswertung „Gewalt gegen Lesben in Berlin“ 1996/1997. Als pdf-Datei online unter: www.lesbenberatung-berlin.de). 19 Ein Beispiel: Ein 16-jähriger schwuler Schüler kommt an einer Berliner Schule neu in eine Klasse, outet sich als schwul und wird fortan auf das Schlimmste gemobbt. Die ZDF-Dokumentationsreihe „SOSSchule – Hilferufe aus dem Klassenzimmer“, die 2006 ausgestrahlt worden war, stellt ein pädagogisches (Fortsetzung auf S. 221)
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Neueste Untersuchungen, die das schwule Anti-Gewalt-Projekt MANEO in Berlin durchgeführt hat, liefern weitere Anhaltspunkte über das Ausmaß homophober Gewalterfahrungen unter schwulen und bisexuellen Jugendlichen und Männern. An der 1. Umfrage 2006/2007 (MANEO 2007) hatten sich deutschlandweit knapp 24.000 Personen und an der zweiten Umfrage 2007/2008 (MANEO 2009) knapp 17.500 Personen beteiligt. In der ersten Umfrage hatten 35,5% der Befragten von mindestens einem homophoben Vorfall innerhalb der letzten 12 Monate berichtet, in der zweiten Umfrage waren es 40,6%. Bei diesen Untersuchungen handelt es sich nicht um repräsentative Befragungen. Doch die Anzahl der Vorfälle allein sind bereits aufschlussreich, vor allem hinsichtlich der Tatsache, dass etwa 90% dieser Vorfälle nicht angezeigt oder gemeldet wurden. Hoch ist dieser Anteil bei Fällen mit Körperverletzungen.20 Viele Gewalttaten blieben somit im Dunkeln. Mit der zweiten Umfrage werden Schwule, Bi- und Transsexuelle als die Hauptbetroffenengruppe homophober Gewalt festgestellt: „Besonders stark ist diese Gewaltbetroffenheit an den Schulen und hier insbesondere an den allgemeinbildenden stärker als an beruflichen Schulen“ (B. Lippl 2008: 16f.). 2
Diversity-Ansätze in der Beratungsarbeit
2.1
Zielgruppen- und Ressourcenorientierung
Hans Keilson, Überlebender der NS-Zeit, hat in einer international vielbeachteten Untersuchung das Konzept der „sequenziellen Traumatisierung“ entwickelt (zit. n. Landeskommission Berlin gegen Gewalt 2007: 65). Er hat auf die verschärften Folgen für die Opfer aufgrund fehlender Anerkennung durch Gesellschaft und soziale Umwelt hingewiesen. Diversityorientierte Opferhilfearbeit knüpft an diese Erkenntnis an und versucht einer Verschärfung der Folgen der Opferwerdung durch eine differenzierte Beratung von Opfern auch insofern zu begegnen, als dass deren Unterschiedlichkeit – und damit deren spezifische Stellung in der Gesellschaft sowie die hiermit verbundenen Auswirkungen auf die Vulnerabilität und Resilienz der Einzelnen – berücksichtigt wird. 19
(Fortsetzung von S. 220) Anti-Mobbing-Team zusammen, um bei einer Konfliktschlichtung zu helfen. Es gelingt weder den LehrerInnen noch dem Team, den Jungen vor den Übergriffen seiner MitschülerInnen zu schützen. Die Situation verschärft sich, so dass schließlich von der Schule, unterstützt vom ZDF-Schulcouch-Team, dem schwulen Schüler ein Schulwechsel empfohlen wird – nicht den Mobbern – mit der Begründung, dass die Sicherheit des Jugendlichen nicht mehr gewährleistet werden könne. Dem Schüler wird vorgehalten, mit seinem Outing „einen Fehler begangen zu haben“. Mit dem Ratschlag, sich in seiner neuen Schule „angepasster zu verhalten“ wird er entlassen. In einem Interview vor laufender Kamera zeigt sich denn auch der schwule Schüler einsichtig: Er habe einen großen Fehler gemacht. Eine Deutschlehrerin gibt ihm noch den Rat: „Mach den Fehler nicht noch mal, pass Dich ein bisschen an, weißt Du, dann werden Dich die Menschen auch mögen“. Der Vorfall löste eine Welle der Empörung und des Protestes in den schwullesbischen Szenen in Berlin aus (vgl. www.lambda-bb.de). 20 75,3% der Fälle mit leichter Körperverletzung und 42,5% der Fälle mit schwerer Körperverletzung wurden nicht angezeigt, ebenso 45,9% der Eigentumsdelikte mit Körperverletzung (MANEO 2009: 31).
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Die Fähigkeit der Einzelnen, traumatische Prozesse zu verarbeiten, setzt sich aus einer Vielzahl von Komponenten zusammen. Schutzfaktoren (z. B. Bezugspersonen, enges soziales Umfeld) als auch Resilienzfaktoren (Bindungen, Bildung, religiöse Überzeugungen) entfalten für die Betroffenen stabilisierende Wirkung. Durch deren Fehlen können sich Gewalt bedingte Traumatisierungsprozesse jedoch auch verstärken und den Einzelnen wie auch die ihn umgebende soziale Umwelt belasten. Menschen, die beispielsweise aufgrund von Verfolgung und Flucht nach Deutschland gekommen sind, wurden vertraute und stützende soziale Zusammenhänge entzogen. Gleichzeitig erhalten manche Strukturen und Handlungsweisen, die für diese Menschen bisher hilfreich und sinnvoll gewesen waren, hierzulande eine andere Bedeutung. Dazu zählen beispielsweise normative Prägungen durch geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, die durch Zuzug und Migration sowie durch Ausbildung von Subkulturen und Parallelwelten in unserer Gesellschaft unterschiedlich ausfallen können. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Geschlechterrollenerwartungen an Frauen und Männer produziert Konflikte21 gerade dann, wenn beispielsweise an patriarchalen Normen und Wertevorstellungen als Ergebnis kulturhistorischer Erfahrungen festgehalten wird und diese an die nächsten Generationen weiter gegeben werden sollen, obgleich sich die demokratische Gesellschaft weiter entwickelt hat und gesetzliche Rahmenbedingungen die Diskriminierung aufgrund des Merkmals Geschlecht untersagen. Eine hierarchische Geschlechterordnung, die auf der ungleichen Wertigkeit von Männern und Frauen beruht, ist nach wie vor weltweit verbreitet. Mit ihr sind unterschiedliche Erwartungen an das Verhalten von Männern und Frauen verknüpft: „Männlichkeit ist allerdings nicht nur mit einer von Männern erwarteten Überlegenheit über die Frau verbunden, sondern auch mit der über andere Männer“ (Landeskommission Berlin gegen Gewalt 2007: 24).22 Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik belegen deutlich, dass sich Gewalt von Männern vorwiegend gegen das eigene Geschlecht richtet. „Gewaltkriminalität findet überwiegend unter Männern statt“ (M. Meuser 2006: 15).23 Gerade in der Opferhilfearbeit ist es also erforderlich, Menschen vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen und Haltungen zu begegnen, die nicht losgelöst von sozialen, kulturellen und ökonomischen Einflüssen gesehen werden 21
„Patriarchalisch geprägte Vorstellungen spielen zwar auch in der deutschen Aufnahmegesellschaft immer noch eine wichtige Rolle, jedoch nicht in gleichem Ausmaß. Zumindest die damit zum Ausdruck kommende Überlegenheit des Mannes widerspricht der mittlerweile in Deutschland grundgesetzlich garantierten Gleichstellung von Mann und Frau.“ (Landeskommission Berlin gegen Gewalt 2007: 25). 22 Connell (1999) hat hier den Begriff der hegemonialen Männlichkeit geprägt, der dieser Dominanzstruktur Rechnung tragen soll. Connell, Robert William (Hg.) (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen. 23 „So sind zwar Frauen im Wesentlichen Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Häuslicher Gewalt, aber – je nach Delikttyp – sind ca. zwei Drittel bis drei Viertel der Opfer aller anderen polizeilich ermittelten Gewalttaten männlichen Geschlechts. ‚Gewaltkriminalität findet überwiegend unter Männern statt.‘“ (Landeskommission Berlin gegen Gewalt 2007: 24).
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können. Ein so verstandener diversityorientierter Beratungsansatz steht beispielsweise in der Tradition zielgruppenspezifischer Mädchen- und Frauenarbeit. In dem Wissen um ungleiche gesellschaftliche Voraussetzungen der Geschlechter werden in diesem Arbeitsfeld seit den 1970er Jahren Mädchen und Frauen in ihren Ressourcen gestärkt, um Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit zu fördern. Zielgruppenspezifische Arbeit kann möglicherweise falsch als Ausschluss anderer Menschen interpretiert werden. Es bedeutet aber nichts anderes, als Menschen in geschützten Räumen in ihrer verwundeten und stellenweise auch bedrohten Identität mit ihren vorhandenen Eigenschaften und Ressourcen in ihrer Identitätsentwicklung, in ihrem Selbstbewusstsein und in ihrer Handlungsautonomie zu bestärken und ihnen Gelegenheit zu geben, Zusammenhänge zu verstehen und eigene Lösungsansätze zu entwickeln.24 So werden Mädchen in der Mädchenarbeit zielgruppen- und themenorientiert unterstützt, eine kritische Auseinandersetzung und Reflexion mit der weiblichen und männlichen Geschlechtsrolle, mit Normen und Werten in unserer Gesellschaft wird gefördert und die Gleichstellung von Frau und Mann betont. Ähnlich reflektierende und ressourcenorientierte Ansätze sind in der emanzipatorischen Jungenarbeit zu finden: „Unter Jungenarbeit wird … vorrangig die pädagogische Arbeit mit männlichen Pädagogen mit männlichen Kindern und Jugendlichen in geschlechtshomogen zusammengesetzten Jungengruppen verstanden, mit der konzeptionell die Absicht verbunden sein sollte, Jungen und männliche Jugendliche bei der Entwicklung ihrer individuellen Geschlechtsidentität zu unterstützen, vorherrschende Männlichkeitsvorstellungen kritisch zu hinterfragen und eine positive Haltung zur Vielfalt von Männerbildern und sexuellen Orientierungen zu fördern“ (B. Könnecke 2009: 98f.).
Diversity-Ansätze gehen auf die Bürgerrechts- und Frauenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre in den USA zurück, die gegen Diskriminierung und Vorurteile kämpften. Im Bereich der Wirtschaft wurde das Konzept als „Diversity Management“ aufgegriffen und für international operierende Großunternehmen weiterentwickelt. Das Diversity-Konzept berücksichtigt, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen auf Zugang zu Gestaltungsressourcen innerhalb und außerhalb von Einrichtungen haben, dass ‚auf gleicher Augenhöhe‘ oftmals gar nicht gesprochen werden kann, weil viele Ausschlussmechanismen und Benachteiligungsmuster dieses unmöglich machen. Diese Ausschlussmechanismen werden als strukturell manifest erkannt: Die vorherrschende soziale Ordnung basiert auf einer hierarchisierten Einteilung in ‚Wir‘ und ‚Andere‘, in ‚Dazugehörende‘ und ‚Abweichende‘ und kann nach Rommelspacher als „Dominanzkultur“ mit 24
So z. B. bei LARA, Krisen- und Beratungszentrum für vergewaltigte und sexuell belästigte Frauen: „Unsere Beratungsräume sind nur für Frauen zugänglich. Zwar werden Männer beraten, die eine gewaltbetroffene Frau unterstützen möchten, dies aber nur telefonisch. Der Frauen vorbehaltene Raum ist in einer durch männliche Dominanz geprägten Gesellschaft eine Voraussetzung dafür, dass eine Frau sich mit den psychischen und emotionalen Auswirkungen der Gewalt auseinandersetzen kann, ohne befürchten zu müssen, dass es zu erneuten Viktimisierungen kommt.“ (B. Kaufmann 2003: 141).
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immanenten Bemächtigungstendenzen verstanden werden, die mit einer Verteidigung von Privilegien einhergehen, „um die eigene Position als die einzig rechtmäßige, vernünftige und normale zu behaupten“ (B. Rommelspacher 1992: ohne Seitenangabe)25. Rommelspacher geht davon aus, dass „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst“ sind (zit. n. P. Döge 2004: 13). Mit Hilfe des Diversity-Ansatzes sollen dominante Über- und Unterordnungen in der Beratung von Opfern nicht reproduziert oder übergangen, sondern vielmehr kritisch berücksichtigt werden, soll eine mehrdimensionale Perspektive hinsichtlich von Abhängigkeiten, Machtpositionen und menschlichen Potentialen auch in der Hilfe von Menschen gelingen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat wurden. Dies ist in der Opferhilfearbeit insofern von Bedeutung, als dass sich unterschiedliche Menschen an Beratungseinrichtungen wenden. Entsprechend gibt es neben Beratungseinrichtungen, die für alle Betroffenen von Gewalt offen stehen, Einrichtungen, die sich auf besondere Zielgruppen spezialisiert haben, z. B. entsprechend deren Zugehörigkeit zu sozialen Ordnungskategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter oder entlang der Erfahrung von besonderen Formen der Gewalt, wie z. B. Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt oder für Folteropfer. Mit einem mehrdimensionalen Ansatz können diese Zielgruppen noch differenzierter betrachtet werden, obgleich sich auch wieder Querverbindungen zeigen: So können sich beispielsweise Frauen, die sich an eine Frauenberatungsstelle wenden, aufgrund von ethnischer Herkunft und sexueller Orientierung voneinander unterscheiden; schwule Männer, die sich an eine Beratungsstelle wenden, können sich aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und ihrer Muttersprache voneinander unterscheiden; Kinder und Jugendliche, die sich als Opfer von Gewalt an Kinder- und Jugendnotdienste wenden, können aufgrund ihres Geschlechts oder einer Körperbehinderung verschieden sein. Dieser Mehrdimensionalität von Differenz versuchen diversityorientierte Beratungsansätze Rechnung zu tragen. Aber auch Menschen, die sich an eine allgemeine Opferhilfeberatungsstelle wenden, unterscheiden sich bspw. aufgrund ihres Alters oder ihrer Nationalität voneinander. Und alle zusammen differenzieren sich durch weitere Merkmale, beispielsweise entlang sozialer Beziehungen, schulischer Ausbildung, beruflicher Stellung, Partizipation am gesellschaftlichen Leben, ihrer Chancen und ihrer materiellen Ressourcen. Diversityorientierte Beratung setzt in der Opferhilfe sowohl an der Gleichwertigkeit als auch an der Verschiedenheit von Menschen und Gruppen an. Unterschiede werden für einen erfolgreichen Beratungsprozess auf fundierte Weise berücksichtigt. 25
Nur Online ohne Seitenangabe unter: www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Buecher/Herrenvolk/K4.htm (03. 03. 10).
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Diversityorientierung am Beispiel von MANEO
Vor dem beschriebenen Hintergrund entwickelt MANEO als schwules AntiGewalt-Projekt in Berlin seine Beratungsarbeit. Das Arbeitsinteresse richtet sich auf die besondere Zielgruppe schwuler und bisexueller Jugendlicher und erwachsener Männer, die Opfer von Gewaltstraftaten geworden sind. MANEO integriert als Anti-Gewalt-Projekt vier Arbeitsbereiche: Opferhilfearbeit, Erfassung von homophoben Gewalttaten, Kriminalprävention und gewaltpräventive Öffentlichkeitsarbeit sowie bürgerschaftliches Engagement. Indem sich MANEO um schwule und bisexuelle Jugendliche und Männer als Opfer von Gewalt kümmert, arbeitet das Projekt in einem thematischen Dreieck, d. h. in den Tätigkeitsfeldern der Opferhilfe, der männeremanzipatorischen und der schwulenemanzipatorischen Arbeit. Das schwule Anti-Gewalt-Projekt MANEO entwickelte sich aus der Notwendigkeit, auf Besonderheiten und der sich daraus ableitenden Bedürfnislage schwuler und bisexueller Jugendlicher und erwachsener Männer zielgerichtet einzugehen. Betroffene, die sich an MANEO wenden, erfahren Entlastung und Unterstützung, erhalten Raum und Zeit, ihre Bedürfnisse und Hoffnungen zu formulieren. Dabei zeigt sich, wie sich Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen als Narben in die Köpfe schwuler Männer eingebrannt haben, die sie stets daran erinnern, was passiert ist, und dass gesellschaftliche Änderungen trügerisch sein können (vgl. 1.4). Furcht und Unsicherheiten werden durch neuerliche Erfahrungen bestärkt. Dies macht es betroffenen schwulen und bisexuellen Menschen nicht leicht, Gewaltstraftaten oder Fälle von Diskriminierung (auf Grundlage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes – AGG) zur Anzeige zu bringen. Neben der Erinnerung daran, dass die Polizei als Verfolgungsbehörde gegen schwule Männer eingesetzt worden war, existieren unter betroffenen schwulen Männern viele konkrete Erfahrungen darüber, wie sich Polizeibeamte weiterhin ihnen gegenüber verhalten. MANEO sind Fälle bekannt, in denen sich Betroffene über Polizeibeamte beschweren: weil sie in ihrem Wunsch, Strafanzeige zu erstatten, abgewiesen wurden; weil sie in der unaufmerksamen und fehlenden Beweismittelsicherung nach einer Gewaltstraftat Vorurteile der Beamten erlebten; weil sie in Gegenwart von Tätern auch noch als Beschuldigte vorgeführt wurden, usw. Diese Erfahrungen machen in den schwulen Szenen in der Regel schnell die Runde und bestärken andere in ihren Ängsten und Befürchtungen. Fehlende Aufmerksamkeit und fehlende Unterstützung aus den unmittelbaren sozialen Netzen tragen weiter dazu bei, dass viele Gewalttaten zum Nachteil schwuler und männlicher bisexueller Menschen nicht zur Anzeige gelangen. Es sind vor allem fortwährende Bagatellisierungserfahrungen, die in der frühen Jugend erlebt und durch eine Vielzahl weiterer Erfahrungen verstärkt wurden. Sie vermitteln den (jungen) Männern, dass es sich nicht lohnt, gegen Beleidigungen oder körperliche Übergriffe vorzugehen, dass letztendlich sie selbst aufgrund ihrer bloßen Existenz zu diesen beitragen würden. In dieser Hinsicht muss es sich nicht nur um ausschließlich homophobe, vorurteilsmotivierte Gewaltstraftaten handeln, die verschwiegen werden.
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Die Bedenken übertragen sich in andere Gewaltstraftatsbereiche hinein, beispielsweise in Diebstahls- und Raubdelikte, häusliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe, und zwar immer dann, wenn die Opfer befürchten, dass eine Verbindung zu ihrer sexuellen Orientierung hergestellt werden könnte. MANEO begegnet schwulen und bisexuellen Jugendlichen und Männern, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat wurden, im Wissen darum, dass eine hohe Anzahl von Straftaten aus Furcht davor, erneut mit diskriminierenden Vorurteilen konfrontiert zu werden, nicht angezeigt werden, mit großem Respekt. Die Mitarbeiter von MANEO sind hinsichtlich der bestehenden und in der Öffentlichkeit kursierenden Vorurteile sensibilisiert und können darauf eingehen. Sie wissen um den gesellschaftlichen Druck, dem schwule und bisexuelle Menschen nach wie vor ausgesetzt sind. Integriert in eine opferspezifische Fachberatung (vgl. R. Priet in diesem Band) bieten sie einen Schutzraum, wo das Selbstbewusstsein über die eigene sexuelle Orientierung gestärkt wird. Sie helfen beispielsweise dabei, Betroffene aus ihrer Isolation herauszuführen. Weil MANEO selbst mit allen relevanten schwulen Gruppen in Berlin vernetzt ist, können sie Betroffene gleich an unterschiedliche Angebote und Einrichtungen vermitteln, beispielsweise an Jugendgruppen, Sportvereine, Selbsthilfegruppen und andere Freizeit- und Interessengruppen. Sie stellen weiterführende Kontakte zu erfahrenen Rechtsanwälten, Ärzten und Psychotherapeuten her, die seit langer Zeit mit schwulen Männern arbeiten und erfahren sind. Betroffene erhalten darüber in der Regel das, was ihnen oftmals vorenthalten wurde: Kontakt und Vernetzung, Akzeptanz und Annahme, in der Beratungsarbeit, auch ein Einlassen auf Selbstzweifel und Selbstablehnung. Regelmäßig offenbaren sich den Mitarbeitern Muster eingespielter Doppelidentitäten, die teils weniger, teils sehr ausgeprägt sind: Jugendliche präsentieren ihren Eltern eine Alibi-Freundin und suchen nachts schwule Partys auf; Schwule und bisexuelle Männer leben mit ihren Frauen und Kindern und verabreden sich heimlich mit anderen schwulen Männern; auf der Arbeit wird mit den Kollegen über Schwulenwitze gelacht, nur damit kein Verdacht aufkommt, usw. Auch im Kontext seiner männeremanzipatorischen Arbeit vertritt MANEO ein Konzept der Vielfalt, das sich nicht nur in den Rollen ‚Mann‘ und ‚Frau‘ differenziert. Dies ist insofern sinnvoll, als die Furcht vor Stigmatisierungen sowie die Orientierung an starren Rollenerwartungen schwule Jugendliche und Männer immer wieder in stilisiertes Rollenverhalten hinein treibt, zumal auch Schwule, noch bevor sie die Liebe zum eigenen Geschlecht entdeckt haben, mit den typischen Männlichkeitsbildern und männlichen Rollenerwartungen sozialisiert werden. Bestes Beispiel sind jene, die unablässig mit dem verinnerlichten dichotomen Weltbild und der daraus resultierenden Mann-Rolle kämpfen, die nach außen hin ihre ‚wirkliche‘ Männlichkeit ständig unter Beweis stellen müssen, damit sie nicht fälschlicher Weise ‚dem anderen Lager‘ zugeordnet werden. Sie wollen harte Jungen sein, die Aktiven, nach dem Motto: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Große Jungs weinen nicht“, „Herr der Lage sein“. Ein weiterer bemerkenswerter
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Beleg findet sich in der Formulierung von männlichen Jugendlichen, die gleichgeschlechtliche „Abenteuer“ erlebt haben: „Ich bin nicht schwul, ich ficke nur“. Die Angst, über homosexuelles Verhalten die eigene Männlichkeit in Frage gestellt zu sehen, ist groß. Im Wissen darum, dass bei einer Anzeigenaufnahme die Unterlagen durch viele Hände gehen können, stellen sich viele die Frage: „Wie stehe ich nachher als Mann da?“ Soll ein schwuler Mann Anzeige erstatten, nachdem er beispielsweise in Berlin-Schöneberg nachts auf der Straße von einem fremden jungen Mann mit Raffinesse und Geschick zuerst sexuell belästigt, dann bedrängt und schließlich beklaut wurde? Hunderte dieser Fälle haben sich nach ein und derselben Methode in den vergangenen fünf Jahren in der szenetypischen Kiezregion zugetragen. Würde ihnen mit einer Anzeigenerstattung das gleiche Vorurteil begegnen, mit dem die Täter gearbeitet hatten: Schwule Männer suchen ständig Sex; wenn schwule Männer einen Mann ansehen, haben sie ihn angemacht und damit die Situation provoziert („Was guckst du? Bist du schwul oder was?“). MANEO ist bewusst, dass betroffene schwule und bisexuelle Menschen viele Hürden nehmen müssen, um Beratungs- und Unterstützungsangebote anzunehmen. Insofern beinhaltet das Angebotskonzept von MANEO, dass sich Betroffene auch dann an MANEO wenden können, wenn sie einen Vorfall nur melden wollen und keine Beratung wünschen. MANEO bietet sich als „Meldestelle“ an, der Betroffene von homophoben, vorurteilsmotivierten Gewalttaten Vorfälle einfach berichten können. Jedes Jahr registriert MANEO auf diese Weise zahlreiche Vorfälle. Oftmals bietet sich Betroffenen diese Brücke als Zugangsweg an, um mit Mitarbeitern von MANEO ins Gespräch zu kommen. Weiterer Bestandteil des Konzeptes von MANEO ist die aufsuchende Vorort-Arbeit sowie die szenespezifische Werbung. Veranstaltungen und Szenekommunikation wie Internet und Zeitschriften werden genutzt, um Menschen in den unterschiedlichsten Szenebereichen mit Informationen und Angeboten zu erreichen. Wenn Betroffene MANEO nicht finden, versucht das Projekt, Betroffene in den Szenen zu erreichen. Hierzu zählen Informationsstände, die MANEO an szenetypischen Treffpunkten und an Veranstaltungsorten durchführt, oftmals auch nachts. Die Arbeit von MANEO wird innerhalb der unterschiedlichen schwulen Szenen wahrgenommen und unterstützt. Zu seinem guten Ruf trägt vor allem auch sein bürgerschaftliches Engagement bei, das sich beispielsweise in der Organisation von Protesten, Veranstaltungen und innovativen Projektideen zeigt.26 26
MANEO hat u. a. 1993 das Lesbisch-Schwule Stadtfest Berlin ins Leben gerufen und sechs Jahre lang geleitet. In den letzten drei Jahren mobilisiert MANEO für den ‚Internationalen Tag gegen Homophobie‘, der regelmäßig am 17. Mai stattfindet, mit dem Motto „Protect every kiss“ und „Kiss Kiss Berlin“. Mittlerweile ist die Arbeit von MANEO von einem solchen positiven Echo begleitet, dass die vorhandenen Ressourcen nicht mehr ausreichen, um auf alle Anfragen angemessen eingehen zu können. Trotz aller fachlichen Untermauerung dauerte es viele Jahre, bis die Berliner Verwaltung mehr Fördermittel freigab. Bis dahin war zwanzig Jahre lang lediglich eine einzige hauptamtliche Stelle für die Arbeit von MANEO vorgesehen, die sich immerhin an eine Bevölkerungsgruppe von geschätzten 200.000 Menschen richtete. Ende 2009 wurde MANEO um eine weitere Dreiviertelstelle aufgestockt.
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Mittlerweile wirbt die Stadt Berlin auch im Bereich „Gay Tourism“ und bemüht sich, gegenüber anderen europäischen Metropolen aufzuschließen. Es geht dabei vor allem darum, das Image der Stadt als weltoffene und tolerante Metropole zu verbessern; es geht um Berlin als Wirtschaftsstandort. Eine von MANEO zwischen 2006 und 2008 in Berlin durchgeführte „Toleranzkampagne“ hat zu erheblichem Aufsehen und zu neuen Maßstäben im Kampf gegen Homophobie und Hassgewalt geführt, was unter anderem mit dazu beigetragen hat, dass Anfang 2009 das Berliner Abgeordnetenhaus parteiübergreifend einen Aktionsplan gegen Homophobie und für sexuelle Vielfalt verabschiedet hat.27 Darauf aufbauend entwickelt MANEO ab 2010 eine „Gewaltpräventionskampagne“. Ziel ist unter anderem der Erfahrungsaustausch mit anderen europäischen Metropolen sowie die gewaltpräventive Fokussierung des zunehmenden „Gay-Tourism“: Der interkulturelle Dialog wird verstärkt, Informationsmaterial in weitere Sprachen übersetzt, das Sprachmittlerangebot für Betroffene auch in Bezug auf die Weitervermittlung von Angeboten verbessert. 3
Ausblick
Wollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter professioneller Opferhilfen in ihrer Arbeit mit – häufig traumatisierten – Menschen eine angemessene Versorgung sicher stellen, dann sind sie herausgefordert, der mehrdimensionalen Perspektive des Diversity-Ansatzes mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Dabei geht es sowohl um die Weiterentwicklung von Beratungsfähigkeiten und -kompetenzen als auch um die Optimierung der Angebote einer Opferhilfeeinrichtung selbst. Ziel ist es, auf die Bedürfnisse und Belange betroffener Menschen im Wissen um ihre Verschiedenheit besser eingehen, ihre vorhandenen Ressourcen und Potentiale für den Genesungsprozess effektiver stärken und ihnen Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung, rechtliche Beratung und Unterstützung, Sozialleistungen und weitere psychosoziale Unterstützungsangebote noch passender vermitteln zu können. Literatur Bochow, Michael (1992): Vortrag vor dem 26. Deutschen Soziologentag, Düsseldorf 30. 09. 1992. Erweiterte Fassung 10. 10. 1992. Bochow, Michael (1993): Einstellungen und Werthaltungen zu homosexuellen Männern in Ost- und Westdeutschland. In: Lange (Hg.), S. 115–128. Bundeskriminalamt – BKA (Hg.) (2007): Informationen zum polizeilichen Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität (PMK). Bundeskriminalamt (BKA). Meckenheim. 27
Siehe: www.berlin.de/landespressestelle/archiv/2009/04/02/124669/index.html (03. 03. 10).
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Unterstützungsangebote bei Gewalt im Geschlechterverhältnis Innovationen und Herausforderungen Barbara Kavemann
Seit Ende der 1990er Jahre wurde Gewalt im Geschlechterverhältnis – vor allem Gewalt in Paarbeziehungen – in Deutschland verstärkt Thema von Forschung und Politik. Der gesetzliche Schutz wurde verbessert, polizeiliche Eingriffsmöglichkeiten erweitert und Unterstützungsangebote – sowohl für von Gewalt betroffene Erwachsene als auch für die mitbetroffenen Kinder – innovativ gestaltet. Dazu wurde inter-institutionelle Kooperation weiterentwickelt. Der folgende Text gibt eine Übersicht über die Entwicklung, die eine interessante Herausforderung für viele Felder der Sozialen Arbeit bedeutet, vor allem, wenn sie sich als Menschenrechtsprofession versteht und die Menschenrechte auch im privaten Raum Gültigkeit haben sollen.
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Historische Entwicklungslinien
Unterstützungsangebote für Frauen bei Gewalt im Geschlechterverhältnis wurden in Deutschland – wie in den meisten Ländern – durch Initiativen der neuen Frauenbewegung gegründet, die seit Beginn der 1970er Jahre neben ihren politischen Aktivitäten auch immer konkrete praktische Alternativen zur bislang existierenden staatlichen und nicht-staatlichen Versorgung aufbauten. Die ersten Frauenhäuser in Westdeutschland wurden 1976, die ersten Notruf-Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen 1977 und die erste spezialisierte Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Mädchen 1987 gegründet. Sie wurden in den folgenden Jahren ergänzt durch Fachberatungsstellen für Frauen in Gewaltverhältnissen, Zufluchtswohnungen und Mädchenhäuser. Die Existenz dieser Einrichtungen machte sowohl die gesellschaftliche Verbreitung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen als auch ihr Vorkommen in allen Gesellschaftsschichten sichtbar. Sie veränderte die öffentliche Wahrnehmung, zeigte, dass Unterstützung möglich ist und Veränderungen erreicht werden können und wirkte nachhaltig innovativ auf das gesamte Feld der Sozialen Arbeit und alle angrenzenden Berufsfelder. Die Unterstützungspraxis und die Frauenforschung hatten differenziertes Wissen über die Dynamik von Gewalt in intimen Beziehungen, die spezifische Traumatisierung durch sexuelle Gewalt, die Bewältigungsstrategien der betroffenen Frauen, ihre Bindungen und Hoffnungen, die Gefährlichkeit gewalttätiger Männer und ihre Strategien der Bedrohung und Verfolgung sowie spezifische Risiko-
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faktoren erbracht. Dies schlug sich jedoch nicht in einer veränderten Intervention der jeweils zuständigen staatlichen Institutionen nieder. Darüber hinaus hatte sich die Annahme nicht bewahrheitet, dass parteiliche Unterstützung allein das Geschlechterverhältnis verändern kann. Die Frauenhäuser mussten vielmehr befürchten, lediglich als gesellschaftliches Feigenblatt zu fungieren und die Folgen der Gewalt zu verwalten. Es gab keine weitergehenden gesellschaftlichen Anstrengungen, um die Gewalt im Geschlechterverhältnis abzubauen. Die Existenz von Frauenhäusern, Zufluchtswohnungen und spezifischen Beratungsstellen führte teilweise sogar dazu, den Frauen die Verantwortung für die Gewalt auf neue Art zuzuweisen, was sich besonders am Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen zeigte: Wenn Frauen die Gewalt nicht länger ertragen wollten, stand ihnen schließlich der Weg ins nächste Frauenhaus offen. Gingen sie nicht dorthin, waren sie scheinbar mit ihrer Situation einverstanden. Die Unterstützungsangebote verbesserten zwar konkret die Lebenssituation vieler misshandelter und vergewaltigter Frauen, hatten darüber hinaus aber nur wenig Erfolg auf struktureller Ebene. Anfang der 1990er Jahre führte die Erkenntnis, dass die rehabilitativen Maßnahmen allein, so wichtig sie sind, nicht Gewalt im Geschlechterverhältnis wirksam verhindern können, zu einem Perspektivenwechsel und zu Neuorientierungen in der Praxis der Prävention und der Intervention, vor allem hinsichtlich rechtlicher Regelungen und polizeilicher Eingriffsbefugnisse bei Gewalt in Paarbeziehungen. Weil die anhaltende politische Untätigkeit und das Vermeidungsverhalten der Einrichtungen der Regelversorgung mit der Existenz von Frauenhäusern und Beratungsstellen gerechtfertigt wurde, musste sich grundlegend etwas ändern, damit nicht weiterhin das Problem individualisiert wurde und misshandelte Frauen – und ihre Kinder – die ganze Last der Konsequenzen tragen mussten. Aber auch innerhalb der feministischen Gewaltdiskussion waren Veränderungen zu verzeichnen. Das gesellschaftlich gültige Opferbild wurde zunehmend kritisch hinterfragt: Die Forderung nach gesellschaftlicher Ächtung der Gewalt im privaten Raum wurde im Laufe der Diskussion immer weniger mit der Verletzung der moralischen Unschuld der Opfer begründet, sondern zunehmend mit der Rechtsverletzung durch die Täter. Damit erreichte die Auseinandersetzung mit Gewalt im Geschlechterverhältnis eine neue Ebene. Wenn die Gewalt im privaten Raum als Rechtsverletzung anerkannt werden soll, wird das Gewaltmonopol des Staates auch für Gewalt im Geschlechterverhältnis eingeklagt, die überwiegend hier stattfindet (P. Tjaden/N. Thoennes 2000). Dann ist staatliche Intervention gefordert. Für Frauen und Kinder, gegen die im privaten Raum bislang fast konsequenzlos Gewalt angewendet werden konnte, sollten somit Menschenrechte im vollen Umfang gelten. Ein erster nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wurde 1998 verabschiedet, der zweite folgte 2007 (BMFSFJ 2007).
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Mit den Interventionsprojekten gegen häusliche Gewalt (B. Kavemann et al. 2001), die sich in den 1990er Jahren vielerorts in Deutschland gründeten, wurde die Veränderung auf eine strukturelle Ebene gehoben. Diese Kooperationsbündnisse, in denen alle mit dem Thema befassten Einrichtungen und Institutionen koordiniert am Thema arbeiten, waren Ausdruck eines Perspektivenwechsels: Der Staat und seine Institutionen beteiligten sich zunehmend daran, häusliche Gewalt zu ‚entprivatisieren‘. Durch die interinstitutionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit konnte die Thematik häusliche Gewalt in ihrer Vielgestaltigkeit erkannt und die Intervention auf gemeinsame Ziele ausgerichtet werden. Der Gründung der Interventionsprojekte lag die Analyse zugrunde, dass weniger die betroffenen Frauen ein Muster gelernter Hilflosigkeit zeigten als vielmehr die Institutionen, die Hilfe leisten sollen. Die Gesellschaft handlungsfähig gegen diese Form der Gewalt im privaten Raum zu machen, bestehende Intervention zu optimieren und Interventionsschritte entsprechend dem Konzept der Interventionskette aufeinander abzustimmen, waren die Ziele der neuen Interventionsstrategien. Die Kooperation der Frauenunterstützungseinrichtungen mit staatlichen Stellen, die an Runden Tischen und in Interventionsprojekten aufgebaut wurde, brauchte als Basis eine Sprache und Begrifflichkeit, die der gegenseitigen Verständigung diente, und die mit den rechtlichen Grundlagen und der Institutionslogik aller Beteiligten kompatibel war (B. Kavemann et al. 2001; WiBIG 2004c: 11). Die Fraueneinrichtungen verzichteten auf die als polarisierend kritisierten Begriffe „Männergewalt“ bzw. „Gewalt gegen Frauen“, und die Polizei gab die Bezeichnung „Familienstreitigkeiten“ auf, die als verharmlosend empfunden wurde. Als Institutionen übergreifend konsensfähig erwies sich der Begriff „häusliche Gewalt“ oder „Gewalt in engen sozialen Beziehungen“. Damit legten sich Polizei und Justiz darauf fest, das Geschehen ausdrücklich als „Gewalt“ zu benennen und bekannten sich damit zur Verantwortung des Staates für Opferschutz und rechtliche Sanktion. Mit dem Begriff wurde darüber hinaus ein Raum dafür eröffnet, die Betroffenheit der Kinder von Gewalt gegen die Mutter als eine Form der Gewalt gegen das Kind zu sehen. Im Unterschied zu Begriffen wie „Gewalt in der Ehe“ ist die Bandbreite unterschiedlicher Lebensformen, z. B. auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften oder Wohngemeinschaften, einbezogen. Darüber hinaus garantiert die geschlechtsneutrale Formulierung, dass auch von Gewalt durch eine Partnerin betroffene Männer Schutz und Hilfe in Anspruch nehmen können. Ein großer Erfolg war eine neue rechtliche Norm, das Gewaltschutzgesetz, das einen staatlichen Schutz von Individualrechten von Gewaltopfern in intimen Paarbeziehungen beinhaltet. Es trat 2002 in Kraft und gewährt einer von häuslicher Gewalt oder Bedrohung betroffenen Person zivilrechtlichen Schutz in Form von Näherungs- und Kontaktverboten bzw. erlaubt die alleinige Nutzung der Wohnung. Es wurde flankiert durch Veränderungen im Polizeirecht fast aller Bundesländer. Die Eingriffsbefugnis der Polizei wurde dahingehend erweitert,
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dass sie, wenn sie zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung in einer Partnerschaft oder Familie gerufen wird, effektiv schützend eingreifen kann: Die gewalttätige Person kann bei entsprechender Gefährdungsprognose der Wohnung verwiesen und ihr die Rückkehr untersagt werden.1 Die neue polizeiliche Praxis ist – mit regionalen Spezifika – mit pro-aktiver Beratung für die Opfer als neuartigem Unterstützungsangebot verbunden. Auf der Basis datenschutzrechtlicher Möglichkeiten vermittelt die Polizei den Opfern den Kontakt einer autorisierten Beratungsstelle, die Information, Krisenintervention und Beratung anbietet. Ebenfalls regional unterschiedlich ist der Ausbau von Angeboten an sozialen Trainingskursen, in die gewalttätige Männer mit unterschiedlichen Formen justizieller Auflagen gewiesen werden können (vgl. WiBIG 2004b; M. Barz et al. 2006 ). Während diese Angebote inzwischen ernster genommen und in ihrer Bedeutung für die Sicherheit bei Trennungen wegen häuslicher Gewalt erkannt werden, fehlt es noch weitgehend an adäquaten Ressourcen. Bislang gelang es nicht, die Justiz- und Innenverwaltungen entsprechend ihrer Verantwortung für die Finanzierung dieser Arbeit zu gewinnen.
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Neue Differenzierungen und eine Reflexion begrifflicher Konstruktionen
Die Konstruktion des ‚Opfers‘ in der Dichotomie ‚Opfer‘ – ‚Täter‘ steht im Zentrum der Auseinandersetzung mit konkreten Gewaltvorkommnissen in der Sozialen Arbeit. Diese Konstruktion folgt häufig der Dichotomie ‚Unschuld‘ – ‚Schuld‘ und ‚weiblich‘ – ‚männlich‘. Die Frage der Angemessenheit und Gültigkeit dieser Konstruktion wurde umso dringlicher, je differenzierter der Blick auf Gewalt in Geschlechterbeziehungen wurde und je deutlicher unterschiedliche Muster der Dynamik in Gewaltbeziehungen identifiziert werden konnten. Johnson und Leone (2005) unterscheiden zwei Muster, „intimate terrorism“ und „situational couple violence“, nach dem Kriterium der Einbettung in ein System von einseitiger Macht und Kontrolle. Bei dem Muster „intimate terrorism“ ist Gewalt Teil eines allgemeinen Musters der Kontrolle des Täters über das Opfer und verbunden mit Frauenfeindlichkeit. „Situational“ oder „common couple violence“ gehört zu einer Form von Familienleben, das von Konflikten und entsprechender Machtausübung bestimmt ist. Die Gewalt beruht auf einer Zuspitzung der Auseinandersetzung in spezifischen Konfliktsituationen und ist nicht mit einer überdurchschnittlichen Frauenfeindlichkeit verbunden (M. Johnson/J. Leone 2005: 1127). 1
Da es sich um eine Maßnahme der Gefahrenabwehr handelt, gilt die Wegweisung oder der Platzverweis – der Sprachgebrauch ist nach Bundesland unterschiedlich – für einen bestimmten, begrenzten Zeitraum. Längere Zeiten der Wohnungsverweisung müssen über das Gericht beantragt werden.
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Die Wirksamkeit der Konstruktion des ‚guten‘ Opfers lässt sich daran ablesen, wie stark Personen, die von diesen Bildern abweichen, auf Vorbehalte stoßen. ‚Untypische‘ Opfer berichten über negative Reaktionen von Unterstützungsinstitutionen und der Polizei, weil sie sich als handlungsfähig, selbstbewusst und teilweise auch dem Mann überlegen darstellten und sich selbst auch nicht als Opfer identifizierten: Nicht sie hätten ein Problem, sondern ihr Partner (C. Helfferich et al. 2004). Andere Frauen distanzierten sich implizit von einer klugen, klaren und strategischen Nutzung ihrer Kenntnisse von polizeilichen und rechtlichen Eingriffs- und Schutzmöglichkeiten. Sie fürchteten, mit einem solchen Vorgehen als berechnende Ehefrau zu erscheinen, die um des eigenen Vorteils willen den Ehemann belastet, während er eigentlich das Opfer sei. Diese Bedenken reflektieren die weit verbreitete und kollektiv verankerte Sorge, Frauen könnten Männer falsch anzeigen, die insbesondere bei Sexual- oder Gewaltdelikten zu beobachten ist, obwohl in kaum einem anderen Delinquenzbereich so niedrige Anteile an Falschanzeigen zu finden sind (K. Weis 1982). Das schwebende Misstrauen kann das Opfer am besten dadurch entkräften, dass es sich als hilflos und uninformiert gibt. Dieses „Dilemma der informierten Nutzung“ weist auf Widersprüche in der Konstruktion des Opfers hin: Einerseits sollen Frauen prinzipiell über die Möglichkeiten des Platzverweises und der Wohnungszuweisung informiert sein, andererseits passt eine selbstbewusste und informierte Handlungsfähigkeit nicht zu dem Opferbild und weckt Misstrauen bezogen auf die Darstellung der erlittenen Gewalt. Von Vorbehalten berichteten auch Frauen, die in eine Gewaltbeziehung zurückkehrten oder die bei einer polizeilichen Intervention nicht kooperierten und den Partner trotz Wegweisung wieder in die Wohnung aufnahmen. Auch sie passen kaum in die Konstruktion des (‚guten‘) Opfers. Nicht in das Bild passende Opfer in diesem Sinn, dass sie sich nicht helfen lassen wollen, sind auch Opfer häuslicher Gewalt, die Alkoholprobleme haben. Studien aus Interventionsprojekten bestätigen, dass dann, wenn die Frau bzw. das Opfer getrunken hatte, weder ein Platzverweis ausgesprochen, noch eine andere Unterstützung initiiert wurde (C. Helfferich et al. 2004). Inzwischen ist allerdings die Bindung von Frauen an gewalttätige Partner im Rahmen und die Funktion von Alkoholabusus in der Traumaforschung besser untersucht und zumindest teilweise einem Verständnis erschlossen (J. L. Herman 1993). Dennoch löst dies nicht die Spannung zu einer Opferkonstruktion, die auf der Unschuld des Opfers beruht und die die Mitverantwortung der Opfer, die die Chance zur Beendigung der Beziehung und das Angebot an Unterstützung nicht nutzen, nicht integrieren kann. Analog wirken auch Konstruktionen des ‚Täters‘, die aber – wie die Auseinandersetzung mit der Verantwortung für die Gewalt und den aggressiven, bedrohlichen Anteilen des Täters allgemein – undeutlicher und unklarer sind. Der parteiliche, feministisch verankerte Ansatz in der Arbeit mit Frauen stellt die Stärkung des Opfers in den Mittelpunkt der Arbeit und schließt die Arbeit mit Tätern aus. Die
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damit konkurrierende allparteiliche, systemische Arbeit sucht die Verantwortung in der Dynamik der Interaktion, an der beide Seiten beteiligt sind. Beide Ansätze blenden – auf unterschiedliche Weise – die spezifischen Anteile des Täters aus. Eine weitere Entwicklung stellt die Dichotomie der Konstruktion ‚Opfer‘ – ‚Täter‘ in mehrfacher Hinsicht in Frage. Eigene Opfererfahrungen können dazu führen, dass Männer häusliche Gewalt ausüben. Frauen als Opfer häuslicher Gewalt können selbst z. B. gegenüber ihren Kindern Täterinnen werden. Und schließlich zeigt das Muster „common couple violence“ (M. Johnson/J. Leone 2005) eine spezifische Konstellation, in der beide Beteiligten gleichzeitig zu Tätern und Opfern werden. Die Konstruktion von ‚Opfer‘ und ‚Täter‘ ist nicht nur auf dem Gegensatz von ‚Schuld’ und ‚Unschuld’ aufgebaut, sondern korrespondiert mit Geschlechterkonstruktionen: Das Opfer ist weiblich, der Täter männlich konstruiert. Opfererfahrungen sind mit den Vorstellungen von Männlichkeit nur schwer kompatibel, während Gewalt gegen (Ehe-)Frauen historisch geduldet und teilweise als Macht des Familienoberhauptes über die Familienmitglieder gesetzlich codifiziert war. Erst die neuere Forschung untersucht die Gewaltbetroffenheit von Männern (vgl. BMFSFJ 2004; P. Tjaden/N. Thoennes 2000), wobei aber von einer stärkeren Tabuisierung von Gewalterfahrungen im häuslichen Bereich und einer höheren Dunkelziffer bei männlichen, verglichen mit weiblichen Gewaltopfern auszugehen ist. Auch hier ist von einer Differenzierung auszugehen: Während das Muster „intimate terrorism“ vor allem von Männern ausgeübt wird, sind bei „situational couple violence“ sowohl Frauen als auch Männer (eher ‚gendersymmetrisch‘) involviert (M. Johnson/J. M. Leone 2005). Mit dem Einbezug von Männern ist es schwieriger geworden, die Geschlechtsbezogenheit von Gewalt in nahen und intimen Beziehungen zu benennen und im Fokus der Intervention zu halten. Ohne den geschlechtsspezifischen Blick gerät jedoch die ganze Diskussion in eine Schieflage. Die Begriffe „Gewalt gegen Frauen“ und „Gewalt gegen Männer“ umfassen in der gängigen Diskussion aber nicht das gleiche Spektrum an Gewaltverhältnissen und weisen auf einen Bedarf an unterschiedlichen Interventions- und Präventionsansätzen hin. Während die Rede von Gewalt gegen Frauen zwar vielfältige Ausprägungen von Gewalterleben umfasst, fokussiert sie jedoch ausschließlich Gewalt von Männern gegen Frauen und bedeutet eine Kritik der Konstruktion des Geschlechterverhältnisses. Gewalt in der Arbeitswelt wird in der Form sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in den Begriff einbezogen wie Gewalt in Kriegen und bewaffneten Konflikten fast ausschließlich in Form von Vergewaltigungen. Auch Gewalt in der Kindheit erfährt, wenn überhaupt, dann nur in Form des sexuellen Missbrauchs Eingang in die Debatte. Die Rede von Gewalt gegen Männer umfasst im Unterschied dazu alle Gewalt im Leben von Männern, unabhängig vom Alter der Gewaltbetroffenen und von der Person der Gewalthandelnden. Es geht darum, zu etablieren, dass auch Männer Opfer von Gewalt werden und verletzbar sind. Der Begriff ist zu
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verstehen als eine Kritik dominanter Männlichkeitskonstrukte. Gewalt in der Kindheit ist in all ihrer Vielfalt enthalten; Gewalt im Arbeitsleben – vor allem in der Form psychischer Gewalt – nimmt einen zentralen Platz ein. Gewalt gegen Männer wird überwiegend von Männern verübt. Die Anklage richtet sich somit nicht gegen Frauen – außer in den konkreten Fällen, in denen Frauen gewalttätig gegen Jungen und Männer sind –, sondern gegen eine Gesellschaft, die von Männern die Anpassung an schädigende Männlichkeitskonzepte verlangt; d. h. Männer müssen vor allem über das eigene Geschlecht sprechen, wenn sie von Gewalt sprechen. Eine Thematisierung der Ambivalenz zwischen Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Genuss von Privilegien oder der Gleichzeitigkeit von Täter- und Opfersein hat erst begonnen.
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Differenzierter Unterstützungsbedarf von Frauen nach polizeilicher Intervention
Zu den wichtigsten Erkenntnissen neuerer Forschung gehört der Einblick in die Heterogenität von Gewaltverhältnissen und daraus resultierendem Unterstützungsbedarf. 3.1
Muster von Gewaltverhältnissen
In dem Forschungsprojekt „Platzverweis – Beratung und Hilfen nach einer polizeilichen Intervention“, in dem 30 qualitative Interviews mit Frauen aus BadenWürttemberg durchgeführt wurden (C. Helfferich et al. 2004), konnten vier unterschiedliche Muster, wie sich Frauen zu der Gewaltbeziehung stellen, herausgearbeitet und der jeweils damit verbundene Beratungsbedarf bestimmt werden. Die Unterschiede wurden daran festgemacht, wie sich die Frauen in die Gewaltbeziehung eingebunden fühlen, wie sie sich selbst als mehr oder weniger handlungsfähig wahrnehmen, und wie sie Veränderungspotenziale in der Entwicklung der Beziehung in der Vergangenheit und in die Zukunft hinein sehen. Diese Aspekte sind für die Beratung wichtig, denn sie berühren die Möglichkeiten der Frau, Veränderungen in der Beziehung zu bewirken. Die Zuordnungen zu einem Muster beruhen damit auf einer zeit- und kontextgebundenen Deutung der zurückliegenden Ereignisse, so wie sie eine Frau in der aktuellen Beratungssituation berichtet. Sie können sich im Verlauf der Zeit verändern, z. B. kann die subjektive Handlungsmächtigkeit zu- oder abnehmen. Die Muster sollen nicht als ‚Schubladen‘ verstanden werden, in die Frauen gepresst werden, sondern als ‚Diagnosehinweise‘. Sie sollen die Aufmerksamkeit für systematische Unterschiede in der Vielfalt an Gewaltbetroffenheiten schärfen und helfen zu erfassen, welche Aspekte von möglicherweise mehreren Mustern bei einer Frau zutreffen, um entsprechend beraten zu können. Mischformen, Ab-
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weichungen, Veränderungen und Übergänge zwischen den einzelnen Mustern sind nicht nur möglich, sondern zu erwarten (C. Helfferich et al. 2004: 41ff.). 3.1.1 Muster „Rasche Trennung“ Der Blick auf die zurückliegende Zeit zeigte ein Bedauern über eine Verschlechterung der Beziehung im Zusammenhang mit Problemen des Mannes (z. B. Sucht, Arbeitslosigkeit), die in einmaligen oder auch mehrmaligen Streitigkeiten, Konflikten und Gewaltausbrüchen mündete. Der Gewaltvorfall bzw. ein bestimmter Gewaltausbruch bildete eine eindeutige Zäsur, er war nicht akzeptabel und als Folge eine Trennung klar. Der Platzverweis ermöglichte die Umsetzung der sofortigen räumlichen Trennung. „… die Entscheidung, die Beziehung nicht fortzusetzen, ist in dem Sinne gar nicht gefallen, es geht eigentlich nicht, (…) das Vertrauen ist ganz einfach nicht mehr da. (…) Der Mann hat so wenig Achtung vor dir um dich so zu schlagen, das geht nicht mehr“ (Interview 1-4).
Die Frauen sahen sich als aktiv handelnd und handlungsfähig, wehrhaft, selbständig und z. T. als dem Mann überlegen. Sie waren informiert und hatten klare Vorstellungen bezogen auf die Beziehung (Gleichberechtigung, Vertrauen, keine Duldung von Gewalt). Sie sahen sich nicht als Opfer und wenig beratungsbedürftig. Ein Beratungsbedarf wurde aufgrund der Gewalt bzw. der Probleme des Mannes beim Partner gesehen. Für sich selbst äußerten sie aber den Wunsch nach „Gesprächen“ und sie wünschten rechtliche Informationen und Unterstützung in der praktischen Umsetzung der Trennung. Dieses Muster fand sich tendenziell eher bei Frauen, die jung waren und erst eine kürzere Zeit – teilweise unverheiratet und ohne Kinder – in der Partnerschaft lebten, und denen eine selbständige Erwerbstätigkeit wichtig war. 3.1.2 Muster „Neue Chance“ Die Beziehung zu dem gewalttätigen Mann wurde als im Grundprinzip gewaltfreies und „normales“ Familienleben beschrieben, in der Gewalt eben ‚nur‘ immer wieder in einzelnen Episoden auftrat und diese Normalität durchbrach. Die Gewalt wurde als Ausnahmezustand mit Krisen des Mannes erklärt, ausgelöst durch Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Schulden, psychische Belastungen oder Erkrankungen. Da diese Probleme prinzipiell lösbar seien, und mit ihrer Beseitigung die Gewalt ein Ende haben könnte, wurde eine Rückkehr zu der alten Normalität als möglich erachtet und gewünscht. Eine Option, sich zu trennen, falls der Partner die Bewährung nicht nutzt, blieb relativ vage und unkonkret. Die Frauen sahen sich als handlungsmächtig, auch wenn sie im Vorfeld mit ihren Anstrengungen, die Gewalt zu beenden, den Mann nicht zu einer Änderung be-
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wegen konnten. Die Polizei bestärkte sie und sie hofften auf einen pädagogischen Effekt der Wegweisung, durch den der Mann zur Einsicht gelangen solle, dass er sich verändern muss. „… Ja, du hast jetzt zwei Wochen Pause und kümmerst dich drum, dass du selber Hilfe kriegst, und wenn du das nicht machst, dann möchte ich nicht mehr, dass du kommst. Ich möchte so nicht mehr leben, jetzt muss sich was ändern.“ (Interview 2-2).
Die Frauen aus diesem Muster sahen Beratungsbedarf weniger bei sich als bei ihrem Partner (manchmal auch bei den Kindern). Sie suchten aktiv Beratung auf, um Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten für den Mann und/ oder die Kinder, häufig auch Paarberatung zu bekommen. Bei einer Beratung fühlten sie sich schnell in Richtung Trennung gedrängt, worauf sie ablehnend reagierten. Diese Sichtweisen und Deutungen der Beziehung fanden sich tendenziell eher bei Frauen, für die über einen längeren Zeitraum eine Familie mit Mann und Kindern der Mittelpunkt ihres Lebens und ihr biografisches Ziel war. 3.1.3 Muster „Fortgeschrittener Trennungsprozess“ Die Berichte über die Gewaltbeziehung bei diesem Muster umspannen eine lange Zeit: Der Beginn der Gewalttätigkeit des Mannes reichte weit zurück, die zuletzt chronisch auftretende Gewalt hatte sich über die Zeit verändert und an Schwere zugenommen, wobei immer wieder neue Grenzen überschritten wurden. Parallel dazu wuchs die Bereitschaft der Frau zur Trennung mit verschiedenen, zum Teil offenen, zum Teil heimlichen Schritten, z. B. räumliche Trennung innerhalb der Wohnung, Trennung in der Haushaltsführung oder Gespräche mit Anwält/innen. Nach einer Eskalation und Zuspitzung beendete der Platzverweis dann abrupt und definitiv den bereits fortgeschrittenen Trennungsprozess. „… Er hat mir sehr weh getan, aber es hat mir nicht ausgereicht, um eben den Schlussstrich zu ziehen, nur als das passiert ist, da war’s zu viel. Erstens mal hat er meine Eltern beleidigt, als sie da waren, er hat mich beleidigt, er hat mich sehr gedemütigt, so gedemütigt, dass meine Mutter geweint hat. Und meine Eltern, meine Kinder, die stehen über meinem Mann, über meiner Arbeit, über alles. Und wer die angreift, oder irgendwie kaputt macht in dem Moment, da – also das war dann der Ausschlag.“ (Interview 3b-3; Wendepunkt in der Erzählung einer schwer und über Jahre misshandelten Frau).
Das Muster ist in sich heterogen: In einer ersten Variante gehörte zu der Vorgeschichte zunächst eine wachsende Ohnmacht und Hilflosigkeit unter traumatisierenden Erfahrungen. Eine Folge kleiner Wendepunkte, jeweils mit besonders verletzenden, neuen Formen der Gewalt, markieren den Beginn von etwas Neuem, von subtilem oder offenem Widerstand, Aktivität und einer allmählichen Lösung aus der Bindung an den Mann. In den anderen beiden Varianten ging die Handlungsfähigkeit im Laufe des Gewalterlebens nicht grundsätzlich verloren. Die zweite Variante beinhaltet Streit
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und Auseinandersetzung während der Ehe, wobei Frauen sich durchaus mit einem aktiven Part und auch an der finalen Gewalteskalation beteiligt beschrieben. Auch hier war der Trennungsprozess fortgeschritten und der Entschluss zur Trennung gereift. Die Wegweisung wird als Unterstützung erlebt, „ihr Recht“ auf die Wohnung durchzusetzen. „… also wir haben dann nur noch Krach miteinander gehabt, da hab ich ihn dann gebeten, er möchte mir doch jetzt die Wohnung überlassen, mir und den Kindern – und ja er zieht zu seinen Freunden (…), er wird nicht mehr kommen und so weiter und so weiter. Und dann bin ich eigentlich davon ausgegangen, (…) dass er wirklich nicht mehr kommt. Und war dann abends in der Gaststätte gegenüber und hab natürlich in meinem Frust etwas übern Durst getrunken, bin nach Hause gekommen und da lag er breit im Bett. (…) und mir ist der Geduldsfaden gerissen und ich hab einfach eine Schüssel Wasser genommen und hab ihm die Schüssel Wasser übern Kopf geschüttet…“ (Interview 3a-4).
Die dritte Variante beinhaltet ebenfalls Handlungsfähigkeit im fortgeschrittenen Trennungsprozess. Die Trennung war aber erst möglich, als – an einem Wendepunkt – die familialen Werte, die die Familie über das Leiden an der Gewalt stellten, relativiert wurden. Auch hier setzte die Wegweisung einen Schlussstrich unter den Trennungsprozess, der möglicherweise ohne den Polizeieinsatz noch angedauert hätte. Der Beratungsbedarf dieser Frauen lag zuerst bei der pragmatischen Bewältigung der neuen Lebenssituation, in der sie auf sich allein gestellt waren, bei der Sicherheit sowie bei der Klärung der rechtlichen und finanziellen Situation. Angebote zu gemeinsamen Gesprächen mit dem Partner stießen auf Ablehnung; die Frauen wünschen sich vielmehr die Ermutigung und Erlaubnis zur Trennung. Diesem Muster sind die meisten der befragten Frauen zuzuordnen, überwiegend verheiratete Frauen mit Kindern. Zum Zeitpunkt der Befragung war bei allen die Scheidung eingereicht oder bereits rechtskräftig. 3.1.4 Muster „Ambivalente Bindung“ Auch bei diesem Muster dauerte die Gewaltbeziehung lange an und die Entwicklung entsprach der Dramaturgie der Gewaltspirale oder der „psychischen Gefangenschaft“ (J. L. Herman 1993): Die Gewalt setzte früh, oft in der Phase des Kennenlernens, ein und bewirkte eher eine stärkere Bindung an den Mann und einen sukzessiven Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit. Handlungsansätze blieben ineffektiv und reaktiv. Die Frauen äußerten Angst, Einschüchterung und Hass auf der einen Seite, auf der anderen Seite Mitleid und Solidarisierung mit dem bedürftig erscheinenden Partner. Wie bei einer Spirale gab es nur neue Windungen, aber keinen Ausbruch. Die Beziehung konnte nicht beendet werden und die Wegweisung kein Sicherheitsgefühl erzeugen, da der Mann als übermächtig erlebt wurde. Dennoch ist sie
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bedeutsam, denn die räumliche Trennung war eine Grundvoraussetzung dafür, Veränderungsprozesse überhaupt vorstellbar werden zu lassen. „…ich bin mir sicher ich weiß nicht, ob ich es geschafft hätte, wenn er jetzt draußen wäre (…) da täte er wahrscheinlich wieder neben mir sitzen, deshalb: ich bin Gott froh, dass er weg ist im Knast. So ist für mich die Trennung besser und leichter und schneller…“ (Interview 4-2).
Die Eigendynamik dieses Musters lässt sich durch die psychischen Überlebensstrategien erklären, wie z. B. durch die Versuche, über die Nähe zum Täter und dem Ablesen seiner Stimmungen ein letztes Quantum an Kontrolle über die Situation zu behalten. Diese Strategie wurde durch die Wegweisung unterbunden, was erklären kann, warum mit dem Platzverweis die Angst nicht endete, und auch warum der Mann noch während oder direkt nach dem Platzverweis wieder aufgenommen wurde. „…weil diese Angst nicht losgelassen hat, hab ich angefangen, auf die SMS zu antworten, auf Telefonate zu antworten, damit ich die Stimme höre und seine Laune erhaschen kann, wie es ihm geht und höre, und war er friedlich, dann hatte ich nicht mehr so große Angst vor ihm…“ (Interview 4-1).
Der Beratungsbedarf dieser Frauen ist aufgrund der Traumatisierungen objektiv sehr hoch, die Bereitschaft dazu war jedoch gering, da eine Veränderung der Situation zwar gewünscht, aber gleichzeitig auch gefürchtet wurde. Außerdem fürchteten die Frauen den Zorn des Partners, wenn sie mit anderen über die Gewalt sprachen. In der Beratung sollten die Aspekte von Stabilisierung, Stärkung und Sicherheit sowie die Auseinandersetzung mit der ambivalenten Bindung der Frauen im Vordergrund stehen. Für eine spätere Phase ist die (therapeutische) Aufarbeitung der chronischen Traumatisierung angezeigt. Für Beratungsstellen und Polizei besteht die Gefahr, dass sie in die Beziehungsdynamik hineingezogen werden. Auflagen für den Mann, an einem Täterprogramm teilzunehmen, sind speziell bei diesem Muster als Zugriff von außen notwendig. Bei diesem Muster gibt es wenig Hinweise auf soziale Einflussfaktoren. 3.2
Beratungsdistanz und Beratungsnähe
Das Ergebnis der Analyse lautet zusammengefasst: Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Frauen gleichermaßen richtige Vorstellungen davon haben, was psychosoziale Beratung leistet bzw. leisten kann. Insbesondere niedrig qualifizierte Frauen mit einem niedrigen sozialen Status hatten eine große Distanz zu psychosozialer Beratung; sie bevorzugten Unterstützung durch die Familie und das Umfeld. Die Erwartungen an Unterstützungen bilden sich über biografische Erfahrungen von Hilfe durch das Netzwerk von Familie und Freunden als einer Solidargemeinschaft heraus. Familiäre Hilfe gilt dann als prioritär und psychosoziale Hilfe eher als fern und möglichst zu vermeiden. Interviewbeispie-
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le unterstreichen vor allem praktische Hilfe durch Angehörige (z. B. Finanzierung der Miete). Einige Frauen hatten eine Vorstellung von Familie als Innenwelt, als Welt des Vertrauten und Privaten, abgegrenzt gegen die „Welt draußen“, die Öffentlichkeit und Menschen, die nicht zur Familie gehören. Zu den Regeln gehört, dass man das, was in der Familie geschieht, nicht nach außen trägt. Wer nicht zur Familie gehört ist „Fremder“, und mit Fremden bespricht man nicht ohne weiteres Probleme der Familie. Scham stellt eine hohe Beratungsbarriere dar, auch wenn Informationen über Beratung vorhanden sind. Beratungsferne wird auch durch biografische Selbstidentifikationen als „Einzelkämpferin“ erzeugt. Explizit negative Erwartungen können verbunden sein mit der Gleichsetzung von Beratung mit „der Psychologin“ als eine, die „fragt“, auch wenn gerade kein Wunsch zur Aussprache besteht, sondern eher der Wunsch nach Vergessen, was geschehen ist, und nach Wiederherstellung von „normalen“ Alltagsroutinen. „Die Psychologin“, stellvertretend für psychosoziale Beratung überhaupt, verursacht – so die Einstellung – eher Belastungen, als dass sie hilfreich ist, und Beratungsgespräche sind zu emotional aufwühlend, um hilfreich zu sein in einer Zeit, in der um Stabilität gerungen wird. Als hilfreicher erscheinen das funktionierende Solidarsystem und der funktionierende Alltag. Instanzen wie das Sozial- oder Jugendamt werden aufgrund von negativen biografischen Vorerfahrungen als Instanzen sozialer Kontrolle eingeordnet und entsprechend nicht als hilfreich in psychosozialen Krisen erachtet. Beratungsnähe geht in der Regel mit positiven Vorerfahrungen – z. B. mit einer wirksamen Psychotherapie – und guten Kenntnissen im psychosozialen Bereich einher. Diese Vertrautheit mit dem psychosozialen Bereich kann sich darin ausdrücken, dass die eigenen Erfahrungen in der Sprache und mit der Begrifflichkeit der psychosozialen Profession gedeutet werden („Ambivalenz“, „Kontrollverlust“, „Konfliktlösungsverhalten“ und „Kommunikationsstörungen“, etc.). Die Klientin und die Beraterin sprechen dann dieselbe Sprache und eine Verständigung und Hilfe wurde erwartet. Frauen mit einer Beratungsnähe sehen eher einen Vorteil darin, dass Beraterinnen „fremde Menschen“ sind, weil sie mit der Fremdheit eine gewisse Distanz zu den Problemen und damit einen unvoreingenommenen Rat und die Eröffnung neuer Perspektiven verbinden. 3.3
Unterschiedlich umfangreicher und intensiver Unterstützungsbedarf von Frauen
Eine Differenzierung nach Umfang und Intensität von Unterstützungsbedarf wurde bei der Evaluation von pro-aktiv arbeitenden Interventionsstellen in Niedersachsen erarbeitet (R. Löbmann/K. Herbers 2005). Die 17 in diesem Kontext interviewten Frauen, die bezogen auf die soziale Situation, Handlungsmächtig-
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keit und Erwartungen an Beratung sehr heterogen waren, hatten sich selbst an die Beratungsstelle gewandt. Ihr Unterstützungsbedarf war sehr unterschiedlich: Das Minimum lag bei einem und das Maximum bei 34 Beratungsgesprächen (ebenda: 87). Es wurden drei Muster herausgearbeitet. Frauen, die sich als ohnmächtig beschrieben und einen großen Unterstützungsbedarf formulierten Diese Frauen waren auf umfassende Unterstützung über einen längeren Zeitraum angewiesen. Sie wünschten eine durchgehende Erreichbarkeit der Beratungsstelle und eine engmaschige Begleitung (Erläuterung sämtlicher Maßnahmen aller beteiligten Einrichtungen, Verabredung von Terminen z. B. bei Ämtern und Begleitung zu den Terminen, insbesondere Gerichtsterminen, Verantwortung für die Sicherheit in akuten Gefährdungssituationen). Die Frauen nahmen zudem an weiteren Angeboten (z. B. Gesprächskreisen) teil. Besonders wichtig war ihnen der pro-aktive Ansatz kombiniert mit nachgehender Betreuung. Frauen, die ihre Handlungsmöglichkeiten gering einschätzten, aber nach Erhalt von konkreter Unterstützung selbständig agieren konnten (mittlerer Unterstützungsbedarf) Frauen der zweiten Gruppe verfügten über eine gewisse Handlungsfähigkeit und benötigten bzw. wünschten eine stark an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtete, konkrete Unterstützung der Beratungsstelle. Sie wussten im Allgemeinen, was sie wollten und legten Wert auf die Befähigung, weitere Schritte auch ohne Unterstützung der Beratungsstelle zu gehen. Sie wollten „auf eigenen Beinen“ stehen, „nicht abhängig“ sein, nicht „erdrückt“ werden von Unterstützung, die Dinge „selber machen“ und konnten dies durch die ihnen von der Beratung gegebenen Informationen und Beratungen auch realisieren. Wichtig war aber eine konkrete Vermittlung von Anwälten und anderen Einrichtungen. Eine bloße Empfehlung, sich an einen Anwalt oder eine Institution zu wenden, reichte wegen der Wartelisten oder undurchsichtiger Bürokratie bei Behördengängen nicht aus. Frauen mit großer Handlungsmächtigkeit und geringerem Unterstützungsbedarf (Information und Weiterempfehlung) Frauen der dritten Gruppe hatten aufgrund ihrer vergleichsweise großen Handlungsfähigkeit einen eher geringen Unterstützungsbedarf. So reichten ihnen meist Informationen bzw. Informationsmaterial (z. B. über das Gewaltschutzgesetz) aus, um selbst aktiv zu werden. Zum Teil hatten die Frauen beim ersten Beratungskontakt die Trennung vom gewalttätigen Partner schon vollzogen und wollten sich noch einmal über ihre Rechte informieren. Die Betroffenen hatten oft schon vor dem Kontakt mit der Beraterin eine Anwältin oder es reichte ihnen
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die Empfehlung aus, an wen sie sich wenden konnten. Alle Frauen dieses Musters hatten aktiv nach Unterstützung und Beratung gesucht und von sich aus Kontakt zur Beratungsstelle aufgenommen. Aufgrund der kleinen Stichprobe sind nur eingeschränkte Aussagen über die Bedeutung soziostruktureller Faktoren für die Handlungsmächtigkeit und den Beratungsbedarf möglich. Einen großen Unterstützungsbedarf hatten eher Frauen mit einer geringen Bildung, mit minderjährigen Kindern und Frauen, die im gemeinsamen Haushalt mit dem gewalttätigen Mann lebten, der aktuell auch noch häufig ihr Partner war. Ein „mittlerer Unterstützungsbedarf“ ging eher mit einem mittleren Bildungsniveau einher. Frauen mit einem „geringen Unterstützungsbedarf“ hatten eine vergleichsweise höhere Bildung, wiesen ein höheres Lebensalter auf und waren häufiger vom gewalttätigen Partner getrennt. 3.4
Sexuelle Gewalt in Paarbeziehungen
In der europäischen Forschung zu Gewalt im Geschlechterverhältnis wird sexualisierte Gewalt oft als das vergessene Thema bezeichnet. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass sexualisierte Gewalt in den vergangenen 10 Jahren von der offensiv und breit interdisziplinär angelegten Diskussion über häusliche Gewalt in Partnerschaften an den Rand gedrängt wurde. Offenbar gelingt es immer nur ein Thema im Mittelpunkt der öffentlichen und fachöffentlichen Diskussion zu halten. In Aktionsplänen der Politik und Handreichungen für die Praxis zeigt sich, dass häusliche Gewalt zentrales Thema ist, dass dabei der Anteil sexualisierter Gewalt an der häuslichen Gewalt zwar formal benannt, aber nicht explizit bearbeitet wird. Die Studie zu Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit im Leben von Frauen (M. Schröttle et al. 2004) zeigt deutlich, dass sexuelle Gewalt am häufigsten durch Partner ausgeübt wird. Es ist dringlich, zukünftig diesen Aspekt der häuslichen Gewalt stärker zu betonen. Insbesondere im Rahmen der Diskussion über Gewalt in Trennungssituationen und über Verfolgung nach einer Trennung ist es wichtig, sexualisierte Gewalt zu thematisieren, die hier häufig erlebt wird. Generell bestehen jedoch hohe Schamschwellen, sexualisierte Gewalt im Freundes- und Familienkreis öffentlich werden zu lassen. Wenn man sich die Gründe betrachtet, die Frauen in neueren Befragungen nennen, weshalb sie Vergewaltigungen nicht anzeigen (L. Kelly 2005), entsteht der Eindruck, dass sich zu dieser Problematik in den vergangenen Jahren kaum etwas entwickelt hat. Sexuelle Gewalt durch den Partner wird seltener als sexuelle Gewalt durch andere Personen offen gelegt und kaum angezeigt. Noch seltener wird eine Bestrafung gewünscht (M. Schröttle et al. 2004). Offenbar ist es gelungen, im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, dass sexualisierte Gewalt – auch in der Partnerschaft – Gewalt ist. Es ist jedoch bislang ausgeblieben, wie bei häuslicher Gewalt ein Verständnis zu etablieren, dass es sich bei sexueller Gewalt in Paarbeziehungen um eine Straftat handelt.
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Junge Frauen erleiden deutlich öfter sexuelle Gewalt (M. Schröttle et al. 2004). Eine Herausforderung an das Unterstützungssystem ist im Altersdurchschnitt der Beraterinnen und der Sprache der Öffentlichkeitsmaterialien zu sehen. Sprechen die Unterstützungsangebote junge Frauen an? Haben diese den Eindruck, hier richtig zu sein? Sollte nicht z. B. über den Sprachgebrauch ‚Opfer‘ von Gewalt nachgedacht werden, wenn ‚Opfer‘ für viele Jugendliche ein Schimpfwort ist? Aber auch im Alter sind Frauen, die in chronischen Gewaltverhältnissen leben, sexualisierter Gewalt ausgesetzt, haben jedoch oft aufgrund einer traditionellen Vorstellung von Ehe und Familie und der Verantwortung von Frauen für deren Gelingen besondere Hürden der Scham zu nehmen, wenn sie dies ansprechen.
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Barrieren bei der Hilfesuche von Frauen
Neuere Forschung hat erfragt, welche Barrieren Frauen zu überwinden haben, die auf der Suche nach Unterstützung sind, und hat aus der Perspektive der Betroffenen Voraussetzungen für gelingenden Zugang formuliert (C. Helfferich et al. 2004). Vieles davon ist nicht wirklich neu und entspricht den Grundsätzen guter Beratungsarbeit. Die Schwierigkeiten der Betroffenen und die Vielzahl der Missverständnisse treten jedoch sehr deutlich hervor: Beratung muss ergebnisoffen sein „Und dann haben die mir gesagt von der Eheberatung oder was (sie meint die Interventionsstelle), die haben angerufen und gesagt: ‚Wenn er nicht zur Therapie geht, dann reichen Sie die Scheidung ein.‘ Die sagen das so einfach. So einfach ist das gar nicht. Ich meine, 19 Jahre, so einfach ist das nicht weggeschmissen, 19 Jahre!“ (Klientin einer Interventionsstelle, WiBIG 2004 a)
Diese Frau wurde von der Beraterin der Interventionsstelle über ihre Möglichkeiten informiert – über soziale Trainingskurse bzw. Tätertherapie für den Partner und für den Zweifelsfall auch über die Scheidung. Für die Frau war Scheidung in diesem Moment jedoch keine Option, sie wollte die viele Jahre dauernde Beziehung noch nicht verloren geben. Dementsprechend verstand sie die Information durch die Beraterin eher als dirigistisch und wehrte sie ab. Beratung und Unterstützung muss an den aktuellen und individuellen Bedarf anknüpfen Ganz ähnlich ging es einer anderen Klientin: „Wenn sich das nicht ändert, sollte ich lieber die Scheidung einreichen. Das wäre besser und dann kann ich zu denen kommen und bekomme Hilfe. Und dann habe ich gesagt: Was brauche ich für Hilfe, wenn ich geschieden bin, dann bin ich ja für mich alleine und mit mir selber komme ich alleine klar. Was soll denn das?“ (Klientin einer Interventionsstelle, WiBIG 2004 a)
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Auch diese Frau hatte im pro-aktiven Beratungsgespräch den Eindruck gewonnen, dass die Beraterin nicht versteht, an welchem Punkt sie gerade ist. Sicherlich hatte die Beraterin die Unterstützung und Begleitung der Interventionsstelle im Falle einer Scheidung angeboten; für die Klientin hörte es sich demgegenüber an, als wäre die Scheidung die Voraussetzung dafür, Hilfe zu bekommen. Die Unvoreingenommenheit und Ergebnisoffenheit von Beratung sollte in der Öffentlichkeitsarbeit der Schutz- und Beratungseinrichtungen daher viel stärker betont werden als die Parteilichkeit, unter der sich viele nichts vorstellen können. Krise bedeutet oft temporär einen erhöhten Unterstützungsbedarf „Da stand das zwar: ‚Wir begleiten Sie zu den Ämtern‘. Ich hab gedacht: ‚Ach Gott, was soll das? Bis jetzt bin ich immer alleine gut hingekommen, ja?‘ Aber in dieser Situation ist man, ich weiß nicht, wie blind und braucht jemand, der einen an die Hand nimmt.“ (Klientin einer Interventionsstelle, WiBIG 2004 a)
Diese Frau nahm sich selbst als handlungsfähig und kompetent in ihrem Alltag wahr, nicht als besonders unterstützungsbedürftig. Sie merkte dann allerdings, dass das Angebot der Begleitung in dieser krisenhaften Situation ihr sehr entgegen kam. Es kann weder darum gehen, die Kompetenzen der Klientinnen zu leugnen, noch sie in der Krise zu überfordern. Neben Beratung gewinnt Information an Bedeutung. Es ist wichtig, die Rechte zu kennen „Ich weiß mehr über mein Recht und nehme das auch in Anspruch, nicht? Weil vorher habe ich doch irgendwie immer gedacht: ‚Du bist seine Frau und du hast die und die Aufgaben und Pflichten.‘ und irgendwie war man immer mehr auf dem Rückzug. Ich gehe eigentlich auch jetzt nicht so vorwärts, aber wenigstens stehe ich erst mal und halte Stand, nicht? Ich weiß einfach, wo meine Rechte liegen.“ (Klientin einer Interventionsstelle, WiBIG 2004 a)
Diese Frau beschrieb die Wirkung der eskalierenden Gewaltspirale. Sie nahm sich selbst zurück und wurde immer mehr zurückgedrängt. Auch jetzt sah sie sich noch nicht sehr aktiv ihre Situation verändern, aber sie „hält Stand“. Dass sie das konnte, lag daran, dass sie wusste, wo ihre Rechte liegen. Recht haben und Rechte in Anspruch nehmen zu können, bedeutet eine andere Position einzunehmen, als auf Mitleid und Unterstützung angewiesen zu sein. Da es inzwischen bessere rechtliche Möglichkeiten gibt, sich zu schützen, gibt es Bedarf an rechtlicher Information, der in den öffentlichen Medien immer nur kurzzeitig und teilweise nicht zutreffend gedeckt wird. Beratungs- und Unterstützungsangebote müssen bekannt und zugänglich sein Teilnehmerinnen von Gruppendiskussionen der Prävalenzstudie (M. Schröttle et al. 2004) äußerten sich wie folgt:
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„Also mir ist gar nicht der Gedanke gekommen. Also ich finde, solche Stellen sind gar nicht präsent. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich für eine Nummer anrufen sollte. Und ich hab gar keine Vorstellung, wie mir da geholfen werden soll.“
Diese Frau machte eine Aussage darüber, dass Unterstützungsangebote nicht ausreichend präsent und ihr deshalb nicht bekannt waren. Sie rahmte diese Aussage jedoch ein in die Feststellungen, dass ihr gar nicht der Gedanke gekommen sei, Hilfe in Anspruch zu nehmen, bzw. dass sie keine Vorstellung davon hatte, wie ihr geholfen werden könne. Wenn so gedacht wird, wenn diese Vorstellung fehlt, ist auch der Zugang zu Hilfsangeboten verschlossen, denn sie werden nicht wahrgenommen. „Diese Prospekte liegen ja teilweise aus, aber wenn Sie nicht zufällig mal in die Stadtverwaltung gehen oder zum Kirchenrat oder sonst was, kommen Sie mit diesen Dingen nicht in Berührung. Ich stehe morgens auf, gehe meinem Beruf nach. Da komme ich mit diesen Dingen nicht in Berührung.“
Hier wurde eine Abgrenzung vorgenommen: Informationsflyer der Interventionsstellen – „diese Dinge“ – waren für die Frau etwas, womit sie als Erwerbstätige nichts zu tun hatte. Zugang bestand aus ihrer Perspektive nur für diejenigen, die ihrer Probleme wegen zu bestimmten Institutionen gehen. Frauen, wie die zitierte, sind auf pro-aktive Kontaktaufnahme angewiesen, wenn sie vom Unterstützungssystem erreicht werden sollen. Es ist schwierig, einen Beratungsbedarf zu formulieren Dass Beratungsstellen ein hochschwelliges Angebot sind, wird aus den Äußerungen befragter Frauen deutlich. In eine Beratungsstelle zu gehen oder dort anzurufen setzt voraus, dass ein Beratungsbedarf formuliert werden kann. „Ich hätte mir schon gewünscht, eine Unterstützung zu haben, aber ich kann auch jetzt nicht genau formulieren in welcher Art. Ich denke, es wäre gut gewesen, wenn noch mal durchgerufen worden wäre: ‚Sie haben zwar unsere Telefonnummer, aber können wir Ihnen irgendwie helfen, brauchen Sie Hilfe?‘ Weil von mir aus hätte – also wusst’ ich nicht, was ich hätte sagen sollen. Einfach anrufen und sagen: ,Ich brauche Hilfe‘ oder – das hätte ich nicht gekonnt.“ (Klientin einer Interventionsstelle, WiBIG 2004 a)
Einen Beratungsbedarf zu formulieren ist keine einfache Sache, wenn die Frau gerade durcheinander ist oder eine Vielzahl von Fragen zur Klärung anstehen, die erst einmal undeutlich bleiben. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Bei vielen von Gewalt Betroffenen ist eine Beratungsferne festzustellen. Das bedeutet, dass generell Kenntnisse fehlen, was von Beratung erwartet werden kann, bzw. herrschen falsche Vorstellungen von Beratung. Es gibt Befürchtungen, dass Beratung eigene Entscheidungen nicht respektiert sondern direktiv Vorschriften macht. Es gibt teilweise große Orientierungsprobleme im Hilfesystem und die Unterstützungsangebote werden
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als zersplittert wahrgenommen. Migrantinnen haben noch stärker als deutschstämmige Frauen eher eine Vorstellung von Schutz als von Beratung. Neben bekannten Barrieren wie Sprachschwierigkeiten, Einschränkungen und Behinderung oder familiäre Verpflichtungen liegen somit Erkenntnisse über weitere Barrieren vor, die zeigen, wie hochschwellig das Unterstützungsangebot von Frauenhäusern und Beratungsstellen mit ihrer Komm-Struktur wirken, und wie wichtig es ist, dass Schwellen gesenkt und die Zugänglichkeit verbessert wird. Als deutlich niedrigschwelliger erweisen sich telefonische Beratungsangebote und zugehende Beratungsangebote wie pro-aktive oder aufsuchende Beratung. Dabei liegt eine zentral wichtige Aufgabe der zugehenden Beratung darin, eine Lotsenfunktion im Unterstützungssystem zu übernehmen. Die Betroffenen sollen auf möglichst kurzem Weg an für sie geeignete Einrichtungen vermittelt werden.
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Barrieren bei der Hilfesuche von Kindern
Zur Mitbetroffenheit der Töchter und Söhne durch Gewalt in der Beziehung der Eltern ist in den letzten Jahren intensiv geforscht und diskutiert worden. „Kinder und häusliche Gewalt“ ist als Thematik im Bereich der Frauenunterstützung und zunehmend auch im Bereich der Jugendhilfe und des Kinderschutzes etabliert (vgl. B. Kavemann/U. Kreyssig 2006). Es besteht jedoch eine Diskrepanz zwischen dem Stand der Fachdiskussion und der Umsetzung in der Praxis. Hier sind Barrieren auch für Kinder und Jugendliche zu überwinden, wenn sie bei Gewalt zwischen den Eltern Hilfe suchen wollen. Befragungen von Schülerinnen und Schülern ab acht Jahren in Großbritannien und der Schweiz geben Einblick in die Überlegungen der Mädchen und Jungen (C. Seith 2006). Es wird deutlich, dass sie stark zögern, sich nach außen zu wenden und große Bedenken haben, was passieren wird. Zum einen geht es um das Image der Familie, das die Kinder und Jugendlichen in Gefahr sehen, wenn die Gewalt bekannt wird. „Weil man die Eltern nicht gerne schlecht macht vor anderen Leuten, gerade auch bei Verwandten.“ (Mädchen, 16 Jahre)
Zum anderen wissen Kinder sehr genau, was ein Familiengeheimnis ist und sind in Sorge, was es bedeuten wird, wenn die Eltern erfahren, dass sie über die familieninternen Probleme gesprochen haben. „Weil sie dann die Eltern fragen, ob das stimmt. Dann wissen die Eltern, dass das Kind das erzählt hat. Vielleicht wollen die Eltern nicht, dass das andere wissen.“ (Junge, 12 Jahre)
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Und sie stehen vor dem klassischen Problem von Kindern, die sich nach außen um Unterstützung wenden: Sie befürchten, Abläufe loszutreten, die sie nicht mehr kontrollieren können und deren Konsequenzen für sie nicht absehbar sind. „Weil man dann Angst hat, dass man von den Eltern weggenommen wird oder was dann mit den Eltern passiert.“ (Mädchen, 15 Jahre)
Die Befragungen der Kinder kommen zu folgenden Ergebnissen: Kinder und Jugendliche sind in Sorge, dass schlecht über die Familie gedacht wird, wenn sie nach außen gehen und Hilfe suchen. Ihre wichtigsten Ansprechpartner sind Familienangehörige, vor allem Geschwister und Großeltern. Die Befragten empfehlen anderen Kindern und Jugendlichen, dass sie sich an Gleichaltrige wenden sollen, wenn sie über häusliche Gewalt reden wollen. Doch die Gleichaltrigen können in der Regel auch nicht helfen. Präventionsangebote stehen so vor der Frage, wie Kinder und Jugendliche informiert werden können, dass sie, wenn sie von Gleichaltrigen ins Vertrauen gezogen werden, unterstützend wirken können. Lehrkräfte werden meist nicht als Ansprechpartner gesehen. Dies sagt wahrscheinlich weniger über die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer als über das System Schule aus. Das Unterstützungssystem ist Kindern und Jugendlichen noch weniger bekannt als Erwachsenen. Für Kinder aus zugewanderten Familien bestehen spezifische Loyalitätskonflikte. Wenn ihnen in Unterstützungseinrichtungen mit kulturellen Klischees und Vorurteilen begegnet wird und sie ihre Familie und Kultur nicht respektiert sehen, wird ihnen der Weg zu Unterstützung verschlossen.
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Neue Kooperationspraxis zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Gewalt zwischen den Eltern
Im Kontext der Arbeit der Interventionsprojekte wurde seit Ende der 1990er Jahre intensiv um die Mitarbeit von Einrichtungen des Kinderschutzes und der Jugendämter geworben. Es ist als bedeutender Erfolg anzusehen, dass sich mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass das Miterleben der Gewalt in der Beziehung der Eltern als eine Gefährdung des Kindeswohls anzusehen ist (B. Kavemann/U. Kreyssig 2006). Inzwischen ist daraus eine Praxis erwachsen, die die Kinder verantwortlich in den Blick nimmt, auch wenn es nicht dezidiert um Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung geht. Bei Einsätzen wegen häuslicher Gewalt informiert die Polizei in der Regel das zuständige Jugendamt, wenn Kinder in der Familie leben. Darüber hinaus wurde auch für Kinder und Jugendliche spezifische zugehende Unterstützung entwickelt. Im Folgenden sollen einige Beispiele vorgestellt werden, die im Schnittfeld des Schutzes von Frauen bei Gewalt in Paarbeziehungen und des Schutzes der mitbetroffenen Kinder innovative Kooperationsverfahren etabliert haben.
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Kinder- und Jugendberatung der Interventionsstellen bei häuslicher Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern
Im Kontext des Landesinterventionsprojekts „CORA-Contra Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Mecklenburg-Vorpommern“2 wurde in jeder der fünf Polizeidirektionen des Landes eine Interventionsstelle eingerichtet, die die Erstberatung nach Einsätzen bei häuslicher Gewalt pro-aktiv vornimmt. Als der Unterstützungsbedarf der Kinder aus diesen Familien stärker in den Blick genommen wurde, wurden – zunächst als Modell in den Bezirken Rostock und Schwerin – Beraterinnen eingestellt, die unmittelbar für die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen da sind. Nach einer pro-aktiven Kontaktaufnahme mit einer von Gewalt betroffenen Frau wird diese mit Information versorgt und ihr Beratung angeboten. Wenn Kinder in ihrem Haushalt leben, wird sie zudem um Zustimmung gebeten, dass die Kinder- und Jugendberaterin diese zu Hause aufsuchen kann. Bei diesen Besuchen sollen die Töchter und Söhne alles, was sie an Information und Aussprache brauchen, bekommen und weiterer Unterstützungsbedarf wird abgeklärt und dem Jugendamt in Absprache mit der Mutter mitgeteilt. Stimmt die Mutter den Besuchen nicht zu, wird Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen, das seinerseits die Beraterin beauftragen kann, die Beratung der Kinder zu übernehmen.3 6.2
Zielgruppengerechte Unterstützung für Kinder und Jugendliche nach Gewalt in der Beziehung der Eltern in Stuttgart
Durch die Förderung der Landesstiftung Baden-Württemberg konnten 2005 bis 2006 insgesamt 14 Modellprojekte für Kinder nach Gewalt in der Beziehung der Eltern erprobt werden (C. Seith/B. Kavemann 2007). Aus Stuttgart gewannen drei Projekte die Ausschreibung: Das städtische Frauenhaus bot therapeutische Unterstützung für kleine Kinder an, das autonome Frauenhaus führte Gruppen für jugendliche Mädchen durch und das Kinderschutzzentrum therapeutische Gruppen für Mädchen und Jungen im frühen Schulalter. Nach Ablauf der Modellphase musste eine Weiterfinanzierung gefunden werden. Gemeinsam wandten sich die Träger der Modellprojekte an den Runden Tisch des kommunalen Interventionsprojekts „STOP-Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt“, an dem sie seit langem kontinuierlich teilnahmen. Sie erbaten die Fürsprache dieses Gremiums, um die erfolgreich begonnene Arbeit fortsetzen zu können, was ihnen auch gelang. In Stuttgart wird die Erstberatung nach Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt durch den Allgemeinen Sozialen Dienst übernommen. Dieser verweist Frauen auf die Unterstützung der Fraueninterventionsstelle und 2 3
http://www.fhf-rostock.de/einrichtungen/cora/was_ist_cora.html (07. 03. 10). Das Modell erwies sich als so erfolgreich, dass alle fünf Interventionsstellen inzwischen eine Kinder- und Jugendberaterin über Landesmittel einstellen konnten.
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Männer an die Männerinterventionsstelle, die auch ein Täterprogramm anbietet. Die Mädchen und Jungen erhalten entsprechend ihrem Bedarf und ihrem Alter Unterstützung in den drei genannten Projekten. Es fehlt bislang ein spezifisches Angebot für männliche Jugendliche. 6.3
Elternberatung im Münchner Modell bei häuslicher Gewalt
Im Münchner Kooperationsverbund wurde ein Verfahren entwickelt, das allen Beteiligten in familienrechtlichen Verfahren bei Gewalt in Elternbeziehungen Beratung und Unterstützung zukommen lässt. Die Fallverantwortung liegt beim Jugendamt. Das Familiengericht hört die Eltern getrennt in Anwesenheit jeweils der Frauenberatungsstelle der Frauenhilfe bzw. der Männerberatungsstelle des Münchner Informationszentrums für Männer an. Beide Beratungsstellen führen bei Bedarf gemeinsam Elterngespräche durch. Für die Kinder und Jugendlichen sorgen weitere Einrichtungen: Die „IMMA-Initiative Münchner Mädchenarbeit“ bietet Mädchengruppen an, „KIBS-Kontakt, Informations- und Beratungsstelle für männliche Opfer sexueller Gewalt“ bietet Jungengruppen an und der „Familiennotruf“ Gruppen für beide Geschlechter.
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Kooperationsnetze: Die eigene Logik der beteiligten Institutionen
Gewalt kann nur wirksam begegnet werden, wenn Institutionen übergreifende Kooperation gelingt – sei es im konkreten Einzelfall, sei es bei der Verbesserung von Interventionsstrategien. Dabei prallen teilweise konträre Sichtweisen aufeinander: Soziale Arbeit war zwar auch früher mit den Gerechtigkeitsdiskursen anderer Institutionen konfrontiert; die neuen Kooperationsformen verlangen aber auf eine neue Weise die Akzeptanz professionsspezifischer Werte. Die Justiz, die in die Bearbeitung häuslicher Gewalt eingebunden ist, hat eine spezifische Gewaltdefinition und Prinzipien wie Neutralitätsgebot, Unschuldsvermutung, Recht auf Aussageverweigerung, Recht auf einen fairen Prozess, etc. Die Polizei ist ausführendes Organ bei der Abwehr von Gefahren. Soziale Arbeit mit Frauen, Männern und Kindern folgt einem Gewaltverständnis, bei dem die subjektive Perspektive zentral ist. Konflikte zwischen den Perspektiven müssen in der Kooperation vermittelt werden. Die berufs- und arbeitsfeldspezifischen Gewaltdefinitionen beschreiben bestimmte Ausschnitte des gesamten Phänomens der Gewalt. Jede Berufsgruppe bzw. jede Institution läuft Gefahr, den für sie sichtbaren Ausschnitt der Gewalt mit der Gesamtheit der Problematik gleichzusetzen und ihre ethische Perspektive zu verallgemeinern. Erst wenn Einrichtungen wie Frauenhaus, Polizei, ein Kinderschutzzentrum oder eine psychologische Beratungsstelle zusammenkommen und ihre Erfahrungen austauschen, können die Perspektiven vermittelt werden
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und es entsteht ein Bild von Gewalt im privaten Raum, das sich der Realität annähert. 7.1
Anerkennung und Wertschätzung
Alle, die in dem Feld von Schutz und Unterstützung bei Gewalt in Paarbeziehungen tätig sind, tragen viel Verantwortung und fühlen sich oft dementsprechend belastet. Um die Arbeit gut zu tun, brauchen alle die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Fachkompetenz und ihres Engagements durch die Kooperationspartner/innen in den anderen Arbeitsfeldern. Es gehört zu den Basiskompetenzen gelingender Vernetzung, die Anerkennung nicht zu verweigern, auch wenn sich Beteiligte wenig sympathisch sind oder Kritik an der jeweiligen Arbeitsweise haben. Auf dem Hintergrund von Respekt und Wertschätzung kann Kritik konstruktiv formuliert und viel besser angenommen werden, eine Differenzierung zwischen dem Engagement von Einzelnen und der Haltung der Leitung bzw. der Politik einer Organisation lässt Anerkennung für den Kampf vieler innerhalb ihrer Strukturen möglich werden, was nicht bedeutet, keine Kritik mehr äußern zu dürfen. Aber eine Haltung wie „das Jugendamt tut ja nichts“ oder „mit denen kann man nicht arbeiten“ verhindern jedes Gelingen von Kooperation. 7.2
Unterschiedliches Gelingen von Kooperation bei unterschiedlichen Eigeninteressen der Institutionen
Häufig wird die Frage gestellt, weshalb es so gut gelungen ist, die Polizei in die Kooperationsbündnisse gegen häusliche Gewalt einzubinden, ja sie wurde in manchen Regionen zum Motor der Entwicklung. Im Unterschied dazu wird vielerorts beklagt, dass es nicht gelungen ist, das Jugendamt und die Gerichte vergleichbar verbindlich an den Vernetzungsrunden zu beteiligen. Hierzu ist zuerst zu sagen, dass die Polizei ein Eigeninteresse an Veränderung hatte. Die Unzufriedenheit mit den Polizeieinsätzen bei Gewalt in Partnerschaften war hoch, der Wunsch nach verbesserten Eingriffsmöglichkeiten stark. Kein Wunder also, dass Vertreter/innen der Polizei zu allen Vernetzungsrunden entsandt wurden und dazu beitrugen, dass die Entwicklung rasch im Sinne erweiterter Kompetenzen und eines effektiveren Schutzes voranschritt. Dieser Prozess wurde dadurch verstärkt, dass durch die neuen Eingriffsbefugnisse und die daraus entstandene institutionalisierte Kooperation mit Interventionsstellen und Jugendämtern die Polizeikräfte eine unmittelbare Entlastung erlebten: Die Einsätze verliefen erfolgreich, die Weitervermittlung der Betroffenen erfolgte sofort und nach abgestimmten Verfahren. Da die Polizei eine landesweit hierarchisch strukturierte Organisation ist, ließ sich die neue Praxis schnell etablieren: Die Initiative ging von engagierten Beamt/innen der Basis aus, die Leitung reagierte positiv und gab von oben entsprechende Anweisungen, die alle verpflichtete.
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Ganz anders die Situation beim Jugendamt. Neben dem Problem, dass Jugendämter dezentral organisiert sind und jedes Amt eine eigene Leitung und Hauspolitik hat, ist der wichtigste Unterschied, dass hier kein Eigeninteresse an einer veränderten Interventionspraxis existierte. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn für das Jugendamt war keinerlei Entlastung zu erwarten, im Gegenteil: Wenn Jugendamtsmitarbeiter/innen sich offensiv als Kooperationspartner/innen zu diesem Thema anbieten, landen in kürzester Zeit noch mehr Fälle auf ihrem Schreibtisch, als vorher schon da waren. Das Arbeitsvolumen, das bereits die Grenze der Belastbarkeit für viele erreicht hat, nimmt zu. Gleichzeitig kommen mit jedem Fall Kosten auf das Amt zu, das sich bereits vielerorts vor dem Problem sieht, aus Sparzwängen nicht mehr alle Rechtsansprüche erfüllen zu können. Mit einer einschneidenden Änderung ist erst dann zu rechnen, wenn die Institution personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellt. Gerichte in die Vernetzung einzubinden ist ebenfalls durch strukturelle Bedingungen erschwert. Die Unabhängigkeit von Richter/innen führt dazu, dass einzelne in Kooperationsrunden eingebunden werden können, jedoch ohne ein Mandat des Gerichts. Zusätzlich bestehen seitens der Richter/innen Bedenken, es könne in Vernetzungsrunden dazu kommen, dass über konkrete Fälle gesprochen wird, und sie Gefahr laufen, als befangen zu gelten, obwohl Vernetzungsrunden keine Fallkonferenzen zu Einzelfällen sind und Fallbeispiele anonymisiert werden. 7.3
Interkulturelle Verständigung
Jede Organisation hat ihre eigene Sprache, Kultur und Geschichtsschreibung. Deutlich wird dies z. B. an der Sprache und Denkweise von Jurist/innen oder Ärzt/innen. Auch Sprache und Kultur von Sozialer Arbeit und polizeilicher Arbeit unterscheiden sich stark. Manchmal kann in einer Runde intuitiv identifiziert werden, wer Sozialarbeiter/in, Polizist/in oder Lehrer/in ist, vom Aussehen und von der Sprache her. Diese interkulturellen Differenzen führen zu Verständigungsschwierigkeiten. Die oben genannten Vernetzungskompetenzen können helfen, sie zu überwinden. Hilfreich ist auch hierfür eine unabhängige Koordination mit der Kompetenz interkultureller Mediation. Die jeweils eigene Geschichtsschreibung ist dominiert von schlechten Erfahrungen mit den jeweils anderen Kooperationspartnern, unabhängig davon, wie lange diese zurückliegen und wie viel sich inzwischen geändert hat. Kooperationsverhältnisse sind empfindlich und störanfällig. Meist dauert es lange, bis der einmal erreichte Stand von vertrauensvoller Kooperation wieder erreicht werden kann. Eine Koordinierungsstelle oder auch ein gut eingespielter Arbeitskreis kann in solchen Fällen klärende und schlichtende Funktion übernehmen.
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Perspektiven
Gewalt ist ein komplexes Phänomen; Kooperation muss der Komplexität gerecht werden. Gesundheitswesen und Soziale Arbeit müssen angemessen und sensibel auf körperliche, psychische und sexuelle Gewalt reagieren bzw. diese ansprechen können. Im Feld der frühen Hilfe sollte das Thema sexuelle Gewalt – auch im Sinne von Zeugung durch Vergewaltigung (S. Heynen 2006) – sehr ernst genommen werden. Da es sich bei Gewalt in Paarbeziehungen auch oft um ökonomische Gewalt handelt, sollten Bildungseinrichtungen, Arbeitsvermittlung und Schuldenberatung Kenntnis von Schutz- und Beratungseinrichtungen haben und dorthin vermitteln. Um einen Arbeitsplatzverlust bspw. wegen Verletzungen oder Eingesperrtsein zu vermeiden, könnte seitens der Politik über eine schützende Ausnahmeregelung nachgedacht werden, wie dies in Spanien geschehen ist.4 Um sozialer Gewalt im Sinne der Isolation der Partnerin entgegenzuwirken, könnten im Kontext der Gemeinwesenarbeit soziale Netzwerke gestärkt bzw. aufgebaut und Nachbarschaftsinitiativen gefördert werden. Hier spannt sich für Vernetzung und Kooperation ein weites Feld auf, das die Grenze von der Intervention zur Prävention überschreitet. Um dies zu erreichen, braucht es Ressourcen. Kooperation muss tatkräftig gefördert und nicht nur verbal gefordert werden. Zeit, Geld, Unterstützung durch die Leitungen der Institutionen und ein klarer politischer Wille sind unabdingbare Voraussetzungen, wenn es zu dem gewünschten gesellschaftlichen Wandel kommen soll, an dem Kooperationsbündnisse bei häuslicher Gewalt arbeiten. Dafür ist Ressort übergreifende Politik gefordert. Das Thema „Gewalt im Geschlechterverhältnis“ und das Thema „Kinderschutz bei Gewalt in der Beziehung der Eltern“, ‚gehören‘ keinem Ressort und sind in der Politik wie in der Praxis nur gemeinsam zu lösen. Literatur Barz, Monika/Helfferich, Cornelia/Kavemann, Barbara (2006): Häusliche Gewalt beenden: Verhaltensänderung von Tätern als Ansatzpunkt. Landesstiftung Baden-Württemberg (Hg.). Stuttgart. BMFSFJ (2007): Aktionsplan II zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Berlin. Online: http://familien-wegweiser.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=100962.html (07. 03. 10). Helfferich, Cornelia/Kavemann, Barbara/Lehmann, Katrin (2004): Wissenschaftliche Untersuchung zur Situation von Frauen und zum Beratungsbedarf nach einem Platzverweis bei häuslicher Gewalt. Sozialministerium Baden-Württemberg. Stuttgart. Online: http://www.sozialministerium-bw.de/fm/1442/Platzverweis-Forschungsprojekt-Abschluss bericht2004.pdf (1. August 2007). 4
Das spanische Gewaltschutzgesetz beinhaltet u.a. eine Regelung, die Angestellte im öffentlichen Dienst und diejenigen, deren Betrieb eine entsprechende Selbstverpflichtung eingegangen ist, vor Verlust des Arbeitsplatzes wegen der Folgen häuslicher Gewalt schützt.
Unterstützungsangebote bei Gewalt im Geschlechterverhältnis
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Barbara Kavemann
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Professionelle Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche im Strafverfahren bei (sexualisierten) Gewalttaten im sozialen Nahraum – von Österreich lernen Friesa Fastie
Psychosoziale Arbeit und Justiz – das scheinen zwei Welten zu sein, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich nicht immer gut verstehen: Aus der forensischen Forschung wissen wir, dass insbesondere jüngere Kinder, aber auch Erwachsene mit schweren psychischen Beeinträchtigungen sehr suggestibel sein können. Die grundsätzliche Angst der Justiz vor der Beeinflussung von Zeuginnen- oder Zeugenaussagen ist m.E. durchaus berechtigt. Ihre zurückhaltende Begeisterung gegenüber der Zeug(inn)en- und Prozessbegleitung mag aber auch damit zu tun haben, dass sowohl Denksysteme als auch Sprachgewohnheiten und Arbeitsbedingungen von juristischen, polizeilichen und psychosozialen Fachkräften weit auseinander liegen. Letztere sollten sich eines bewusst machen: Das prozessuale Regelwerk der Justiz – und letztendlich auch der Polizei – zur korrekten Durchführung eines Strafverfahrens umfasst allein 495 Paragrafen ohne materielles Strafrecht, ohne Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV), Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und andere Nebengesetze. Von der Sitzordnung über die Reihenfolge bei der Befragung der Prozessbeteiligten bis hin zur Kleiderordnung ist alles detailliert in Vorschriften geregelt. Eine polizeiliche Hausdurchsuchung zu unerlaubter Zeit – z. B. die Nachtzeitbeschränkung gem. § 104 Strafprozessordnung (StPO) nicht beachtend – und der Versuch der Beweissicherung war umsonst. Das Vergessen eines einzigen Satzes des Vorsitzenden Richters in der Hauptverhandlung – wie: „Die Öffentlichkeit ist wieder hergestellt“, nachdem die Zuhörerinnen und Zuhörer zuvor für die Zeit der Vernehmung einer Zeugin ausgeschlossen worden waren (§§ 172 Nr. 4 GVG, 171 b GVG) – und die Hauptverhandlung kann von vorne beginnen. Ein gravierender Fehler wäre gemacht, der zulasten der Verletzten, der Beschuldigten und der Staatskasse ginge. Aus einer derart eng strukturierten Perspektive mag die psychosoziale Arbeit doch recht unberechenbar, manchmal wenig fachlich fundiert und schon gar nicht systematisch strukturiert und inhaltlich überprüfbar wirken.
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Zunächst möchte ich Sie mitnehmen auf den Weg in eine kurze Bestandsaufnahme der Angebotsstruktur für (verletzte) Zeuginnen und Zeugen1 in Deutschland (1). In den folgenden Ausführungen werde ich die Perspektive jener einnehmen, um die es hier geht: die Verletzten, insbesondere minderjährige Zeuginnen und Zeugen, deren Leben massiv von (sexualisierter) Gewalt im Familien- und Beziehungskontext beeinträchtigt wurde (2). Aufgrund meines beruflichen Hintergrundes werde ich mich schwerpunktmäßig auf diese Deliktbereiche beziehen, aber nicht ausschließlich. Aus meiner Sicht ist vor allem für diese Zeuginnen und Zeugen die beste, sprich hoch qualifizierte Betreuung und Begleitung im Strafverfahren gerade gut genug. Wie eine solche zukünftig in Deutschland aussehen könnte, wird am Beispiel Österreichs skizziert (3). Abschließend werden jüngere Entwicklungen in Deutschland und Kriterien für die erfolgreiche Umsetzung eines solchen Modells erläutert (4).
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Angebotsstruktur der professionellen Begleitung und Betreuung im Strafverfahren
Die Palette der verschiedenen Angebote für (verletzte) Zeuginnen und Zeugen ist vielfältig und wenig überschaubar. Nachfolgend werden einige etablierte Hilfeangebote vorgestellt. 1.1
Zeugenbetreuung, Zeugenbegleitung und Zeugenbegleitprogramm
Zeuginnen- und Zeugenbetreuung ist ein Begriff, der wie viele andere in einer Situation aus menschlicher Not und politischer Initiative geboren wurde: Am 20. Dezember 1963 begann im Saal des Stadtparlaments im Frankfurter Rathaus (Römer) unter Vorsitz von Richter Hans Hofmeyer der Auschwitzprozess. 211 Auschwitz-Überlebende waren für ihre Zeugenaussagen zum Teil aus dem Ausland angereist und nun in Frankfurt völlig auf sich gestellt. Während ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung saßen sie 22 Angeklagten und deren Verteidigern gegenüber. Auf Initiative der Frankfurterinnen Emmi Bonhoeffer und Ursula Wirth, die das Martyrium der Verletzten in der Hauptverhandlung nicht tatenlos mit ansehen wollten, fand sich im April 1964 eine Gruppe von Betreuerinnen und Betreuern zusammen, die sich während des gesamten Prozesses um die Überlebenden kümmerten. Sie hatten keine besondere Qualifikation; sie sahen 1
Auf den Begriff „Opfer“ verzichte ich weitgehend, da dieser ein geflügeltes Schimpfwort unter Kindern und Jugendlichen darstellt. Kaum ein Mensch will auf den Opferstatus und damit auf Bedürftigkeit und Hilflosigkeit reduziert werden. Dies gilt ebenso für Erwachsene im Kontext häuslicher Gewalt. Auch Frauen, die von ihrem Partner jahrelang z.T. misshandelt und vergewaltigt wurden, dabei mehrere Kinder großgezogen haben und in der Lage waren, sie vor direkter Gewalt zu schützen, um am Ende einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz zu stellen und mit ihren Kindern in ein Frauenhaus zu flüchten, verstehen sich selbst i. d. R. nicht als ‚Opfer‘.
Professionelle Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche
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verzweifelte Menschen und wollten helfen. Was sie einte, war der Wunsch, die NS-Verbrecher endlich einer gerechten Strafe zugeführt zu wissen (E. Bonhoeffer 1967; S. Grabner/H. Röder 2006). Heute, 45 Jahre später, haben wir offizielle Zeugenbetreuungsstellen an vielen – und gleichwohl immer noch viel zu wenigen – Gerichten, an denen (hoffentlich) psychosoziale Fachkräfte2 tätig sind. Der gemeinsame Nenner der Zeuginnenund Zeugenbetreuung heißt ‚Zeugenstatus bei Gericht‘. Bis auf den Ausnahmefall, dass die Zeuginnen und Zeugen von zu Hause abgeholt werden, ist dies ein Hilfeangebot mit einer Komm-Struktur. Die Zeuginnen und Zeugen kommen zur Hauptverhandlung ins Amts- oder Landgericht. In diesem Kontext suchen sie die Zeugenbetreuungsstelle auf. Die Zeuginnen- und Zeugenbegleitung findet sich bei Gericht, als Angebot für Mädchen und Frauen bei Frauennotrufen und vereinzelt in Beratungsstellen. Die nicht bei der Justiz angesiedelten Stellen unterstützen ihre Klient(inn)en oft schon beim ersten Gang zur Polizei. In der Regel erhalten sie keine zusätzlichen Finanzmittel für diesen Teil ihrer Tätigkeit. Polizei und Justiz können also von der Zeuginnen und Zeugen stabilisierenden Arbeit profitieren, ohne sich an den Kosten beteiligen zu müssen. Das Zeugenbegleitprogramm Schleswig-Holstein3 ist ein bundesweit anerkanntes Unterstützungsangebot (S. Bürner 2002). Hier stehen bis zu zwanzig Stunden pro Klient(in) zur Verfügung. Die Zeugenbegleitung wird von berufsqualifizierten Fachkräften durchgeführt. In den ersten Jahren wurde dieses Projekt wissenschaftlich begleitet,4 seit gut zehn Jahren wird es vom Land finanziert, ohne jedoch, dass hierauf ein Rechtsanspruch besteht. Das heißt: Befinden die Entscheidungsträger, dass kein Geld mehr dafür da ist, kann dieses bewährte ‚Modell der Mindestanforderung‘ jederzeit gestrichen werden. 1.2
Prozessbegleitung
Die Prozessbegleitung ist – wie der Name schon sagt – auf die Begleitung eines dynamischen Prozesses ausgerichtet. Prozesse beginnen, entwickeln sich und enden wieder, innerlich wie äußerlich. Ein solcher Prozess dauert nachvollziehbar länger als ein Zeugenstatus. Die Prozessbegleitung entstand im Zusammenhang mit der Arbeit von Beratungsstellen und Notrufen gegen sexualisierte Gewalt an 2
Als ‚psychosoziale Fachkräfte‘ werden hier Berufstätige mit Abschluss Dipl. Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Dipl. Pädagogik, Dipl. Psychologie, BA Soziale Arbeit oder BA Psychologie bezeichnet. 3 An diesem Modell orientierten sich Ende der 1990er Jahre auch die Kolleginnen und Kollegen in Österreich zu Beginn des Implementierungsprozesses der Psychosozialen Prozessbegleitung, befanden die Rahmenbedingungen und das inhaltliche Volumen für eine wirksame Hilfe jedoch als nicht ausreichend. 4 Der wissenschaftliche Abschlussbericht der Modellphase (1997) ist online verfügbar unter: http://www. psychologie.uni-kiel.de/recht/zbp/files/ZBP_L.pdf (18. 02. 2010).
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Mädchen und Frauen. Die Mitarbeiterinnen begleiteten die Mädchen und Frauen, um sie emotional zu unterstützen und ihnen im Strafverfahren psychischen Beistand zu leisten, oft schon zur ersten Vernehmung bei der Polizei. Zusätzliche Gelder erhielten bzw. erhalten sie dafür in der Regel nicht. Der Ursprungsgedanke dieses Angebots war der, einer männerdominierten und mädchen- wie frauenfeindlichen Rechtsprechung und Justiz etwas entgegenzusetzen. Gemeint sind Zeiten, in denen Bender, Röder und Nack in ihrer juristischen Basisliteratur zur Glaubwürdigkeits- und Beweislehre noch darauf hinwiesen, dass Mädchen im Gegensatz zu Jungen „gefährliche Zeugen“ seien, da sie zu Phantasie und Übertreibung neigten, „sobald sie selbst oder ihnen nahestehende Personen beteiligt sind“ (R. Bender/A. Nack/S. Röder 1981: 165). Bis vor wenigen Jahren war das Angebot der Prozessbegleitung in den Beratungsstellen noch regelmäßig gekoppelt an einen parallelen Beratungsprozess. Diese Form der doppelten Unterstützung durch Beratung und Begleitung durch nur eine Fachkraft wird vonseiten der Justiz sehr kritisch betrachtet, da insbesondere bei Minderjährigen durch (ungewollte) Suggestionseffekte die Gefahr der Einflussnahme auf den Inhalt von Zeugenaussagen besteht, wenn zuvor über den zur Verhandlung stehenden Sachverhalt gesprochen wurde. Insbesondere in größeren Städten mit mehr Fachpersonal werden diese Angebote inzwischen überwiegend getrennt und von zwei Fachkräften durchgeführt. 1.3
Sozialpädagogische Prozessbegleitung
Sozialpädagogische Prozessbegleitung beschreibt die Arbeit mit dem Schwerpunkt der Prozessbegleitung kindlicher, jugendlicher und heranwachsender Verletzter während eines Strafverfahrens. Sie kann sehr umfangreich sein, weil sie auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/SGB VIII) und des Sozialgesetzbuches XII (SGB XII) umsetzbar und damit eine individuelle Hilfe ist, die sich dem Gesetz nach am Bedarf des Einzelfalls zu orientieren hat. Der Präzedenzfall im Jahr 2001 in Berlin umfasste 376 Fachleistungsstunden für eine 13-jährige Klientin bei drei anhängigen Verfahren unter anderem wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs durch den Lebensgefährten der Mutter (F. Fastie 2007). Ist der Bedarf gegeben, so besteht auf diese Hilfe gem. § 27 i. V. m. §§ 30, 31, 35 und 35a KJHG/SGB VIII ein Rechtsanspruch, der notfalls eingeklagt werden kann. Das KJHG schreibt für solche Hilfemaßnahmen den Einsatz berufsqualifizierter Fachkräfte vor (D. Oberlies 2008). Eine pädagogische Grundausbildung ist unerlässlich, denn wie nachfolgend deutlich wird, sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende aus gewalttätigen Lebensumständen aufgrund von Abhängigkeit und Entwicklungsstand besonders belastet. Damit hat das Strafverfahren für sie als ‚Lebenserfahrung‘ mit sich und anderen, auch mit autoritären Strukturen innerhalb von Behörden, herausragende Bedeutung, die ihren Alltag und ihr weiteres Leben entscheidend prägt.
Professionelle Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche
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Rheinland-Pfalz hat begonnen, so genannte ‚Zeugenkontaktstellen‘ einzurichten. Im Internet finden sich Begriffe wie ‚sozialpädagogische Zeugenbegleitung‘, ‚sozialpädagogische Zeugenbetreuung‘ u. a. Die Kreativität bei der Wortfindung für die diversen Unterstützungsangebote ist durchaus beeindruckend, wenn auch absolut nicht hilfreich. Strukturell betrachtet haben wir in Deutschland so gesehen, etwas salopp ausgedrückt, ein Feld von ‚Kraut und Rüben‘. Der Eindruck mag entstehen, jeder könne alles tun. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass damit die Verwirrung größer, die allgemeine Akzeptanz kleiner und das Geld knapper wird, ohne dass damit für die Verletzten, für Zeuginnen und Zeugen eine erkennbare Qualitätssteigerung einherginge. Unter fachlichen Gesichtspunkten ist im Sinne einer Qualitätssicherung deshalb angezeigt, dass alle zuvor erwähnten Angebote die folgenden Parameter so für sich beantworten, dass ein klares Profil erkennbar wird. Aus diesem sollte sich ergeben, wer was mit welcher Qualifikation durchführt und wodurch sich die Angebote voneinander unterscheiden hinsichtlich: • • • • • • •
gesetzlicher Grundlage Finanzierung der Maßnahme Anspruchsberechtigter Konzept, Leistung, Umfang ethischer Grundsätze Struktur und beruflicher Kontrollinstrumente Grundausbildung und Anforderungsprofil für psychosoziale Fachkräfte.
Dem heutigen juristischen Opferschutz im Strafverfahren geht eine jahrhundertelange Rechtshistorie voraus (S. Hubig 2008). Im Vergleich dazu ist die Entwicklung von Zeugen- und Prozessbegleitung als Instrument professioneller Fürsorge gegenüber Verletzten im Strafverfahren noch sehr jung und weiter qualifizierungsbedürftig. Mögliche Schlussfolgerungen von Juristinnen und Juristen, Zeuginnen und Zeugen deshalb aber ohne jede Begleitung durch das Verfahren zu schicken, widerspricht jeglichem Fürsorgegedanken. Gleichzeitig würde durch die Versagung bestehender Unterstützungsangebote, die zur Stabilisierung und Reduktion von Belastungssituationen für Kinder und Jugendliche fachlich geeignet sind, verhindert werden, das Strafverfahren für möglichst viele Verletzte zugänglich zu machen, eben auch für jene, die aus Angst und Unsicherheit eine Strafanzeige scheuen. Gerade die Justiz ist auf eine qualifizierte psychosoziale Unterstützung insbesondere minderjähriger Verletzter angewiesen, sofern sie auf stabile, im Aussagegehalt unbeeinflusste Zeuginnen und Zeugen zurückgreifen und das Strafgericht zu einer, wenn sicher auch nicht gänzlich angstfreien, so doch zumindest deutlich angstreduzierten Behörde machen will. Die Justiz braucht diese Zeuginnen und Zeugen. Ohne deren Aussagen ist es einem Gericht kaum möglich, einen Tatnachweis zu erbringen. Dies gilt insbesondere für die
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Fälle, in denen es außer den Verletzten und Beschuldigten selbst keine weiteren Tatzeuginnen und -zeugen gibt und somit Aussage gegen Aussage steht. Bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden, also jenen, die sich noch in der Entwicklung befinden, kommt ein besonderer Umstand hinzu: Die Erfahrungen eines Justizverfahrens sind bedeutend für die Prägung ihres Rechts- und Gerechtigkeitsempfindens, aus dem heraus sie sich als Erwachsene vielleicht selbst einmal verhalten müssen, wenn Menschen in ihrer Nähe verletzt oder vorsätzlich geschädigt werden. Es geht also auch um die Entwicklung eines Bewusstseins von Recht und Unrecht. Dies wird in Deutschland bislang nicht zur Kenntnis genommen, denn es existiert keine einzige empirische Untersuchung zu dem, was Kinder und Jugendliche mit Recht verbinden, was sie beispielsweise von einem fair trial erwarten und was sie in der Rechtsprechung, die immer auch eine Bewertung menschlicher Verhaltensweisen transportiert, berücksichtigt wissen wollen. Dies ist kein abwegiger Gedanke, denn dem stehen Verfahrensvorschriften und Rechtskommentare sowie eine höchstrichterliche Rechtsprechung gegenüber, deren Verfasserinnen und Verfasser sehr sicher zu formulieren wissen, was sie ihrerseits von kindlichen und jugendlichen Zeuginnen und Zeugen erwarten und welche Instrumentarien sie zur Durchsetzung ihrer Erwartungen bereithalten.
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Strafverfahren sind nicht ‚normal‘ – ein Blick in die Lebensumstände verletzter Kinder und Jugendlicher
Das Strafverfahren ist hoch komplex und kompliziert. Für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht gilt es, zügig durchzukommen und Komplikationen zu vermeiden; die Aktenberge wachsen täglich nach. Da ist es gut, wenn die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen nicht auch noch ‚durch die Tür kommt‘, wenn das Verfahren seinen Kernpunkt erreicht: die Hauptverhandlung. Was ‚am Rande‘ geschieht, ist für das Verfahren nicht wichtig. Doch am Rande eines Strafverfahrens stehen Kinder und Jugendliche, die wiederholt erleben, wie Erwachsene sich um das ‚zanken‘, was ihnen selbst in ihrer Berufsausübung wichtig ist. Und dies in einer Sprache, die Kinder und Jugendliche nicht verstehen, die gleichwohl eine Stimmung verursacht, die gemeinhin ‚Verhandlungsatmosphäre‘ genannt und nun den Rahmen dafür bilden wird, in dem sie ihre gerichtliche Zeugenaussage machen. Doch selbst das ist nicht sicher. Denn nur allzu oft kommt jemand gut meinend auf die Idee, ihnen genau die Aussage ersparen zu wollen, auf die sie sich innerlich vielleicht schon viele Monate oder auch Jahre eingestellt haben, und zu der sie nun bereit wären. Und das hat Folgen, wie die nachstehenden Ergebnisse der bislang einzigen Untersuchung zum Belastungserleben von Kindern in Hauptverhandlungen belegen: „Von den Minderjährigen, auf deren Aussage verzichtet wurde, reagierten am Tag der Hauptverhandlung fast alle erleichtert über diese Entscheidung (89%). Diese Erleichte-
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rung war auch bei den Nachbefragungen, die zwei Wochen nach den Hauptverhandlungen stattfanden, noch anzutreffen. Trotz dieser eindeutig positiven Einschätzung äußerten jedoch am Tag der Hauptverhandlung 42% und nach zwei Wochen noch 26% aller Befragten, die nicht aussagen mussten, dass es ihnen eigentlich doch wichtig gewesen wäre, dem Gericht selbst ihre Erlebnisse zu schildern. Bei der Nachbefragung betraf dies insbesondere Minderjährige, die mit dem Urteil nicht zufrieden waren und die Auffassung vertraten, dass ihre Aussage zu einem anderen Strafmaß geführt hätte, wenn sie selbst hätten berichten können, wie schlimm die Erlebnisse gewesen seien. Diese Ergebnisse sollten nicht dahingehend missverstanden werden, dass Kinder und Jugendliche regelmäßig vernommen werden wollen und der Verzicht auf ihre Aussage nicht anzustreben sei. Sie belegen aber, dass der Verzicht auf eine Aussage nicht in jedem Fall das wichtigste Ziel ist, er vielmehr in Ausnahmefällen einem Verarbeitungsprozess sogar im Wege stehen kann.“ (R. Volbert 2008: 320f.)
In der Regel wird die Entscheidung, auf die Aussage der verletzten Zeuginnen und Zeugen zu verzichten, getroffen, ohne diese Kinder und Jugendlichen vorher zu fragen. Geht es indes um die Wahrheitsbelehrung, so werden auch heute noch sechsjährige Mädchen und Jungen im Anschluss daran gefragt: „Willst du denn, dass dein Papa ins Gefängnis kommt?“ Dies ist ganz sicher keine altersgerechte und für sie zumutbare Entscheidungsoption. Diese Frage suggeriert, Kinder und Jugendliche hätten diesbezügliche Entscheidungsmacht. Aber kommt es bei der Fülle von Belastungen überhaupt noch darauf an? Vergegenwärtigen wir uns, wie viel in dem jungen Leben der verletzten Zeuginnen und Zeugen nach der Anzeigeerstattung bereits geschehen ist, nicht zum konkreten Sachverhalt gehört und deshalb ‚Randgeschehen‘ genannt wird: Ganz am Rande sind sie möglicherweise in einer pädagogischen Einrichtung untergebracht worden und haben von einem Moment auf den anderen ihre vertraute/familiäre Umgebung verloren, auch dann, wenn sie zu ihrem eigenen Schutz der Unterbringung zugestimmt haben. Oder sie haben sie nicht verloren, weil sie nach der polizeilichen Vernehmung wieder nach Hause gegangen sind, wo Mutter und Vater sich schon Gedanken darüber machen, wie sie jetzt, wo die Polizei ins Spiel kommt, zusammenhalten können, um der Tochter oder dem Sohn auch nach den sexuellen Übergriffen durch den Vater die Familie erhalten zu können. Andere gehen am nächsten Tag wieder in den Hort oder in die Schule. Und irgendjemand wird bestimmt fragen: „Wo warst du gestern, warum bist du nicht hier gewesen?“ Dann kommt es für Mädchen und Jungen darauf an, eine gute Antwort zu finden, denn „Ich war bei der Polizei“ würde gleich die nächste Frage nach sich ziehen: „Krass, was hast du denn da gemacht?“ Und wenn wir nicht erwarten, dass sieben, elf, vierzehn, siebzehn oder auch neunzehn Jahre alte Mädchen und Jungen darauf eine eloquente, ihre Integrität wahrende Antwort parat haben, dann müssen wir uns fragen, was stattdessen geschieht. Wir müssen uns fragen, wie es sich zum Beispiel anfühlt, im Hort oder in der Schule zu stehen und sich mit Gedanken zu quälen, wie: „Ob sie es mir ansehen?“; „Was sage ich jetzt, ohne meine Eltern ‚schlecht‘ zu machen, ohne, dass sich meine Freundinnen und Freunde von mir abwenden?“ und
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„Was werden meine Lehrerinnen und Lehrer von mir denken, wenn sie als Entschuldigung für die nächsten Fehlstunden in der Schule die Ladung des Gerichts lesen?“ oder „Mit wem sprechen sie darüber? Muss ich jetzt sagen, dass ich geschlagen oder sexuell missbraucht worden bin?“ Dies alles können die Fragen von Kindern und Jugendlichen sein, mit denen sie sich am Rande eines Strafverfahrens allein beschäftigen und deren Implikationen sie bewältigen müssen. Am Rande müssen diese Mädchen und Jungen neben derartigen Fragen ihres Alltags und einem beginnenden Strafverfahren oft weiterhin zusehen, wie Gewalt gegen ein Elternteil ausgeübt wird. Halten sie es aus, dass die sexuellen Übergriffe fortgesetzt werden, weil niemand dem Täter oder der Täterin Einhalt gebietet und sie gelernt haben, sich schützend vor die Erwachsenen zu stellen, von denen sie sich nicht nur abhängig fühlen, sondern von denen sie tatsächlich auch abhängig sind? Sie werden bedroht und manipuliert, damit ihre Aussage vielleicht doch noch verhindert werden kann oder weniger belastend für den Täter ausfällt oder auch mehr. Die meisten Strategien sind viel zu subtil, als dass sie justiziabel wären: das neue Fahrrad zum richtigen Zeitpunkt, die Rückgabe des geliebten Hasen an die Zoohandlung, oft reicht ein Blick oder eine Geste. Und vergessen wir eines nicht: Durch die Reaktionen, die Kinder und Jugendliche durch ihre Umwelt erfahren, lernen sie – wie auch durch das Erleiden von Ausbeutung und Gewalt selbst – die Welt kennen, in der sie leben. Sie lernen, welche ‚Umgangsformen‘ sich durchsetzen und von wem sie geduldet werden. Sie lernen, ob sie wichtig sind, ob sie auf ihr Leben und das gesellschaftliche – und damit auch rechtliche – Geschehen um sie herum Einfluss nehmen können oder, ob sie – wie es ein 12-jähriges Mädchen mir gegenüber einmal formulierte – „einfach von der Welt fallen“ können „ohne, dass es irgendjemand merkt“. Manche können gar nichts mehr sagen und nur noch erstarren wie ein 14-jähriger Zeuge, der am Morgen nach dem dritten Hauptverhandlungstermin völlig unerwartet von unzähligen Mitschülerinnen und Mitschülern am Zaun des Schulhofs mit neugierigen Blicken empfangen wurde, weil sie früher als er den Bericht einer eifrigen Reporterin in der Tagespresse entdeckt hatten. Dort waren nicht nur Inhalte seiner Zeugenaussage über den langjährigen sexuellen Missbrauch detailliert wiedergegeben, sondern auch seine Initialen. Besonders beeindruckt waren die Jugendlichen vielleicht auch davon, dass mit dem Bericht auch ihre Schule abgebildet worden war. Es war einer der letzten Tage, an denen dieser Junge seine Schule besuchen konnte, danach musste er sie wechseln, weil er die psychischen Strapazen seiner Zurschaustellung und die Reduzierung auf den Opferstatus nicht mehr ertrug. Der Vorsitzende Richter war mehr als erbost, als er hiervon erfuhr, und scheute sich nicht, dieser Reporterin energisch gegenüberzutreten – währenddessen war der 14-Jährige am Rande bereits damit befasst, was er sagen würde, wenn er in der neuen Schule nach den Gründen seines Schulwechsels gefragt würde.
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Der 16-Jährigen, die vor einem Jahr selbst Anzeige gegen den Lebenspartner ihrer Mutter erstattet hatte, weil er sie und die Mutter regelmäßig mit Gegenständen schlug und sie die blauen Flecken nicht mehr ertrug, die sie sah, wenn ihre Mutter sich umzog, geht es heute in einer Jugendhilfeeinrichtung den Umständen entsprechend gut, bis auf die Tatsache, dass ihre Mutter sie jetzt nicht mehr sehen will und ihr den Kontakt zu den jüngeren Schwestern verboten hat. Am Rande sitzt dieses Mädchen Abend für Abend weinend im Bett und versteht die Welt nicht mehr, denn die Anzeige hatte sie vor allem deshalb gemacht, weil sie ihre Mutter und die jüngeren Geschwister schützen wollte (F. Fastie 2008: 24–28).
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Psychosoziale Prozessbegleitung – das österreichische Modell
Der Begriff „Psychosoziale Prozessbegleitung“ ist nicht zufällig gewählt. „Prozessbegleitung“ bezieht sich einerseits auf den Prozess des Strafverfahrens, andererseits auf den inneren Prozess, der durch eine Anzeige und ein Strafverfahren bei Mädchen und Jungen in Gang gesetzt wird. Die genannten Beispiele sind keine besonders herausragenden; sie beschreiben die alltägliche Not und die emotionale Unsicherheit, in der zu leben die Kinder und Jugendlichen gezwungen sind. Und wird diese Zuspitzung von unfreiwilliger Lebensveränderung, Entwurzelung, Verzweiflung und Bedrohung mit dem Beginn des Strafverfahrens auch verstärkt, so liegen seine Ursachen ausschließlich in der erfahrenen Gewalt, der Missachtung und Verletzung dieser Kinder und Jugendlichen begründet. Das Strafverfahren kommt so gesehen noch hinzu. Der Begriff „psychosozial“ beschreibt hier das Feld professionellen Handelns, das sich mit dem Zustand der Verletzten und den weitreichenden Folgen durch die vorgeworfene(n) Tat(en) innerhalb von Beziehungsgeflechten befasst: von der konkreten Angst vor der Vernehmung bei Polizei oder Gericht über mögliche Furcht vor dem/der Angeklagten bis hin zur Existenzangst im Gefüge des sich durch das Strafverfahren ständig verändernden sozialen Umfeldes (Familie, Schule, Freundinnen und Freunde). Gerade in dem Moment, in dem alles offen wird, wenn staatliche Institutionen ihren Auftrag erfüllen, indem sie ermitteln, befragen und konfrontieren, ist es unerlässlich, dass erfahrene und geschulte psychosoziale Fachkräfte an der Seite der Betroffenen dafür Sorge tragen, dass die noch vorhandenen Ressourcen und Hoffnungen dieser Kinder und Jugendlichen aufgegriffen und sie in diesem Lebensabschnitt nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren alleingelassen werden, das sie noch einmal ihrer Selbstkontrolle beraubt. Dies gilt auch für Erwachsene und Verletzte anderer Deliktbereiche, weil das Strafverfahren (auch sprachlich) so konzipiert ist, wie es ist. Das Gros der Bevölkerung weiß nicht, was dort wirklich geschieht, welche Strukturen dem System innewohnen. So lange man nichts damit zu tun hat, ist das alles kein Problem, aber wenn man Teil solch eines Pro-
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zesses wird, bedeutet es häufig Ohnmacht und Kontrollverlust, nichts zu wissen und nichts zu verstehen (E. Plaz 2007: 138). Verletzte aber wollen verstehen, was um sie herum geschieht, sie wollen nicht zum Spielball eines ihnen fremden Systems werden. Dementsprechend bedeutet Psychosoziale Prozessbegleitung einzelne Schritte alters- und entwicklungsgerecht zu vermitteln und nachvollziehbar zu machen. Wir können die hier nur ansatzweise beschriebenen Lebensumstände verletzter Kinder und Jugendlicher im Kontext von Strafverfahren wahrnehmen – oder auch nicht. Doch wenn wir sie wahrnehmen wollen, dann ist es erforderlich, sich darauf einzulassen, über die Grenzen des eigenen Berufsfeldes hinauszusehen, die Frage nach der eigenen Wichtigkeit zunächst zurückzustellen und erst einmal die professionelle Fürsorge und den Schutz der Verletzten selbst in den Vordergrund zu stellen. In Österreich ist dies nach fast 10-jähriger Anstrengung gelungen. Zum besseren Verständnis werden da, wo es für die Verletzten wichtig ist, kurz die Besonderheiten des österreichischen Strafverfahrens erläutert. 3.1
Besonderheiten für Verletzte im österreichischen Strafverfahren
Das prozessuale Institut der österreichischen StPO (öStPO) heißt Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung und ist seit dem 01. Januar 2006 gesetzlich geregelt in § 49a öStPO. Im Gegensatz zu vielen Psychosozialen Prozessbegleiterinnen und -begleitern in Österreich vertrete ich den Standpunkt, dass im deutschen Strafverfahren die Nebenklagevertreterinnen und -vertreter die wichtigsten Personen an der Seite der Verletzten sind, weil die Verletzten nur durch sie eine besondere Rechtsstellung im Verfahren erlangen, die sie ohne Nebenklagevertretung gar nicht nutzen können. Alle Verletzten von Sexualdelikten werden einmal von der Polizei vernommen und zu einem späteren Zeitpunkt von der Untersuchungsrichterin/dem Untersuchungsrichter per Videovernehmung. Staatsanwaltschaft, Verteidigung und ggf. die Gutachterin/der Gutachter befinden sich währenddessen in einem anderen Raum. Dies stellt die so genannte ‚kontradiktorische Einvernahme‘ dar und ist den Modalitäten der Videovernehmung im ermittlungsrichterlichen Verfahren, wie sie in Deutschland praktiziert werden, ähnlich. Im § 52 der deutschen Strafprozessordnung (StPO) ist das Zeugnisverweigerungsrecht für nahe Angehörige von Beschuldigten geregelt. Auch in Österreich haben die Angehörigen von Beschuldigten ein Zeugnisverweigerungsrecht. Zusätzlich hierzu haben alle Opfer von Sexualdelikten ein Entschlagungsrecht, wenn sie im Ermittlungsverfahren kontradiktorisch vernommen wurden. Dies bedeutet, dass sie zwar später noch vor Gericht geladen und um ergänzende Aussage gebeten werden können, sie aber in der Hauptverhandlung nicht aussagen
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müssen. In Österreich gibt es keine Nebenklage. Die öStPO spricht von Privatbeteiligten, die ähnliche Rechte haben und denen eine juristische Prozessbegleitung (E. Plaz 2007) zusteht, die von besonders qualifizierten Anwältinnen und Anwälten durchgeführt wird. Auf den juristischen Teil soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. 3.2
Was ist Psychosoziale Prozessbegleitung?
Das inhaltliche Konzept der Psychosozialen Prozessbegleitung sei hier nur kurz skizziert, da mit Blick auf die zukünftige Entwicklung in Deutschland der Qualität der Durchführung und der personellen Qualifikation besondere Bedeutung zukommt: • Information über mögliche rechtliche Schritte sowie Verfahrensabläufe • Unterstützung bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine Anzeige • Begleitung zu Polizei, Gericht, Gutachter(inne)n, Rechtsanwält(inn)en • prozessbegleitende Beratungsgespräche über die psychischen und familiären Belastungen • Koordination mit anderen relevanten Personen bzw. Institutionen (Jugendamt, Schule, etc.) • Abschluss der Begleitung nach Beendigung strafrechtlicher bzw. zivilrechtlicher Verfahren5 • Information über Aufarbeitungsmöglichkeiten sowie entsprechende Vermittlung nach Abschluss des Verfahrens. Der Umfang der Psychosozialen Prozessbegleitung wird den Erfordernissen entsprechend flexibel gestaltet. Sie beginnt mit der Frage nach der Anzeigeerstattung und endet mit dem Abschluss des Verfahrens, wenn die oder der Verletzte in die – wenn erforderliche – Anschlusshilfe Beratung, Therapie, etc. vermittelt wurde. Im Jahr 2008 wurden bis zu sechzig Stunden pro Klientin oder Klient in Anspruch genommen (B. Haller 2010: 25, Abb. 14). Beim Lesen dieses Ausschnitts mag die Leserin oder der Leser denken: „Ach, das machen wir doch auch alles …“. Doch liegt der Unterschied, der die Beteiligten in grenzwahrender Kooperation mit verschiedener Klientel bundesweit konkurrenzfrei und auf hohem fachlichen Niveau miteinander arbeiten lässt, in den – gesetzlichen – Rahmenbedingungen und den Qualitätsstandards, die für die Tätigkeit der Psychosozialen Prozessbegleitung in Österreich zugrunde gelegt werden.6 5
Auf Letzteres wird nachfolgend nicht weiter eingegangen. In Deutschland haben wir zumindest ausgebildete Verfahrenspflegerinnen und Verfahrenspfleger, bekannt auch unter dem Begriff ‚Anwalt des Kindes‘. 6 Zur Psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in Österreich siehe auch die sehr informative website: http://www.prozessbegleitung.co.at/ (01. 02. 2010).
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3.3
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Wer kann Psychosoziale Prozessbegleitung in Anspruch nehmen?
In Österreich gibt es drei grundsätzliche Gruppen von Anspruchsberechtigten. Das sind: • Kinder und Jugendliche als Opfer sexueller und physischer Gewalt und ihr Bezugssystem. • Bei jedem minderjährigen Opfer eines Sexualdelikts haben Verletzte und das Bezugssystem eine eigene Psychosoziale Prozessbegleiterin. • Frauen als Betroffene von Männergewalt und Frauenhandel. • Opfer situativer Gewalt im öffentlichen Raum (und nahe Angehörige), so z. B. in Fällen von Mord, Tötung, Körperverletzung, Raub, beharrlicher Verfolgung und Nötigung. • Das wesentliche Merkmal der situativen Gewalt im öffentlichen Raum ist das Nichtvorhandensein einer Verbindung zwischen Opfer und Täter/in. Zu keinem Zeitpunkt hat hier ein Nah- oder Beziehungsverhältnis bestanden. 3.4
Welche Qualifikation ist für die Psychosoziale Prozessbegleitung erforderlich?
Die Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche wird aufgrund der zuvor geschilderten Lebensumstände und -dynamiken im sozialen Nahraum als besonders sensibel angesehen. Nicht alle Kinder und Jugendlichen sind nach Gewalt und sexuellen Übergriffen traumatisiert, doch sie sind schwer belastet, bereits ohne Strafverfahren. Mag ein Strafverfahren mit guter Begleitung am Ende günstigstenfalls zur psychischen Verarbeitung der Tat beitragen, bedeutet es zunächst jedoch Angst, Verunsicherung und weiteren Kontrollverlust im Leben der Verletzten. Die Verarbeitung von Strafverfahren und Tatfolgen hat Auswirkungen auf die gesamte psychische, gesundheitliche und soziale Entwicklung der Mädchen und Jungen. Die Erkenntnis vom Unterschied zwischen Händchenhalten, Betreuung aus Mitgefühl und der Notwendigkeit einer fachlich fundierten psychosozialen Arbeit spiegelt sich in der Festschreibung der Qualifikationsstandards für Psychosoziale Prozessbegleiterinnen und -begleiter wider. Vorausgesetzt wird deshalb ein einschlägiges Hochschulstudium an einer Fachhochschule für Sozialarbeit, an einer Lehranstalt für Sozialpädagogik oder eine wissenschaftlich anerkannte psychotherapeutische Ausbildung. Erst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, erfolgt eine Zusatzschulung „Psychosoziale Prozessbegleitung“. Diese umfasst einhundert Stunden psychosoziale und juristische Auseinandersetzung mit psychosozialer Arbeit im Kontext von Strafverfahren.7 Aufgrund der Folgen, 7
Seit 2008 befassen sich die Kolleginnen und Kollegen in Österreich mit der Erarbeitung eines Curriculum, das sich an der berufsbegleitenden Weiterbildung „Sozialpädagogische Prozessbegleiterinnen und -begleiter (Fortsetzung auf S. 271)
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die Fehler in der Arbeit für die Minderjährigen haben können, und aufgrund der besonderen Schutzwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen, derer sich alle an einem Strafverfahren Beteiligten bewusst sind, wird von diesem Standard der beruflichen Qualifikation nicht abgewichen. Die Beratungsstellen und Opferschutzeinrichtungen, die Verträge mit dem österreichischen Bundesjustizministerium (öBMJ) eingehen, garantieren die überprüfbare Qualität, Kompetenz und Arbeitsbedingungen ihrer Prozessbegleitungen. Bei den anspruchsberechtigten Frauen aus dem Kontext häuslicher Gewalt und Frauenhandel gelten die Kriterien wie zuvor genannt. Doch alternativ wird als Grundqualifikation eine mindestens vierjährige Praxiserfahrung mit eigenständiger Beratungstätigkeit in einer Fraueneinrichtung anerkannt. Auch für die Psychosoziale Prozessbegleitung der Opfer situativer Gewalt im öffentlichen Raum haben die zuvor genannten Kriterien Gültigkeit, doch ist hier alternativ eine mindestens zweijährige Praxiserfahrung mit eigenständiger Beratungstätigkeit in einer anerkannten Einrichtung der Opferhilfe möglich. Die Kriterien und Qualitätsstandards sind also unterschiedlich und auf den erforderlichen Bedarf der Klient(inn)en zugeschnitten. Liegen die jeweiligen Voraussetzungen vor, muss für die praktische Tätigkeit ein Anforderungsprofil erfüllt werden. Dieses Profil beinhaltet für die Gruppe der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen: • • • • • • • •
Beratungskompetenz Erfahrung aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Vernetzungskompetenz Grundkenntnisse juristischer Inhalte und Sichtweisen Reflexions- und Entwicklungsbereitschaft Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Belastbarkeit und Flexibilität freie Ressourceneinteilung kontinuierliche Fortbildung im psychosozialen und juristischen Bereich sowie laufende Supervision.
Die freie Ressourceneinteilung bezieht sich darauf, dass alle Psychosozialen Prozessbegleitungen üblicherweise der originären Beratungstätigkeit in ihren Dienststellen nachgehen und im Fall einer Prozessbegleitung die Arbeit so gestalten, 7
(Fortsetzung von S. 270) für verletzte Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren“ von RECHT WÜRDE HELFEN orientiert. 2009/2010 führt das RWH-Institut für Opferschutz im Strafverfahren diese 9-monatige interdisziplinäre Weiterbildung bereits zum vierten Mal durch. Seit 2008 bietet zudem der Bundesverband ado (Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.) in Zusammenarbeit mit der Alice Salomon Hochschule Berlin die berufsbegleitende Weiterbildung „FachberaterIn für Opferhilfe“ an, in der ebenfalls juristische und psychosoziale Grundkenntnisse vermittelt werden. Mit beiden Weiterbildungsmodellen wird in Deutschland die Verbesserung des Opferschutzes durch den Erwerb einer fachspezifischen Zusatzqualifikation angestrebt.
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dass sie auf den Bedarf der Zeuginnen und Zeugen zeitlich flexibel reagieren können und nicht etwa gerade dann verhindert sind, wenn die kontradiktorische Einvernahme stattfindet. Kontinuierliche Fortbildung im psychosozialen und juristischen Bereich sowie laufende Supervision sind ebenso Pflicht wie Selbstverständlichkeit. Das Anforderungsprofil für die Begleitung von Frauen, die Opfer von Männergewalt und Frauenhandel geworden sind, setzt keine Erfahrung aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen voraus, sondern stattdessen ein Grundverständnis von frauenspezifischen Lebenszusammenhängen. Das Profil für die Prozessbegleitung der Opfer situativer Gewalt im öffentlichen Raum erfordert eine kontinuierliche Fortbildung im Bereich der psychosozialen Opferbetreuung. Die institutionelle Eingebundenheit in ein Dienstverhältnis mit einer anerkannten Opferhilfe- oder Beratungseinrichtung wird bei der Prozessbegleitung dieser Anspruchsgruppe nicht vorausgesetzt. Über eine Bewerbung als Psychosoziale Prozessbegleiterin oder Psychosozialer Prozessbegleiter entscheiden die Beratungsstellen. Dabei haben sie darauf zu achten, dass nicht die eine oder andere Qualifikation oder Fähigkeit gegeben ist, sondern alle Kriterien erfüllt sind. Ist dies der Fall, so schließt das österreichische Bundesjustizministerium einen Vertrag mit der jeweiligen Institution oder Beratungsstelle. Das öBMJ hatte bereits 2007 Verträge mit mehr als sechzig Einrichtungen der Mädchen- und Frauenberatung, der Frauennotrufe, der Kinderschutzstellen, der Opferhilfe, der Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt, der Jungen- und Männerberatung gegen Gewalt und einer Opferhilfeorganisation für den Bereich der situativen Gewalt im öffentlichen Raum, die außerhalb der Psychosozialen Prozessbegleitung auch ehrenamtliche Hilfe leistet, geschlossen. Auf Bundesebene gibt es eine Plattform Prozessbegleitung, ein Gremium, in dessen Rahmen Vertreterinnen und Vertreter der Psychosozialen Prozessbegleitungen aller genannten Anspruchsgruppen sich regelmäßig austauschen und die fachpolitische Entwicklung vorantreiben, wie z.B. bei der Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten. Auch gibt es eine Bundeskoordinatorin für den Kinder- und Jugendbereich. Alle Beteiligten achten darauf, dass die jeweils vorgesehene Fortbildung absolviert wird und nur diejenigen die Psychosoziale Prozessbegleitung durchführen, die dafür qualifiziert sind. Die Finanzierung, die den Fortbestand von Supervision, Fortbildung und regelmäßigen Austauschtreffen sichert, wird von anderen Ministerien mitgetragen. Denn das Strafverfahren beginnt nicht erst mit der Hauptverhandlung. Für die Polizei beginnt es frühestens mit der Anzeigeerstattung, für die Betroffenen selbst meist mit der Abwägung, Anzeige zu erstatten oder auch nicht. Ebenso beteiligen sich deshalb die Ministerien für die Bereiche Kinder, Jugendliche, Frauen, Familie und Gesundheit an dem Erhalt von Qualität und fachlichem Austausch. Ihnen
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ist bewusst, dass versagte Hilfen zum richtigen Zeitpunkt am Ende zu einer höheren Belastung der Betroffenen und damit auch zu höheren Folgekosten führen. Eine Logik, der in Deutschland zumeist das ‚Legislaturperiodendenken‘ einen Riegel vorzuschieben scheint. Die Psychosoziale Prozessbegleitung setzt eine hohe Qualifikation voraus, die bezahlt werden muss. Bürgerschaftliches Engagement dient dem Schließen von (noch) bestehenden Lücken im gesellschaftlichen System. Wenn Ehrenamtlichkeit jedoch beginnt, einem Selbstzweck zu dienen, verkehrt sich ihr ehrenwerter Status ins Gegenteil. Halten auf ehrenamtliche Hilfe basierende Organisationen an Missständen fest, indem sie z.B. ungeachtet jeglicher Grundqualifikation meinen, alles tun zu können und so mit Macht versuchen, die Professionalisierung des Opferschutzes zu verhindern, dann tritt ein weniger ehrenwerter Effekt ein, der die Zementierung bestehender Lücken fördert und fachlich fundierte Hilfe für die Verletzten verhindert. Dieser Effekt konnte in Österreich vermieden werden, weil alle Beteiligten Willens und in der Lage waren, das Wohl der Kinder und Jugendlichen (und anderer Anspruchsberechtigter) in den Vordergrund zu stellen (S. Rupp 2007). Für die juristische Prozessbegleitung gibt es ebensolche Qualifikations- und Anforderungsprofile wie für die psychosoziale. Da gerät also nicht zufällig ein Fachanwalt für Mietrecht in ein Missbrauchsverfahren, nur weil er den Onkel eines Familienmitglieds schon so nett vertreten hat, als der einst eine Anzeige wegen Beleidigung bekommen hatte. Dies ist in Deutschland seit Änderung der Gebührenordnung ein wirkliches Problem auf Seiten der Nebenklage. Diese wird nach wie vor als ein ‚Nebengleis‘ des Strafrechts gesehen, für das keine besondere Qualifikation erforderlich ist. 3.5
Was macht die Psychosoziale Prozessbegleitung so besonders?
Die Psychosoziale Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Österreich verfügt über eine einheitliche Gesetzesgrundlage, über Qualitätsgrundlagen und kann eine differenzierte Abgrenzung der Deliktbereiche vorweisen. Sie bietet kompetente Hilfe für Verletzte auf hohem, fachlichen Niveau, das institutionell kontrollierbar ist und weist eine einheitliche, bundesweit gut überschaubare Struktur auf, in der alle Beteiligten wissen, wer wie arbeitet, in der Informationswege transparent sind und Kooperation nicht ausschließlich auf individueller Bereitschaft basiert. Alle ein bis anderthalb Jahre finden nationale Vernetzungstreffen statt, die einen fachlichen Austausch auf gleichem Niveau ermöglichen. Durch die gesicherte Finanzierung wird u. a. der Konformitätsdruck aufseiten der Verletzten verringert. Sie müssen nicht ständig dankbar sein und laufen aus diesem Gefühl heraus nicht Gefahr, sich etwaigen Erwartungshaltungen der Prozessbegleiterinnen und -begleiter anzupassen. Sie nehmen lediglich eine Hilfe in Anspruch, die ihnen rechtlich zusteht und über die sie von Beginn an informiert werden müssen.
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Die kontinuierliche Dokumentation mittels einheitlicher Erfassungsbögen ermöglicht eine optimale Auswertung von Verfahrensabläufen und deren Erledigung. Dies ist auch für das Bundesjustizministerium von großem Interesse. Gleichzeitig bringt die wissenschaftliche Begleitung von Anfang an nicht nur Fakten zutage, sondern macht auch die Entwicklung und Qualitätssteigerung der Psychosozialen Prozessbegleitung gut nachvollziehbar. Folgerichtig ist die Psychosoziale Prozessbegleitung mit bis zu sechzig flexiblen Stunden ein wirklich bedarfsgerechtes Konzept und genießt aufgrund ihrer Qualität und Transparenz eine hohe Akzeptanz bei Polizei und Justiz.
4
Hindernisse nehmen – den Opferschutz gemeinsam verbessern
Auch in Deutschland gibt es erste Schritte in Richtung einer Psychosozialen Prozessbegleitung. Im Januar 2008 fand im Bundesministerium der Justiz der erste Runde Tisch zur „Gesetzlichen Implementierung Psychosozialer Prozessbegleitung“ statt. Unter Beteiligung verschiedener Ministerien trafen sich mehr als 20 Expertinnen und Experten aus Verbänden und Vereinen nahezu aller am Strafverfahren beteiligten Professionen sowie aus dem Opferhilfe-, dem Frauen- und dem Kinderschutzbereich. In dieser Anhörung sprachen sich die Teilnehmenden mehrheitlich für eine berufsqualifizierte Prozessbegleitung von verletzten Zeuginnen und Zeugen insbesondere während des Strafverfahrens aus. Selbst die Strafverteidiger, die die Rechte der Beschuldigten zu vertreten und vor Einschränkungen zu bewahren haben, wollten der Entwicklung nicht im Wege stehen. Was die Strafverteidiger jedoch zu Recht verlangten, war eine entsprechende Qualifizierung, die ausreichend Kenntnisse zur Rechtsposition der Beschuldigten beinhalte und eine Arbeitsweise, die Gespräche mit den Zeuginnen und Zeugen über den Sachverhalt ausschließe sowie auch jede andere Vorgehensweise, die als Beeinflussung von Zeugenaussagen verstanden werden könnte. Prozessbegleitung soll Zeuginnen und Zeugen Sicherheit und Orientierung vermitteln, es ihnen ermöglichen zu verstehen, was um sie herum geschieht und was von ihnen erwartet wird. Gerade in einem Strafverfahren gibt es mehr als genug Interessierte, die den Sachverhalt hören wollen. Mädchen und Jungen sind meiner Erfahrung nach eher erleichtert, wenn sie nicht noch einer weiteren Person etwas über die erfahrene Gewalt und sexuelle Ausbeutung erzählen müssen. Doch oft habe ich bemerkt, dass sie es dennoch tun würden, wenn ich es von ihnen erwartet bzw. nur eine einzige Frage danach gestellt hätte. Professionalität setzt voraus, weder Eigeninteresse am Sachverhalt, noch am Ausgang des Verfahrens zu haben. Oberstes Ziel ist es, die Zeugin oder den Zeugen fürsorglich, geschützt und im eigenen Verstehen um verfahrensrechtliche Abläufe8 unversehrt durch dieses hin8
Siehe hierzu die sehr eindrucksvolle Studie von Petra Wolff (1997) zum Wissen von Kindern und Jugendlichen über Gerichtsverhandlungen.
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durch zu begleiten und die Brücke zwischen den sprachlichen Welten für sie begehbar zu machen. Der Gesetzgeber hat mit dem neuen § 406h Nr. 5 StPO, 2. Opferrechtsreformgesetz (ORRG), der am 01. 10. 2009 in Kraft trat, eine sehr differenzierte Grundlage für die Qualifizierung des nicht-juristischen Opferschutzes im Strafverfahren geschaffen: „Verletzte sind möglichst frühzeitig, regelmäßig schriftlich und soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache auf ihre aus den §§ 406d bis 406g folgenden Befugnisse und insbesondere auch darauf hinzuweisen, dass sie (…) Nr. 5 Unterstützung und Hilfe durch Opferhilfeeinrichtungen erhalten können, etwa in Form einer Beratung oder einer psychosozialen Prozessbegleitung.“
Diese begriffliche Trennung von psychosozialer Prozessbegleitung oder Beratung greift sensibel und differenziert auf, dass es sich bei Beratung und Prozessbegleitung um grundsätzlich verschiedene Angebote mit unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen handelt und nennt mit diesen beiden Termini die wesentlichen Kernformen psychosozialer Interventionen, für die in den meisten Beratungs- und Interventionsstellen, Opferhilfe- und Kinderschutzeinrichtungen, Frauen- und Männerberatungsstellen und Notrufen überprüfbare Konzepte und Rahmenbedingungen existieren. In seiner Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber auf Folgendes hingewiesen: „Damit sich Verletzte von den durch die Opferschutzverbände angebotenen Hilfsmöglichkeiten ein besseres Bild machen können, werden in Nummer 5 zwei Unterstützungsangebote beispielhaft erwähnt. Dabei handelt es sich zunächst um die Beratung, die in aller Regel am Beginn der Hilfeleistung steht und zudem der Erörterung dient, welche weiteren Maßnahmen sinnvoll sein könnten. Eine – in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Strafprozess stehende und deshalb in Nummer 5 ebenfalls beispielhaft angeführte – unterstützende Maßnahme verschiedener Opferschutzverbände ist dabei die psychosoziale Prozessbegleitung. Auch wenn eine abschließende Definition der hierunter fallenden Maßnahmen noch nicht gefunden ist, so ist sie jedoch dadurch gekennzeichnet, dass insbesondere Verletzte von schweren Sexual- oder sonstigen Gewalttaten unter anderem bei für sie häufig problematischen strafprozessualen Vernehmungen von besonders geschulten Mitarbeitern der Opferschutzverbände begleitet werden, die mit den üblichen Abläufen solcher Verhandlungen und den Möglichkeiten, sie für Verletzte möglichst schonend auszugestalten, vertraut sind. Hierdurch können u. a. sekundäre Viktimisierungen häufig vermieden werden. Dabei muss jedoch stets sichergestellt sein, dass eine (bewusste oder unbewusste) Beeinflussung des Inhalts der Aussage der Verletzten unterbleibt.“ (BTDrucksache 16/12089 vom 03. 03. 2009)
Mit dieser Hinweispflicht im § 406h Nr. 5 soll gewährleistet werden, dass Verletzte von Straftaten kurz und präzise, aber verbindlich, über bestehende Angebote informiert werden. Dies geschieht in der Praxis bisher nur selten. Zudem verpflichtet die Hinweispflicht die zuständigen Stellen damit indirekt, sich über
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die Fachlichkeit der Unterstützungsangebote und die Qualifikation von Durchführenden der Hilfemaßnahme sachkundig zu machen, da eine differenzierte Information an die Verletzten andernfalls nicht möglich ist. Wird es uns gelingen, dem Ist-Zustand in Deutschland selbstkritisch ins Auge zu sehen und im Interesse einer flächendeckenden qualifizierten Betreuung und Begleitung (verletzter) Zeuginnen und Zeugen Missstände zu beseitigen und bestehende Lücken zu schließen? Folgende Faktoren können dabei hilfreich sein: • Angebote nach Deliktbereichen differenzieren • angebotsspezifische Standards und Grenzen festlegen • Konkurrenz auflösen: Niemand wird überflüssig • über den Länderrand schauen – noch erschwert Föderalismus bundeseinheitliche Regelungen • Bewusstsein stärken – noch erschwert politisches ‚Legislaturperiodendenken‘ eine beständige Entwicklung. Es ist gut, dass es viele Angebotsformen in unserem Land gibt, denn verschiedene Zeuginnen und Zeugen brauchen verschiedene Unterstützung. Eine Regulierung der Angebote über Qualifikation und Differenzierung der Deliktbereiche schafft klare, transparente Strukturen und wirkt Fehlinformationen, unangemessenen Arbeitsweisen und damit einer möglichen Schädigung von Verletzten entgegen. Sie verhindert vor allem auch die Bevorzugung oder Benachteiligung von ‚beliebteren‘ und ‚weniger beliebten‘ Akteur(inn)en und bietet Chancen für eine bundeseinheitliche Vernetzungsstruktur. Und eines ist ganz sicher: Nur wer für Qualität zu zahlen bereit ist, kann auch Qualität beanspruchen. Gerade durch Gewalt im sozialen Nahraum schwer belastete – und nicht selten traumatisierte – Kinder und Jugendliche haben einen moralischen Anspruch auf die Begleitung durch eine versierte Fachkraft, die die besonderen psychischen und sozialen Bedürfnisse erkennt, auf sie reagieren kann und gleichzeitig sicherstellt, dass über die Sachverhalte selbst mit den Zeuginnen und Zeugen im Rahmen der Prozessbegleitung nicht gesprochen wird. Psychosoziale Laien können eine solche Hilfe ebenso wenig leisten, wie Schöffinnen und Schöffen zur alleinigen Durchführung einer Hauptverhandlung in der Lage sind. Aus der Bandbreite der unterschiedlichen Deliktgruppen geht insgesamt eine solch hohe Anzahl Verletzter hervor, dass viele qualifizierte Fachleute gebraucht werden. Dies je nach Qualifikation an unterschiedlicher Stelle, aber immer mit dem Ziel, dass kein Mädchen und kein Junge einfach mehr „unbemerkt von der Welt fallen“ kann.
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IV Entwicklungsherausforderungen aus praxisreflektierender und praxisqualifizierender Perspektive
Supervision der professionellen Opferhilfe: Traumatisierung vermeiden helfen Hans-Joachim Görges/Lydia Hantke
Nicht jeder Mensch, der Opfer von Gewalt- bzw. Straftaten wurde, entwickelt eine Traumafolgestörung und nicht jeder traumatisierte Mensch ist ein Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten. Dennoch bilden Übergriffe auf die körperliche und psychische Unversehrtheit eines anderen Menschen oft Dynamiken ab und aus, die als man-made-traumata, also als von Menschen verursachte Traumatisierungen bezeichnet werden. Sie zeitigen Auswirkungen, die anders gelagert sind als bei Traumatisierungen etwa durch Verkehrsunfälle oder Naturkatastrophen. Mit diesen Menschen arbeiten die MitarbeiterInnen in der Opferhilfe. Der Kontakt entsteht meist in einer Phase der Verarbeitung, in der sich entscheidet, ob eine Traumafolgestörung überhaupt erst entsteht. Denn Traumatisierung im psychologischen Sinn ist nicht durch das Erleben und Überleben einer Straftat definiert, sondern meint Symptome, die nicht abklingen und (Beziehungs-)Störungen, die sich entwickeln, wenn im Nachgang einer Situation, die für den Menschen sehr bedrohlich war, die Verarbeitung all des Geschehenen nicht gelingt. Und da spielen viele Faktoren eine Rolle, etwa weil die Umwelt unverständig reagiert oder finanzielle und soziale Ressourcen für eine Bewältigung nicht zur Verfügung stehen. Genau an diesem Punkt der Verarbeitung kann Opferhilfe einen wichtigen Beitrag zur Prävention einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder anderer Traumafolgestörungen leisten. Erfolgreiche Supervision in der Opferhilfe soll dazu beitragen, die Ausbildung von indirekter Traumatisierung bei den HelferInnen zu verhindern und traumabeeinflusste Dynamiken im Team zu erkennen und konstruktiv zu nutzen. Den KlientInnen kann im Umgang mit auftauchenden Symptomen Hilfestellung geleistet werden und Menschen, die bereits eine posttraumatische Symptomatik entwickelt haben, können in ihrer Verarbeitung unterstützt werden, um so einer Chronifizierung vorzubeugen. Wie Supervision hierbei Hilfestellungen geben kann, davon soll dieser Artikel handeln. 1
Supervisorisches Grundverständnis
Grundsätzlich lassen sich verschiedene Formen und Settings von Supervision unterscheiden, so etwa Einzel- und Gruppensupervision, Fall- oder Teamsupervision, Leitungssupervision, interne Supervision sowie Intervision und Selbst-
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supervision (z. B. A. Ebbecke-Nolen 2009). Wir werden uns im Folgenden auf Einzel- und Teamsupervision konzentrieren. Dabei gehen wir davon aus, dass sowohl fall- als auch teambezogene Anliegen bearbeitet werden sollen, was gerade in der Supervision der Arbeit mit – möglicherweise – traumatisierten Menschen oft notwendig ist, um den Symptomatiken der Traumatisierung ebenso zu entsprechen wie den Auswirkungen, die das Erleben von Gewalt auf das gesamte Umfeld und damit auch auf die HelferInnen hat. 1.1
Der hypno-systemische Supervisionsansatz
Die Arbeitsweisen und theoretischen Hintergründe von Supervision im Rahmen psychosozialer Arbeitsfelder unterscheiden sich zum Teil erheblich. Der hier beschriebene Supervisionsansatz basiert auf systemischen und hypnotherapeutischen Konzepten, die auf die Arbeit(en) des Heidelberger Systemikers Gunther Schmidt (2005) zurückgehen und inzwischen als hypno-systemischer Ansatz bekannt geworden sind. Diesem Ansatz zentral sind Orientierung an den Ressourcen und den jeweiligen Anliegen der KlientInnen. Die zu supervidierenden KollegInnen und Teams werden als ExpertInnen für ihre Arbeitsfelder und die dafür passenden Lösungen betrachtet, die SupervisorInnen verstehen sich als ExpertInnen für Kommunikationsprozesse, strukturelle Bedingungen in den Einrichtungen und der Supervision. Die Ziele einer Supervisionssitzung werden von den SupervisandInnen bestimmt und sie sind es auch, die am Ende jeder Sitzung beurteilen, ob das Ziel erreicht wurde. Die Haltung der SupervisorIn ist von Neugier, Wertschätzung und Allparteilichkeit bestimmt; jeder Beitrag zur Supervision wird als nützlich integriert und gewürdigt, egal in welcher Form er erfolgt. Statt Ratschläge zu geben, unterstützt die SupervisorIn die Einzelnen oder Teams in transparenter Weise dabei, passgenaue Lösungen für ihre Probleme zu finden. Genutzt werden dabei vielfältige systemische und hypnotherapeutische Methoden, von denen weiter unten einige beispielhaft herausgegriffen werden. Zentrales Instrument ist in jedem Fall die Einführung und Beibehaltung einer Meta-Ebene, einer distanzierenden Betrachtung des Geschehens, sei es mit der KlientIn, im Team oder in der Supervision selbst. Ausgangspunkt der Supervision ist eine Frage/ ein Anliegen der SupervisandIn, also der Profis, die sich supervidieren lassen. Idealerweise wird das Anliegen so (um)formuliert, dass die SupervisandIn als Handelnde sichtbar wird, und die Formulierung positiv und zukunftsorientiert ist (z. B. „Wie kann ich besser in Kontakt zu meiner KlientIn kommen?“ statt: „Weshalb kann die Klientin nicht auf meine Angebote eingehen?“). Gerade erfahrene SupervisandInnen haben oft auch eine Vorstellung, auf welche Weise an ihrem Anliegen gearbeitet werden sollte. Um herauszufinden, wie eine Bearbeitung des Anliegens aussehen könnte, fragen wir etwa: „Haben Sie eine Vorstellung davon, was wir hier tun könnten, damit Sie sich Ihrem Ziel näher sehen? Woran würden Sie das überhaupt mer-
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ken?“ Die Methoden werden in jedem Fall transparent und nachvollziehbar zwischen SupervisorIn und SupervisandInnen ausgehandelt – man kann ja sehr viel mehr tun als miteinander zu reden. Am Ende kann die SupervisorIn die erarbeiteten Ideen/ Lösungen zusammenfassen, entscheidend ist allerdings immer die Frage, ob das Ziel der SupervisandIn erreicht wurde. 1.2
Einzelne oder Teams
Die Supervisionsziele und angestrebten Lösungen bestimmen sich oft aus dem Erleben der SupervisandIn mit der KlientIn, sind aber häufig auch durch den institutionellen Rahmen definiert. So macht es etwa einen deutlichen Unterschied, ob ich allein oder im Team arbeite, wenn ich mit Gewalttaten konfrontiert werde: Habe ich die Möglichkeit der Intervision, der kollegialen Supervision in einem Kleinteam, und ist eine institutionalisierte Möglichkeit des Austauschs mit KollegInnen in anderen Beratungsstellen oder Zusammenhängen vorgesehen? Bin ich ausschließlich auf die externe Supervision angewiesen? Wie oft und vor allem wie geregelt ist ein Austausch möglich, auch gerade dann, wenn noch nicht ‚Not am Mann‘ ist? Nicht alle OpferhelferInnen arbeiten vor Ort gemeinsam mit anderen und haben so die Gelegenheit, sich im Arbeitsalltag gegenseitig zu unterstützen. Oft sind Teamsitzungen und Supervisionen die einzigen Orte für gemeinsame Reflexionen und die Bedürfnisse in dieser Hinsicht können nur unzureichend abgedeckt werden. Die Gründung professioneller Netzwerke kann von den SupervisorInnen angeregt und gemeinsam geplant werden. Für die einzeln arbeitenden KollegInnen ist es oft wichtig, nicht nur Ideen zum Umgang mit ihren KlientInnen und mit den eigenen Grenzen und Gefühlen mit an den Arbeitsplatz zu nehmen, sondern auch Ideen dazu, wie sie auf eigene neue Ideen kommen. Wie kann ich mit immer wieder auftauchenden Anforderungen in der Arbeit mit Opfern kreativ und selbstfürsorglich umgehen? Wie kann ich mich aus emotionalen oder Beziehungssackgassen wieder befreien? Wie kann ich hilfreiche Ideen entwickeln, wenn sie mir auszugehen drohen? Hier ist Supervision gefordert, ganz konkrete Selbsthilfemöglichkeiten für die allein arbeitenden SupervisandInnen zu entwickeln und immer wieder verbessern zu helfen. Die im Team arbeitenden SupervisandInnen haben zwar die Möglichkeit zum Austausch, damit einhergehend allerdings auch mehr Gelegenheiten für Missverständnisse und zur Inszenierung von Dynamiken, die oftmals viel mit der inneren Landschaft ihrer KlientInnen oder der Arbeit im Umfeld von Gewalt zu tun haben. Supervision kann hier zu einem wertschätzenden und neugierigen Umgang miteinander einladen, der nicht nur die Arbeit erleichtert, sondern auch den KlientInnen als Modell dienen kann. Die SupervisorIn verhält sich neutral, das heißt sie stellt sich nicht auf die Seite einer SupervisandIn oder einer bestimmten
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Lösungsidee, sondern bleibt auf einer Metaebene, von der aus sie den Prozess als Lösungsversuch der Situation beschreibt. So können auch Konflikte innerhalb von Teams z. B. als ein möglicher Umgang mit einer schwierigen, z. B. finanziellen oder inhaltlichen, Situation eingeordnet und geklärt werden, ohne die Auseinandersetzungen zu personifizieren und die Involviertheit von Einzelnen als deren persönliches Problem zu begreifen. Hypno-systemische Supervision begreift die Reaktion der Einzelnen als einen Teil des Geschehens innerhalb des momentanen Systems, das für die anstehende Lösung genutzt werden kann. Deshalb geht es auch nicht um die Zuschreibung von Schuld oder Ursache, sondern um die Übernahme von Verantwortlichkeiten entsprechend den übernommenen Aufgaben oder um eine Interpretation des Verhaltens als nützlichen Beitrag, der erst noch verstanden werden will. Ein Beispiel: Ein Team kommt ratlos zur Supervision und berichtet, dass die KollegIn G. sich gegen die Umsetzung eines Teambeschlusses sperrt. Das Team wünscht sich eine einvernehmliche Lösung und ein klärendes Gespräch, um statt der aufkommenden Gereiztheit wieder einen wertschätzenden Umgang miteinander zu finden. Die Ausgangssituation stellt sich für die SupervisorIn folgendermaßen dar: Die 65-jährige Klientin K. kam nach einem Überfall auf der Straße in die Beratungsstelle. Nun hat sie die zunächst vereinbarte Anzahl Stunden beinahe erreicht, kommt nach eigenem Bekunden auch gerne in die Beratung und möchte das weiter tun. Die Beraterin der Klientin ist sich mit fast allen KollegInnen aber darin einig, der Klientin K. keine weiteren Gespräche anzubieten, da sie nach ihrem Dafürhalten keine Entwicklung zeigt und die gemeinsam erarbeiteten Ideen nicht umsetzt. Nur die Kollegin G. besteht darauf, dass K. weiter in die Beratungsstelle kommen kann. Sie kann nicht genau erklären weshalb, aber sie hat das unbedingte Gefühl, dass die Klientin noch etwas Zeit braucht. Einige Teamkollegen sind von dem ‚irrationalen‘ Verhalten der Kollegin sichtlich entnervt, es fallen Äußerungen wie „der passt doch immer was nicht“, und G. ist immer wieder den Tränen nahe. Die Supervisorin hört sich die unterschiedlichen Positionen an und lädt dann das Team zu einem Gedankenspiel ein: Angenommen, es gäbe gute Gründe für G., sich so zu verhalten wie sie das tut, welche könnten das sein? Anfangs reagieren die anderen Teammitglieder eher abschätzig, doch sie beginnen nachzudenken. Unter anderem entsteht die Idee, G. sehe bei der KlientIn etwas, was die anderen nicht wahrnehmen. Die Hypothesen dazu gehen vor allem in zwei Richtungen: G. sieht für alle anderen nicht sichtbare Potentiale und Ressourcen bei der KlientIn, und: G. vermutet im Hintergrund der KlientIn weit größere Probleme als den Überfall. Die Stimmung im Team ist jetzt eher nachdenklich, von Ärger ist nichts mehr zu spüren. Die zuständige Beraterin schlägt vor, dass sie noch einmal mit den neu erworbenen Fragezeichen im Kopf auf Frau K. zugeht und sie gezielt auf
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vorhandene Ressourcen und zusätzliche Problematiken anspricht. Entgegen den Erwartungen einiger skeptischer Kollegen reagiert die Klientin mit freudigem Erstaunen und Interesse. Sie erzählt, dass durch den Überfall etwas in ihr wieder aufgetaucht sei, was sie für überwunden oder zumindest gezähmt gehalten hatte. In dieser und in nachfolgenden Beratungsstunden wird deutlich, dass Frau K. in Kindheit und Jugend schwer traumatisiert wurde, und der aktuelle Überfall die alten Wunden wieder aufgerissen hat, was sie bislang aber nicht thematisieren wollte, weil es „hier ja darum nicht geht“. Die Stimmung in der nächsten Supervisionssitzung ist entspannt und humorvoll. Die Klientin ist in der Bearbeitung der Alltagsbewältigung nach dem Überfall beweglicher geworden und konnte mit ihren darüber hinausgehenden Anliegen im guten Einvernehmen an eine spezialisierte Beratungsstelle überwiesen werden. Die Beraterin freut sich über den erfolgreich abgeschlossenen Fall, und Kollegin G. ist sichtlich erleichtert und in die Gespräche integriert. In der Nachbesprechung wird noch einmal für alle deutlich, wie wertvoll es sein kann, die Missstimmigkeiten im Team auf ihren Wert für die gemeinsame Arbeit hin zu beleuchten.
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Traumatisierung
Dynamiken wie die oben beschriebene entstehen nicht nur in Teams der Opferhilfe. Doch gewisse Dynamiken, die mit der Entstehung und Verarbeitung (oder eben auch Nicht-Verarbeitung) von traumatisierenden Ereignissen zu tun haben, stellen spezifische Anforderungen, denen sich MitarbeiterInnen im Bereich Opferhilfe ausgesetzt sehen und die auch die supervisorischen Prozesse (mit)bestimmen. Die Opferhelfer sehen sich durchweg Personen gegenüber, die einen fundamentalen Einschnitt in ihre Persönlichkeitsrechte und ihre Integrität erfahren haben: Menschen, die sich an die Opferhilfe wenden, haben Überfälle oder Vergewaltigungen erlebt, sie sind bedroht, verfolgt, geschlagen und misshandelt worden. All das hinterlässt Spuren, von denen manche sich mit professioneller Unterstützung auflösen lassen, aber es hat eine grundsätzliche Veränderung im Leben stattgefunden. Nach einem solchen Übergriff ist nichts mehr wie zuvor und es wird auch nicht wieder so werden, wie es vorher war. Das missbrauchte Vertrauen, das zerrüttete Sicherheitsempfinden, das Gefühl von Hilflosigkeit nach dem Trauma wirkt sich auf das Selbsterleben, das Weltbild und vor allem die Beziehungen der Opfer (zu sich selbst und zu anderen) aus, und damit auch auf die Beratungsbeziehung. Diese Symptome und Beziehungsdynamiken brauchen einen angemessenen Platz in der Supervision. Wie können die SupervisandInnen umgehen mit dem Misstrauen der KlientInnen, mit deren Schuldgefühlen, mit dem Hass
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auf sich selbst, mit ihrer Hilflosigkeit angesichts immer wiederkehrender Bilder, Gerüche, Geräusche oder Körpersensationen, denen sich nicht ausweichen lässt? Wie sollen sie sich verhalten angesichts von massiven Stimmungsschwankungen, von Idealisierungen auf der einen und Verteufelungen auf der anderen Seite? Was können sie tun, wenn die KlientIn vor ihren Augen dissoziiert und im Beratungszimmer nur noch körperlich anwesend ist? Wie können Kämpfe um die Kontrolle der Beratungssituation vermieden werden? 2.1
Theoretische und praktische Anforderungen
Neue Theoriebildungen und therapeutische Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre machen die Arbeit mit traumatisierten und von Traumatisierung bedrohten Menschen zu dem Bereich, in dem die Präventionsmöglichkeiten im Vergleich zu anderen psychischen ‚Störungen‘ am größten sind. Dieses Präventionswissen in die Supervision einzubauen, scheint uns bei aller Forderung nach inhaltlicher Zurückhaltung und Auftragsorientierung eine moralische Pflicht von SupervisorInnen im Kontakt mit Opferhilfeeinrichtungen. Gerade im Bereich der Verarbeitung von ‚Schadensereignissen‘, wie das im Versicherungsdeutsch benannt wird, ist bekannt, dass eine frühe Psychoedukation bezüglich der Mechanismen, mit denen Überlebende einer Gewalttat reagieren, eine Chronifizierung verhindern kann und somit eine der wichtigsten Aufgaben der frühen Intervention darstellt. Da OpferhelferInnen aber i. d. R. keine traumaspezifische Zusatzausbildung haben, muss Supervision diese Funktion übernehmen (können). Es geht also in der Supervision immer wieder auch darum, neben der Begleitung Fachwissen bezüglich der Verarbeitung von Traumatisierungen und der Intervention im Krisenfall einzubringen. Grundlagenwissen, das auch und gerade in Supervisionsprozessen vermittelt werden sollte, betrifft vor allem folgende Bereiche: Wie funktioniert Verarbeitung im Notfall? Was braucht es um sie zu gewährleisten? Was sind die Folgen unverarbeiteter überwältigender Erlebnisse? Was bedeutet das für den Umgang mit traumatisierten oder von Traumatisierung bedrohten Menschen? Wie lange dauert das? Wie kann die Klientin wieder stabiler im Alltag werden? Wie können die Menschen mit akuten Symptomen umgehen, welche Prognose stellt sich ihnen, an wen kann verwiesen werden? Die Integration von Gewalterfahrungen ist von vielerlei Faktoren abhängig, die Körper und Geist schwächen oder stärken können: Habe ich genug zu essen, um meinen Körper gut zu versorgen? Steht mir eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung? Ist mein Alltag von Angst geprägt und keine Aussicht auf Besserung abzusehen? Bin ich vier oder vierzig Jahre alt? Habe ich eine Unterkunft, die es mir ermöglicht, so zu leben, wie es mir gut tut? Gibt es Menschen, an die ich mich wenden kann? Gibt es etwas, für das es sich lohnt (weiter) zu leben? Es sind eine Unzahl von Bedingungen, die einer guten Verarbeitung förderlich oder abträglich sind. Sie alle beeinflussen die Leistungsfähigkeit eines Individuums aus Fleisch
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und Blut, mit Herz und allen Sinnen. Ein wesentlicher Faktor für eine gelingende Verarbeitung steht aber über allen anderen und überbrückt, wo anderes fehlt: Ohne den Austausch mit und die Unterstützung durch andere Menschen können wir Erfahrungen nicht einordnen. Wir sind zuallererst ‚Herdentiere‘ und von der Vermittlung und Begleitung durch unsere Mitmenschen abhängig. Nun hat sich in dem erfolgten Übergriff ein Mensch gegen einen anderen Menschen gewandt, ist grundlegendes Vertrauen zerstört worden, und das wirkt sich oft auf alle Beziehungen aus. Zudem wenden sich viele FreundInnen, Familienangehörige nach einiger Zeit von den Betroffenen ab, weil sie nicht wissen, wie sie mit immer wiederkehrenden Erzählungen oder Rückzugstendenzen, Stimmungsschwankungen oder einem insgesamt veränderten Verhalten umgehen sollen. Weil sie nicht verstehen, dass jemand immer noch nicht wieder in das gemeinsame Leben einsteigt, immer noch festhängt. Traumatisierung ist immer auch eine Erfahrung von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Im Moment der (sehr individuellen) Erfahrung von Lebensbedrohung sind die Bewältigungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten überfordert, ein rettendes Handeln ist nicht mehr möglich, die Angst nimmt überhand und der Organismus reagiert, indem die Notfallreaktion aktiviert wird: Der Körper möchte fliehen oder kämpfen, so wie er das schon vor Jahrmillionen getan hat. Wenn in der Bedrohungssituation Kampf oder Flucht nicht möglich sind, reagiert der Körper schließlich mit einer Notabschaltung, mit Erstarrung oder einer Art Totstellreflex. Das Erlebte wird gespeichert, aber nicht integriert, der fließende Austausch zwischen den für die Integration von Erfahrung verantwortlichen Hirnarealen ist unterbrochen. Dies führt zu mangelhafter Einordnung des Erlebten und manchmal dazu, dass es einem ‚die Sprache verschlägt‘. Solche nicht integrierten, traumatischen Erfahrungen im Erwachsenenalter wirken sich aus auf: • die Wahrnehmung • die Beziehungen/ Intimität (zum Selbst/ Körper, zum Anderen/ Gegenüber, zum Raum, zur Zeit, zu den Dingen; die emotionale Bedeutung verändert sich) • die Abhängigkeit/ Autonomie • die Werte • das Selbstvertrauen bzw. die Selbstwirksamkeitserwartung und das Selbstwertgefühl • die Vorstellung von Sicherheit • das Vertrauen in Andere und die Welt • die Fähigkeit zur Hoffnung. Nach einem solchen Ereignis, oft aber auch erst in zeitlichem Abstand dazu zeigt sich eine Vielfalt von Symptomatiken, die unter anderem zur Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden. Je länger (und je
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früher) die Situation nicht verarbeitet werden kann, desto mehr werden aus Symptomen Verhaltensweisen und ‚Eigenschaften‘, desto bestimmender wird das Erleben für die Beziehungsgestaltung.1 Mit all diesen Symptomen und den Reaktionen auf die Umwelt oder mit den Veränderungen in den Beziehungen zu FreundInnen und Verwandten kommen die KlientInnen zur Opferhilfe. Und oft erzählen sie allenfalls von dem Geschehenen, trauen sich aber nicht, Symptome zu benennen, die ihnen selbst peinlich sind, die sie selbst nicht verstehen, bei denen sie Angst haben, verrückt zu werden: dass sie neben sich stehen, sobald es stressig wird, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können, dass sie sich selbst nicht mehr kennen, dass sie schon mal das Kind schlagen, wenn es zu sehr weint…. Diese Menschen befinden sich in einer Krise: das heißt, sie sind in allen ihren Werten und Gewohnheiten erschüttert, die Koordinaten ihres Lebens sind zusammengebrochen. Nichts von dem, was sie gewusst und getan haben, scheint mehr richtig. Und das macht Menschen extrem anfällig für Erklärungen, Vorschläge und Wegweisungen. Es liegt in unserer Verantwortung, diesen Umstand zu berücksichtigen und positive Interpretationen und Weichenstellungen zu ermöglichen. Die SupervisandInnen können ihren KlientInnen durch eine Erklärung der zu erwartenden Symptomatik, die Beschreibung möglicher physiologischer Reaktionen, eine Wertung aller Symptomatik als autonomen Versuch der Integration durch den Körper und durch Zuversicht in positive Veränderung nach Abschluss des Verarbeitungsprozesses eine Idee davon vermitteln, dass sie völlig normal auf eine unnormale Situation reagieren bzw. reagiert haben. Und dass es berechtigte Hoffnung auf Veränderung gibt, dass sich manche Symptome von selbst auflösen werden, und das Erlebte bei guter sozialer Unterstützung und durch professionelle Unterstützung integrierbar ist. Dazu bedarf es einer entspannten, sicheren Atmosphäre im Hier und Jetzt der Beratungssituation. Die Beratung selbst sollte auf stabilisierenden Angeboten und Interventionen aufbauen, in ruhiger und wertschätzender Atmosphäre stattfinden, mit möglichst viel Klarheit und Transparenz im Vorgehen und einem Höchstmaß an Kontrolle über den Prozess auf Seiten der KlientIn. Dies gilt selbstverständlich genauso für den Supervisionsprozess. Auch hier kommt es auf transparentes Vorgehen und eine wertschätzende Haltung der SupervisorIn an, die alle Beteiligten ins Hier und Jetzt der Reflexion einlädt. Für Transparenz und Kontrolle ist kein langer Beratungs- oder gar Therapieprozess Voraussetzung. Schon das Ausfüllen von Anträgen nach dem Opferentschädigungsgesetz kann zu einem gemeinsamen Prozess werden, in dem Unterstützung einhergeht mit der Überlassung von Kon1
Da eine Detaillierung der Symptome hier zu weit führen würde, sei an dieser Stelle ein Hinweis auf die Artikel auf unserer Website unter www.institut-berlin.de und die übersichtlichen Darstellungen von Michaela Huber eingefügt (siehe v. a. Huber 2003, Band 1 und 2004, Band 2).
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trolle, in dem Reorientierungsübungen der KlientIn helfen, sich nicht in den Erinnerungen zu verlieren, in dem Distanzierungsverfahren, wie die Arbeit mit dem Bildschirm oder mit Externalisierungen, helfen, nicht in die Retraumatisierung zu geraten. Im Supervisionsprozess kann gemeinsam überlegt werden, wie die KollegInnen mit der eigenen Angst und Überlastung durch die erwarteten Erzählungen umgehen können: Ob es wirklich gerade wichtig ist, alles Leid zu erzählen. Welche Übungen sie der KlientIn vorschlagen können, damit sie erzählen und gleichzeitig im Hier und Jetzt der Beratung orientiert bleiben kann. Es geht immer wieder darum zu vermeiden, dass BeraterIn oder KlientIn erneut in Stress geraten und so eine retraumatisierende Notfallreaktion ausgelöst wird. Auch hierfür ist es notwendig, dass die SupervisorIn über spezifische Kenntnisse von Traumaverarbeitungsprozessen und dem professionellen Umgang damit verfügt. 2.2
Teamdynamiken
Wie wir oben gesehen haben, sind es nicht nur fall- und traumaspezifische Fragen, mit denen wir in der Supervision zu rechnen haben. Fragen von Rollenverteilungen, dem Selbstverständnis als BeraterIn, den Teamstrukturen und -dynamiken stehen ebenfalls immer wieder im Mittelpunkt. 2.2.1 Opfer – Täter – Retter: die Folgen von Viktimisierung Allein der Rahmen und Name „Opferhilfe“ gibt ein Supervisionsthema vor, das als Hintergrundfolie für Konflikte und Dynamiken beachtet werden sollte: Durch die Benennung der Beratungsarbeit (die ja notwendig ist, um den Themenbereich kenntlich zu machen) ist ein Arbeitsverhältnis vorgegeben, das Festlegungen vornimmt, die Implikationen in sich tragen. Die KlientInnen definieren sich notwendigerweise als ‚Opfer‘, bevor sie in die Beratung kommen. Sie ‚bekommen‘ diese Rolle zum einen durch den Übergriff der ‚TäterInnen‘, zum anderen aber auch durch die Titulierung und Funktion der Beratungsstelle, in der ein wenig ‚Rettung‘ erwartet wird. Wir nennen dies das Traumadreieck, es besteht aus den drei Positionen Opfer, Täter und Retter, die miteinander ein System bilden, das in der Übergriffssituation wesentlich war. Diese wichtige Erfahrung, die das gesamte Beziehungskonzept verändert hat, wird in Folge auch oft wieder auf andere Situationen übertragen: Wenn sich KlientInnen selbst als hilflos erleben, dann erscheinen ihnen „die Anderen“ potentiell als stärker, wissender oder auch mächtiger. Die Angst mag sein, dass die Welt voller Täter ist, vor denen sie sich in Acht nehmen müssen, um ihnen nicht wieder ausgeliefert zu sein. Die Hoffnung mag sein, dass es Retter gibt, die sie an die Hand nehmen und ihnen sagen, was sie tun und wie sie es tun sollen. Als psychosoziale HelferInnen sind wir für die RetterInnenrolle prädestiniert, aber auch die anderen Rollen sprechen deutliche Einladungen aus, wenn wir uns
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in die Dynamik der (Beratungs-)Beziehung zu einem ‚Opfer‘ hineinbegeben haben. Kein Opfer verhält sich immer nur als Opfer und so mag auch unsere RetterInnenidentität gefährdet sein, wenn wir uns einer fordernden oder sich aggressiv verhaltenden KlientIn gegenübersehen. Zudem haben wir alle unsere eigenen Erfahrungshintergründe, die uns empfänglicher für die eine oder andere Rolleneinladung machen. So berichtet beispielsweise ein Supervisand, dass eine schmalschultrige Klientin mit großen Augen, die von einem Mann überfallen wurde, in ihm Impulse auslöste, sie in den Arm zu nehmen, zu trösten und die nächsten Schritte für sie in die Hand zu nehmen. Eine Supervisandin erzählte von einem älteren Mann, der sie mit seiner passiven, defensiven Art und vor allem mit seiner Angewohnheit, ihr alles recht machen zu wollen, aggressiv machte bis hin zur Fantasie, ihn einmal ‚so richtig zusammenzustauchen‘. Eine andere Supervisandin fühlte sich im Kontakt mit einer Klientin völlig hilflos, weil sie ihr übergriffig erschien und ihr in ihrer Wahrnehmung den Beratungsprozess völlig aus der Hand nahm, indem sie permanente Forderungen und Grundsätze darüber aufstellte, was die Beraterin zu tun und zu lassen habe. Zeitweise hatte sie regelrecht Angst vor dieser Klientin. Es ist nun kein Einzelfall und schon gar kein Drama, solche inneren Positionen einzunehmen, sondern verhilft uns dazu, in der Supervision noch einmal genauer die Dynamiken im Umgang mit Traumatisierungen zu beleuchten. Wir betrachten sie als Chancen, sich und das Gegenüber besser zu verstehen und dadurch professioneller im Umgang auch mit traumatisiertem Klientel zu werden. In einer im Idealfall offenen und von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Atmosphäre der Supervision können solche Rollenübernahmen von uns SupervisorInnen angesprochen werden. Damit wird auch die Idee ins Team getragen, dass es normal ist, die professionelle Distanz zu verlieren und überlegt, wie Abhilfe geschaffen werden kann. Gemeinsam kann über Alternativen zu den drei genannten Positionen nachgedacht werden. Wie könnte eine Rolle oder Position aussehen, die Empathie und angemessene Distanz ermöglicht, die Offenheit und Klarheit in sich vereinigt und aus der heraus die KlientIn zum Zugang zu ihren Ressourcen ermutigt und zu Perspektivenwechseln eingeladen werden kann? Wir möchten dieser vierten Position den Namen „empathische ZeugIn“ geben. ZeugIn, um zu verdeutlichen, dass die BeraterIn am ursprünglichen Geschehen unbeteiligt war und damit den Erzählungen der KlientIn mit der nötigen Distanz folgen und sie zu neuen Ideen einladen kann. Empathisch, um nicht einer kalten Neutralität das Wort zu reden und klar zu machen, dass eine emotionale Beteiligung der BeraterIn Voraussetzung für die hilfreiche Arbeit mit Opfern ist. Wie immer in supervisorischen Prozessen geht es nicht darum, diese Ideen als ‚Wahrheit‘ zu präsentieren, sondern die SupervisandInnen überprüfen zu lassen, was für sie anwendbar ist. Dies kann beispielsweise durch systemische/ zirkuläre Fragen geschehen: „Angenommen, Sie würden Ihrer KlientIn in der nächsten Beratungssitzung als ‚empathische ZeugIn‘ begegnen, was genau würde das für einen Unterschied machen, was würde es an Ihrem Verhalten ändern? Was würden Sie
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schon vor der Sitzung über die KlientIn denken, welche Gefühle hätten Sie? Wie würden Sie ihr anders begegnen? Würde die KlientIn das merken, wenn ja woran? Wer würde das sonst noch merken (KollegInnen, Vorgesetzte) und woran? Was vermuten Sie, wie würde die KlientIn auf ihr verändertes Verhalten reagieren? Welchen Unterschied würde das für ihre gemeinsame Beziehungsgestaltung machen?“ Die SupervisandIn entscheidet, welche der in der Supervision entwickelten Ideen sie in der Beratung umsetzt, doch die SupervisorIn versucht, durch ihre Art des Fragens eine klare Grundlage für diese Entscheidung anzubieten. Wenn nun andererseits die oben beschriebenen Rollen im Team als ‚intuitive‘ Reaktion in der Traumadynamik ‚verteilt‘ werden, so kann das nicht nur zu Konflikten, sondern oft auch zu über Jahre festgeschriebenen Rollenverteilungen führen. Häufig wird Verhalten von KlientInnen von einem oder mehreren Teammitgliedern kritisiert und von anderen verteidigt. Dies kann bis zu sogenannten ‚Spaltungen‘ im Team führen. Damit ist meist die Idee verbunden, die KlientIn spalte das Team. Aus hypno-systemischer Sicht macht diese Zuschreibung keinen Sinn, da auch an einer Beratungsbeziehung ja immer mindestens zwei beteiligt sind – und die Wahl haben. Sonst begibt sich das Team in die Opferrolle und macht die KlientIn zur TäterIn. Spannend wäre also, welche guten Gründe das Team haben mag, die Dynamik so zu bewerten. Wichtig für die SupervisorIn ist es, an solchen Stellen besonders darauf zu achten, nicht selbst in eine der Positionen, beispielsweise die der RetterIn des Teams zu kommen, sondern empathische ZeugIn der Teamdynamik zu bleiben und diese gemeinsam mit den SupervisandInnen in ihren Implikationen und Auswirkungen zu betrachten. Entwertungen der eigenen Person, der eigenen Arbeit, der KollegInnen oder der SupervisorIn sind in Arbeitskontexten, die mit traumatisierten Menschen zu tun haben also zu erwarten. Die KlientInnen sind des sicheren Gefühls ihres eigenen Wertes beraubt worden, sie wurden nicht geschätzt, sondern gedemütigt und sie tragen diese Erfahrung in die Beratung hinein. Die BeraterInnen brauchen ihre KollegInnen und die Supervision, um die Wertschätzung der eigenen Arbeit, der KlientInnen und KollegInnen angesichts dieser zum Teil massiven Einladung zum entwertenden Umgang zu stärken. Ein gelungenes Beispiel: Herr K. ist langjähriger Mitarbeiter einer Beratungsstelle, deren Arbeit sich zunehmend an arabischstämmige Familien mit ‚schulfernen‘ Kindern richtet, das Ganze noch dazu in einem sogenannten Problembezirk. Mohammed, der sechzehnjährige Sohn einer Familie, ist momentan sein Sorgenkind. Zwei ältere Brüder sind schon straffällig geworden sind, die zwei Jahre jüngere Schwester konsumiert unterschiedliche Drogen und entzieht sich der Beratung, Mohammed taucht in den letzten Wochen nur noch selten zu Hause auf. Der Vater möchte nicht in die Beratungsstelle kommen; er nimmt Herrn K. nicht für voll. Meistens kommt die Mutter mit einem der jüngeren Kinder. Herr K. und Frau M., eine junge Kollegin, die sich sehr für die Tochter der Familie engagiert,
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machen manchmal auch Hausbesuche. Frau M., die selbst einen deutschen Hintergrund hat, kümmert sich sehr kreativ um Therapiemöglichkeiten für die kleineren Kinder (auch Gewalt in der Ehe spielt eine Rolle) und geht mit der 14-Jährigen einkaufen, um überhaupt einen Kontakt herzustellen. Die Mutter unterhält sich mit Herrn K. häufig über die vergangenen oder drohenden Razzien der Polizei, die immer mal wieder nach einem der straffällig gewordenen Jugendlichen fahndet. Frau S., eine arabischsprachige Mitarbeiterin der Beratungsstelle, wird in der Supervision vom Team ermutigt, sich für ihre Probleme der Arbeit mit der Familie, in der sehr wahrscheinlich Übergriffe gegen Mutter und Tochter passiert sind, Einzelsupervision zu holen. Sie braucht Unterstützung dabei, ihre Zustimmung zu der Teamentscheidung zu verkraften, in der sie zusammen mit den anderen für eine Weiterarbeit mit der Familie und den Versuch der Kontaktaufnahme mit dem Mann plädiert hat, damit allen in kleinen Schritten geholfen werden kann. Ach ja, die Eltern und die ältesten Söhne kommen aus dem Libanon und haben die Bombardierung Beiruts überlebt; die aggressiven Übergriffe des Vaters werden in diesen Hintergrund eingeordnet. Die Zusammenarbeit mit dieser Familie, die sich schon über einige Jahre erstreckt, war innerhalb des Teams oft umstritten. Aber das Team hat sich immer wieder die Dynamiken der Traumasymptomatiken klargemacht, die eigenen Anteile mit beleuchtet und die Ressourcen so eingesetzt, dass nicht die ‚Mängel‘, sondern die Unterschiede beleuchtet und genutzt werden konnten. Herr K. kann immer wieder Kontakt zu den männlichen Jugendlichen herstellen und die Mutter vertraut ihm. Frau M. verliert im Engagement für die Kinder und das jugendliche Mädchen der Familie oft die professionelle Distanz, kann aber die Tatsache, dass sie selbst noch sehr jung ist, genau hier nutzen (und die Distanzregelung in der Supervision erarbeiten). Frau S. ist selbst nicht mit der Familie befasst und bringt immer wieder eine hilfreiche feministische Außenposition in die Bearbeitung mit ein. Inzwischen glaubt keiner mehr, dass nur er oder sie wirklich weiß, was aus dieser Familie werden wird und wie man ihr helfen kann. Vielmehr gibt es immer wieder viel Interesse an der Sicht der anderen, weil auf unterschiedlichen Ebenen schon viel mehr erreicht wurde, als irgendein Teammitglied am Anfang sich und den anderen zugetraut hätte.
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Prävention von Burn-out und sekundärer Traumatisierung
Um ihren KlientInnen Entwicklungsräume anbieten zu können, brauchen unsere SupervisandInnen viel Kraft, Unterstützung und Ressourcen vielerlei Art. Die alltägliche Arbeit mit Menschen, die Opfer von anderen Menschen geworden sind, beinhaltet, wie wir gesehen haben, viele Herausforderungen und immer wieder auch hohe Belastung. Die Geschichten, mit denen BeraterInnen konfrontiert werden, wirken sich auch auf deren eigenes Erleben aus.
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Burn-out
Burn-out hat sich als Begriff nicht nur in der psycho-sozialen Arbeit etabliert, um Folgen von Überlastung zu beschreiben. Zentrale Symptome, auf die gerade auch in der Supervision zu achten sind: • zunehmende Erschöpfung und die Schwierigkeit, sich in Freizeit und Urlaub zu erholen und Kraft zu schöpfen • verminderte Selbstwirksamkeitserfahrung, also das Gefühl, nichts mehr ausrichten zu können: im Team, am Arbeitsplatz und vor allem in der Arbeit mit den KlientInnen • Empathie und Hineinversetzen in KundInnen und MitarbeiterInnen sind nur noch reduziert möglich, das Gegenüber wird mehr als Objekt, weniger als Mensch behandelt • überstarkes Engagement und Gefühle von Unentbehrlichkeit, eigene Bedürfnisse werden eher verleugnet, Misserfolge und Enttäuschungen nicht wahrgenommen oder verarbeitet. Nicht immer sind alle diese Symptome vertreten, manche schließen sich auch gegenseitig aus und entsprechen eher unterschiedlichen Reaktionsformen. Immer aber kann ein Zuviel oder Zuwenig als Hinweis gewertet werden, dass hier Aufmerksamkeit geboten ist. Immer auch leidet die Trennung zwischen Arbeitsplatz und Freizeit, verwischen die Grenzen, die gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen wichtig sind. Die Folgen reichen von zunehmender Isolation am Arbeitsplatz und im privaten Bereich über psychosomatische Beschwerden bis hin zu Hoffnungslosigkeit und Suizidalität. Anzeichen, die uns als SupervisorInnen zum Nachfragen einladen sollten, sind etwa: • wiederholtes Fehlen bzw. Erkrankung einzelner MitarbeiterInnen • zunehmende Distanz • mangelnde Empathie bzw. Abwertungstendenzen gegenüber den KlientInnen • wiederholtes Fokussieren von Teams oder Einzelnen auf Erschöpfung, Genervtheit, Anstrengung in der Arbeit, ohne dass sich daraus hilfreiche Supervisionsziele ableiten lassen • dauerhafte Weigerung, eigene Anteile an der Beziehungsgestaltung zu den KlientInnen zu reflektieren • mangelhafte Distanz gegenüber KlientInnen und KollegInnen • Unfähigkeit zur Formulierung eigener Bedürfnisse hinsichtlich der Arbeit. 3.2
Sekundäre Traumatisierung
In der Arbeit mit traumatisierten Menschen kommen noch spezielle Aspekte hinzu: Durch die Auseinandersetzung mit dem, was anderen zugestoßen ist, können
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eigene entsprechende Erfahrungen bei den HelferInnen wieder aktualisiert werden, selbst wenn sie eigentlich gut verarbeitet waren. Aber auch ohne eigene Traumatisierungserfahrungen laufen BeraterInnen, die oft und viel mit traumatisierten Menschen arbeiten, Gefahr, selbst Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zu entwickeln (siehe B. H. Stamm 2002; M. Huber 2003; J. L. Herman 1994). Diese unterschiedlichen Gefahren, die engagierten BeraterInnen und TherapeutInnen in der Arbeit mit traumatisierten KlientInnen drohen, und auf die wir als SupervisorInnen daher unser besonderes Augenmerk richten sollten, werden inzwischen meist unter dem Oberbegriff „sekundäre oder indirekte Traumatisierung“ zusammengefasst. Unsere Verantwortung als SupervisorInnen im Setting der Arbeit mit traumatisierten Menschen beinhaltet, die oben beschriebenen Gefahren und Symptomatiken im Blick zu behalten, zumal in vielen Teams erste Anzeichen eher durch verstärktes Engagement oder gegenseitige Schuldzuweisungen beantwortet werden, was die Spirale in den Burn-Out zwingender macht. Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Anerkennung sind aber wichtige Parameter in der Fürsorge für die BeraterInnen, die oft sehr zu wünschen übrig lassen. Mögliche Überlegungen dazu könnten sein: Auf gesellschaftlicher Ebene: Wie wird die Arbeit als OpferberaterIn gesellschaftlich anerkannt? Welche Ausstiegsmöglichkeiten gibt es? Ist es möglich, die Stelle zu wechseln oder sich gar beruflich neu zu orientieren? Welche finanziellen Absicherungen bietet die Gesellschaft an? Wessen Aufgabe übernehmen Opferhelfer noch? Auf institutioneller Ebene: Wie ist die Institution der Opferhilfe strukturiert und organisiert? Sind die Hierarchien flach oder steil? Gibt es Mitsprache- und Einflussmöglichkeiten für die MitarbeiterInnen? Wie ist die Zusammenarbeit im Team organisiert? Wie ist der Umgang mit Überstunden (Vorsicht: Retter machen keine Überstunden, sie arbeiten unbezahlt!)? Wie sind die Arbeitsplätze gestaltet? Sind die Räume nicht nur für KlientInnen, sondern auch für die MitarbeiterInnen angenehm ausgestattet? Ist für Pausen und Auszeiten gesorgt? Welche ungeschriebenen Gesetze gibt es? Gibt es Rückzugsmöglichkeiten, Zeit für Vor- und Nachbereitung, Spaß, Rituale? Wie oft haben die MitarbeiterInnen Supervision? Gilt die Supervisionszeit und die Fahrtzeit zur Supervision als Arbeitszeit? Interpersonelle Bedingungen: Haben die SupervisandInnen außerhalb der Arbeit ein stabiles Beziehungsnetzwerk? Wer hilft den HelferInnen? Können Sie/sie Hilfe annehmen? Auf individueller Ebene: Können, wollen und dürfen die SupervisandInnen es sich gut gehen lassen? Stehen sie ökonomisch unter Druck (und müssen daher beispielsweise mehr Stunden arbeiten, als sie eigentlich wollen)? Haben sie rea-
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listische Erwartungen an sich selbst? Was für Glaubenssätze haben sie bezüglich ihrer Berufstätigkeit (z. B. „Entspannung bei der Arbeit ist ein Zeichen für mangelndes Engagement.“)? 3.3
Selbstfürsorge
Nicht alle der genannten Bedingungen sind veränderbar, nicht auf alle haben die SupervisandInnen Einfluss. Gerade deshalb ist es wichtig zu fragen: Was kann ich verändern? Will ich das auch oder welche guten Gründe sprechen dagegen? Wenn ich etwas nicht verändern kann, wie kann ich dann besser damit zurechtkommen? Gerade der letzte Punkt eignet sich für einen Austausch im Team: Wer kommt mit der Situation am Besten zurecht, wie macht der/die das? Auch Fragen nach den Stärken der SupervisandInnen, nach dem, was sie gerne machen, nach unausgeschöpften Potentialen und noch nicht verwirklichten Ideen wirken in diesen Zusammenhängen anregend. Und nicht zuletzt ist es sinnvoll, Selbstfürsorgestrategien für die Arbeitssituation zu entwickeln und auszutauschen, immer mit dem Fokus: Wie kann ich es mir ein wenig besser gehen lassen, gerade auch angesichts ungünstiger Kontextbedingungen? Hier kommt Supervision die wichtige Funktion zu, zum humorvollen Miteinander einzuladen, Gelassenheit und das je günstige Maß von Spannung und Entspannung zu erproben, einen lösungsorientierten Umgang mit Konflikten am Arbeitsplatz zu finden und nicht zuletzt durch die konsequente Fokussierung auf die Ressourcen der SupervisandInnen und ihrer KlientInnen zu erleben, wie sich nicht nur der Blick verändert, sondern auch das Selbst-Erleben der SupervisandInnen und ihre Beziehungen zu den KlientInnen (vgl. B. Gussone/ G. Schiepek 2000; H. B. Stamm 2002). Die SupervisandInnen sind es schließlich, die in der Zusammenarbeit mit ihren KlientInnen im Vollbesitz ihrer beruflichen Ressourcen sein sollen, damit sie in der Rolle der empathischen ZeugIn bleiben können und gemeinsam mit der KlientIn hilfreiche Ideen entwickeln. Hier finden Selbstwahrnehmungs-, Erdungs-, Abgrenzungsübungen ihren Platz, die sich auch in der Arbeit mit den KlientInnen anwenden lassen. Als Selbstanwendung zur Prophylaxe von Überflutung und als Übungseinheit für die KlientIn. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist die Regulierung von Nähe und Distanz. KlientInnen in der Opferhilfe brauchen BeraterInnen, die sich ihnen mit Empathie zuwenden. Sie brauchen allerdings auch die nötige Distanz, denn Opfer geworden zu sein, ist immer auch die Erfahrung, dass ein anderer Mensch die eigenen Grenzen überschritten hat und es nicht möglich war, sich erfolgreich dagegen zu wehren. Dies führt oft dazu, dass das Verhältnis zu den eigenen Grenzen und den Grenzen anderer unklar oder ambivalent geworden ist. Wenn das Gefühl für die eigenen und die fremden Grenzen aber gestört ist, dann ist es umso wichtiger, dass die professionellen Helfer ihre eigenen Grenzen und die der KlientInnen
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stets im Blick behalten. In der Supervision wird oft deutlich, wie nah die SupervisandInnen ihren KlientInnen kommen, manchmal zu nah. Die Gegenbewegung kommt ebenso vor, die sichere Distanz wird zu einem kühlen Abgrenzen, eingenommen mit dem Ergebnis, nicht mehr genug von der KlientIn mitzubekommen, um der Gefahr einer inneren Berührung zu entgehen. Ein hervorragendes Instrument, um die Frage nach der angemessenen Nähe und Distanz in der Supervision bearbeiten zu können, ist die systemische Skulpturarbeit. Sie hat ganz unterschiedliche Traditionen und Implikationen. Im nachfolgenden Beispiel fand eine Form Anwendung, die sich in der Supervisionspraxis bewährt hat (und die schon von den AutorInnen etwas unterschiedlich angewendet wird; lassen Sie sich also zum Experimentieren einladen). Die Kollegin R. ist mit ihrem Kontakt zu einer Klientin unzufrieden: Es ärgert sie, dass die Klientin „an ihr zerrt“, sie mag sie, aber es „ändert sich nichts“ und die Klientin „kriegt nichts auf die Reihe“. Die Kollegin beschreibt selbst, dass die Klientin sie an ihre jüngere Schwester erinnert, was die Beziehung gleichzeitig erleichtert, aber auch erschwert. Am meisten genervt ist die Kollegin allerdings von sich selbst, weil sie die Situation versteht, aber nicht ändern kann. Es geht also nicht um eine gemeinsame Einordnung und Erklärung der Beziehung, sondern um emotionale Inhalte. Da tut eine distanzierende Übung in aller Regel gut, um die Meta-Ebene für eine erneute Betrachtung zur Verfügung zu stellen. Die Supervisorin fragt also zunächst, ob die Kollegin damit einverstanden ist, das Ganze einmal mit einigen KollegInnen zu veranschaulichen: Gerne! Unter Anleitung sucht sich die Kollegin (mit deren Einverständnis) StellvertreterInnen für sich und die Klientin aus dem Team aus und positioniert sie so im Zimmer, wie sie die Beziehung zwischen sich und der Klientin empfindet. Die Supervisorin ermuntert sie, die StellvertreterInnen wie Knetmasse zu behandeln, aus der sie ein Bild der Situation basteln kann. Das macht Spaß und die Atmosphäre in der Arbeit ist sehr gelöst, während die Kollegin die StellvertreterInnen modelliert: Am Ende sitzt eine der Frauen im Schneidersitz auf dem Boden und schaut mit trotzigem Gesicht nach oben, während die andere sie an der Schulter zerrt und zum Aufstehen bewegen will. Raten Sie mal, wer wen darstellt! Immer in Abstimmung mit der Supervisandin fordert die Supervisorin die zerrende Stellvertreterin der Kollegin nun dazu auf, einmal versuchsweise und langsam die Position einzunehmen, mit der sie (!) sich wohlfühlen würde (nicht die Klientin). Nach einigem Probieren lässt die ‚Beraterin‘ die ‚Klientin‘ los und geht einen Schritt nach hinten, ohne sich von der ‚Klientin’ abzuwenden. So fühlt sie sich gut. Was würde denn die ‚Klientin‘ nun tun? Ganz spontan steht die auf und stellt sich – mit noch einmal vergrößertem Abstand – der ‚Beraterin‘ gegenüber, ein wenig herausfordernd schaut sie noch, aber offen. Das ist nun schon eine völlig andere Position, und die Supervisandin wird eingeladen, doch einmal die Bewegung ihrer Stellvertreterin nachzuvollziehen. Dazu gehen alle zurück in die Ausgangssituation, und die Supervisandin nimmt die Position der Beraterin selbst ein.
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Ganz langsam und immer wieder macht sie nun im eigenen Tempo die Bewegungen, die sie aus der Verstrickung lösen könnten. Nachher will sie gar nicht mehr so viel darüber reden, aber sie hat das sichere Gefühl, dass die nächste Stunde anders ablaufen wird als bisher. Gerade für Fragen von Nähe und Distanz eignet sich diese analoge (mit anderen Mitteln als dem Sprechen arbeitende) Methode oft besser als das ‚darüber Reden‘, da sie die SupervisandIn direkt aus der Problemsituation eine Lösung entwickeln lässt.
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Fazit: Traumazentrierte Supervision
Die speziellen Anforderungen an Supervision im Kontext der Arbeit mit – möglicherweise – traumatisierten Menschen bedeuten für hypno-systemisch arbeitende SupervisorInnen ein Dilemma, wenn sie die eben beschriebenen Anforderungen an Supervision zeitgleich bedienen wollen. Einerseits legen wir Wert darauf, nicht zu wissen (und gar nicht wissen zu können), was für unsere SupervisandInnen und deren KlientInnen die besten Wege und Lösungen sind. Andererseits verfügen wir aber über theoretische Modelle und praktische Fertigkeiten, die sich im Umgang mit traumatisierten Menschen als hilfreich erwiesen haben. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Konzept der „Traumazentrierten Supervision“. Themenspezifisches Know-how, theoretische Hintergrundinformationen und die praktische Erfahrung der SupervisorIn in der Arbeit mit traumatisierten Menschen in unterschiedlichsten Kontexten werden für die SupervisandInnen aufgearbeitet und nutzbar gemacht. Im supervisorischen Prozess geht es dann um die konkrete Umsetzung angesichts der Herausforderungen des Arbeitsalltags. Der Vorteil dieser Verbindung von Supervision und Weiterbildung liegt auf der Hand: Die Weiterbildungselemente können passgenau ausgewählt werden, um die Teams und Einzelnen in ihrer Fachkompetenz, die sie genau für den vorgestellten Fall gebrauchen können, zu stärken. Aufgabe der SupervisorIn ist es dann, die beiden Rollen der lehrenden Weiterbildnerin und der begleitenden SupervisorIn transparent zu wechseln und voneinander abzugrenzen. Supervision der Arbeit in der Opferhilfe erfüllt also viele Funktionen gleichzeitig: Sie ist die Kummerkiste der HelferInnen, wo sie abladen, betrachten und neu bewerten können. Sie ist Ideenschmiede für Einzelne und Teams, in der das „Was-wäre-wenn“ benannt und durchgespielt werden kann. Sie ist Miteinander von KollegInnen jenseits des Arbeitsalltags und lädt zum gemeinsamen Erproben ein. Sie lässt die SupervisandInnen auf transparente Weise Erfahrungen von Wirksamkeit machen und wirkt so Hilflosigkeitsgefühlen entgegen. Supervision ist immer auch Betrachtung aus dem Abstand und gibt die Metaebene zur weiteren Nutzung mit an den Arbeitsplatz. Sie ist der Ort für Teamdynamiken und de-
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Hans-Joachim Görges und Lydia Hantke
ren Reflexion und Veränderung. Sie bietet Raum für Selbstfürsorge und deren Integration in den Arbeitsalltag. Sie bietet Weiterbildung an, die fokussiert ist auf die Ressourcen, Kompetenzen und Problemstellungen der SupervisandInnen. Möglich wird diese Vielfalt durch gut ausgebildete SupervisorInnen mit dem nötigen Hintergrundwissen bezüglich der Arbeit mit traumatisierten Menschen.
Literatur Ebbecke-Nolen, Andrea (2009): Einführung in die systemische Supervision. Heidelberg. Gussone, Barbara/Schiepek, Günter (2000): Die „Sorge um sich“. Burnout-Prävention und Lebenskunst in helfenden Berufen. Tübingen. Hantke, Lydia (2002): Zur Überwindung der Hilflosigkeit. Traumatherapie aus hypno-systemischer Sicht. In: Psychologie und Gesellschaftskritik. 1/2002. Hantke, Lydia (2006): Vom Umgang mit Dissoziationen und Körpererinnerungen. In: Zobel, M. (Hg), S. 112–134. Herman, Judith Lewis (1994): Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München. Huber, Michaela (2003): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung. Teil 1. Paderborn. Huber, Michaela (2003): Wege der Traumabehandlung. Trauma und Traumabehandlung. Teil 2. Paderborn. Schmidt, Gunther (2005): Einführung in die hypno-systemische Therapie und Beratung. Heidelberg. Stamm, Hudnall B. (Hg.) (2002): Sekundäre Traumastörungen. Wie Kliniker, Forscher & Erzieher sich vor traumatischen Auswirkungen ihrer Arbeit schützen können. Paderborn. Zobel, Martin (Hg) (2006): Traumatherapie – eine Einführung. Bonn. www.institut-berlin.de/fileadmin/user_upload/institut-berlin/PDF/hantke_zur-ueberwindung.pdf
Weiterbildung als ein Beitrag zur Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe. Konzeptionelle Überlegungen und erste Ergebnisse eines Praxisforschungsprojekts Jutta Hartmann
Der folgende Beitrag ist im intermediären Bereich von Wissenschaft und Praxis angesiedelt. Als Praxis wird das Professionalisierungsengagement des Bundesverbands „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado) für das Feld der Opferhilfe in den Blick genommen. Im Rahmen eines Praxisentwicklungsund -forschungsprojekts hat dieser in der Zeit von 2006–2010 ein umfassendes Weiterbildungsprogramm entwickelt und überprüfend modifiziert. Ziel und hauptsächlicher Gegenstand des Projekts waren Weiterbildungsveranstaltungen und deren Besonderheiten für das Feld der Opferhilfe. Das Projekt zielte auf Kriterien, Standards und curriculare Empfehlungen für (zertifizierte) Weiterbildungen in diesem Praxisbereich. Darüber hinaus war über die prozessbegleitende Forschung intendiert, Erkenntnisse zur professionellen Identitätsbildung in der Opferhilfe zu generieren. Nach Einführung in das Entwicklungs- und Forschungsdesign der Studie (1) und Klärung theoretischer Bezüge zu Fragen von Kompetenz und Professionalität (2) werden drei verschiedene Entwicklungs- und Forschungsphasen entlang ihrer Ziele, Erkenntnisinteressen und Erhebungsverfahren vorgestellt (3–5). Da die Auswertung des Projekts noch nicht abgeschlossen ist und eine umfassende Dokumentation des Weiterbildungsprojekts den hier zur Verfügung stehenden Rahmen überschreiten würde, soll ein Einblick in die erörterten Inhalte und Methoden des Projekts über ausgewählte Aspekte ermöglicht und erste Erkenntnisse vermittelt werden.
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Entwicklungs- und Forschungsdesign: mit „doppeltem Blick“ gestalten
Entwicklungs- und -forschungsprojekte weisen nach Hans-Jürgen von Wienserski (2003: 81) zumeist mehrere Typen sozialpädagogischer Praxisforschung auf, die sich auch im hier zur Diskussion stehenden Projekt wiederfinden: Entwicklungsforschung zur Planung und Initiierung von Praxis (3), Begleitforschung zur formativen Evaluation und Veränderung von Praxis (4) und Evaluationsforschung zur summativen Evaluation und Auswertung (5). Die zentrale Frage nach den Be-
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sonderheiten von Weiterbildungen zur Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe wurde in den einzelnen Phasen des Projekts in Unterfragestellungen ausdifferenziert und dazu angemessene Erhebungsinstrumente ausgewählt. In der ersten Phase der Entwicklungsforschung galt es zu klären, welche Kompetenzen im Feld der Opferhilfe benötigt und den Teilnehmenden der Weiterbildung eröffnet werden sollen: Wo liegt deren zusätzlicher Unterstützungsbedarf und wie kann dieser in ein den aktuellen Erkenntnissen über Ansprüche Erwachsener an Lernprozesse gerecht werdendes Programm überführt werden? Literaturstudium, ExpertInnengespräche und standardisierte Fragebogenerhebung wurden als Forschungsmethoden eingesetzt und die Fragestellung auch in den folgenden Projektphasen weiter mitgeführt. In der zweiten Phase der Begleitforschung galt das Hauptinteresse der Frage, inwiefern die Zielgruppen erreicht werden können und welche didaktischen Standards sich in den Weiterbildungen bewähren. Zum Einsatz kamen Teilnehmende Beobachtung, standardisierte Fragebogenerhebungen, dialogisch-bilanzierende Gespräche mit durchführenden DozentInnen sowie halbstandardisierte Kurzinterviews mit Teilnehmenden ausgewählter Kurse. In der abschließenden Phase der Evaluationsforschung interessierten zum einen Rückschlüsse für die Weiterentwicklung des Weiterbildungsprogramms: Inwiefern erachten die Teilnehmenden und Anbietenden die Ziele ihrer Weiterbildung als erreicht? Unter welchen Bedingungen lassen sich welche Instrumente mit mehr oder mit weniger Erfolg umsetzen? Zum anderen interessierte die professionstheoretische Frage, wie die Teilnehmenden mit Hilfe der Weiterbildungsinstrumente ihr professionelles Selbstverständnis/ ihre berufliche Rolle (weiter)entwickeln. Der explorative Charakter von diesem Teil der Studie sprach für den Einsatz qualitativer Verfahren (K. Haubrich/Ch. Lüders 2004: 314). Gleichzeitig zeigt die Erfahrung, „… dass man gerade in vergleichsweise jungen Praxisfeldern zufrieden sein kann, wenn man tragfähige Antworten im Hinblick auf die zu klärenden Programmfragen und ansatzweise Antworten hinsichtlich der Beschreibung der konkreten Umsetzungsformen und der Zielgruppenerreichung erhält“ (a. a. O.: 330). So erwies sich auch das hier skizzierte Vorhaben als komplex, ist dieser Forschungsprozess bislang nicht abgeschlossen und liegen insbesondere die Ergebnisse zum explorativen und forschungsbasierten Teil der Studie noch nicht abschließend vor. Sozialpädagogische Praxisforschung zeichnet sich durch eine kooperative und handlungsbezogene Reflexion von Praxis durch Wissenschaft und Soziale Arbeit aus (vgl. H.-J. v. Wensierski 2003: 73ff.; Hervorh. i. Orig.). Für den Forschungsprozess gehen damit spezifische Herausforderungen einher. Als Grenzgängertum kann die „besondere Verbundenheit der Forscherin“ mit dem Praxisfeld bezeichnet werden (H.-J. v. Wensierski 2003: 80). Wird Evaluation als ein Kommunikationsprozess begriffen, in dessen Verlauf Ergebnisse regelmäßig rückgemeldet und gegebenenfalls Korrekturen vorgenommen und in dessen Verlauf Lernprozesse mehr begleitet und unterstützt, denn deren Resultate beurteilt werden, dann
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wird es gleichsam unvermeidlich, dass EvaluatorInnen „in einer professionell disziplinierten Weise involviert und beteiligt“ sind (S. Wolff/T. Scheffer 2003: 333). „Die Untersuchungen finden in demselben zeitlichen, räumlichen und sozialen Kontext statt, den die Evaluatoren sich zu verstehen vorgenommen haben. Die Evaluation wird damit selbst zu einem Element des Feldes und hat sich reflexiv und praktisch darauf einzustellen. Die beobachtenden Evaluatoren werden kritisch beobachtet und müssen dies in ihr Vorgehen einplanen. … Evaluatoren verstehen und verhalten sich grundsätzlich als Lernende, allerdings als solche, die gelernt haben, wie Lernprozesse strukturiert und angeregt werden können.“ (a. a. O.: 332; Hervorh. i. Orig.)
So gesehen handelt es sich bei einer prozessbezogenen Praxisevaluation in spezifischer Weise um einen „Forschungsprozess, in dessen Verlauf der Wissenschaftler seine Funktion und vor allem seine soziale Rolle wechselt“ (a. a. O.: 85). Der Status einer Grenzgängerin zwischen Wissenschaft und Praxis ist mit der Gefahr verbunden, Ergebnisse durch das eigene Involviertsein zu verzerren. Dem gilt es mit Sorgfalt zu begegnen. Dieser Status bietet jedoch auch praxisforschungstypische Chancen: Einer solchen Grenzgängerin mag im Vergleich zu einer externen EvaluatorIn ein größeres Vertrauen entgegengebracht werden, die mit dem Projektverlauf verbundenen komplexen Kommunikationsprozesse im Sinne eines Projekterfolgs zu gestalten. Dies mag den Prozess des Einblicknehmens und der Datenerhebung erleichtern und mögliche Kontrollängste verringern. In Form einer internen Evaluation war diese Verbundenheit im vorliegenden Fall gegeben. So war die Forscherin während der Laufzeit des Projekts nicht nur beim Dachverband professioneller Opferhilfeeinrichtungen ado – parallel zu ihrer Vertretung einer Professur für Pädagogik und Soziale Arbeit an der HAWK Hildesheim – angestellt und diesem als Arbeitgeber verpflichtet. Ihr kamen in Personalunion auch die Aufgaben der Entwicklung wie der Evaluation des Weiterbildungsprogramms zu. Eine Institutionalisierung des Dialogs mit Angehörigen des Felds der Opferhilfe durch die Teilnahme an verschiedenen Gremien sollte hier einen konstruktiven Kommunikationsprozess unterstützen. Grundlage für persönliche Beziehungen lagen darüber hinaus in der Ausführung koordinierender Absprachen mit den ReferentInnen der Weiterbildungen sowie insbesondere in der teilnehmenden Beobachtung von Weiterbildungen und den damit verbundenen informellen Gesprächen mit Teilnehmenden wie Durchführenden. Arbeitsergebnisse und Erkenntnisse der Evaluation konnten so in einem iterativen Vorgehen regelmäßig durch Rückmeldung und Diskussion auf Arbeitsgruppensitzungen und Mitgliederversammlungen des ado im Sinne einer kommunikativen und argumentativen Validierung sukzessive revidiert und verdichtet werden. Ziel nicht zuletzt auch dieser Publikation ist es, dass zumindest einige Daten „in einen Bildungsprozess aller Beteiligten“ münden (F. Hamburger 2005: 43). Darüber hinaus folgen Praxisevaluationen häufig einem „doppelten Blick“ (F. Hamburger 2005: 46). Die ForscherIn will eine bessere Praxis ermöglichen (J. Ebert 2008: 9) und gleichzeitig Daten über ein spezifisches Feld erheben, um
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darüber Einblick in die „untersuchte Lebenswelt … und in die subjektiven Perspektiven auf das untersuchte Geschehen“ zu ermöglichen (U. Flick 2006: 10). Eine so verstandene handlungsorientiert und forschungsbasiert ausgerichtete Praxisforschung verknüpft adressatInnen- und professionsbezogene Fragestellungen. Entsprechend intendiert die hier skizzierte Studie, neben einer Verbesserung des Weiterbildungsprogramms spezifische Erkenntnisse über berufliche Identitätsentwicklungs- bzw. Professionalisierungsprozesse der Teilnehmenden eines ausgewählten Weiterbildungsinstruments zu generieren. Dabei folgt die Forscherin einer doppelten Verbindlichkeit, einmal gegenüber der Praxis und einmal gegenüber der Forschung (F. Hamburger 2005: 46). Bevor über das Weiterbildungsprogramm informiert und erste Erkenntnisse vorgestellt werden, gilt es, sich der Frage zuzuwenden, was es überhaupt heißt, Kompetenzen für ein Praxisfeld zu erwerben und Professionalität zu entwickeln.
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Theoriebezüge: professionelle Kompetenzen bilden
In der Debatte um Professionalisierungsprozesse in der Sozialen Arbeit setzen handlungs- und kompetenztheoretische Perspektiven auf die Expertise der Fachkräfte. Expertise ermöglicht eine „berufsrollenförmige Bearbeitung lebenspraktischer Konfliktsituationen von Klienten“ in einem abgeschlossenen Handlungsbereich (A. Combe/W. Helsper 2002: 32). ExpertInnen weisen für diesen Bereich eine Aus- bzw. Weiterbildung auf und führen autorisierte Dienstleistungen im gesellschaftlichen Auftrag durch (vgl. J. Ebert 2008: 22). Professionelle unterscheiden sich über Differenzierung und Spezialisierung sowie über den an sie gestellten Anspruch der Selbstreflexion von Laien (vgl. J. Hartmann in diesem Band). Eine wissenschaftliche Fundierung ihres Handelns spielt eine zentrale Rolle. Wissenschaft hilft, „Ereignisse zu verstehen, Entscheidungen vorzubereiten oder nachträglich zu begründen“ (H. v. Spiegel 2006: 55). Intendiert ist dabei keine unkritische Wissenschaftsgläubigkeit. Die Entwicklung einer professionellen Identität als Basis professioneller Handlungskompetenz zielt auf einen durch wissenschaftliche Aus- und Weiterbildung beförderten „Habitus des systematischen Zweifelns am eigenen Kenntnisstand, an den eigenen Prämissen, Bewertungen und Schlussfolgerungen“ (M. Heiner 2004: 26). Ein solcher Habitus fundiert eine professionelle Reflexivität „die eine kreative, praxisgerechte Nutzung des wissenschaftlichen Wissens überhaupt erst ermöglicht“ (ebd.). Professionelles Handeln misst sich so gesehen an der Fähigkeit der Fachkraft zu Reflexivität. Dabei setzt sich Wissen aus wissenschaftlichem und aus Erfahrungswissen zusammen, das als ein eigenständiges Wissen, „neben und zusätzlich zum wissenschaftlich begründeten Wissen notwendig ist“ (F. Böhle 2009: 27). Während erstgenanntes in einem objektivierenden und planmäßig-rationalen Handeln zum Ausdruck kommt, eröffnet zweitgenanntes ein eher subjektivierendes, erfah-
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rungsgeleitetes Handeln. Professionelle Handlungskompetenz erfordert beides. So sind auch die im jeweiligen Feld bereits Erfahrenen herausgefordert, ihr Erfahrungswissen in Supervision oder Fortbildungen reflektierend zur Expertise zu entfalten, denn: „Beides zu können und miteinander zu verbinden, ist notwendig und macht die besondere Kompetenz derjenigen aus, die auf ihrem Gebiet als ExpertInnen gelten“ (a. a. O.: 33). Aus- und Weiterbildungen zielen dementsprechend auf die Ermöglichung einer reflexiven Handlungskompetenz für spezifische Handlungsfelder. Kompetenzbildung markiert dabei mehr als Zuständigkeit und Können. Seit Mitte der 1990er Jahre findet im Weiterbildungsdiskurs mit dem Kompetenzbegriff eine Aufmerksamkeitsverschiebung von an Wissensvermittlung orientiertem Erwerb von Fähigkeiten, wie er mit dem Begriff der Qualifikation verbunden ist, hin zu einer umfassenden Problemlöse- und Orientierungsfähigkeit der Fachkräfte statt (Ch. Schiersmann 2007: 50f.). Fachkräfte gelten als kompetent, wenn sie es verstehen, erworbenes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Berufsalltag umzusetzen. Kompetenz betont als Handlungsvermögen nicht einzelne Wissensbestände und Fertigkeiten, sondern vielmehr die Qualität des Zusammenspiels der einzelnen Facetten. Es geht um die Fähigkeit der Umsetzung im konkreten Fall, die durch weitere Aspekte wie persönliche Ziele, Werte und Haltungen bedingt ist. Die Person selbst wird zum Werkzeug professionellen Handelns, indem sie die Fähigkeit entwickelt, „Können, Wissen und Haltung im beruflichen Alltag situations- und personenadäquat einsetzen zu können“ (J. Ebert 2008: 13). Entsprechend sollten Bildungsprozesse auf die berufliche Identität von Fachkräften reflektieren und ihnen ermöglichen, sich als eine Person zu begreifen, „die eine besondere, reflexive Professionalität entwickelt, die ‚passgenau‘ auf die Besonderheiten des Handlungsfeldes abgestimmt und daher hoch professionell ist“ (H. v. Spiegel 2006: 58). Nach der Klärung theoretischer Bezüge der übergreifenden Fragestellung soll das Praxisentwicklungs- und -forschungsprojekt darauf aufbauend systematisch beschrieben und beispielhaft diskutiert werden.
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Projektentwicklung: Bedarfe erheben und Weiterbildungen konzipieren
Das zentrale Erkenntnisinteresse galt in der ersten Phase des Projekts der Frage, welche konkreten Kompetenzen Fachkräfte im Feld der Opferhilfe benötigen und welche zusätzliche Unterstützung sie über Weiterbildungen wünschen. Ziel war es, ein Kompetenzprofil für Beratungen im Feld der Opferhilfe zu umreißen und mit einem Weiterbildungskonzept zu verbinden. Zum besseren Verständnis dieser Projektphase ein kurzer Exkurs in die Geschichte des Dachverbands professioneller Opferhilfeeinrichtungen: Im ado traf sich über mehrere Jahre hinweg eine
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Gruppe zur Erarbeitung eines Angebots- und Anforderungsprofils von Opferhilfeeinrichtungen. Darauf aufbauend diskutierte die Gruppe Möglichkeiten, um insbesondere Mitarbeitenden aus dem Feld der Opferhilfe (Weiter-)Qualifizierungen entsprechend des Anforderungsprofils zu eröffnen. Da die Mitarbeitenden der Arbeitsgruppe hauptamtlich in Opferhilfeeinrichtungen tätig und voll ausgelastet waren, wurden Mittel für eine befristete Stelle zur Verfügung gestellt, auf der die Autorin das hier zur Diskussion stehende Praxisentwicklungs- und -forschungsprojekt sowie einen Förderantrag an die Deutsche Behindertenhilfe Aktion Mensch e.V. entwickelte. Dem Entwicklungsprozess des Projekts zugrunde lagen seitdem • Literaturrecherchen: Analyse von Fachliteratur, empirischen Untersuchungen und theoretischen Studien • Auswertung der Materialien der AG „Fortbildung“ des Dachverbands professioneller Opferhilfeeinrichtungen ado • ExpertInnengespräche mit Fachkräften aus dem Feld der professionellen Opferhilfe • Fragebögen zur Erhebung von Weiterbildungsbedarfen. Die Analysetätigkeit der ersten Projektphase zielte auf eine differenzierte Erfassung der Situation der Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten, der Institutionalisierung und Qualifizierung der Opferhilfe und deren Anforderungs- und Angebotsprofil (vgl. ausführlich J. Hartmann 2007; J. Hartmann in diesem Band). Aufbauend auf den so umrissenen Herausforderungen des Arbeitsfeldes wurden zentrale Ziele und Inhalte für Weiterbildungsmaßnahmen festgelegt und Weiterbildungsinstrumente als Bausteine der Professionalisierung entwickelt. 3.1
Inhalte und Ziele bestimmen – Professionalität interdisziplinär entwickeln
Opferhilfe setzt umfangreiches Wissen und Können sowie einen hohen Grad an Selbstreflexivität voraus. Ihr Feld ist interdisziplinär. Das Fachwissen der OpferhelferInnen basiert sowohl auf einem allgemeinen wie auch auf einem speziellen Fachwissen verschiedener Disziplinen, die sich aufgrund der besonderen Situation und der Bedürfnisse des Opfers einer Straf- bzw. Gewalttat in der Opferhilfearbeit verbinden. Zur Arbeit gehören Kenntnisse aus der krisen- und opferorientierten Beratung, d. h. ein breites Grundwissen aus der traumatologischen Notfallhilfe und Fachkenntnisse aus Medizin, Psychotherapie, der allgemeinen Beratung sowie der spezialisierten Fachberatung mit traumatisierten Menschen. Ebenso relevant sind Rechtskenntnisse, um die Arbeit involvierter Institutionen wie z. B. Justiz, Strafrechtspflege und Polizei verstehen, einschätzen und dem Opfer vermitteln zu können. Zudem werden Kenntnis und Wissen über Versorgungsangebote nachsorgender Institutionen benötigt, z. B. von Krankenkassen
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und Versorgungsämtern, von Trägern örtlicher Beratungs- und Therapieangebote oder Schuldnerberatung. Zu den Grundlagen zählt des Weiteren ein theoretisches Wissen aus der Kriminologie, speziell der Viktimologie. Menschen, die mit Opfern von Straf- bzw. Gewalttaten arbeiten, sind darüber hinaus herausgefordert, sich eigene, stellenweise uneingestandene Gefühle sowie Motive und Verhaltensmechanismen bewusst zu machen, um diese in der Arbeit nicht auf die Opfer zu projizieren: „Also auch der Helfer wird manche Probleme in sich selber bearbeiten müssen, bevor er dem Opfer einigermaßen unbeschwert von eigenen Bedürfnisbefriedigungen, unterdrückten Aggressionen oder deren Projektionen beistehen kann“ (M. Mitscherlich 1999: 221). Fachkräfte sind herausgefordert, in der Interaktion mit den betroffenen Personen zu verhindern, dass über gut gemeinte aber in Unkenntnis vorgenommene Äußerungen und Fragen Verletzungen wiederholt werden. Hier stellt z. B. das Wissen darüber, wie wichtig die Anerkennung des mit der Gewalterfahrung einhergehenden Leidens für den weiteren Verarbeitungsprozess ist, eine erste Verhaltensherausforderung an professionelles Handeln dar. Die entwickelten Weiterbildungsangebote zielen auf einen qualifizierten Umgang mit Menschen, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten werden, indem Fachkräfte und MitarbeiterInnen, die mit diesen Menschen beruflich in Kontakt kommen, diese nicht nur aus ihrer jeweiligen berufspraktischen Perspektive, sondern auch aus der Perspektive von Opferbelangen fachlich richtig behandeln und dabei viktimologischen Grundsätzen folgen. Präventiv soll damit einer Zweitviktimisierung vorgebeugt werden, d. h. einer wiederholten Verletzung des Opfers nach der Tat durch ein unangemessenes Verhalten dritter Personen. In den Weiterbildungen wird erarbeitet, wie die mit einer Opfererfahrung verbundenen gewaltgeprägten Lebenserfahrungen und die damit einhergehenden seelischen Beeinträchtigungen und besonderen sozialen Problemlagen so bearbeitet werden können, dass Folgeschäden vermindert bis vermieden werden können. Ziel ist eine nachhaltige Verbesserung der Bewältigungsstrategien und Lebensbedingungen der Betroffenen. Hierfür werden folgende Grobziele differenziert: Zum einen soll das Herausbilden einer professionellen Haltung der Fachkräfte und MitarbeiterInnen in der Interaktion mit den von Gewalt betroffenen Personen die Gefahren sekundärer Viktimisierung verhüten. Auf dieser Ebene sind Fachkräfte und MitarbeiterInnen gefordert, selbstreflexiv eigene Verstrickungen wie bspw. psychotraumatologische Abwehrstrategien zu erkunden, über die Opfern zusätzliche Schäden zugefügt werden können. Zwar dienen entsprechende Abwehrstrategien dazu, selbst ein Gefühl von Sicherheit zu wahren, doch problematischer Weise bspw. dadurch, den Opfern direkt oder indirekt Mitschuld an der Tat zu unterstellen und somit einer bei diesen oftmals vorhandenen Tendenz zur Selbstbeschuldigung ungerechtfertigt zuzuarbeiten (vgl. G. Fischer/P. Riedesser 1998).
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Zum anderen geht es um die Entwicklung qualifizierter Handlungssicherheit, die bspw. in gutem Informationsverhalten zum Ausdruck kommt. Opfer werden dann nicht nur über den weiteren Verfahrensablauf und ihre Rechte informiert, sondern auch darüber, welche Fragen und Äußerungen sie von weiteren mit ihnen in Kontakt tretenden Menschen – wie Polizei- oder Justizbeamte, aber auch Angehörige oder Vorgesetzte – zu erwarten haben. Dies zielt darauf ab, bei den Opfern eine vorbeugende Aktivierung von Schutzmechanismen anzuregen. So können Opfer die ihnen weiter begegnenden Fragen und Kommentare richtig einschätzen, sich dafür wappnen und sich selbst besser schützen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auf dieser Ebene auch die Beratung und Information von Angehörigen des Opfers. Des Weiteren soll der Erwerb fundierten Wissens einen angemessenen, an viktimologischen Grundsätzen ausgerichteten Umgang mit den Opfern ermöglichen und darauf zielen, die Verletzung und den Vertrauensverlust dieser Personen anzuerkennen, ihre Eigenständigkeit wertzuschätzen, sie in ihren Ressourcen wahrzunehmen und zu unterstützen sowie sich fürsorglich auf die psychischen und emotionalen Aspekte des Opferseins zu beziehen. Zu einem solchen Wissen zählen bspw. die mögliche Bedeutung einer Opfererfahrung, die innerpsychischen Vorgänge beim Erleben einer Straf- bzw. Gewalttat, Copingstrategien, Traumatisierungsphasen, die Opfer durchlaufen können, sowie ein Wissen über die spezifischen Bedürfnisse eines Opfers, über die Institutionen des Strafverfahrens und kriminologische Kenntnisse. Die Weiterbildungen dienen in unterschiedlicher Tiefe dem Erwerb insbesondere folgender Handlungskompetenzen: • individuelle Prozesse der Opferwerdung einschätzen und Interventionen ableiten; • Gesprächsführungs- und Kriseninterventionstechniken unter traumadynamischen Gesichtspunkten anwenden; • Opfer von Straf- insbesondere von Gewalttaten über ihre Rechte und Pflichten informieren und über Verfahrensabläufe im Straf- oder Zivilverfahren aufklären; • Beratungsgespräche gender- und diversitysensibel sowie deliktspezifisch differenziert gestalten; • als Fachkraft Erkenntnisse der Viktimologie ethisch-politisch orientiert entlang von Qualitätsstandards in der Opferhilfe umsetzen. Neben Herausforderungen des Arbeitsfeldes, neuen gesellschaftlichen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen legitimieren sich Weiterbildungen auch über die Bedürfnisse der Zielgruppe. Wo sehen Fachkräfte und Mitarbeitende aus dem weiteren Feld der Opferhilfe ihre Weiterbildungsbedarfe und in welcher Form wünschen sie diese bedient? Hierfür wurden mittels Fragebögen Teilnehmenden-Befragungen insbesondere auf Fachtagungen durchgeführt, die der
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ado in Kooperation mit anderen Einrichtungen veranstaltete. Der Fragebogen informierte die Teilnehmenden über die Entwicklung von Weiterbildungsangeboten durch den ado und fragte nach Inhalten, die sie für ihren Arbeitsbereich als relevant erachten. Im Folgenden seien nur einige Erkenntnisse skizziert: Dort, wo offen nach inhaltlichen Fortbildungswünschen gefragt wurde, weisen die Antworten mit Äußerungen wie „prinzipiell alles“ oder „alle Themen zum Opferschutz/ zur Opferhilfe“ einen Bedarf an generellen und umfassenden Informationen zu Opferhilfe und Opferschutz aus. Als spezielle Themen werden häusliche Gewalt, das Opferschutzreformgesetz sowie Psychotraumatologie genannt. Als bevorzugte Form der Weiterbildung kristallisiert sich deutlich das Instrument des Fachtages heraus, gefolgt von 3-tägigen Fortbildungen. Diese Weiterbildungsinstrumente stellen im durchgeführten Projekt in der Tat auch die am leichtesten zu akquirierenden und die am besten besuchten Veranstaltungstypen dar. Auf die Frage, welche didaktischen Lehr-/Lernformen bevorzugt werden, gehen die Positionen hinsichtlich einer Wissensvermittlung in Form von Vorträgen deutlich auseinander. Während gut die Hälfte der abgegebenen Antworten Vorträgen als Wissensinput positiv gegenüber stehen und diese gerne nutzen, äußert sich ca. ein Viertel hierzu ablehnend, und es finden sich auf einem weiteren Viertel der abgegebenen Bögen gar keine Äußerungen zu dieser Lernform. Selbsterfahrungsbezogene Einheiten treffen ebenfalls auf geteilte Meinung. Während sich hier fast ein Drittel zu dieser Lernform gar nicht äußert, gibt ein gutes Drittel an, entsprechende Einheiten nicht zu mögen, während nur ein knappes Drittel mitteilt, selbsterfahrungsbezogene Einheiten zu schätzen. Die Erarbeitung von Sachverhalten in Gruppenarbeit wird demgegenüber von über der Hälfte als gern praktizierte Lernform angegeben. 3.2
Weiterbildungsangebote entwerfen – Bausteine der Professionalisierung
Für die Umsetzung der oben genannten Ziele wurde ein Weiterbildungsprogramm mit folgenden, für verschiedene Zielgruppen differenzierten Instrumenten entwickelt: • Zertifikatskurse, die einjährig berufsbegleitend angelegt, HelferInnen zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ qualifizieren; • Fortbildungsseminare, die mehrtägig konzipiert sind und sich vor allem an Personen wenden, die in nicht spezifischen (Beratungs-)Einrichtungen tätig sind. Inhalt ist primär eine Einführung in die professionelle Opferhilfe bzw. eine inhaltliche Vertiefung hinsichtlich bestimmter Opfergruppen oder Deliktformen; • MultiplikatorInnenseminare, die für öffentliche Bezugspersonen durchgeführt werden, die nicht professionell im Handlungsbereich der Opferhilfe eingesetzt, aber häufig erste AnsprechpartnerInnen von Opfern sind (z. B. LehrerInnen oder SeelsorgerInnen). Diese eintägigen Seminare sollen der Sicherung des Erstkontakts in strukturell unterversorgten Gebieten dienen und für
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Personengruppen, z. B. Jugendliche, sensibilisieren, die professionelle Beratung zunächst scheuen. Die Fortbildung vermittelt in übersichtlicher Form konkrete Handlungsanforderungen, wie viktimologische Grundkenntnisse, Gesprächshaltungen und Adressen von AnsprechpartnerInnen; • Fachtage, die sich bundesweit an alle Interessierte wenden. Hier werden opferspezifische Themen erörtert und Vernetzungsstrukturen aufgebaut. Das unter dem Titel „Konzeption, modellhafte Erprobung und Evaluation bundesweiter Fortbildungsangebote für Menschen, die professionell mit Opfern von Gewalttaten arbeiten“ bewilligte Praxisentwicklungsprojekt wurde von der „Deutschen Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V.“ über drei Jahr hinweg gefördert (2/2007–1/2010) und von der Autorin koordiniert, evaluiert und weiterentwickelt. Die oben umrissenen Weiterbildungsinstrumente wurden nach Umfang, Inhalt und Zielgruppen variierend angeboten und erprobt und werden auch nach Projektabschluss – in geringerer Anzahl – fortgesetzt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die im Projektzeitraum durchgeführten Fortbildungsangebote entlang deren Typ und Titel, den jeweiligen KooperationspartnerInnen des ado, dem Zeitpunkt der Durchführung und der jeweils erreichten Teilnehmendenzahl. Weiterbildungsveranstaltungen im Projektzeitraum 2/2007–1/2010 – ein Überblick 2 einjährige Zertifikatskurse FachberaterIn für Opferhilfe Alice Salomon Hochschule Berlin, Juni 2008–Mai 2009
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FachberaterIn für Opferhilfe Alice Salomon Hochschule Berlin, September 2009–Mai 2010
10 TN
3 mehrtägige Fortbildungsseminare Einführung in die Arbeit der professionellen Opferhilfe Alice Salomon Hochschule Berlin, März 2007
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Professionelle Hilfe für jugendliche Opfer. Wie können Hilfesysteme jugendlichen Opfern gerechter werden? Sozialpädagogische Fortbildung Berlin-Brandenburg, September 2007
18 TN
Einführung in die Arbeit der professionellen Opferhilfe Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg, September 2009
25 TN
3 eintägige MultiplikatorInnenseminare Opferschutz und Strafverfahren für Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte (1,5 Tage) in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Bad Boll, Juni 2008
16 TN
Qualifizierte Unterstützung jugendlicher Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten für LehrerInnen, in Kooperation mit dem Regierungspräsidium Stuttgart, April 2009
25 TN
Weiterbildung als ein Beitrag zur Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe
Qualifizierte Unterstützung jugendlicher Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten für LehrerInnen, in Kooperation mit dem Regierungspräsidium Würzburg, Oktober 2009
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3 bundesweite Fachtage Klare Grenzen? Zum Verhältnis von Opferhilfe und TOA. Begegnung von Opfer und Täter im TOA – Chancen und Gefahren für Kriminalitätsopfer in Kooperation mit der Deutschen Bewährungshilfe und dem Servicebüro für Täter-Opfer-Ausgleich, Januar 2008 bei Aschaffenburg
68 TN
Perspektiven professioneller Opferhilfe – 20 Jahre Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. November 2008 im Roten Rathaus Berlin 150 TN Einmal Opfer, immer Opfer? Rechtliche, seelische und soziale Folgen für Opfer von Straftaten in Kooperation mit der Opferhilfe Sachsen und dem Sächsischen Staatsministerium für Justiz, September 2009 in der Akademie Meißen
3.3
89 TN
Konzepte ausdifferenzieren – der Zertifikatskurs zur „FachberaterIn für Opferhilfe“
Da es den Rahmen dieser Publikation überschreiten würde, alle Fortbildungsinstrumente differenziert zu diskutieren, soll im Folgenden der Schwerpunkt auf den Zertifikatskurs zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ gelegt werden, um darüber sowohl zunächst einen Einblick in die konzeptionelle Ausgestaltung und – im Kapitel 4 – in die konkrete inhaltliche Weiterbildungspraxis zu ermöglichen sowie anschließend erste Forschungsergebnisse zu präsentieren. 3.3.1 Struktur und Zielgruppen Über den berufsbegleitenden Zertifikatskurs zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ können die Teilnehmenden während eines Jahres Kompetenzen erwerben, um mit Menschen, die auf unterschiedliche Weise Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden, angemessen zu kommunizieren und sie professionell zu beraten. Den Teilnehmenden wird ein Wissen darüber geboten, welche beraterischen, finanziellen, rechtlichen und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten es für Opfer gibt, sowie an wen sie diese gegebenenfalls weiter verweisen können. Dieses Fortbildungsinstrument ist auf die Entwicklung einer professionellen Haltung und den Aufbau reflektierter Handlungssicherheit ausgerichtet. Der ado bietet den Zertifikatskurs in Kooperation mit dem Weiterbildungszentrum der Alice Salomon Hochschule Berlin an. Der einjährige Zertifikatskurs wird berufsbegleitend in einer Kursgruppe (max. 16 Teilnehmende) durchgeführt. Er umfasst fünf 3-tägige Kursabschnitte (Module), vier 1-tägige selbstorganisierte Arbeitsgrup-
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pentreffen und je vier 4-stündige externe Supervisionen à 45 Minuten, für die die Gruppe der Teilnehmenden halbiert wird. Die Teilnehmenden schreiben vor dem letzten Modul eine 15–20 Seiten umfassende Abschlussarbeit. Das Abschlusskolloquium ist in den fünften Kursabschnitt integriert. Der Kurs erreicht so einen Umfang von 300 Studien-workload1 (was dem Arbeitsaufwand von 1/3 Semester entspricht) und kann bei Nachweis eines Hochschulabschlusses mit 10 ECTS2 auf einen postgradualen Studiengang (z. B. einen Masterstudiengang) im Rahmen des europäischen Hochschulraums angerechnet werden. Die Alice Salomon Hochschule garantiert durch die beteiligten HochschullehrerInnen das Masterniveau, das einer strengen, regelmäßigen Evaluation und Kontrolle unterliegt. Das Weiterbildungsangebot richtet sich an professionelle HelferInnen verschiedener Berufsgruppen, die in ihrem Arbeitsbereich und in ihrer Institution mit Opfern von Straftaten oder mit psychisch traumatisierten Menschen in Kontakt kommen oder in naher Zukunft kommen werden. Diese professionellen HelferInnen sollten über ein abgeschlossenes (Fach-)Hochschulstudium verfügen oder bereits seit mehreren Jahren in der Opferhilfe tätig sein. Der Zertifikatskurs setzt auf den Standard der Professionalität und wissenschaftlichen Grundierung und ist als ein berufsbegleitendes Lernen zur Erweiterung und Vertiefung beruflicher Kenntnisse konzipiert. Er wendet sich an MitarbeiterInnen sozialer, justizieller polizeilicher und gegebenenfalls auch medizinischer Institutionen, die konkret bspw. aus folgenden Bereichen kommen können: • allgemeine und zielgruppenspezifische Opferhilfeeinrichtungen: Opferberatungsstellen, Interventionsstellen, Frauenberatungsstellen; • sonstige Beratungsstellen und Sozialpädagogische Dienste: Jugendämter, Jugendwohnungen, Erziehungsberatungsstellen, Lebensberatungsstellen, Suchtund Drogenberatungsstellen; • justizieller Bereich: Soziale Dienste der Justiz, Zeugenbetreuung, Rechtsanwaltskanzleien, die sich auf Opferhilfe spezialisieren. 3.3.2 Didaktik: Lerninhalte und -formen Den interdisziplinären, ganzheitlichen und vernetzenden Erfordernissen in der Opferhilfe folgend, setzt sich die Weiterbildung aus folgenden Elementen zusammen: • theoretisches Wissen bspw. aus den Bereichen der Viktimologie, der Psychotraumatologie, des Rechts; 1
Die Arbeitsbelastung (workload) berechnet sich aus den jeweiligen Unterrichtsstunden zuzüglich 4 Stunden Vor- und 8 Stunden Nachbereitung pro Modul. Der Kurs umfasst 160 Unterrichtsstunden (24 pro Modul, 24 für Peergruppentreffen, 16 für Supervision) plus Abschlussarbeit. 2 Das European Credit Transfer System (ECTS) ist ein Kreditpunkte-System zur Anerkennung und Übertragung von Studienleistungen (http://www.hrk-bologna.de/bologna/de/home/2000.php (15. 04. 10)).
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• Fachkenntnisse hinsichtlich bestimmter Deliktformen bspw. häusliche Gewalt, Gewalt aufgrund rechtsextremen Hintergrunds; • Fachkenntnisse hinsichtlich bestimmter KlientInnengruppen und zu gendersensibler und interkultureller Kommunikation; • Praxiserfahrung bspw. durch Fallbesprechung, Fallbearbeitung; • Supervision und Psychohygiene. Der Zertifikatskurs ist im bildungstheoretischen Kontext konstruktivistischer Erwachsenenbildung verortet, die davon ausgeht, dass Lernprozesse ermöglicht, nicht aber hergestellt werden können. Entsprechend folgt er einer Ermöglichungsdidaktik des lebendigen Lernens (vgl. R. Arnold/H. Pätzold 2003). Konzeptionell geht es um eine Kombination aus Angeboten der Wissensvermittlung, der selbstreflexiven Arbeit der Teilnehmenden (auf ihre Person und ihre Tätigkeit bezogen) und der Entwicklung neuer Handlungsstrategien für den speziellen Berufsalltag. Das Wissen und die bisherigen Berufserfahrungen der Beteiligten werden aufgegriffen und mit aktuellen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung verbunden. Themenbezogene Module ermöglichen in jeweils dreitägigen Blöcken ein themenzentriertes Arbeiten in unterschiedlichen pädagogischen Settings, mit verschiedenen Medien, Methoden und Arbeitsformen. Teamteaching bietet der Weiterbildungsgruppe neben einer durchgängigen Leitung durch eine FachdozentIn (Dipl.-Psych. Rosmarie Priet), die neben der inhaltlichen Arbeit im Verlauf der Weiterbildung auf den roten Faden und die Gruppendynamik achtet, in 2/3 der Zeit themenspezifische Mitarbeit von spezialisierten ExpertInnen der Fachpraxis. Wechsel der Sozial- und Lernformen eröffnen die Möglichkeit, die ausgewählten Themen im Plenum, in Kleingruppen oder einzeln im Wechsel mit Impulsreferaten und Mini-Vorträgen zu den Theoriefeldern der Opferhilfe zu erarbeiten. Dabei unterstützen Strukturpapiere als didaktische Erinnerungshilfen sowie kurze Skripte und Tipps für weiterführende Literatur den Lernprozess. Arbeit an Fallstudien erleichtert anhand vorbereiteter Beispiele mit entsprechenden Fragen, die in AGs bearbeitet und gegebenenfalls mit Rollenspielen aufbereitet werden können, die Übertragung des Erarbeiteten in Handlungskompetenzen. Hier ist Raum für die Arbeit an eigenen Praxisfällen der Teilnehmenden vorhanden. Externe Supervision ist ein integriertes Angebot, um in viktimologisch und traumaspezifisch ausgerichteten Reflexionseinheiten individuelle Lernprozesse zu unterstützen und auszuwerten. Ziel ist es weiterhin, den Anstrengungen und Belastungen, die bei einer empathischen Haltung gegenüber Opfern entstehen können, angemessen entgegenzuwirken.
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Selbststudium und kollegiale Beratung wird durch die Kursleiterin begleitet, indem sie den Teilnehmenden Aufträge und Fragestellungen mit an die Hand gibt, mittels denen die Weiterbildungsmodule jeweils vor- bzw. nachbereitet werden können. In sogenannten „Peergruppentreffen“ wird ein regelmäßiger fachlicher Austausch ohne Ausbildungsleitung verstärkt und Gruppenprozesse angeregt und reflektiert. Die Teilnehmenden erörtern gemeinsam, was für sie neu/anders ist in ihrer Praxis vor dem Hintergrund des neu erworbenen Wissens und welche Fragen offen geblieben bzw. sich neu gestellt haben. Mit Supervision und kollegialer Beratung werden den Teilnehmenden Methoden zur theoriegeleiteten Reflexion an die Hand gegeben. Abschlussarbeiten dienen dem Reflektieren und Auswerten individueller Lernprozesse und Praxiserfahrungen in Feldern der Opferhilfe nach Kriterien der Lerninhalte der Weiterbildung bspw. in Form einer Falldokumentation. Als Orientierungslinie erhalten die Teilnehmenden folgende Bitte zum Aufbau der Arbeit: Einleitung mit Motivation und Fragestellung; Hauptteil, in dem die Fragestellung bearbeitet wird: theoriegeleitet, praxisreflektierend, literaturgestützt; Zusammenfassung; evtl. Ausblick; Literaturverzeichnis. Abschlusscolloquien greifen zentrale Themen auf, die sich aus den jeweiligen Abschlussarbeiten ergeben, und bieten den Teilnehmenden eine individuelle Rückmeldung der Fortbildungsleitung zur einjährigen Zusammenarbeit. Sie sind als gemeinsamer Fachdiskurs konzipiert, in dem inhaltlich spannende Debatten geführt werden können, die die Teilnehmenden zuvor in ihren Arbeiten vorbereitend bearbeitet haben. Wissenschaftliche Begleitung sichert die Qualität des Angebots durch prozessbegleitende Evaluation und Rückkoppelungsschleifen. Sie wird in Kooperation von ado (Dr. Jutta Hartmann) und Alice Salomon Hochschule Berlin (Prof. Dr. Heinz Cornel) durchgeführt. 3.3.3 Curriculum Die Fachinhalte werden nicht ausschließlich entlang der Logik der beteiligten Disziplinen, vielmehr entlang der Herausforderungen beruflicher Praxis ausgewählt. Neben Wissensvermittlung und der Reflexion berufspraktischer Erfahrungen stehen Sensibilisierungen und der Aufbau von neuen Handlungskompetenzen im Mittelpunkt der Weiterbildung. Schlüsselkompetenzen werden dabei nicht nur weiter vermittelt, sondern auch vorausgesetzt. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass Fach-, Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenz bei den Teilnehmenden variieren und auftretende Unterschiedlichkeiten von der Kursleitung wahrgenommen und gegebenenfalls berücksichtigt werden müssen.
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Modul 1: Opferhilfe in Deutschland und Europa; Erkenntnisse der Viktimologie Lernziele: Die Teilnehmenden haben sich Orientierungswissen über viktimologische Grundsätze erarbeitet und eine Grundlage geschaffen, ihre Beratungsprozesse nach diesen zu gestalten. Sie verorten ihr Tun im Kontext nationaler und internationaler Professionalisierungsbemühungen. Inhalte: Reflexion der eigenen Motivation zur Opferhilfe, Geschichte und Grundlagen der Viktimologie; Theorien der Viktimisierung, Bedürfnisse von Opfern, Verarbeitungsprozesse der Opferwerdung und Copingstrategien, Sekundäre Viktimisierung. Modul 2: Psychosoziale Beratung von Opfern und Einführung in die Psychotraumatologie Lernziele: Die Teilnehmenden können emphatisch angemessen beraten, Traumatisierungsfolgen einschätzen und beherrschen Techniken der Distanzierung. Grenzen zwischen Beratung und Therapie sind deutlich. Inhalte: Grundhaltung und Verhaltensleitlinien in der Opferberatung, Beratungsphasen, psychische Reaktionen auf traumatische Erfahrungen, traumainduzierte Störungen, Risikofaktoren und Resilienz, Psychoedukation, Stabilisierungstechniken, Beziehungsdynamik in der Arbeit mit Opfern, Psychohygiene und Prävention von Sekundärtraumatisierung. Modul 3: Das Opfer von Straftaten im deutschen Rechtssystem Lernziele: Die Teilnehmenden sind befähigt, Opfer von Straf- und Gewalttaten über ihre aktuellen Rechte und Pflichten und daraus entstehende Konsequenzen zu informieren. Sie können über Verfahrensabläufe im Straf- oder Zivilverfahren aufklären und eine adäquate Zeugenbetreuung anbieten. Inhalte: Opferrechte und -pflichten im Ermittlungs- und Strafverfahren, Belastungserleben von Zeugen, Aufgaben und Möglichkeiten der Zeugenbetreuung, Gewaltschutzgesetz, Entschädigungsrecht. Modul 4: Unterschiedlich verschieden – Aspekte von Diversity in der Opferhilfe Lernziele: Die Teilnehmenden können ihre Beratungsgespräche gender- und diversitysensibel sowie auf die jeweilige Deliktspezifik hin differenziert gestalten. Inhalte: Beratung bei häuslicher Gewalt: Formen, Ausmaß und Folgen häuslicher Gewalt, Gewaltdynamik, Gewaltbetroffenheit von Kindern; Ambivalenzberatung; Beratungsrichtlinien; Beratung bei rechtsextremistisch motivierter Gewalt: Reflexion eigener Ausgrenzungserfahrungen, Handlungsfelder und Struktur der Beratungsstellen, Formen und Ausmaß rechtsmotivierter Gewalt in Deutschland, interkulturelle Beratungskompetenzen. Modul 5: Ethisch-politische Dimensionen der Opferhilfe, Qualitätssicherung und Kooperation in sozialen Netzwerken Lernziele: Die Teilnehmenden verfügen über eine professionelle sowie politischethische Haltung als Fachkraft im Feld der Opferhilfe und können ihre Tätigkeit
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nach Qualitätsstandards gestalten und mit gesellschaftspolitischem Engagement verbinden. Inhalte: Standards der Opferhilfe, Chancen und Risiken des TäterOpfer-Ausgleichs (TOA)3, Projektfinanzierung (zur Gründung neuer Opferhilfeeinrichtungen), Netzwerkarbeit; integriertes Abschluss-Kolloquium und Abschied.
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Projektbegleitung: Weiterbildungen formativ überprüfen und modifizieren
In dieser Phase galt es, den Umsetzungsprozess sorgfältig zu begleiten, zu dokumentieren, auszuwerten und gestaltend weiterzuentwickeln. Den Hauptfragestellungen folgend, inwiefern sich die ermittelten Fortbildungsbedarfe und konzipierten Angebote bestätigen, und welche weiteren fachlichen und didaktischen Besonderheiten sich für Weiterbildungen im Feld der Opferhilfe heraus kristallisieren, interessierten in dieser Projektphase darüber hinaus folgende Fragen, die jedoch nicht für jedes Instrument in der gleichen Tiefe untersucht werden konnten und im Weiteren mit Blick auf den Zertifikatskurs diskutiert werden: • Aus welchen beruflichen Feldern kommen die Teilnehmenden mit welchen opferhilfebezogenen Erfahrungen? • Welche Motivation und Ziele bringen die Teilnehmenden mit? • Welche Erfolge bzw. Probleme treten bei der Durchführung der Fortbildungen auf und wie zufrieden sind die Teilnehmenden? 4.1
Teilnehmendenstruktur
Von den 12 Teilnehmenden des ersten Zertifikatskurses nahmen fünf weite Anreisewege aus dem Bundesgebiet in Kauf. Bis auf eine Ausnahme (Soziologin) verfügten alle Teilnehmenden über eine pädagogische Grundausbildung. Die meisten hatten darüber hinaus Weiterbildungen in Mediation, in Konfliktschlichtung im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs sowie in verschiedenen Beratungsrichtungen absolviert. Während fünf Teilnehmende im Bereich der Konfliktschlichtung im Rahmen des TOA bei freien Trägern tätig waren, arbeiteten vier in der Fachberatung allgemeiner oder zielgruppenspezifischer Opfer- bzw. Zeugenberatungseinrichtungen, die einem größeren Wohlfahrtsverband und mehreren freien Trägern zugehörig sind. Eine Person war im Zeitraum der Weiterbil3
Im Rahmen eines TOAs haben Betroffene von Straftaten die Möglichkeit, mit Unterstützung von VermittlerInnen eine außergerichtliche Konfliktregelung zu finden und sich über eine Wiedergutmachung zu verständigen.
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dung bei den Sozialen Diensten der Justiz beschäftigt, eine in einem Kinder- und Jugendwohnheim und eine Person in Elternzeit. Was den beruflichen Hintergrund anbelangt, sieht die Teilnehmendenstruktur des zweiten, momentan noch laufenden Zertifikatskurses wesentlich heterogener aus: Hier sind zwei Rechtsanwältinnen, ein Polizeikriminalbeamter, ein Verhaltenstherapeut sowie sechs PädagogInnen vertreten. Drei Teilnehmende sind bei einer Behörde beschäftigt, fünf bei freien Trägern und zwei Personen sind selbstständig tätig. Fünf der Teilnehmenden befinden sich in allgemeinen oder spezifischen Opferhilfefeldern im Einsatz. Aus dem beruflichen Erfahrungsfeld der Bewährungshilfe kommen zwei Teilnehmende. Von den 10 Teilnehmenden reisen vier aus entfernt liegenden Bundesländern an. Es fällt auf, dass die Teilnehmenden der beiden Zertifikatskurse mit unterschiedlichen Aufgaben und in unterschiedlicher Intensität sowie mit unterschiedlicher Vorqualifikation ehrenamtlich oder professionell mit Opfern in Kontakt waren oder gewesen sind. Während ein Teilnehmer angab, prüfen zu wollen, ob er mit Opferhilfe den für sich richtigen Ort gefunden habe, strebten die meisten eine Vertiefung ihrer gegenwärtigen opferhilfeorientierten Tätigkeit an. Drei Teilnehmende gaben an, erst zukünftig in der Opferberatung tätig werden zu wollen, sie verfügten gleichwohl bereits über erste Erfahrungen in diesem Feld. Damit rekrutierten bzw. rekrutieren sich bis auf einen alle TeilnehmerInnen der Zertifikatskurse aus dem weiteren Feld der Opferhilfe.4 Das Feld der Opferberatung scheint demnach keines zu sein, das attraktiv genug wirkt, um Menschen ohne Vorerfahrungen aus diesem Bereich zukunftsträchtige Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies mag zum einen mit dem Bild von Opfern in dieser Gesellschaft, das immer noch Unbehagen auszulösen scheint, zusammenhängen und damit, dass die Konfrontation mit z. T. großem Leid eine große Herausforderung an Professionelle mit sich bringt. Demgegenüber verzeichnen Qualifizierungsmaßnahmen für das Feld der Opferhilfe jedoch bspw. in Japan eine enorme Nachfrage. Seit dort Opfergruppen politischen Druck auf die Regierung ausgeübt haben und diese die Etablierung von Opferhilfeeinrichtungen in jedem Regierungsbezirk beschlossen hat, ist dieses Arbeitsfeld zu einer vielversprechenden Ausbildungsinvestition für Fortbildungswillige geworden.5 So mag zum anderen die politische Situation in Deutschland, in der professionelle Arbeit mit Menschen, die Opfer einer Straf- bzw. Gewalttat wurden, nicht den gleichen Status und die gleiche Selbstverständlichkeit genießt wie bspw. die Arbeit mit Straffälligen, einen Beitrag dazu leisten, dass die Investition in dieses Fachgebiet Sozialer Arbeit für nur diejenigen in ihrem beruflichen Fortkommen als lohnend erscheint, die sich bereits in diesem Arbeitsfeld bewegen. 4 5
Zum vielgestaltigen Feld der Opferhilfe vgl. J. Hartmann in diesem Band. Information von Prof. Dr. Gerd Ferdinand Kirchhoff, Tokiwa University und Tokiwa International Victimology Institute, Mito, Japan im Sommer 2008.
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Motivation und Ziele der Teilnehmenden
Die meisten der insgesamt 22 Teilnehmenden beider Zertifikatskurse geben explizit an, ihr Wissen bezüglich des Arbeitsfeldes Opferhilfe erweitern, vertiefen und systematisieren sowie neue Techniken und Methoden hierfür erlernen zu wollen. In der Regel verbinden die Teilnehmenden dies mit dem Begriff der Professionalisierung. Die zweithäufigsten Nennungen beziehen sich auf den Wunsch, die Opferperspektive in der eigenen Arbeit stärken und den eigenen Blick für Opferbelange sensibilisieren zu wollen. Einem Teil der Teilnehmenden geht es darum, sich auf neue Aufgaben vorzubereiten. Einige Teilnehmende benennen konkrete Unsicherheiten und beobachtete Defizite im Verhalten gegenüber Opfern, die sie angehen wollen. Ein Teilnehmer, der seit kurzem in einer Opferhilfeeinrichtung arbeitet, formuliert ein konkretes selbstreflexives Anliegen. Er möchte den Umgang mit dem Leid der Beratenen reflektieren und während der Weiterbildung für sich ergründen, was ihn zur Arbeit im Feld der Opferhilfe geführt hat. Unterschiede zwischen den Gruppen der beiden Zertifikatskurse bezüglich der Motivationslage und geäußerten Zielen zeigen sich insofern, als zwar auch in der zweiten die Mehrheit angibt, die berufliche Qualifikation ausbauen, mehr Sicherheit und Klarheit im Beratungsgespräch erwerben und viel Input und Wissenszuwachs haben zu wollen, doch weisen hier Erwartungen auch explizit in die Richtung, Kompetenzen im Bereich Psychohygiene entwickeln zu wollen. Exemplarisch sei hierfür die Aussage einer Teilnehmenden zitiert: „Ich bin oft traurig, wenn ich mit Opfern zu tun habe und nehme vieles mit nach Hause. Wie gelingt es, Empathie und persönlichen Schutz zusammenzubringen?“ Ein weiterer Unterschied liegt im Wunsch einer überregionalen Netzwerkbildung, das zwei der Teilnehmenden der zweiten Gruppe für sich formulieren. Es fällt auf, wie mehrere der teilnehmenden MediatorInnen und KonfliktschlichterInnen daran zweifeln, genügend Wissen über die spezifischen Bedürfnisse von Opfern und Vermögen zu adäquatem Verhalten diesen gegenüber zu besitzen, wie sie es als notwendig erachten, ein entsprechendes Wissen und Können auszubauen. Diese kritische Haltung bei zweifelsohne langjährig erfahrenen und für ihren Arbeitsbereich qualifizierten Fachkräften spricht zum einen für deren professionelle Haltung und bestätigt zum anderen aus der Praxis heraus den auf theoretischer Ebene erörterten Bedarf hinsichtlich einer dezidierten Qualifizierung für Opferbelange (vgl. J. Hartmann in diesem Band). Im Gesamten wird auf der Ebene explizit benannter Motivationen und Ziele eine stark kognitive Orientierung der Teilnehmenden sichtbar. Demgegenüber treten durch die Auswertung selbstreflexiver Elemente auch implizite Motive zutage, die Psychohygiene und Schutz als ein virulentes Thema sichtbar werden lassen und als eine notwendige Kompetenz im Feld der Opferhilfe belegen. Unter didaktischen Gesichtpunkten bestätigt sich weiterhin die Wichtigkeit selbstreflexiver Übungen in diesem Feld, um eigene Bedürfnisse und Einstellungen bewusst wer-
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den zu lassen und selbstkritische Auseinandersetzungen anzustoßen. Eine kurze Skizze des Verlaufs von drei aufeinander aufbauenden Übungen soll dies nachvollziehbar machen. Die Beschreibungen lassen darüber hinaus erkennen, wie auch bereits erfahrene Fachkräfte an der Konstruktion stereotyper Bilder von Opfern – passiv, hilflos, ohnmächtig und gut – Teil haben; und dies obwohl angesichts der mitgebrachten beruflichen Erfahrungen davon ausgegangen werden kann, dass die Teilnehmenden bereits eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Verhaltensweisen von Opfern kennen gelernt haben. Die mit den Übungen gemachten Erfahrungen belegen die Notwendigkeit, die eigene Motivation zur Opferhilfe, die damit selbst verbundenen Ziele, Ansprüche und Konstruktionen immer wieder kritisch zu reflektieren. In einer zum Thema Opferhilfe hinführenden Übung, die gleichzeitig dem Kennenlernen untereinander und dem Aufbau einer ressourcenstärkenden Arbeitsatmosphäre dienen sollte, wurden die Teilnehmenden gebeten, aus vielen auf dem Boden ausgebreiteten Postkarten mit ganz unterschiedlichen Bildern und Sprüchen zwei Karten auszuwählen, die ihnen spontan als passend erschienen, um die Erfahrungen, Kompetenzen und Fähigkeiten zu symbolisieren, die sie selbst für die Arbeit im Feld der Opferhilfe mitbringen. Die Postkarten wurden anschließend in Kleingruppen vorgestellt und vertiefend besprochen. Einige Beispiele aus beiden Zertifikatskursen: Ein Teilnehmer hob anhand der Abbildung eines Chamäleons seine Anpassungsfähigkeit an herausfordernde Situationen hervor, womit es ihm bspw. gelänge, sein eigenes Entsetzen bei der Schilderung des Erlebens eines Opfers zurückzuhalten. Eine Teilnehmerin wählte zwei Rhinozerosse, um zum einen die Stärke zu symbolisieren, die sie aus Lebenserfahrung und bisherigem Berufsleben mitbringe und mit der sie Opfer schützen wolle sowie zum anderen ihre Fürsorglichkeit, die ihr verhelfe empathisch zuhören zu können. Mittels einer Rose stellte eine Teilnehmerin ihr ästhetisches Gespür dar, mit dem es ihr gelänge, den Beratungsraum schön zu gestalten und eine angenehme Atmosphäre herzustellen. Ein sitzender Elefant, an den sich ein Mädchen anlehnt, stand für einen Teilnehmer für seine große und starke Gestalt sowie seine Fähigkeit Vertrauen auszustrahlen und Schutz zu bieten. In Schneeglöckchen erkennt eine Teilnehmerin ihre Fähigkeit, zart empathisch und einfühlsam zu sein. Mit der Aussagekarte „Ich bin tollerant“ (sic!) sah ein Teilnehmer seine Fähigkeit ausgedrückt, sich selbst in Frage stellen sowie Unsicherheiten bei sich erkennen und zulassen zu können. Eine Schnecke brachte für eine andere Teilnehmerin deren Belastbarkeit zum Ausdruck, ihre Geduld und ihre Fähigkeit, abgeben zu können, was sie als Ausdruck professioneller Distanz wertete – eine Fähigkeit, die sie bei ihren ehrenamtlich tätigen KollegInnen vermisse. Im anschließenden Plenum notierten die Teilnehmenden jedeR für sich spontan drei Minuten lang Assoziationen zum Begriff „Opfer“ und schrieben anschließend fünf Minuten lang eine Geschichte, in der die notierten Stichworte möglichst alle eingearbeitet werden sollten. Wer wollte, konnte seine Geschichte im
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Plenum vorlesen, und auf Wunsch konnten Fragen an die VerfasserIn gestellt werden. Es vermittelten sich mit den vorgetragenen Geschichten ganz unterschiedliche Stimmungen. Viele waren schwer, traurig, mutlos, die Ohnmacht, die mit Opferwerdung oftmals verbunden ist, vermittelnd, andere fokussierten auf die Kräfte und Ressourcen des Opfers, machten Mut, wirkten erleichternd, Aufbruchstimmung erzeugend. Die Übung regte an, die eigene spontane Sicht auf Opfer und Opfererfahrungen in einer Menge unterschiedlicher Perspektiven als eine von mehreren Möglichkeiten wahrzunehmen. Im nächsten Schritt wurden Assoziationen zur Motivation, im Bereich der Opferhilfe zu arbeiten an einem Flipchart gesammelt: Warum will ich mit Opfern arbeiten? Hierzu einen Einblick in Diskussionslinien aus beiden Zertifikatskursen: „Ein allgemeines Gerechtigkeitsbedürfnis“ war eine der ersten Nennungen und daraus abgeleitet das Bedürfnis, „einen Beitrag leisten zu wollen, für eine andere, bessere Welt“. Gerechtigkeit solle nicht nur Tätern widerfahren, auch Opfern müsse geholfen werden, und für diese gäbe es zu wenig. Opfer würden sich allein gelassen fühlen. Ein Teilnehmer gab an, Opfer schützen, ihnen Stabilität geben zu wollen. Hier wurde gefragt, inwiefern auch der Wunsch diese Motivation mit leiten möge, selbst auf „der besseren, der richtigen Seite“ zu stehen, sich selbst erhöhen und als etwas Besonderes fühlen zu können. „Aber trotzdem“, so eine Erwiderung, es gehe ganz zentral darum, einzelnen Personen zu helfen, sie zurück zu führen zur Teilhabe am Leben, zu guter Lebensqualität. Opfer hätten dies nötig; es sei wert, sich für sie einzusetzen. Für eine andere Teilnehmerin war es wichtig, mutig zu sein, diese schwere Arbeit zu machen, Anerkennung dafür zu bekommen und in ihrer Arbeit Wirksamkeit zu spüren. Eine Teilnehmende wollte eine Lanze brechen für Opfer und gesellschaftspolitisch aktiv sein, so etwas wie eine Anwältin sein für Opfer. Ein Teilnehmer gab an, es zu mögen, Beschützer zu sein, eine Vaterfigur. Eine andere Stimme räumte ein, dass dabei jedoch auch das Bedürfnis eine Rolle spielen möge, gebraucht zu werden oder der Wunsch nach Selbstbestätigung, etwas Wichtiges zu tun. Die Frage wurde diskutiert, inwiefern dies eine Verführung sein könnte, sich als „Retter“ zu fühlen, als ein „Lotse durch den Tunnel“. Warum wollen wir helfen? Inwiefern wollen wir auch profitieren? Eine in einer Frauenberatungsstelle tätige Teilnehmerin interessierte sich für Grenzerfahrungen und GrenzgängerInnen. Sie berichtete, wie es sie fasziniert, den Prozess zu beobachten, wie sich ein zunächst hilfloses Opfer zu einer selbstbewussten Frau entwickelt, und hierzu einen Beitrag zu leisten. Über die Faszination von Grenzerfahrungen wurde gesprochen und über die Befriedigung, spannende Entwicklungen bei anderen Menschen beobachten zu können. Ein Teilnehmer will selbst „lernen durch Begleiten“. Für einen anderen, der erst kurze Zeit im Feld der Opferhilfe tätig ist, ist noch offen: „Was kann ich von Opfern lernen, gibt es da etwas Wechselseitiges?“. Die Motivation mit Opfern zu arbeiten liegt für eine Teilnehmerin darin, herauszufinden, „wie die Opfer das machen, die sich nicht in ihrer Persönlichkeit treffen lassen“. Eine andere benennt die Chance, von
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den Überlebenskräften und den vielfältigen Ressourcen zu lernen, mit denen Opfer z. T. entsetzliche Situationen überstehen, mit denen sie heilen und ihr Leben mit neuer Kraft gestalten. 4.3
Verlauf der Weiterbildung und Rückmeldungen der Teilnehmenden
Für die modifizierende Weiterentwicklung des Zertifikatskurses erwiesen sich die regelmäßigen Feedbackrunden während des Seminarverlaufs in der Gesamtgruppe sowie die Rückmeldungen in den Einzelinterviews als ergiebiger als die Erkenntnisse, die sich aus den standardisierten Evaluationsbögen ableiten ließen. Während bei letzteren die Gründe für die abgegebene quantitative Bewertung in der Regel offen blieben und unterschiedlich interpretiert werden konnten, wurde in Feedbackrunden und Interviews schon durch sprachliche Schließungszwänge eine größere Konkretisierung erreicht. Bei den Einzelinterviews bestand zudem die Möglichkeit der klärenden Nachfrage. Gleichzeitig boten diese Methoden keinen Schutz durch Anonymität. Das konkretisierte Feedback fiel bei der ersten Gruppe, auf die sich die folgende Reflexion ausschließlich bezieht, positiver und konstruktiver aus, als die über die standardisierten Fragebögen erfolgten Rückmeldungen. Während der unterschiedliche berufliche Hintergrund der Teilnehmenden aus Opferhilfe, TOA und Bewährungshilfe mit deren unterschiedlichen Perspektive auf das Thema von den Teilnehmenden explizit als bereichernd erlebt wurde, brachten die in vielerlei Hinsicht bestehenden Unterschiedlichkeiten im Laufe des Kurses auch Unzufriedenheiten mit sich. Unterschiede lagen insbesondere in opferhilfebezogenen Vorerfahrungen – einige Teilnehmenden bewegten sich bereits 15–20 Jahre aufbauend auf diversen Fortbildungen mit viel Erfahrung beratend im Feld, während andere erst seit kurzer Zeit und mit kaum Erfahrung in Beratungstätigkeit sich der Opferhilfe zuwendeten. Große Unterschiede kristallisierten sich auch heraus in Hinblick auf Lerntypen, dem Wunsch auf und der Erfahrung in (Selbst-)Reflexion sowie der Bereitschaft sich auf Übungen einzulassen. Auch die sozialen Kompetenzen der Teilnehmenden variierten erheblich, das Gespür bspw. für die Wirkung des eigenen Verhaltens in der Gruppe oder die Fähigkeit, sich in Gruppenarbeit konstruktiv einzubringen. Die große Heterogenität der Teilnehmenden des ersten Kurses in Fach-, Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenz stellte große Anforderungen an die durchgängige Kursleitung. Das erste Modul verlief in sehr guter Atmosphäre und wurde als anregend und interessant und die Erwartungen der meisten voll erfüllend bzw. übertreffend evaluiert. Es wurde die gute Organisation und Gestaltung des Moduls hervorgehoben. Die durchgängige Kursleiterin habe eine gute Atmosphäre geschaffen, Offenheit vermittelt und sehr gut moderiert. Ein Teilnehmer hob in Bezug auf den Selbsterfahrungsteil hervor, dass ein entsprechender Zugang für ihn unerwartet und „total neu“ sei. Hinsichtlich des Konzepts und der Inhalte des Moduls wurde
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von einer Person ein noch stärkeres Eingehen auf die eigene Motivation und ein verstärktes Anregen von Gruppenprozessen gewünscht. Auch der Wunsch nach mehr Zeit für Übungen zur Praxisumsetzung wurde geäußert. In der Teilnehmenden Beobachtung fiel auf, dass lediglich die Zukunftswerkstatt am Ende des Moduls, in der die Gruppen die Aufgabe hatten, zu visionieren, wie eine optimale Opferhilfe aussehen würde, sehr stockend verlief. Hier wurden die unterschiedlichen beruflichen Bereiche, aus denen die Teilnehmenden kamen, deutlich und es überforderte die Gruppe, die damit verbundenen unterschiedlichen Perspektiven konstruktiv zusammenzuführen. Der erste Fortbildungstag des zweiten Moduls war zur Aufarbeitung offener Fragen aus dem vorherigen Modul sowie mit Übungen zu konkreten Beratungssituationen und Rollenspielen gefüllt. Die Übungen wurden sowohl als besonders gelungen – „hat meine schlechten bisherigen Erfahrungen durchbrochen“ – wie auch als „zu spät platziert“ eingeschätzt. Die Unterschiede in der Gruppe traten im Verlauf des Moduls auch atmosphärisch immer deutlicher zutage. So wurde der Fachreferent für den Bereich Psychotraumatologie, der entgegen vorheriger Absprachen an frontaler Wissensvermittlung orientiert war, von den Teilnehmenden fast diametral entgegengesetzt eingeschätzt. Während diejenigen, bei denen die Fortbildungstage zuvor Unbehagen gegenüber Selbsterfahrungsanteilen und Rollenspielen hatten sichtbar werden lassen, sich sehr angetan über „die Tiefe der Inhaltsvermittlung“ und der präsentierten Wissensfülle äußerten, wurden viele Teilnehmende unzufrieden, bemängelten „zu viel Stoff oder zu wenig Zeit“ und forderten ein, traumatologisches Wissen gezielter auf den Bedarf von OpferberaterInnen auszuwählen, mit mehr Praxisbeispielen zu versehen sowie zentrale Aspekte selber zu „üben, üben, üben“, insbesondere schwierige Gesprächssituationen mit traumatisierten Personen. Hierfür wünschten sich die Teilnehmenden Tipps und Tricks bzw. ein über Feedback zu Rollenspielen systematisiertes Entwickeln von „Dos and Donts“. Nach dem zweiten Modul verfassten die Teilnehmenden einer Peergruppe ein zusätzliches schriftliches Feedback mit konstruktiven Anregungen. Aufschlussreich, und im Unterschied zur zweiten Kursgruppe stehend, war ihr Eindruck, dass der Zertifikatskurs den doppelten Umfang haben sollte; dies mit dem für sie im Moment bestehenden Arbeitsaufwand, jedoch nur in Form der Teilnahme an Modulveranstaltungen. Peergruppentreffen und Supervision erachteten diese Teilnehmenden als für sie nicht in gewünschter Weise fruchtbar. Den Teilnehmenden war wichtig, noch expliziter als bisher zu klären, was genau an Wissen und Können für Opferhilfe notwendig ist. Bei vielen entstand angesichts der Fülle der vermittelten Inhalte und der Hinweise auf mögliche Ergänzungen zunächst der Eindruck, das individuell Aufgenommene könne noch bei Weitem nicht ausreichen. Auch regten die Teilnehmenden an, Standards für professionelle Opferhilfe („die ideale OpferberaterIn“) noch dezidierter herauszuarbeiten und kontinuierlich während des Weiterbildungsprozesses festzuhalten.
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Begeisterung bekundeten die meisten der Teilnehmenden nach dem 3. Block. Positiv hervorgehoben wurde insbesondere die Flexibilität der Kursleiterin, die am ersten Fortbildungstag in der Nachbereitung des vorherigen Moduls „auf Fehlendes geachtet“ und sofort Veränderungen in ihrem Programm vorgenommen habe. Die dabei nachgereichten Übungen wurden positiv hervorgehoben. Mit „sehr gut“ wurde die Frage beantwortet, inwiefern neue Erkenntnisse erworben und Fachwissen vertieft werden konnte. Auch das Arbeits- und Lernklima wurde erneut beinahe einhellig als sehr gut eingeschätzt. Auch der Fachreferentin war es in herausragender Weise gelungen, mit dem Thema „Rechte und Pflichten von Opfern im Strafsystem Deutschlands“ einen eher trocken erscheinenden Themenbereich systematisch und abwechslungsreich aufzubauen und den Teilnehmenden anhand eines durchgehenden Praxisbeispiels und über Gruppenarbeitsaufträgen zu ermöglichen, das Thema selbst mit zu erarbeiten (vgl. B. Pawlik in diesem Band). Mit zunehmendem Fortschreiten der Kursdauer wurde die Möglichkeit der Freitextkommentare in den Auswertungsbögen weniger genutzt. Da im vierten Modul jeder Tag durch eine andere ReferentIn gestaltet war, wurde das Modul im Gesamten evaluiert. Dabei fiel zum einen eine breite Spanne an abgegebenen Einschätzungen auf – für die Bewertung des Praxisbezugs oder des Verhältnisses von Kursdauer zur Stoffmenge wurden bei einer fünfstufigen Skala die Werte von 1 bis 4 vergeben – sowie zum anderen „Ausreißernennungen“, wobei bspw. der Aufbau des Seminars einmal als nur ausreichend strukturiert und mit erkennbarem Konzept eingeschätzt wurde, während die Mehrheit hier mit der Note „sehr gut“ bewertete. Im fünften Modul waren die beiden letzten Tage durch die Präsentation und Diskussion der Abschlussarbeiten, einen Blick in die Zukunft sowie die feierliche Übergabe des Zertifikats zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ gekennzeichnet. Die Teilnehmenden legten Arbeiten in unterschiedlicher Tiefe vor und demonstrierten einen unterschiedlichen Umgang mit dem im Kurs gebotenen Wissen. Liegt professionelles Wissen im Überschneidungsfeld von Wissenschaftswissen und Erfahrungswissen, so belegen einige der Abschlussarbeiten, dass die Teilnehmenden zu einer professionellen Reflexion ihres beruflichen Handelns bezogen auf das Feld der Opferhilfe befähigt wurden. Ein Teilnehmender bearbeitete bspw. in seiner Abschlussarbeit den zunehmenden Eindruck, in seiner alltäglichen Arbeit im TOA, Fällen von häuslicher Gewalt nicht gerecht zu werden. Er nutzte die Inhalte des Zertifikatskurses in seiner Abschlussarbeit als Reflexionsanregung für genau diese Fälle und bewies, wie eine produktive Auseinandersetzung mit einem Themengebiet zu einer Neubewertung von Handlungssituationen führen und Hinweise auf verändertes professionelles Handeln geben kann. Eine andere Teilnehmerin setzte die Lernerfahrungen des Kurses in ihrer Abschlussarbeit produktiv in die Entwicklung eines neuen Projekts um, das konzeptionell einen möglichen Wechsel von der Vermittlungsposition zu einer Opferberatung nach Abschluss eines TOA für bestimmte Fälle vorsieht. Insgesamt
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waren alle von Jürgen Ebert (2008: 34ff.) diskutierten Typen von Abschlussarbeiten vertreten und spiegelten eine unterschiedliche Bereitschaft zur Reflexivität und Selbstexploration als Messlatte für professionelles Handeln wider: Neben produktiven Auseinandersetzungen fanden sich auch „inkontingente Abspaltungen“, bei denen nur unsystematisch neues Wissen herangezogen wurde und ebenso eine „Abschirmung oder Umfunktionierung“ in dem Sinne, dass wissenschaftliches Wissen so an die bisherige Praxiserfahrung angepasst wurde, dass es dieselbe letztlich unreflektiert bestätigte. Während in der abschließenden Fragebogenauswertung die überwiegende Mehrheit ihre Erwartungen an den Zertifikatskurs sehr gut bis gut erfüllt sahen, war dies für eine Person nur befriedigend und für eine weitere in ausreichender Weise der Fall. Auch die beabsichtigten Ziele des Zertifikatskurses wurden für die überwiegende Mehrheit in sehr guter bis guter Weise erreicht. Einhellig schätzten die Teilnehmenden den Kurs für ihre Arbeit von sehr gutem oder gutem Nutzen ein und erachtete die überwiegende Mehrheit einen persönlichen Nutzen als in sehr guter oder guter Weise erzielt.
5
Projektevaluation: Weiterbildungsprogramm summativ beurteilen
Welche ersten Aussagen lassen sich nun über Nutzen und Wirkung des gesamten Weiterbildungsprogramms und die Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe machen? Erinnert sei an die bereits zitierte Erfahrung, dass Evaluationen für relativ junge Praxisfelder bereits zufrieden stellen, wenn sie tragfähige Antworten auf Fragen zum Programm, zu Umsetzungsformen und Zielgruppenerreichung geben (K. Haubrich/Ch. Lüders 2004: 330). Dies berücksichtigend kann zunächst als zentrale Erkenntnis festgehalten werden, dass die hier insbesondere am Beispiel des Zertifikatskurses diskutierten Weiterbildungsinstrumente einen wichtigen Beitrag dazu leisten, eine Lücke in der psychosozialen Weiterbildungslandschaft auf innovative Weise zu füllen: interdisziplinär angelegte Weiterbildungen, die Fachkräfte für die unmittelbare Beratungsarbeit mit Menschen qualifizieren, die Opfer von Straf- insbesondere von Gewalttaten wurden. Eine interdisziplinäre Aufbereitung der Weiterbildungen entsprechend der Komplexität und Qualifikationsanforderungen des Feldes führt zwar zu erhöhtem organisatorischen Aufwand und Abstimmungsbedarf und macht eine sorgsame didaktische Planung notwendig, um möglichen Überfrachtungen sowie Überforderungsgefühlen der Teilnehmenden zu begegnen, bestätigte sich insgesamt jedoch auch in den Rückmeldungen der Teilnehmenden positiv. Eine Differenzierung des Programms in Weiterbildungsinstrumente mit unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung, Intensität der Bearbeitung des Themas und
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verschiedenen Zielgruppen hat sich insofern bewährt, als eine große Zahl unterschiedlicher Fachkräfte, die in ihrer Arbeit mit Opfern in Kontakt kommen, erreicht werden konnte. So weist die Struktur der Teilnehmenden insgesamt eine breite Heterogenität an Berufsgruppen bzw. Arbeitsfeldern auf. Auch wurde die erwartete Zahl an Teilnehmenden im gesamten Projekt mit 445 übertroffen, in den einzelnen Fortbildungsinstrumenten jedoch nicht immer in der gewünschten Weise erreicht. Während weit mehr Personen als antizipiert an den Fachtagen teilnahmen, und die Anmeldungen zur dreitägigen Einführung in professionelle Opferhilfe im letzten Durchgang schnell die maximale Teilnehmendenzahl erreichte, blieb die Nachfrage in den anderen Weiterbildungsinstrumenten hinter den anfänglichen Erwartungen zurück. Verschiedentlich musste nachgeworben werden, damit die Veranstaltungen durchgeführt werden konnten, der Beginn der Zertifikatskurse gar verschoben werden, weil die erforderliche Mindestteilnehmendenzahl nicht erreicht wurde. Auch hätten die Kurse ohne die Förderung durch die Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. zu den gegebenen Konditionen nicht stattfinden können. Die mögliche Erklärung, dass das Praxisfeld Opferhilfe wenig attraktiv erscheint, es eher Unbehagen auslöst und Menschen abschreckt, überzeugt nicht und widerlegt sich angesichts der gut besuchten Fachtage sowie im internationalen Vergleich. Die Hinweise sprechen vielmehr dafür, dass zum einen an vielen Stellen das Bewusstsein fehlt, wie sehr opferhilfebezogene Kompetenzen für das eigene psychosoziale Arbeitsfeld Relevanz entfalten6 und es zum anderen das Einlassen auf eine zeit- und kostenintensive qualifizierende Weiterbildung bezogen auf das Opferhilfethema ist, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Zielgruppen nicht so vielversprechend wirkt, wie vom ado erwartet. Offensichtlich sind die mit Fortbildungsinvestitionen verbundenen arbeitsmarktpolitischen Vorteile nicht in ausreichender Weise vorhanden, was wiederum mit der geringen Anzahl von allgemeinen Opferhilfeeinrichtungen in Deutschland, in denen Fachkräfte Opfer beraten, erklärbar ist.7 Gleichzeitig haben sich die Notwendigkeit und der Nutzen der Weiterbildungsangebote aufgrund der Qualifikationsanforderungen des Arbeitsfeldes, der erhobenen Fortbildungsbedarfe der Zielgruppen und der Auswertung der Weiter6
So wurden bspw. zwei Teilnehmende der Zertifikatskurse durch kürzere Weiterbildungsveranstaltungen des ado auf das Thema „Opferhilfe“ aufmerksam, die sie zufällig im Zuge obligatorisch nachzuweisender Fortbildungen belegten. Dass beide jahrelang im Rahmen Sozialer Arbeit mit jungen Menschen zu tun hatten, die Opfer von Straf- bzw. Gewalttaten wurden, und sie sich gleichzeitig für diesen Aspekt ihrer Zielgruppe erst durch die zufällig gewählte Fortbildung sensibilisierten, macht deutlich, dass die Nachfrage entsprechend spezialisierter Weiterbildungsangebote nicht vorausgesetzt werden kann, sondern durch aktive Angebotsgestaltung die notwendige Sensibilisierung für das Thema und für den eigenen Weiterbildungsbedarf bei vielen überhaupt erst geweckt werden muss. 7 Auch gingen dem ado auf seine Werbemails mehrere Antworten aus dem Feld spezifischer Opferhilfeeinrichtungen zu, die Interesse am Zertifikatskurs bekundeten, jedoch hervorhoben, dass sich kleinere Träger und Selbstständige, die keine öffentlichen Gelder erhalten, schwerlich Fortbildungsmaßnahmen leisten können, die mit den gegebenen Kosten verbunden sind.
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bildungen deutlich bestätigt. Dies legt die Empfehlung nahe, kontinuierlich über die zeitlich kürzer angelegten Weiterbildungsinstrumente – dreitägige Einführungsseminare, Multiplikatorinnenseminare, Fachtage – ein größeres Bewusstsein über die Relevanz professioneller Opferhilfe anzustoßen, Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken sowie die Zertifikatskurse bei Beibehaltung der bewährten Qualität kostengünstiger anzubieten. Dies wird sich jedoch nur mithilfe finanzieller Unterstützung durch Dritte realisieren lassen. Unzweifelhaft kann abschließend festgehalten werden, dass das diskutierte Weiterbildungsprogramm einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe leistet. Literatur Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. (Hg.) (2008): Professionelle Opferhilfe in Deutschland. Standards, Profile, Einrichtungen. Berlin. Arnold, Rolf (Hg.) (2003): Berufs- und Erwachsenenpädagogik. Baltmannsweiler. Arnold, Rolf/Pätzold, Henning (2003): Zukünftige Herausforderungen und Entwicklungstrends der Erwachsenenbildung. In: Arnold, Rolf (Hg.), S. 341–351. Baurmann, Michael C./Schädler, Wolfram (1999): Das Opfer nach der Straftat – seine Erwartungen und Perspektiven. Eine Befragung von Betroffenen zu Opferschutz und Opferunterstützung sowie ein Bericht über vergleichbare Untersuchungen. Redakt. korr. Nachdruck. BKA-Forschungsreihe. Band 22. Wiesbaden. Böhle, Fritz (2009): Erfahrungswissen – die ‚andere‘ Seite professionellen Handelns. In: Geissler-Piltz/Gerull (Hg.), S. 25–34. Combe, Arno/Helsper, Werner (2002): Professionalität. In: Otto u. a. (Hg.), S. 29–47. Ebert, Jürgen (2008): Reflexion als Schlüsselkategorie professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit. Hildesheimer Schriften zur Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Band 16. Hildesheim, Zürich, New York. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter (1998): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Basel. Flick, Uwe (2006): Qualitative Evaluationsforschung. Konzepte, Methoden, Umsetzungen. Reinbek bei Hamburg. Geissler-Piltz, Brigitte/Gerull, Susanne (Hg.) (2009): Soziale Arbeit im Gesundheitsbereich. Wissen, Expertise und Identität in multiprofessionellen Settings. Opladen & Farmington Hills. Hamburger, Franz (2005): Forschung und Praxis. In: Schweppe/Thole (Hg.), S. 35–48. Hartmann, Jutta (2007): Qualifizierung zur professionellen Opferhilfe – Konzeptionelle Eckpunkte eines Praxisentwicklungs- und -forschungsprojekts. In: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. 37. Jg. H. 6, S. 629–639. Hartmann, Jutta (2008): Mit Fachwissen qualifiziert agieren – Ein Fortbildungsprogramm der professionellen Opferhilfe. In: Weiterbildung – Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends. 18. Jg. H. 3, S. 12–15.
Weiterbildung als ein Beitrag zur Entwicklung von Professionalität im Feld der Opferhilfe
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Hartmann, Jutta (2008): Qualifizierung zur professionellen Opferhilfe – bundesweite Fortbildungsangebote für Menschen, die mit Opfern von Straf- und Gewalttaten arbeiten. In: Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V. (Hg.), S. 12–18. Haubrich, Karin/Lüders, Christian (2004): Evaluation – mehr als ein Modewort? In: Recht der Jugend und des Bildungswesens. Zeitschrift für Schule, Berufsbildung und Jugenderziehung. 57. Jg. Heft 3, S. 316–337. Heiner, Maja (2004): Professionalität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven. Stuttgart. Lüders, Christian/Haubrich, Karin (2003): Qualitative Evaluationsforschung. In: Schweppe (Hg.), S. 305–330. Mitscherlich, Margarete (1999): Der irrationale Umgang der Gesellschaft mit ihren Opfern. Frauen und Minderheiten als Opfer krimineller Gewalt. In: Baurmann/Schädler, S. 211–223. Otto, Hans-Uwe/Rauschenbach, Thomas/Vogel, Peter (Hg.) (2002): Erziehungswissenschaft: Professionalität und Kompetenz. Opladen. Schiersmann, Christiane (2007): Berufliche Weiterbildung. Wiesbaden. Schweppe, Cornelia (Hg.) (2003): Qualitative Forschung in der Sozialpädagogik. Opladen. Schweppe, Cornelia/Thole, Werner (Hg.) (2005): Sozialpädagogik als forschende Disziplin. Theorie, Methode, Empirie. Weinheim und München. von Spiegel, Hiltrud (2006): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Grundlagen und Arbeitshilfen für die Praxis. 2. Aufl. München, Basel. von Wensierski, Hans-Jürgen (2003): Rekonstruktive Sozialpädagogik im intermediären Feld eines Wissenschaft-Praxis-Diskurses. Das Beispiel Praxisforschung. In: Schweppe (Hg.), S. 67–90. Wolff, Stephan/Scheffer, Thomas (2003): Begleitende Evaluation in sozialen Einrichtungen. In: Schweppe (Hg.), S. 331–352.
AutorInnen
Friesa Fastie, Dipl. Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin, Systemische Supervisorin (SG), Lösungsorientierte Coach (isiberlin), Leiterin der stationären Jugendhilfeeinrichtung Mädchen-Wohnprojekt Potse in Berlin, Institutsleiterin von RECHT WÜRDE HELFEN – Institut für Opferschutz im Strafverfahren e.V. Bastian Finke, Dipl.-Soziologe, Psychotraumatherapeut (HeilPG), Mediator in Strafsachen. Studium in Berlin und Belfast. 1977–1989 Arbeit mit bürgerkriegsbetroffenen Jugendlichen in Nordirland, Engagement in der nordirischen Friedens- und Versöhnungsarbeit. Seit 1990 Projektleiter von MANEO, einem schwulen Anti-Gewalt-Projekt in Berlin, tätig in der Opferhilfe und Kriminalprävention, Schulungsarbeit bei der Berliner Polizei. Mitarbeit im Präventionsund Ausgleichsfonds im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg und im Geschäftsführenden Ausschuss des „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado). Ursula Gast, PD Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychoanalytikerin, von 2004 bis 2009 Chefärztin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld, ab 2010 in eigener Praxis tätig, Mitglied der Expertengruppe zur Erarbeitung von wissenschaftlich begründeten Leitlinien zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen. Hans-Joachim Görges, Diplom-Psychologe, geb. 1961, Berufstätigkeit u. a. in Suchtberatung, Psychiatrischer Klinik, Psychosomatischer Klinik, Suchtklinik und Beratungsstelle. Freiberuflich als Therapeut, Supervisor und Ausbilder im „institut berlin“ (www.institut-berlin.de) und als Systemischer Lehrtherapeut im Institut an der Ruhr (www.institut-an-der-ruhr.de). Systemischer Therapeut (SG), Hypnotherapeut (M.E.G.), Systemischer Supervisor (SG), Traumatherapeut (IT, ZPTN), Bewegungstherapeut und Pantomime. Lydia Hantke, Diplom-Psychologin, geb. 1960, Systemische Therapie (SG), Klinische Hypnose (M.E.G.), Traumatherapie (u. a. ZPTN, Yvonne Dolan, Maggie Philipps, L. Reddemann), EMDR (EMDRIA), Brainspotting (David Grand) und Supervision (SG). 2002 Gründung von „institut berlin“. Schwerpunkte: Curriculum Psychotraumatologie in Beratung und Pädagogik nach den Standards der DeGPt, Curriculum Hypnosystemische Traumatherapie und Beratung, Supervision. Dozentin am Institut für Traumatherapie Oliver Schubbe
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AutorInnen
und der Alice Salomon Hochschule, beide Berlin, Institut an der Ruhr, Bochum, Autorin diverser Publikationen zu Traumatheorie und -therapie, siehe auch www.institut-berlin.de. Jutta Hartmann, Prof. Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, Diplompädagogin, systemische Supervisorin (SG); Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin; zuvor Vertretungsprofessorin an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim und Leitung des Bereichs Fortbildung im Dachverband professioneller Opferhilfeeinrichtungen „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado). Barbara Kavemann, Dr. phil., Soziologin, Honorarprofessorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Mitarbeiterin des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungInstituts Freiburg, arbeitet in Forschung, Fortbildung und Lehre. Arbeitsschwerpunkt Gewalt im Geschlechterverhältnis, Kinder im Kontext häuslicher Gewalt, sexuelle Gewalt, Prostitution und Menschenhandel. Michael Kilchling, Dr. jur., wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg i. Br., Abteilung Kriminologie (www.mpicc.de), Mitarbeit in verschiedenen internationalen Gremien, u. a. der Expertengruppe zur Ausarbeitung der Europaratsempfehlung R(2006)8 über die Unterstützung für Opfer von Straftaten, Mitglied im Vorstand des European Forum for Restorative Justice und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado). Gesa Köbberling, Diplompsychologin, Beraterin für Opfer rechtsmotivierter Gewalt und Projektleiterin in der „Opferperspektive“ Brandenburg und im Geschäftsführenden Ausschuss des „Arbeitskreis der Opferhilfen in Deutschland e.V.“ (ado). Helmut Kury, Prof. Dr., Prof. h.c. mult, Diplom-Psychologe, geb. 1941, Berufstätigkeit als Assistent am Psychologischen Institut der Universität Freiburg, 1973–1980 und 1989–2006 Wissenschaftlicher Referent am Max-PlanckInstitut für ausländisches und internationales Strafrecht, Forschungsgruppe Kriminologie, Freiburg i. Br., 1980–1988 erster Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover, Ausbilder in Wissenschaftlicher Gesprächspsychotherapie, Lehrveranstaltungen an deutschen und ausländischen Universitäten in Forensischer Psychologie und Kriminologie, Therapie und Gutachten (Prognose, Schuldfähigkeit) bei Straffälligen, zahlreiche Veröffentlichungen zu kriminologischen und viktimologischen Themen.
AutorInnen
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Martina Linke, Kriminalhauptkommissarin, Sachgebietsleiterin Grundsatz in der Zentralstelle für Prävention, Landeskriminalamt Berlin, LKA Präv 2, Lehrbeauftragte für Kriminologie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Beatrice Pawlik ist selbständige Rechtsanwältin und Dozentin in Potsdam mit den Schwerpunkten im Opfer- und Familienrecht. Seit vielen Jahren vertritt sie Opfer von Straftaten und engagiert sich ehrenamtlich in der Opferhilfe des Land Brandenburg e.V. und im Nebenklage e.V. Antony Pemberton, Dr., born 1975, senior-researcher and research coordinator at the International Victimology Institute (Intervict) of Tilburg University. He is a social scientist, whose main research interests include (the psychology of) victims in the criminal justice system, interdisciplinary research into victimrelated justice processes and issues concerning victims of international crimes. He was project-leader of the survey into the legal implementation of the EU Framework Decision on the standing of victims in the criminal procedure and is the author of several publications on this subject. Rosmarie Priet, Diplom-Psychologin, geb. 1965, Gesprächspsychotherapie, Traumatherapie, Leiterin der Opferberatungsstellen der Opferhilfe Land Brandenburg e.V.; Dozentin und Leiterin des Zertifikatskurses zur „FachberaterIn für Opferhilfe“ in Berlin. Carmen Rasquete, adviser and international liaison of APAV (Portuguese Association for Victim Support) has been involved in the past four years in European Projects, specially as manager of Project Victims in Europe. With a degree in sociology, she started to work in APAV as a volunteer, developing tasks related to the statistical unit and also as a victim support worker. Brigitte Zypries, Juristin und Politikerin, 2002-2009 Bundesministerin der Justiz, seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis DarmstadtDieburg, Justitiarin der SPD-Bundestagsfraktion.