E.H.G. Lutz
Die goldenen Hände Inhaltsangabe Kühner Wagemut, schöpferische Gedanken, strategische Planung, unerklärlic...
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E.H.G. Lutz
Die goldenen Hände Inhaltsangabe Kühner Wagemut, schöpferische Gedanken, strategische Planung, unerklärliche Magie begnadeter Chirurgenhände, das sind die Waffen der Streiter in der Arena Operationssaal. Spannungsgeladene Chirurgen-Erlebnisse, authentisch nacherzählt, vermitteln ein packendes Bild der modernen Chirurgie. Keine dichterische Phantasie kann die Dramatik dieser glänzenden Operationsberichte überbieten.
Skalpell Bericht Band Nr. 08/53.001 Spectrum-Taschenbuchverlag in der Scherz Gruppe Bern München Wien Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Lichtenberg Verlages München © by Lichtenberg Verlag München Alle Rechte vorbehalten ›Die goldenen Hände‹ erschienen zuerst in der illustrierten Zeitschrift REVUE Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Vorwort
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igmund Freud, einer der Entdecker der örtlich betäubenden Wirkung des Kokains, vor allem aber als Begründer der Psychoanalyse teils weltberühmt, teils weltberüchtigt, erzählte gern eine kleine Geschichte aus seiner Jugend. Er hatte als junger Arzt in den bäuerlich ›rückständigen‹ Gebieten seiner Heimat Österreich gearbeitet, in Bosnien und der Herzegowina, und er gedachte dieser Zeit immer mit einer gewissen Rührung. »Mein erster Patient da drunten war ein Bauer. Ein stämmiger Mann, wie alle seines Schlags, in seinen frühen Fünfzigern. Ich weiß nicht mehr, was ihm gefehlt hat – wenn ich es je gezoußt habe. Ich konnte ihm nicht helfen, und er starb. Natürlich war ich sehr niedergedrückt. Auch wenn man nicht abergläubisch ist, erfüllt einen der Tod des ersten eigenen Patienten mit panischem Schrecken und dunklen Ahnungen für die Zukunft. Der erste Patient, für den ich ganz allein verantwortlich war, ohne die beruhigende Atmosphäre einer Universitätsklinik um mich zu haben, die einem ein solch übertriebenes Gefühl der Selbstsicherheit mitteilt.« Der alte weise Mann machte eine Pause und meinte dann schmunzelnd: »Was nur wieder beweist, daß wir alle miteinander abergläubisch sind wie die Seeleute und die vom Theater, wenn wir es anderen und uns selbst auch ungern zugeben.« Er zog nachdenklich an seiner schwarzen Zigarre, ohne die er nicht leben konnte, und erzählte weiter: »Am Tage des Begräbnisses machte ich einen Besuch bei der Familie. Und welche Überwindung mich dieser Gang kostete! Wider jedes Erwarten wurde ich freundlich, respektvoll und mit allen Ehren empfangen. Ein Bruder des Verstorbenen trat auf mich zu und sagte: (Es war Gottes Wille, daß er sterben sollte. Sie, Herr Doktor, trifft kein Vorwurf. Ich war überrascht und – lachen Sie nicht – wirklich getröstet. Diese
Primitiven, wie wir sie nennen, haben eine weit noblere Haltung und eine viel tiefere Einsicht in die Natur des ärztlichen Wirkens als unsere arroganten zivilisierten Zeitgenossen, die glauben, mit der bezahlten – oder unbezahlten – Arztrechnung sei die Sache erledigt. Sie haben verlernt, sich zu wundern und demütig zu sein … Ich würde es hier in Wien kaum mehr riskieren, zum Begräbnis eines Patienten zu gehen, ich würde befürchten, die Familie würde darin ein Schuldbekenntnis oder eine Provokation erblicken.« Es sind die Primitiven, von denen Freud mit soviel Achtung sprach, die den Chirurgen zum Zeichen besonderer Achtung ›Mann mit goldenen Händen‹ nennen. Sie haben noch ein Organ für das Magische dieses Berufes, der tief da drinnen, wohin kein Auge dringt, Schmerz stillt, heilt, wiederherstellt. Sie haben auch noch die staunende Bewunderung für die kunstreiche Hand, die solche Wunder vollbringt. Zwar haben die chirurgische Technik und die Technik im Operationssaal heute einen Stand erreicht, dem kein Ding mehr unmöglich ist; aber ein zugespitztes Spezialistentum und das Eindringen des Ingenieurs in die Domäne des Chirurgen, auf der er früher Alleinherrscher war, haben seine Rolle im großen Operationsteam sehr eingeschränkt. Dafür kann er in unserer Zeit Operationen ausführen, an die die alten Chirurgen nicht in ihren kühnsten Träumen zu denken wagten; und Eingriffe, die noch vor zehn, zwanzig Jahren mit einem großen Risiko belastet waren, sind so sicher geworden, wie es ehedem bereits die Kleine Chirurgie war. Ich glaube nicht, daß es mir gelingen wird, dem Leser das Gefühl für die Magie der Chirurgenhand zurückzugeben. Aber ich hoffe doch, daß in den Schilderungen der kühnen Wagnisse der Chirurgenkünstler, der oft am Operationstisch selbst in letzter Sekunde gefaßten Entschlüsse, der schöpferischen Gedankengänge strategisch planender Chirurgenhirne, etwas vom unerklärlichen Zauber der ›Goldenen Hände‹ aufleuchtet. E.H.G. Lutz
Lungenembolie Die Operationsschwester erzählt
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an nennt das immer plötzliche und immer lebensbedrohende Eindringen eines aus geronnenem Blut bestehenden Pfropfens, der die Lungenschlagader verstopft, eine ›Lungenembolie‹. Die Stelle, an der sich dieses Ereignis abspielt, liegt dort, wo sich, dicht über dem Herzen, die Lungenschlagäder in zwei Äste gabelt, von denen der eine zur linken und der andere zur rechten Lunge führt und den beiden Lungenhälften das gesamte Venenblut des Körpers zuführt, damit es in ihnen mit Sauerstoff versorgt werde. Wie kommt es zu diesem, oft wie aus heiterem Himmel eintretenden Ereignis? Die Bildung des Blutgerinnungspfropfens kommt vorwiegend in den Venen der Oberschenkel und des Bedens zustande. Löst sich das Gerinnsel aus der Vene los, so wird es mit dem Blutstrom in die rechte Herzkammer und von da in die Lungenschlagader befördert. Ist der Pfropf sehr groß, so bleibt er an der Gabelung der Lungenschlagader hängen und verstopft dieses Gefäß mehr oder weniger. Wie ein Damoklesschwert hängt die Gefahr der Lungenembolie über dem chirurgischen Patienten und dem Chirurgen, bei jenem das Leben, bei diesem das Werk bedrohend. Hier erzählt eine Operationsschwester die Geschichte einer Lungenembolie und von dem kühnen Versuch eines großen Chirurgen, das drohende Verhängnis aufzuhalten.
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»Lassen Sie, bitte, den kleinen Satz Instrumente in diesem Autoklaven, Schwester Marta. Dr. Wilms will nachher im septischen OPs noch einen Abszeß spalten. Sie sollen ihm dabei helfen«, sagte ich zu meiner Kollegin, der Instrumentenschwester. Dann legte ich Schürze und Handschuhe ab. Während ich den Sterilisationsraum verließ, sagte ich noch: »Auf Wiedersehen. Wenn etwas sein sollte: ich gehe zu Doktor José zum Tee. Um halb sechs bin ich wieder zurück.« Noch bevor Marta etwas sagen konnte, war ich schon draußen. Ich wollte ihren aufgeregten Fragen entgehen. Denn Dr. José den das ganze Krankenhaus in Mißachtung der klinischen Etikette beim Vornamen nannte, war, zumindest bei den Ärztinnen und Schwestern, der beliebteste Mann im Haus. Er war unser Gast aus Bolivien. Dr. José, immer liebenswürdig, chevaleresk und nie ›nervös‹, bildete einen angenehmen Gegensatz zu den anderen angehenden Chirurgen der Klinik, denen die Einhaltung einer mittleren Linie zwischen der Rolle eines Rauhbeins und der einer hysterischen Operettendiva nie gelingen wollte und die deshalb ohne Übergang von der einen in die andere fielen. Während ich im Fahrstuhl zur Privatstation des Chefs hinauffuhr, mußte ich daran denken, wie Dr. José beinahe recht behalten hatte. Er, der gekommen war, um ein fertiger Chirurg zu werden, hatte schnell Gelegenheit, die Kunst des Chefs aus nächster Nähe kennenzulernen: nämlich am eigenen Leib. Als er knapp ein Vierteljahr bei uns war, erkrankte er an Darmverschluß. Der Chef operierte ihn, und wir alle zitterten für ihn. Das Verhängnis wollte es, daß Dr. José einige Tage später einen Rückfall hatte und nochmals operiert werden mußte. Selbst unser optimistischer Chef, der sich sehr schwer entschloß, einen Patienten aufzugeben, schaute in diesen Tagen äußerst besorgt drein und schüttelte traurig den Kopf, wenn er Dr. José besucht hatte. Als Dr. José zum erstenmal auf dem Operationstisch lag, sagte er zu mir, der Operationsschwester, traurig-ironisch lächelnd: »Ich habe einen Ileus, Schwester Gerda, und wir Südamerikaner sterben an so etwas mit Sicherheit. Adios, wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte!« Der Chef und die Kollegen hatten versucht, ihm eine andere, harm2
losere Diagnose vorzumachen, und wir alle nahmen an dieser kleinen Verschwörung teil. Aber José war ein tüchtiger Arzt und wußte Bescheid. Dennoch antwortete ich ihm damals neckend: »Erstens haben Herr Doktor keinen Ileus, wie berufene Autoritäten konstatiert haben, und zweitens stirbt man in Deutschland im allgemeinen und in dieser Klinik im besonderen nicht daran. Bis nachher, Herr Doktor!« Er lächelte noch über meine Worte, als er die Injektion vor der Narkose erhielt, die ihm die Schrecken einer Äthernarkose bei vollem Bewußtsein ersparen sollte. Er lächelte, so glaubte ich zu sehen, sogar noch, als ihm der Narkotiseur die Äthermaske aufsetzte. Trotz allem war er durchgekommen, und die Klinik war sehr stolz darauf. Es kitzelte meine Eitelkeit angenehm, daß er mich als ersten Besuch zu sich gebeten hatte. Als ich bei ihm eintrat, lag er im Bett. Aber er richtete sich mühelos auf, als er mir zur Begrüßung mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegenstreckte. »Hallo, Schwester Gerda, das ist aber nett, daß Sie mich besuchen kommen«, rief er. Unter der olivfarbenen Haut seines Gesichts schimmerte noch die Spitalblässe, aber seine Augen mit den langen seidenen Wimpern, um die ihn alle Frauen beneideten, leuchteten schon wieder. Er klingelte nach dem Tee, und wir versanken augenblicklich in unser Gespräch. Es gab natürlich viel, was ich ihm erzählen mußte. Klinikklatsch und Fachgesimpel, fürchte ich. Die Prinzessin servierte uns den Tee. Schwester Hildegard, unsere Diätschwester, hatte ihr beigebracht, wie man die Tassen zusammenstellte, bevor man sie vorsetzte, und wie man Teller mit Kuchen oder Sandwiches belegte. Nie zuvor hatte sie andere Leute bedient; sie war nämlich eine echte persische Prinzessin, die zur Behandlung zum Chef gekommen war. Zu Hause war sie, wie man hier sagen würde, immer weniger geworden und konnte nichts mehr essen. Der Chef hatte eine ›Magersucht‹ diagnostiziert und ihr eine Kalbshypophyse in den Leib gepflanzt. Daneben hatte er Arbeitstherapie verschrieben. »Wahrscheinlich hilft ihr das mehr als die Drüse«, meinte er damals zur Stationsschwester, die diese Arbeitstherapie zu leiten hatte. Seitdem machte sich die Prinzessin auf der Privatstation nützlich und ge3
dieh prächtig, wenn sie auch bei weitem noch nicht die Formen angenommen hatte, die im Orient, dem Vernehmen nach, als besonders schön gelten. Die Prinzessin hatte wieder Tee gebracht, und Dr. José verstrickte sie in ein Wortgeplänkel in rapidem Französisch, dem ich nicht zu folgen vermochte. Ich dachte gerade darüber nach, womit man diese Art zu sprechen am besten vergleichen könne, Maschinengewehr oder Wasserfall – als ich den Schrei hörte. Hoch, schrill, gellend, unartikuliert und kurz – es war der Aufschrei einer zu Tode erschrockenen Frau. Es riß mich hoch, und ich stürzte auf den Flur hinaus. Irgend etwas hatte mir gesagt, woher dieser Schrei, der so grell die Ruhe der Klinik durchbrach, gekommen war. War es vielleicht der Umstand, daß er, bei aller Verzweiflung, beinahe melodisch geklungen hatte … eher wie ein Bühnenschrei, von einer geübten Stimme ausgestoßen? jedenfalls lief ich zum Zimmer der Sängerin und riß die Tür auf. Ein halbes Dutzend Leute stand um das Bett herum, Besucher offenbar, denen man ansah, daß sie Kolleginnen und Kollegen der Patientin waren. Das Zimmer sah wie ein Treibhaus aus, überall standen Blumen in schönen Vasen herum. Ich ging zum Bett und schob die erstarrten Besucher beiseite. Einer von ihnen hatte wohl den Schreckensschrei ausgestoßen, der mich an einen Bühnenschrei erinnert hatte. Die Patientin lag halb auf dem Rücken, den Oberkörper im grotesken Winkel zum Becken und den Beinen, den Kopf seitwärts auf dem äußersten Bettrand, einen Arm schlaff daneben herunterhängend, die linke Hand in wildem Schmerz an die linke Brust gepreßt. Das schöne Gesicht war aschfahl und mit kaltem Schweiß bedeckt, die Lippen blau unter dem aufgelegten Rouge. Der Atem kam aus dem weit offenen Mund röchelnd und stoßweise. Ich ergriff das linke Handgelenk und suchte den Puls. Weich und sehr schnell war er. Das alles hatte ich früher schon einige Male erlebt und wußte sofort: die Lieblingspatientin des Chefs hatte höchstwahrscheinlich eine Lungenembolie erlitten. Die Disziplin in einer Klinik ist streng. Eigentlich hatte ich als Operationsschwester hier oben nichts zu suchen, bestimmt aber nichts zu 4
sagen. Aber ich schob alle Bedenken beiseite. Der Schwester, die gerade das Zimmer betrat, rief ich zu: »Schnell – Doktor Wilms, sie hat eine Lungenembolie! Und bring gleich Eupaverin und Atropin mit!« Und als ich an ihr vorbei das Zimmer verließ, flüsterte ich ihr zu: »Und schaff, um Gottes willen, die Leute hier weg!« Während ich zum Telefon lief, um den Chef zu benachrichtigen, versuchte ich mich zu erinnern, worin die Behandlung der Sängerin bestanden hatte. Gloria S. war unser Opernstar, die Hochdramatische. Vor einer Woche etwa war sie in die Klinik eingeliefert worden. Sie hatte einen Autounfall gehabt. Er war aber so leicht, daß sie noch selbst anordnen konnte, sie zum Chef zu bringen. Eine kleine Gehirnerschütterung, einige Schnittwunden im Gesicht, in deren Naht der Chef seinen ganzen Ehrgeiz gelegt hatte. Und, ja richtig – da war noch ein abgesplittertes Stückchen Knochen am Knöchel gewesen. Der Chef hatte persönlich den Gipsverband angelegt. Aber das waren alles Kleinigkeiten. Lungenembolien ereigneten sich gewöhnlich nur nach Operationen, wenn die Patienten Krampfadern oder einen schlechten Kreislauf hatten. Außerdem meist nur bei älteren Leuten. Zuweilen aber ereignete sich dieser schreckliche und gefürchtete Zwischenfall ohne jeden ersichtlichen Grund. Die Sängerin war aber höchstens fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre alt, eine große, prachtvolle, vielleicht etwas üppige Erscheinung. Bei dem Bankier mit der Galle war der Chef in Sorge und sah jeden Tag selber nach, bei ihm bestand Emboliegefahr. Sollte ich mich also geirrt haben? Handelte es sich am Ende nicht um eine Embolie, sondern um einen Herzanfall? Auf jeden Fall mußte der Chef benachrichtigt werden. »Schnell, den Herrn Professor«, rief ich dem Mädchen zu, das sich aus der Villa des Chefs meldete. Wenn der Professor am Haustelefon verlangt wurde, mußte immer sofort zu ihm verbunden werden. »Hier ist Schwester Gerda, Herr Professor. Frau S. hat einen Anfall gehabt. Ich mag mich irren – aber ich halte es für sehr ernst – vielleicht eine Lungenembolie!« Der Chef war bewundernswert. Er stellte keine Fragen, seine Stimme 5
klang ruhig wie immer, obgleich ihn die Nachricht tief treffen mußte. »Ich bin in einer Minute drüben«, sagte er, »Sie haben wohl schon das Nötige veranlaßt …« Gerade als ich den Hörer niederlegte, läutete im Haus die Embolieglocke. Der Stationsarzt hatte also Lungenembolie diagnostiziert. Der Chef setzte es immer wieder geduldig jedem neuen Mitglied des Klinikpersonals auseinander. »In dieser Klinik«, dozierte er in solchen Fällen, »lassen wir Patienten, die eine Lungenembolie haben, nicht einfach sterben. Wir operieren sie, wenn Abwarten keine Aussicht verspricht. Es gibt vorläufig kein Mittel, eine solche Embolie zu verhindern oder vorherzusehen. Wir sind aber nicht dazu da, diesen Ereignissen fatalistisch zuzusehen und auf einen günstigen Ausgang zu hoffen. Jeder muß daher wissen, was zu tun ist, und so schnell wie möglich handeln. Zuerst müssen sofort Eupaverin und Atropin intravenös gegeben werden.« Aus dieser Einstellung des Chefs, daß bei jeder Lungenembolie, die sich nicht schnell besserte, interveniert werden müsse, war die Organisation entstanden, die auf der Welt wohl einmalig war. Zwar haben viele chirurgische Kliniken ein Embolieinstrumentarium ständig in Bereitschaft. Aber die Operation wird sehr selten ausgeführt. Die vorbeugenden Maßnahmen gegen Thrombosen und Embolien sind ausgebaut worden, und die Lungenembolien sind seltener geworden. Seitdem Kirschner vor über vierzig Jahren zum erstenmal bei einer Näherin die Operation vornahm und unser Chef sie sechsmal ausführte, haben nur noch schwedische Chirurgen darüber berichtet. Vielen Ärzten ist die Operation mißlungen. Sie sind der Meinung, daß ein Patient sich auch ohne Operation erholt, wenn er Glück hat. Unsere Erfahrungen auf diesem Gebiet waren anders. Manche Patienten, die eine massive Lungenembolie haben, sterben binnen Sekunden bis Minuten. Ein oder auch mehrere Pfröpfe aus geronnenem Blut, die meist aus einer Beinvene herrühren, gelangen von dort mit dem venösen Blut in die rechte Herzkammer. Diese schleudert sie in die große Lungenarterie, die Pulmonalis, und hier bleiben sie stecken und verstopfen das Blutgefäß. Die Folgen sind katastrophal. 6
Kein Blut kann mehr zur Lunge gelangen und Sauerstoff aufnehmen, so daß die Patienten unweigerlich ersticken. (Sie sterben oft schon vorher an dem Schock, den der Verschluß der Arterie auslöst.) Andere Patienten erholen sich langsam vom Schock, wenn der Pfropf zu klein war, um das Gefäß völlig zu verstopfen, und in einen kleineren Ast der Pulmonalis wanderte, wo er nicht mehr akut lebensbedrohend wirkt. Wenn sich nicht in der Umgebung des Thrombus in der Folge das Gewebe infiziert, hat das Ereignis für den Kranken meist keine weiteren Folgen. Eine dritte Gruppe von Kranken mit Lungenembolie überlebt zwar den. Schock, aber ihr Zustand bessert sich nicht oder wird schlechter. Von Minute zu Minute wird ihr Puls schwächer, die Atmung weniger. Es gibt für diese Gruppe eine einzige Chance, die aber nur für wenige Minuten existiert: wenn es gelingt, den Blutpfropf aus der Ader dicht über dem Herzen noch rechtzeitig zu entfernen, kann das Leben weitergehen. Die Organisation des Chefs, auf eine ganz bestimmte und noch dazu ungemein seltene Operation eingestellt, trat jetzt in Aktion. Höchstens ein- oder zweimal im Jahr kam es dazu. Zugleich mit mir betraten Ärzte und Schwestern den Operationssaal; noch keine fünf Minuten waren vergangen, seitdem ich das Zimmer der Sängerin verlassen hatte. Keine langwierigen Waschungen der Hände erfolgten. Sie wurden in dünne Jodlösung und Alkohol getaucht, die in Becken sofort bereitgestellt worden waren. Für die vorgeschriebenen Waschungen blieb keine Zeit. Eine Schwester entnahm den Autoklaven Operationsmäntel und Schürzen, die immer für diese Operation steril bereitlagen. Sterile Gummihandschuhe wurden über die Hände gezogen, ein trickreiches Geschäft, bei dem es gilt, die Außenseite des Gummis nicht zu berühren. Fast gleichzeitig mit den anderen war der Chef eingetroffen. Er stand am Operationstisch, und während ich ihm den Mundschutz umband, die Haube aufsetzte und er sich die Handschuhe anzog, betrachtete er die Patientin. Immer lag im sterilen Ops ein Satz Instrumente in einem Autoklaven bereit, gesäubert und sterilisiert, der nur für Lungenembolien verwendet wurde. Die Instrumentenschwester hatte diesen Satz auf dem 7
Tischchen neben dem Operationstisch ausgebreitet: Scheren, Zangen, Skalpelle, Sonden, Gefäßklemmen aller Art, Pinzetten, Nadeln, Spritzen und die großen Wundhaken. Auch die Spezialinstrumente für diese Operation lagen bereit: Gefäßklemmen und eine Faßzange, Polypenzange genannt, für das Blutgerinnsel. Sie legte, als ich jetzt hinzutrat, gerade Unterbindungs- und Nahtmaterial zurecht. »Bringen Sie noch einen Satz Seide für die Gefäßnaht, er will manchmal andere Nummern«, flüsterte ich ihr zu und begann damit, Catgut einzufädeln. Das war zwar nicht eilig, aber ich war nervös, und meine Hände mußten etwas zu tun haben. Immerhin war die Operation einer Lungenembolie auch für unsereinen eine dramatische Sache, und ich hatte eine ähnliche Empfindung, wie man sie – so vermute ich – vor einem Bühnenauftritt oder vielleicht noch mehr vor einem Wettlauf hat. »Das macht das Adrenalin«, hatte der Chef mir mal erklärt, »es läßt die Finger hüpfen – habe das auch, wenn's hart auf hart geht.« Man sah es ihm jetzt nicht an. Er stand da, die Augen auf das Gesicht der Kranken geheftet. Es sah verfallen und jenseitig aus. Der Chef mußte eine sehr schwere Entscheidung treffen. Angehörige haben kein Verständnis dafür, wenn ein Patient auf dem Operationstisch bleibt. »An den Folgen einer Operation gestorben …«, heißt es dann in den Todesanzeigen. Daß er ohne Operation mit aller Sicherheit stürbe, davon ist nicht mehr die Rede. Vielleicht aber dachte der Chef gar nicht an diese Dinge. Vielleicht dachte er daran, daß er die Frau operieren mußte, mit der ihn Jahre der Freundschaft verbanden und die er als Künstlerin hochschätzte. Der Körper der Sängerin war mit Tüchern völlig abgedeckt. Nur das Operationsgebiet war frei, die Gegend über dem Herzen. Die kräftigen großen Brüste zeichneten sich unter der Umhüllung ab, sie hoben und senkten sich nicht. Atmete sie überhaupt noch? Alles war vorbereitet, das Operationsgebiet mit Alkohol gereinigt und mit Jod bestrichen; ich hatte, wie ich zu meinem Erstaunen bemerkte, das Skalpell in der Hand. Mit drei Fingern hielt ich es, dicht hinter der Schneide, um es, den Griff voraus, dem Chef hinüberzureichen, wenn er das Zeichen 8
geben würde. »Puls am Handgelenk nicht tastbar«, meldete der Assistent, »am Hals etwa 120 Pulsschläge, äußerst schwach!« »Los, wir operieren«, der Chef sagte es ohne Hast und ohne Erregung in der Stimme. Er hatte entschieden, jede Aussicht auf einen gutartigen Verlauf der Embolie war dahin. Ich reiche dem Chef das Skalpell hinüber und nehme Gefäßklemmen auf, die jetzt sofort gebraucht werden würden. In Minuten hatten sich all diese Vorbereitungen und die schwerwiegenden Entscheidungen abgespielt. Lautlos, fix, ohne eine überflüssige Geste, einen zwecklosen Handgriff. Reibungslos griffen die Räder der Organisation ineinander, reibungslos, wie ein wohlgeölter Mechanismus schnurrte sie ab. Die Patientin hat keine Narkose erhalten, sie ist überflüssig, denn die Kranke ist tief bewußtlos und jenseits allen Schmerzes. Der Narkotiseur hatte der Patientin aber dennoch die Narkosemaske vor Nase und Mund geschnallt. Sie erhält durch den Überdruckapparat reinen Sauerstoff aus einer Stahlflasche zugeführt. Diese künstliche Atmung gewährleistet wenigstens für das wenige Blut, das möglicherweise noch durch die Lungen zirkuliert, eine vollwertige Versorgung mit Sauerstoff. Der Chef legt den Schnitt vom Brustbein aus entlang der zweiten Rippe zehn Zentimeter nach links außen, dann, vom gleichen Ausgangspunkt am Brustbein entlang nach unten. Es ist ein T-förmiger Schnitt, der sofort weit klafft. Ich reiche dem Assistenten Tupfer und Klemmen zu. Sie klemmen blutende Stellen ab, aber die nötigen Unterbindungen der Blutungen fallen weg. Während ich automatisch Handgriffe ausführe, Instrumente reiche und die Hände im Operationsfeld beobachte, fällt mir etwas völlig Abwegiges ein. Schnelligkeit, Geschwindigkeit ist das Wesentliche dieser Operation, das Kunststück dabei. Liszt soll einmal bei einem seiner Klavierstücke dem Pianisten vorgeschrieben haben: sehr schnell zu spielen … schneller werden … so schnell wie irgend möglich … und, ein Stückchen weiter, noch schneller. Mit dem Messer hat der Chef den Hautmuskellappen von den Rippen gelöst, schon schneidet er die Knochenhaut zweier Rippen ein, der Assistent ergreift die Schnittränder und zerrt den Spalt auseinander, das Skalpell schneidet längs der zweiten und dritten Rippe in das Pe9
riost, die häutige Hülle der Rippen, ein und durchschneidet dann die Rippenknorpel am Brustbein, und – ich reiche die Rippenschere hinüber – weit außen mit leisem Krachen werden die beiden Rippen abgetrennt, die schmalen Knochengebilde herausgenommen. Der Chef schont die neben dem Brustbein verlaufende Brustarterie. Und während die eine Hand des Operateurs die Rippenstücke herauslegt, drängt die andere Hand schon eine Falte unter das Brustbein zurück, die das Brustfell hier bildet. Das Herz wird sichtbar. Ich reiche der jetzt freien rechten Hand des Chefs ein neues Skalpell, es vollführt einen kurzen Schnitt in eine Falte, die ein Assistent mit einer Hakenpinzette aus der Haut des Herzbeutels hochgezogen hat. Eine Schere erweitert den Schnitt, Klemmen greifen nach den Schnitträndern und ziehen sie auseinander. Weit klafft jetzt der locker um das Herz liegende Beutel. Die großen Gefäße, Pulmonalis und Aorta, liegen, dort wo sie aus dem Herzen austreten, jetzt frei. Wir beugen uns alle etwas vor, um es zu sehen. Die Lungenschlagader ist zum Bersten mit angestautem Blut gefüllt. Ich erhasche einen schnellen Blick auf den oberen Teil des roten, feuchtschimmernden Herzens, und Schreck durchfährt mich, als ich sehe, daß es sich nicht mehr bewegt. Sonst sieht man es pulsen, auf und ab, auf und ab … Die Stimme des Chefs läßt mich auffahren, und ich schäme mich, denn ich muß, ohne es zu bemerken, einen Augenblick gezögert haben. »Weiter«, sagt die Stimme, »es ist sehr schwach, das Herz, wir müssen uns beeilen!« ›… so schnell wie möglich … noch schneller‹, denke ich, und ein Gefühl großen Glücks überkommt mich. ›Er macht weiter‹, denke ich, ›er wird es schaffen – noch lebt sie …‹ über dem Herzen liegen jetzt, nach hinten in den Brustkorb laufend, Aorta und Pulmonalis, zugänglich geworden. Aber der Zugang ist schwierig. Der Chef geht jetzt, ohne seinen Weg mit den Augen kontrollieren zu können, mit dem Zeigefinger von links außen unter die beiden ineinander verschlungenen Gefäße und bahnt einen Weg für eine schlanke Sonde. Diese Sonde, ein Spezialgerät für diesen Teil der Operation, gleitet am Finger entlang 10
unter die beiden Schlagadern, durch die alles Blut vom Herzen zum Körper passieren muß. Es gibt keinen anderen Weg. Neben dem Brustbein geht jetzt der Zeigefinger unter die Adern und sucht in der Tiefe die Sonde, trifft sie und geleitet das von der anderen Hand nachgeschobene Instrument jenseits nach außen. Die Sonde ist durch. Der gekrümmte Metallstab liegt jetzt unter den beiden Adern, seine Enden stehen rechts und links daneben. Bei aller angestrebten Schnelligkeit muß die Manipulation mit der Sonde sehr sorgfältig und ohne jede Gewaltanwendung ausgeführt werden. Ein Abgleiten der Sonde in diesem Gebiet würde unnötige und schwer zu beseitigende Komplikationen mit sich bringen. Jede Unterbrechung der Operation durch einen Zwischenfall wäre mit der Gefahr verbunden, die ein Zeitverlust mit sich bringt. Das eine Ende der Sonde ist mit einem Bajonettverschluß ausgestattet. An ihm wird ein dünner Gummischlauch befestigt, der unter dem Zug der Sonde im Brustkorb verschwindet, unter die beiden Schlagadern gezogen wird und auf der anderen Seite wieder erscheint. Der Assistent ergreift die beiden Enden des Schlauchs und zieht an. Von diesem Augenblick an bleiben dem Chirurgen genau fünfundvierzig Sekunden – dreiviertel Minuten –, um die Pulmonalis wieder durchgängig zu machen. Fünfundvierzig Sekunden – sechzig Pulsschläge – oder zehn Atemzüge. Durch den Zug des Schlauchs treten die beiden Adern, die große Körper- und die Lungenschlagader, weiter nach oben und werden gut sichtbar. Gleichzeitig klemmt der Schlauch sie gegen das Herz hin ab. Kein Tropfen Blut kann jetzt mehr vom Herzen in die Lunge gelangen. In größter Eile muß der Blutpfropf nun gefunden sein, wenn die Patientin eine Chance haben soll. Rechts und links der Mitte der Lungenschlagader hebt der Assistent jetzt das Gefäß mit zwei Pinzetten an, und das Skalpell des Chirurgen fährt der Länge nach zwischen den Pinzetten in die Lungenschlagader und setzt einen kleinen Schnitt von ein bis zwei Zentimeter Länge. Kein Blut strömt heraus, die Gummiklemme dichtet ab. Während kleine Klemmen den Schnitt in der Ader offenhalten, fährt die schlanke 11
Polypenzange in der Hand des Chirurgen in die Ader, Richtung vom Herzen weg, schräg nach oben und hinten. Einige Zentimeter oberhalb des Schnitts gabelt sich die Lungenschlagader in zwei Äste, von denen der eine zur rechten, der andere zur linken Lunge führt. Blutpfröpfe legen sich mit Vorliebe über diese Gabelstelle und rühren sich nicht weiter. Sie ›reiten‹ auf dieser Verzweigung der Lungenschlagader. Man würde den Pfropf mit Sicherheit und unter Kontrolle des Auges finden, wenn man an die Gabelstelle herankönnte und den Schnitt an dieser Stelle in die Ader legen könnte. Aber das ist ohne eine Operation, die mindestens eine halbe Stunde dauern würde, schlecht möglich. Denn dicht oberhalb des Aderschnittes endet der Herzbeutel, der das Herz und je ein kurzes Stück von Aorta und Pulmonalis umschließt, dort, wo sie ins Herz einmünden. Ich habe unbewußt zu zählen begonnen, als der Chirurg die Faßzange in das Loch in der Aderwand führte. E-i-n-e Z-w-e-i-e. D-r-e-i-e … Die Zeit von dreiviertel Minuten reicht gut aus, um dreimal in jeden Ast der Ader mit der Zange einzugehen, sie zu schließen und wieder herauszuziehen. Die Zange greift im Dunkeln. Jetzt kommt sie heraus. Sie hält einen fingerlangen Blutpfropf in den Backen, der ins Becken fliegt. Er sieht aus wie eine Alraunwurzel, ein Männchen mit langem Oberkörper und kurzen Beinchen. Wieder fährt sie ein, kommt zurück … nichts. Der andere Ast ist dran. Die Zange tastet die Aderwand ab. Nur ein fast übernatürliches Feingefühl der Hand vermag den durch die Zange übermittelten Widerstand zu verspüren, den ein weicher Blutpfropf an der glatten Wand der Ader verursacht. Der Chef hat dieses Feingefühl, und die Zange findet noch ein kleineres Bruchstück des Pfropfs. Der Chirurg deckt mit dem Daumen den Schnitt in der Ader. »Nachlassen …«, sagt er, und der Assistent lockert den Gummischlauch. Ein gefährliches Manöver, aber man muß es riskieren. »Wieder anziehen«, die Stimme des Chefs ist unerschüttert. Jetzt muß es sich zeigen, ob die Passage frei ist. Ein Blick überzeugt den Chirurgen, daß das Blut geflossen ist. (Bei einer früheren Operation hatte das Herz bei dieser Probe einen weiteren Embolus herausbeför12
dert!) Ich habe schon die Spezialklemme in der Hand und reiche sie. Der Chef legt sie so an, daß die Wunde in der Ader dicht ist, unter der Klemme aber ein Teil des Arterienrohres von Blut passiert werden kann. Das richtige Ansetzen dieser Klemme ist mit das Schwierigste bei dieser Operation. In den Händen des Chefs sah die knifflige Arbeit wie ein Kinderspiel aus. Im Nu sitzt die Klemme. Jetzt wird sofort die Schlauchklemme gelockert, das Blut strömt wieder – hoffentlich. Das Hindernis ist beseitigt, aber das Herz bewegt sich kaum mehr. Schlaff liegt es da, ohne sichtbare Bewegung. Nur ein Zucken geht unregelmäßig darüber hin. Es ist praktisch tot. Noch immer kann das Wagnis mißlingen, alle Mühe umsonst sein. Die Hand des Chirurgen greift in den Herzbeutel, seine Finger umspannen den Herzmuskel und ziehen sich vorsichtig zusammen, öffnen sich, pressen wieder … ganz leicht und rhythmisch, einmal in jeder Sekunde. Der Chef hat viele Menschenherzen in der Hand gehalten, wie mag es bei diesem sein … Das Herz schlägt! Ich sehe es mit meinen Augen. Vieles von den Vorgängen konnte ich nur flüchtig erhaschen, das meiste in dem Gewirr von behandschuhten Händen und metallischen Instrumenten, das ein Operationsfeld bietet, nur wissend ahnen. Aber das Herz habe ich wieder schlagen sehen. Es ist nicht der Umfang und die Schlagzahl eines gesunden Herzens. Irritiert hebt und senkt es sich nur wenig und arbeitet viel zu schnell und unregelmäßig. Aber es schlägt, und bei dieser ganz auf eine höchst unsichere Chance abgestellten Operation begrüßen wir auch diese mangelhafte Herztätigkeit als einen Silberstreifen. Unter anderen Umständen wäre sie ein Anlaß für höchste Besorgnis. Endlich kann ich dem Chef die feine Nadel mit dem Seidenfaden reichen, mit der er eine fortlaufende Naht über dem Schnitt in der Aderwand legt, sehr sorgfältig und peinlich exakt. Diese Naht muß unbedingt dicht sein, und sie muß es bis mehrere Tage nach der Operation bleiben. Wie viele Patienten sind schon durch eine Naht verblutet, die unter dem Zwang zu größter Eile zu locker ausgefallen war. Dann endlich kann die schmale Klemmzange, die unter dem Schnitt die Aderwände umschlossen hatte, weggenommen werden. Ungehemmt kann endlich das Blut wieder durch die genähte 13
Schlagader strömen. Die Chirurgen holen Versäumtes nach, unterbinden blutende Gefäße hinter den Klemmen mit Catgut, sorgfältig werden der Herzbeutel und die Hautwunde genäht. Als wir noch damit beschäftigt sind, sehen wir, wie sich die Brust der Patientin hebt. Der erste tiefere Atemzug. Sie ist noch immer bewußtlos und wird es noch Stunden bleiben, auch wenn alles gut geht, was durchaus nicht sicher ist. Knapp zwanzig Minuten nach der Embolie hatte das Herz wie der Blut in die Lungen und den Körper gepumpt. Vierzig Minuten nach dem Anfall lag die Kranke schon auf der Wachstation. Wird sie die nächsten zwei Tage überleben? Dies scheint die kritische Zeit nach dieser Operation zu sein; der Chef hatte zwei Patienten nach gelungenem Eingriff innerhalb dieser Frist verloren. In der zweiten Nacht nach dem Eingriff kam die Krisis. Am Abend dieses Tages, als ich mich schlafen legte, ging es der Sängerin sehr schlecht. Sie war bei Bewußtsein gewesen, wenn auch leicht verwirrt, und hatte es wieder verloren. Die Herzaktion hatte sich verschlechtert, sie verfiel zusehends. Der Chef war bei ihr, als ich einen Blick in ihr Zimmer warf, in das man sie gelegt hatte, als man das Ende nahen sah. Ich konnte nicht helfen, Krankenpflege war nicht meine Aufgabe. Mit zwei Tabletten Luminal legte ich mich hin und schlief durch. Am nächsten Morgen stand ich wieder im Operationssaal. Ich erwartete nicht, den Chef zu sehen. Ich war überzeugt, daß er abgesagt hatte und sein erster Assistent operieren würde. Ich hatte mit niemandem etwas Persönliches an diesem Morgen gesprochen. Zu meinem Erstaunen erschien der Chef, glänzend aussehend, offensichtlich gutgelaunt. »Donnerwetter«, dachte ich bei mir, »dieser Mann hat Nerven …« Kurz bevor er zu operieren begann, fragte ich ihn: »Ist sie ruhig gestorben?« Er sah mich erstaunt an. »Gestorben? Wer soll denn gestorben sein?« »Ist denn Frau S. nicht tot?« »Gerda, Sie enttäuschen mich«, sagte er lächelnd, »meine Operationsschwester sollte eigentlich wissen, was im Hause vorgeht. Frau S. 14
hatte heute nacht eine kleine Herzarrhythmie. Sie ist jetzt ganz wohlauf und wird uns in ein paar Monaten eine Brunhilde hinlegen, daß es eine Freude ist.« Wegen der ›kleinen Arrhythmie‹ hatte er die ganze Nacht an ihrem Bett verbracht und das ganze Rüstzeug moderner Medizin zu ihrer Rettung eingesetzt. Mit seiner Vorhersage aber hatte der Chef wie gewöhnlich recht. Ein halbes Jahr später sang Gloria S. wieder die Brunhilde. Die halbe Klinik hatte Freikarten bekommen. Auch Operationen selbst, nicht nur die Männer, die sie ausführen, und die Menschen, an denen sie ausgeführt werden müssen, haben eine Geschichte. Wie die Operation der Lungenembolie erdacht worden ist und wie ihre Durchführung endlich möglich wurde, das ist eine dramatische und an Fehlschlägen reiche Episode im Werdegang der Chirurgie. Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts nahm die Chirurgie einen riesigen Aufschwung. Zahlreiche Leiden wurden auf Grund des Ausbaues der chirurgischen Technik, des Instrumentariums, der Narkose, der allgemeinen und der Röntgendiagnostik einer chirurgischen Intervention zugänglich. Zugleich aber wuchs mit der Zahl der Kranken, die operiert werden konnten, auch die Operationsgefährdung. Hier war es vor allem die Lungenembolie, die das gelungene Werk des Chirurgen häufig zunichte machte. Im Jahre 1906 hatte der große Trendelenburg an seiner Klinik eine unverhältnismäßig große Zahl von Lungenembolien zu verzeichnen, von denen ein hoher Prozentsatz tödlich verlief. »Hier muß endlich etwas geschehen«, sagte Trendelenburg zu seinen Mitarbeitern, »wir müssen endlich darangehen, gegen diese ständig wachsende Zahl der Embolien etwas zu unternehmen. Wir können heute alte und körperlich schwer geschädigte Kranke operieren, aber was nützt uns das, wenn sie uns nach gelungener Operation an einer Embolie eingehen. Ich sehe mir das nicht länger mit an!« Trendelenburg war Chirurg, und als solcher dachte er in chirurgischen Bahnen. Bei Tierversuchen und Operationen an Leichen erkannte er, daß es möglich war, Pfröpfe aus der Lungenschlagader ver15
hältnismäßig einfach herauszuholen. Diese Experimente gaben ihm den Mut, den Versuch auch an Kranken zu wagen. Aber niemals gelang ihm die kühne Operation. Während seine Tiere, denen er Blutpfröpfe in eine Ader stopfte, um sie vom Blutstrom zum Herzen und durch dieses in die Lungenschlagader befördern zu lassen, den folgenden schweren Eingriff so gut wie immer überstanden und lustig weiterlebten, war ihm ein ähnlicher Erfolg bei seinen Patienten nicht vergönnt worden. Erst einem seiner Schüler gelang einmal der Eingriff. Aber sein Patient starb dennoch am fünften Tag nach der Operation. Auch andere Chirurgen versuchten ihre Emboliepatienten zu retten. Keinem gelang es in der damaligen Zeit. Wieder war das beste Resultat merkwürdigerweise ein fünftägiges überleben des Eingriffes. Keiner hatte zunächst Erfolg, und man sah mit scheelen Augen auf die ›Trendelenburgsche Operation‹. Erst 1924 brach Professor Kirschner in Königsberg das Eis. Es gelang diesem kühn zupackenden Chirurgen, bei einer achtunddreißigjährigen Näherin den lebensbedrohenden Blutpfropf aus der Pulmonalis herauszubefördern. Seine Patientin, bei der er einen eingeklemmten Schenkelbruch operiert hatte, erlitt am fünften Tag nach der Bruchoperation eine schwere Lungenembolie. Am dritten Tag nach der Operation war die Temperatur der Kranken ohne erkennbare Ursache auf 38,5 Grad gestiegen. Der für die Kranke verantwortliche Assistent setzte die Kranke im Bett zur Untersuchung der Lunge auf, da er vermuten konnte, daß sich die Kranke eine Lungenentzündung zugezogen habe. Er hörte zwar nicht die typischen Geräusche dieser Krankheit über der Lunge, aber nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte, geschah etwas Furchtbares: »Beim Zurücklegen wirft die Kranke plötzlich beide Arme in die Luft, preßt dann die Hände in höchster Angst auf die Brust, fällt leichenblaß in die Kissen zurück und ringt krampfhaft nach Atem«, schilderte Professor Kirschner den Hergang und fuhr fort: »Wir beobachteten sie etwa acht Minuten. In diesen acht Minuten wird der Zustand von Minute zu Minute zusehends schlechter und ist bald kata16
strophal. Der anfangs wechselnde Puls ist nicht mehr zu fühlen, die Kranke atmet nur noch schwach, sie macht uns deutlich den Eindruck einer Sterbenden, mit der es ohne Zweifel in wenigen Minuten zu Ende sein muß. Die Kranke wird nun in größter Eile über eine Strecke von 11.5 Meter in den Operationssaal gefahren, und nach kurzer Desinfektion (Hände mit Alkohol, Operationsfeld mit einmaligem Anstrich mit TanninAlkohol) wird die Operation mit dem bei uns stets bereitliegenden Embolie-Instrumentarium fünfzehn Minuten nach Eintritt der Embolie begonnen.« Der Abschluß dieses Berichtes von der ersten gelungenen Embolie-Operation, der bei den Chirurgen in aller Welt damals ungeheures Aufsehen erregte, lautet: »Es folgten nun« – nach gelungener Operation – »noch sorgenvolle Tage. Es traten hohe Temperaturen auf, die Kranke bekam blutiges Sputum, Schmerzen und eine Dämpfung links unten, ein Beweis, daß in den feineren Ästen der Lungenarterie noch Emboli saßen, die zu Lungeninfarkten führten. Der Puls blieb lange Zeit klein und hoch. Eine Infektion der Operationswunde, des Herzbeutels oder der Pleura erfolgte nicht. Die Kranke kann sich wohl noch auf den Eintritt der plötzlichen Atemnot besinnen, aber für die ohne Narkose ausgeführte Operation und die nächsten Tage fehlt ihr jede Erinnerung. Allmählich wurde die Herztätigkeit kräftiger, und das Allgemeinbefinden hob sich. Drei Wochen nach der Operation konnte die Kranke das Bett verlassen. Fünf Wochen nach der Operation überstand sie anstandslos die Reise von Königsberg nach Berlin, so daß sie auf dem Chirurgenkongreß geheilt vorgestellt werden konnte. Die letzte Untersuchung fand zehn Wochen nach der Operation statt. Die Kranke war vollkommen gesund und arbeitsfähig. Sie hatte seit der Operation acht Pfund zugenommen. Nur noch die Narbe auf der Brust, der Defekt der zweiten und dritten Rippe und eine leichte Pulsbeschleunigung erinnerten an das, was sie vor einem Vierteljahr durchgemacht hatte.« Später ist die operative Technik von anderen Chirurgen verbessert worden, und die Nachwirkungen der Operation wurden weniger be17
sorgniserregend. Dennoch ist die Operation auf der ganzen Welt kaum mehr als sechsmal von einem Dauererfolg gekrönt worden. Obgleich heute in vielen chirurgischen Kliniken immer ein Instrumentarium bereitsteht, wird der Versuch zu dieser Operation nicht häufig unternommen. Nur die wenigsten Chirurgen haben eine Hand, die glücklich genug ist, sie erfolgreich durchzuführen. A. W. Meyer, am Charlottenburger Krankenhaus in Berlin, war der einzige Chirurg, dem diese Operation mehrmals gelungen ist. Allerdings hat man heute gelernt, durch vorbeugende Maßnahmen mit geeigneten Medikamenten und schonendster Narkosetechnik die Lungenembolien weitgehend zu verhindern. Für den guten Chirurgen ist die technische Durchführung der kühnen Operation verhältnismäßig leicht. Schwierig dagegen ist die Auswahl derjenigen Kranken, bei denen die Operation überhaupt möglich ist. Manches Mal tritt der Tod nach einer Embolie schlagartig nach einigen Sekunden ein, nicht wegen der Größe des Blutpfropfs, der die Blutwege blockiert, sondern weil ein nervöser Reflex, der offenbar von der Gefäßwand der betroffenen Lungenschlagader ausgeht, das Herz trifft. Dann hört das Herz auf zu schlagen, und damit ist der Tod eingetreten. Heute würde ein wagemutiger Chirurg sich auch dadurch nicht davon abbringen lassen, den Versuch zur Wiederbelebung des ›toten‹ Herzens zu unternehmen. Wie wir in diesem Buch erfahren werden, imponiert den Akteuren in einem Operationssaal heutzutage ein Herzstillstand nicht mehr so sehr wie ihren Vorgängern. Für die Chirurgen, die der heutigen Chirurgengeneration unmittelbar vorausgingen, war jedenfalls ein ›Sekundenherztod‹ ein Anlaß, alle Hoffnungen fahren zu lassen und das Messer aus der Hand zu legen. Sie kapitulierten auch bei jenen Kranken, deren Lungenschlagader durch ein besonders mächtiges Gerinnsel plötzlich vollständig verstopft wurde und bei denen der Tod in Minuten eintrat. Nur die Kranken kamen für sie in Betracht, bei denen der Pfropf den Blutstrom in der Lungenschlagader gedrosselt hatte. Von diesen Kranken übersteht ein Teil die Katastrophe und wird gesund, ein anderer Teil stirbt innerhalb einer Zeit, die zwischen zehn und sechzig Minuten liegt, unter immer zunehmender Verschlechterung der Atmung 18
und der Herztätigkeit. Diese Gruppe ist es, bei der der Eingriff nötig und erfolgversprechend ist. Von der Erfahrenheit des Chirurgen hängt es ab, diese beiden Gruppen auseinanderhalten zu können. Es ist anzunehmen, daß wir von dieser kühnsten aller Operationen, bei der es so sehr auf Entschlußsicherheit, Entschlußfreudigkeit und Geschwindigkeit der Ausführung ankommt, in Zukunft noch viel hören werden.
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Das Herz im Panzer Drama um eine vom Tod Erweckte
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er Patient schlug die Augen auf und blickte um sich. Sein Blick wanderte langsam durch den Raum, und als er die Schwester gewahrte, die lesend neben ihm saß, lächelte er leise. Dann schlag er die Augen wieder. Die Schwester hatte sich über ihn gebeugt und betrachtete ihn besorgt. »Herr Professor …«, rief sie den Patienten leise an, »Herr Professor!« Wieder öffnete der Kranke die Augen. »Schon gut, Schwester Anna«, sagte er, »ich bin schon wieder da.« Dann richtete er sich auf und wehrte mit einer Handbewegung den Versuch der Pflegerin ab, ihn daran zu hindern. Er griff nach der Armbanduhr, die auf dem Nachttisch lag, und hielt sie sich vor die Augen. Die Ätherdämpfe, die sein Hirn noch umnebelten, hinderten ihn, genau zu sehen. Er hob den Kopf und hielt die Hand mit der Uhr weiter ab. »Fünfunddreißig Minuten«, sagte er vor sich hin, »also nicht mehr operabel …« Der Patient ließ sich in die Kissen zurücksinken und bildete zur Decke. Sein Gesicht verriet nichts. Die Schwester warf ihm einen entsetzten Blick zu. Sie klingelte und rief der eintretenden Hilfsschwester zu: »Rufen Sie Herrn Oberarzt B. der Herr Professor ist erwacht!« Als hätte sie etwas vergessen, ging sie zur Tür und rief die Botin nochmals zurück. Sie schloß hinter sich die Tür zum Krankenzimmer und flüsterte aufgeregt der Hilfsschwester etwas zu. Der Patient lag in die Kissen gelehnt und lächelte unverhohlen spöttisch. 20
Als der Oberarzt mit einem anderen Arzt eintrat, trug das Gesicht des Patienten immer noch den gleichen ironischen Ausdruck. »Ich habe das Operationsprotokoll mitgebracht«, sagte der Oberarzt. »Soll ich vorlesen, Herr Professor?« Der Patient nickte. »Probe-Laparotomie (Professor Dr. B. Oberarzt der Klinik)«, las der Arzt vor, »Bauchdeckenschnitt, daumenbreit von der Spitze des Schwertfortsatzes beginnend, parallel dem linken Rippenbogen …« Sachlich, ohne die Stimme zu heben oder zu senken, leierte der Chirurg das Protokoll herunter. Der Patient hörte uninteressiert zu. Erst als der Vorlesende zu dem Teil des Protokolls gelangte, in dem es hieß, daß der im Operationssaal anwesende Pathologe sich durch Augenschein von dem Befund überzeugt hätte, blickte er auf. Der zweite Arzt, der zugleich mit dem Oberarzt hereingekommen war, stand am Fuße des Bettes. Es war der Vorstand der Pathologie. Tatsächlich hatte er der Operation beigewohnt. »Es handelt sich also um eine Tuberkulose des Magens, die allem Anschein nach isoliert ist. Wir werden sie wohl beherrschen«, endete der Oberarzt. »Wir haben einen Lymphknoten exstirpiert und können Ihnen, Herr Professor, in diesen Tagen die Präparate zeigen.« »Gute Arbeit, Herr Kollege, ich danke Ihnen«, sagte der Patient, als die Besucher sich anschickten, das Krankenzimmer zu verlassen. Nur ein feines Ohr hörte den Sarkasmus in der Stimme. Die beiden Herren traten draußen im Gang an ein Fenster und zündeten sich Zigaretten an. »Er glaubt uns kein Wort.« Der Oberarzt sagte es traurig. »Wie sollte er«, antwortete der Pathologe, »einen alten Fuchs fangen Sie nicht mit solchen Märchen. Er hat sie selber zu oft erzählt.« »Sie trauen sich ja auch nicht, es ihm zu sagen«, meinte der Oberarzt. Der Pathologe nickte. Dann sagte er: »Er hat noch drei, vielleicht sechs verhältnismäßig beschwerdefreie Monate. Er kann sein Buch noch fertigmachen. Warum soll man ihm diese Zeit durch die Wahrheit vergällen? Wir müssen eben immer wieder versuchen, ihn zu überzeugen …« 21
Das gelang nicht. Der kranke Vorstand der Klinik konnte nach zehn Tagen aufstehen, aber er blieb im Krankenhaus. Eines Morgens, ganz früh, fand man ihn in einer Badewanne. Er hatte sich im kleinen Operationssaal in Lokalanästhesie kunstgerecht die Femoralis, eine starke Arterie in der Leistenbeuge, freipräpariert, das Blutgefäß abgeklemmt und dann durchschnitten. Neben der Badewanne standen zwei kleine Flaschen Sekt, die er geleert hatte. Im warmen Bad hatte er die Klemme gelöst. Der Chirurg hatte eine Abwandlung des Freitods der Römer gewählt, die sich im Bad von Sklaven die Pulsadern öffnen ließen. Auf dem Tisch des Arztes fand man einen Zettel mit der kurzen Nachricht: »Professor B. soll wie bisher meine Vertretung wahrnehmen. Ich denke, daß das Panzerherz jetzt operabel ist. Die letzten Seiten meines Manuskripts finden sich im Schrank. Bitte, an den Verleger zu senden. Leben Sie alle wohl!« »So tritt ein Chirurg ab«, sagte, Trauer und Bewunderung in der Stimme, der Oberarzt, als er half, den Toten aus der Badewanne zu heben. Die Obduktion zeigte einen Krebs des Pankreaskopfes, der auf den Magen übergegriffen hatte.
* Die Patientin – ›das Panzerherz‹ –, die im Brief des abschiednehmenden Chirurgen erwähnt war, war vor etwa drei Monaten in einem verzweifelten Zustand in die Medizinische Klinik eingeliefert worden. Die achtundzwanzigjährige Frau hatte eine enorme Bauchwassersucht, die Venen am Hals waren prall mit Blut angeschoppt, die Leber stark geschwollen, und fast am ganzen Körper bestand eine ausgedehnte Wassersucht der Haut. Die Frau konnte sich kaum bewegen. Die geringste Anstrengung machte sie völlig atemlos. Wie ein Erstickender schnappte sie nach Luft, wenn sie ein paar Schritte gegangen war. Sie machte den Eindruck einer schwer Herzkranken. 22
Bevor die Ärzte mit der Untersuchung fortfuhren, wurde eine Punktion des aufgetriebenen Leibes durchgeführt. Acht Liter Flüssigkeit wurden dabei zutage gefördert. Die weitere Untersuchung zeigte, daß das Herz wie auch die Nieren organisch gesund waren. Erst die Röntgenuntersuchung brachte die letzte Klarheit. Der Röntgenologe hatte mit sehr harten Röntgenstrahlen, von denen die knöchernen Teile des Brustkorbs beinahe weggewischt wurden, eine Aufnahme des Herzens hergestellt. Das Herz lag auf den Röntgenfilmen als heller Fleck in der Mitte der Brust und war nach rechts herübergezerrt. Bei der Durchleuchtung konnte man kaum eine Pulsation beobachten. Oben, an der Herzbasis, war es auf dem Bild von einem breiten Ring umfaßt, der deutlich hervortrat. »Panzerherz« – oder, wissenschaftlicher, Pericarditis calculosa – lautete die Diagnose. Ein Kalkpanzer hatte sich im Herzbeutel um das Herz gebildet und umschloß es wie ein enges Gefängnis. Der Herzmuskel, der ständig pulsierend die Herzräume öffnet und zusammenpreßt, konnte sich im Kalkkäfig kaum mehr rühren. Die arme Frau war keine Invalide, weil ihr Herz krank war, sondern weil ein starrer Ring es umklammert hielt und seine Bewegungen nahezu völlig abdrosselte. Nur eine operative Entfernung des Panzers konnte das Herz aus seiner Umklammerung befreien. Eine der gefährlichsten und schwierigsten Operationen, die jemals durchgeführt wurden. Als die Diagnose feststand, holte man den Chef der Chirurgischen Klinik zur Konsultation. Der erklärte sich bereit, die Frau zu operieren, wenn es gelingen würde, sie in einen besseren Zustand zu bringen. Die Frau mit dem Panzerherzen wurde die Lieblingspatientin des Chirurgen. Sechsmal mußte die Patientin in den kommenden Wochen noch punktiert werden. Mehr als fünfunddreißig Liter Flüssigkeit wurden abgelassen. Mit größter Behutsamkeit wurden ihr entwässernde Mittel einverleibt, um die Wasserausscheidung des Körpers zu steigern. Am schwersten war es, die Diätbehandlung durchzuführen, die unter weitgehendem Entzug von Trinkflüssigkeit und Salz einhergeht. Immer wieder gelang es dem Arzt, der selber schwer krank war und Mühe hatte, sich aufrechtzuerhalten, die Kranke 23
hochzureißen. Er war der einzige Mensch, der ihr mit kleinen Scherzen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte, wenn er sich mit ihr unterhielt. »Na, Gnädigste«, sagte er einmal, als sie wieder einige Pfund Gewicht verloren hatte, »da soll noch einer sagen, daß wir nicht auf Ihre schlanke Linie sehen!« In seinen letzten Gedanken hatte er noch an seine Lieblingspatientin gedacht und sie seinem Oberarzt ›vermacht‹. So schilderte es Schwester Anna, die dem Professor sehr ergeben gewesen war. Die bösen Zungen in der Klinik aber sagten, er habe sich lieber umgebracht, als den Oberarzt diese Operation durchführen zu sehen, die er selber nicht mehr machen konnte. Im Gegensatz zu dem ehrgeizigen Chef der Klinik, der ein umgänglicher und redegewandter Weltmann gewesen war, war sein kommissarischer Nachfolger, Professor B. einer jener kargen, nach außen hin fast unverbindlich erscheinenden Männer der reinen Wissenschaft. Er trug eine starke, randlose Brille, hinter der seine Augen scharf und stechend wirkten. Er war alles andere als ein Krankenbettlöwe, und die Krankengeschichte und das Krankenblatt interessierten ihn mehr als das, was der Patient über seine Leiden und Wehwehchen zu berichten hatte. Diese Einstellung machte ihn bei den Kranken zunächst wenig beliebt. Sie sahen mit mißtrauischem Unbehagen auf seine lange, überschlanke Gestalt, die immer leicht nach vorn gebeugt war. Erst später erkannten sie, daß dieser verschlossene Mann ihnen in seiner unpersönlichen Art sehr zugetan war und sich mit allen seinen Kräften für sie einsetzte. So hatte er auch zu der Patientin, die ihm der ehemalige Chef vermacht hatte, keine nähere Beziehung finden können, und die verwöhnte Frau hatte sich oft bei den Schwestern über ihn beklagt: »Man weiß nie, was er denkt«, hatte sie oft klagend bemerkt, »er ist völlig undurchdringlich, und man hat keine menschliche Beziehung zu ihm. Wie schade, daß der Professor gestorben ist. Bei ihm habe ich mich viel wohler gefühlt …« Die Schwestern hatten sie pflichtgemäß beruhigt. Aber untereinander stimmten sie der Patientin zu. Professor B. war in der Klinik kein beliebter Mann, und er wurde es auch späterhin nicht. Immerhin aber bekamen alle im Laufe der Zeit einen 24
Heidenrespekt vor seinem Können, und die folgende Operation sollte dazu viel beitragen. Der Operateur wählte ein Sauerstoff-Äther-Gemisch als Narkose. Der Zustand der Patientin hatte sich so weit gebessert, daß man das Wagnis der Operation unternehmen konnte. Sie lag ruhig atmend auf dem Tisch, als der Chirurg den Eingriff begann. Er führte den einleitenden Schnitt zur Freilegung des Herzens von unterhalb der zweiten bis über die fünfte Rippe hinaus, in leichtem Bogen etwa parallel zum Brustbein. Nachdem die Assistenten Haut und Muskulatur mit Wundhaken beiseite gezogen hatten, so daß der Schnitt weit auseinander klaffte, schnitt und kniff er die Rippenknorpel und Rippenstücke mit der entsprechenden Zange ab. Die eigenartigen anatomischen Verhältnisse über dem Herzen erlauben einen Zugang zum Herzen, ohne daß die beiden Höhlen des Brustkorbs eröffnet werden. Man kann also das Herz freilegen, ohne daß Außenluft in den Brustkorb eindringt und die Lunge zusammenfallen läßt. Mit großer Vorsicht löste der Chirurg die Rippenfellfalten vom Herzbeutel ab, zuerst auf der linken, dann auf der rechten Seite, und schob sie seitwärts unter die Rippen und das Brustbein. Mit vieler Mühe gelang es ihm, ohne den häutigen Sack, in dem die Lunge untergebracht ist, zu verletzen. Und damit lag jetzt die vordere Wand des Herzbeutels von der Basis des Herzens bis zu dessen Spitze frei. Wundhaken hatten unter das Brustbein rechts und die stehengebliebenen Rippen links gegriffen und, in den Händen der Assistenten, den Spalt in der Brust mächtig erweitert. Wie der weit aufgerissene Mund eines Riesen sah die Wunde aus. Aber der Chirurg kann dadurch ohne allzu große Schwierigkeiten an alle Herzteile herankommen. Er begann damit, das Herz aus seiner Umklammerung herauszuschälen. Als er über der linken Herzkammer einschnitt, begann der Schnitt sofort breit zu klaffen. Beinahe zwei Zentimeter weit fuhren die Schnittränder auseinander. Das drängende Herz weitete sich, sobald der sich öffnende Herzbeutel die Fessel lockerte. Alle an der Operation Beteiligten beugten sich vor. Es war die erste bange Sekunde. Die Außenhaut des Herzens war fest mit der derben, 25
verdickten Haut des Herzbeutels verwachsen. Würde die Herzhaut reißen? Eine unstillbare Blutung wäre unweigerlich die Folge. Der Chirurg präparierte jetzt in großer Eile Teile der linken Herzkammer bis zur Spitze frei. Ganz zart hob er die bereits losgelösten Teile des Herzbeutels hoch und löste weitere Teile ab. Das Herz war während dieser Arbeit sehr unruhig. Manchmal setzte es sekundenlang aus, um dann wieder im Galopp loszurasen. »Träufeln Sie Novokain auf«, sagte der Chirurg, »wir müssen das Herz zu beruhigen versuchen.« Der Assistent ließ aus einer Tropfflasche die betäubende Flüssigkeit aufs Herz tropfen. Es beruhigte sich. Die linke Herzkammer liegt bei normaler Lage des Herzens hinter der rechten. Es gilt bei dieser Operation als äußerst gefährlich, die rechte Kammer vor der linken von ihrem Panzer zu befreien. Entlastet man die rechte Kammer zuerst, so besteht die Gefahr, daß sie sich übermäßig dehnt, weil die linke Kammer das von rechts hineingepumpte Blut wegen des sie noch umgebenden Panzers nicht weiterbefördern kann. Lungenödem und Versagen des rechten Herzens können die Folge sein. Trotzdem mußte sich der Arzt entschließen, die rechte Kammer vor der endgültigen Befreiung der linken anzugehen. Als er sie von der Umklammerung des Beutels befreite, schwoll sie beängstigend an. Das Herz schien zu wachsen, wie ein Ballon blähte es sich auf. Aber der Arzt konnte endlich an die Lösung der Kalkplatte gehen. Sie lag zwischen den Vorhöfen und den Kammern. Unendlich lang schienen die Sekunden zu sein. Ganz allein auf sich gestellt, arbeitete der Operateur. Niemand konnte ihm bei seiner Arbeit helfen. Mit unendlicher Vorsicht und ohne Kraftanwendung mußte die Kalkplatte von dem Herzen abgelöst werden, in dessen äußere Form sie sich eingegraben hatte. Wie ein Gipsverband lag sie der Herzwand an. Und gleich darauf hielt er das schalenförmige Stück in zwei Pinzetten und zeigte es den anderen. Es war eine, an manchen Stellen bis zu zwei Zentimeter dicke, gewölbte Platte mit unregelmäßig gezackten Rändern. Sie war so groß wie der halbe Handteller einer Männerhand. Die Herzaktion der Patientin hatte sich zauberhaft beruhigt. 26
»Puls 108, Blutdruck 110 bis 90«, ließ sich der Assistent vernehmen, der den Kreislauf überwachte. Der Operateur konnte darangehen, den schwieligen Herzbeutel, der auch mit den Vorhöfen des Herzens verwachsen war, abzulösen. Eine gefährliche Arbeit, die immer am Rande des Abgrunds vor sich geht. Einmal riß einem berühmten Chirurgen dabei das Herz in seiner ganzen Länge auf. Blutströme schossen aus dem klaffenden Riß und überströmten das Operationsfeld. Schluß …? Keineswegs. Der Chirurg ließ sich Nadel und Faden reichen und nähte, ohne Kontrolle durch die Augen und nur auf das Tastgefühl angewiesen, in einem Meer von Blut, den klaffenden Spalt der Herzwand. Und das Husarenstück gelang. Der Patient genas, nachdem er literweise Spenderblut erhalten hatte. Bei unserer Operation passierte nichts dergleichen. Anstandslos ließ sich das Herz abschälen. Aber dann geschah es … Als der Verband fertig war, traten die Chirurgen zurück. Die Schwestern traten herzu und begannen die Verhüllungen zu entfernen. Sie mußten dabei die Patientin bewegen. Sie waren gerade dabei, die Kranke auf die fahrbare Tragbahre zu legen, als eine der Schwestern voller Aufregung einen lauten Schreckensruf ausstieß. »Herr Professor«, rief sie dem Arzt zu, der sich noch mit den anderen unterhielt, »Herr Professor, ich glaube, die Patientin kollabiert. Die Ärzte eilten herbei. Jeder sah mit einem Blick, daß etwas Furchtbares geschehen war. Die Frau atmete nicht mehr, der Narkotiseur, der nach der Hand gegriffen hatte, sagte: »Kein Puls …« Der Chirurg warf ihm einen wilden Blick der Anklage zu. »Das merken Sie jetzt …«, sagte er heiser. »Los, schnell«, befahl er dann mit lauter Stimme, »legen Sie die Patientin auf den Tisch zurück.« Zum Narkotiseur: »Hundert Prozent Sauerstoffatmung, legen Sie die Kanüle in die Luftröhre … machen Sie fix.« Er riß, während er das sagte, den Verband wieder herunter. »Bringen Sie das Elektroschockgerät herbei«, sagte er vor sich hin. Wer ihn kannte, glaubte ihm die Wut über diesen Zwischenfall nicht 27
ganz. Sicher hatte er Mitleid mit der Patientin und sicher hatte er diese Katastrophe nicht herbeigewünscht. Sicher tobte in ihm jetzt, während er sich weiter um seine Kranke bemühte, ein furchtbarer Zwiespalt. Aber wir alle, seine Schüler, wußten, daß er eine derartige Komplikation geradezu herbeigesehnt haben mußte. Er war ein leidenschaftlicher, fanatischer und von Ehrgeiz besessener Chirurg. Ein Tod im Operationssaal oder gar auf dem Operationstisch war ihm unerträglich, und er empfand ihn als persönliche Beleidigung. Oft hatte er uns in seinen Vorlesungen gesagt: »Ein Chirurg, der einen Kranken aufgibt, weil dessen Herz stillsteht und der Kranke angeblich tot ist, ist ein Schlappier …« (er sprach es Schlapp-jeh aus und meinte damit einen Schlappschwanz, und er verstand darunter ungefähr das Verächtlichste, was man sich unter einem Mann vorstellen kann; es war das schlimmste Schimpfwort in seinem Sprachschatz), »… der sich sein Lehrgeld zurückzahlen lassen sollte. Es gibt kein gesundes Herz, das man nicht wiederbeleben kann, weil es zufällig stehengeblieben ist.« Und dann gab er uns sieben Punkte an, die er immer und immer wiederholte: »Wenn Sie keinen Puls mehr fühlen können, wenn kein Blutdruck mehr da ist und keine Atmung, so darf keine Sekunde lang abgewartet werden.« Dann zählte er an den Fingern auf, was man nicht tun sollte. »Versuchen Sie erstens nicht noch leise Herztöne zu hören; warten Sie zweitens nicht bis ein Elektrokardiogramm gemacht ist; injizieren Sie drittens nicht Adrenalin durch die Brustwand ins Herz; machen Sie viertens nicht künstliche mechanische Atmung irgendwelcher Art; machen Sie fünftens keine Bluttransfusion und geben Sie sechstens keine Transfusionen oder Injektionen in eine Arterie und tun Sie siebtens nichts von alledem, was sonst bei derartigen Gelegenheiten früher empfohlen wurde. Beginnen Sie sofort und augenblicklich mit den Vorbereitungen für eine Herzmassage und beginnen Sie mit dieser so schnell wie irgend möglich. Wer das ausläßt, ist kein Chirurg, sondern ein Stümper, um nicht ein schlimmeres Wort zu gebrauchen.« Der Professor B. hatte, worüber sich manche Leute in der Klinik häufig lustig machten, in dieser Hinsicht einen förmlichen Tick. Bei un28
gezählten Hunden und auch bei kleineren Tieren hatte er endlos lange Versuche unternommen, und die Wiederbelebung Toter war eine Art Spezialgebiet bei ihm geworden. So hatte er auch einen eigenen Apparat konstruiert, den er ›Gegenschockgerät‹ oder ›Elektroschockgerät‹ nannte. Damit war es ihm dutzende Male gelungen, Tierherzen – und ihre Besitzer – wiederzubeleben, bei denen er künstlich Vorhofund Kammerflimmern hervorgerufen hatte. Das sind Fehlaktionen des Herzens, die von selber nie wieder in eine regelrechte Herzaktion übergehen können und unweigerlich zum Tod des Herzens und damit des Tieres führen. Dieses Kammer- und Vorhofflimmern tritt auch beim Menschen auf, zuweilen bei Operationen, zuweilen aber auch bei schwer geschädigten Herzen. Mit diesem ›Elektroschockgerät‹ – gelegentlich nannte er den Apparat auch ›Defibrillator‹ – versetzte er einem Herzen, das sich im Zustand des Kammer- oder Vorhofflimmerns befand, elektrische Schläge und brachte es zum vollkommenen Stillstehen. Dann machte er Herzmassage, und fast immer gelang es ihm, mit dieser Methode einen Hund oder ein Kaninchen wiederzubeleben. Er schwor auch Stein und Bein, daß es mit diesem Apparat möglich sei, Menschen, die beispielsweise durch den elektrischen Strom getötet worden waren, wieder zum Leben zu bringen. »Es gibt keinen Tod durch den elektrischen Strom«, rief er oft in seinen Vorlesungen, wenn er derartige Experimente vorführte, emphatisch aus, »es gibt nur Unwissenheit und Trägheit.« Ich machte einmal den Einwand, daß schließlich nicht jeder praktische Arzt ein Herz freilegen und den Defibrillator anwenden könne. Er sah mich nur erstaunt an und meinte: »Warum eigentlich nicht?« War das die Weltfremdheit eines Fanatikers? Das Elektroschockgerät hatte sich Professor B. selber zusammengebastelt, und es war ein einfacher Apparat, der noch nicht einmal für fünfzig Mark Materialaufwand benötigte. Er bestand aus einem Amperemeter, das von 0 bis 2 Ampere anzeigte, zwei Widerständen, von denen einer reguliert werden konnte, und einem gewöhnlichen elektrischen Klingelknopf. Daneben bestand er noch aus zwei Schockelektroden für das Herz, runden Kupferplatten von über zehn Zentimeter 29
Durchmesser, an denen sich etwa zwanzig Zentimeter lange Handgriffe aus Hartgummi befanden. Diese Elektroden sahen genauso aus wie die Signalscheibe, die von den Stationsvorstehern der Eisenbahn zum Signal geben oder von Polizisten zum Anhalten von Autofahrern benutzt wird. Die Operationsgruppe im Saal war sofort wieder in die gewohnten Stellungen gefallen, wie Soldaten auf dem Exerzierplatz. Die sich auflösende Ordnung war fast augenblicklich wiederhergestellt. Niemand sagte ein Wort. Aber allen war klar: die Patientin war tot. Die Operationsschwester reichte dem Operateur die Schere zum öffnen der Nähte. Die Assistenten hielten die Wundhaken in den Händen, um sie möglichst schnell einsetzen zu können. In knapp zwei Minuten war die Wunde offen, das Herz lag wieder frei vor ihren Augen. Alle schauten in die offene Höhle. Im Herzen bewegte sich etwas! Aber es war nicht das rhythmische, lustige Auf und Ab des normalen Herzschlags. Teile des Muskels wogten und zuckten unregelmäßig durcheinander. Der Anblick läßt sich nicht beschreiben, aber in der Pathologie sieht man den Vorgang öfters an ausgeschnittenen sterbenden Tierherzen. »Kammerflimmern«, eine Störung der Herzaktion, die nur kurze Zeit mit Leben vereinbar ist. Wird der Zustand nicht beseitigt und eine normale Herztätigkeit herbeigeführt, so ist es aus … 9.08 Uhr war der bedrohliche oder vielmehr aussichtslose Zustand der Operierten entdeckt worden. 9.10 Uhr lag das Herz wieder frei. »Novokain«, knurrte der Chirurg und hielt die Hand zur Operationsschwester hinüber. Der Narkotiseur hatte in der kurzen Zeit, die seither vergangen war, der Patientin einen Schlauch in die Luftröhre eingeführt und beatmete nun die Tote mit Sauerstoff, indem er einen Gummibeutel, der aus einer Sauerstoffflasche gespeist wurde, mit der Hand zusammenpreßte und wieder freigab. Die Zuführung von Sauerstoff und die Unterhaltung einer künstlichen Atmung waren die Vorbedingung für einen Erfolg. Eine Narkose war natürlich nicht nötig, die Patientin war ja vom medizinischen Standpunkt praktisch schon tot. Die Operationsschwester hatte die Spritze mit dem Novokain bereit30
gemacht und reichte sie dem Chirurgen. Dieser stieß die Nadel von der Seite her durch die Herzwand hindurch in die linke Herzkammer und drückte den Kolben herunter. Nichts änderte sich. Das Herz zuckte und wogte. Es sah bläulichblaß und kraftlos aus. 9 Uhr Der Operateur sagte zur Operationsschwester: »Elektroden her!« Er legte eine der Metallscheiben über und schob die andere unter das Herz, das er dann in sein Bett zurückgleiten ließ. »Machen Sie eine Adrenalinspritze bereit, wir werden sie gleich brauchen …«, und dann zu dem Techniker, der den elektrischen Apparat bediente: »… Strom, ein Ampere.« Dieser führte den Elektrostecker in ein Kabel ein, das mit der Lichtleitung verbunden war, und rief: »Fertig, Herr Professor.« Der trat jetzt auf eine bereitgelegte Gummimatte und befahl seinen Mitarbeitern: »Hände weg, sonst gibt's einen Schlag!« Die Helfer nahmen die Hände zurück. Niemand war jetzt im Kontakt mit der Patientin. Der Chirurg hielt den kleinen Klingelknopf in der Hand, mit dem er den Stromkreis schließen konnte, wenn er ihn niederdrückte. Er drückte zu. Einen Sekundenbruchteil lang wurde das Herz vom Strom durchflossen. Es bäumte sich auf, und die wogende Bewegung seiner Muskulatur nahm zu. Eine Sekunde später kam der zweite Stromstoß, und gleich darauf der dritte. Ein furchtbarer Krampf hatte während der Stromstöße den Körper der Frau erfaßt, wie eine Flutwelle tobte er über sie hin. Dann lag das Herz ruhig, breit und zusammengefallen. Keine Zuckung dieses so lebenswichtigen Muskels war mehr zu sehen. Wortlos hielt der Chirurg seine rechte Hand der Operationsschwester hin. Sie legte die vorbereitete Spritze mit dein Adrenalin, dem mächtigen Mittel, das wie kein anderes den Herzmuskel reizt, in seine Hand. Wieder stieß der Operateur die Nadel in die Herzwand, und nichts geschah. Jetzt griff der Chirurg zu. Er packte das Herz, umspannte es mit der Hand und preßte es zusammen. Die Herzmassage hatte begonnen. Professor B. hatte eine eigene Methode der Herzmassage entwickelt. 31
Während man früher glaubte, daß man beim Zusammenpressen und Erschlaffenlassen des Herzens mit der Hand möglichst die normale Herztätigkeit imitieren müsse und sechzigmal in der Minute pressen und erschlaffen lassen müsse, hatte er die Überzeugung gewonnen, daß es besser wäre, das Tempo der Herzmassage bis auf hundert und hundertzwanzig Handbewegungen zu steigern. Er massierte jetzt, getreu seiner Überzeugung, das schlaffe und leblose Herz mit größter Vehemenz. Hundertzwanzigmal etwa, zweimal in jeder Sekunde, preßte seine Hand das Organ zusammen und gab es wieder frei. Während er diese anstrengende Arbeit durchführte, hielt er das Gesicht dem Narkotiseur zugewandt. »Irgend ein Idiot«, sagte er tonlos, als wollte er sich selbst ablenken, zu dem Kollegen, »muß der Frau Digitalis gegeben haben.« Dieser wollte etwas sagen, merkte aber dann, daß der Chirurg keine Antwort erwartete, es war ein Selbstgespräch, denn dieser fuhr fort: »Woher sonst, zum Teufel, soll sie plötzlich Kammerflimmern bekommen.« 9.15. Immer noch massierte der Arzt das Herz. Man sah ihm die Anstrengung an, aber die Hand arbeitete weiter. 9.16. Der Chirurg wechselte die Hände. Mit seiner linken Hand führte er die Massage fort. »Ich werde es nicht mehr lange aushalten«, sagte er zu seinem Assistenten, »kommen Sie hier herüber, Sie müssen mich gleich ablösen …« Der Assistent, der auf der anderen Seite stand, ging um den Operationstisch herum und trat neben den Chirurgen, ein anderer Arzt nahm den Platz ein. 9.17. »Übernehmen Sie die Herzmassage!« sagte der Chirurg. Es klang unwillig, als sei er verärgert über sein körperliches Versagen. Er trat beiseite, und der Assistent begann eifrig mit seiner Aufgabe. Er war ein junger Mann von athletischem Körperbau, und er verfügte über große, starke, prächtige Hände. Offenbar, das sah man seinem 32
Gesicht an, war er sehr stolz über die Aufgabe, die ihm zugefallen war. »Das werden wir schon schaffen«, schien er zu sagen. 9.20. »Ich muß die Hand wechseln, Herr Professor«, sagte der Assistent kleinlaut. Sein Gesicht war hochrot und war mit Schweiß bedeckt. Der Professor lächelte leise und meinte: »Lassen Sie nur, ich werde weitermachen …« 9.22. »Sehen Sie, meine Herren«, sagte der Chirurg, ohne die Massage zu unterbrechen, »wie der Herzmuskel jetzt durchblutet ist.« Das vorher blasse Herz war jetzt von einem satten Rot getönt. 9. 23. »Der Puls ist da!« schrie der Narkotiseur, und der Chirurg nickte. »Jawohl«, sagte er, »spontane Herzaktion hat eingesetzt.« Alle Anwesenden sahen, nachdem seine Hand das Herz freigegeben hatte, wie es rhythmisch zuckte, sich zusammenzog, erschlaffte und sich wieder zusammenzog. Sekundenlang betrachtete der Chirurg das erfolgreiche Werk seiner Hände. Alle Anwesenden starrten ungläubig auf das zu neuem Leben erweckte Herz und auf die Patientin, die selbständig begonnen hatte zu atmen. Eine leichte Röte hatte sich über ihr vorher fahles Gesicht ausgebreitet. »Soll ich Narkose geben – zum Zumachen?« fragte der Narkotiseur. Der Chirurg lächelte ihn an. »Sie sind ja optimistisch, mein Bester«, meinte er mit freundlicher Ironie. Und als er zu nähen begann: »Ich glaube, so weit ist sie noch nicht, daß sie aufwacht und merkt, wenn wir das da zusammennähen …«
* »Hast du gesehen, wie das Herz anschwoll, als er hineinschnitt?« Ein Student, der zugesehen hatte, fragte beim Hinausgehen seinen Begleiter. 33
»Sicher«, sagte der, »wie ein Luftballon, den man aufpumpt. Meinst du, sie wird's überstehen?« »Warum nicht«, antwortete der erste. »Sie ist eine nette Frau, ich habe sie früher schon einmal in der Klinik gesehen.« »Na, ich danke«, äußerte sich eine Studentin, die zwischen den beiden Jungen ging, »ich möchte jedenfalls nicht mit so einer Narbe auf der Brust herumlaufen.« »Wie geht es Ihrem Panzerherzen?« fragte ein halbes Jahr später der Pathologe den Chirurgen. »Ach, Sie meinen die Frau, die mir der Chef hinterließ? Sie ist ganz munter und läßt sich ihre Operationsnarben vom Kollegen S. ausschneiden. Das letzte EKG zeigte geringfügige Reizleitungsstörungen und einen kleinen Myokardschaden.« Und die beiden Herren verloren sich in uferlosem Fachgesimpel.
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Chirurg auf Vorposten Ein Veteran der Forschung erzählt
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in trauriges Kapitel in der Geschichte der Menschheit sind die Mißgeburten, die in viel größerer Zahl, als man glauben sollte, geboren werden. Zum Glück sind sie meist nicht lebensfähig. Nur selten bleiben vor allem auch die Doppelmißbildungen am Leben, die keineswegs immer nach Art der berühmten ›Siamesischen Zwillinge‹ zusammengewachsen sein müssen. Der Chirurg hat sich nur ganz selten mit solchen Fällen zu beschäftigen, und ich für meine Person möchte sagen, Gott sei Dank. Ich habe es auch immer abgelehnt, den Versuch der Trennung zusammengewachsener Zwillinge zu unternehmen. Soweit ich weiß, ist ein solcher Versuch auch meist mißglückt. Dagegen hatte ich oft Gelegenheit, einen Kranken von seinem eingewachsenen Zwilling zu befreien. ›Teratorne‹ – Wundergeschwülste – nennen wir diese Tumoren, die, wenn man sie aufschneidet, Zähne und Knochen und andere Organe enthalten können und als ›Zwilling im Zwilling‹ aufzufassen sind. Sie erreichen im Körper zuweilen Kindskopfgröße und mehr. Solche Fälle beweisen uns immer wieder, wie wenig wir noch von der Menschenentwicklung wissen, und wie lächerlich überheblich es ist, wenn wir uns einbilden, etwas von den Zielen der Natur zu verstehen. Auch mit einem anderen Gebiet der Teratologie – so nennt man die Wissenschaft von den Mißbildungen – kommt der Chirurg kaum in Berührung. Es sind dies die Zwitterwesen, die Hermaphroditen, mit denen sich gewöhnlich nur der Gynäkologe zu beschäftigen hat. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel davon gehört, so viel, daß sich heute jede Olympiateilnehmerin untersuchen lassen muß, bevor sie an den Wettkämpfen teilnehmen darf. 35
Ich erinnere mich da der furchtbaren Geschichte einer tschechischen Rekordlerin, bei der man später herausfand – oder herauszufinden glaubte –, daß sie eigentlich ein Mann war. Sie ließ sich operieren und zum Mann machen, sie heiratete sogar eine Frau. Als sich das junge Ehepaar auf das Schiff begab, auf dem es in die Flitterwochen fahren wollte, bekam der Bräutigam einen hysterischen Anfall: etwas war eingetreten, was an seinem Geschlecht keinen Zweifel mehr aufkommen ließ, die Phase, die für die Weiblichkeit kennzeichnend ist. Bei solchen Gelegenheiten zeigt sich die völlige Unzulänglichkeit mancher unserer Institutionen. Ich denke da an den Fall, über den der Kollege Wagner oft gesprochen hat, und aus dem hervorging, daß Hermaphroditismus polizeilich verboten sein kann. Es handelte sich um Emilie – oder war es Emil? –, die zwar kein sehr erwünschter Staatsbürger war, aber doch auch ein Geschöpf der Natur. Da sie wegen ›lockeren Lebenswandels nach zwei Seiten‹ ständig in Konflikt mit der Polizei geriet – und auch immer wieder von einem Richter bestraft wurde –, beschloß sie, die Geschichte ins reine zu bringen. Sie wurde ein Mann. Da er aber auch wieder mit der Polizei – und den Gerichten – in Konflikt geriet, ließ er sich zur Frau machen, und Kollege Wagner sagte damals zu ihr: »Emil, darüber mußt du dir im klaren sein – ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr!« Merkwürdigerweise kam ich nach dem Krieg mit einem ganz ähnlichen Fall in Berührung, wenn er auch nicht so ›skandalös‹ und die Ähnlichkeit nur äußerlich war. Kurz nachdem die Amerikaner in Berlin Einzug gehalten hatten, kam ein amerikanisches Ehepaar zu mir und stellte mir den Sohn – oder war es eine Tochter? – vor. Das Kind war neun Jahre alt. Seit seiner Geburt war es als von zweifelhaftem Geschlecht angesehen worden. In der letzten Zeit war es übermäßig gewachsen. Die ratlosen Eltern waren mit ihm von Arzt zu Arzt gepilgert, aber keiner hatte gewagt, etwas zu unternehmen. Was mir völlig verständlich war, denn auch ich wehrte zunächst – als nicht zuständig – energisch ab. Warum sie nicht in Amerika zu einem tüchtigen Arzt gingen, fragte ich die 36
Leute. Sie sahen mich traurig an und schüttelten den Kopf. Niemand wollte sich damit befassen, alle hätten zum Abwarten geraten. »Genau das muß ich Ihnen auch raten«, sagte ich. »Aber so untersuchen Sie doch das Kind einmal und geben Sie uns einen besseren Rat«, beschwor mich die Frau. »Ich bin nur deshalb von England hierher gekommen, um Sie, Professor, zu konsultieren. Dr. Simpson hat mich zu Ihnen geschickt …« Abgeschoben, dachte ich, nicht geschickt … und möglichst weit weg. Ich konnte mir gut vorstellen, wie peinlich dem bekannten englischen Kollegen dieser Fall sein mußte. Die Engländer sind in solchen Sachen immer leicht gehemmt. Man hat mir oft den Vorwurf gemacht, über die Gebühr neugierig und zu kühn zu sein. Tatsache ist, ich konnte zeit meines Lebens schwer oder gar nicht nein sagen, wenn man mich um Hilfe bat. So gab ich denn auch hier nach. Ich zog einen Kollegen von der Gynäkologischen Klinik zu, und wir sahen uns das Kind an. Es war weit über seine Jahre entwickelt, und das Geschlecht war wirklich auf den ersten Blick zweifelhaft. »Pseudohermaphroditismus«, sagte der Kollege, nicht besonders interessiert. »Wenn Sie weiter nichts wissen«, sagte ich freundlich, »das sehe und fühle ich auch. Also, was schlagen Sie vor?« »Aufmachen und nachsehen«, meinte er kurz, »dann werden wir schnell Bescheid wissen. Ich halte das Kind für ein Mädchen.« Es ging also darum, zunächst einmal das wirkliche Geschlecht des Kindes zu bestimmen. Die herrschende Lehrmeinung neigt dazu, nicht an die Möglichkeit eines echten Zwittertums zu glauben. Aber ich hatte einen ganz anderen Verdacht. Der Augenschein verriet, daß es sich um ein Leiden handeln mußte, das man nach dem ersten Arzt, der es beschrieben hat, Morbus Cushing nennt. »Wissen Sie, was das ist«, sagte ich zu dem Kollegen, »das ist weder ein echter noch ein scheinbarer Zwitter …« – er sah mich halb zweifelnd, halb herausfordernd an, als wollte er sagen: »Das, mein Verehrtester, verstehen wir besser«, aber er schwieg, »… das ist ein Cushing, so wahr ich hier stehe.« 37
Er beugte sich zu dem Kind herunter und befühlte Arme, Beine und Brustkorb. »Sie haben recht, Herr Geheimrat«, er richtete sich auf, »das ist wirklich ein Cushing. Wie konnte ich das übersehen …« »Zumindest ist es eine Überfunktion der Nebennieren«, fuhr ich fort, »und das Kind müßte operiert werden. Aber es ist ein Gang ins Ungewisse.« Unsere klinischen und röntgenologischen Untersuchungen, die wir zusammen mit den Gynäkologen durchführten, zeigten, daß es sich tatsächlich um ein kleines Mädchen handelte. Wir brauchten dazu nicht ›aufzumachen und nachzusehen‹, der Nachweis konnte vor dem Röntgenschirm geführt werden. Es war schwierig, aber es ging. Die Eltern, der US-Sergeant und seine Frau, waren glücklich, als wir ihnen sagen konnten, daß jetzt das Geschlecht des Kindes einwandfrei feststünde. Aber ich mußte ihre Freude bald trüben. Zwar wäre es nicht schwierig gewesen, das Geschlecht auch äußerlich so herzustellen, wie es sich gehört, aber die eigentliche Krankheit war dadurch in keiner Weise beeinflußt. Unsere Untersuchungen hatten auch ergeben, daß mein Verdacht auf eine Überfunktion der Nebennieren richtig war. Und das war eine sehr traurige Aussicht. In gewissem Sinn ähnelt die Überfunktion der Nebennieren der Überfunktion einer anderen innersekretorischen Drüse, der Schilddrüse, wie wir sie beim Basedow vor uns haben. Hier verschafft die teilweise Entfernung des allzu stark arbeitenden Drüsengewebes schnelle Besserung oder sogar Heilung. Bei den Nebennieren verhält sich das, wenigstens soweit wir es wissen, insofern anders, als die Tätigkeit dieser Drüsen weit komplizierter ist als die der Schilddrüse. Außerdem ist die Erfahrung mit der Ausschneidung der Nebennieren sehr begrenzt, während wir bei der Schilddrüse seit langer Zeit einigermaßen im Bilde sind. Dennoch schlug ich den Eltern den Eingriff vor, denn ohne ihn war das Kind verloren. Es war anzunehmen, daß es sich um eine gut- oder bösartige Geschwulst der Nebennieren – das sind kleine Gebilde, die nur wenige Gramm wiegen und sich am oberen Pol jeder Niere befinden – handeln mußte, zumindest aber um eine allgemeine Vermehrung der Zellen, eine sogenannte Hyperplasie. 38
Die Eltern des Mädchens stimmten für die Operation. Obgleich ihnen riet, sie lieber in England oder Amerika durchführen zu lassen, wollten sie nichts davon hören, hatte damals Gelegenheit, die Operation auf einem Wege durchzuführen, den ich vor mehr als dreißig Jahren beschritten hatte. Ich ging nämlich so vor, daß ich den Schnitt entlang einer Rippe führte und durch das Zwerchfell hindurch an die Nieren heranging. Das ist bequemer und sicherer, als den Bauch zu öffnen, obgleich man dabei eine Lunge für die Dauer des Eingriffs ausschalten muß. Ich fand bei der Operation zwar keinen Tumor, aber die Nebennieren des Kindes waren stark vergrößert. Ich schätzte auf mindestens das Vierfache des Normalen. Ich schnitt von jeder Nebenniere gut zwei Drittel weg – weiter konnte ich nichts tun. Es war ein gewagter Schritt in ein Land, das auf der Landkarte des Wissens einen weißen Fleck darstellt. Aber hätte man das unglückliche Wesen einfach sterben lassen sollen ohne einen Versuch, zu helfen? Das Kind überstand die Operation ohne Schwierigkeiten. Es kehrte, äußerlich unverändert, mit den Eltern in die Heimat zurück. Ein Jahr später hörte ich, daß man drüben auch die äußeren Merkmale des vermeintlichen Zwittertums entfernt habe. Ich hörte auch, daß das Kind sich großartig weiter entwickle, und ich fürchte, zwischen den Zeilen war zu lesen, daß die Entwicklung ein wenig zu schnell vor sich ging. Dann hörte ich nichts mehr. Das ist ja das Übliche, daß uns Patienten aus dem Gesichtskreis entschwinden, und im allgemeinen sind keine Nachrichten soviel wie gute Nachrichten. Wenigstens wiegen wir uns gern in diesem Glauben. Vielleicht ist das Ende dieser Geschichte für Sie nicht befriedigend. Es ist eine Geschichte ohne abschließende Pointe, weder einer guten noch einer schlechten. In der Wissenschaft ist das oft so, daß eine Frage offenbleibt. Und daß eine gelöste Frage hundert neue, ungelöste, aufgibt. Für den Kliniker ist im Grunde genommen jeder einzelne Patient eine solche Frage, die unzählige neue aufwirft. Noch ein merkwürdiges Ereignis der damaligen Zeit will ich Ihnen erzählen. Wir mußten damals aus der Not eine Tugend machen und stießen in ein Gebiet vor, von dem man vielleicht noch viel Aufhebens machen wird. 39
Das ist die Nachtseite unseres Berufes, von der die Laien wenig wissen. Sie kennen sie nur von den scheinbaren Versagern her. Denn nicht immer, in Wirklichkeit viel zu selten, kann man heilen. Oft handelt es sich nur darum, nicht endenwollende und allen Medikamenten trotzende Schmerzen zu beseitigen, oft kann man nur Erleichterung durch entlastende Operationen schaffen, und sehr oft ist es nur möglich, das Leben um eine kürzere Frist, um ein paar Monate oder ein paar Jahre zu verlängern. Bei allen diesen Gelegenheiten glauben wir, daß unser Eingriff gerechtfertigt ist. Kann man nicht heilen, so kann man wenigstens sehr oft helfen und muß natürlich gewärtig sein, daß es nicht gelingt zu helfen. Zuweilen aber hat man das Glück, oder wie man es sonst nennen will, daß man einen verzweifelten Versuch macht zu retten, was zu retten ist, ohne allzuviel Zutrauen in diesen Versuch zu haben, und manchmal erlebt man dann große Überraschungen. Ich glaube, daß viele der Großtaten unseres Faches auf solche waghalsige Versuche zurückzuführen sind. Ich habe da in den Jahren nach 1945 in Berlin etwas erlebt, was mich in meinem ganzen Leben vielleicht am stärksten berührt und erschüttert hat. Wir lebten damals in Berlin unter grauenhaften Umständen. Es fehlte am Nötigsten. Wir hatten keine Medikamente, und wir mußten uns mit alten Instrumenten behelfen, die immer wieder hergerichtet werden mußten. Wir hatten kein Verbandzeug, und wir hatten nicht einmal für unsere Kranken genügend zu essen. Eines Tages trat die Diabetiker-Zentrale der Stadt an mich heran und fragte, ob wir nicht irgend etwas für ihre Schützlinge tun könnten. Insulin gab es nicht. Die auf dem Schwarzen Markt angebotene Ware war verfälscht, und die Diabetiker waren besonders schlecht daran. Einer meiner Berliner Kollegen machte den Versuch, einigen seiner Zuckerkranken, alles nur junge und verhältnismäßig kräftige Menschen, Kalbsdrüsen in die Schenkel zu pflanzen, und erlebte eine schreckliche Niederlage. Die Drüsen waren natürlich auf den Schlachthöfen nicht mit der nötigen Sorgfalt entnommen worden und waren durchwegs infiziert. Obgleich man in 40
seiner Klinik alle Vorsichtsmaßnahmen traf und die Drüsen zu entkeimen versuchte, karrten einige Infektionen vor, und der Kollege hatte große Unannehmlichkeiten über Jahre hinaus. Ich hatte damals auch daran gedacht, es unter Umständen mit Tierdrüsen von jungen Rindern oder Pferden oder von Schafen zu versuchen, aber die Fachliteratur, die wir mühsam zusammensuchten, belehrte uns über die großen Gefahren derartiger überpflanzungen, wenn es nicht möglich war, die Organe unter größter Sorgfalt von den Tieren zu gewinnen. Daran war aber in Berlin nicht zu denken. Ich hielt damals eine Beratung mit meinen Leuten ab, aber es kam nichts dabei heraus. Bei einer Sitzung des Ärztevereins traf ich kurz darauf einen guten Freund, der Augenarzt war. Wir unterhielten uns, und ich kam dabei auf die verzweifelte Lage der Zuckerkranken Berlins zu sprechen. »Wenn wir wenigstens unter sterilen Bedingungen Tierdrüsen bekommen könnten, wäre uns vielleicht etwas geholfen, aber das ist eben unter den gegebenen Verhältnissen völlig ausgeschlossen.« Der Kollege meinte: »Ja, wir haben es da besser. Ich habe in letzter Zeit ziemlich häufig Hornhautüberpflanzungen ausgeführt, und uns fehlt es nicht an Material. Da habe ich übrigens eine erstaunliche Beobachtung gemacht, die Sie interessieren wird. Wie Sie wissen, nehmen wir gewöhnlich das Transplantat von irgendeinem Leichenauge, aber wir müssen in der heutigen Zeit wegen der großen Verbreitung der Lues natürlich sehr vorsichtig sein, und da habe ich einen ganz bemerkenswerten Ausweg gefunden. Ich habe mir von der geburtshilflichen Klinik Augen von Frühgeburten bringen lassen. Sie eignen sich hervorragend für die Hornhautverpflanzung.« »Eine großartige Idee«, sagte ich, »aber reicht denn die Größe der Hornhaut eines Fötus aus, und stimmt die Krümmung?« »Ja, gewiß«, antwortete mir der Augenarzt, »die Augen wachsen nach der Geburt kaum mehr und sind auch schon einige Monate vorher für uns gut brauchbar. Sie wissen ja, die großen Kinderaugen kommen nur daher, weil sie ebenso groß sind wie Erwachsenenaugen, das umgebende Gesicht aber viel kleiner.« Wir trennten uns. Die Unterhaltung hatte mir Stoff zum Nachden41
ken gegeben. Wir hatten in Berlin damals unglaublich viel Fehl- und Frühgeburten, und vielleicht lag hier tatsächlich eine Möglichkeit, einwandfreies übertragungsmaterial für die Diabetiker zu bekommen. Man mußte nur darauf sehen, daß man das Material möglichst frisch bekam. Natürlich kommen einem solche Gedankengänge grauenhaft vor, aber ich sehe keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer Blutübertragung von einem Spender und der überpflanzung eines Organs. Auch das Blut ist nichts anderes als ein Körperorgan. Ich wandte mich damals an den Direktor der geburtshilflichen Klinik und fragte ihn, ob er mir einige nicht lebensfähige Frühgeburten oder auch Fehlgeburten zur Verfügung stellen wollte. Ich setzte ihm meinen Plan auseinander, und er sagte zu. Dann sprach ich noch mit unserer Pathologin, jawohl, wir hatten eine Frau als Pathologin, die auch unsere Sektionen vornahm. Natürlich waren da einige Vorsichtsmaßnahmen zu berücksichtigen. Wir mußten darauf achten, daß wir es mit gesunden Organen zu tun hatten, besonders groß war natürlich die Gefahr der Syphilis. Wir waren, das ist wohl selbstverständlich, gezwungen, diese Dinge streng geheimzuhalten. Sie können sich denken, daß die sogenannte ›Öffentlichkeit‹ mit Sicherheit sogenannten ›Anstoß‹ genommen hätte, und es wären wahrscheinlich die tollsten Gerüchte über mich und meine Klinik in die Welt gesetzt worden. An die armen Diabetiker hätte natürlich niemand gedacht. Wir hatten in der Klinik eine ganze Anzahl zuckerkranker Patienten. Manchmal hatten wir für sie Insulin – wenn ich oder einer meiner Assistenten Gelegenheit hatten, es zusammenzubetteln –, meistens hatten wir für sie kein Insulin. Meine Oberschwester verfügte merkwürdigerweise immer über einen kleinen Vorrat des kostbaren Materials, gab nur davon ab, wenn ein Zuckerkranker operiert werden mußte oder wenn er es nach der Operation brauchte. Sobald aber das akute Bedürfnis vorüber war, schloß sie rigoros ihre Taschen. Natürlich hatte die gute Frau recht, wenn sie die Vorräte des Mittels sehr sorgsam verwaltete, aber manchmal kamen da auch Här42
ten vor, die an Grausamkeit grenzten. Wir mußten uns immer damit trösten, daß es eben wie im Kriege sei. Wer die beste Aussicht hatte, durchzukommen, hatte das größte Anrecht auf unsere Hilfe. Wir mußten unter den Zuckerkranken unserer Klinik natürlich eine sorgfältige Auswahl treffen, und ich sprach mit einigen dieser Kranken. Ich stand vor der Alternative, den Leuten reinen Wein einzuschenken oder ihnen irgendein Märchen zu erzählen. Es war nicht ganz einfach, den goldenen Mittelweg zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu finden. Einerseits konnte ich den Leuten nicht einfach klipp und klar sagen: wir haben kein Insulin, Sie sind schwer zuckerkrank und Sie sind verloren, wenn nicht bald etwas geschieht. Andererseits konnte ich ihnen nicht sagen: wir wollen Ihnen eine menschliche Drüse einpflanzen, und Sie werden gesund. Ich löste das Problem, indem ich den Patienten auseinandersetzte, daß wir eine Möglichkeit sähen, allen Zuckerkranken Berlins zu helfen, daß wir aber dazu auf ihre, der Patienten, Mitwirkung angewiesen seien. Ich setzte ihnen auseinander, daß ich den Plan hätte, ihnen eine Drüse aus einem zu früh geborenen Menschen einzupflanzen, daß diese Drüse möglicherweise in ihrem Körper einwachsen würde und daß sie dann, zumindest für einige Zeit, kein Insulin benötigten. Drei unserer Zuckerkranken erklärten sich bereit. Wir konnten die Operationen selbstverständlich nicht für einen bestimmten Tag ansetzen, sondern mußten warten, bis geeignete menschliche Drüsen zur Verfügung standen. Das erste Pankreas, das herüberkam, stammte aus einer sieben Monate alten Frühgeburt. Das Kind war kurz nach der Geburt gestorben, und unsere Pathologin hatte das Pankreas ausgeschnitten, in Kochsalzlösung aufbewahrt und sofort zu uns herübergebracht. Minuten später lag der erste unserer Patienten, eine schwer zuckerkranke Frau, der wir kurz vorher die Zehen amputiert hatten, auf dem Operationstisch. Die Oberschwester hatte etwas Insulin zur Verfügung gestellt, und so konnte ich ohne Bedenken der Frau die Bauchspeicheldrüse in das Netz einpflanzen. Das Netz ist ein Teil des Bauchfelles, das wie eine Schürze zwischen den Därmen und der Bauchwand herunterhängt. In ihm verlaufen zahlrei43
che' Blutgefäße, und die Bedingungen für das Anwachsen überpflanzter Organe sind hier günstig. Ich öffnete der Patientin sogleich den Bauch und nähte in einen Schnitt, den ich in das Netz gelegt hatte, die Drüse ein. Dann schloß ich mit einer Naht die Bauchwand. Diese Operation dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Der Schnitt in die Bauchdecke ist nicht größer als etwa drei Zentimeter, und wir konnten die Operation in Evipannarkose ohne weiteres durchführen. Schon am nächsten Tag konnten wir die zweite Operation machen. Es handelte sich dieses Mal um einen Fötus, der etwa vier Monate alt war. Die von ihm gewonnene Drüse war winzig klein. Aber gerade diese vorgeburtlichen Organe sind sehr aktiv und haben, das versteht sich wohl von selbst, sehr große Wachstumstendenz, so daß wir unbedingt auch diese Frühstadien der menschlichen Entwicklung ausprobieren mußten. Noch am gleichen Tage fand dann die dritte Operation statt, es handelte sich um ein lebendgeborenes Kind, das einen Tag nach der Geburt an sogenannter Lebensschwäche gestorben war. Solche lebensschwachen Kinder kamen damals in Berlin sehr häufig zur Welt. Die Säuglingssterblichkeit der ersten Wochen erreichte Werte, wie man sie sonst nur in tropischen und unzivilisierten Ländern kannte. Sie betrug etwa 5o Prozent. Wir sahen in den kommenden Wochen erstaunliche Dinge. Die Kranken mit den fremden Drüsen im Bauch erholten sich prächtig. Ihr Blutzucker ging zurück, und sie konnten alles essen, was wir ihnen anbieten konnten. Es war nicht viel, aber sie genossen es sichtlich. Vor allem waren sie selig, daß sie Zucker und Brot in beliebigen Mengen genießen konnten – die beiden einzigen Nahrungsmittel, über die wir in der damaligen Zeit verfügen konnten. Wir konnten alle drei operierten Kranken nach etwa vier Wochen entlassen. Sie fühlten sich besser als je zuvor in den vergangenen Jahren. Für uns bestand nun die Frage, sollten wir unsere neue Therapie weiter anwenden und gegebenenfalls bekanntgeben? Ich hatte damals einen heftigen Streit – oder sagen wir besser ein Streitgespräch – mit meinem Oberarzt. 44
»Wir müssen es bekanntgeben, und wir müssen das Verfahren fortsetzen«, argumentierte er, »selbst wenn es sich nur um kurzfristige Besserungen handelt, erfüllt das Verfahren seinen Zweck, und wenn es auch nur gelingt, die Kranken oder einen Teil von ihnen in die Zeit hinüberzuretten, in der es wieder Insulin geben wird …« Er hatte da einen Punkt. Aber ich konnte mich nicht entschließen. »Warten wir ab«, sagte ich, »wie es unseren drei Patienten er geht. Wenn wir eine größere Versuchsserie anlegen, so müssen wir unbedingt damit rechnen, daß es publik wird, und wenn wir uns dann geirrt haben, so sind wir in einer schauerlichen Situation. Wir haben alle gegen uns …« »Wir haben alle für uns, wenn es gelingt«, rief der Oberarzt aus, und die jüngeren meiner Mitarbeiter nickten ihm Beifall. Ich konnte nicht umhin, zu lächeln. Enthusiasmus bei jungen Leuten ist in jedem Fall eine schöne Sache, und es fiel mir schwer, Wasser in ihren Champagner zu gießen. »Sie haben mich mißverstanden«, sagte ich. »Mir imponieren weder die Mißfallens- noch die Beifallsäußerungen einer in der einen oder anderen Richtung aufgeregten Öffentlichkeit. Ich sehe mich sowohl dem einen wie dem anderen ungern ausgesetzt. Aber wir haben gewisse Rücksichten zu nehmen, und sie sind in dem Fall, um den es sich hier handelt, besonders gravierend. Stellen Sie sich bitte die Zeitungsschlagzeilen vor, wenn unsere Versuche bekannt werden. Mich schaudert. Unter Umständen haben wir sogar mit Schadenersatzansprüchen zu rechnen, und ich habe nicht die mindeste Lust, der Ausgangspunkt juristischer Spitzfindigkeiten zu sein. Stellen Sie sich nur einmal vor, welch bemerkenswerte rechtliche Fragen sich ergeben. Wir nehmen das zu früh geborene Kind einer Frau und verwenden Teile von ihm für unsere Zwecke. Es ist unausdenkbar, was ein juristisches Hirn mit diesem Tatbestand alles anzufangen vermag. Sie können sich darauf verlassen, daß niemand an die Kranken denken wird, denen damit geholfen wurde – oder auch nicht. Wir haben Besseres zu tun, als uns in solche Dinge einzulassen. Wir warten ab.« Damit war diese Diskussion abgeschlossen. 45
Daß ich mit meiner greisenhaften Vorsicht – so war das in der Klinik bezeichnet worden, wie ich aus unterrichteter Quelle zu hören bekam – doch nicht so ganz unrecht gehabt hatte, zeigte sich einige Zeit später. Unsere operierten Patienten erschienen regelmäßig wöchentlich zur Nachuntersuchung, und es ging ihnen allen gut. Sie konnten alles, was es damals gab, essen, ohne daß Zucker im Harn auftrat. Aber diese Zeiten des Wohlergehens sollten nicht anhalten. Nach acht Wochen wurde die erste Patientin, der wir eine Drüse eingepflanzt hatten, bei uns im diabetischen Koma eingeliefert und starb. Einige Tage später kam der dritte Patient in desolatem Zustand. Wir konnten ihn mit knapper Not retten. Merkwürdigerweise ging es dem Patienten, an dem wir die zweite Operation vorgenommen hatten, weiterhin ausgezeichnet. Er hatte die kleinste Drüse erhalten, und wir hatten damit gerechnet, daß er der erste sein würde, dessen Vorräte an Insulin, dem Hormon der Bauchspeicheldrüse, logischerweise zuerst erschöpft sein mußten. Wir hatten uns geirrt. Ein Vierteljahr nach seiner Operation war er, der vorher ein schwerer Fall von Zuckerkrankheit gewesen war, in ausgezeichneter Verfassung. Als er wieder einmal zur Nachuntersuchung erschienen war, forderte mich mein Oberarzt energisch auf, mir den Mann anzusehen. »Es ist unheimlich, Herr Professor«, sagte er, »dem Mann geht es ausgezeichnet. Er ist gesünder als irgendeiner. Wenn mir jemand erzählen würde, daß er noch vor einem Vierteljahr schwer zuckerkrank war und täglich eine große Menge Insulin benötigte, um im Gleichgewicht zu bleiben, so würde ich das einfach nicht glauben.« »Vielleicht haben wir mit der Implantation sein eigenes Pankreas reaktiviert«, meinte ich nachdenklich, »denn die winzige Drüse, die wir ihm eingepflanzt haben, ist sicher längst aufgesogen.« »Das bezweifle ich«, sagte mein Oberarzt, »ich glaube vielmehr, daß das Drüsengewebe eingewachsen und weitergewachsen ist.« Ich muß hier einfügen, daß wir nicht die ganze Drüse zur Einpflanzung brachten, sondern nur Teile. Nur bei dem zweiten Patienten, dem wir eine 46
sehr junge Bauchspeicheldrüse eingenäht hatten, verwendeten wir fast das ganze Organ. Ich ließ diesen wunderbaren Patienten zu mir führen, unterhielt mich mit ihm. Er war ein sehr dankbarer Patient und sagte: »Ich fühle mich großartig, Herr Professor, so gut wie seit Jahren nicht. Sie wissen ja, daß schon im Kriege das Insulin sehr knapp war und wir Bezugscheine dafür brauchten, nach dem Krieg war es ganz schlimm, und ich konnte nicht mehr arbeiten. Aber jetzt geht es mir wunderbar. Ich kann alles essen, wie die Gesunden.« »Essen Sie denn Ihre ganze Zuckerration?« erkundigte ich mich. »ja, natürlich«, antwortete er mir, »und auch die ganze Brotration, die wir bekommen, und noch dazu alles Stärkehaltige, was ich auf dem Schwarzen Markt bekommen kann. Ich kann mich an dem Brot, über das hier alle Leute schimpfen, gar nicht sattessen. Es schmeckt mir herrlich.« Bekanntlich dürfen Zuckerkranke keinen Zucker und nur ganz wenig Brot essen, besonders, wenn sie nicht ausreichend mit Insulin versorgt sind. Der Gesunde kann sich gar nicht vorstellen, was es für den Zuckerkranken bedeutet, sich niemals an den Dingen sattessen zu können, auf die er größten Appetit hat und nach denen der Körper hungert. Tantalusqualen nennt man so etwas, ohne recht ermessen zu können, was sie wirklich bedeuten. Viele Zuckerkranke haben mir versichert, daß es fast leichter sei, zu hungern, als auf Kohlehydrate verzichten zu müssen. Ich erinnere mich da eines Bankiers aus der Vor-Insulin-Ära, der schwer zuckerkrank war. Alle vier bis sechs Wochen machte er einen tollen Seitensprung. Er entwich seinem Chauffeur und Krankenwärter, obgleich dieser ihn mit Argusaugen und allen kriminalistischen Tricks überwachte. Der Bankier ließ sich dann, wenn er seinem Zerberus erfolgreich entwischt war, von einem Taxi in mehrere Konditoreien fahren und schaufelte an Kuchen und Torten in sich hinein, was er unterbringen konnte. Hinterher war er dann immer völlig zerknirscht und ließ, sanft wie ein Lamm, die ihm zudiktierten Diättage über sich ergehen. Ich war zwar nicht sein Arzt, aber mit der Familie befreun47
det, und wenn ich es auch nicht zu äußern wagte, so habe ich mir doch immer gedacht: vielleicht verdankt der Mann dem Umstand, daß er in Süßigkeiten und Kuchen exzessiert, sein Leben. Tatsächlich erlebte er die Insulin-Ära noch und starb erst in seinen frühen Siebzigern. Die Untersuchung unseres Wunderpatienten ergab nichts Besonderes. Seine kleine Operationsnarbe am Bauch war ausgezeichnet geheilt. Darunter oder in ihrer Umgebung ließ sich nichts Auffälliges tasten. Alle anderen Untersuchungen zeigten vollkommen normale Ergebnisse. Der Patient wußte besonders lobend zu erwähnen, daß er, seitdem er seine neue Drüse erhalten hatte, nicht einen einzigen Furunkel mehr gehabt habe, eine Krankheit, unter der er früher viel gelitten hatte. Ich schickte ihn weg, nicht klüger als vorher, und forderte ihn auf, sich regelmäßig bei uns sehen zu lassen. Standen wir hier vor einer aufregenden neuen Entdeckung? War es möglich, daß im Gegensatz zu erwachsenen Drüsen oder Drüsenteilen die Organe sehr junger Fehlgeburten in ihrem Wirt einwuchsen und arbeiteten? Das war ungeheuerlich schwer zu entscheiden. Das richtige wäre jetzt gewesen, eine große Reihe von Tierversuchen anzusetzen, aber wir waren so arm, daß das nicht möglich war. Wir hätten die Tiere noch nicht einmal ausreichend ernähren können. Die Literatur ließ uns im Stich. Anscheinend waren solche Versuche noch nie gemacht worden. Natürlich wußten wir, daß man bei Frauen, denen man aus irgendeinem Grunde die Eierstöcke entfernen mußte, Teile dieser Organe in irgendeinen Bauchmuskel einpflanzen konnte und daß sie dort einwuchsen und weiter ihre Arbeit verrichteten. Wir wußten auch, daß es zuweilen möglich ist, Teile eines fremden Eierstocks zu übertragen und daß diese anscheinend, gleiche Blutgruppeneigenschaften von Spender und Empfänger vorausgesetzt, zumindest zeitweilig, ihren Dienst im fremden Körper aufnahmen, manchmal für mehrere Jahre. Bei solchen Frauen blieben dann, obgleich sie selbst keine Eierstöcke mehr hatten, die weiblichen Funktionen erhalten. Wir wußten auch, daß andere innersekretorische Drüsen mit wechselnden oder vielmehr unklaren Erfolgen eingepflanzt worden waren. Aber nirgends war die Rede davon, daß man als Transplantate Organteile ungeborener Kin48
der verwendet hatte. Wir hatten zahlreiche Besprechungen, die viele Theorien und Hypothesen brachten, aber keinerlei Erklärungen. Natürlich konnten wir uns auch nicht an unseren Patienten davon überzeugen, was aus dem überpflanzten Organ geworden war. Wir konnten ihm eine Operation zur Befriedigung unserer Neugier selbstverständlich nicht zumuten. Die Drüse, die wir der Frau überpflanzt hatten, die bei uns gestorben war, war nahezu vollkommen aufgesogen worden, wie sich bei der Sektion herausstellte. Auch unsere Pathologie wußte keinen Rat. Man hielt es dort auch für wenig aussichtsreich, Versuche an Ratten zu machen, den einzigen Tieren, die wir uns zur Not leisten konnten. »Bei einer Ratte wächst so gut wie alles an«, sagte unsere Pathologin zu mir, »damit können Sie nichts beweisen und nichts erforschen. Sie müßten mindestens Kaninchen nehmen, selbst Meerschweinchen sind unzuverlässig.« »Mein Gott, Kaninchen«, sagte ich nur. So entschlossen wir uns zu einem weiteren Versuch. Wir hatten in der Klinik einen Kranken, der an der Bronzekrankheit litt. Vorhin hatte ich Ihnen von einer Krankheit erzählt, bei der wir uns mit vergrößerten Nebennieren zu befassen hatten. Bei dem Mann, von dem ich eben sprach, handelt es sich auch um eine Erkrankung der Nebennieren, nur daß er zu wenig davon hatte. Seine Nebennieren waren beschädigt und gaben nicht genügend von den zwei oder drei Dutzend Hormonen ab, wie sie eigentlich sollten. Die Symptome dieser Krankheit, die man, ebenso wie den Morbus Basedow, nach dem Mann, der sie zuerst beschrieben hat, Morbus Addison nannte, sind in vieler Hinsicht eigenartig. Die Kranken weisen eine Muskelschwäche auf, die oft ihrem guten Ernährungszustand auffällig widerspricht. Außerdem klagen sie über Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, hartnäckige Verstopfung, die manchmal scheinbar ursachenlos in heftige Durchfälle übergeht, die man als geradezu choleraartig bezeichnen kann. Manchmal klagen die Kranken über Magenschmerzen, die plötzlich auftreten, ebenso plötzlich wieder verschwinden. Kurz, diese Kranken sind menschliche Wracks, und man hat zuweilen seine liebe Not insofern 49
mit ihnen, als die Diagnose große Schwierigkeiten macht. Ein Zeichen aber, dem die Krankheit ihren deutschen Namen verdankt, ist die eigenartige Färbung der Haut und der Schleimhäute. Die beleuchteten Stellen, Gesicht, Hals, Hände, auch die Lidränder, nehmen eine bronzeartige, dunkelbraune Färbung an, die allerdings nur ein sehr flüchtiger Beobachter mit Gletscherbrand verwechseln kann. Dem Kundigen verrät ein Blick in die Hohlhand und auf die Fingernägel, was sich hier abspielt. Die Innenfläche der Hand ist hell, und nur die Beugefalten – das sind die berühmten Handlinien, aus denen die Chiromanten glauben, alles mögliche unsinnige Zeug herauslesen zu können –, gerade diese Beugefalten sind ebenfalls bronzefarben. Oft sieht man auch bei den Kranken eine dunkelgefärbte Bauchhaut. Sie haben dann gegen ihre Magen- und Darmbeschwerden Heizkissen oder Wärmflaschen aufgelegt, in völliger Verkennung der Hintergründe ihres eigenartigen kraftlosen Zustandes. Aber auch die Schleimhäute des Mundes sind schwarzblau verfärbt, der weiche Gaumen, die Zunge, gelegentlich auch die Lippen. Schaut man dann einen Kranken näher an, mißt seinen Blutdruck und macht Röntgenaufnahmen, so findet man den Blutdruck enorm herabgesetzt. Im Röntgenbild sieht man ein kleines Herz und im Blutbild findet man wenig rote Blutkörperchen, die schlecht gefärbt sind. Man findet bei diesen Kranken auch zuweilen Bewußtseinsstörungen, krampfartige Zustände, manches Mal sind sie verwirrt, und der Psychiater ist der erste, der sich gelegentlich mit ihnen zu befassen hat, weil sie im Delirium zu ihm gebracht werden. Der Verlauf dieses so eigenartigen Leidens ist schleppend und chronisch. Zwischendurch geht es den Patienten wieder einmal ganz gut, und sie schöpfen neue Hoffnung, aber der Rückfall läßt nicht lange auf sich warten. Sie verfallen wieder in ihre körperlichen und geistigen Schwächezustände, und meistens kommt nach zwei oder drei Jahren das Ende. Einen solchen Kranken, einen Mann in den frühen Vierzigern, hatten wir bei uns in der Klinik. Man versuchte diese Krankheit mit einer Diät zu behandeln, die in einer kohlehydratreichen Kost besteht und 50
bei der Rohkost streng verboten ist. Außerdem muß man alle Speisen kräftig salzen. Ich erwähne das, um Ihnen zu zeigen, wie unsinnig es ist, Rohkost und Kochsalzlosigkeit um jeden Preis anzupreisen. Aber das nur nebenbei. Wir hatten mit diesem Patienten große Schwierigkeiten. Wir hatten eine Operation durchführen müssen, und gerade chirurgische Eingriffe, auch wenn sie an sich harmlos sind, ertragen solche Kranke außerordentlich schlecht. Daneben hatten wir keinerlei Hormonpräparate zur Verfügung, mit denen man ihm hätte in den kritischen Tagen der Operation helfen können. So mußten wir versuchen, ihn mit Diät, Kreislaufmitteln und Bluttransfusionen durchzubringen. Aber seine Aussichten standen sehr schlecht. Er konnte, im wahren Sinne der Worte, weder leben noch sterben. Es war klar, daß ihm nichts anderes fehlte als die Hormone der Nebennierenrinde, und man weiß heute, daß es im wesentlichen das ›Lebenshormon‹, das Desoxykortikosteron ist, was diesen Kranken fehlt. Kann man ihnen dieses geben, so erholen sie sich augenblicklich. Sie sind dann nicht voll leistungsfähige Menschen wie die Zuckerkranken, denen man Insulin verabfolgt aber sie leben. Mit diesem Patienten unterhielt ich mich. Wieder stand ich vor der Aufgabe, einem Menschen gleichzeitig die Schwere seines Zustandes zu verheimlichen und sie ihm offenbaren zu müssen. Wieder sagte ich ihm, daß wir eine verblüffende Beobachtung gemacht hätten, die vielleicht gleichbedeutend mit einer revolutionären Entdeckung sein konnte. »Sie wollen mich zum Versuchskaninchen machen, Herr Professor, das kenne ich schon«, sagte der Kranke traurig. Daraufhin sprach ich mit ihm Fraktur. Ich setzte ihm auseinander, daß wir in dieser Stadt uns in einer mehr als verzweifelten Lage befänden. Ich sagte ihm, daß wir große Opfer gebracht hätten, um ihn operieren zu können und ihn am Leben zu erhalten, und zwar Opfer am Kostbarsten, was es damals in Berlin gab, Nahrungsmittel und Medikamente. Ich sagte ihm weiter, daß es mir nicht angenehm sei, ihm diese Dinge, die er eigentlich selber hätte merken müssen, ins Gesicht zu sagen, und daß er mir persönlich durchaus keinen Gefallen täte, wenn er sich zu dem kleinen, 51
harmlosen Eingriff, nämlich der überpflanzung einer Drüse, bereit erklären würde. »Im Gegenteil«, sagte ich, »wir tun Ihnen einen Gefallen, wenn wir unsere Arbeitskraft, unsere Organisation und menschlichen Beziehungen einsetzen, um Sie am Leben zu erhalten.« Es ist im allgemeinen nicht üblich, daß man in dieser Form mit einem Patienten spricht, unter uns gesagt, man behandelt sie meistens wie rohe Eier. Aber in diesem Fall war mir der Gaul durchgegangen. Mein Gott, wir hätten ohne Schwierigkeiten ein Dutzend Menschen gefunden, die allein für die Aussicht eines Klinikaufenthaltes mit einigermaßen menschenwürdiger Verpflegung alles mit sich hätten geschehen lassen. Aus meiner kleinen Ansprache schien dem Mann der Ton mehr Eindruck gemacht zu haben als die Worte. Er meinte, als ich geendet hatte, ganz bescheiden: »Ja, wenn es so steht, Herr Professor, selbstverständlich.« Die Frauenärzte schickten uns schon am nächsten Tage einen vier Monate alten Fötus herüber – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, wir nennen ein nichtgeborenes Kind einen Fötus –, und unsere Pathologin entnahm die winzigen Nebennieren. Nun mußte alles sehr schnell vor sich gehen. Wie Sie sicher wissen, erlischt ja das Leben der Einzelzelle oder der Zellverbände nicht sofort mit dem Tode des Menschen. Es bleibt auch nachher noch für die Zelle die Möglichkeit weiterzuleben bestehen, wenn ihr rechtzeitig frisches Blut, also Sauerstoff und Nahrung, zugeführt werden. Sobald wir hörten, daß uns eine Fehlgeburt zur Verfügung stand, mußten wir sofort die Operation ansetzen und durchführen. Wenn auch in unserer Stadt damals nichts klappte, die klinische Organisation war immer noch ganz gut in Ordnung. Zwanzig Minuten nach der Fehlgeburt in der geburtshilflichen Klinik lag bei uns der Patient auf dem Operationstisch, hatte seine Spritzen bekommen – wir führten die Operation in örtlicher Betäubung durch –, und zehn Minuten später lag er schon wieder in seinem Bett im Krankensaal. 52
Wir hatten in der Weltliteratur eine Reihe von Hinweisen und Krankengeschichten gefunden, die Drüsenüberpflanzungen betreffen. Mindestens handelte es sich um Fälle, bei denen Sexualdrüsen übertragen worden waren, um unklare sexuelle Entwicklung, Pseudo-Hermaphroditismus zu bekämpfen. Ebenso wurde über zahlreiche Versuche bei Eunuchoiden berichtet. Dagegen fanden wir nur wenig Material über die Implantation von Nebennieren. Anscheinend gab es nur einen einzigen gelungenen Versuch der deutschen Autoren Katz und Mainzer. Sie hatten einen Patienten mit Bronzekrankheit drei Jahre beobachtet. Zuletzt bekam er vierzig Kubikzentimeter NebennierenExtrakt täglich, aber sein Blutdruck fiel ständig weiter, und er war dem Tode nahe. Sie pflanzten ihm dann die Nebennieren eines Mannes ein, der an einem Schlaganfall gestorben war und zur gleichen Blutgruppe wie der Patient gehörte. Das Transplantat war in die Bauchmuskulatur der linken Seite eingepflanzt worden. Bald nach der Operation erreichten die Zeichen des Versagens der Nebennieren einen Höhepunkt, um plötzlich am dritten Tag nach der Operation schlagartig zurückzugehen. Der Patient fühlte sich wohl und verließ das Spital am sechsten Tag nach dem Eingriff. Es stand in dem Bericht nicht verzeichnet, was später aus dem Mann geworden war, aber wir fanden in der übrigen Literatur eine größere Zahl von Berichten, aus denen hervorging, daß eine derartige Transplantation nie viel länger als einige Monate anhielt. Nach dem Bericht der deutschen Kollegen mußten wir annehmen, und das interessierte uns in diesem Zusammenhang sehr, daß die Zeit nach der Operation besonders kritisch war. (Die jüngste Mitteilung von Katz und Mainzer besagt, daß es ihrem Patienten gut geht.) Es war uns gelungen, für den Patienten eine kleine Menge von Nebennierenpräparaten zu sammeln, und tatsächlich benötigte er sie dringend für etwa vier Tage. Am fünften Tag fing sein Blutdruck an zu steigen, ohne daß wir ihm Präparate gaben, woraus wir schlossen, daß die eingepflanzte Drüse begonnen hatte, zu arbeiten. Am sechsten Tag stieg der Blutdruck auf 110, war also nahezu normal, und etwa zehn Tage nach der Operation konnte uns der Patient verlassen. Er war zwar 53
noch schwach, aber sein Zustand hatte sich derart gebessert, daß wir ihn nach Hause gehen lassen konnten. In den kommenden Wochen und Monaten untersuchten wir unseren Kranken zuerst wöchentlich einmal, dann vierzehntäglich und später nur noch alle sechs bis acht Wochen. Er machte etwa sechs Wochen nach der Operation den Eindruck eines völlig normalen Mannes, und er konnte seinen Beruf als Uhrmacher ohne weiteres ausüben und gab an, daß er sich großartig fühlte. Auch wir fanden keinerlei objektive Zeichen einer Erkrankung. Seine Haut hatte die Verfärbung verloren. Ich führte einmal diesen Patienten einem Internisten vor und erzählte ihm die Geschichte. Er lachte nur und meinte, da hätte wohl eine irrtümliche Diagnose vorgelegen oder die eigenen Nebennieren des Mannes hätten aus irgendeinem Grunde die Krankheit überwunden. Ich diskutierte die Angelegenheit nicht weiter. Skepsis ist in solchen Dingen eine gesunde Reaktion. Da standen wir also mit unserer neuen Entdeckung und wußten nicht so recht, was wir daraus machen sollten. Für fundierte wissenschaftliche Arbeiten fehlte uns so gut wie alles. Was sollte man beginnen? Sollte man auf gut Glück weiterhin Drüsen und Gewebe von Fehlgeburten implantieren? Das wäre reichlich unwissenschaftlich und eine Scharlatanerie gewesen. Die Verhältnisse hatten sich gebessert. Es gab wieder Insulin und andere Präparate in Berlin, und wir konnten, ohne allzu große Gewissensbisse zu haben, unsere weiteren Forschungen auf einen günstigeren Zeitpunkt vertagen. Aber es kam nie dazu. Ich mußte Berlin verlassen, kam nach Westdeutschland und hatte große Mühe, einen einigermaßen anständigen Posten zu finden, der seinen Mann ernährt. An wissenschaftliche Arbeit war gar nicht zu denken, und so kam dieser fruchtbare Gedanke niemals zur Reife. Eines Tages wird ihn sicher ein anderer aufgreifen, und dann werden wir wissen, ob etwas dran ist oder nicht.
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Anmerkung des Verfassers: Die Übertragung von Drüsen vier Monate alter Föten ist später in Amerika aufgenommen worden. Die Erfolge sind überraschend, und es ist bewiesen, daß das Drüsengewebe im Wirtskörper einwächst und arbeitet.
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Blaues Baby Dem Hausarzt nacherzählt
D
er Arzt erkannte die Krankheit auf den ersten Blick. Als er das Kinderzimmer betrat, lag der zweijährige Knabe halb ausgezogen auf einem Kinderbett. Das Kind ruhte auf der Seite und hatte die Beine hochgezogen, die Knie in Brusthöhe, und hielt sie mit den Armen umschlungen. Die Lippen hatten eine Farbe, als hätte das Kind Heidelbeeren gegessen. Auch die Beine und Arme zeigten eine bläuliche Verfärbung. Es atmete schnell und stoßweise, jeder Atemzug schien unendliche Mühe zu bereiten. Der Junge war ungewöhnlich klein und mager. Finger und Zehen waren an den Spitzen merkwürdig verdickt. Morbus coeruleus, dachte der Arzt, Blausucht, wahrscheinlich wegen angeborener Enge der Lungenarterie. Er trat zum Bett und legte das Hörrohr auf die kleine Brust des halb bewußtlosen Kindes. Dann richtete er sich auf und entnahm seiner Tasche den Spritzenbehälter. »Wieviel wiegt das Kind?« fragte er die Kinderschwester. »Es hatte vorige Woche zwanzig Pfund, Herr Doktor«, antwortete sie. Der Arzt nickte, feilte eine Morphiumampulle an und zog eine winzige Menge in der Spritze hoch. Er nahm den linken Arm des Kindes hoch und sagte zur Schwester: »Halten Sie den Arm fest.« Dann legte er einen Gummiriemen um den Oberarm und zog ihn leise an. Mit kleinen fixen Bewegungen stach er die Nadel in eine der wenig aus der Haut hervortretenden Venen der Ellenbogenbeuge. Langsam, ganz langsam drückte er auf den kleinen Spritzenkolben. Sekundenschnell beruhigte sich die Atmung des Kindes. Der Kör56
per schien sich förmlich zu entspannen, und das Kind schlug die Augen auf. Der Arzt wandte sich an die Mutter. »Wo kann ich anrufen?« fragte er. »Ich muß sofort Sauerstoff haben.« Als er zurückkam, lag das Kind völlig erschöpft im Bett. Die Frauen hatten es entkleidet. Der Arzt machte wieder eine Spritze Morphium bereit und schlug die Bettdecke zurück. Mit einem äthergetränkten Wattebausch fuhr er einige Male über die Hautstelle und sagte zu dem Kind: »Ich bin der Onkel Doktor, weißt du. Ich muß dich jetzt dahinten ein bißchen piken, aber es dauert nur ein Augenzwinkern lang.« Das Kind schlief, als das Sauerstoffzelt, das der Arzt bestellt hatte, eintraf. Eine Krankenschwester war damit gekommen, und sie hatte auch eine stählerne Flasche Sauerstoff mitgebracht. Das Zelt wurde am Bett des Kindes befestigt, und der Arzt ließ Sauerstoff in das Zelt einströmen, unter dem das Kind lag. Später ließ sich der Arzt von den verstörten Eltern den Werdegang des Kindes schildern. »Als er ein Jahr alt war«, berichtete die Mutter, »ist er beim Trinken manchmal (weggeblieben) oder beim Schreien blau geworden. Er war immer ein zartes Kind, und wir hatten großen Kummer mit ihm. Sprechen hat er schon mit einem Jahr gelernt, aber zu gehen hat er erst jetzt angefangen. Kurz bevor er den schlimmen Anfall bekam, ist er zum erstenmal zwei oder drei Schritte an meiner Hand gegangen und ist dann plötzlich zusammengebrochen.« »Ihr Kind leidet an einer Enge der Lungenarterie«, sagte der Arzt. »Es ist ein schweres Leiden, und ich muß Ihnen leider sagen, daß er es nicht einfach im Leben haben wird …« »Im Leben?« Der Vater sah den Arzt entsetzt an. »Meinen Sie, daß er nie wieder ganz gesund wird?« Der Arzt sah vor sich hin und zeichnete mit dem Zeigefinger unklare Figuren auf das Tischtuch. Dann blickte er auf. »Vor einiger Zeit starb ein Mann in Chicago, der die gleiche Krankheit wie Ihr Sohn gehabt hat. Er war ein sehr tüchtiger Konzertgeiger. Und er war sechzig Jahre 57
alt, als er starb. Gewiß«, fügte er hastig hinzu, als er die Gesichter vor sich aufleuchten sah, »das ist eine große Ausnahme. Es kommt darauf an, wie stark die Pulmonalstenose ausgeprägt ist. Verstehen Sie, es gelangt dabei zu wenig Blut in die Lungen. Und infolgedessen bekommt der Körper zu wenig Sauerstoff. Er ist ständig in Gefahr zu ersticken. Das macht die Kranken zu jeder Anstrengung unfähig. Alles hängt davon ab, ob die Sauerstoffaufnahme ausreicht, ob das Herz mitmacht und leider noch einige andere Umstände …« Die Frau begann zu weinen. Der Mann blickte starr vor sich hin. »Das sind viele ›Wenns‹«, sagte er dann leise. »Wir müssen also jede Hoffnung aufgeben …« »Das sollen Sie keineswegs«, sagte der Arzt. »Wir werden gleich einen Spezialisten hinzuziehen und genau untersuchen, welches Ausmaß der Fehler hat. Bisher spricht der Junge ausgezeichnet auf die Behandlung an. Ich hoffe, daß das weiter so bleiben wird. Das Ergebnis der Untersuchung wird auch zeigen, ob man durch eine Operation den Zustand so weit bessern kann, daß Ihr Sohn ein verhältnismäßig normales Leben wird führen können. Seit jüngster Zeit ist es nämlich möglich, den Zustrom von Blut zu den Lungen bei dieser Krankheit durch einen chirurgischen Eingriff bedeutend zu verbessern. Es ist wünschenswert, daß das Kind etwas älter wird, bevor es operiert wird. Aber vielleicht bessert sich sein Zustand auch, und wir brauchen überhaupt nicht zu operieren …« Der Zustand des Kindes besserte sich nicht. In den folgenden Jahren wuchs das ›blaue Baby‹ nur sehr langsam und nahm zögernd an Gewicht zu. Es lernte dagegen schnell und gut sprechen, und seine Intelligenz war weiter entwickelt als bei gleichaltrigen Kindern. Die meiste Zeit hielt sich der Kleine in einer Klimakammer auf, die in der elterlichen Wohnung eingerichtet worden war. Sie wird stets auf trockene Luft, hohen Luftdruck und hohen Sauerstoffgehalt eingestellt. Der Gesundheitszustand wechselte ständig, aber die blaue Färbung der Haut verschwand niemals ganz. An den ›guten Tagen‹ konnte der Junge draußen ein wenig spielen. Er hatte sich dafür ein merk58
würdiges Verhalten zugelegt. Nachdem er einige Schritte gelaufen war, kauerte er sich auf der Erde zusammen. Er ließ sich dabei in die Knie gehen und beugte den Kopf weit nach vorn. In dieser Haltung erholte er sich am schnellsten wieder. Er saß ungern auf Stühlen. Am liebsten setzte er sich wie ein Türke auf die gekreuzten Beine. Über drei Jahre lang führte der Knabe dieses Treibhausleben. Für die Eltern war es eine Zeit der furchtbarsten Prüfungen. Es erforderte beinahe übermenschliche Kräfte, das Kind nie merken zu lassen, daß sie ständig um sein Leben fürchteten. Ob es der Junge dennoch merkte? Die Eltern wollten es nicht wahrhaben, aber es war ein erschreckend verzogenes Kind, unbotmäßig und tyrannisch, mit einem unglaublichen Verschleiß an Pflegerinnen. Der Arzt sagte eines Tages zu einer Pflegerin: »Wir tun dies alles, um das Kind in ein Alter hinüberzuretten, in dem es besser zu operieren ist. Die Operation ist unbedingt nötig, ohne sie würde das Kind spätestens in der Pubertätszeit sterben. Auch jetzt droht wegen des verdickten Blutes ständig eine Gehirnblutung. Achten Sie immer darauf, daß er täglich unbedingt seine anderthalb Liter Flüssigkeit erhält.« Aufmerksam betrachtete die große Spezialistin, die ihr ganzes Leben der Erforschung der Fehlbildungen menschlicher Herzen gewidmet hatte, den kleinen Patienten, der jetzt unter so unsagbaren Mühen bis zum Alter von sechs Jahren gebracht worden war. Ein Assistenzarzt las von einem Krankenblatt die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung ab: »Temperatur 37.5, Puls 100, Atmung 24. Der Blutdruck war schwierig festzustellen, er ist um 100 herum, der Pulsdruck gering.« »Ich habe dieses Kind bereits vor etwa drei Jahren gesehen. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Doktor«, sagte die Ärztin zu dem Arzt des Jungen, der dieser ersten Untersuchung beiwohnte. Dann schlug sie die Decke zurück und begann mit der Untersuchung des kleinen mageren Körpers. Der Junge war tief zyanotisch, die ganze Haut hatte einen tiefblauroten Farbton. Die Lippen dick und schwarzrot, die Schleimhaut der Wangen tintig. 59
Die Ärztin diktierte diesen Befund. Dann nahm sie das Stethoskop und setzte das Mikrophon auf die Brust. »Herz nicht vergrößert«, sagte sie und belauschte die Herztöne über dem Brustbein und an der Herzspitze. »Rauhes systolisches Geräusch ganz nahe am Brustbein, nur schwach ausgeprägt … zweiter Ton über der Pulmonalisgegend rein …«, diktierte sie weiter, nachdem sie jeweils die betreffende Stelle abgehorcht hatte. Sie fand die Lunge ohne Besonderheit, die Leber am Rippenbogen tastbar, Nieren und Milz nicht tastbar, die Genitalien normal ausgebildet. »Beine und Arme«, sagte sie an, während die Untersuchung weiterging, »tief purpurfarben, am stärksten an den Händen ausgeprägt, Trommelschlegelfinger, Kolbenzehen …« »Soviel ich sehe und nach dem bisherigen Verlauf«, sagte die Ärztin abschließend zu den Zuschauern, »haben wir es hier mit dem seltenen klassischen Syndrom zu tun, dessen pathologische Anatomie durch vier Gegebenheiten charakterisiert ist: starke Verengung der Lungenarterie an der Austrittsstelle über der rechten Herzkammer, Verschiebung der Aorta nach rechts, hochliegender Defekt der Herzscheidewand und Rechtshypertrophie des Herzens. Dadurch gelangt zu wenig Blut in die Lungen, und die rechte Herzkammer pumpt einen Teil des Venenbluts durch den Scheidewanddefekt in die Hauptschlagader anstatt in die Lungen. Das Kind hätte niemals so lange gelebt, wenn es nicht zugleich mit der engen Stelle im Verlauf der Lungenarterie die offene Stelle in der Herzscheidewand besäße. Für eine endgültige Diagnose müssen wir aber die übrigen Untersuchungen abwarten.« Eines stand fest: das Kind litt an einem angeborenen Herzfehler, der für den Blutkreislauf ein schweres Hindernis bedeutete. Komplizierte Röntgenuntersuchungen und das Elektrokardiogramm brachten weitere Hinweise auf die Natur des Leidens. Die Blutuntersuchung rundete das Bild. Die Zahl der roten Blutkörperchen betrug zehn Millionen, doppelt soviel wie normal, und der Sauerstoffgehalt des Blutes wurde mit 38 Prozent festgestellt, gegenüber 95 Prozent beim normalen Menschen. Verzweifelt versuchte der Körper durch die Vermehrung der ro60
ten Blutzellen seinen Sauerstoffbedarf zu decken. Durch dieselbe Regulation paßt sich der normale Körper der dünnen Luft in großen Höhen an, wenn auch nie im gleichen Ausmaß. Als das Bild, das die verschiedenen Untersuchungen entwarfen, klar war, beschlossen die Ärzte die Operation. Durch eine teil weise Vereinigung zweier Adern tief im Innern des Brustkorbs sollte den Lungen mehr Blut zugeführt werden, um sich dort mit Sauerstoff sättigen zu können. Zu Häupten des Kranken saß der Narkosefachmann, ein Arzt, der sich ausschließlich mit den verschiedenen Formen der Anästhesie befaßte. Er dirigierte einen riesenhaften Apparat, der aus Leitungsschläuchen, Stahlflaschen und Registrierinstrumenten bestand. Seine Meßinstrumente verrieten ihm alles: den Blutdruck die Pulszahl, die Atmungsfrequenz des Patienten und sogar die manometrischen Drücke, die bei der Narkose auftraten. Während der ganzen Dauer der Operation mischte er seinen ›Narkose-Cocktail‹ aus Äther, Lachgas und Sauerstoff in ständig wechselnder Zusammensetzung. Jede kleinste Änderung in den Lebensäußerungen des Kranken wurde augenblicklich mit einer Änderung der Zusammensetzung des Narkosegemisches beantwortet. Der Patient ruhte auf der rechten Seite. Unter der Brust lag eine Stütze, so daß sich die linke Seite stark nach oben wölbte. Der linke Arm lag im rechten Winkel zur Brust nach vorn. Der Chirurg führte den Schnitt zwischen der vierten und fünften Rippe entlang, im flachen Bogen vom Brustbein aus an der Brustwarze vorbei bis fast zum Rückgrat. Schnell teilt er die Muskulatur, setzt mit seinen Helfern Klemmen zur Blutstillung und setzt Wundhaken ein. Wie von Zauberhand gereicht und weggenommen tauchen die Instrumente in den Händen der Chirurgen auf und verlassen sie wieder. Der Chirurg blickte auf und schaut zum Narkotiseur. Er spricht kein Wort, aber der Mann versteht den Blick. Der Brustkorb wird geöffnet. Der Chirurg setzt das Skalpell an und zieht es leicht entlang dem bereits vorhandenen Schnitt. Die äußere Luft tritt jetzt in den Brustkorb ein und läßt die linke Lunge zusammenfallen. Der Narkotiseur hat zuerst den Druck etwas erhöht und läßt ihn dann allmählich zurück61
gehen, damit das Organ sich langsam zusammenfalten kann. Einem Luftballon ähnlich, der seine Luft verliert, sinkt es gegen die Brustmitte zurück. Der Chirurg setzt jetzt ein eigenartiges Instrument in den Schnitt ein. Damit spreizt er den Schnitt mächtig auseinander und erhält eine Öffnung in der Brustwand, die es ihm gerade erlaubt, im Innern zu hantieren. Dieser ›selbsthaltende Wundhaken‹ braucht nicht, wie gewöhnliche Haken, von der Assistenz gehalten zu werden. Zunächst wird jetzt die Lunge mit angefeuchteter Gaze abgedeckt. Dann legt der Chirurg innen im Brustkorb die beiden großen Adern frei, die Lungenarterie und die Aorta. Mit einer Klemme greift er nach dem Strang, der die beiden Adern, kurz nachdem sie das Herz verlassen, miteinander verbindet. Während des Lebens im Mutterleib war dieser jetzt verödete undurchgängige Strang eine offene aderähnliche Blutbahn, die eine Verbindung zwischen dem kleinen Blutkreislauf und dem großen unterhielt. Mit dem ersten Atemzug des Kindes beginnt diese Verbindung zu veröden und ist nach einiger Zeit völlig undurchlässig. Merkwürdigerweise hat die Operation, die wir hier schildern, den Zweck, eine künstliche Verbindung zwischen den beiden Blutkreisläufen herzustellen, die früher einmal von der Natur angelegt war. Mit großer Vorsicht zieht der Chirurg den Strang an der Klemme nach oben und bringt so den linken Ast der Lungenarterie besser ins Gesichtsfeld. Dann geht er mit der Hand ein und greift mit dem Finger um die Adern herum. Sein Finger liegt dicht über dem linken Vorhof des kleinen Herzens. Er fühlt dessen Bewegungen. Was er fühlt, scheint ihn zu befriedigen, die Ader liegt zur Abklemmung frei. Er legt eine starke Adernklemme an die Ader an und klemmt, die Arretiervorrichtung schließend, das Rohr zusammen; ein Stück davon entfernt dann noch eine zweite Klemme. Die Ader ist damit für das Blut, das die rechte Herzkammer normalerweise hindurchschickt, undurchlässig geworden. Der Chirurg legt jetzt eine Adernklemme an die Hauptschlagader, die Aorta, an. Es ist eine abschnürende Klemme besonderer Art. Die Operation wäre niemals möglich, wenn man gezwungen wäre, die 62
Aorta völlig zu unterbinden. Deshalb hat der Chirurg eine Adernklemme erdacht die nur einen Teil des großen Gefäßes in einer Falte zusammenpreßt, den größten Teil der lichten Weite der Ader aber für das vom Herzen kommende Blut durchgängig läßt. Ohne jede Blutung kann der Chirurg mit dem Messer einen etwa zwei Zentimeter langen Schnitt in die Wand der Ader legen. Unter diesem Schnitt, der die Ader völlig öffnet, pulst das Blut weiter. Schnell, aber in aller Ruhe, wird ein ebenso langer Schnitt in die Lungenarterie gemacht und die beiden Einschnitte dicht aneinandergelegt. Nicht ein Tropfen Blut fließt aus. Mit einer runden gebogenen Nadel näht der Operateur die beiden Öffnungen aneinander, so daß zwischen den beiden auseinanderliegenden Adern eine offene schlitzförmige Verbindung bestehenbleibt. Die beiden Leitungsrohre stoßen also an einer Stelle zusammen, so daß Blut bei jedem Pulsschlag von dem einen ins andere überströmen kann. Bei jedem Pulsschlag spritzt die Aorta einen Teil des sie durchströmenden Blutes in die Lungenarterie. Diese leitet es in die Lungen, wo es sich mit Sauerstoff beladen kann. Der Chirurg löst die Aortenklemme und dann die Klemme der Lungenschlagader. Vorsichtig und ganz langsam. Ist die Naht dicht? Kein Blut dringt aus der Nahtstelle. Er öffnet die Klemmen vollends, und zum erstenmal im selbständigen Leben des Kindes auf dem Operationstisch füllt sich die Lungenarterie ganz prall mit Blut. Die Naht ist dicht. Der Chirurg hat die Nähte angelegt, die den Schnitt im Rippenfell schließen sollen. Der Narkotiseur steigert mit großer Achtsamkeit den Druck seines Gasgemisches, um die zusammengefallene linke Lunge wieder zur Entfaltung zu bringen. Dann schließen sich die Nähte. »Sehen Sie her«, sagte der Narkotiseur zu den Chirurgen und den Schwestern, als er dem Patienten die Maske abnahm. Alle hatten sie auf diesen Augenblick gewartet. Es war der schönste Lohn, den sie bei dieser Operation davontrugen. Das Kind lag ruhig da. Es atmete regelmäßig und tief, noch immer völlig bewußtlos. Aber seine Lippen waren nicht mehr blau. Sie zeigten ein verheißungsvolles Rosa. 63
Fünf Tage nach der Operation fühlte sich der Patient wohl. Er brauchte keinen Sauerstoff. Eine Woche später konnte er eine Treppe von zehn Stufen erklimmen, ohne sich hinterher zusammenkauern zu müssen. Sieben Monate nachher wurde er in die Schule aufgenommen.
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Ich operiere einen Diktator Dem Lungenarzt nacherzählt
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rkrankungen der Diktatoren werden vor der Öffentlichkeit ängstlich geheimgehalten, nicht nur wegen gefürchteter politischer Verwicklungen. Diktatoren dürfen nicht krank sein. Sie müssen sich immer blühender Gesundheit und Frische erfreuen – auch hierin sind sie unmenschlich. Denn Krankheit würde sie in den Augen ihres Volkes menschlich, allzu menschlich machen. Hier erzählt, mit aller Diskretion, die ihm sein Stand auferlegt, ein Lungenarzt wie es ihm durch eine sensationell einfache Methode gelang, eine schwere Operation bei einem Diktator zu umgehen. Es dreht sich um die chirurgische Behandlung der Angina pectoris, an der so viele Mächtige leiden und der sie oft zum Opfer fallen. »Nun, Schwester, was habe ich für morgen?« Der Chirurg saß in einem kleinen Nebenzimmer des Laboratoriums der Klinik. Vor sich hatte er ein Mikroskop stehen, neben ihm lagen Präparate, die er nacheinander auf dem Kreuztisch des Mikroskops einklemmte und mit gespannter Aufmerksamkeit durchmusterte. Mit den sparsamen, abgezirkelten Bewegungen, die nur jahrzehntelange Übung verleiht, wechselte er die Glasplättchen, tropfte Immersionsöl auf, wechselte Objektive und bewegte die Mikrometerschraube der Scharfeinstellung. Zuweilen schob er die Brille von der Stirn herunter vor die Augen und machte mit winziger Schrift Notizen. Scheinbar ohne hinzuhören fuhr er in seiner Arbeit fort, während die Schwester den Stundenplan des nächsten Tages ablas. »Sechs Uhr dreißig, Lobektomie eines Lungenkrebses; neun Uhr dreißig, Magenresektion vor auswärtigen Gästen; nachher zwei Probelaparotomien.« 65
»Schieben Sie mir doch, bitte, irgendwo eine halbe Stunde ein«, unterbrach der Arzt, »ich muß mir das Knie von Fräulein Maaß noch einmal ansehen. Diese Präparate aus dem Gelenk sind wenig aufschlußreich, wir brauchen weiteres Material …« Während die Schwester weiterlas, entnahm er einem Schälchen eine winzige Menge des Geschabsels, das darin enthalten war, und fertigte damit sorgfältig ein neues Präparat an. Das Telefon unterbrach den Rapport der Schwester. Sie nahm den Hörer ab und sagte dann: »Der Pförtner meldet zwei Herren, Herr Professor, die Herrn Professor sprechen möchten. Er schickt einen Brief herauf.« Als es klopfte, ging sie zur Tür und nahm dem Boten den Briefumschlag ab. »Öffnen Sie«, sagte der Chirurg und nahm die Karte entgegen, die sie ihm reichte. Er blickte auf die Besuchskarte und schüttelte den Kopf. »Nanu, was will denn der von uns?« Zur Schwester gewandt sagte er: »Gehen Sie doch, bitte, hinunter und führen Sie die Herren in mein Zimmer. Ich bin sofort unten.« Der Chirurg ging den beiden Besuchern mit ausgestreckter Hand entgegen. »Ich freue mich, Herr Kollege«, sagte er zu dem wuchtigen, schweren Mann mit dem aschblonden Haar, der zuerst ins Zimmer getreten war. Dann begrüßte er den anderen Besucher, der ihm vorgestellt wurde. Es war ein schlanker, schmächtiger Mann mit einer Glatze und dunklem Haarkranz. ›Kalte, hellwache Augen, undurchdringliches Gesicht‹, dachte der Chirurg, als er ihm die Hand reichte. ›Ist das ein Kollege?‹ Der Beruf des Mannes war nicht genannt worden. Die Herren hatten Platz genommen, waren mit Zigarren versehen worden und hatten gefüllte Sherrygläser vor sich. »Es ist einiges geschehen«, durchbrach der Chirurg das Schweigen der beiden Besucher, »seitdem wir bei Ihrem Abschied meinen Jerez de la Frontera tranken. Ich habe in der Zwischenzeit einige Arbeiten von Ihnen gelesen, und ich freue mich, daß Sie Ihren alten Lehrer nicht vergessen haben.« 66
Der Angeredete trank und saugte an seiner Zigarre. »Ja, Herr Professor«, meinte er zögernd in nahezu akzentfreiem Deutsch,»ich verdanke Ihnen viel …« Er hob mit unfroher Gebärde sein Glas und trank dem Chirurgen zu. Wortlos beteiligte sich sein Gefährte an der Geste. Wieder herrschte ungeschicktes Schweigen. »Ich habe da vor einiger Zeit in einem Referat über eine Ihrer Arbeiten gelesen, daß Sie sich mit der Behandlung der Stenokardie mit paravertebralen Alkoholinjektionen beschäftigt haben«, begann der Chirurg wieder. ›Fachsimpeln‹, dachte er, ›ist immer noch das beste Mittel, um gesellschaftliches Eis zu brechen.‹ »Wie oft haben Sie denn danach einen Horner beobachtet?« Die Reaktion seines Gegenübers ließ nichts zu wünschen übrig. Der Mann lachte mit einemmal herzlich und blühte förmlich auf. »Sie haben immer noch Ihren berühmten sechsten Sinn, Herr Professor, um den wir Sie alle beneideten. Gerade die Therapie der Angina pectoris führt mich zu Ihnen. Ich habe in meinem Land die Behandlungsweise der Angina mit Alkoholinjektionen versuchsweise eingeführt und über eine Versuchsreihe berichtet. Diesem Umstand verdanke ich die … äh … Ehre …«, der Sprecher warf hier einen besorgten Blick auf seinen Begleiter, »daß ich zur Behandlung eines hohen Mitglieds der Regierung meines Landes zugezogen wurde.« Die anfängliche Erleichterung des Besuchers war wieder verflogen. Er nippte, offenbar ohne zu merken, was er trank, an seinem Glas und warf seinem Begleiter einen hilfeflehenden Blick zu. Der blieb ungerührt und stumm. Seinem Ausdruck war nicht anzusehen, ob er dem Gespräch sachlich überhaupt folgen konnte. »Dieses Mitglied der Regierung leidet seit mehreren Jahren an stenokardischen Beschwerden«, fuhr der fremde Arzt fort. »Vor einem halben Jahr hatte der betreffende Herr einen Herzinfarkt, den er aber gut überstand. Leider nehmen seitdem die Anginaanfälle an Zahl und Schwere zu, und wir sind in großer Sorge.« Der Sprechende verstummte wieder. ›Um dich selbst scheinst du in noch viel größerer Sorge zu sein‹, dachte der Chirurg, während er den Blick von einem zum anderen Besucher wandern ließ. Dann 67
sagte er: »Rund heraus, Herr Kollege, Sie wünschen eine Konsultation – wozu die Umschweife … Ich verstehe nur nicht, warum Sie sich ausgerechnet an mich wenden. Ich bin weder eine internationale Kapazität noch bin ich auf dem Gebiet der Nervenchirurgie Spezialist. Außerdem, Herr Kollege, muß ich mich doch über diese, sagen wir einmal ungewöhnliche Art wundern, einen Konsiliarius zuzuziehen …« Die Stimme des Besuchers wurde beschwörend: »Sie tun Ihrem Ruf Unrecht, Herr Professor. Überall kennt man Ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Thoraxchirurgie. Und, sehen Sie, Herr Professor, wir haben politische Rücksichten zu nehmen …« ›Wieder dieser ängstliche Blick auf den Finsterling da‹, dachte der deutsche Arzt, ›es sieht ja fast aus, als hätte der arme Kerl einen Wächter dabei …‹ »… und wir sind gezwungen, im Interesse unseres Landes äußerst vorsichtig zu sein. Eine Indiskretion, ein Bekanntwerden der … äh … Vorgänge, der Erkrankung … könnte sehr … unbequeme Folgen haben … Jedenfalls kann ich Sie versichern, Herr Professor, daß sowohl die beratenden Ärzte als auch die Regierung … ich meine, die zuständigen Stellen, Ihrer Zuziehung beistimmten …« »Sie haben also, Herr Kollege, an eine operative Entfernung der sympathischen Kette gedacht, die das Herz versorgt. Schön, bringen Sie den Patienten zu mir. Wir werden …« »Das ist ganz unmöglich …«, der stumme Herr war aufgesprungen und schüttelte aufgeregt den Zeigefinger. »… ganz unmöglich«, wiederholte er. »Sie, Professor, werden mit uns kommen. Es ist alles bereit für Sie, zu kommen …« Der Mann sprach mit einem starken Akzent, in einem Ton, der eine Drohung zu enthalten schien. Der deutsche Chirurg blickte seinen ehemaligen Schüler erstaunt an. Dieser wand sich förmlich und warf heimlich beschwörende Blicke. Er tat dem Chirurgen leid. »Was haben Sie sich also gedacht?« fragte er vorsichtig. Die Besucher hatten die Absicht gehabt, den Arzt sofort mitzunehmen, zum Flugplatz zu fahren, wo ein Flugzeug startbereit stand. »Das 68
ist unmöglich, meine Herren!« Der Chirurg imitierte ironisch seinen unsympathischen zweiten Besucher. »Ich habe morgen noch einiges zu erledigen, und da ist auch noch das Knie von Fräulein Maaß …«, der Professor lächelte über die verständnislosen Gesichter der beiden, »… aber ich stehe morgen abend zu Ihrer Verfügung. Wenn Sie aber wünschen, daß ich bei Ihnen zu Hause operiere, so muß ich darauf bestehen, einen Assistenten und meine Operationsschwester mitzunehmen.« Trotz aller Einsprüche seiner Besucher blieb er hart, und sie mußten sich fügen. Nachdem der Chirurg seine Gäste hinausbegleitet hatte und zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, fand er einen zusammengekniffenen Zettel auf seinem Stuhl liegen. »Kommen Sie, um Gottes willen. Vernichten Sie dies, bitte!« ›Kassiber‹, dachte der Arzt, ›die Briefform, in der man sich im autoritären Staat Nachrichten übermittelt …‹
* Der Chirurg hatte sich vor seiner Abreise so seine Gedanken gemacht. Das Benehmen der beiden Abgesandten verriet alles, und man hatte gerüchtweise schon so manches von einer ernsthaften Erkrankung des Mannes gehört, von dem die Besucher als ›von einem hohen Mitglied der Regierung‹ gesprochen hatten. Es handelte sich offenbar um den Diktator des betreffenden Landes. Der Patient, der Welt von zahlreichen Fotos her bekannt, war wider Erwarten nicht die stockige, gedrungene Erscheinung, wie die Bilder sie zeigen. Ein Mann mit grazilen Knochen und geringem Fettpolster, ein leptosomer Typ. Die beiden deutschen Chirurgen betrachteten seine Elektrokardiogramme mit bedenklichen Mienen. Der Assistent hielt dem Chef Vortrag: »Die Reihe der Elektrokardiogramme zeigt einen längere Zeit zurückliegenden Herzinfarkt, der auch heute noch nicht bindegewebig ausgeheilt ist. Im Arbeits-EKG, nach Treppensteigen aufgenommen, Zeichen einer Koronarstenose, die im Ruhe-EKG teilweise verschwin69
den. Der Patient hat im Anfall, nach der Krankengeschichte zu urteilen, immer auf Nitrite gut angesprochen. Auch die übrigen Untersuchungen deuten zweifelsfrei auf das Bestehen einer echten Angina pectoris. Die Schilderungen des Anfalls entsprechen dem klassischen Bild der Krankheit.« »Würden Sie dem Patienten die schwere Operation zumuten?« fragte der Chef. Der Assistent schüttelte den Kopf. Tags darauf trat der Rat der Ärzte und Politiker zusammen, und der deutsche Chirurg erklärte den acht Herren, drei Ärzten und fünf Laien, seinen Standpunkt. Ein Dolmetscher übersetzte: »Wie Sie wissen, geht man bei der Ausrottung der Brustganglien so vor, daß man neben der Wirbelsäule in Höhe der zweiten und dritten Rippe eingeht. Diese Operation ist zu schwer, sie kommt hier nicht in Betracht. Noch weniger der radikale Eingriff, bei dem die vordere Brustwand geöffnet und mehrere Rippenstücke entfernt werden und ein Lungenflügel zum Zusammenfallen gebracht worden ist. Erst dann können die Nervenbahnen operativ unterbrochen werden, die zum Herzen laufen und dort, wie man heute annimmt, die das Herz ernährenden Arterien reizen und verengen können. Jedenfalls kommen die Anfälle des Herrn Patienten durch einen Blut- oder vielmehr einen Sauerstoffmangel des Herzmuskels zustande. Der allgemeine Zustand des Herrn Patienten verbietet aber sowohl den einen als auch den anderen Eingriff. Allein die lange Dauer der Narkose würde ich nicht verantworten wollen.« Die Versammelten nahmen dieses Verdikt besser auf, als er gefürchtet hatte. Einer der Ärzte fragte: »Würden Sie, Herr Professor, einen paravertebralen Block mit Alkoholinjektionen empfehlen?« »Wenn Sie die bekannten Nachteile dieses Verfahrens in Kauf nehmen wollen, ja. Es ist weit weniger riskant als das offene Operative Vorgehen. Auch ein mehrmaliger Novokain-Block käme natürlich in Frage. Er hätte dieselben Nachteile: Zurücksinken des Augapfels, Verengung der Lidspalte, übermäßiges Schwitzen einer Gesichtshälfte und so weiter. Das bekannte Horner-Syndrom.« 70
»Das kommt natürlich nicht in Betracht«, sagte einer der anwesenden Politiker. Die anderen stimmten eifrig bei. »Und sind Sie in der Lage, uns einen anderen Vorschlag zu machen, Herr Professor?« fragte wieder der Arzt. »Mein Assistent hat da einen Vorschlag gemacht, der Beachtung verdient. Er ist Lungenspezialist und hat bei uns seit Jahren die Pneumothorax-Behandlung geleitet. Er ist der Ansicht, daß man an den betreffenden Nervenstrang, der an der Wirbelsäule des Brustkorbs entlangläuft, durch Anlegung eines Pneumothorax herankommt. Man könnte dann mit dem Brenner ohne weiteres die betreffende Nervenkette zerstören. Ich glaube, daß dies ohne ein unvernünftiges Risiko erreicht werden kann. Der Erfolg dürfte dem, den man sich von offenem operativem Vorgehen versprechen kann, in nichts nachstehen. Mein Assistent – er ist Dozent an unserer Universität – wird Ihnen gern an Hand von Skizzen die näheren Einzelheiten erklären.« Der Lungenspezialist erzählt selbst weiter: So kam es dazu, daß ich einen Diktator operieren durfte. Es ist mir heute noch rätselhaft, wie es kam, daß sich die Leute entschlossen, mich, einen Mann ohne Namen, an ihren hohen Patienten heranzulassen. Vielleicht hatte er sogar den Ausschlag gegeben. Als ihm unser Vorschlag in unserer Gegenwart unterbreitet wurde, sah er mich mit einem Nußknackergrinsen an und musterte mich schnell und gründlich aus listigen, zusammengekniffenen Augen. Dann reichte er mir die Hand und nickte. Er hatte bisher nicht ein Wort gesprochen. Jetzt sagte er in seiner Sprache, die mir ein Dolmetscher übersetzte: »Wir werden es diesen jungen Mann versuchen lassen!« Anscheinend war sein Wort Evangelium. Ursprünglich hatten die Ärzte geplant, die Sache in einem großen Operationssaal stattfinden zu lassen. Aber ich winkte ab. Da mehrere der Ärzte und eine Schwester Deutsch sprachen, machte es keine Schwierigkeiten, das Instrumentarium zusammenzubringen. Ein ausgezeichneter Pneumothorax-Apparat und das Gerät für die Kaustik waren vorhanden. Es war ein amerikanisches Fabrikat, dem unseren nachgebaut, und so fand ich mich ganz gut zurecht. 71
Am dritten Tag nach unserer Ankunft war es soweit. Zur Vorbereitung gab ich dem Patienten eine Spritze S-E-E, und er kam in einen leichten Dämmerschlaf, war aber jederzeit ansprechbar. Ständig beobachteten mich dabei zwei Ärzte und fragten bei jeder Handreichung: »Was machen Sie jetzt?« oder »Wozu ist das nötig?« Das Klinikpersonal brachte den Patienten auf den Operationstisch, während ich mich wusch. Es waren geschickte Leute, aber sie sahen alle schreckensbleich aus und zitterten merklich. Der linke Arm des Patienten mußte nach oben gelegt und festgebunden werden. Der Patient selbst lag, die Brust von einem Sandkissen gestützt, auf der rechten Seite. Es war ein Segen, daß wir unsere erfahrene Operationsschwester mitgebracht hatten. Sie kannte die Operationsvorbereitungen genau und ging mir sehr zur Hand. In dem kleinen Operationsraum befanden sich etwa ein Dutzend Menschen, Ärzte, die zusahen, und Hilfspersonal. Mir gegenüber stand der Professor und erklärte den Anwesenden die verschiedenen Prozeduren. Als ich die Anästhesie machte, tauchte rechts neben mir zu Häupten des Patienten eine Gestalt im Chirurgendreß auf. Der Mann verfolgte jede meiner Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit. Endlich war es soweit. Ich ließ mir ein Skalpell geben und machte einen kleinen Hautschnitt, etwa handbreit unter der Achselhöhle. Die kleine Blutung war schnell gestillt. Dann nahm ich die Pneumothoraxnadel, eine etwa bleistiftdicke Hohlnadel mit stumpfer Spitze, wie ein Stilett in die Hand und drückte den Unterarm mit der Ellenseite gegen den Brustkorb des Patienten. Mit bohrenden Bewegungen, vor und zurück, führte ich die Nadel durch die Brustwand. Die geübte Hand merkt sofort, wenn die Brustwand durchstoßen ist und die Nadelspitze in der von der Lunge angefüllten Höhle angelangt ist. Sobald dies erreicht ist, muß jeder Druck sofort nachlassen, sonst würde unweigerlich die Lunge angestochen und möglicherweise eine gefährliche Blutung erfolgen. An der Pneumothoraxnadel liegt ein Gummischlauch, der zum Apparat führt. Angeschlossen ist ein Manometer. Im selben Augenblick, in dem man den Brustraum mit der Nadel erreicht hat, soll das Ma72
nometer Unterdruck anzeigen. Ich blickte schnell zum Meßgerät. Es schwankte zwischen minus 7 und minus 10. Ich war also durch und die Nadel nicht verstopft. »Ich beginne jetzt zu füllen«, sagte ich zu meinem Chef und öffnete den Hahn zum Apparat. Gleichzeitig beobachtete ich den Patienten. Jetzt strömte Luft in den Brustkorb des Kranken und ließ den linken Lungenflügel langsam zusammenfallen. Die Lunge ist nur so lange aufgebläht, als im Brustkorb Unterdruck herrscht. Gleicht sich, wie beispielsweise bei Brustwunden, durch einströmende Luft der Druck im Brustraum dem äußeren Luftdruck an, so fällt der Lungenflügel der verletzten Seite völlig zusammen. Der Patient vertrug den Pneumothorax erstaunlich gut. Er zeigte keinerlei bedenkliche Reaktionen. Ich hatte etwa 100 Kubikzentimeter Luft einströmen lassen, als sich etwas ereignete: das Manometer stieg auf Null und zeigte dann positiven Druck an. Ich schloß den Hahn und sagte: »Verwachsungen. Wir müssen die Stränge durchbrennen!« Der Chef wandte sich zu den Zuschauern. »Wir schreiten zur intrapleuralen Pneumolyse. Da wir die Kaustik nachher sowieso benötigt hätten, ist das nur eine unbedeutende Komplikation.« Unterhalb der ersten Öffnung in der Brustwand legte ich jetzt, nach erneuter Anästhesie, eine zweite an. Normalerweise läßt sich zwar der Eingriff durch eine einzige eingelegte Hohlnadel durchführen, aber ich wollte vorsichtig sein und da drinnen eine gute Übersicht haben. Dann legte ich in beide Öffnungen die Röhren des Thorakoskops ein. Aus der mir zugewandten Seite des Brustkorbs ragten jetzt die beiden Rohre. Ins untere führte ich das Teleskop ein, die Vorrichtung, mit der man das Innere des Brustkorbs von außen beobachten kann. Dieses Teleskop trägt vorn ein elektrisches Lämpchen, und eine fernrohrartige Linsenanordnung ermöglicht deutliche Einsicht in den Brustkorb. Der Saal wurde jetzt auf mein Verlangen verdunkelt. Ich blickte ins Teleskop und sah oben, gegen die Lungenspitze zu, einen häufigen Strang, der eine Brücke zwischen Brustwand und der bereits etwas eingesunkenen Lunge bildete. In die obere Röhre führte ich jetzt den Brenner ein, ein Gerät, dessen Spitze mittels elektrischen Stroms 73
zum Glühen gebracht werden kann. Das hat gegenüber einem schneidenden Werkzeug den Vorteil, daß Blutgefäße, die durchschnitten werden, an der Schnittstelle verkocht werden und nicht mehr bluten. Ich ließ jetzt, immer unter Augenkontrolle, den rotglühenden Brenner durch den Strang gleiten. Eine Rauchwolke verdunkelte das Gesichtsfeld. Als ich mit einem Ball am oberen Rohr den Rauch absog, stieg mir ein leichter Geruch nach verbranntem Fleisch in die Nase. Nun pumpte ich mit dem gleichen Ball etwas Luft in die Brust, um die Lunge ›zurückzupusten‹. Das Gesichtsfeld war jetzt wieder klar. Es zeigten sich keine weiteren Stränge und Verwachsungen. Ich ließ im Saal Licht machen und erklärte kurz die Vorgänge. Dann setzte ich die Herstellung des völligen Pneumothorax fort. Der Patient, noch immer im Bann der Morphium-Skopolamin-Mischung, döste vor sich hin und lachte oder stöhnte zuweilen. Eine Schwester sprach ihm dann in der Landessprache gut zu, und er beruhigte sich schnell. Unsere Manipulationen ertrug er ohne bedenkliche Reaktionen von seiten der Atmung oder des Kreislaufs. Das Manometer zeigte jetzt auf Null, der Lungenflügel war also restlos zusammengefallen. Ein Blick ins Teleskop überzeugte mich, daß der erste Teil unserer Arbeit erfolgreich gewesen war. Die Lunge lag als grau-blaues Gebilde zusammengeschrumpft im Hintergrund. Sie pulsierte leise unter den Herzschlägen. Ich schob die Optik weiter nach innen, am Lungenkörper vorbei. Der vordere Teil der Wirbelsäule gelangte ins Gesichtsfeld. Und jetzt sah ich auch die Nervenknötchen, die das Ziel unserer Bemühungen bildeten. Es sind die Ganglien des Sympathikus, die Nervenfasern zum Herzen schicken und seine Blutversorgung stören können. Ich sah diesen ›Grenzstrang‹ weißlich durch die Pleura schimmern und die vielen kleinen und großen Blutgefäße. Ich führte den Brenner ein und gab Strom. Dann brachte ich ihn scharf gezielt an das oberste Nervenknötchen heran, das sich weißschimmernd unter der Haut abhob. Der Brenner senkte sich, und wieder stieg ein Rauchwölkchen auf. Weiter unten traf der Brenner, mit dem ich an der Wirbelsäule entlangfuhr, weitere Knötchen. Und in Sekunden war die Operation beendet. 74
Ich ließ Licht machen, entfernte die Rohre des Thorakoskops und nähte die Hautwunden mit einigen Stichen. Der Patient wurde sofort auf eine Bahre gelegt und hinausgefahren. Weder ich noch der Chef haben ihn je wieder gesehen. Nur aus der Presse erfuhren wir, daß er sich bester Gesundheit erfreut. Unser Abschied aus dem Land, dessen Namen zu nennen die ärztliche Etikette verbietet, ging sang- und klanglos vor sich. Drei Stunden nach der Operation saßen wir im Flugzeug. Man hatte sich nicht nur erfrecht, den Chef und uns zu unverbrüchlichem Schweigen zu ermahnen, sondern auch unsere Koffer durchwühlt. Das Operationsprotokoll, das ich nach dem Eingriff diktiert hatte, war der Schwester abgenommen worden. Wochen später brachte ein Bote ein Päckchen von einem fingierten Absender. Es enthielt in barem Geld ein Honorar, das zwar nicht fürstlich, aber auch keineswegs knickerig war. Der Diktator hatte sich nicht lumpen lassen …
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Sprengstück im rechten Ventrikel Der chirurgischen Assistentin nacherzählt
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naben spielen mit frei herumliegender Kriegsmunition. Ein Sprengkörper detoniert. Den Jungen geschieht wie durch ein Wunder nichts, aber ein unbeteiligtes kleines Mädchen wird verletzt. Es liegt auf den Tod darnieder. Ein Chirurg ersinnt eine neue Operationsmethode, um das Kind zu retten. Durch eine chirurgische List bei der alle modernen Mittel eingesetzt werden, gelingt es, ein Sprengstück dem kleinen Herzen förmlich wieder abzuschmeicheln. Ein Autofahrer brachte das Kind in die Rettungsstelle des Krankenhauses. Die Volontärärztin, der Medizinalpraktikant und die Schwester, die den Dienst hatten, nahmen den kleinen Patienten in Empfang. Das Kind, ein Mädchen, war pulslos, und zunächst war keine Atmung feststellbar. Es lag auf dem Untersuchungsbett, winzig, mit völlig erschlafften Gliedern, das Gesicht grau, die Lippen bläulich verfärbt. Nicht die geringste äußere Verletzung war zu sehen. Die Ärztin setzte dem Kind das Stethoskop auf die Brust, ohne das Kleidchen zu öffnen. Sie wechselte mehrmals die Stellen, die sie belauschte. »Lebt sie noch?« fragte endlich der Autofahrer, der die Spannung nicht länger ertragen konnte. »Ja«, antwortete die junge Ärztin, »noch lebt sie.« Und dann, immer noch das Stethoskop auf der Brust des Kindes, zu ihrem Kollegen: »Wir machen künstliche Atmung. Schwester, bringen Sie mir eine Ampulle Lobelin und den Sauerstoff.« Der Medizinalpraktikant war schon dabei, den weißen Kittel auszuziehen und den Rock abzulegen, und begann dann rhythmisch die 76
Arme des Kindes zu bewegen. Die Ärztin ergriff mit einer Klemme die Zunge des Kindes und zog sie aus dem Mund. Dann machte sie die Injektion und legte ein Röhrchen in die Nase ein, durch das Sauerstoff zuströmte. Das Rohr befestigte sie mit Heftpflaster an der Wange des Kindes. »Rufen Sie doch in der Kinderklinik an, man möchte einen Arzt herüberschicken«, sagte sie dann zur Schwester. »Und geben Sie, bitte, an, um was es sich handelt«, fügte sie hinzu. Während sie dem Kind Schuhe und Strümpfe auszog und das Kleidchen aufschnitt, fragte sie den Autofahrer. »Haben Sie das Kind angefahren? Es scheint nicht verletzt zu sein.« Der Mann machte eine abwehrende Geste. »Ich habe das Mädchen nicht überfahren. Als ich in die Stadt hereinfuhr, sah ich es zufällig an der Gartenmauer eines Villengrundstücks liegen, dicht neben der Landstraße. Da niemand in der Nähe war und auf mein Rufen aus dem Haus keine Antwort kam, nahm ich das Kind in den Wagen und fuhr hierher … Das Haus lag tief im Garten«, fuhr er in seiner Erklärung fort, »wahrscheinlich drüben an einer anderen Straße, nehme ich an, und das Tor in der Mauer war zu. Gegenüber war ein Wald, und die anderen Häuser lagen weit ab.« »Ja«, sagte die Ärztin, »ich kenne das Villenviertel. Die Gärten stoßen an die Landstraße. Merkwürdig, daß das Kind so allein war. Es ist fünf Jahre alt.« Sie legte das Hörrohr auf die jetzt entblößte Brust des Kindes und zuckte die Achseln auf den fragenden Blick ihres Kollegen. »Soll ich Sie ablösen?« fragte sie. Der junge Arzt schüttelte den Kopf. Eifrig fuhr er mit der Wiederbelebung fort. »Haben wir ein kleines Mastdarmspekulum?« wandte sich die Ärztin an die Schwester. Diese brachte nach einigem Suchen das Instrument, und die Ärztin führte es ein und schraubte vorsichtig daran. »Hoffentlich kommt der Kinderarzt bald«, sagte sie, »ich möchte ohne ihn kein Kreislaufmittel geben.« »Versprechen Sie sich was von der Rektum-Spreizung?« meinte der Praktikant, der, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, interessiert zu77
gesehen hatte. Das Eintreten des herbeigerufenen Kinderarztes enthob sie der Antwort. Der Kinderarzt ließ sich den Hergang schildern und untersuchte die kleine Patientin, horchte und tastete mit erfahrenen Händen den kleinen Körper ab. Ein pfenniggroßer, blutunterlaufener blauroter Fleck in der Mitte der Brust, rechts, dicht neben dem Brustbein, nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Noch während seiner Untersuchung schluckte das Kind, und die Brust hob sich leise. Nach einigen Atemzügen aber schien die Atmung wieder auszusetzen. Gespannt blickten die Anwesenden auf den kleinen Brustkorb. Der Kinderarzt setzte das Hörrohr an. »Das Herz ist besser. Ich glaube, wir kriegen sie doch noch hin«, brummte er. Tatsächlich begann das Kind jetzt regelmäßig zu atmen. Aber es blieb weiter bewußtlos. »Ich lasse das Kind dann gleich zu uns herüberholen«, sagte der Kinderarzt. »Wir wollen sehen, was da eigentlich los ist. Geben Sie ihm jetzt eine Ampulle Icoral. Und verständigen Sie doch, bitte, die Polizei.« Die Polizei war, als die Klinik anrief, bereits von den verzweifelten Eltern, einem Hausmeister-Ehepaar, über das Verschwinden des Kindes unterrichtet. Das Mädchen hatte offenbar den Garten des Hauses in einem unbewachten Augenblick verlassen, und die Gartentür war hinter ihm zugefallen. Der Autofahrer hatte das Kind einige hundert Meter vom Garten des Hauses entfernt, auf der Straße liegend, aufgefunden. In der Klinik forschte man inzwischen schon nach der rätselhaften Krankheit des Kindes. Aber erst die Röntgenaufnahmen brachten eine sensationelle Aufklärung: in der rechten Herzkammer des Kindes fand sich der Schatten eines anscheinend metallischen Fremdkörpers, wie ein Nagel ohne Kopf geformt, etwa zwei Zentimeter lang, zwei Millimeter dick und in einer ziemlich scharfen Spitze auslaufend. Der Stift lag freibeweglich im Herzen und hüpfte mit dem Herzschlag. Wie war das Stück Metall dorthin gekommen? 78
Aus dem Kind, das sich etwas erholt hatte, war nichts herauszubekommen. Erst die Polizei klärte die Angelegenheit auf. Im Wäldchen, das gegenüber den Villen lag, hatten Knaben mit versteckter Munition gespielt. Ein Sprengkörper war explodiert, ohne daß einer der Knaben verletzt worden war. Nur das kleine Mädchen, das etwa zwanzig Meter entfernt stand, war offenbar durch ein Sprengstück verletzt worden. Nach der Lage eines Flecks auf der Brust hatte der Stift die Brustwand durchschlagen und war, so hatte es den Anschein, oberhalb des Herzens eingedrungen, in den rechten Vorhof oder eine zuführende Ader. Von dort war er in die Herzkammer gelangt. Der Stift mußte mit der Spitze voraus pfeilartig in den Körper gedrungen sein. Es war keine Blutung nach außen erfolgt und auch an den Kleidungsstücken ließ sich keine sichtbare Einschußstelle nachweisen. Anfangs erholte sich das Kind gut von dem Schock. Die Herzarbeit wurde normal, und der Fremdkörper schien keine weiteren Beschwerden zu machen. Bald aber entwickelte sich ein fieberhafter Zustand, gegen den die Ärzte machtlos waren. Das Kind verfiel zusehends. Eines Tages ordnete der Vorstand der Kinderklinik nach der Visite an, daß ein Chirurg zugezogen werden sollte. »über kurz oder lang«, sagte er zu dem Oberarzt, »dürfte die Frage der Entfernung des Fremdkörpers doch akut werden. Ich hätte gewünscht, daß wir dem Chirurgen einen Patienten in gutem Gesundheitszustand hätten vorstellen können. Aber wir haben keine Wahl.« »Jawohl, Herr Professor«, antwortete der Oberarzt und bestellte den Konsiliarius aus der Chirurgischen. Der junge Chirurg betrachtete nachdenklich versunken das Kind. Auf dem kleinen schmalen Gesicht lag derselbe jenseitige Ausdruck, den er von den fünfzehn- oder sechzehnjährigen Volkssturmmännern des Krieges her kannte, die er hatte sterben sehen. Die übergroßen Augen des Mädchens sahen zu ihm auf, sie waren furchtlos und erwartungsvoll. Auch solche Augen kannte er. ›Sie wissen noch nichts vom Tode, wie die Älteren‹, dachte er. ›Sie fürchten sich noch nicht. Leben ist für sie so selbstverständlich.‹ Er mußte wohl gelächelt haben bei dem Gedanken, denn die Kleine 79
lachte ihn jetzt an. Fast schon ein wenig kokett und mit leicht verdrehten Augen. Er strich ihr übers Haar und verabschiedete sich. »Auf Wiedersehen, mein Fräulein«, sagte er. Und sie nickte hoheitsvoll zweimal hintereinander. Die Ärzte hatten sich in ein Zimmer der Kinderklinik zurückgezogen. Die Kinderärzte blickten erwartungsvoll auf den Chirurgen. Der saß in einem der stählernen Armsessel. Er hatte nach sinnend das Haupt gesenkt und spielte mit der Linken an seiner Brille. »Ich muß Sie leider enttäuschen, Herr Professor und meine Herren«, begann er sein Gutachten, »aber der herkömmliche Eingriff mit Freilegung des Herzens, Schnitt in die Wand der Kammer und Entfernung des Splitters kommt hier nicht in Betracht.« »Das bedeutet dann – Exitus«, sagte der Oberarzt. »Sie haben also die Hoffnung aufgegeben, das Kind fieberfrei zu bekommen, Herr Kollege?« fragte der Chirurg. Der Oberarzt schüttelte den Kopf. »In solchen Fällen passieren keine Wunder.« Er erhob sich. »Das verhält sich bei Kindern auch nicht anders als bei Ihren Patienten drüben.« Er blickte erwartungsvoll auf seinen Chef, um dessen Zeichen zum Aufbruch entgegenzunehmen. »Wäre es wenigstens möglich«, sagte der Chirurg, »ein fieberfreies Intervall herbeizuführen?« »Würden Sie sich dann zum Eingriff entschließen?« Der Professor beugte sich gespannt vor. »Nicht zur klassischen Operation, Herr Professor. Das geschädigte Herz würde sie schwerlich aushalten. Aber vielleicht sehe ich eine andere Möglichkeit.« »Fieberfreiheit haben wir schon mehrmals erreicht. Einmal war acht oder zehn Tage keine Temperatur da, und wir dachten, das Mädchen sei überm Berg. Ich könnte mir denken, daß sich dieses Hin und Her noch öfters wiederholt, denn wir fahren natürlich mit der bisherigen Behandlung fort.« Der Oberarzt hatte sich wieder gesetzt, als er sah, daß die Diskussion weiterging. »Bis zum bitteren Ende«, fügte er dann noch hinzu. 80
»Die klassische Ausführung der Entfernung von Fremdkörpern aus den Herzkammern oder Vorhöfen hat mich nie befriedigt«, begann wieder der Chirurg. »Ich habe sie im Krieg verschiedentlich ausgeführt. Sie ist ein gewaltiges Risiko. Im geordneten klinischen Betrieb, mit allen Hilfsmitteln der Friedenszeit, sind die Chancen freilich bedeutend besser. Trotzdem ist das Vorgehen wenig kunstvoll und macht meines Erachtens zu wenig Gebrauch von den heute vorhandenen Hilfsmitteln. Der Schnitt in die Herzwand schädigt immer die nervöse Versorgung des Muskels und sehr oft auch die Blutversorgung.« »Wüßten Sie denn einen anderen Weg, Herr Doktor?« Einer der jüngeren Assistenzärzte mußte einen strafenden Blick des Oberarztes ›wegen vorlauten Benehmens‹ kassieren und biß sich erschreckt auf die Lippen. »Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor …« Der lächelte und winkte ab. »Bitte, Herr Kollege«, wandte er sich an den Chirurgen, »fahren Sie doch fort. Entschuldigen Sie die Störung.« »Ich könnte mir einen anderen Weg denken, ganz richtig.« Der Chirurg nahm einen Notizblock und einen Füllhalter. Mit wenigen Strichen entwarf er eine Skizze des menschlichen Brustkorbs. »Die Herzspitze«, begann er zu dozieren, indem er den Block mit der Skizze vor sich auf den Tisch legte, »ist weitgehend frei von Nervenbahnen. Die Nerven breiten sich sozusagen wie ein Pferdeschwanz über das Herz aus, gegen die Spitze zu gehen sie weit auseinander und verlieren sich. Außerdem ist die Spitze der massivste und kontraktilste Teil. Sie zieht sich besonders stark zusammen. Ich habe einen von unten geführten Messerstich gesehen, der die Herzspitze durchstieß, ohne daß wir von seiten des Herzens Schwierigkeiten bei der Behandlung hatten …« Er begleitete seine weiteren Ausführungen mit skizzenhaften Einzeichnungen. Die anderen hatten sich gespannt über den Tisch gebeugt und sahen fasziniert zu. Für einige Augenblicke schien bei allen die sonst so strikt bewahrte Haltung des (nil admirari) und des un81
überwindlichen Skeptizismus, die zum Habitus des Wissenschaftlers gehören, durchbrochen zu sein. In kurzer Zeit hatte der Chirurg mit wenigen Schnitten einen Zugang zum untersten Teil des Herzbeutels freigelegt. Mit dem Finger hatte er das Zwerchfell vom Rippenbogen gelöst und einen schmalen Lappen gebildet, den er nach links herüber umklappte. Der tiefste Teil des Herzbeutels lag frei. Er öffnete ihn mit einem Schnitt des Skalpells, legte Klemmen an die Wundränder und brachte den Schnitt zum Klaffen. Nun begann die eigentliche Arbeit. Die kleine Patientin lag in Äthernarkose. Unscheinbar und zerbrechlich sah das Körperchen aus, um das sich jetzt acht Personen bemühten, um es einem sicheren Tod zu entreißen. Der Chirurg hatte eine mittelstarke Punktionsnadel in die Hand genommen. Er studierte das Röntgenbild des Brustkorbs, das hell erleuchtet in einem Kasten neben dem Tisch stand. Dann ging er mit zwei Fingern der linken Hand in den Herzbeutel ein und drückte sie leicht auf die Herzspitze. Mit der Rechten setzte er die Nadel auf die Herzspitze auf und drückte mit großer Vorsicht zu, die Nadel während des Einstechens leise hin und her drehend. Die Spitze der Nadel zeigte leicht nach rechts in Richtung auf die rechte Herzkammer. Genau im Rhythmus der Herzbewegung drang die Nadel langsam vor. Mit einem Male stand die Hand still. Die behutsame Chirurgenhand hatte das Aufhören des Widerstandes der Muskulatur an der Nadelspitze ertastet. »Nehmen Sie den Mandrin heraus«, sagte er zu einem Assistenten. Dieser griff mit einer Pinzette nach dem Stäbchen, das in der Nadel lag, um beim Einstechen Verstopfung zu vermeiden, und zog es heraus. Sofort floß aus der Nadel dunkelrotes Blut heraus. Die Nadel lag richtig in der Herzkammer. Sofort zog der Chirurg die Nadel zurück. Kein Tropfen Blut floß aus dem Einstich. Fest schloß sich der Muskel um den soeben angelegten Kanal. Der Eingriff war bisher reibungslos verlaufen. Puls, Atmung und Herztätigkeit waren gut. Die sorgfältige Vorbereitung des Patienten für die Operation trug Früchte. Der Chirurg führte jetzt langsam eine dünne, zerbrechlich ausse82
hende Fistelzange in die Herzspitze ein. Millimeterweise drang das Instrument auf dem, mit der Punktionsnadel, angelegten Weg in die Herzkammer vor. Damit sollte der Fremdkörper ergriffen und auf demselben Weg, via Herzspitze, herausgezogen werden. Im Operationssaal, der bisher so ruhig gewesen war, herrschte mit einem Male große Geschäftigkeit. Zwei Schwestern richteten den Operationstisch auf und drehten die Patientin, die vorher auf dem Rücken lag, auf ihre rechte Seite. Die Kranke stand jetzt also im Raum, auf dem Tisch angeschnallt. Dann brachten Schwestern und Wärter zwei Röntgenapparate herbei und plazierten sie zu beiden Seiten der Patientin. Zwei Assistenzärzte legten gegenüber je einem Röntgenapparat Kästen an, in deren Mitte sich Röntgenschirme befanden. Das eine Ende des Kastens lag am Brustkorb des Patienten, in das andere konnte ein Arzt das auf dem Schirm entworfene Röntgenbild beobachten. Die Anordnung erlaubte keinen Lichtzutritt, so daß die Beobachtung der Bilder ohne störendes Licht wie in einer Dunkelkammer möglich war. Jeder der Röntgenärzte hatte, nachdem die Apparaturen in Betrieb gesetzt waren, ein Bild des Fremdkörpers in der Herzkammer vor sich, nur sah ihn jeder in einer anderen Ebene liegend. Sie sahen auch die Zange, die ein wenig in die Kammer hineinragte, als dunklen Schattenriß auf ihren fluoreszierenden Schirmen. »Er liegt etwas weiter oben«, sagte einer der Röntgenologen. Langsam führte der Chirurg die Zange weiter ein. »Halt«, erklang das Kommando der Durchleuchter. »Etwas weiter nach hinten« – »etwas nach rechts« – »etwas zurück« – Schritt für Schritt dirigierten die beiden Sehenden den Chirurgen, der im Dunkeln nach dem Stückchen Metall tastete. Die Minuten dehnten sich endlos. Dieses Suchen ohne eine Kontrolle durch die Augen des Chirurgen, in einem so gefährlichen Gelände, wie es das Innere eines menschlichen Herzens ist, erschien völlig aussichtslos. »Jetzt«, rief einer der Röntgenbeobachter. Der Chirurg öffnete außen die innenliegenden Backen des Zängleins 83
und schloß sie wieder. Die Griffe schlossen sich ganz aneinander – ein Fehlgriff. »Sie müssen eine Idee nach hinten gehen und etwas zurück«, sagte einer der Beobachter. »Ja, jetzt«, riefen beide zugleich. Wieder öffnete der Chirurg die Zange und schloß sie. Alle blickten sie auf die Zange. Die Griffe schlossen sich nicht, er hatte den Fremdkörper gepackt. »Sie haben ihn in der Mitte«, sagte ein Beobachter. »Ziehen Sie ihn nach unten.« Wird er den Stift halten können? Um ihn herauszuziehen, mußte der Chirurg ein Ende greifen, entweder die Spitze oder das stumpfe Ende. Die Zange wurde ein kurzes Stück herausgezogen, dann zeigte sich der Widerstand des Stifts, der jetzt offenbar in der Nähe der Herzspitze lag, aber noch nicht die richtige Stellung zum Herausziehen hatte. Dem Chirurgen stand der Schweiß auf der Stirn, und seine Brille war beschlagen. Eine Schwester säuberte sie für ihn, wischte den Schweiß weg und setzte ihm die Brille wieder auf. »Er liegt jetzt genau waagrecht zur Zange«, sagte ein Beobachter. »Die Spitze ist links oben.« »Dann gehe ich nach rechts unten an ihm entlang«, sagte der Chirurg, »und versuche das untere Ende zu ergreifen.« Er mußte nun, indem er die Backen der Zange etwas lockerte, am Fremdkörper entlangfahren und versuchen, ihn nicht wieder aus den Backen zu verlieren. Immer den Bewegungen des ruhelosen Herzens nachgebend, führte er die entsprechenden Bewegungen aus, die so klein waren, daß sie kaum zu sehen waren. »Sie sind gleich am Ende, Vorsicht«, rief ein Beobachter. Und gleich darauf: »Halt.« Es galt jetzt noch, den Stift in eine Lage zu bringen, in der er mit der Zange eine gerade Linie bildete. Durch langsames Manipulieren, immer von den Weisungen der ›Sehenden‹ geleitet, gelang dies endlich. Mit unendlicher Vorsicht begann jetzt der letzte Akt, das Herausziehen des Metallstifts. Der entscheidende Augenblick: würde die Mus84
kulatur der Herzspitze reißen, wenn die Zangenbacken mitsamt dem Fremdkörper den engen Kanal durch die Herzwand passierten? Durch leisen Zug, das Instrument leicht drehend, brachte der Operateur sein Instrument nach außen, bis er den Widerstand des verdickten Teils, Backen und Fremdkörper, an der Innenwand des Herzens spürte. Dann zog er weiter und verschaffte diesem Teil Eingang in den Kanal. Er ließ dabei das Gesicht des Narkotiseurs nicht aus dem Auge, um darin sofort etwaige Gefahren ablesen zu können, noch bevor ein Wort gefallen war. Würde das Herz rebellisch werden? Immer weiter trat die Zange heraus. Es schien Stunden zu dauern, bis wieder ein weiterer Millimeter von ihr sichtbar wurde. Der Chirurg richtete seine Arbeit nach der Herzaktion ein, die ununterbrochen und regelmäßig verlief, Herzschlag – Pause Herzschlag. Im gleichen Rhythmus arbeitete der Arzt. Man sah die feingliedrige Zange im Takt des Herzens leise wippen, die Hand zwischen Zug und weichem Nachgeben abwechselnd. Sie schmeichelte dem Herzen förmlich den Eindringling ab, sich schmiegsam jeder Bewegung des ruhelosen Organs anpassend. Die Röntgenärzte starrten in ihre Kryptoskope. Sie erlebten das, was die anderen von außen sahen, als Spiel der Schattenrisse da drinnen. Wie ein Nagel durch eine Herzspitze wanderte – das bekam man nicht alle Tage zu sehen. Jetzt traten die Backen durch die Außenwand. Die Austrittsstelle am Muskel öffnete sich weiter und wölbte sich vor. Wie ein kleiner Krater war es anzusehen. Und dann war der Stift heraus. Kein Blut lief aus der Öffnung. Hermetisch verschloß die starke Muskulatur der Spitze die Herzwunde. Keine Herznaht, keine Klammer waren nötig. Der junge Chirurg trat vom Operationstisch zurück und zeigte den Gästen den Fremdkörper, den er immer noch in der Zange hielt. »Gratulor, Gratulor, Herr Kollege«, sagte der Chef der Inneren Klinik, »das war das Eleganteste, was ich in meiner Zeit gesehen habe!« »Danke, Herr Professor«, lächelte der Chirurg, »ich hoffe, wir können das Verfahren ausbauen …« »Wohin ausbauen?« fragte der andere verwundert, »Herzfremdkörper sind selten!« 85
»Ich denke da an gewisse Herzfehler«, antwortete der Chirurg, »die Chirurgie der Herzklappenfehler.« »Teufel, Sie haben Ambitionen«, lachte der Professor, »wollen Sie unsereinem gar nichts mehr übriglassen?« Das Kind erholte sich schnell von der Operation. Es überwand die schleichende Sepsis, nachdem der Fremdkörper entfernt war. Dieser war ein Stück aus dem Zündmechanismus eines Sprengkörpers gewesen, wie sie auch heute noch in allen Gegenden Deutschlands herumliegen. Immer noch fordern sie, besonders unter spielenden Kindern, Opfer auf Opfer. Und nicht immer gelingt es, sie zu retten, wenn sie in die Klinik gebracht werden.
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Ferngelenkte Operation Dem Schiffsarzt nacherzählt
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er Doktor läßt Sie bitten, in die Passagierkabine zu kommen, Käpt'n.« Der Steward stand am Fuße des Bettes, auf dem der Kapitän des trampenden kleinen Frachtdampfers in den Kleidern lag und in einem Schmöker las. »Was'n los?« Der Kapitän wandte den Blick nicht vom Buch. »Ein Passagier ist krank. Es hat ihn bös, Käpt'n«, antwortete der Steward. »Wozu braucht der Doktor da mich«, knurrte der Kapitän, »wird sich überfressen haben, der Herr Passagier. Oder ist es eine Sie?« »Nein, es ist der junge Mann, der mit seinen Eltern reist. Er sieht scheußlich aus und kotzt wie verrückt. Ich glaube, er hat die Ruhr oder die Cholera oder so was …« Den Kapitän riß es hoch. »Du kannst wohl nicht dafür, Mann«, schrie er den Steward an, »wie sollen wir so was aufs Schiff bekommen. Hat der Doktor das gesagt?« »Nein«, antwortete kleinlaut der Steward, »der Doktor hat gar nichts gesagt. Aber als ich mal auf einem Ostindienpott fuhr, da hatten wir einen Tschink an Bord, bei dem sah es genauso aus, und nachher war's die Cholera …« Der Kapitän saß auf dem Bettrand, zog die Schuhe an und setzte die Mütze auf. »Gib mir Feuer«, sagte er zum Steward, »und halt die Klappe … 87
dämliche Unkerei …« Der Steward zündete ihm die dicke ägyptische Zigarette an. Dann trat er durch die Tür, die der Steward für ihn offenhielt. »Los«, ranzte der Herr des Schiffes draußen den Steward an, »zeig mir, wo der Mann liegt.« Sie gingen hintereinander, der Steward voraus, durch die schmalen Gänge. Als der Kapitän die kleine Kabine betrat, sah er sofort, daß es wirklich ernst war. Der junge Mann, um dessentwillen man ihn gerufen hatte, lag auf dem unteren Bett. Sein Gesicht war grau und schmerzverzerrt, er hatte die Beine hochgezogen und hielt die Arme wie schützend vor den Bauch. Der Arzt und die Eltern des Jungen standen vor dem Bett. Es roch nach Mensch und nach Erbrochenem. Der Arzt trat dem Kapitän einen Schritt entgegen, die beiden steckten die Köpfe zusammen. »Was hat er«, flüsterte der Kapitän, »Infektionskrankheit?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Eine akute Appendizitis, Blinddarmentzündung«, sagte er ebenfalls leise, »soweit ich das bis jetzt beurteilen kann ….« Der Kapitän atmete erleichtert auf und blies den Zigarettenrauch dabei weit von sich. Gelbe Flagge, dezimierte Mannschaft, wochenlange Quarantäne, endlose Scherereien – ein Seefahrer-Alptraum zerging. »Sind Sie sicher, Doktor, daß es nichts Ernsthafteres ist?« fragte er jetzt mit nur wenig gedämpfter Stimme. Der Arzt flüsterte weiter: »Es ist verdammt schlimm genug. Er hat achtfünf Temperatur. Angefangen hat es mit Schüttelfrost und Kotzen – der ganze rechte Bauch, bis zur Leber hinauf ist schmerzempfindlich.« Der Kapitän wollte nichts weiter hören. Nachdem ihm versichert worden war, daß er keine Seuche an Bord hatte und seiner Mannschaft und dem Geschäft keine Gefahr drohten, war ihm bedeutend wohler geworden. »Das überlasse ich Ihnen, mein lieber Herr Doktor«, sagte er leichthin. »Operieren Sie den jungen Mann oder machen Sie ihn sonstwie gesund. Ich habe alles Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. In zehn Tagen 88
sind wir in Habana, dann kann der Junge ins Spital, wenn's noch sein muß …« Damit wandte er sich freundlich lächelnd zu den Anwesenden, machte eine knappe Verbeugung und verließ die Kabine. Der Arzt eilte ihm nach und stellte ihn auf dem Gang. »Hören Sie, Käpt'n«, sagte er, »ich muß Sie noch einen Augenblick sprechen.« »Schießen Sie los, Doktor.« Der Kapitän legte dem Arzt einen Augenblick den Arm um die Schultern. »Kommen Sie mit, wir wollen miteinander einen heben …« Den Arzt im Schlepptau, ging der Kapitän zurück in seine Gemächer. Die beiden saßen sich in der Kapitänskajüte gegenüber. Der Steward hatte eine Flasche Rum gebracht, und der Kapitän mischte. Viel Rum, wenig destilliertes Wasser und einen Schuß Zitronensaft. »Bei den Yanks«, brabbelte er vor sich hin, während er die Mischung bereitete, »saufen sie auf den Pötten Coca mit Rum. Schmeckt wie schimmeliges Brot mit Schnupftabak bestreut, aber man wird davon nicht so leicht blau … na denn, Doktor«, er hob das Glas, »auf daß Sie Ihren Fall lebendig nach Habana bringen …« Der Arzt trank ihm zu. Sie leerten das erste Glas und gleich hinterher das zweite. »Den bring' ich im Leben nicht nach Habana«, sagte dann der Arzt. »Der Junge müßte sofort operiert werden …« »Na schön, Mann, operieren Sie ihn eben.« Dem Kapitän war der starke Rum schnell ins Blut gegangen, nachdem er den Seuchenschreck überwunden hatte. »Was glauben Sie, was ich da schon alles mitgemacht habe, Doktor. Es war noch vor Ihrer Zeit, da dampften wir …« Der Arzt unterbrach hastig das drohende endlose Seemannsgarn. »Der Mann geht uns ein, Käpt'n«, sagte er schnell, »und Sie haben dieselben Schwierigkeiten, wie wenn er die Cholera oder sonst was Verdächtiges gehabt hätte. Kein Aas glaubt uns die Diagnose ›Appendizitis‹. Er muß operiert werden …« »Na, dann schneiden Sie ihn schon«, schrie der Kapitän. 89
Der Arzt nahm einen Kuhschluck aus seinem Glas und lachte vor sich hin: »Ich fahre seit zwölf Jahren mit Ihnen, Käpt'n«, sagte er leise wie zu sich selber, »und vorher war ich ebensolange auf anderen Pötten. Ich war nie ein Chirurg. Ich kann ein Panaritium schneiden oder Luxationen einrenken oder einen Bruch schienen – alles in Alkoholnarkose, versteht sich. Ich bin Spezialist in der Behandlung Besoffener und ich weiß, wann ein Sailor Rizinus und wann er Opium nötig hat. Und ich kann die Wunden versorgen, die er bei einer Schlägerei bezogen hat. Aber ich will verdammt sein, wenn ich eine Ahnung habe, wie man eine Appendektomie einigermaßen lege artis macht. Da können wir dem Knaben auch gleich die Kohlensäcke anhängen …« Der Kapitän blickte voll Bewunderung auf seinen Schiffsarzt. »Reden tun Sie wie ein Professor, Doktor«, sagte er. »Das Kauderwelsch Ihres Gangs haben Sie jedenfalls nicht vergessen. Prost …« Die beiden Herren tranken sich zu. »An allem sind die verfluchten Weibsbilder schuld«, sagte der Kapitän, voller Behagen in die abgespielte Platte der Seeleute gleitend. »Der Satan muß mich geritten haben, als ich auf den blödsinnigen Einfall kam, Passagiere und Schürzen dazu an Bord zu nehmen … aber lassen Sie man, Doktor«, sagte er dann tröstend, »wir werden die Sache mit den Hafenbonzen schon schaukeln … herein«, unterbrach er sich, als er das Klopfen an der Tür hörte, »immer herein, wenn's kein Gläubiger ist.« In der Tür stand ein junges Mädchen. Sie starrte entsetzt auf die zechenden Männer, faßte sich aber schnell. »Kommen Sie 'rein in die gute Stube, mein gnädiges Fräulein«, schrie der Kapitän gut gelaunt, »Sie haben uns sehr gefehlt …« »Danke, Herr Kapitän«, sagte das Mädchen. »Nein, danke, ich möchte nichts trinken«, wehrte sie das Glas ab, das ihr der Kapitän reichen wollte. Dann wandte sie sich brüsk an den Arzt: »Wir haben dem Kranken kalte Kompressen gemacht, Herr Doktor, es geht ihm nicht gut. Ich glaube, er hat eine Blinddarmentzündung … wissen Sie«, fügte sie unzusammenhängend hinzu, »ich habe zu Hau90
se das Schwesternexamen gemacht … und ich denke wirklich, er hat Blinddarmentzündung …« »Ja, ja«, sagte der Arzt, »da haben Sie vollkommen recht, Ihre Diagnose ist hundertprozentig.« Ernsthaft, mit erhobenem Zeigefinger und der Würde des Angetrunkenen fügte er dozierend hinzu: »Er müßte binnen zwölf Stunden operiert werden … denken Sie an … nicht später als zwölf Stunden … das ist das Äußerste …« »Ja … und warum …« Der Schiffsarzt unterbrach das Mädchen: »… und warum stülpen wir nicht die Ärmel hoch, meinen Sie, meine Allergnädigste? Was glauben Sie wohl, was das bedeutet, eine Blinddarmoperation. Eine der schwierigsten Operationen, die es gibt, hören Sie auf mich. Was denken Sie, wo sich so ein Blinddarm überall hin verirren kann.« Der Arzt beugte sich vor und begann an den Fingern aufzuzählen: »Er kann mit der Gallenblase verwachsen oder der Niere, er kann sich in die Nabelgegend verirren und sich dort dem Netz innig attackieren. Er wandert, sich schlängelnd, zum Sigma oder zum Dünndarm und hängt sich an den Uterus oder … na ja«, korrigierte er sich, »das kommt hier wohl weniger in Betracht … aber er, der Wurmfortsatz, sucht auch mit Vorliebe Zuflucht in inguinalen und femoralen Brüchen und hat manchmal ein illegitimes Verhältnis …« Das Mädchen war aufgestanden. Sie machte mit den Händen eine hilflose Geste. Dann sagte sie leise: »Sie sollten sich schämen … Sie sind ja ein feiges, betrunkenes Schwein … es ist eine Schande …« Langsam, gebrochen, wie eine Geschlagene, verließ sie den Raum. Der Arzt sprang auf. Er war totenbleich geworden, und seine Hände schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Fast eine Minute stand er so und starrte auf die Tür. »Mach dir nichts draus, Alter«, sagte gemütlich schadenfroh der Kapitän, »das Mädel hat Pfeffer …« Aber der Arzt hatte schon den Raum verlassen.
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»Hören Sie zu, Funker«, sagte der Schiffsarzt eindringlich zu dem Mann am Taster, »es geht um Tod oder Leben. Wir haben einen Schwerkranken an Bord, und ich brauche Rat von einem Chirurgen. Glauben Sie, daß Sie eine Station an der Ostküste der Staaten erreichen können?« »Ohne weiteres, Dok«, antwortete der Mann, »die Jungs von Kap Hatteras krieg ich sicher. Notfalls müssen eben die Bermudas vermitteln. Das tun die schon, wenn's brennt. Was soll ich fragen?« »Senden Sie S-O-S oder was da sonst üblich ist, und verlangen Sie Vermittlung an eine Radiostation in den Staaten, wenn Sie Antwort haben. Sagen Sie, wir brauchten dringend den Rat eines Chirurgen wegen einer Operation. Sie sollen den Doktor über eine Radiostation sprechen lassen und uns die Wellenlänge durchsagen, auf der er dann zu uns sprechen wird …« Dem Patienten ging es schlecht. Als der Schiffsarzt die Kajüte betrat, empfing ihn Eiseskühle. Die beiden Frauen, die Mutter des Kranken und das junge Mädchen, blickten nur kurz auf und nahmen keine Notiz von ihm. Er wiederum verlor kein Wort der Erklärung, sondern machte sich daran, den Kranken nochmals zu untersuchen. Die Frauen ließen ihn, mißtrauisch blickend, gewähren. Er untersuchte Puls und Herzaktion des Kranken. Als er den Leib abtasten wollte, begann der Patient zu schreien. Wild schlug er nach den Händen des Arztes. Erbrechen würgte ihn. Mit zornigen Augen trat das Mädchen vor den Arzt und wies ihn von dem Lager. »Sie sind ja betrunken«, zischte sie, »lassen Sie ihn in Ruhe.« Der Arzt wandte sich von ihr ab und sagte zu der weinenden Mutter: »Ich habe soeben dafür gesorgt, daß eine Funkverbindung mit einem Chirurgen auf dem Festland hergestellt wird. Wir müssen versuchen, ihn zu operieren. Es bleibt keine andere Wahl. Da die Diagnose feststeht, werde ich ihm jetzt Morphium geben und danach in Abständen Opiumtropfen.« Die beiden Frauen blickten ihn erstaunt an. Er machte keineswegs mehr den Eindruck eines Betrunkenen, seine Stimme klang nach Au92
torität, sie war bestimmt und zuversichtlich. Auch der Kranke schien sich etwas zu beruhigen. Der Arzt nahm ein Handtuch und legte es um den Oberarm des Patienten. Er verdrehte die Enden umeinander und sagte zu dem Mädchen: »Halten Sie das hier fest und lassen Sie nach, wenn ich in der Vene bin … ach ja«, meinte er lächelnd, »ich vergaß. Sie haben ja ein Schwesternexamen. Entschuldigen Sie …« Er machte langsam die Injektion in die Vene und spritzte danach den größeren Rest des Inhalts unter die Haut des Armes. »So«, sagte er sich aufrichtend, »jetzt wird es ihm gleich besser gehen. Aber davon dürfen wir uns nicht düpieren lassen. Der Schein würde uns bös in die Irre führen. Wir müssen mutig sein« – er warf dem Mädchen einen Blick zu, der sie erröten machte – »und die Geschichte durchstehen. Sobald wir Verbindung mit dem Festland haben, bringen wir unseren Kranken in die Kapitänskajüte. Inzwischen wollen wir das Instrumentarium zusammensuchen und es sterilisieren. Ich hoffe« – wieder sah er das Mädchen bedeutungsvoll an – »Sie helfen mir dabei …«
* Arzt und Funker saßen miteinander im Funkraum. Der Arzt hatte einen Kopfhörer auf, in dem die Stimme des Chirurgen erklang, der an einem anderen Ende der Welt im Senderaum einer Radiostation saß. Die Antworten des Schiffsarztes wurden vom Funker zur Radiostation gemorst, dort aufgenommen und dem Chirurgen durchgesagt. Das Schiff, das zwei Wochen vorher aus einem Mittelmeerhafen ausgelaufen war, lag jetzt mitten auf dem Atlantik, viele Tagereisen weit von der nächsten Küste entfernt. »Ja«, sagte der Schiffsarzt in Diktiertempo zu dem Funker hin, »die Diagnose ist richtig. Seit fünf Stunden besteht Fieber, achtunddreißig Komma fünf Grad, Puls geht nicht zurück …« Er hörte eine Weile zu. Dann entgegnete er wieder: »Einleitend ein 93
Schüttelfrost, fortwährendes Erbrechen. Ich habe vor vier Stunden Morphium gegeben und gebe jetzt Opium …« Der Schiffsarzt hörte wieder zu. »Sie haben leicht reden, was blieb mir übrig«, sprach er dann weiter, »wenn wir nicht operieren können, muß ich eben Opium geben. Was heißt da Verschleierung des Krankheitsbildes. So ein Trottel, daß ich eine klassische Appendizitis nicht erkenne, wenn ich sie sehe, bin ich nun auch nicht.« Zum Schluß sagte er: »Schön, Doktor, ich lasse alles vorbereiten. Auf Wiederhören. In einer Stunde dann …«
* Die Kapitänskajüte war für die Operation vorbereitet. Da weder Äther noch Chloroform vorhanden waren, war Lokalanästhesie beschlossen worden. Der Arzt hatte unter seinen Medikamenten zum Glück einige Novokain-Tabletten gefunden. Die Frauen bügelten Handtücher und Servietten, um sie zu sterilisieren. Der Arzt kochte sein chirurgisches Besteck aus und die wenigen anderen Instrumente, die er hatte zusammenklauben können. Einige Blutgefäßklemmen, die schon allen möglichen anderen Zwecken gedient hatten, zwei chirurgische Scheren zweifelhafter Güte und einige Pinzetten. Dafür war das kleine Besteck tadellos gehalten, Nahtmaterial, Mull und Tupfer ausreichend vorhanden.
* Der Schiffsarzt stand am Tisch, auf dem der Patient lag. Er wusch das Operationsgebiet mit Seife und Bürste und erzeugte starken Schaum. Dann rasierte er die Stelle und strich sie mit Jod an. Seine Assistentin, das junge Mädchen, reichte ihm die Injektionsspritze mit der langen Nadel. Der Arzt tauchte sie in die Novokain-Lösung, zog den Kolben hoch, spritzte, die Nadelspitze in die Höhe haltend, die Luft aus der Spritze und stieß die Nadel in die Bauchhaut ein. Der Kranke begann 94
leise zu jammern, lag aber ruhig. Noch einige Male füllte der Arzt die Spritze und durchflutete das Operationsgebiet mit der schmerzausschaltenden Lösung. Dann trat er vom Tisch weg und begann sich zu waschen. »Es muß gleich soweit sein«, sagte er, »sie müssen sich jeden Augenblick melden.« Der Funker hatte für sich und den Arzt Leitungen in die Kajüte gelegt. Er trug einen Kopfhörer und hatte das Morsegerät vor sich. »Ich höre noch nichts«, sagte er. Für ihn war es eine willkommene Unterbrechung der täglichen Routine. Er glühte vor Eifer, und seine Augen leuchteten. Außer dem Arzt und dem jungen Mädchen befanden sich im Raum noch die Mutter, der Steuermann und zwei Matrosen, die den Patienten festhalten sollten. Der Kapitän saß in einer Ecke und sah zu. »Sie melden sich«, rief der Funker, »ich glaube, es kann losgehen, Dok.« Der Arzt ließ sich vom Steuermann den Kopfhörer anlegen und von der Frau Gazestreifen um Nase und Mund binden. »Morsen Sie, daß ich bereit bin und daß ich die örtliche Betäubung schon durchgeführt habe«, sagte er zum Funker hin und trat an den Tisch. Er nahm von dem kleinen Tisch, der rechts neben ihm stand, das Messer. Er setzte es an und führte einen Schnitt rechts außen am Bauch des Kranken entlang, etwa acht Zentimeter lang. »Morsen Sie ›halt‹«, rief er aus, »ich bin noch nicht so weit.« Wieder setzte er das Messer an und vertiefte den Schnitt. Dann nahm er vom Tischchen mit einem langen pinzettenartigen Instrument einen Mulltupfer auf und wischte in der Wunde herum. »Ich muß den Schnitt noch weiter vertiefen, ich sehe nichts vor lauter Blut – geben Sie das durch«, sagte er zum Funker. Noch einmal setzte er das Messer an. »Gehen Sie ruhig tief ein«, sprach ihm die ruhige Stimme im Kopfhörer zu. »Es ist nicht schlimm, wenn Sie die obere Muskelscheide anschneiden. Und wischen Sie das Blut nicht weg, tupfen Sie es ab …« Endlich hatte der Schnitt die nötige Tiefe. Der Arzt nahm drei Klem95
men und setzte sie auf blutende Adern. Dann griff er zum ausgelegten Catgut und band hinter den Schnäbeln der Klemmen die blutenden Stellen ab. Er schien jetzt ruhiger zu sein. »Weiter«, ließ er seinem unsichtbaren Ratgeber zurufen. Der Funker ließ seinen Taster springen. Er morste in Rekordzeit. »Verdammt um die Ecke«, dachte er, »das ist ein tolles Stück die Jungs werden es mir nicht glauben …« Der Kranke war bei den Schnitten in die Haut zusammengezuckt. Wieder fing er an zu jammern. Aber die drei Männer hatten keine Mühe ihn festzuhalten, er machte nur leise Abwehrbewegungen. »Sprechen Sie ihn nicht an«, hatte der Arzt zur Mutter gesagt, die ihrem Sohn tröstend zureden wollte, »Sie wecken ihn nur auf, und er wird unruhig.« Der Operateur arbeitete sich weiter in die Tiefe vor. Mit der gebogenen Schere teilte er den Muskel, öffnete darunter wieder eine Muskelscheide und war nun am Bauchfell angelangt. »Heben Sie jetzt mit der Pinzette eine Falte des Bauchfells am oberen Wundwinkel an«, leitete ihn die Stimme aus dem Äther. »Vorsichtig, denn darunter liegt der Blinddarm. Versichern Sie sich, daß Sie ihn nicht mitgegriffen haben … öffnen Sie jetzt mit einem Schlag der Schere dicht an der Pinzette das Bauchfell.« Der Schiffsarzt hatte den Schnitt ins Bauchfell mit der Schere nach oben und unten erweitert. Der Darm wölbte sich jetzt in die Wunde. Einer der Matrosen ließ vom Patienten ab und wandte sich zur Tür. »Mir ist schlecht«, gurgelte er beim Hinausgehen. Die Menschen im Raum blickten ängstlich auf den Schiffsarzt. Der sah bleich aus, bewahrte aber nach außen die Ruhe. Seine Hände zitterten leise, während er Schritt für Schritt die Anweisungen seines unsichtbaren Ratgebers befolgte. Das junge Mädchen, ihm gegenüberstehend, hielt mit Wundhaken die Wunde offen. Er reichte ihr jetzt eine Klemme hinüber und sagte: »Greifen Sie zu, wenn ich den Wurmfortsatz entwickelt habe. Packen Sie ihn möglichst weit unten, am Ansatz des Wurms … sonst reißt er uns ein.« 96
»Gehen Sie mit den beiden Zeigefingern in die Wunde ein«, riet die Stimme im Kopfhörer, »und suchen Sie tief nach der Mitte zu den Wurmfortsatz. Lassen Sie sich von der Taenie, dem hellen Streifen in der Wand des Dickdarms, leiten. Er führt Sie zur Basis der Appendix.« Der Arzt folgte der Anweisung. Was bei einem geübten Chirurgen Sekunden dauert, forderte bei ihm lange Minuten. »Morsen Sie ›halt‹«, rief er nervös, »ich finde es nicht.« Mit beiden Händen in der Wunde versuchte er den Darm wegzuschieben und tastete mit den Fingern vor, um sicher an den kranken Wurmfortsatz zu gelangen. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Berater, der einige tausend Kilometer entfernt in einem Senderaum saß und dennoch die Schwierigkeiten seines ›Schülers‹ ermessen konnte. »Greifen Sie mit dem linken Zeigefinger von der Seite unter das Zökum und gehen Sie mit dem rechten vom unteren Wundwinkel aus ein.« Die Finger des Arztes zerrten ein Gebilde in die Wunde. »Klemmen Sie«, keuchte er, »möglichst weit unten fassen und langsam hochziehen … so, ja, schließen Sie die Klemme nicht zu fest … Reichen Sie mir eine Serviette, zweimal gefaltet«, sagte er zur Mutter. Er schob die Serviette unter den Darm, griff mit einer Klemme nach dem Ansatz des Wurmfortsatzes am Darm und löste das Gebilde mit dem Finger und dem Messer vom Gekröse ab. Er arbeitete jetzt ruhiger und schneller. Der Wurmfortsatz war stellenweise stark aufgetrieben und schien jeden Augenblick platzen zu wollen. Aber er war nicht, was der Schiffsarzt so sehr gefürchtet hatte, mit anderen Organen des Leibes verwachsen. Der Arzt legte, die Nadel am Nadelhalter energisch in die Darmwand stoßend, die Fäden für die berühmte Tabaksbeutelnaht an, machte eine Unterbindung an der gequetschten Stelle an der Basis der Appendix, tauchte sein Messer in die bereitgestellte Karbolsäure und schnitt das Gebilde über der Unterbindung ab. Zusammen mit der Klemme, an der es saß, legte er es in eine kleine Küchenschüssel. »Den kann er sich in Rum einlegen.« Es war der erste Scherz, den er bei dieser Operation machte. »Den Rum stifte ich.« 97
»Hoffentlich haben Sie alle Tupfer gezählt, wie ich Ihnen sagte«, mahnte ihn die Stimme im Kopfhörer. »Zählen Sie nach und sehen Sie zu, daß keiner zurückbleibt, bevor Sie die Wunde schließen und die Bauchdecke zunähen!« Mit Hilfe seiner Assistentin versenkte der Operateur den Operationsstumpf in den Darm und zog die Tabaksbeutelnaht zusammen. »Sehen Sie zu, daß Sie alle Tücher aus der Bauchdecke entfernen«, mahnte wieder die Stimme aus dem Äther.
* »Gib mir doch einen einzigen Schluck zu trinken«, flehte der Patient seine Pflegerin an, die neben ihm saß, »ich leide Höllenqualen!« »Was glaubst du, was der Doktor gelitten hat, als er dich aufschneiden mußte«, erwiderte ungerührt die junge Pflegerin, »keinen Schluck Wasser, strikte Weisung aus dem Radio. Hier – du darfst mal an der Zitronenscheibe lecken …« Krankenschwester und Schiffsarzt standen an der Reling und blicken auf die See hinaus. Er hatte den Arm leicht um sie gelegt und drückte sie sanft an sich heran. »Der Kapitän ist ein Ekel«, sagte sie, »er sagte heute zu mir, du seist für ein Landleben verdorben und ein eingefleischter, versoffener Junggeselle …?« »Was weiß denn der«, antwortete ihr Begleiter zuversichtlich, »er unkt wie alle verdammten Seeleute. Wir werden uns in der alten Heimat eine Praxis suchen – und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir beide es nicht schaffen würden!«
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Hundert Minuten Sauerbruch Ein Augenzeuge erzählt
H
ätte der Chef diesen Eingriff jemals unternommen, wenn er geahnt hätte, wie es in der Brust der Patientin wirklich aussah? Diese Frage beschäftigte mich nach diesem einmaligen Erlebnis. Wenn man ein einziges Mal vom Brunnen der wissenschaftlichen Erkenntnis getrunken hat, so hat man auch den Wermutstropfen der Erkenntnis mitbekommen, der einen an dem eigenen Erleben, den eigenen Eindrücken zweifeln läßt. Und so fragte ich hinterher den Oberarzt, der bei dieser unerhörten Operation assistiert hatte: »Ich glaube nicht, daß irgendein Chirurg auf der Welt den Eingriff gewagt hätte, wenn er gewußt hätte, was ihm bevorsteht … oder meinen Sie, der Geheime …?« Der Oberarzt der Klinik sah mich forschend an und zuckte mit den Achseln: »Wir haben uns in der Diagnose geirrt«, sagte er, »aber, unter uns gesagt, der Kerl hat viel Mut … ich glaube, er hätte es auch darin riskiert.« Der Kerl, damit war hier Ferdinand Sauerbruch gemeint, der soeben eine Operation durchgeführt hatte, die einmalig war. Ich hatte zugesehen, ich hatte gesehen, wie sich die ursprüngliche Diagnose als falsch erwies. Ich hatte den Augenblick erlebt, in dem der Operationsplan plötzlich geändert werden mußte, in dem keine Sekunde Zeit zum überlegen blieb, in dem gehandelt werden mußte. Niemals werde ich diese Operation vergessen, bei der für Sekunden auch mir das Herz stillstand – genau wie bei der Patientin. 99
* »Was macht er, denn heute?« sprach mich eine Stimme an. Ich stand auf der Balustrade, die im Operationssaal für die Zuschauer errichtet war. Hinter fast mannshohen Glasscheiben stand man hier, das Licht im Rücken, über und vor den Operationstischen und konnte jede Phase der Handlung verfolgen. »Waren Sie denn gestern nicht im Kolleg?« fragte ich vorwurfsvoll und blickte den Frager an. »Er hat es doch erklärt …« Der Praktikant schüttelte den Kopf. »War nicht da; also, was geschieht heute?« Ich tippte mir auf die Mitte der Brust. »Mediastinalzyste«, sagte ich, »über dem rechten Herzen.« Er zog die Mundwinkel herunter, ganz der blasierte alte Schlachtenbummler – mit seinen fünf Jahrfünften auf dem Buckel. »Das haben wir doch schon vor ein paar Wochen gesehen – bei mir ohne Interesse …« Danach winkte er mir zu und sagte herablassend: »Vielleicht schaue ich nachher mal 'rein …« »Er«, von dem in dem kleinen Wortwechsel die Rede war, das war der Geheime Hofrat (dieser Titel war kgl. bayerischer Provenienz, in München erworben) Professor Dr. med. Sauerbruch, in der Klinik kurz ›der Chef‹ und im übrigen Komplex der Charite in Berlin mit Vorliebe ›der Geheime‹ genannt. Der Chirurg befand sich jetzt rechts drüben an der entfernten Stirnwand des großen Saales und wusch sich. Um ihn herum standen mehrere Weißbekleidete und führten mit ihm eine rege Unterhaltung. Sauerbruch sprach lebhaft wie immer und erzählte seine berühmten Geschichten. Dabei reichten helfende Hände dem Chef Seife, Handtücher, Nagelreiniger, öffneten und schlossen Hähne für ihn, jede seiner Bewegungen und jeden seiner Wünsche voraussehend. Hier herrschte die eingeschliffene Exaktheit eines nach strengen Regeln durchgeführten Rituals. Fehlte nicht der feierliche Pomp, so wäre man an die Einkleidungszeremonien eines Priesters erinnert worden. Zuletzt steht Sauerbruch, die sterilen Hände vom Körper weghaltend, 100
in weißer Hose und weißen Schuhen. Eine Schwester hilft ihm in den weißen Chirurgenmantel und schließt die Knöpfe. Die Kittel sitzen beim Chef immer ein wenig eng, obgleich seine sehr schlanke Figur alles andere als Fülle aufweist. Er konnte weite, dem Körper nicht dicht anliegende Kleidungsstücke auf den Tod nicht leiden. Der Narkotiseur hat inzwischen der Patientin die Narkosemaske auf den Kopf geschnallt. Sauerstoff und Äther innig gemischt, strömen in die Maske, die, dicht angepreßt, Nase und Mund der Kranken bedeckt. An ihrem Tisch mustert die Operationsschwester, während sie gleichzeitig und ohne hinzusehen mit blitzschnellen Bewegungen der gummibehandschuhten Finger gekrümmte und gerade chirurgische Nadeln mit Fäden versieht, besorgten Blickes ihren Instrumententisch. Ein fehlendes Instrument würde zu einem höllischen Gewitter führen. Sie ist eine sehr hübsche Frau, aber jetzt sieht man nicht viel von ihrem Gesicht. Die Haube verdeckt völlig das Haar, die Gesichtsmaske den Mund. Nur die großen Augen mit den langen Wimpern sind noch da. Draußen lag Berlin, die Viermillionenstadt, und der Ruf der Klinik reichte weit über ihr Weichbild hinaus, weit über die Grenzen Deutschlands. Sie war eine Art Mekka für die Thorax-Chirurgie. Aus allen Ländern der zivilisierten Welt kamen die Chirurgen hierher, dem Zauberer zuzusehen, der das Unmögliche möglich gemacht hat: im Innern des Brustkorbs zu operieren. Man darf nicht etwa glauben, daß in der Welt der Wissenschaft im allgemeinen und in der Welt der Chirurgie im besonderen, Verdienste Anerkennung finden. Das Umgekehrte ist der Fall: Nirgendwo erwirbt man Ruhm und Ansehen schwerer als auf diesem Gebiet, nirgends ist ›Werkspionage‹ üblicher als hier, und obgleich der Chirurg, der in diesen Räumen arbeitet, mehr für die Chirurgie getan hat als irgendein anderer zuvor, hat er nie eine internationale öffentliche Anerkennung erfahren. Der Nobelpreis für Medizin fiel in den letzten fünfzig Jahren nur ein einziges Mal auf einen Chirurgen, den Mann, der die Chirurgie des Kropfes begründete: Theodor Kocher in Bern. Ist es die zweifelhafte Herkunft der Chirurgie, die sie den ›reinen Wissenschaftlern‹ selbst heute noch dubios er101
scheinen läßt? Sauerbruch, der die Operationen im Brustkorb ermöglicht hat, hat nie den Nobelpreis, die Krone weltweiter wissenschaftlicher Bedeutung, erhalten, niemand weiß zu sagen, ob aus politischen oder persönlichen Gründen oder vielleicht, weil kein Außenstehender Einblick in die letzten Zunftgeheimnisse der Chirurgen zu gewinnen vermag. Endlich tritt der Chef an den Tisch heran. Er trägt keine Haube und keine Maske, und seine Hände sind nicht mit Gummihandschuhen bekleidet. Ich habe ihn zuweilen eine Operation mit Gummihandschuhen beginnen, aber nur selten mit ihnen eine beenden sehen. Seine Hand verlangte den unmittelbaren Kontakt mit den Organen des Patienten, nur so konnte er die anatomischen Verhältnisse ertasten. »Sind wir fertig?« fragt er. »Jawohl, Herr Geheimrat«, wird ihm geantwortet, »wir können beginnen.« Wortlos hält der Chirurg die rechte Hand hinüber. Die Operationsschwester legt griffbereit das Skalpell hinein, und die Hand trennt mit dem Messer Haut und Brustmuskulatur mit schnellen Schnitten. Es wird ein Lappen gebildet, der nach rechts hinübergeklappt wird. Im Augenblick sind kleine Blutungen gestillt, mit Klemmen gedrosselt und dann mit Fäden abgebunden; im nächsten Augenblick ist der Lappen mit Kompressen abgedeckt. Im Operationsfeld erscheinen bleich die Rippen, dazwischen zart rötliche Muskulatur. Kurze gerade Einschnitte lösen drei Rippen aus ihrer häufigen Hülle, etwa zehn Zentimeter lange Stücke werden am Brustbein und rechts außen davon entfernt. Dann setzt die Hand des Chirurgen den Rippenspreizer ein und kurbelt die breiten Schaufeln auseinander. Die Wunde in der Brust klafft jetzt weit, die Brusthöhle ist geöffnet. Bevor dies noch geschehen war, hat der Chirurg Überdruck geben lassen, ein Verfahren, dessen Prinzip Sauerbruch selbst gefunden hatte, um damit Operationen in der Brust möglich zu machen. Außer einigen Assistenten unten im Saal sehen von der Balustrade noch zwölf bis fünfzehn Menschen der Operation zu. Sie stehen neben und hinter mir. Ich bin beengt, und im Saal ist es, obgleich die Lüftung gut funktioniert, heiß wie im Hochsommer. Bei Operationen im In102
nern des Brustkorbes muß sommerliche Temperatur herrschen, denn die Brustorgane sind gegen Abkühlung sehr empfindlich. Derartige Operationen waren an der Sauerbruchschen Klinik zwar nicht alltäglich, aber auch nicht unbedingt selten. Professor Sauerbruch hatte uns die Geschichte der Patientin vorgetragen: Etwa vor einem Jahr war sie an einer Grippe erkrankt, der eine Rippenfellentzündung gefolgt war. Nach wochenlangem Krankenlager besserte sich der Zustand, aber es blieb leichtes Fieber bestehen. Es wurde eine Herzmuskelentzündung festgestellt und mehrere Monate lang behandelt. Besserung und Verschlechterung des Zustandes wechselten ständig. Dann wurde es kritisch. Das Befinden der Kranken verschlechterte sich rapide; heftige Atemnot, Anfälle von stark beschleunigter und vertiefter Atmung, Herzschmerzen, Beklemmungsgefühl. Der Puls änderte sich sprunghaft. Eine Röntgenaufnahme zeigte jetzt dicht neben dem Herzen auf der rechten Seite der Brust eine mächtige Geschwulst. Diese Geschwulst saß in dem Mittelfellraum zwischen Brustbein und Wirbelsäule. Dort sind Luft- und Speiseröhre, das Herz, große Blutgefäße, zahlreiche Lymphdrüsen und Nervenbahnen untergebracht. Es ist ein Gebiet, in dem Operationen schwierig und äußerst gefährlich sind, selbst heute noch. In diesem Mittelfellraum spielen sich zuweilen äußerst dramatische Krankheitsgeschehen ab. Abgesehen von Verletzungen bilden sich hier auch gut- und bösartige Geschwülste, die zu sehr verwirrenden Krankheitserscheinungen führen können. »Diese Patientin«, hatte Professor Sauerbruch im Kolleg doziert, »kam zu uns, weil wir die Frage beantworten sollten, ob die Herz- und Atemstörungen von der Geschwulst herrühren könnten, die das Röntgenbild zeigt. Wir haben die Kranke untersucht und konnten die Frage nach den Erfahrungen unserer Klinik mit allem Nachdruck bejahen. Wir haben es mit einer wahrscheinlich gutartigen Geschwulst des Mittelfellraums zu tun, soviel verraten die scharfen Grenzen des Tumors auf dem Röntgenbild. Vermutungsweise handelt es sich um eine Zyste, das ist ein aus Häuten bestehender Sack, der mit Flüssigkeit gefüllt ist. Da solche Geschwülste sich ständig weiter vergrößern und daher immer lebensbedrohlicher werden, haben wir zur Radikalentfer103
nung geraten. Diesem Vorhaben stimmte die Patientin zu. Die Operation findet morgen statt. Sie sind herzlich dazu eingeladen.« Diese Geschwulst hat der Geheimrat jetzt vor sich. Der nächste Schritt muß die Verkleinerung des Gebildes sein, und dies geschieht durch ›Punktion‹ – durch Ablassen der in ihm enthaltenen Flüssigkeit. Ich sehe, wie die Hand des Chirurgen den Tumor abtastet. Er liegt nach allen Seiten frei, nur nach der Tiefe hin ist er nicht zu übersehen. Der Finger des Geheimrats tippt leicht auf die Oberfläche des fremden Gebildes. Es bildet sich eine Delle, die sofort verschwindet, als der Finger zurückgezogen wird. »Fluktuation«, sagt der Chirurg, »es schwappt, wir wollen punktieren.« »Puls unregelmäßig«, sagt der Narkotiseur, der unbefragt in gewissen Zeitabständen solche Meldungen über die Herzaktion und die Atmung seiner Patientin abgibt. Der Geheimrat sieht bei der Meldung des Narkotiseurs nur kurz zu ihm hin. Dann nimmt er die hohle Punktionsnadel, die ihm die Schwester hingereicht hat. Behutsam sticht er sie in den Zystensack ein, und ich erwarte, daß nun Flüssigkeit, wässerig, breiig oder sogar eiterig, aus der Nadel austreten würde. Nichts geschieht. Der Chirurg zieht die Nadel zurück. Dann führt er sie etwas weiter oben ein – und sofort geschieht jetzt etwas. Aus der Nadel schießt ein rotes Bächlein hervor: Blut. Die Hand zieht die Nadel eilig zurück … Und mit einemmal verändert sich die Situation. Während bisher die Arbeit reibungslos und ohne technische Schwierigkeiten verlaufen war, die Operationsgruppe mit müheloser Selbstverständlichkeit der Bewegungen den bestehenden Plan verwirklichte, sieht man für Sekundenbruchteile, wie sich die Bewegungen verzögern, die Haltung der Körper sich anspannt, die Augen größer werden und alle auf eine einzige Stelle starren. Aus dem Einstich springt eine dünne Blutfontäne hervor und berieselt das ganze Wundgebiet, es rot besprenkelnd. 104
Ida traue meinen Augen nicht. Die vermeintliche Zyste, die irgendeine Flüssigkeit enthalten sollte, enthält Blut, und dieses Blut spritzt. Mit hellem Entsetzen sehe ich, daß die Diagnose ›Zyste‹ ein Irrtum gewesen sein muß. Hier ist entweder eine Arterie angestochen worden – aber das war ja gar nicht möglich, die Geschwulst hatte vorher nicht im mindesten pulsiert, – wie es eine Arterie hätte tun müssen … oder – – Sauerbruch hat, ohne einen Augenblick zu zögern, den Finger auf die spritzende Stelle gelegt. Der dünne Strahl wird unterbrochen, das Blut rieselt unter dem Finger weiter hervor. »Seide, runde Nadel«, sagt der Chirurg mit ruhiger Stimme. Und während er mit der linken Hand den Blutstrom weiter unterbricht, stößt er mit kleinen Rucken die Nadel in die umgebende Haut der Einstichöffnung, führt sie jenseits wieder heraus, um eine Hautfalte zu raffen und zieht den Faden durch. Der Assistent greift die Fadenenden auf und zieht die Naht zusammen. Gleich muß die Blutung stehen … Sie steht nicht. Statt dessen geschieht etwas Unvorstellbares. Die Fäden durchschneiden die morsche Wand der Zyste, die Naht reißt ein. Ein fingerdicker Blutstrahl spritzt aus dem Einschnitt hervor. Mir steht das Herz still. Das bedeutet das Ende der Operation – Tod auf dem Operationstisch, der Albtraum des Chirurgen, ist unvermeidlich. Neben mir hörte ich schwer und laut atmen. Ich wende den Kopf. Der Praktikant, mit dem ich vorher einige Worte gewechselt hatte, ist zurückgekehrt. »Mein Gott, das ist keine Zyste sie verblutet ihm«, flüstert er heiser, als er meinen Blick bemerkt, »– sie bleibt ihm auf dem Tisch …« Ich zische leise und empört, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Masken verbergen die Gesichter der Menschen um den Operationstisch. Man gewahrt keine Gemütsbewegung. Sie stehen, ihre Instrumente haltend, wie erstarrt. Der Helfer des Narkotiseurs, ein Faktotum des Geheimrats, ist an den Tisch herangetreten und blickt auf den Chef. Erwartungsvoll … Sauerbruch gibt nicht auf. Ich sehe, wie er mit großer Kraft zwei Fin105
ger der linken Hand in die klaffende, blutende Öffnung stößt, tief, tief hinein. Und, welch ein Wunder, die Blutung steht, der Blutstrahl ist gebrochen, obgleich sich der äußere sichtbare Schlitz durch das Einführen der beiden Finger mächtig erweitert haben muß. »Wir sind in das rechte Herz geraten«, sagt erklärend der Geheimrat, »entweder Kammer oder Vorhof … ich fühle das Herumwirbeln und Schwirren des Bluts … Das ist ein Herzaneurysma …« Ein Herzaneurysma – das bedeutete, daß sich in der Wand der rechten Herzkammer eine Öffnung befand, daß an dieser Stelle das pressende Blut die Häute des Herzens abgehoben und aus ihnen einen Sack gebildet hatte, den es bis zur Grenze der Dehnungsfähigkeit aufblähte. Wie hatte die Frau damit überhaupt leben können? Noch niemals war ein Aneurysma des Herzens operiert worden, wenn auch im Röntgenbild viele Aneurysmen der linken Herzkammer beobachtet worden sind. Aber jetzt blieb keine Sekunde zum überlegen. »Geben Sie starke Seide …!« Irgendwo tief da drinnen, ohne auch nur einen kurzen Blick auf die Gegend werfen zu können, in der er jetzt nähen soll, mühen sich der Chirurg und der Assistent ab, eine Umstechung durchzuführen, Fäden anzubringen, die eine chirurgische Naht bilden und dem Blutstrom den Weg abschnüren. »Puls aussetzend«, meldet der Narkotiseur, »nicht mehr …« Der Chirurg wirft ihm einen wilden Blick zu und zischt ihn an. Der Narkosemann schweigt betreten. Sauerbruch ist aufs Ganze gegangen, die schlechte Herzaktion kann ihn nicht hindern. Unterstützt von der rechten Hand des Geheimrats, gelingt dem Assistenten tief da drinnen die Umstechung der Öffnung, die sich in der Herzwand befinden muß. Vier Fadenenden liegen jetzt frei da. Der Assistent hatte sie ergriffen. Und jetzt kommt der Befehl: »Zuziehen!« Der Assistent zieht die Fäden an, Sauerbruch nimmt die linke Hand, deren Finger im Herzen gesteckt hatten, langsam zurück. Gespannt blickt er auf die Öffnung, aus der vor kurzem das Blut gespritzt war. Wir alle starren hin. Das Leben der Kranken hängt an den beiden seidenen Fäden, die der Chirurg irgendwo da unten angelegt hat. 106
»Puls setzt wieder ein«, das ist der Narkotiseur. »Stark beschleunigt, unregelmäßig und schwach …« Was niemand, den Geheimrat eingeschlossen, erwartet hat, geschieht. Die Unterbindung in der Tiefe hält dicht. Nur kleine dünne Rinnsale laufen zögernd an der Wand des Gebildes herunter, gespeist aus dem Blut, das sich noch in dem Aneurysmensack befindet. »Ja, es ist ein Herzaneurysma«, sagt jetzt der Geheimrat, »ich fühlte da drinnen den harten Wulst, den die Muskulatur der Herzwand bildet. Wir müssen weitermachen und die zweifelhafte Umstechung da drinnen abdecken. Immerhin glaube ich, daß sie ganz gut ist. Ich fühlte, wie sich die zusammenziehende Naht um meine Finger legte …« Hatte er einen leisen Triumph in der Stimme? Ich wußte, daß ich in seiner Lage befreit aufgeatmet hätte. Ich jedenfalls kam mir vor, als sei ich selbst einer tödlichen Gefahr entronnen. Ich zitterte an allen Gliedern, und kalter Schweiß bedeckte meinen Körper. Aber der große Chirurg sah weiter als ich. Noch war der Kampf nicht gewonnen. Würde die Patientin mit dem Leben davonkommen? Ich glaube nicht, daß jemand im Saal dies auch nur zu hoffen wagte, vielleicht den Chef ausgenommen. Er, der anfangs, als er die Finger zum Verschluß des Loches im Herzmuskel verwendete, sicher nur daran gedacht hatte, die Patientin lebend vom Tisch zu bringen, hatte offenbar neue Zuversicht geschöpft. Aufgeben ist nicht Chirurgenart. »Puls beruhigt sich, Frequenz hundertzwanzig«, sagte die Stimme des Narkotiseurs. Der Chirurg und seine Helfer gehen daran, den Hautsack Stück für Stück herauszuholen. Das Aneurysma hatte, prall gefüllt, etwa die Größe eines Kindskopfes. Jetzt ist es etwas zusammengefallen. Das Messer des Chirurgen spaltet den Sack, und die Hand holt eine unwahrscheinliche Menge geronnenen Blutes daraus hervor. In dieser Masse befinden sich auch ältere Blutgerinnsel, die einiges aus der Vergangenheit des Blutsackes erzählen, der immer weiter gewachsen war, weil sich das Blut der rechten Herzkammer immer weiter hineingewühlt hatte, in jeder Minute und in immer mehr zunehmendem Maße das Leben der Kranken bedrohend. Ich dachte daran, daß hydrauli107
scher Druck sich ungehemmt fortpflanzt. Die dünne Haut hatte fast den ganzen Druck der rechten Herzkammer bei ihrer Tätigkeit auffangen müssen – monatelang. Reibungslos verläuft das Abtragen der Wände des Sackes. Mit unendlicher Sorgfalt präpariert der Chirurg ihn frei und entnimmt dann die ausgeschnittenen Teile. Die Erregung unter den Zuschauern hat nachgelassen. Mit mehr Aufmerksamkeit als Spannung verfolgen sie die planmäßig fortschreitende Arbeit. Aber wir sollten sehr bald daran erinnert werden, daß die Kranke keineswegs außer Lebensgefahr war, und zwar einer akuten Lebensgefahr auf dem Operationstisch. Die Chirurgen sind mit der Abtragung der Wände bis zur Stelle vorgedrungen, an der die Unterbindung gegen das Herz hin saß. Diese Stelle muß mit Haut dicht abgedeckt werden, um ein späteres Undichtwerden dieser Umstechung zu verhüten. Eine spätere Lockerung dieser beiden Fäden, etwa nachdem die Wunde schon geschlossen war, hätte unweigerlich eine tödliche Blutung zur Folge. Man hat Beispiele, daß abrutschende Unterbindungen einem Patienten zum Verhängnis wurden, der schon so gut wie geheilt war. In dem Augenblick, in dem die Nadel des Chirurgen Reste des Sackes an ihren Rändern zu nähen beginnt, meldet sich der Narkotiseur: »Puls nicht mehr tastbar«, und gleich darauf der Assistent: »Herzstillstand …!« Aber Sauerbruch hat den Zustand bereits selbst erkannt. Er unterbricht seine Tätigkeit im Innern, legt die rechte Hand auf die Herzgegend des leblosen Körpers auf dem Tisch … ›Hat denn das noch einen Sinn …‹, denke ich, als ich sein Vorhaben errate. … und greift mit der linken nach innen. In Sekundenabständen drückt er auf den Brustkorb, gleichzeitig mit dem linken Arm pressend. »Herzmassage« zur Wiederbelebung des Herzens. »Künstliche Atmung«, befiehlt er. »Und …« Er richtet sich wieder auf, ohne den begonnenen Satz zu vollenden. »Wir können fortfahren«, sagt er knapp. Das Herz schlägt also wieder. Ein Nervenreiz, wahrscheinlich durch 108
den Einstich der Nadel ausgelöst, hatte das überanstrengte und überreizte Organ getroffen und seinen Stillstand herbeigeführt. Jetzt arbeitet es wieder. Die Chirurgen vollenden ihr Werk. Sauerbruch deckt die unsichere Unterbindung an der Herzwand schichtweise ab. Mehrmals noch meldet der Narkotiseur starke Beschleunigungen des Pulses und dann wieder starke Verlangsamung bis auf dreißig Schläge. Aber die Operation wird ganz zu Ende geführt, der Hautsack restlos entfernt. Die Patientin sollte eine vollwertige Chance haben. Vor Anlegung der äußeren Naht läßt Sauerbruch durch Überdruckatmung die Lunge blähen, bis sie sich dicht an die Brustwand anlegt. Dann wird durch viele Nähte der Brustkorb luftdicht geschlossen. Die Patientin hat einhundertundsechzig Pulse, als man sie vom Tisch nimmt. Besorgniserregend … Die Operation hatte anderthalb Stunden gedauert. Es folgten bange Tage. Plötzliche Steigerungen der Herztätigkeit bis zu 18o und 2oo Pulsen alarmierten die Ärzte und die ganze Klinik. Sauerbruch erkundigte sich Tag und Nacht zweistündlich nach der Patientin. Jedesmal verlangte er ausführlichen Bericht. Es war eine Nervenprobe, immer für die nächtlichen Telefonate des Chefs auf dem Sprung zu sein. Nach Wochen mußte ein Erguß punktiert werden. Zwei Monate nach der Operation konnte die Patientin die Klinik verlassen, ohne daß sich irgendein Rest ihres Leidens noch bemerkbar machte. Eine eingehende Nachuntersuchung mit allen klinischen Methoden konnte nicht den mindesten Fehler der Herzarbeit nachweisen. Sie hatte nichts zurückbehalten als eine große Narbe auf der rechten Seite des Brustkorbs. Und vielleicht eine vage Erinnerung …
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Die Isthmus-Stenose Ein Chirurg erzählt
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as Glockengeläute führte mich zurück in die herrliche Einsamkeit des Schweizer Gebirgstales. Jeden Morgen drang es herauf zum Hotel, mit dunklen satten Schlägen, zwischen die in Synkopen eine hellere Glocke läutete. Im Halbschlaf wußte ich, daß jetzt noch zwei oder auch drei Stunden ungestörten Schlafes mir gehörten. Wundervolle Urlaubszeit … Diesmal aber verebbte das Läuten nicht. Es wurde lauter und aufdringlicher, die helle Glocke tönte jetzt schrill neben meinem Ohr, und ich fuhr auf. Der schöne Traum, der das Telefonklingeln in Schweizer Kirchenglocken verwandelt hatte, brach unsanft ab. Als ich den Hörer aufnahm, zeigte die Nachttischuhr drei Uhr dreißig. »Die Villa Stromlund ist am Apparat Herr Professor«, sagte die Zentrale. »Der jüngere Sohn hat einen Unfall gehabt – er hat, wie man annimmt, zuviel Schlafmittel genommen! Wollen Sie selber sprechen?« Ich ließ mich verbinden. »Um Gottes willen, Herr Professor«, es war die atemlose Stimme der Frau des Hauses, »kommen Sie rasch. Axel hat sich vergiftet.« Langes Fragen hatte offenbar keinen Sinn. »Ich schicke Ihnen meinen Assistenten mit dem Krankenwagen, gnädige Frau«, sagte ich kurz. »Wir müssen den Patienten hier haben, das ist besser als zu Hause … Sie können natürlich gleich mitkommen.« Vergiftungen – oder war es ein Selbstmord? – gehören nicht in den Wirkungsbereich des Chirurgen. Aber ich war mit den Stromlunds befreundet, unsere Familien verkehrten viel miteinander, und meine Jungens waren begeistert von den zahllosen Motorvehikeln, die den Stromlund-Kindern jederzeit zur 110
Verfügung standen. Rennwagen vor allem, mit und ohne Kompressoren, und nach allen erdenklichen Rennformeln konstruiert. Spielzeuge, denen das Einkommen eines Chirurgen bei weitem nicht gewachsen war. Während ich mich anzog und meiner Frau in kurzen Sätzen die Ursache der nächtlichen Störung mitteilte – die arme Frau ist Kummer gewohnt und nimmt dergleichen Störungen des bürgerlichen Friedens mit dem stoischen Gleichmut eines hundertjährigen Moslems hin –, versuchte ich vergeblich, mir von Axel, dem jüngeren Sohn, ein Bild zu machen. Der Junge mochte zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt sein. Seit zwei oder drei Jahren hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er wurde in die ausgedehnten Zweige der Stromlundschen Unternehmungen eingeführt und reiste mit Privatlehrer und Diener in der Welt herum. Ein etwas unscheinbarer, wenig sportlicher junge mit einer leidenschaftlichen Neigung zu Büchern und Musik – immer außenseiterisch und ohne engere Freunde unter Gleichaltrigen. ›Nicht so unbedingt das, was man sich als Sohn wünscht‹, dachte ich, als ich das Haus verließ und den dunklen Weg zur Klinik hinüberging. Der Patient war schon eingetroffen. Es war meinen Leuten gelungen, die aufgeregten und deprimierten Verwandten aus dem Zimmer des Kranken zu entfernen, und so konnte ich eine Begegnung vermeiden. Das hatte später Zeit. Der Patient lag in einem Zimmer der Wachstation im Bett. Er hatte Kreislaufmittel bekommen und inhalierte jetzt Sauerstoff. Der Assistent hatte die jetzt leere Schachtel mitgebracht, aus der anscheinend das Medikament stammte, das der Junge im Übermaß eingenommen hatte. Gefüllt, hatte sie zwanzig Gramm eines bekannten sehr starken Hypnotikums aus der Familie des Veronal enthalten. Man brauchte nicht viel Erfahrung zu haben, um zu sehen, daß es um den Jungen verzweifelt stand. Er war tief bewußtlos und weder durch Anrufen noch durch Nadelstiche zu einer Reaktion zu bringen. Ich prüfte die Reflexe, bestrich die Fußsohlen mit dem Hammerstiel und klopfte auf die Kniesehne – keine Reaktion, diese Reflexe waren erloschen. Ich untersuchte die Pupillen. Sie weiteten sich nicht, und 111
sie schlossen sich nicht, wenn man starkes Licht auf sie fallen ließ. Die Muskulatur der Arme und Beine war vollkommen schlaff. Die Gesichtshaut und auch die übrige Haut des Körpers war aschfarbig mit einem leichten blauen Überzug, sie fühlte sich kalt an. Der junge Mann atmete langsam, schnarchend. Tiefer, röchelnder Atemzug – lange Pause – dann wieder schnarchendes Atmen und wieder die Pause, die sich endlos hinzuziehen schien. Jedesmal dachte man, es sei sein letzter Atemzug gewesen. Ich ließ den Sterbenden in den Operationssaal bringen. Mein Assistent und die Schwester sahen mich erwartungsvoll an. Der Assistent hatte schon das Beatmungsgerät herbeischaffen lassen, und die Schwester stand an ihrem Tisch, auf dem Spritzen, Medikamente und der Magenschlauch bereitlagen. Wir legten den Patienten auf den Operationstisch. »Kippen«, ordnete ich an, »Oberkörper und Kopf tief und Magen spülen – Druckatmung, hundert Prozent Sauerstoff …« Die Helfer sprangen herbei und traten in Aktion. Ich fühlte den Puls des Vergifteten. Er war kaum zu tasten. »Blutdruck messen«, befahl ich. Jetzt waren schon vier Menschen um den Patienten bemüht. Eine Schwester und ein Wärter führten den Magenschlauch ein und spülten den Magen. Der Assistent hatte die Narkosemaske vor das jenseitige Gesicht geschnallt und ein anderer preßte, sobald die Maske saß, den Gummiballon rhythmisch zusammen. Auf diese Weise erhielt der Kranke fünfzehnmal in der Minute reinen Sauerstoff in die Lungen gepumpt. »Ich kann den Blutdruck nicht messen«, meldete der Assistent, »keine klaren Werte. Er kommt mir sehr hoch vor …« Mir kam das wohl merkwürdig vor, aber wir mußten handeln. Ich suchte mir die Vene am Hals des Patienten. »Pervitin«, sagte ich, »zehn Kubikzentimeter.« Die Schwester reichte mir die gefüllte Spritze, und ich versuchte, die Nadel in die Vene am Hals zu stechen. Es ging nicht. Ich erwischte das Blutgefäß nicht, obwohl es prall gefüllt war. Zu prall. Es rollte einfach weg, wenn ich einstechen wollte. »Ge112
ben Sie mir ein Messer«, schnauzte ich, erbost darüber, daß es mir nicht gelang, die Halsvene zu harpunieren, »ich lege eine Kubitalvene frei …« Der Assistent strich schleunigst die Ellenbogenbeuge mit Jod an, und mit einigen Schnitten öffnete ich die Haut der Ellenbogenbeuge und legte eine gute Vene frei. Um Blutstillung – es floß nicht viel – kümmerte ich mich nicht. Ich stieß die Nadel in die Vene und spritzte das Weckmittel ein. Keine Reaktion … Aber aus dem Einstich blutete es. Aus diesem Umstand und den prall gefüllten Venen hätte ich eine wichtige Diagnose stellen können. Aber ich war anscheinend an diesem Morgen nicht gut in Form. »Drehen Sie den Kranken um, ich mache eine Lumbalpunktion«, befahl, ich, »dann gebe ich 25 Milligramm Pervitin intralumbal.« Während meine Befehle ausgeführt wurden, betrachtete ich den Patienten. Es hatte sich nichts geändert. Langsam, den spontanen Atemzügen des Brustkorbs folgend, der sich so mühsam hob, pumpte der Assistent Sauerstoff in die Lungen. Der Kranke lag wie ein Toter. Mir fiel bei dem Anblick seltsamerweise ein Bild des holländischen Malers van Dyck ein, das eine Kreuzabnahme darstellte. ›Der Mann hat einen Lebenden als Modell genommen‹, dachte ich, ›einen Athleten – niemals hat ein Toter eine solche Muskulatur.‹ Ich stach den Rückenmarkkanal an und ließ die Flüssigkeit austreten. Dann spritzte ich körperwarme Kochsalzlösung ein und ließ wieder, nachdem ich den Operationstisch hatte hochkippen lassen, Flüssigkeit ablaufen. Das wiederholte ich einige Male und sagte dann: »Pervitin, zehn Kubikzentimeter.« Durch die im Rückenmarkkanal liegengebliebene Nadel injizierte ich das Medikament und ließ wieder den Operationstisch so kippen, daß der Kopf hoch lag. Gespannt warteten wir alle auf die Reaktion. Nichts erfolgte … »Blutdruck nicht meßbar« – die Schwester erstattete Bericht – »Temperatur 38.« »Machen Sie eine Dauertropfinfusion, Kochsalzlösung mit fünf Prozent Laevulose«, befahl ich, »und geben Sie fünfhunderttausend Einheiten Penicillin hinein …« Ich war mit meinem Latein so ziemlich am Ende. Wir konnten nach 113
den Regeln der Kunst nicht mehr allzuviel tun als die bisherige Behandlung fortsetzen: Sauerstoffatmung, Weckmittel, Rückenmarkund Magenspülungen … das war das Repertoire. »Geben Sie mit dem Magenschlauch eine Tierkohleaufschwemmung und Prostigmin. Wir setzen die Behandlung fort – stündlich Pervitin, Herzmittel und so weiter …« Wieder prüfte ich die Pupillen. Sie rührten und regten sich nicht. Meine Anwesenheit war überflüssig. Wir taten, was wir tun konnten, aber ich hatte wenig Hoffnung. Ich wußte aus Erfahrung, daß es meistens gelang, die Schlafmittelvergifteten zu retten, wenn man die Leute gleich zu Anfang soweit brachte, daß sie irgendwie reagierten, daß das Herz besser wurde, die Reflexe auftraten, die Pupillen sich auf Lichteinfall zusammenzogen. Dann mochten sie noch tagelang bewußtlos sein – sie erwachten wieder. Es konnten Lungenentzündungen auftreten und das Leben der soeben von der Schwelle des Barbitursäuretodes weggeführten Selbstmörders – oder Verunglückten – bedrohen. Immerhin, wo Bewußtsein war, war eine große Chance. Aber hier handelte es sich allem Anschein nach um einen jener hoffnungslosen Fälle. Vielleicht war der Junge überempfindlich gegenüber Schlafmitteln, oder er hatte eine noch größere Dosis genommen, als ich vermuten durfte. Vielleicht hatte er auch vorher, bevor er den Entschluß zur letzten Flucht gefaßt hatte, Alkohol getrunken. Das mußte seine Aussichten noch verschlimmern. ›Seine Aussichten‹, dachte ich und schüttelte zu meinen eigenen Gedanken den Kopf, ›er will ja gar keine Aussichten haben. Warum retten wir ihn denn überhaupt? Oder versuchen es wenigstens …‹ Ich verließ den kleinen Operationssaal, richtete einige eilige Worte an die Eltern und Geschwister des Kranken, die sich auf dem Flur versammelt hatten und mich mit Schreckensmienen anstarrten. Ich ließ ihnen ein Zimmer anweisen, wo sie warten konnten, und ging in mein Haus hinüber. Ich mußte mich endlich rasieren … Ich war in meinem Zimmer angelangt und legte mir die Utensilien für das Rasieren zurecht. Ich begann mich einzuseifen und betrachtete mich dabei im Spiegel. ›Meistens retten wir sie‹, setzte ich meinen Ge114
dankengang fort, mir selbst in die Augen sehend. ›Und dann kriegen sie die Psychiater.‹ Ich griff zum Rasierhobel. Du wirst alt, mein Bester, grinste ich mein Spiegelbild an. Mich beschäftigten immer noch die Gedanken darüber, ob man überhaupt berechtigt sei, Selbstmörder zu ›retten‹. Du beginnst Selbstgespräche zu halten und bist so weit heruntergekommen, philosophische Gedankengänge akzeptabel zu finden … zum Teufel damit … Mit dem Finger wischte ich den Schaum am linken Haaransatz weg – dort beginne ich immer meine Rasur – und zugleich die Philosophie aus meinem Hirn. Entschlossen setzte ich den Rasierapparat an und begann, die linke Wange zu glätten. Zu den Psychiatern schicken wir sie – ich rasierte, die Wangenhaut hebend, die erste unangenehme Stelle links am Kinn –, und was tun die mit ihnen … zum Teufel mit den Psychiatern … ich rasierte die Kinnspitze und konzentrierte mich, zwang mich dazu, an die Arbeit des kommenden Tages zu denken. Komisch, meistens tun sie es nicht wieder – ich rasierte die rechte Wange – einmal reicht den meisten … wenn sie den Versuch wiederholen, sind sie ernsthaft verrückt – ich rasierte die andere unangenehme Stelle, die rechte Seite des Kinns. Dann kam der Hals dran und zuletzt die Oberlippe. Ein eingefahrenes Ritual. Dann – der Gedanke ließ mich nicht los und ich gab den Widerstand auf – dann kommen sie wieder zum Psychiater – wenn sie noch leben … Ich legte den Rasierapparat weg und betrachtete mein Spiegelbild. Es blickte mich mit halb offenem Mund an, halbrasiert und von Seifenresten eingerahmt. Es sah dumm aus. Und dennoch war mir soeben etwas sehr Gescheites eingefallen … Ein Psychiater hatte mir vor einiger Zeit etwas erzählt, eine neue Methode, mit der sie ihre Selbstmörder ins Leben zurückbringen. Eine rauhe, aber ungemein wirksame Methode. Als ich den kleinen Operationssaal wieder betrat, war das Team der Lebensretter unverdrossen weiter bei der Arbeit. Ich trat heran. Im Befinden des Patienten war keine Änderung eingetreten. Der Assistent, der die Aktion leitete, machte mir mit einigermaßen betrübtem Gesicht die Meldung, deren Tenor lautete: es steht schlecht, es steht verzweifelt. »Geben Sie mir eine Fünfziger-Spritze mit vierzig Kubikzen115
timeter Cardiazol«, befahl ich der Schwester. Ich sah die Augen des Assistenten aufleuchten. »Sakrament«, rief er aus, »das haben wir vergessen, Herr Professor ich könnte mich ohrfeigen …« Jawohl, das hatten wir beide vergessen – ich hatte mit ihm beiläufig über die neue Methode gesprochen –, aber es war mir in letzter Minute wieder eingefallen. Ein Kollege, ein Internist, hatte berichtet, wie man in seiner Klinik dazu übergegangen sei, verzweifelte Fälle, Leuchtgasund Schlafmittelfälle, versuchsweise zu stocken – ebenso wie es die Psychiater mit ihren Patienten machen: den Vergifteten soviel krampfauslösende Mittel einzuspritzen, bis sie Krämpfe bekamen. Etwas, was man früher bei diesen Vergiftungen ängstlich vermieden hatte. Es hatte als Kunstfehler gegolten, solche Mittel in zu hohen, krampfmachenden Dosen zu verabreichen. Jetzt aber war jedes Mittel dazu gut, je drastischer es wirkte, um so besser. Cardiazol, das altbekannte Kreislaufmittel, griff am Hirn an. Manche Ärzte hatten es verlassen, eben weil es, unvorsichtig dosiert, Krämpfe hervorrief. Es mochte ein Zufall gewesen sein, daß ein Arzt bei einem Leuchtgas- oder Schlafmittelvergifteten das Mittel in einer zu hohen Dosis verabreichte. Mit Schrecken hatte er gesehen, wie sein Patient Krämpfe bekam, wie er von einen epilepsieähnlichen Anfall durchgeschüttelt wurde – und dann, von der Schwelle des Todes zurückgerissen, zum Bewußtsein kam. Der Fehler hatte ein Menschenleben gerettet. Ich spritzte das Medikament ein. In die immer noch freigelegte Vene am Ellenbogen. Die Wunde war inzwischen fachmännisch versorgt worden. Ich hatte die Nadel noch nicht ganz aus der Vene gezogen, als es geschah. Ein Ungewitter ergriff den leblosen Körper und durchtobte ihn. Es war beängstigend. Wir starrten gebannt auf den Kranken und mußten ihn mit aller Kraft festhalten. Er wäre vom Tisch gefallen. Über eine Minute dauerte der Krampf. Dann ebbte er allmählich ab. Aber der Patient erwachte nicht. Wir untersuchten Pupillen und die Reflexe, den Puls und den Blutdruck. Die Lage hatte sich gebessert. Die Reflexe waren wieder da, die Haut verlor ihre bläuliche Farbe, und die Muskeln zeigten wieder einige Spannung. Aber der junge Mann erwachte nicht. 116
»Wir warten jetzt eine Stunde und setzen die bisherige Behandlung fort …« »Wir könnten noch Strychnin in maximaler Dosis versuchen«, gab der Assistent mir zu bedenken, aber ich winkte ab. Wir hatten einen gewissen Erfolg erreicht, und es kam mir gewagt vor, noch weitere Experimente zu machen. »Wir werden ihn nachher noch einmal schocken, wenn er nicht zu sich kommt, aber ich glaube, wir kriegen ihn doch«, sagte ich und schickte mich an, den Raum zu verlassen. Im Hinausgehen fiel mir wieder meine Beobachtung an den überfüllten Venen des Kranken ein. Ich wies den Assistenten auf diese Beobachtung hin. »Geben Sie ihm kein Adrenalin«, sagte ich, »die Stauung in den Venen da gefällt mir nicht; wenn wir ihn durchkriegen, müssen wir uns das sehr genau ansehen. Da stimmt etwas nicht.« Wir ›kriegten‹ ihn durch, aber wir mußten ihn noch einmal ›schocken‹. Zweiundsiebzig Stunden nachdem er zu uns gekommen war, verschwand plötzlich die tiefe Bewußtlosigkeit, die bei diesen Schlafmittelvergiftungen so leicht in ewigen Schlaf mündet. Der Kranke öffnete die Augen und zuckte förmlich hoch. Er blickte erstaunt auf die fremde Umgebung und lächelte leise, als er mich erkannte. Ich begrüßte ihn und sagte einige erklärende Worte. »Sie dürfen uns jetzt nicht wieder einschlafen«, schloß ich, »Ihre Mutter möchte Sie gleich sprechen; sie und auch wir hier haben große Sorgen mit Ihnen gehabt.« »Einweisung in die Psychiatrische?« fragte mich mein Assistenzarzt vor der Tür des Krankenzimmers. Ich schwenkte verneinend den Zeigefinger hin und her. »Sie haben wohl Angst davor, daß er es bei uns noch einmal versucht?« neckte ich ihn, »da müssen Sie eben achtgeben, mein Bester. Aber ich glaube, daß hinter diesem Suizid etwas anderes steckt – keine Melancholie. Setzen Sie sich mal auf die Hosen und sagen Sie mir, was es ist …« »Es tut mir leid, Herr Professor«, sagte der Patient später und sah mich mit schmerzlichem Lächeln an, »aber ich kann Ihnen nicht danken.« Die Unterredung fand knapp eine Woche nach dem geschilderten 117
Zwischenfall statt. Ich war einigermaßen erstaunt über den Ausbruch des jungen Mannes. Die wenigen Tage, die er bei uns gewesen war, hatten zur völligen Erholung geführt. Der Patient, wohlerzogen aber reserviert, hatte sich jeder Diskussion über den Grund oder die Ursache seines Selbstmordversuches entzogen. Eine Untersuchung durch einen Psychiater hatte er abgelehnt, und die erschreckten Angehörigen hatten nicht gewagt, einen Druck auszuüben. Auch von uns ließ er sich nicht untersuchten. Die Sache wurde also stillschweigend als Unglücksfall angesehen: versehentliche überdosierung eines Schlafmittels. »Sie haben keinen Grund, mein Lieber«, sagte ich zu ihm, »mir dankbar zu sein. Wir haben getan, was wir konnten, und Sie haben Glück gehabt …« Er lächelte wieder: »Ich sehe es nicht als Glück an. Sehen Sie, Professor, solange ich denken kann, habe ich Kopfschmerzen, unerträgliche Kopfschmerzen, gegen die jedes Mittel machtlos ist. Sie machen mich vollkommen lebensuntüchtig. Einige Stunden geistiger Arbeit erschöpfen mich restlos, und körperlich bin ich ein elender Lappen. Ein Spaziergang von einigen Kilometern macht mich fertig, mein Kopf droht zu zerspringen, und ich werde atemlos. In der letzten Zeit ist es unerträglich geworden. Ich habe mir längst abgewöhnt, darüber zu klagen, niemand kann mir helfen …« »Waren Sie denn nie bei einem Arzt?« fragte ich erstaunt. »Ich war bei vielen Ärzten«, antwortete er resigniert, »keiner konnte mir wirklich helfen. Vielleicht bin ich selber schuld, denn mir hängen die ewigen Untersuchungen zum Halse heraus. Bis vor einem Jahr ging es auch einigermaßen. Meine Kopfschmerzen und meine Schwäche waren eben ein Bestandteil meiner Existenz, mit dem man sich abzufinden hatte. Seitdem sich mein. Zustand derart verschlechterte, kann ich mich nicht mehr ›abfinden‹. Vor einigen Wochen habe ich mich untersuchen lassen. Mein Blutdruck ist 240, mein Herz ist erweitert und macht offenbar nicht mehr recht mit. Der Arzt schlug mir vor, ich solle mich am Sympathikus operieren lassen, aber er war ehrlich genug, mir zu sagen, daß diese Operation im besten Fall einige Erleichterung bringen könnte. An eine Heilung meines Zustandes sei 118
nicht zu denken. Mit zwanzig Jahren sind das keine Aussichten. Deshalb wollte ich ein Ende machen. Da ich seit langer Zeit ohne Schlafmittel überhaupt nicht schlafen kann, verfügte ich über große Mengen und daher … Ich habe keine Abschiedsbriefe geschrieben, um meiner armen Mutter diesen letzten Schmerz zu ersparen. Ein Unglücksfall war für sie vielleicht leichter zu ertragen …« Hinter der scheinbaren Gelassenheit des armen Jungen war die Verzweiflung und das sehnsüchtige Suchen nach einem Hoffnungsschimmer nur allzu sichtbar. Mit zwanzig Jahren ist man vielleicht zu spontanen Handlungen, aber nie der Hoffnungslosigkeit und der Abgeklärtheit fähig. So war es mir nicht allzu schwer, ihn davon zu überzeugen, daß eine eingehende klinische Untersuchung vielleicht dennoch ein günstigeres Bild ergeben würde. Der erste Bericht, den ich erhielt, war wenig ermutigend. Blutdruck 240, nach Belastung durch Kniebeugen und Treppensteigen an den Armen auf 280 ansteigend. Das Herz war stark erweitert das Elektrokardiogramm zeigte Extrasystolen und einen Herzmuskelschaden, Nierenfunktion o.B. Diese ersten Untersuchungsergebnisse schlossen die Diagnose ›selbständiger Hochdruck‹ keineswegs aus, aber sie befriedigte mich nicht. Als ich über die Ursachen des hohen Blutdrucks nachdachte, drängte sich mir immer wieder ein Bild auf, das ich im Gedächtnis hatte, aber an das ich mich nicht scharf erinnern konnte. Irgend etwas war mir aufgefallen, und ich mußte es nur finden. »Lassen Sie doch bitte auch den Blutdruck an den Beinen messen«, sagte ich zu dem Assistenten, der die Untersuchung durchführte, »ich habe den Verdacht, daß es sich hier nicht um einen essentiellen Hochdruck handelt.« Die Messung ergab, daß der Blutdruck an den Beinen so gering war, daß er mit der normalen Apparatur nicht zu messen war. Als ich den Patienten danach untersuchte, zeigte es sich, daß an den Beinen und in der Beckengegend kein Puls zu finden war, während die Arterien zwischen den Rippen und am Rücken kräftig pulsierten. Damit stand meine Diagnose fest: Isthmus-Stenose der Aorta. Jetzt wußte ich, was 119
ich seinerzeit am leblosen Patienten gesehen und getastet hatte: die prall überfüllten Venen. Die weiteren Befunde der zahlreichen Untersuchungen erbrachten die letzte Gewißheit. Vor mir lag die Aufgabe, dem Patienten und seinen Angehörigen von diesem niederschmetternden Ergebnis Mitteilung zu machen. Ich erklärte zuerst dem Patienten, worum es sich handelte: »Sie haben eine angeborene Enge der großen Schlagader«, setzte ich ihm auseinander, »dort, wo sie sich tief in der Brust teilt. Der eine Ast der Ader ist normal entwickelt, er versorgt die obere Körperhälfte mit Blut. Dagegen ist der nach unten steigende Ast der Ader an einer einzigen Stelle so stark verengt, daß nicht genügend Blut in die unteren Körperregionen gelangt. Es hat sich zwar ein Nebenkreislauf aus kleineren Adern ausgebildet, durch den Blut dorthin gelangt, aber er reicht nicht aus, und während sich oben das Blut staut, herrscht, grob gesagt, unten Mangel. Daher haben Sie, an den Armen gemessen, hohen Blutdruck und an den Beinen einen sehr niedrigen.« »Sagen Sie es offen, Herr Professor«, antwortete der Patient, »Sie sprechen mit vielen Worten ein einfaches Todesurteil aus. Wie lange kann es noch dauern?« »Das kann Ihnen niemand sagen. Aber die Aussichten sind trübe, das will ich Ihnen nicht verheimlichen. Dennoch haben wir eine Chance. Was hindert uns daran, das Stück verengtes Aderrohr herauszuschneiden und die Aorta dann wieder zusammenzunähen! Es ist keine leichte Operation, weder für Sie noch für mich. Aber Sie sind noch keineswegs in einem verzweifelten Gesundheitszustand. Ihre Organe arbeiten noch normal, das Herz ist noch voll leistungsfähig, es hat sich der übermäßigen Beanspruchung gut angepaßt. Sie haben eine gute Chance, ein gesunder und leistungsfähiger Mensch zu werden und ein normales, arbeite- und genußreiches Leben zu führen. Sie haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen …« Der Junge hatte einen klaren Kopf. Er sah die Chance und griff nach ihr. Schwieriger war es, die Angehörigen zu überzeugen. Der Patient sprach zuletzt ein Machtwort und erklärte, daß er nicht daran dächte, in seinem jetzigen, ständig gefährdeten Zustand weiterzuleben. 120
Wir brauchten fast eine Stunde, nur um die Blutung aus den einleitenden Schnitten zu stillen. Der Patient lag auf der rechten Seite, und der erste Hautschnitt führte in Höhe der fünften Rippe fast über die ganze linke Brust und den Rückenanteil hinweg. Fieberhaft arbeiteten wir, um die zahlreichen oberflächlichen Gefäße abzubinden und die Blutung aus den Weichteilen immer wieder wegzutupfen. Unabhängig voneinander hatten vier Chirurgen vollauf zu tun, die in zwei Gruppen von beiden Seiten arbeiteten. Endlich war es soweit und wir konnten darangehen, den Brustkorb zu öffnen. Ich nahm die fünfte Rippe fast in ihrer ganzen Länge heraus und entfernte noch ein Stück der sechsten, um einen guten übersichtlichen Zugang in die Tiefe der Brust zu erhalten. Die überfüllten Arterien der Brustwand hatten in die Knochen der Rippen tiefe Furchen gegraben. Die größte Überraschung aber erwartete uns noch. Einige Tage vor der Operation hatten wir links einen Pneumothorax angelegt. Die linke Lunge war also zusammengefallen. Als ich die Knochenhaut der Rippen in der Längsrichtung spaltete und die Wundhaken die Öffnung des Brustkorbs weit auseinanderzerrten, fiel das Licht in die Höhle der Brust. Der Anblick ließ selbst einen alten Chirurgen, der in zwei Kriegen gearbeitet hatte, zurückzucken. Die ganze innere Brustwandung war über und über mit geschlängelten prallen Arterien bedeckt, die sich wie ein Haufen Regenwürmer wanden und schlängelten, wenn die Pulswelle sie durchzog. Wir starrten mit offenen Mund, und die Operationsschwester ließ vor Schreck ein Instrument fallen. Nur einen Augenblick hatte uns dieses Bild vom eigentlichen Ziel abgelenkt. In der Tiefe der Brust sahen wir jetzt die Aorta und ihren absteigenden Ast. Dieser Anblick war nicht weniger frappierend. Die Unter-Schlüsselbeinarterie war gewaltig verbreitert, während der absteigende Ast der Aorta, für gewöhnlich das mächtigste Gefäß des Körpers, wie ein kleiner Nebenast wirkte. Dicht unter dem Bogen, den das Gefäßrohr der Aorta hier bildet, saß die verengte Stelle. Sie saß an einem berühmten ›biologischen Wetterwinkel‹, dem sogenannten Ligamentum Botalli, das während des Lebens im Mutterleib einen Kanal zwischen Aorta und Lungenschlag121
ader bildet, der später verödet und zum soliden Strang wird. Verödet er nicht, so ist er eine der verschiedenen Ursachen, die für ›blaue Kinder‹ verantwortlich sind. Eine winzige Bildungsanomalie an dieser Stelle, die an einem anderen Ort völlig bedeutungslos wäre, hatte aus unserem Patienten ein menschliches Wrack gemacht, dem ein qualvolles, wenn auch kurzes Leben beschert war. Die verengte Stelle des Adernrohres war nur ganz kurz, etwa sechs Millimeter lang. Um diesen Engpaß entfernen zu können, mußte der Blutstrom zum Bauch und den Beinen für mehrere Minuten unterbrochen werden. Wir waren an einem kritischen Teil unserer Operation angelangt. Zuerst mußte ich die verengte Stelle freipräparieren und das Aortenrohr, das mit der Umgebung verwachsen ist, für die spätere Naht beweglich machen. Das ist eine langwierige und trickreiche Arbeit. Sodann mußte das Ligamentum Botalli, das die verengte Stelle wie an einer Fessel hält, durchschnitten werden. Große Vorsicht ist geboten, denn die oberhalb der Enge abzweigenden Arterien sind bis zum Bersten mit Blut angefüllt und haben deshalb sehr dünne Wände. Ein winziger Schnitt, ein kleiner Riß, und es erfolgt eine Blutung, deren Stillung im unübersichtlichen Gelände größte Schwierigkeiten machen würde. Andererseits darf man diese Adern nicht einfach unterbinden. Wir müssen Blutbahnen sparen, damit, trotz zeitweilig unterbrochener Hauptader, noch einigermaßen genügend Blut in den Körper gelangt. Vorsichtig und tastend drang ich vor. Und endlich war es soweit, die verengte Stelle war ausreichend zugänglich. »Legen Sie Blutdruck-Meßgeräte an beide Arme an«, sagte ich zu einem Assistenten. »Wir wollen jetzt die Aorta fünf Minuten abklemmen und zusehen, wie sich der Patient verhält!« Diese Erklärungen waren für die Zuschauer bestimmt. Meine Operationsgruppe war eingespielt, wir hatten den Feldzugsplan genau durchgesprochen. Sie brauchte keine Erklärungen mehr. Unser Operationsplan war es also, die gesamte Blutzufuhr, oder sagen wir besser, den Teil der Blutzufuhr, der durch das eingeengte Aortenrohr zu den Organen des Bauches und zu den. Beinen geleitet wird, vollkommen abzudrosseln. Das war natürlich ein verzweifeltes Wag122
nis, und das Leben des Patienten hing davon ab, ober der über der Enge liegende Teil der Hauptschlagader und das Herz die auf die Abklemmung folgende Anschoppung mit Blut überhaupt aushalten würden. Eine überdehnte Adernwand konnte platzen, und der entfesselte Blutstrom würde alles überschwemmen. Das Herz konnte im eigenen Blut ertrinken. Sodann, wenn dies alles nicht geschah, mußten wir nach unserem Plan die Hauptschlagader an zwei Stellen durchschneiden, nämlich dicht oberhalb des Engpasses und dicht unterhalb, dann konnten wir, wenn alles gut ging, das herausgeschnittene Stück entfernen und die beiden Enden der Aorta miteinander vereinigen. Mit einer großen Arterienklemme komprimierte ich die Aorta oberhalb der Stenose. Kein Tropfen Blut gelangte jetzt mehr vom Herzen durch die Aorta in die Regionen unterhalb der Enge. Ich hatte gute Hoffnung, daß jetzt der Blutdruck in den Armen nicht übermäßig steigen würde. Denn oberhalb der Enge hatte die Ader kräftig pulsiert, unterhalb lag das Gefäß schlaff da, ohne jedes Anzeichen einer Pulswelle. Und wenn die Aderwand über der Enge zwanzig Jahre dem Blutdruck standgehalten hatte, so würde sie es wohl auch für die nächste Viertelstunde. Trotzdem blickten wir für fünf Minuten gespannt auf die Blutdruckapparate. Der Blutdruck stieg, aber so unwesentlich, daß ich das Wagnis beschloß. Ich mußte jetzt die beiden Schnitte über und unter dem Engpaß der Ader durchführen und dann die Schnittenden wieder zusammennähen. Eine zweite Klemme faßte die Ader unter der Enge und preßte ihre Wand zusammen. Die Ausschneidung der engen Stelle konnte erfolgen. Da die Ader über der Stenose enger war als dahinter, führte ich den Schnitt oben schräg und unten quer, so daß die beiden Enden gut aufeinander paßten. Ich nahm die ausgeschnittene Enge heraus – ein millimeterlanges Stückchen, das in derbes Bindegewebe eingehüllt war. Die lichte Weite des engen Aortenstück betrug ein Viertel des normalen Querschnitts, der beim Erwachsenen etwa fünf Quadratzentimeter beträgt. Die Naht des wichtigsten Blutweges des Körpers in der Tiefe des Brustraums war ein schwieriges Unterfangen. Ich vereinigte die 123
Enden zunächst mit einer geknüpften Naht und fügte dann eine fortlaufende Naht hinzu. Bald sollte sich herausstellen, ob meine Nähte blutdicht waren und hielten. Der andere kritische Augenblick war da: die Klemmen sollten fallen und die neu geschaffene Passage dem Blutstrom freigegeben werden. Wir waren alle aufgeregt und gespannt. Würde die Naht halten? Würde nicht das Blut in den weiten Räumen der Bauchaorta und ihres Stromgebiets hemmungslos versacken und der Patient an ›innerer Verblutung‹ sterben? »Kippen Sie jetzt den Tisch«, ordnete ich an. Der Patient sollte mit tiefliegendem Kopf ruhen, wenn ich die Klemmen wegnahm. Ein Assistent stand mit allem Gerät und Spenderblut für eine Bluttransfusion bereit, an den Armen lagen immer noch die Apparate für Blutdruckmessung ablesebereit. Ein stärkeres Abfallen des Blutdrucks mußte sofort mit allen Mitteln abgefangen werden. Ich entfernte zuerst die untere Klemme und griff dann zur Sperrvorrichtung der oberen, die allein den Blutstrom unterband. Langsam, ganz langsam löste ich die Sperre und öffnete die Backen des Instruments. »Blutdruck sinkt!« meldeten die Assistenten. »Er ist jetzt auf 2oo!« Ich preßte die Klemme wieder zusammen und prüfte die Naht. Kein Tropfen Blut zeigte sich, die Naht war – vorläufig – dicht. Wieder öffnete ich langsam die Stauung. Jetzt war das Rohr, zum erstenmal im Leben meines Patienten, ganz frei. Der Blutstrom konnte zum erstenmal sein neues Bett frei und ungehemmt passieren. Ich legte die Hand auf die neuerschlossene Ader. Sie pulste mächtig unter meinen Fingern, und die Naht war dicht … Das erste, was der Patient sagte, als er aus der Narkose erwachte, war: »Guter Gott – ich habe keine Kopfschmerzen mehr!« Ich mußte lachen, denn es klang, als ob er etwas verloren hätte. Wir entließen ihn nach einigen Wochen, sein Blutdruck war an den Armen auf 130 gefallen, an den Beinen auf 120 gestiegen. Er spielt jetzt, ein Jahr nach der Operation, Tennis und kann zu seiner Zufriedenheit arbeiten. Als ich ihn neulich sah, meinte er: »Ich glaube, Herr Professor, ich kann Ihnen jetzt wirklich ›danke schön sagen.« 124
Hirntumor Dem Neurochirurgen nacherzählt
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in verständnisinniges Lächeln huschte über die Gesichter der Damen, als die junge Frau plötzlich vom Stuhl aufsprang und mit einer gemurmelten Entschuldigung den Raum verließ. Sie hatte die linke Hand ängstlich gegen den Mund gepreßt, während sie die wenigen Schritte zur Tür zurücklegte. Die Damen am Tisch beugten sich zu ihren Ehegatten, die der Enteilenden verblüfft nachsahen, und flüsterten etwas. »Sollten wir da nicht besser gehen?« fragte einer der Männer vernehmlich. »I bewahre«, antwortete die Schwiegermutter der jungen Frau an alle gewandt, »lassen Sie sich doch, bitte, nicht stören. Wir haben mit solchen … Zwischenfällen gerechnet … Reichen Sie doch die Eisbombe noch einmal herum«, wandte sie sich an das Dienstmädchen, »die Herrschaften nehmen sicher gern noch.« Und in das wiedereinsetzende Gespräch der Gäste hörte man sie zu ihrem Sohn sagen: »Das ist auch nur das erstemal, daß man so unbeherrscht ist. Bleib nur hier, das geht schnell vorüber …« Der junge Herr des Hauses blickte verlegenen Gesichts ein wenig schuldbewußt auf seinen Teller, und nach kurzer Zeit war die Gesellschaft so vergnügt und laut wie zuvor. Die Schwiegermutter, die bald nach dem Abgang der jungen Frau, und nachdem sie die Tafel aufgehoben hatte, nach der Leidenden sah, fand die junge Frau im Bett liegend. »Nun, mein Kind«, sagte sie tröstend, »das ist alles nicht so schlimm und wird mit jedem Monat besser.« Sie fügte einen kurzen Bericht über die Zeit hinzu, als sie ›ihn‹ getragen hatte und wie großartig sie sich gehalten hätte; eine Erzählung, 125
die die junge Frau in den letzten Wochen schon einige Male gehört hatte. »Bleib jetzt schön liegen«, schloß die ältere Dame, »und mach dir keine Gedanken. Ich werde schon für deine Gäste sorgen. Soll ich dir etwas hineinschicken … Tee oder Limonade?« Die junge Frau machte eine abwehrende Geste mit der Hand. »Danke, Mutter, ich bin ganz wohl. Eigentlich könnte ich zurückgehen – aber ich möchte doch nicht.« Die junge Frau lag noch wach, als einige Stunden später ihr Mann eintrat. »Du armes Kind«, mitleidig legte er ihr die Hand auf die Stirn, »ich wäre gern früher gekommen. Hast du denn gar nicht geschlafen? Mutter ließ mich nicht weg. Ich wollte auch gern mein Gespräch nach Tisch mit dem Direktor nicht versäumen …« »Aber Lieber«, unterbrach ihn die Frau, »das macht doch wirklich nichts. Ich bin ganz in Ordnung, und mir fehlt gar nichts mehr, weniger als du denkst. Weißt du …« »Und stell dir vor«, der Mann legte ihr einen Finger auf den Mund, »ich habe wahrscheinlich den Abschluß perfekt. Übrigens war der Direktor sehr von dir beeindruckt. Und er läßt dich grüßen und versprach, dir den Daumen zu halten.« Damit küßte der junge Mann die Frau und erhob sich: »Und jetzt wird geschlafen und kein Wort mehr …« Die Frau hielt den Mann an der Hand fest. »Setz dich, bitte, noch einen Augenblick, ich muß dir etwas sagen. Weißt du … es ist gar nicht da, das Baby … ich habe es schon vorgestern gemerkt …« »Aber, meine Gnädigste«, tröstete tags darauf der alte Hausarzt die junge Frau, »das ist doch kein Grund, verzweifelt zu sein. Nach einem Ehejahr kann man da noch gar nichts sagen!« »Warum aber habe ich denn dieses scheußliche Erbrechen, Herr Doktor?« »Das werden wir schon herausfinden. Möglicherweise kommen die Übelkeiten von einer Überempfindlichkeit …« »Mir ist aber gar nicht übel«, klagte die Patientin, »ich fühle mich völlig wohl, kann den Haushalt versehen und einkaufen gehen, habe 126
einen kleinen Wagen, und es macht mir keinerlei Schwierigkeit, meinen Mann größere Strecken zu fahren, wenn wir übers Wochenende einmal wegfahren. Dieses Erbrechen kommt immer ganz plötzlich, aus bestem völligem Wohlbefinden heraus.« Der alte Arzt beugte sich über die Kranke, belauschte das Herz mit einem jener unmodernen Hörrohre, mit denen seine Generation Wunder der Diagnose vollbracht hat. Er prüfte mit einem Hammer die Reflexe an Knie und Fußsohle, und er untersuchte den Leib. Anscheinend fand er nichts, denn er schüttelte verwundert den Kopf. Zuletzt entnahm er aus einer Ader Blut und dann, in einem weiteren Gefäß, noch eine andere Probe. »Ich kann nichts finden«, sagte er später zu dem besorgten Ehemann unter vier Augen. »Man muß einige Zeit beobachten und nach den kleinen Symptomen forschen. Ich kenne sie seit ihrer Kindheit, und sie hat nie versucht, ernsthaft zu schwindeln oder hysterisch zu spielen, selbst wenn das ›Schulfieber‹ noch so heftig war. Wenn sie zugleich über Kopfschmerzen klagte, würde ich sagen …« Der Arzt vollendete den Satz nicht. »Aber was sollen wir tun, Herr Doktor?« fragte der Mann. »Abwarten und beobachten. Ich lasse Ihnen ein Rezept da, davon soll sie dreimal täglich zwanzig Tropfen nehmen. Ich sehe in den nächsten Tagen wieder nach.« Das Medikament schien Wunder zu wirken. Die junge Frau war nicht mehr bettlägerig und ging ihren gewohnten Beschäftigungen und Vergnügungen nach. Dem alten Hausarzt war abtelefoniert worden. Seine Patientin war gesund. Vier Wochen später hatte der junge Ehemann ein frühes Telefongespräch mit seiner Mutter: »Stell dir vor, Margit hat wieder einen Anfall. Seit zwei Stunden ist ihr ununterbrochen schlecht. Die Medizin, die wir vom letztenmal noch haben, wirkt überhaupt nicht. Ich möchte einen Arzt rufen, aber ich weiß nicht recht … der alte …« »Du hast ganz recht, mein Junge, der gute Doktor ist in der letzten Zeit reichlich alt geworden. Ich werde meinen Arzt sofort bitten, bei 127
euch vorbeizuschauen, weißt du, den Doktor H. der meine Krampfadern so wunderbar weggebracht hat. Ich komme dann gleich bei euch vorbei und sehe nach dem Rechten, sei unbesorgt, mein Junge. Ich werde auch dem Arzt das Nötige sagen, damit er gleich Bescheid weiß.« Während sie den Hörer auflegte, sagte sie zu ihrem Mann, der im Bett daneben lag und zugehört hatte: »Margit hat schon wieder eingebildete Schwangerschaftsbeschwerden. Hache-i-grec nannte das meine französische Gouvernante, auf deutsch Hysterie. Ich werde gleich mal Dr. H. anläuten.« Dr. H. fand seine neue Patientin im Bett liegend, etwas leidend aussehend. Als er, der Schwiegermutter den Vortritt lassend, das Krankenzimmer betrat, hatte die Kranke den Kopf, der in den Kissen lag, von der Tür weg nach rechts gewandt. Als sie ihn dem Eintretenden zudrehte, befiel sie heftiges Erbrechen. Sie wandte daraufhin den Kopf von den Besuchern ab. Es sah wie eine Demonstration aus. Ihre Schwiegermutter warf dem Arzt einen vielsagenden Blick zu. Der Arzt untersuchte die Kranke, fand aber keinerlei objektive Krankheitszeichen. Als er sie aufforderte, bei der Untersuchung den Kopf nach links zu drehen, weigerte sie sich energisch und, wie es schien, übertrieben: »Ich muß sofort brechen, wenn ich den Kopf wende. Bitte, verzichten Sie darauf, Herr Doktor!« Vierundzwanzig Stunden später war die Kranke wieder gesund. Dem Arzt, der eine längere Beobachtung empfohlen hatte, wurde abtelefoniert. In den nächsten Monaten wiederholten, sich diese Vorgänge mit erstaunlicher Monotonie. Die darstellenden Personen waren immer dieselben, nur die Ärzte wechselten ständig. Die Anfälle der jungen Frau wurden eine gewohnte Einrichtung des Haushalts. Sie kehrten in Abständen von drei bis sechs Wochen mit absoluter Gleichförmigkeit wieder: Anfall, der einen Tag dauerte, und hinterher völlige Gesundheit. Die Familie zuckte die Achseln. Und die älteren Damen der Bekanntschaft flüsterten sich zu, daß Margit wieder mal ihre Attacken hätte, die sicher erst aufhören würden, wenn eine Schwangerschaft einträte. 128
»Wissen Sie«, erklärte die eine Mutter des jungen Ehepaares der anderen, »sie kann die Enttäuschung vom erstenmal her, wo sie glaubte, sie bekäme ein Baby, nicht verwinden. Immer, wenn sie wieder enttäuscht worden ist, bekommt sie einen Anfall! Hoffentlich werden die Hoffnungen des armen Kindes bald erfüllt. Meinen Sie nicht, wir sollten sie einmal in ein Moorbad schicken …?« Unmerklich fast wurden die Anfälle der jungen Frau heftiger. Sie kamen in kürzeren Zeitabständen, und sie dauerten jetzt zwei Tage lang. Die Umgebung merkte es kaum. Die Kranke selbst schien sich mit dieser seltsamen Krankheit, die ohne äußere Ursache plötzlich hereinbrach und ebenso plötzlich wieder völliger Gesundheit und völligem Wohlbefinden wich, abgefunden zu haben. Im übrigen schwieg man die Krankheit tot. Bis eines Tages … Die junge Frau lag wieder einmal zu Bett. Man hatte die Ehebetten verstellt, so daß sie, die den Kopf bei solchen Gelegenheiten hartnäckig nach rechts gelegt hielt, die Tür sehen konnte. Als ihr Mann eintrat, sah er, daß ihr die Tränen ungehemmt herunterliefen. Sie hatte bisher ihr Schicksal klaglos ertragen, war von Zeit zu Zeit ohne besonderes Aufheben ein oder zwei Tage verschwunden – »zeitweilig aus dem Verkehr gezogen«, nannte sie es scherzhaft – und hatte mit ebensowenig Aufheben ihren Platz wieder eingenommen. Jetzt hatte sie zum erstenmal die Fassung verloren. Der Mann setzte sich auf den Bettrand und wischte ihr, zärtliche Worte flüsternd, die Tränen von den Wangen. »Nun hatten wir alle gehofft, daß ich gesund würde, wenn ich ein Baby bekäme.« Die Kranke schluchzte vor sich hin. »Und jetzt ist es soweit und ich bin weiter krank. Ich weiß es schon seit acht Wochen … und nichts hat sich geändert. Ich bin weit mehr krank als vor einem halben Jahr!« Ihr Mann blickte erschrocken auf sie herab. Mit hilfloser Geste streichelte er ihre Schulter. »Was sollen wir nur mit mir anfangen«, klagte die Kranke weiter. »Und nun bin ich auch entstellt.« »Aber, Liebling«, unterbrach sie der Mann, »du hast dich doch so auf 129
ein Kind gefreut. Das ist doch lächerlich, daß du dich über ›Entstelltsein‹ beschwerst …« »Aber hast du denn nicht gesehen … ich meine doch nicht das Kind … siehst du es denn nicht … ich schiele doch auf einem Auge!« Damit wandte sie ihm den Kopf zu und hob ihn von den Kissen, um ihr Gesicht zu zeigen. Sofort wurde sie von einem heftigen Anfall von Erbrechen gepackt, der nicht wieder aufhören wollte. Sie stieß den Mann beinahe zurück, der ihr den Kopf halten wollte, den sie wie eine Gliederpuppe steif nach rechts gedreht hielt. »Ich will meinen alten Doktor haben«, stöhnte sie, als der Anfall endlich beendet war. Einige Stunden später lag die Kranke bereits in der nervenchirurgischen Abteilung einer Chirurgischen Klinik. »Zur Beobachtung«, hatte der alte Familienarzt gesagt. Es waren acht Monate seit dem Offenbarwerden der Krankheit vergangen. Als der Chirurg die Kranke sah, war bei ihr schon wieder das ›stumme‹ Intervall eingetreten. Sie erschien vollkommen gesund. Der Arzt und zwei Assistenten begannen die Untersuchung, nachdem vorher bereits die übliche klinische Routine abgewickelt worden war. »Haben Sie nie Kopfschmerzen gehabt?« begann der Arzt seine Fragen. Die Kranke verneinte. Der Arzt trat zu der Sitzenden und beklopfte leise verschiedene Stellen am Kopf. »Hat es hier irgendwo nie geschmerzt?« »Ach ja«, antwortete die Frau. »Hier hinten, am Hinterkopf hatte ich manchmal Schmerzen während des Anfalls. Aber das kommt daher, daß ich den Kopf dann nicht nach links drehen kann. Auch die Muskeln am Hals sind dann empfindlich.« Langsam gelang es auf diese Weise, eine ganze Anzahl kleiner Unstimmigkeiten festzustellen. Wenn die Kranke, von den Ärzten scharf beobachtet, versuchsweise einen langen Gang der Klinik entlangging, wich sie stets nach rechts ab und mußte diese Abweichung immer wieder durch eine Körperwendung korrigieren. Sie benutzte bei allen Verrichtungen mit Vorliebe die linke Hand und war mit der rechten auffällig unbeholfen. 130
»Ich war immer Linkshänderin«, antwortete sie auf eine Frage, »mit der Rechten kam ich nie zurecht, und in letzter Zeit ist sie noch unbrauchbarer geworden.« Den Ärzten fiel auf, daß sie den Hinterkopf immer etwas nach rechts geneigt hielt. Mehrere Augenuntersuchungen ergaben, daß die Augäpfel manchmal leicht zu zittern begannen, wenn sie auf eine Aufforderung hin den Blick scharf nach rechts wandte. »Die Röntgenaufnahmen des Schädels zeigen nichts Auffallendes«, sagte der Röntgenassistent zum Chirurgen, als er mit den Bildern in der Hand in das Zimmer trat. »Vielleicht sind die Schädelnähte etwas weit«, fügte er hinzu, als sie gemeinsam die Fotos betrachteten. Aber der Chirurg schüttelte den Kopf. »Es ist wahrscheinlich ein Kleinhirntumor im rechten Lappen«, meinte er nachdenklich. »Aber die Diagnose steht mir noch nicht fest genug. Alle Reaktionen liegen im Bereich der Norm, auch der manometrische Druck der Rückenmarkflüssigkeit bei der Punktion. Sie hat, wie mir ihr Arzt versichert, kurze Zeit mit dem rechten Auge geschielt, nach innen, wie er und sie angeben. Sehr verdächtig – aber es ist keine Spur mehr davon zu sehen.« »Kleinhirntumoren sind heimtückisch«, sagte der Assistent. »Wem sagen Sie das«, entgegnete der Chirurg. »Wir wollen noch etwas zuwarten und weiter beobachten.« Ein neuerlicher Anfall, der erste in der Klinik, bei dem alle Symptome stark ausgeprägt waren und bei dem eine eigenartige Lähmung der Funktionen der rechten Hand beobachtet werden konnte, beseitigte alle Zweifel der Kliniker. »Um Gottes willen, das Kind«, rief die Kranke aus, als ihr der Chirurg die Nachricht brachte. »Werde ich so lange leben, bis es geboren ist?« »Sie werden nicht sterben«, sagte er. »Wir werden Sie operieren, und Sie haben ausgezeichnete Aussichten durchzukommen. Ich habe mit Ihrem Mann gesprochen. Er ist einverstanden.« »Aber mein Kind wird sterben …« »Wenn Sie leben, wird auch das Kind leben. Es ist von der Operation überhaupt nicht bedroht. Natürlich besteht eine gewisse Gefahr für 131
Sie wie bei jeder anderen Operation oder beispielsweise einer Geburt auch. Unterlassen wir aber den Eingriff und warten ab, so werden die Aussichten nur schlechter.« »Werde ich sehr verstümmelt sein – im Gesicht, meine ich?« fragte ängstlich die Frau. Der Arzt schüttelte leise lächelnd den Kopf. Dann sagte er vorsichtig: »Der Eingriff geschieht am Hinterkopf, verstehen Sie. Die Haare verdecken vollständig die Schnittwunden, die an sich nicht sehr bedeutend sind. Leider werden wir zunächst« … er zögerte etwas … »wir werden gezwungen sein … sie zu rasieren. Aber«, fügte er schnell hinzu, »bei der heutigen Haarmode ist das eine Sache einiger Wochen, und Ihr Haar wird so schön sein wie jetzt.« Operationssaal. Die Kranke sitzt auf einem fahrbaren Krankenstuhl neben dem Operationstisch. Ihre großen aufgeregten Augen blicken zu dem Chirurgen auf, der vor ihr steht. »Nur ruhig Blut, kleine Frau«, sagt er lächelnd, »in einer Stunde haben Sie es durchgestanden. In ein paar Jahren, wenn Sie mit Ihren Kindern spielen, werden Sie denken, Sie hätten das alles geträumt.« Während er sich wäscht, wird die Kranke auf den Operationstisch gelegt. Sie liegt auf dem Bauch, den ganzen Körper in weiße Operationstücher eingehüllt. Der Kopf, mit dem Gesicht nach unten, ruht weich auf einem hufeisenförmigen, mit einem Gummiring gepolsterten Kopfhalter. Das Gesicht ist frei und kann von einer Schwester, die auf einem ganz niedrigen Hocker sitzt, beobachtet werden. Diese Schwester unterhält sich leise während der ganzen Operation mit der Kranken. Ein Assistenzarzt und eine andere Schwester machen Aufzeichnungen über Blutdruck, Atmung, Puls und teilen von Zeit zu Zeit dem Chirurgen ihre Befunde mit. Um den Tisch herum werden Apparate gruppiert. Die eine Elektrode des elektrischen Schneideapparats wird der Kranken angelegt. Ein Techniker bedient den Apparat. Die Absaugvorrichtung wird angestellt. Beide Apparate werden durch Pedale vom Chirurgen und einem Assistenten in Betrieb gesetzt, wenn sie gebraucht werden. Drei Ärzte assistieren. Rechts und links vom Tisch sind, sorgfältig und griffbereit 132
geordnet, Instrumente auf kleinen Tischen bereitgelegt. Zwei Instrumentenschwestern reichen sie nach Bedarf den Operateuren. Der Chirurg tritt jetzt hinzu und läßt sich eine, mit einem unempfindlich machenden Mittel, gefüllte Spritze reichen. Er führt die Nadel in die Haut des rasierten und mit Jod angestrichenen Schädels ein und preßt die Flüssigkeit in die Kopfschwarte. Mehrere Spritzen sind nötig, bis eine genügend große Fläche schmerzlos gemacht ist. Dann ritzt er mit einem Messer den Schnitt am Hinterkopf an. Während ein Assistent mit Mulltupfern, die er sich mit einer Pinzette aus dem Vorrat der Instrumentenschwester entnimmt, das wenige Blut des Schnitts wegwischt und die beiden anderen den Kopf der Patientin sorgfältig abdecken, so daß nur noch das Operationsfeld frei bleibt, bindet sich der Chirurg Gazestreifen fest um Mund und Nase. Den Knoten über seiner Haube läßt er sich von einer Schwester mit einer Sicherheitsnadel sichern. Alle stehen jetzt einen kurzen Augenblick still, die mit Gummihandschuhen bekleideten Hände, ineinandergelegt etwas vor sich hinhaltend. Dann reicht die eine Schwester dem Chirurgen ein Messer, und er führt den einleitenden Schnitt bis auf die Knochenhaut durch. Im Nu ist das Operationsfeld mit zangenartigen Instrumenten übersät. Sie haben blutende Stellen ergriffen und stoppen durch den Druck ihrer Backen jede Blutung. Durchtrennte Gefäße werden mit Fäden abgebunden, blutende Stellen mit Nadel und Faden umstochen. Nachdem der Chirurg den Hautlappen etwas freipräpariert hat und kein Tröpfchen Blut mehr zu sehen ist, schneidet das Messer in der Chirurgenhand die Knochenhaut ein. Wieder greifen Klemmen nach den Hauträndern und stoppen Blutungen. Der Chirurg schiebt mit einer Raspel die eingeschnittenen Häute vom Knochen ab und greift zum Bohrer, der an seinem Ende einen runden Fräskopf trägt. Er setzt ihn an einer Stelle auf und dreht. Geräuschlos schneidet die Fräse die Knochenstückchen aus. Nur das Gefühl sagt dem Operateur, wann das Schädeldach durchbohrt ist, aber dieses Gefühl ist untrüglich. Sobald die zwei Millimeter Knochen durchbohrt sind, nehmen die Hände den Bohrer zurück. Der Chirurg legt einige Zentimeter entfernt das nächste Loch in der harten Schädeldecke an. 133
Während der Chirurg weitere Bohrungen durchführt, reinigt ein Assistent die Bohrlöcher im Schädel. Er sammelt mit der Pinzette die ausgebohrten Knochenteilchen in einen kleinen Behälter, spritzt die Öffnung mit warmer Kochsalzlösung aus, saugt die Flüssigkeit mit dem Saugapparat ab und legt kleine feucht-warme Kompressen ein. Mit einer Leitsonde führt jetzt der Chirurg eine Drahtsäge zwischen Gehirn und Knochen durch, von einem Loch zum direkt benachbarten. Handgriffe legen sich an die Enden der Drahtsäge, und mit wenigen Zügen, hin und her, entsteht eine schmale Sägefurche zwischen zwei Öffnungen im Schädeldach. Dies wiederholt sich von Loch zu Loch. Zuletzt ist ein Lappen entstanden, der an seiner Basis noch fest mit dem übrigen Schädelknochen verbunden ist. Mitsamt der losgelösten Kopfhaut wird er zurückgeschlagen. Der Schädel ist offen, das Gehirn zugänglich geworden. Während ein Assistent den Knochenlappen mit angefeuchtetem Mull abdeckt und versorgt, stillen der Chirurg und seine Assistenz Blutungen. Der Chirurg berührt größere Gefäße mit der Ballelektrode des Diathermie-Apparats. Etwas Rauch steigt auf, aber jede Blutung steht. Andere Gefäße werden mit kleinen silbernen Klemmen verschlossen, die die Schwester an Haltern zureicht. Ein Helfer setzt jetzt dem Chirurgen die Stirnlampe auf, die einen scharfen Lichtkegel auf das Feld wirft. Er schneidet jetzt die Hirnhaut ein. Haken greifen nach den Schnitträndern und erweitern den Schlitz. Das Gehirn wird sichtbar. »Es dauert nicht mehr lange«, sagt die Schwester auf dem kleinen Schemel zur Patientin. »Sie sind gleich erlöst!« Die Patientin hat ein Beruhigungsmittel vor Beginn der Operation erhalten. Sie ist zwar nicht hellwach, aber antwortet klar. »Ich fühle mich ganz wohl, danke schön, Schwester. Wenn die unangenehmen Geräusche nicht wären – es klingt wie beim Zahnarzt, wenn er bohrt –, würde ich nichts merken … Ich habe es mir viel schlimmer vorgestellt.« Der Chirurg hat eine Hohlnadel an einer Spritze in das Gehirn eingeführt. Sie füllt sich langsam unter dem Sog des Kolbens mit einer zi134
tronengelben Flüssigkeit. Der Chirurg löst die Nadel von der Spritze und füllt den Inhalt in einen Glaszylinder. »Eine Zyste«, sagt er vor sich hin, »hab' ich mir doch gedacht.« »Hat der Professor etwas von mir gesagt?« fragt die Kranke. »Nein, nein«, antwortet die Schwester. »Er verlangte nur ein Instrument.« »Meinen Sie, Schwester, daß er das Ding in meinem Kopf finden wird?« »Sicher«, antwortet geduldig die Pflegerin, »ich glaube, er hat es schon gefunden.« Und mit einem zufriedenen Seufzer scheint die Kranke wieder leicht einzuschlummern. Der Chirurg hat jetzt einen Zugang zur Geschwulst geschaffen. Seine Stirnlampe zeigt ihm das Innere einer jetzt zusammengefallenen Höhle, aus der er soeben etwa vierzig Kubikzentimeter gelblicher Flüssigkeit entnommen hat. An der Wand der Höhle entdeckt er eine kirschgroße Geschwulst. Er geht mit der Ringelektrode in die Tiefe und löst mit dem Schneidebrenner die Geschwulst aus ihrem Bett. Der Strom fließt nur so lange, als die Elektrode in der Chirurgenhand Körpergewebe berührt (die andere Elektrode liegt außen an der Haut des Patienten). Sobald sich die Brennelektrode nur einen Millimeter zurückzieht, ist sie sofort ohne Strom, kalt und unschädlich geworden. Der Chirurg geht mit dem Sauger in die Öffnung, um sie restlos zu reinigen. Noch einmal durchforscht das Auge das Innere. Nach menschlichem Ermessen ist alles Geschwulstmaterial entfernt. Die Geschwulst, eine derbe rostbraune Masse, von der Größe einer Herzkirsche, landet in einem Glasschälchen. Diese Ursache des ganzen Elends der Patientin geht den Weg ins Pathologische Institut. »Sind wir bald fertig, Schwester?« fragt die Kranke. »Ich glaube, mir wird etwas übel.« »Patientin klagt über Übelkeit«, sagt die Schwester hinauf zu den arbeitenden Ärzten. »Blutdruck und Puls unverändert«, fügt sie hinzu. »Wir sind gleich soweit«, ruft der Chirurg laut, damit die Kranke ihn hören soll. 135
»Sie schläft schon wieder prächtig«, tönt die Stimme der beobachtenden Schwester. Die Chirurgen nähen den Knochen ein. Sie haben kleine Öffnungen gebohrt, durch die sie Silberdraht ziehen und verknüpfen. Der gesammelte und in warmer Salzlösung aufbewahrte Knochenstaub wird in die großen Bohrlöcher geschmiert, um die Öffnungen möglichst gut zu verschließen. Die Haut schließt sich unter fortlaufenden Nähten zusammen, und zum Abschluß befestigt ein Assistent den Verband rundherum mit Heftpflaster. Die Operation ist beendet. Kaum ein Tropfen Blut ist geflossen. Die Mäntel der Chirurgen sind unbefleckt wie zu Anfang. Ein winziges Stückchen wildgewordenes Hirngewebe ist das Ergebnis der Operation. Aber diese Winzigkeit hätte unweigerlich zwei Menschenleben vernichtet. »Sehen Sie, Professor«, rief die Patientin fröhlich einige Tage später, als der Arzt in ihr Zimmer trat, »ich kann mit meiner rechten Hand greifen!« Sie streckte beide Hände aus und ließ alle zehn Finger in gleichem Rhythmus tanzen.
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Die Nadel im Herzen Der Röntgenologe erzählt
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ffen gestanden habe ich es nur ganz zufällig entdeckt. Es war der sechste Magen, den ich an diesem Vormittag ›machte‹, und das ist eine ganze Menge. Außerdem wollte ich direkt anschließend in Urlaub gehen. Ich war also reichlich müde und überanstrengt und dazu noch eilig. Der Patient war ein Mann in mittleren Jahren, Zuschneider in einer großen Konfektionsfirma, wie ich später erfuhr. Lang aufgeschossen, mager und – unsereiner sieht die Patienten oft nur im Halbdunkel – ‚ ich hatte den Eindruck, daß er nervös und leidend aussah. Die Schwester las mir den Befund vor: »Schmerzen im Oberbauch, Hyperacidität, sonst klinisch o.B. Verdacht: Gastritis oder Magengeschwür.« Ich stellte den Kranken vor den Röntgenschirm, gab ihm den Becher mit Bariumbrei in die Hand und sagte: »Dunkel …«, worauf das gedämpfte Licht im Röntgenraum vollends verlöschte. Ich wartete einen Augenblick, um die müden Augen restlos an die Dunkelheit zu adaptieren, schob den Schirm vor die Brust des Patienten und rief: »… und Strom!« Der Schirm leuchtete auf, die skelettierte Brust des Patienten mit den Weichteilschatten des Herzens und der feinen Zeichnung der Lungen wurde sichtbar. Aber darauf achtete ich nicht. »Nehmen Sie jetzt einen Schluck, bitte«, sagte ich zum Patienten und verfolgte das Wandern des für die Röntgenstrahlen undurchdringlichen Kontrastmittels auf seinem Weg durch die Speiseröhre in den Magen. Meist sieht man dabei nichts Besonderes. Aber als mein Auge vom Kehlkopf des Patienten aus am Brustbein entlang nach unten wanderte und ich den Schirm schon herunterschob, um den Ma137
gen ins Bild zu bekommen, gewahrte ich halb unbewußt etwas, was nicht zum üblichen Bild gehörte. Ich schob den Schirm wieder vor die Brust – da war es. Etwas neben dem Brustbein, links, in Höhe der fünften Rippe, lag ein schmaler dünner Schatten, völlig schwarz, etwa einen Zentimeter lang. Er stand fast parallel zum Brustbein, von oben links etwas nach unten rechts gesenkt. Der ominöse Schatten bewegte sich leise, auf und ab wippend im Takt des Herzschlags. Ich drehte den Patienten leicht, um ein seitliches Bild zu erhalten. In einer Lage, in der die linke Brust des Patienten dem Schirm und mir zugewendet, seine rechte Seite abgewendet war, hatte der dünne Schatten seine größte Länge, etwa drei Zentimeter. Ich starrte gespannt auf die Platte und drehte den Patienten mit den bleibehandschuhten Händen langsam hin und her, um ein möglichst vollkommenes Bild des Fremdkörpers zu erhalten. Es gab für mich keinen Zweifel mehr: der Mann hatte einen wahrscheinlich metallischen Fremdkörper – wie ein Stück Draht oder eine Nadel kam es mir vor – mitten im Herzen. Nach der Lage mußte es die linke Herzkammer sein, in die der Fremdkörper eingelagert war. Steckte er in der Kammermuskulatur …? Ich ließ mir dem Patienten gegenüber nichts von meinem Fund anmerken und führte die Untersuchung des Magens durch. Aufnahmen waren überflüssig, der Mann hatte lediglich eine geringfügige Gastritis. Ich diktierte der Schwester den Befund und sagte ganz nebenbei: »Wir wollen eine Aufnahme machen. Noch einen Moment, Herr N.!« Ich ging nach draußen und hatte einige Mühe, der Schwester klarzumachen, daß ich ein Röntgenfoto der Herzgegend machen wollte. Wir fanden eine passende Kassette und machten die Aufnahme. Selbstverständlich sollte der Patient nicht wissen, daß mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung war. Nichts macht die Leute nervöser als der Gedanke, daß sich in ihrem Herzen etwas befindet, was nicht hineingehört. Es ist ja auch kein erfreuliches Wissen. Immerhin laufen gar nicht so wenige Menschen mit einem Geschoß oder einem Splitter im Herzen herum, ohne es zu ahnen und ohne etwas zu merken. Erst mit dem Wissen stellen sich gewöhnlich auch die Beschwerden ein. 138
Natürlich war ich auf meinen Fund sehr stolz und gab die Urlaubspläne auf. Ich hatte dem Chef etwas zu zeigen, was man selten zu sehen bekam, und ich war neugierig, was er zu dem Fall zu sagen haben würde. »Und hier habe ich noch eine letzte interessante Aufnahme, Herr Professor, die ich Ihnen gern zeigen würde!« Mit diesen Worten legte ich am nächsten Morgen meine ganz gut gelungene Herzaufnahme in den Vorführapparat. Der Chef, immer interessiert, immer bei der Sache, neigte sich vor. Die anderen, der Oberarzt und einige Assistenten, waren schon im Begriff zu gehen, als die Worte des Chefs sie zurückkommen ließen: »Nanu, was haben Sie denn da …?« Der Chef starrte auf den von hinten erleuchteten Film, und neben ihm tauchte der Kopf des Oberarztes auf, ein langes schmales Gesicht mit scharfgezeichnetem Profil, eine randlose Brille vor kleinen, weit offenen Augen. Als Chirurg war er technisch noch geschickter als der Chef, ein chirurgisches Genie, dem aber die Gabe des vorsichtigen Abwägens, die medizinische Hellsichtigkeit des Chefs, wenigstens vorläufig noch abging. Der Chef sah mich fragend an. Ich schilderte den Hergang meiner Untersuchung. Da ich den Patienten für den Nachmittag zur weiteren Durchleuchtung bestellt hatte, wurde beschlossen, ihn dann dem Chef vorzuführen. »Die Nadel sitzt im linken Ventrikel, offenbar steckt sie im Myokard und ragt in die linke Kammer …« Die 'Diagnose des Oberarztes kam prompt und scharf. »Und warum haben Sie nicht gleich mehrere Aufnahmen gemacht, Herr Doktor?« fragte er anklagend zu mir gewandt. »Die Operation wird interessant sein«, meinte halb fragend der Oberarzt zum Chef, als sie beide den Raum verließen. »Wer spricht hier von Operation …?« hörte ich den Chef noch sagen. Die Vorstellung des Patienten verlief ohne Ergebnis. Als ich ihm sagte, daß ihn der Chef zu sehen wünsche, war der Mann sehr erstaunt und, wie das so Patientenart ist, geschmeichelt. Auf seine Fragen warum und wieso, murmelte ich etwas von einem intrakardialen corpus alineum, wozu ich den Rat des Professors haben möchte. Da der Mann 139
das nicht verstand, kam ich um eine offene Lüge herum. Er gab sich zufrieden und fragte nicht weiter. Die im wesentlichen auf Befragen beschränkte Untersuchung des Chefs gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie der Fremdkörper ins Herz gekommen sein konnte. Der Patient wußte von keinem Unfall. Irgendwelche Narben am Brustkorb waren nicht festzustellen. Natürlich mußte er merken, daß wir mit unseren Fragen wie die Katze um den heißen Brei herumgingen, und die Sache wurde ihm unheimlich. Es gelang dem Chef aber, ihn davon zu überzeugen, daß er ein ungeklärter Fall sei und daß möglicherweise bei ihm in der Magengegend etwas nicht ganz in Ordnung sei. »Wir nehmen Sie hierher in die Klinik. Sie bekommen ein hübsches Zimmer, und wir werden Sie genau untersuchen. Es dauert nur zwei oder drei Tage, dann wissen wir Bescheid«, beschloß er die Unterredung und verabschiedete den Kranken. Die Debatte zwischen dem Chef und dem Oberarzt war ungewohnt heftig. »Wir müssen den Fremdkörper unbedingt entfernen«, plädierte der Oberarzt. »Auf die Dauer werden sich in der Herzkammer Blutgerinnsel bilden, denn die Nadel wird über kurz oder lang bedenkliche Verletzungen im Innern der Kammer verursachen. Wir haben dann mit einer arteriellen Embolie zu rechnen. Es kann aber auch passieren, daß die Nadel, die offenbar in der Muskulatur steckt, sich löst und in die Kammer fällt. Sie wird dann vom Blutstrom in der Kammer herumgewirbelt und es ergeben sich zwei Möglichkeiten: Sie wandert entweder in die großen Blutgefäße und kann sogar auf diesem Weg ins Gehirn eindringen, dann ist der Mann geliefert, oder die Nadel bleibt uns an den Herzklappen oder an den Papillarmuskeln hängen. Auch das ist denkbar unangenehm, besonders dann, wenn wir den Patienten nicht augenblicklich auf den Operationstisch legen können. Wir können nicht damit rechnen, daß sie, für den Fall, daß sie sich löst, an eine besser zugängliche Stelle wandert, wo wir sie leichter herausholen könnten.« Aber die Argumente des Oberarztes machten keinen Eindruck auf 140
den Chef. Er schüttelte nur ablehnend den Kopf und sagte: »Warten wir ab. Wir werden Blutbilder und Senkungen machen und einige Elektrokardiogramme. Davon eins, nachdem der Patient einige Kniebeugen gemacht hat. Achten Sie darauf, daß dabei vorsichtig verfahren wird. Dann werden wir ihn nach Hause schicken und abwarten!« »Aber Herr Professor«, der Oberarzt gab noch nicht auf, »wir verlieren kostbare Zeit. Die Beschwerden des Patienten im Oberbauch sind ein Alarmsignal und auch sein Allgemeinzustand …« »Gerade der Allgemeinzustand legt mir Zurückhaltung auf.« Die beiden Chirurgen hatten höllischen Respekt voreinander, was ihr Metier anlangte. Persönlich konnten sie sich beide, dem Anschein nach, nicht besonders gut leiden. Zwischen ihnen bestand so etwas wie eine Throninhaber-Thronfolger-Rivalität. Wenigstens glaubten wir das in der Klinik. Im Operationssaal allerdings endete diese Rivalität. Sie wurden zu unpersönlichen Dienern am Werk, gleichgültig, ob der Oberarzt dem Chef oder der Chef dem Oberarzt assistierte, was öfters vorkam, als man unter Rivalen, bei denen der eine der absolute Herrscher war, annehmen sollte. Nicht nur hierin scheinen Chirurgen zuweilen vernünftiger zu sein als die sogenannten Großen dieser Welt. Ergebnis der Untersuchung: Blutdruck 120/90, Senkung: 15/30 (leicht beschl.). Blutbild: rote 3,8 Millionen, leichte Leukozythose, WAR negativ. Außer einer leichten Anämie und etwas niedrigem Blutdruck ergaben diese Berichte aus dem Laboratorium keinen besonderen Hinweis auf irgendwelche Schädigungen durch den Fremdkörper. Am nächsten Tag, dem zweiten Tag in der Klinik, wurde freilich ein bedenklicheres Zeichen beobachtet. Das Elektrokardiogramm zeigte viele Extrasystolen und einen Herzmuskelschaden. Bei Belastung – durch die Kniebeugen oder nach Treppensteigen – traten die Sonderschläge des Herzens gehäuft auf, und der Herzschlag wurde leicht unregelmäßig. Meine Röntgenbilder, darunter einige Schichtaufnahmen, zeigten die von uns richtig gedeutete Lage des Fremdkörpers. Der Oberarzt legte dem Chef triumphierend die Aufzeichnungen der Herzaktion vor, aber der Chef schüttelte wieder den Kopf. 141
»Wenn wir nicht wüßten, daß dieser Mann einen Fremdkörper im Herzen hat – ob es wirklich eine Nadel ist, wissen wir keineswegs –, würden wir den Mann zum Internisten schicken, und dieser würde ihn entweder mit Strophantin und Chinin oder wahrscheinlich überhaupt nicht intensiv behandeln. Ich denke nicht daran, die Verantwortung für die Operation auf mich zu nehmen. Wir entlassen den Patienten und fordern ihn auf, sich von Zeit zu Zeit wieder vorzustellen.« Das war endgültig. Auch der Oberarzt fügte sich dem Beschluß. Ob er mit den Zähnen knirschte, weiß ich nicht. In guter Haltung sprach er jedenfalls selber mit dem Patienten und schickte ihn freundlich und die ganze Sache bagatellisierend nach Hause. »Den sehen wir nie wieder«, meinte er bedauernd zu mir, als wir den Patienten verließen. Es waren etwa vier Wochen vergangen, und ich war vom Urlaub zurück, als mich der Oberarzt anrief und fragte, ob sich unser Patient mit dem Fremdkörper wieder gemeldet habe. Als ich verneinte, ließ er dem Mann sofort einen Brief schreiben, der ihn aufforderte, sich bei uns vorzustellen. »Der Fall läßt mich nicht schlafen«, sagte er lachend, als ich ihn mit seinem Eifer aufzog. Der Patient erschien prompt bei mir. Ich erschrak, als ich ihn sah, und erkannte ihn kaum wieder. Er machte den Eindruck eines schwer leidenden Mannes. »Warum sind Sie nicht früher gekommen?« fuhr es mir bei seinem Anblick heraus. Der Kranke erzählte, daß er sich inzwischen in internistische Behandlung begeben habe. Sein Arzt hatte vor zwei Woden bei ihm eine Angina pectoris diagnostiziert und behandelte ihn dementsprechend. Er fühlte sich allerdings sehr elend und könne kaum mehr seiner Arbeit nachgehen, die doch ziemlich anstrengend sei. Das Zuschneiden der Kleidungsstücke könne er nicht mehr schaffen, er mache jetzt nur noch die Entwürfe und die Schnitte. Der Chef stellte für die Operation die beste Gruppe zusammen, die wir aufbringen konnten. Er operierte, der Oberarzt und unser bester Assistent sekundierten ihm. Ich durfte zusehen. Drei weitere Assistenten und zwei Schwestern komplettierten das Kollektiv. Wenn man einem Operations-Team aus einiger Entfernung zusieht, 142
so erinnert das sehr an eine Pantomime. Es klingt grotesk, wenn ich es sage: aber die Gesten einer gut zusammengespielten Gruppe am Operationstisch haben einen frappanten musikalischen Rhythmus. Sparsam und exakt, eingedrillt wie ein Ballett. Tritt man näher, so verwischt sich dieser Eindruck. Das Operationsfeld – der übrige Körper ist mit weißen Tüchern abgedeckt – ist ein Gewirr von Händen in hellbraunen Gummihandschuhen, Instrumenten aller Art und abwechselnd ins Operationsfeld tretenden roten und silbrig glänzenden Organen. Der Chef hatte den langen Schnitt am Brustbein entlang ausgeführt der nach unten etwas nach links schwingt. Wundhaken hatten die Haut-Muskel-Partie über dem Herzen auseinandergezogen. Blutende Gefäße waren fein säuberlich mit Catgut unterbunden, zwei Rippenstücke waren bereits entfernt. Darunter liegt jetzt der Herzbeutel. Der Chef öffnet ihn weit, vier Klemmen, denen später drei weitere folgen, in den Händen des Oberarztes greifen nach den Schnitträndern des Fells und ziehen den Spalt auseinander. Das Herz liegt jetzt weit frei, wir sehen es geruhsam schlagen, auf-ab, auf-ab. Bisher war alles Routine, jetzt aber wird's ernst. Das Herz, die linke Herzkammer, die das Blut in den Körper pumpt und deren Tätigkeit wir als Pulsschlag am Handgelenk fühlen, muß aufgeschnitten werden. Was als tödlich angesehen wird, eine Wunde im Herzen, wie sie ein Schuß oder ein Stich hervorruft, muß der Chirurg künstlich und absichtlich herbeiführen. Der Chef hat sich jetzt eine runde Nadel mit einem Faden am Nadelhalter reichen lassen und legt im Zickzack eine einfache Naht in den Herzmuskel. Dicht daneben eine zweite. Die Fadenenden hängen aus dem Muskel heraus und werden mit Klemmen von den Assistenten ergriffen. Unten im Operationsfeld ist jetzt ein U-förmiges Rohr mit einem Gummischlauch in die vom Herzbeutel geformte Höhle eingelegt worden. Der Gummischlauch führt zu einem Gefäß, in dem sich Zitratlösung befindet. An das Gefäß angeschlossen ist ein Saugapparat. Diese Vorrichtung wird das Blut absaugen, das sofort nach dem Schnitt aus dem Herzen strömen wird. Das so aufgefangene Blut soll dann später dem Körper des Patienten durch eine Vene wieder zuge143
führt werden. An beiden Armen des Patienten hat inzwischen eine Übertragung von Spenderblut eingesetzt, um den schockartigen Blutverlust aus dem Schnitt im Herzen aufzufangen. Der Oberarzt greift mit der Hand in den Herzbeutel, legt die Finger unter das schlagende Herz und hebt es dem Messer des Chefs entgegen. Jetzt muß der entscheidende Schnitt erfolgen. »Halt«, der Oberarzt schreit es fast und läßt das Herz zurück gleiten. »Kammerflimmern!« Die Aktion des Herzens ist plötzlich unregelmäßig geworden. Ich sehe nicht genau, aber man kennt diese wogenden Bewegungen vom Tierherzen her. »Aufhören! Schluß machen!« Das ist der Narkotiseur. »Patient kollabiert!« »Pantocain!« Der Chef hat es kaum gesagt, da hält er schon die von der Operationsschwester gereichte Tropfflasche in der Hand. Die Frau weiß immer, was der Chef will. Erstaunlich. Vier … fünf … sechs Tropfen der Flüssigkeit fallen auf den Vorhof und die linke Kammer des Herzens. Wir blicken alle gespannt. Bedeutet es das Ende der Operation? Vielleicht das Ende des Patienten? Während der Chef auf diese Weise das Herz zu anästhesieren versuchte, sagte er zum Oberarzt: »Das hätten wir vorher machen sollen, Herzbeutel und Herzüberzug zu anästhesieren. In Zukunft werden wir so vorgehen. Jetzt ist es natürlich spät …« »Stoppen Sie die Bluttransfusion«, befiehlt der Chirurg dann plötzlich. Wollte er wirklich Schluß machen? Ich blicke den Oberarzt an. Sein Gesicht ist verbissen, er hält den Kopf gesenkt. Der Chef steht wartend und blickt auf das Herz. Es scheint sich zu beruhigen. »Puls wieder tastbar«, meldet der Narkotiseur, »ich denke, jetzt geht es wieder, Herr Professor!« sagt er dann. »Geben Sie nun weiter Blut!« Auf eine Handbewegung des Chefs, der wieder das Skalpell ergriffen hat, hebt der Oberarzt noch einmal das Herz heraus. Und jetzt senkt sich das Messer in die Herzkammer, ein mächtiger Blutstrom fährt heraus und überflutet das Operationsfeld. Fast augenblicklich dichtet der Chirurg den Strom ab, indem er mit dem rechten Zeigefinger in die Herzwunde eingeht und sie so genau 144
ausfüllt. Der Schnitt im Herzen darf nicht zu klein sein – sonst reißt der Muskel, wenn der Finger eindringt, und nicht zu weit, sonst dichtet der Finger nicht genügend ab. Jetzt tastet der Finger innen. Haben wir die Lage des Fremdkörpers erkannt? »Ich fühle den Fremdkörper«, sagt der Chef jetzt, »er sitzt im Herzmuskel fest … wie eingemauert, ich kann ihn nicht bewegen …« Da drinnen umspült jetzt das Blut den Finger des Chirurgen in wilden Wirbeln. Die Kammern öffnen und schließen sich, die Sehnenfäden an ihnen spannen und entspannen sich. Die Hand des Chirurgen bewegt sich mit dem Herzen langsam auf und ab. Wird er den Fremdkörper lösen können? »Faßzange«, befiehlt er und hat sie schon in der ausgestreckten Hand. Er zieht jetzt den Finger aus der Wunde. Sofort strömt das Blut, aber schon ist die Zange in der Wunde, und zwei Finger dichten um das Instrument herum die Wunde fast völlig ab. Der Oberarzt hält immer noch das Herz in der Hand. Sein Gesichtsausdruck ist gelöst, ganz hingegeben. Gebannt und bewundernd schaut er auf die linke Hand des Chefs, der mit den Griffen der Zange außen kleine packende Bewegungen ausführt, denen innen, mitten im Herzen, Bewegungen der schmalen Zangenbacken entsprechen. »Puls nicht tastbar, Schluß machen«, mahnt der Narkotiseur. Aber der Chef läßt sich nicht beirren. »Ja, ja …«, es klingt angespannt und leicht ungeduldig, »ich bin gleich soweit!« Mit leisen, vorsichtigen seitwärtigen Bewegungen – sie sind kaum sichtbar – lockert er das Ding. Es liegt fast quer zur Wunde, und er muß es so manipulieren, daß er es der Länge nach, mit einem Ende voraus, nach außen befördern kann. Die Sekunden tropfen, wir halten alle den Atem an, der Chef sieht angespannt aus und preßt die Zähne zusammen. »Ich kriege ihn nicht herum«, sagt er böse knurrend zum Oberarzt, »geben Sie acht, ich versuche, ihn seitwärts durch die Herzwand nach außen zu stoßen …« Der Oberarzt nimmt die dargereichte Klemme, mit der er den Fremdkörper fassen will, wenn die Spitze außen durchtritt. Aber dazu kommt es nicht … Plötzlich schreit der Chef: »Nähte zu!« und schon ist er mit der Zan145
ge heraus und hält mit beinahe triumphierender Geste das Instrument hoch. Es hält zwischen den Backen ein längliches Gebilde, das wie ein Draht oder eine Nadel aussieht. Es ist länger, als wir dachten, etwa vier Zentimeter lang. Die Assistenten haben die vorher gelegten Nähte zusammengezogen. Jetzt knüpfen sie die Knoten. Der Chef legt noch eine Naht über die Wunde. Keine Blutung mehr, die Nähte sind dicht. »Ich möchte noch mit Pericard abdecken«, sagt der Chef, fast entschuldigend, »es dauert zwei Sekunden.« Das ist für den ungeduldigen Narkotiseur bestimmt. Und schon hat er ein Stückchen Haut vom Herzbeutel abgeschnitten und näht es über die Naht am Herzen. Es ist ein schreckliches Ereignis, wenn ein Patient nach Tagen an einer zu lockeren Naht verblutet, nachdem man ihn schon genesen sieht. Kaum hatte der Oberarzt das Herz zurückgleiten lassen, als schon die Näharbeit begann. Der Chef, erschöpft, überließ gegen seine Gewohnheit die äußere Naht den Assistenten. Als ich ihm nachher gratulierte, winkte er ab. »Wozu beglückwünschen Sie mich? Daß ich den Mann lebendig vom Tisch brachte? Warten wir ab, wie es weitergeht!« Aber er lächelte trotzdem zufrieden. Die Überraschung des nächsten Tages war, daß der Patient ganz normal und zum Scherzen aufgelegt war. Er behauptete, daß er sich seit Jahren nicht so wohl gefühlt habe. Eine Übertreibung, die man gern hört. Merkwürdigerweise verlief seine Rekonvaleszenz ohne Komplikationen. Wir haben niemals herausgefunden, wie die Nadel in das Herz gelangte. Es war eine dünne Nähnadel, deren Öhr abgebrochen war. Der Patient mußte sie entweder verschluckt oder sie sich, ohne es zu merken, in die Brust gestoßen haben. Entweder war sie durch die Speiseröhre ins Herz eingedrungen oder sie war durch die Brustwand hindurch ins linke Herz gewandert. Es kommt aber auch vor, daß ein solcher Fremdkörper von irgendeiner Stelle des Körpers her durch eine Ader ins Herz wandert …
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Hicks'sche Wendung Der Geburtshelfer erzählt
E
ine Patientin im neunten Schwangerschaftsmonat, Herr Professor«, sagte die Stimme meines Assistenten aus dem Apparat. Er schien mir etwas atemlos. »Es ist ein dringender Fall …« »Großer Gott«, unterbrach ich ihn scherzhaft, denn schließlich ist das Eintreffen einer werdenden Mutter in einer Entbindungsstation kein Grund zur Aufregung, »sie ist doch nicht etwa tätowiert?« »Nein, Herr Professor, aber tamponiert. Sie hat eine starke Blutung …« Als ich den Operationssaal betrat, lag die Kranke schon auf dem Tisch. Eine junge Frau, drei- oder vierundzwanzig. Bleiche Lippen, graugelbes Gesicht, unnatürlich große und glänzende Augen. »Fieber hat sie auch«, dachte ich bei diesem Anblick. »Die Temperatur ist achtunddreißig drei, Herr Professor«, verkündete die Schwester, die eben das Thermometer ablas. Ja, antwortete die Patientin – sie sprach ganz gut deutsch – auf meine Fragen, sie habe in letzter Zeit manchmal geblutet und Opiumtropfen und Spritzen bekommen. Ihr Mann und sie selber seien sehr in Sorge gewesen, daß das Kind nicht bleiben würde. Es sei das erste … Ja, seit gestern habe sie Schmerzen und Ziehen im Rücken. Gegen Morgen sei es schlimm geworden, und ihr Arzt habe sie tamponiert und einen Platz in einer Klinik für sie gesucht. Das hätte lange gedauert, bis sie endlich von einer Nachbarin von unserer Station gehört habe. »Sie können doch sicher etwas tun, Herr Doktor«, sagte sie dann zu mir, »daß alles gut geht. Mein Mann und ich sind jetzt schon drei Jahre von zu Hause weg. Wir könnten schon lange wieder daheim sein, aber mir ging es in den letzten Monaten schlecht.« 147
Die Frau hatte sich vom ersten Schock etwas erholt und gab klare Auskunft. Aber sie war in einem sehr schlechten Zustand. Nichts erschöpft die blutbildenden Organe so sehr wie ständige geringe Blutverluste und macht sie unfähig, plötzlichen größeren Ansprüchen gerecht zu werden. Außerdem bestand natürlich die Gefahr einer lebensgefährlichen Sepsis. Mit dem Spekulum war nichts anzufangen. Ich schritt zur manuellen Untersuchung. Was ich entdeckte, machte meinen Verdacht zur Gewißheit. Der Gebärmutterhals war verstrichen, das heißt, die ersten Wehen hatten eingesetzt. Der Muttermund war etwa dreimarkstückgroß, und jetzt tastete mein Finger das Hindernis. Zwischen dem vorliegenden Kopf des Kindes und der Fingerspitze breitete sich eine Schicht schwammigen Gewebes aus und bedeckte innen die ganze Öffnung des Muttermundes. »Placenta praevia centralis«, sagte ich zum Assistenten. Wir hatten es also mit der gefürchteten geburtshilflichen Komplikation dieser Art zu tun. Der Mutterkuchen, der sonst seitlich an der Wand angeheftet ist, lag vor der Austrittspforte und verwehrte dem Kopf des Kindes den Durchgang. In der Plazenta kommunizieren die beiden Blutkreisläufe von Mutter und Kind. Sie vermitteln dem Kind, neben Nährstoffen, den lebensnotwendigen Sauerstoff aus dem Blut der Mutter. Überläßt man eine Mutter, bei der die Plazenta den Ausgang versperrt, dem natürlichen Geburtsverlauf, so zertrümmert der Muskelmotor der Gebärmutter, der das Kind ans Tageslicht preßt, die blutreiche Plazenta. Das Kind erhält daraufhin keinen Sauerstoff mehr und beginnt im Mutterleib zu atmen. Da das nicht möglich ist, erstickt es in kurzer Zeit. Aber auch die Mutter ist durch diese gewaltsame Lösung der Plazenta von ihrer Haftstelle der Gefahr der Verblutung ausgesetzt. Bei unserer Patientin war eine Schnittentbindung, der ›Kaiserschnitt‹, nicht angezeigt. Die Frau hatte Fieber. Beim Kaiserschnitt würden wir mit Sicherheit die Infektion weiter ausbreiten. »Ich mache einen Braxton-Hicks«, sagte ich zu meinen Leuten. 148
»Äther … Stellen Sie die Blutgruppe fest. Bis das Spenderblut eintrifft, machen wir einen Dauereinlauf.« Zur Patientin sagte ich: »Wir wollen sehen, was zu machen ist, Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in großer Gefahr, und wir müssen uns sehr beeilen …« Ich erklärte ihr in kurzen Worten, was wir tun mußten. »Aber, kann ich nicht erst meinen Mann fragen?« Die Frau sah mich ängstlich an. »Werden Sie mich schneiden müssen? … Ich weiß nicht, wie man das nennt …« »Wir haben keine Zeit mehr, Ihren Mann zu befragen«, antwortete ich auf ihr Gestammel. Ich hatte begonnen, den Leib nach der Lage des Kindes abzutasten. Es lag mit dem Kopf nach unten, den Rücken nach der linken Seite der Kranken hingewendet. »Mit dem Kaiserschnitt ist es hier nichts«, antwortete ich der Patientin weiter. »Sie haben Fieber und würden sicher Blutvergiftung bekommen.« Die Frau sah mich zutiefst erschrocken an. »Ich wende Ihr Kind«, sagte ich und lächelte sie ermutigend an. »Sie werden von dem Eingriff gar nichts merken …« Meine wenigen Worte, die ihr nicht gerade eine Erleuchtung bringen mochten, beruhigten aber die Kranke anscheinend. Offenbar hörte sie am Tonfall, daß höchste Eile geboten war. Sie nickte Einverständnis und ließ sich zurücksinken. »Geben Sie prophylaktisch Sulfonamid«, sagte ich zum Assistenten. »Und versuchen Sie nachher, Ihrem Freund, dem Amerikaner, ein paar Millionen Einheiten Penicillin herauszureißen. Die Patientin wird es brauchen können. Wenn Sie ihn gleich erreichen können, sagen Sie ihm, was hier vorgeht. Vielleicht interessiert es ihn als Chirurgen.« »Hundertfünfzig«, meldete der Assistent, der die Herzschläge des Kindes zählte. Das war also in Ordnung. Die Patientin zählte noch schwerfällig und falsch unter der Einwirkung des Narkotikums, als ich die Schere am Finger entlangführte und mit einem Schnitt die Plazenta weit öffnete. Ich ließ den Finger etwas weitergleiten … noch ein Schnitt der Schere, und das Fruchtwas149
ser strömte mir über die Hand. Nun schnell … jeden Tropfen Blut sparen … jeden einzelnen Tropfen … Der Muttermund war so weit, daß zwei Finger ihn leicht passieren konnten. Während ich die Schere, die von der rechten Hand geführt worden war, weglegte, führte ich Mittelund Zeigefinger der linken nach oben und fühlte den Schädelknochen des Kindes. Die Finger schoben den Kopf nach oben. Die rechte Hand lag jetzt auf dem Leib der Patientin und preßte den Steiß des Kindes nach rechts herüber und nach unten. Im Inneren wich der Kopf nach oben aus, die Passage war frei, und ich konnte mit den beiden Fingern weiter eingehen. Es galt, den vorn liegenden Fuß des Kindes zu finden und nach unten zu ziehen. Meine Finger tasteten sich also jetzt am Bauch des Kindes entlang, während meine rechte Hand von außen die untere Partie nach unten drückte, die Beine des Kindes den innen liegenden Fingern entgegen. Diese Wendung des Kindes erforderte einige Geschicklichkeit. Sie muß schnell gehen, und sie muß mit größter Zartheit ausgeführt werden. Nichts darf mit Gewalt erzwungen werden. Man muß sich den Eintritt durch die engen Pforten, die von der Natur mit äußerster Sparsamkeit in der Raumverteilung angelegt sind, förmlich erlisten. Also keinerlei Kraftaufwand, kein harter Druck … ein Riß der Gebärmutter würde die an sich gefahrvolle Situation in einer Katastrophe enden lassen. Jetzt habe ich etwas zwischen den suchenden Fingern. Ist es ein Fuß? Ich taste das Ende des Gliedes so gut es geht ab, Zentimeter um Zentimeter. Beim Fuß bilden die Zehen eine gerade Linie, bei der Hand eine Kurve. Die Ferse ist trügerisch, in gewissen Stellungen der Hand fühlt sich die Handwurzel wie eine Ferse an. Der Daumen kann quer über den Handteller gelegt werden, die große Zehe nicht. Das sind die Anhaltspunkte der Orientierung. In dem engen Raum, der für die suchenden Finger zur Verfügung steht, ist dieses Tasten im Dunkeln, noch dazu in einer unnatürlichen Haltung des Körpers, eine schwere Anstrengung. Es treibt mir den Schweiß aus allen Poren … »Verdammt …«, entfährt es mir, »es ist ein Arm!« »Herztöne einhundertachtzig«, meldet eine Stimme. Das Kind reagiert auf den Eingriff. Aber das ist ganz normal. 150
Meine Finger suchen weiter. Die rechte Hand schiebt das Kind weiter nach unten, die Blutung ist durch die innen liegende Hand einigermaßen gestoppt, geht aber weiter. »Puls hundertzwölf, Atmung gut«, sagte die Stimme des Narkotiseurs an. Das betrifft die Mutter. Jetzt habe ich den Fuß! Ich umspanne mit den vorderen Gliedern der beiden Finger den kleinen Knöchel und ziehe. Gehorsam folgt endlich die Unterpartie des Kindes dem äußeren Druck und dem inneren Zug. Das Kind beschreibt in der Gebärmutter einen Salto, der, so wage ich zu hoffen, kein ›mortale‹ sein wird. Noch indem ich den Fuß herunterziehe, fühle ich, wie eine Wehe den vorderen Abschnitt der Gebärmutter zusammenpreßt. Meine Finger sind wie in einen Schraubstock geklemmt. Wieder ist es da, das Gespenst des Gebärmutterrisses. Sofort lasse ich meine Hände passiv werden. Mit einem Minimum an Kraftaufwand versuche ich den Fuß zu halten und hebe den Druck der Rechten so weit auf, daß das Kind gerade noch in der erreichten Lage gehalten wird. Hoffentlich, denn wenn unter dem Einfluß der Wehen das Kind in die vorige Lage zurückgleitet – alle Mühe wäre dann vergeblich gewesen. Die Wehe geht vorüber. Ich habe das Kind in der erreichten Lage halten können. Der Fuß des Kindes hat, zusammen mit meinen Fingern, die Gebärmutter verlassen, und ich entwickle das Bein bis zur Hälfte des Kindes. Außen wird ein wohlgeformtes Füßchen und die rundliche Wade des Babys sichtbar. Ich richte mich auf – der erste Teil der Arbeit ist geschafft. »Geben Sie weiter wenig Äther«, sagte ich zum Narkotiseur, »wir wollen jetzt zuwarten.« Das Kind plombiert jetzt die Gebärmutter. Seine Hüftpartie drückt die Plazenta gegen die Wand. Damit steht die Blutung. Eigentlich ist unsere Aufgabe gelöst, die akute Verblutungsgefahr für die Mutter ist beseitigt. Wir könnten nun die Hände in den Schoß legen und warten, bis die Natur das Werk vollendet und ein totes Kind ausgestoßen wird. Denn während das Kind die Blutung stillt und so das Leben der Mutter rettet, preßt es sich selbst die Lebensluft ab. Tatsächlich sind wir 151
machtlos, denn eine gewaltsame Weitung, um die Geburt mit Hand oder Zange forcieren zu können, wäre ungeheuer gefährlich. Der Alpdruck des drohenden Risses, der bei diesem ganzen Eingriff ständig auf einem lastet … Ein altes Geburtshelferwort sagt: Braxton-Hicks – und das Weitere Gott überlassen! »Herztöne neunzig.« Die Stimme des Assistenten, der das kindliche Herz belauscht, klingt gepreßt. Es ist ein Erlebnis, das viel zu oft im Leben eines Geburtshelfers wiederkehrt: dieses Zusehen müssen, wie ein Leben verlöscht, das so wagemutig und kraftvoll ans Licht drängte, das so sorgfältig und fürsorglich aufgebaut worden war. Man gewöhnte sich nie daran, so oft man es auch erleben muß. Ich hatte die Narkose noch nicht abbrechen lassen, weil ich einen Schimmer der Hoffnung sah, das Kind dennoch zu retten. Als ich die Wendung durchführte, hatten Wehen eingesetzt, wie dies gegen Ende der Schwangerschaft gewöhnlich im Anschluß an die Sprengung der Fruchtblase geschieht. Wenn die Geburt im Verlauf der nächsten Minuten in Gang kam, der Uterus sich auf natürliche Weise öffnete, bestand große Aussicht. Noch lebte das Kind, und wo Leben ist, ist Hoffnung. Vielleicht hatten wir auch noch eine Chance, fördernd in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Die Wehen gingen tatsächlich weiter und wurden kräftiger. Ich ließ weiterhin leichte Narkose geben. Inzwischen war auch die Schwester mit dem Spenderblut eingetroffen, und die Kranke erhielt eine ausgiebige Bluttransfusion. Das fremde Blut war zwar kein vollwertiger Ersatz für das verlorene eigene der Patientin, aber es verbürgte Zeitgewinn – und das bedeutete hier alles. Durch vorsichtigen Zug am bereits entwickelten Bein versuchte ich, die Arbeit des mütterlichen Körpers zu unterstützen. Und es ging wirklich vorwärts, sehr langsam und schrittweise, wollte es uns scheinen. »Herztöne nicht feststellbar«, meldete der Assistent. Mächtige Wehenwellen trieben jetzt den Körper des Kindes nach außen. Das zweite Bein konnte ich mit einem Finger nach unten ziehen. Ich ging dann ein, um nach den Beinen auch die Arme des Kindes zu entwickeln, die natürlich, wie es bei Steißgeburten üblich ist, von der Brust weg nach 152
oben zum Kopf des Kindes gedrückt worden waren. Als ich den herausschlüpfenden Körper des Kindes anhob, sah ich, daß der Mutterkuchen sich losgelöst hatte und dem Kind um die Hüften saß – ein Phänomen, das selbst sehr erfahrene Geburtshelfer kaum je gesehen haben werden. Ich entwickelte mit je einer Bewegung des Handgelenks erst den einen, dann den anderen Arm. Der Kopf tritt herunter, liegt aber fest. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Für einen Dammschnitt ist keine Zeit mehr, an einem Dammriß der Mutter soll jedenfalls das Leben des Kindes nicht mehr scheitern. Ich lasse das Kind, neben der Patientin stehend, auf meinem Unterarm reiten und suche innen seinen Mund. Mit der rechten Hand außen, auf dem Leib der Mutter, schiebe ich sorgfältig den Darm unter der Bauchdecke beiseite und drücke den Kopf des Kindes nach außen. Der Finger im Mund des Kindes zieht leise, aber stetig. Nur langsam … keine Hast … keine Gewalt. Getreu dem Vorbild, das die Natur uns bietet, lasse ich den Kopf des Kindes rotieren und – halte es, samt Nachgeburt, in den Händen. Ich reiche es dem Assistenten hinüber. »Sehen Sie nach, ob die Plazenta komplett ist, und machen Sie künstliche Atmung!« Ich mußte mich sofort wieder der Mutter zuwenden. Die Narkose ist beendet, aber die Patientin noch nicht erwacht. Wie nicht weiter verwunderlich, hat wieder eine Blutung eingesetzt. Ich versuche, sie durch innere und äußere Massage zum Stehen zu bringen. Aber der Uterus liegt schlaff in meiner Hand. Die Zusammenziehung seiner Muskulatur, die allein weiteres Bluten der Stelle verhindern kann, an der die Plazenta gesessen hat, setzt nicht ein. »Ist die Plazenta intakt?« frage ich den Assistenten, der sich um das Kind bemüht. »Völlig intakt«, antwortet er mir. Reste des Mutterkuchens sind also nicht zurückgeblieben. Es kommt jetzt darauf an, die Gebärmutter so schnell wie möglich zur Kontraktion zu bringen, womit jede Blutung unterbunden ist. Meine Untersuchung schließt zwar Verletzungen an der Gebärmutter nicht aus, läßt 153
aber auch keine erkennen. Daher gebe ich die Massage auf und beschließe, schweres Geschütz auffahren zu lassen. »Spritze!« rufe ich der Operationsschwester zu, und sie saugt aus einer Ampulle das Hypophysenhinterlappenhormon auf. Ich schiebe die Hand weit in die Gebärmutterhöhle, das Organ nach oben drückend, bis ich mit den Fingerspitzen den Widerstand der Bauchdecken fühle. Der Assistent streicht außen am Leib die Stelle mit Jod an, unter der meine Finger innen an die Bauchdecke stoßen. Dann treibe ich die lange Kanüle an der Spitze durch die Bauchmuskulatur hindurch in den Gebärmuttermuskel, fühle mit den Fingerspitzen das Eindringen der Nadel in die Muskelwand und drücke den Kolben herunter. Der Erfolg dieser Manipulation, die nicht ganz einfach ist und exakt ausgeführt werden muß, erinnert an Zauberei. Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß mich das Ereignis immer wieder aufs neue erstaunt und – beglückt. Der Inhalt der Spritze, ein einziger Kubikzentimeter, nicht ein Fingerhut voll, ist kaum in den Muskel eingedrungen, da springt das vorher erschöpfte und energielose Organ an wie unter einem Peitschenhieb. Meine Hand im Uterus wird wie von einer Riesenfaust umklammert. Ich ziehe sie mit einiger Anstrengung zurück, und in diesem Augenblick höre ich, wie das Kind unter den Händen des Assistenten zu husten und gleich darauf zu schreien beginnt. Manchmal ist es erfreulich, ein Mensch und ein Arzt zu sein.
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›Sie hat noch 18 Monate zu leben‹ Episode aus dem Leben eines Vielbeschäftigten
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er berühmte Chirurg hält Kolleg in Berlin. Die Bänke sind, wie immer, bis oben hin gefüllt, und unten vor dem ›Chef‹ stehen drei Kandidaten, die sich sichtlich unbehaglich fühlen. Der Chef hat eben ein Operationspräparat vorgezeigt, das von einer exotischen Patientin stammt, nämlich der Tochter des Hausmeisters des afghanischen Konsulats. »Was ist das für ein Präparat?« fragte er einen Praktikanten, der sofort antwortete: »Ein weicher Kropf.« Der Vortragende fuhr fort: »Wenn wir diese Struma aufschneiden« – er tut es –, »so sehen wir mehrere Hohlräume, die mit bräunlicher Flüssigkeit erfüllt sind. Wenn eine Vergrößerung eines Kropfes in sehr kurzer Zeit auftritt, dann liegt der Verdacht nahe, daß es sich« – er blickt auf einen anderen Praktikanten – »um was handelt?« Praktikant: »Um eine Blutung.« Geheimrat: »jawohl, es liegt der Verdacht nahe, daß es sich um eine Blutung handelt. So eine Blutung kann aus mannigfachen Anlässen auftreten. Wenn Sie zum Beispiel mit einem Menschen boxen und ihm auf den Kropf hauen, so kann ein Gefäß platzen und eine Blutung in der Struma eintreten. Ich habe in München, wo die Leute ja mehr Neigung zu manuellen Auseinandersetzungen haben, häufiger solche Blutungen gesehen. Wenn der Sepp dem Loisl zum Beispiel eine 'reinhaut und ihn dann beim Kragen faßt und ein wenig schüttelt, und er hat bei der Gelegenheit das Gewebe etwas gequetscht, so kann es zu einer intrastrurnalen Blutung kommen, die zu einer plötzlichen Vergrößerung der kropfigen Schilddrüse führen kann. Akute Atemnot, ja so155
gar direkte Lebensgefahr können dann die vom Täter absolut unerwünschte Folge sein …« Der Chef erging sich nun breit in weiteren Schilderungen der verschiedenen Geschehnisse, die zu inneren Kropfblutungen führen können. Es war eines seiner Lieblingsthemen. Die Leidenschaft für den Kropf hat er von seinem Lehrer Mikulicz geerbt, der sich als einer der ersten mit der Kropf-Chirurgie beschäftigt hatte. Die Praktikanten fühlten sich erleichtert, die akute Gefahr war wenigstens für einige Zeit vorbei. Die Studenten auf den Rängen hörten zu und einige machten sich sogar Notizen. »Heute ist er aber ausgesprochen benigne«, flüsterte einer der Studenten einem Freunde zu und meinte damit, daß der Chef heute gutartig sei. Der Freund zischelte zurück: »Wart's ab, es kann im Handumdrehen Bösartigkeit eintreten …« Der Professor war in seinem Vortrag fortgefahren und bei einer besonders interessanten Stelle angelangt: »Und dann wissen wir noch, daß bei einem bestimmten Menschentypus, Frauen und Männern, die eine gesteigerte Reflexbereitschaft der Gefäße besitzen, es zu solchen Blutungen kommen kann. Wenn ich nicht ein anderes Programm hätte, dann würde ich Ihnen jetzt einen Vortrag über dieses schon zum Mystizismus gehörende Gebiet halten. Es können bei diesem Typus nicht nur innere Blutungen auftreten, sondern sogar Blutungen aus den Handflächen, die wie Wundmale aussehen. Das sind nicht etwa Märchen, sondern tatsächliche Vorkommnisse, die wir uns allerdings etwas anders erklären, als es in der Laienwelt geschieht, wenn wir auch nicht so anmaßend sind, diese Dinge nur vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus erklären zu wollen. Ich habe bei meinem Lehrer Hoffmann im Jahre 1899 eine solche Stigmatisierte, bei der die Blutungen in den Handflächen auftraten, gesehen. Daß auf diesem Gebiet sehr viel Schwindel betrieben wurde und wird, das wissen Sie. Aber ableugnen können wir diese Erscheinungen nicht so ohne weiteres. Unter dem Einfluß eines psychischen Reflexes werden die Gefäße durchgängig, und es tritt dann als unmittelbare Folgeerscheinung eine sichtbare Blutung per diapedesin ein.« 156
Damit hatte der Arzt dieses Thema beendet. Er wandte sich zum Vorlesungsassistenten und sagte: »Was haben wir jetzt?« Der antwortete: »Die Patientin Amalie B. von Station I soll vorgestellt werden. Ein Basedow«, fügte er noch leise zur Instruktion hinzu. Der Professor winkte ab: »Nein«, sagte er, »wir wollen nicht schon wieder die Schilddrüse besprechen. Ich möchte Frau N. vorstellen. Sie ist doch hoffentlich zur Vorstellung bereit …« Die Studenten im Hörsaal blickten gespannt auf den Assistenten, der das Material für die Kollegs des ›Chefs‹ zusammenstellen mußte. Der berühmte Lehrer änderte oft das Programm der Vorlesung, und wehe dem Vorlesungsassistenten, wenn er nicht einen sechsten Sinn für die möglichen Wünsche des Geheimrats hatte. Es gab ein furchtbares Donnerwetter, wenn der gewünschte Patient oder das gewünschte Präparat nicht binnen Sekunden in den Hörsaal geschafft werden konnte. Aber der Vorlesungsassistent schien ungerührt, er besaß jenen sechsten Sinn für die plötzlich auftauchenden Vorlesungswünsche seines Chefs in hohem Maße. »Jawohl, Herr Professor«, sagte er, »die Patientin kann sofort hereingefahren werden.« Der Arzt begann daraufhin weiterzusprechen: »Ich werde Ihnen jetzt eine Patientin zeigen, deren Befund für Sie von großer Wichtigkeit ist. Sie war gestern abend um zehn Uhr mit heftigen Schmerzen im Unterbauch erkrankt und ist nach Mitternacht bei uns eingewiesen worden. Der herbeigerufene Arzt hatte die Diagnose ›Ileus‹, also Darmverschluß, gestellt …« Die Türen des Hörsaales öffneten sich, und hereingefahren wurde auf einer Bahre eine Frau in den Dreißigerjahren, deren Gesicht so bleich war wie die Kissen, auf denen es lag. Die dunklen Haare ließen dieses Weiß noch stärker hervortreten. Die übergroßen Augen der Frau, die ihrem Gesicht einen jenseitigen Ausdruck verliehen, schlossen sich, als sie das Auditorium gewahrten. Als die Bahre im Raum stand, trat der Geheimrat heran, begrüßte die Kranke und fuhr in seiner Rede fort: »Der Leib der Patientin aber wurde stündlich größer und größer, und 157
die Patientin wurde immer blasser. Wenn Sie hören« – er wandte sich an einen Praktikanten –, »wenn Sie hören, daß eine bisher ganz gesunde Frau einen ganz plötzlichen starken Schmerz im Leib bekommt und totenblaß wird, so werden Sie sich an das erinnern, was ich Ihnen in diesem Semester schon oft gesagt habe. Was ist das?« Der Praktikant, leicht erschrocken, antwortete: »Es ist eine Perforation.« »Falsch! Man sieht ja, Ihr Gedächtnis ist ein Sieb. Von was ist dieser Schmerz immer das Zeichen?« Er blickte erwartungsvoll sekundenlang auf den Praktikanten. Der schweigt betreten. »Das ist der Weisheit letzter Schluß«, sagte der Geheimrat abfällig, und als der arme Scholar weiterhin schweigt: »Nun – es ist natürlich das Zeichen einer Katastrophe.« Der Praktikant nickte eifrig, und der Lehrer fuhr fort: »Aha, seht Ihr, jetzt fällt es ihm ein, und diese Katastrophe kann sein: eine Perforation des Magens, eine durchgebrochene Appendix, eine Stieldrehung des Eierstocks, oder es kann sein ein Darmverschluß. Aber es genügt nicht zu sagen, eine Perforation, man muß immer hinzufügen, daß es sich um ein katastrophales Ereignis handelt. Zu den vielen Möglichkeiten, die bei dieser Krankengeschichte zu berücksichtigen sind, gehört vor allem auch die Extrauterin-Gravidität, die Bauchhöhlenschwangerschaft. Sie ist natürlich bei dieser Patientin hier besonders wahrscheinlich, weil sie offensichtlich innerlich ziemlich viel Blut verloren hat. Nun darf das aber keineswegs dazu führen, daß bei jedem plötzlichen Schmerz im Unterbauch, wobei der Patient blaß wird, eine Extrauterin-Gravidität angenommen werden darf, namentlich, wenn es sich um Männer handelt. Sie sehen, die Patientin hat ein blasses Gesicht, aber sie hat schon wieder rote Lippen. Wir haben also sofort operiert, nachdem wir die Diagnose gestellt hatten, und Sie sehen hier das Präparat. Es waren ungefähr 300 bis 400 Kubikzentimeter Blut im Bauch. Das ist nicht besonders viel, zumal wir wissen, daß eine Frau sehr große Blutverluste aushält. Es gibt Frauen, die bis zu zwei Liter Blut verloren haben und noch über den Berg gekommen sind, zu einer Zeit, zu der es noch keine Bluttransfusion ge158
geben hat. Vielleicht schenken wir dieses schöne Präparat der Frauenklinik, um festzustellen, wie lange es her ist. Sie dürfte etwa sechs Wochen alt sein, diese Bauchhöhlenschwangerschaft. Aber vielleicht tun wir es lieber doch nicht, sonst sind die Assistenten drüben traurig, daß die Operation bei uns ausgeführt worden ist. Aber wenn eine Patientin mit der Diagnose Darmverschluß eingewiesen wird, und es stellt sich eine geplatzte Bauchhöhlenschwangerschaft heraus, so können wir die Frau nicht erst noch hinübertransportieren, das wäre übertriebene Zuvorkommenheit. Da machen wir es schon am schnellsten und sichersten selbst …« Der Chirurg beugte sich zur Patientin herunter, ergriff ihre Hand, die kraftlos auf der Decke lag, und sagte: »Danke schön, Frau N. nun sind Sie schon wieder erlöst. So schlimm war's doch gar nicht, nicht wahr?« Die Patientin lächelte ihn an und wurde hinausgefahren. Der Professor wandte sich wieder zu seinen Hörern und sagte: »Wir haben heutzutage nur sehr selten Gelegenheit, gynäkologische Eingriffe durchzuführen, und es ist im allgemeinen auch angebracht, wenn man sie den Fachärzten überläßt. Die haben da mehr Erfahrung, aber wenn Not am Mann ist, müssen wir da auch Bescheid wissen. Und besonders im Zusammenhang mit der Schwangerschaft ist die Frau plötzlich eintretenden Gefahren ausgesetzt, denen wir zu begegnen immer bereit sein müssen. Ein Arzt, und ein Chirurg vor allem, muß immer in Bereitschaft sein.« Nach dieser Vorlesung saß der Professor in seinem Arbeitszimmer in der Klinik. Neben dem Schreibtisch saß auf einem Stuhl die Sekretärin und legte ihm die Post vor. Das Telefon schrillte, und er griff nach dem Hörer: »Ja, was gibt's?« sagte er in die Muschel. Dann, nach einem Augenblick des Hinhörens, nannte er, zur Sekretärin gewandt, den Namen eines bekannten Frauenarztes, des Leiters einer großen Frauenklinik in einer Provinzstadt, und fragte: »Was will denn der von uns?« Die Sekretärin beantwortete diese rhetorische Frage nicht. Der Pro159
fessor sprach in den Hörer: »Ja, ich bin da«, sagte er, und dann, sehr liebenswürdig: »Ah, guten Tag, Herr Kollege …« Er hörte eine Weile zu. Sein Gesichtsausdruck wurde gespannt, dann sprach er wieder: »Aber, mein lieber Freund, ich sehe nicht recht ein, was ich Ihnen da helfen soll. Ich bin doch schließlich kein Frauenarzt …« Wieder hörte er zu, deckte dann kurz die Muschel zu und sagte, während der andere weitersprach, schnell zur Sekretärin: »Ich muß hinfahren, es scheint ernst zu sein. Schnell Zugverbindungen feststellen – oder ist es vielleicht besser mit dem Wagen? ja, bestellen Sie den Wagen …« Die Sekretärin flüsterte zurück: »Wen wollen Sie mitnehmen?« Der Arzt machte eine abwehrende Geste mit der Hand, und die Sekretärin verließ das Zimmer. Der Professor führte das Gespräch zu Ende. »Na gut, Herr Kollege«, schloß er, »ich komme so schnell wie möglich zu Ihnen – auf Wiedersehen.« Gegen Abend war der Chirurg in der Frauenklinik eingetroffen. Er hatte einen verzweifelten Mann, den Leiter der Klinik, vorgefunden. Die Klinikangestellten, Ärzte und Schwestern, liefen mit Leichenbittermienen herum. »Es handelt sich um meine Frau, Herr Professor«, begann der Klinikleiter seinen Bericht, als er dem Chirurgen gegenübersaß. »Wir – sie erwartet ein Baby. Es ist der vierte Monat. Seit etwa sechs Wochen leidet sie an unerträglichen Schmerzen im Leib und im Rücken. Wir hielten das für Schwangerschaftsbeschwerden, und als Arztfrau benahm sich meine Frau tapfer. Die Schmerzen wurden so stark, daß wir öfters Morphium geben mußten …« Er sah ängstlich auf den anderen, als er dies gesagt hatte, aber der verzog keine Miene und blieb stumm. Der Frauenarzt klopfte nervös und unrhythmisch mit dem Finger der rechten Hand auf die Tischplatte und sprach, seine Erregung mühsam beherrschend, weiter: 160
»Bei einer Untersuchung fand Herr Dr. T. hier« – er machte eine Geste zum anwesenden Assistenzarzt hin – »einen Tumor im Leib, in der Nabelgegend, der Pulsation zeigte …« Er stockte. Der Professor hatte aufgesehen. Seine Augen hinter den scharfen Gläsern blicken gespannt auf den Sprechenden. »Und wofür halten Sie diese Geschwulst?« fragte er gespannt. »Wir können es uns nicht erklären«, antwortete der andere betreten und zögernd. »Haben Sie einen Wassermann gemacht?« fragte der Professor, und als er die hölzernen Gesichter der beiden Männer ihm gegenüber sah, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie, Herr Kollege, es ist mir auch sehr peinlich – aber ich bin hier, um Ihnen zu helfen, und da muß ich auch das fragen.« »Der Wassermann ist negativ«, antwortete jetzt der Arzt, »es ist nicht diese Frage, Herr Professor, die mich befremdet, oder sagen wir lieber, mich furchtsam macht. Es sind die Aussichten, die hinter Ihrer Frage stehen … sehen Sie«, fügte er leise hinzu, »wir warten seit zehn Jahren auf ein Kind …« Der Chirurg sah ihn mitleidig an. Dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Ich möchte mir jetzt die Patientin ansehen.« Die Herren verließen den Raum. Der Chirurg tastete den Leib der Frau ab und legte das Hörrohr auf verschiedene Stellen des Leibes. »Systolisches Geräusch über dem Tumor«, sagte er und beendete die Untersuchung. Er verabschiedete sich von der Patientin und lächelte ihr ermunternd zu. »Nicht so schlimm, wie es aussieht, meine Gnädigste, damit werden wir schon fertig.« »Und das Kind«, fragte sie ängstlich, »werde ich es behalten dürfen?« Der Arzt nickte ihr zu, sagte aber nichts weiter. Er ging, die beiden anderen Ärzte im Schlepptau. Zu der verweinten Schwester, die mit ihnen das Krankenzimmer verlassen hatte, sagte er auf dem Flur leise, aber barsch: »Lassen Sie das Geflenne – wir sind hier nicht in einem rührseligen Theaterstück!« und dann, zu den Ärzten gewandt: »Entschuldigen Sie …« 161
Der Klinikleiter unterbrach ihn: »Was ist es, Herr Professor?« »Ich nehme an, Herr Kollege, daß Sie sich schon Ihre Gedanken gemacht haben, und ich muß Ihre Befürchtungen teilen. Es handelt sich zwar nicht um einen Krebs, aber um ein Aortenaneurysma der Bauchaorta.« »Das ist ein Todesurteil.« Stöhnend sagte es der Arzt und schlug die Hände vor das Gesicht. Gebrochen lehnte er sich an die Wand. Der Chirurg legte ihm den Arm um die Schulter. »Kommen Sie«, sagte er, »wir wollen es besprechen.« Von ihm und dem anderen Arzt unterstützt, wankte der Mann kraftlos den Flur entlang. Die Schwester sah den Männern mit weit aufgerissenen Augen nach. Sie stand wie erstarrt. Die drei Ärzte hatten sich zur Beratung zusammengesetzt. Der Klinikleiter war jetzt gefaßt, er hatte die Krise, wenigstens äußerlich, überwunden. Mit gepreßter, aber ruhiger Stimme fragte er: »Welches sind die Aussichten Herr Professor?« »Nach unseren Erfahrungen«, dozierte der Chirurg, »besteht in diesen Fällen eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa einem bis anderthalb Jahren. Solange das Aneurysma symptomlos ist, also keine Schmerzen auftreten, besteht auch keine akute Lebensgefahr. Der Schmerz aber ist hier ein Gefahrensignal allererster Ordnung. Inwieweit die vorliegende Schwangerschaft die Verhältnisse kompliziert, vermag ich nicht zu beurteilen. Meines Wissens existieren keinerlei Erfahrungen darüber …« »Was ist zu tun. Herr Professor – wenn überhaupt noch etwas zu tun ist?« unterbrach der andere. »Wie Sie wissen«, fuhr der Chirurg ungestört fort, »sind die Aneurysmen der Bauchaorta spindelförmig, sie bilden keinen Sack wie die Aneurysmen der Brustaorta. Da bei der Patientin weder eine Syphilis noch die Arteriosklerose vorliegt, muß man an einen traumatischen Ursprung denken. Hat Ihre Frau in letzter Zeit einen Unfall gehabt?« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte«, sagte er nachdenklich. 162
»Vor einem halben Jahr – der kleine Zusammenstoß«, gab der Assistenzarzt zu bedenken. »Ach ja«, sagte der Klinikleiter, »richtig – da war etwas. Meine Frau fuhr ihren Wagen und rammte einen unbeleuchtet parkenden Laster. Allerdings bei sehr kleiner Geschwindigkeit. Sie wurde ins Steuerrad geworfen und hatte einen kleinen Bluterguß. Wir beachteten die Sache nicht weiter … meinen Sie wirklich, daß es das war?« Der Chirurg antwortete nicht. Er saß minutenlang stumm da. »Verkochen«, sagte er dann plötzlich, versonnen in eine Ecke des Zimmers starrend, »ja, verkochen, das ist das einzig Richtige.« Die beiden anderen Herren sahen ihn aus weit aufgerissenen Augen an, als rede er irre. »Wir brauchen sehr dünnen Silberdraht, mit Seide isoliert, etwa zwanzig Meter, und Gleichstrom. Lassen Sie die genauen elektrischen Daten des Drahts feststellen …« Er ließ den Schluß des Satzes in der Luft hängen und sah auf seine Gesprächspartner. Die sahen ihn immer noch völlig verständnislos an. Der Chirurg sprach weiter: »Ich werde den Draht besser selbst besorgen. Wir brauchen auch einen Gleichrichter …« Er unterbrach sich und fragte:»Was für eine Spannung ist hier im Netz?« »Wir haben 220 Volt Wechselstrom«, antwortete der ältere der beiden, »und auch dreiphasigen Drehstrom …« »220 Volt, das genügt«, sagte der Chirurg. »Aber, um Gottes willen, Herr Professor«, fragte entsetzt der Klinikvorstand, »was wollen Sie mit der elektrischen Ausrüstung? Wir haben es, so lautet Ihre eigene Diagnose, mit einem. Aneurysma der Bauchaorta zu tun – da ist doch mit Elektrizität nichts zu machen.« »Doch«, antwortete der Chirurg, »da ist nur mit Elektrizität etwas zu machen, wenn Sie es so ausdrücken wollen.« Und dann begann er den beiden zu erklären …
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Im Zimmer der Oberschwester wurden an diesem Abend die neuesten ›innerpolitischen‹ Ereignisse der Klinik eingehend diskutiert. »Sie hat ein Aortenaneurysma«, sagte die Pflegerin der Frau des Klinikleiters, Schwester Erna. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Augen leuchteten hektisch. »Ein Aortenaneurysma – mein Gott, was ist denn das nun wieder« fragte eine Hebammenschwester. Die Oberschwester ließ sich vernehmen. »Das kommt einwandfrei von der Syphilis«, sagte sie autoritativ, »ich habe so was zu meiner Zeit wirklich oft genug gesehen.« Schwester Erna widersprach entrüstet: »Das ist nicht wahr. Der Wassermann ist negativ, und außerdem soll er gesagt haben, es kommt von einem Unfall. Sie hat damals doch den Autounfall gehabt …« »Frauen sollen eben nicht Auto fahren«, warf die Oberschwester ein, und die Hebamme: »Ich weiß noch immer nicht, was ein Aortenaneurysma ist!« »Das ist so was wie ein Aderbruch«, ließ sich eine junge Lehrschwester vernehmen, die zugleich eine Nichte der Oberin war, »wir haben das ganz genau gelernt. Es ist die – lokalisierte Erweiterung einer Arterie –«, die Kleine sagte das ganz vorsichtig und gleichsam buchstabierend, »und irgendwie geht da die Innenwand einer Arterie kaputt, und dann dehnt das pulsende Blut die Außenwand zu einem Sack aus. Bei der Aorta, der Hauptschlagader, sind diese Adernbrüche sehr gefährlich, sie können jeden Augenblick platzen, und dann verblutet man …« »Was diese Gänse alles wissen«, sagte die Hebamme bewundernd. Und dann fügte sie heimtückisch hinzu: »Da wird er wohl bald wieder heiraten müssen.« Die Frauen beschimpften sie wütend und nannten sie eine herzlose Person. Sie aber lachte nur gemütlich und rief: »Laßt man, Kinder, wenn man so seine achtundvierzig Jahre auf dem Buckel hat …« »Zweiundfünfzig«, korrigierte jemand. »… also schön, einundfünfzig«, verbesserte sich die Sprecherin gut gelaunt, »… dann kennt man seine Pappenheimer – besonders in meinem Beruf!« »Wißt ihr übrigens«, wechselte Schwester Erna das Thema, »daß 164
der Professor aus Berlin am Montag wiederkommt. Er will sie operieren …« Und damit hatte das Gespräch ein Flußbett gefunden. – Der Chirurg öffnete den Leib der Patientin. Ohne die geringste Eile oder gar Hast. Dennoch ging es unglaublich schnell. In Minuten hatte er die Hauptschlagader des Bauches in ihrer ganzen Ausdehnung, von den Nieren bis zu ihrer Gabelung, freigelegt. »Hier haben wir es«, sagte er zu dem Mann der Patientin hin, der die Narkose machte und ständig den Kopf vom Operationsfeld abgewandt hielt, »fünf Zentimeter unterhalb der Nierenarterien bis hinunter zur Bifurkation ein spindelförmiges Aneurysma, größter Durchmesser acht Zentimeter …« Der Chirurg tastete die Wände des Sackes ab, der die Form einer langen Garnspindel hatte, und sagte dann: »Die Wand an der größten Ausdehnung ist dünn … reichlich Blutpfröpfe tastbar …« Er richtete sich auf und zog die Gummihandschuhe aus. »Alkohol«, sagte er zu der Operationsschwester und tauchte die Hände mit einer ärgerlichen Gebärde in die hingehaltene Schüssel. Gummihandschuhe störten ihn immer bei schwierigen Operationen. Seine Hände verlangten einen innigen Kontakt mit dem Krankheitsherd, sollten sie jede kleinste Einzelheit spüren. Er schlenkerte die Hände ab, bis sie trocken waren, und tastete und spähte weiter. Dann sagte er – und seine Worte wurden von einer Hilfskraft als Operationsprotokoll festgehalten – : »Die Wände sind nicht entzündet. Ich schreite zum endo-arteriellen Verschluß des Aneurysmas mittels elektrothermischer Koagulation …« Der letzte Satz war für das Operationsprotokoll bestimmt. Sich aufrichtend, erläuterte der Chirurg: »Ich werde jetzt die lichte Weite des Adersacks durch Verkochung stark einengen. Danach wird zunächst immer noch ein Teil des arteriellen Blutes zum Versorgungsgebiet der Aorta gelangen, und erst im Lauf der Zeit wird die Bauchaorta von den Nieren abwärts sich völlig schließen. Bis dahin aber hat sich ein Kollateralkreislauf gebildet, das heißt, andere Arterien werden sich erweitert haben und genügend arterielles Blut in die Körperteile befördern, die bisher von der Haupt165
schlagader selbst versorgt wurden …« Er schwieg einen Augenblick, um dann leise zu sagen – und es klang in unseren lauschenden Ohren fast wie ein Gebet – : »Wenigstens hoffen wir das. Ein plötzlicher Verschluß der Hauptschlagader wäre katastrophal …« Während er sprach, waren auf einem fahrbaren Gestell die elektrischen Apparaturen an den Operationstisch herangefahren worden. Ein Wärter in weißem Kittel und mit Gummihandschuhen an den Händen hielt vorsichtig ein Gummikabel vor sich hin, wie ein Priester dem Gestell voranschreitend. Ein anderer, ebenso angetan, hielt auf einem kleinen Tisch Metallspulen bereit, auf denen ein sehr dünner, mit Seide besponnener Silberdraht lag. Ein Satz dicker Hohlnadeln lag daneben. Der Chirurg hatte sich ein breites Gummiband reichen lassen. Mit Hilfe des ersten Assistenzarztes der Klinik legte er es dicht oberhalb des Adernsacks unter die Aorta und zog es zusammen. »Fühlen Sie noch Pulsation?« fragte er die Schwester, die an einem Bein der Patientin den Puls tastete. »Kein Puls mehr«, antwortete diese. Der Chirurg lockerte das Gummiband und sagte dann: »Jetzt müssen Sie schwachen Puls fühlen.« Die Schwester bestätigte es. Der Narkotiseur meldete sich. »Es ist alles in Ordnung, Herr Professor«, flüsterte er erregt, »aber wird das Abschnüren der Aorta nicht die Blutversorgung des Fötus …« Der Chirurg unterbrach ihn barsch. »Mein lieber Herr«, sagte er, »Ihre Sorgen möchte ich haben … beschränken Sie sich, bitte, auf Ihre Narkose und den Kreislauf – alles andere wird sich finden …« Er hatte sich eine Hohlnadel reichen lassen und stieß sie jetzt in den oberen Pol des spindelförmigen Adernsackes ein. Dann ließ er sich den isolierten Silberdraht reichen, formte eine Schlinge, wie sie am Nadelöhr entsteht, wenn man zum Nähen einen Faden durch eine Nadel gezogen hat, und führte den doppelten, ununterbrochenen Draht durch die Hohlnadel in die tödliche Erweiterung des größten Blutgefäßes des Körpers ein. Langsam spulte sich der Metalldraht von den beiden Spu166
len ab. Je fünf Meter Draht befanden sich auf diesen. Zentimeter für Zentimeter verschwanden im mächtig erweiterten Innern des Blutgefäßes. Draht und Spulen waren vorher sorgfältig sterilisiert worden. Die Spulen waren leer. Zehn Meter Draht saßen jetzt da drinnen, ein wirres Knäuel bildend. Aus der äußeren Mündung der Hohlnadel ragten zwei Enden heraus. Der Operateur entfernte mit einem Messer von beiden die Isolierung. »Ich nehme jetzt die elektrothermische Verkochung vor«, sagte er. »Zweck dieser Manipulation ist es, die Bildung von Blutgerinnseln an der Aortenwand zu fördern und eine fortschreitende Umwandlung dieser Gerinnsel in Bindegewebe zu erzielen. Das Verfahren hat eine entfernte Ähnlichkeit mit dem sogenannten Veröden von Krampfadern, wenn es sich auch hier nicht um Venen, sondern um die Hauptarterie des Körpers, die Aorta, handelt. Das Ziel ist es also, den Körper dahin zu bringen, die Schlagader an der Stelle, an der sie wie ein überdehnter Gummiballon zu platzen droht, mit körpereigenem Gewebe zu verdicken. Freiwillig würde er es nie tun – wir müssen ihn dazu zwingen!« Der Operateur ließ sich das Kabel zureichen. Mit Klemmen schloß er beide Pole an die blanken Drahtenden, die aus der dünnen Aderwand noch herausragten. Dann nahm er einen Schalter in die Hand, der wie ein Morsezeichengeber aussah. »Lesen Sie genau am Amperemeter ab«, warnte er den Elektriker, der die Apparatur bediente, »und melden Sie mir sofort die Ablesung.« »Immer zu, Chef«, munterte ihn der Mann auf, »immer los – Sie können sich auf mich verlassen.« Er war anscheinend der einzige Mensch im Saal, der seiner Sache völlig sicher war. Der Chirurg ließ sich eine Stoppuhr reichen. Er stand, den Schalter in der rechten und die Uhr vor den Augen in der linken Hand. »Achtung, jetzt«, sagte er und drückte auf den Schalter. »Vierkommaacht … vierkommaeins … drei …« Das war die Stimme des Elektrikers, der monoton die Schwankungen seines Meßinstruments ansagte. Da drinnen glühte der Draht. Je heißer er wurde, um so größer wurde der Widerstand, und die Amperezahl sank entsprechend. Dort, wo 167
er frei im Lichten saß, kühlte ihn das immerzu strömende Blut. Aber an den Innenwänden, dort, wo das Blut im Aneurysma träge oder gar nicht floß, erhitzte er sich bis nahe an den Siedepunkt des Wassers. Dort entfaltete er seine Wirkung, die das Blut zum Gerinnen brachte. Niemand im Operationssaal sprach ein Wort. Die Menschen standen erstarrt und wagten kaum zu atmen. Niemand hatte eine Vorstellung von dem, was vor sich ging. Unheimlich bedrückend war das Geschehen, das niemand sehen, tasten, hören konnte. Die Anspannung war größer als bei einer Operation, bei der ein jeder voll beschäftigt ist, bei der es auf jede Sekunde ankommt. Es schien überhaupt nicht auf die Zeit anzukommen. Es schien überhaupt nichts zu geschehen. Ein Mann drückte auf einen Knopf und starrte auf eine Uhr, deren einziger Zeiger emsig über ein Zifferblatt huschte – nichts weiter rührte sich. Und dennoch wurde hier nicht nur über ein, nein, sogar über zwei Menschenleben entschieden. »Fertig«, ertönte die Stimme des Chirurgen, »zehn Sekunden …« Zehn Sekunden waren erst vergangen, seitdem der Strom von des Chirurgen Hand eingeschaltet worden war. »Sind wir fertig?« fragte hoffnungsvoll der Narkotiseur und fügte, eingedenk der früheren Rüge, eilig hinzu: »Puls und Atmung in Ordnung … keine Bedenken, Herr Professor.« »Wir machen dasselbe noch einmal am unteren Pol.« Der Operateur sagte es ungerührt. Und zur Schwester, die den Puls an den Beinen beobachtete: »Glotzen Sie nicht, melden Sie, was Sie bemerkt haben!«
* »Mein Gott«, sagte die Patientin, nachdem sie kaum aus ihrem Ätherrausch erwacht war, »mein Gott, ich habe gar keine Schmerzen mehr im Bauch und im Rücken!« »Na siehste, Mädchen«, sagte der Chirurg, »was habe ich dir gesagt. So was machen wir doch im Handumdrehen, du und ich.« 168
* »Meine Frau ist seit vierzehn Tagen auf, wie ich Ihnen bereits berichtet habe«, stand in dem Brief zu lesen, »und es geht ihr soweit gut. Bei längerem Gehen oder Stehen fühlt sie eine gewisse Schwäche in den Beinen. Der Puls und der Blutdruck in den Beinen ist kaum meßbar. Können wir noch etwas tun? Das Kind ist gottlob in Ordnung …«
* Telegramm: ›gesunder junge geboren stop mutter wohlauf stop sie sind pate stop‹
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ABC der ›Goldenen Hände‹ Adrenalin, Hormon des Marks der Nebenniere. Erregt den Sympathikus. Häufig bei akuter Gefahr des Herzversagens angewandt. akut, schnell auftretend, heftig verlaufend. Anämie, ›Blutarmut‹, verschiedene Formen von Erkrankungen des Bluts. Perniziöse Anämie = bösartige Blutarmut. Angina pectoris, ›Herzbräune‹, hervorgerufen durch Verkalkung oder Verengung der Koronararterien, die den Herzmuskel mit frischem Blut versorgen. Zeichen: starke Schmerzen in der Herzgegend und Todesangst im Anfall. Stenokardie = Angina pectoris. Appendektomie, Entfernung des Wurmfortsatzes, »Blinddarmoperation«. Arrhythmie, Unregelmäßigkeit der Herztätigkeit, falscher Rhythmus derselben. Atropin, Gift der Tollkirsche und anderer Nachtschattengewächse. Bei Operationen vielfach angewandt, um zum Beispiel die Ausscheidung von Auswurf aus den Bronchien zu hemmen. Autoklav, Dampftopf, Sterilisator, der mit Dampfdruck arbeitet, um Geräte keimfrei zu machen. benigne, gutartig. Gegensatz maligne, bösartig. Zum Beispiel: Krebs = maligne Geschwulst. Bifurkation, Gabelung, zum Beispiel der Luftröhre oder der Hauptschlagader. Bronchopneumonie, Form der Lungenentzündung, die sich in den Bronchien abspielt. Brustganglien, Anhäufung von Nervenzellen in der Brust, seitlich der Wirbelsäule. Catgut, chirurgisches Nähmaterial aus Darmsaiten. 170
Chloräthyl, Mittel, das zu Rauschnarkosen und – nur noch sehr wenig – zur ›Vereisung‹ verwendet wird. Corpus alienum, Fremdkörper. Elektrokardiogramm, EKG, Aufzeichnung der Aktionsströme, die vorn bewegten Herzen bzw. den nervösen Reizen ausgehen, die den Herzmuskel zur Arbeit anregen. Das EKG dient der Diagnose der Herzkrankheiten. eunuchold, von Eunuch = Kastrierter, unvollkommene Geschlechtsentwicklung und daher körperliche Zeichen, wie eigenartige Mißverhältnisse im Körperbau. Eupaverin, Mittel gegen Krampfzustände der Blutgefäße usw. und Koliken. Exitus, Ausgang, Tod (E. letalis). Extrasystole, außer der Reihe erfolgender Herzschlag, zuweilen gehäuft auftretend. Wird oft als ›Rumpeln‹ in der Brust gefühlt, ist aber vielfach: unbedenklich. Fötus, exakt: Fetus, die Leibesfrucht vom dritten Schwangerschaftsmonat an. »Fetal« = zum Fetus gehörend, vom Fetus ausgehend. Gastritis, Entzündung der Magenschleimhaut. Horner, Joh. Friedr. Schweizer Augenarzt. Beschrieb die Zeichen, die nach Durchschneidung des Sympathikus am Hals auftreten: Einsinken des Augapfels, Verengung der Lidspalte und Pupille, Schwitzen auf der kranken Seite oder – in schwereren Fällen – Unvermögen der Schweißabsonderung. Hyperacidität, vermehrte Absonderung von Salzsäure im Magen. Zeichen: »Sodbrennen«. Hypnotikum, Schlafmittel. Hypnos = Schlaf. Hypophyse, Hirnanhang, kirschgroße Drüse im Schädel. Gibt zahlreiche Hormone an das Blut ab, wie Wachstumsstoffe, Schrittmacherstoffe für Eierstöcke und Hoden, und viele andere. Sie ist die ›Meisterdrüse‹ des Körpers, die alle anderen Hormondrüsen maßgebend beeinflußt. Icoral, Kreislaufmittel. Ileus, Darmverschluß. 171
Immersionsöl, ein Öl, von dem ein Tropfen beim Mikroskopieren zwischen Objekt und ein Objektiv von bestimmtem Bau gebracht wird. Dadurch werden hohe Vergrößerungen möglich. Intoxikation, intratracheale, Einblasung von Luft und Narkosemitteln unmittelbar in die Luftröhre mittels eines Rohres, das eingelegt wird. Intoxikation, Vergiftung. Toxisch intrakardial, im Innern des Herzens, zum Beispiel: intrakardiale Injektion = Einspritzung direkt in eine Herzkammer. intrapieurat, innerhalb der Pleurahöhle. Unter Pleurahöhle versteht man den schmalen Spalt, der im Innern der Brustwand von Lungen und Rippenfell – beides sind Teile des Brustfells – gebildet wird. Intubation, Einführung eines Rohres vom Mund aus in den Kehlkopf, zum Beispiel bei Diphtherie und Operationen. Isthmus, Engpaß, verengte Stelle, natürliche Enge der Brustaorta. Kollaps, Versagen des Kreislaufs. Zeichen: Blässe, kalter Schweiß, verfallenes Aussehen, Fall der Körpertemperatur, weite Pupillen, unregelmäßiger, schwacher und beschleunigter Puls. Kollabieren einen Kollaps haben, plötzlich verfallen. Konsultation, Beratung; Konsiliarius, Kapazität, die vom behandelnden Arzt zur Beratung zugezogen wird; Konsilium, zwei oder mehrere Ärzte, die sich beraten. kontraktil, zusammenziehbar; etwas, das sich zusammenziehen kann. Koronarstenose, Verengung der Koronararterien, das sind die Arterien, die das Herz mit frischem Blut versorgen. Siehe Angina pectoris. Kranioklast, Zange zum Zerbrechen des kindlichen Kopfes, um die Geburt zu ermöglichen. Kryptoskop, Kryptograph, Apparat, der eine Röntgendurchleuchtung bzw. Röntgenaufnahme im unverdunkelten Raum gestattet. lege artis, kunstgerecht. leptosom, schmal-langwüchsig. Gegensatz: pyknisch = breit-kurzwüchsig. Nach der Typenlehre von Kretschmer. 172
Leukozythose, Vermehrung der weißen Blutkörperchen im Blut. Lobektomie, operative Entfernung eines Lungenlappens wegen Krebs, Tuberkulose usw. Lobelin, Mittel zur Anregung der Atemtätigkeit, zum Beispiel bei Neugeborenen. Luminal, Schlafmittel, in kleinen Dosen Tagesberuhigungsmittel. Lungeninfarkt, Bezirk der Lunge, der durch den Verschluß seiner Arterie (Embolie) abgestorben ist. Lungenödem, Eindringen von Blutwasser (Serum) aus kleinen Lungenadern (Kapillaren) in die Alveolen (die hohlen Lungenbläschen). Folge von Blutstauungen im Lungenblutkreislauf (Embolien usw.). Luxation, Verrenkung. Mandrin, Docke, Stab oder Draht in Hohlnadeln. manuell, mit der Hand. Myokard, die Herzmuskulatur. all admirart, nichts bewundern. Nitrite, Medikamente zur Behandlung der Angina pectoris, zum Beispiel Nitroglyzerin. Novokain, Mittel der örtlichen Betäubung. Künstlich hergestellt, da Kokain zu giftig ist. o.B. ohne Befund, d.h. der Arzt kann keine Krankheit an dem betreffenden Organ feststellen. Pankreas, Bauchspeicheldrüse, sondert Verdauungssäfte ab, die im Zwölffingerdarm wirken. Es liegt hinter dem Magen. Pantocain, Mittel zur örtlichen Betäubung. Papillarmuskeln, Muskelvorsprünge im Herzen, deren elastische Sehnenfäden zu den Herzklappen ziehen und sie schließen. paravertebral, neben der Wirbelsäule liegend. Pathologie, die Lehre von den Krankheiten, ihren Ursachen und den Veränderungen der Organe, die durch Krankheit bewirkt werden. Perikard, der Herzbeutel. Periost, Knochenhaut, die den Kochen. – z.B. die Rippen – umgibt. 173
Plazenta, Mutterkuchen, das Organ, aus dem die Leibesfrucht Nährstoffe und Sauerstoff von der Mutter erhält. Pneumolyse, Ablösung der Lunge von der inneren Brustwand, zum Beispiel durch Diathermie, mittels derer Verwachsungen zwischen Lungenfell und Brustfell weggebrannt werden. Pneumothorax, Einblasung von Luft in den Brustkorb. Dadurch fällt die betreffende Lungenhälfte zusammen und atmet nicht mehr oder nur in geringem Umfang. Prophylaktisch, vorbeugend. Pseudohermaphroditismus, Scheinzwittertum. Echte menschliche Zwitter, die Keimdrüsen beider Geschlechter haben, gibt es anscheinend nicht. Rechtshypertrophie, die Vergrößerung der Muskelpartien der rechten Herzkammer. Rektum-Spreizung, Spreizung des Afters zur Anregung der Atemtätigkeit und des Kreislaufs. Resektion, teilweise chirurgische Entfernung erkrankter Organe; Ausscheidung. S-E-E, Gemisch von Medikamenten, bei dem die Wirkung des Skopolamins durch zwei andere Medikamente verbessert wird. Bewirkt ›Dämmerschlaf‹, aber keine Narkose und wird neben örtlicher Betäubung bei Operationen verwendet septisch, infektiös, nicht keimfrei. Skalpell, chirurgisches Messer. Skopolamin, Mittel zur Erzeugung eines Dämmerschlafs, bei dem die Schmerzempfindung herabgesetzt ist. Spekulum, röhren- oder trichterförmiges Instrument, das in Körperhöhlen eingeführt werden kann und ihre Betrachtung erlaubt. Für Ohr, Nase, Darm usw. jeweils besonders geformt. Stenokardie, siehe Angina pectoris. Stenose, Enge, Verengung. Stethoskop, Hörrohr. Sulfonamide, Heilmittel gegen Infektionskrankheiten. Sympathikus, der Lebensnerv, ein Teil des vegetativen Nervensystems, 174
das zahlreiche Körperfunktionen versorgt, die nicht dem Willen unterliegen, zum Beispiel die Verdauung. Sympathische Kette, Teil des Sympathikusnervs, neben der Wirbelsäule verlaufend. Syndrom, mehrere Krankheitserscheinungen (Symptome), die zusammen den Charakter einer Krankheit bestimmen. Synkope, plötzlicher Herzstillstand, Tod durch Herzlähmung. Systole, systolisch, Zusammenziehung des Herzmuskels und damit verbundene Austreibung des Blutes in den Kreislauf. Am Handgelenk als Puls tastbar. Gegensatz: Diastole, Erweiterung des Herzens, Einströmen des Blutes aus dem Kreislauf ins Herz. Teratom, Wundergeschwulst, angeborene Geschwulst, in der Organteile enthalten sind, teilweise sind sie unentwickelt gebliebene Zwillinge. Thorakoskop, Apparat zur Untersuchung der Pleurahöhle (siehe ›intra pleural‹). Tomographie, Schichtaufnahmeverfahren beim Röntgen. Durch Schwenken des Röntgenapparates kommen Lungenschichten in bestimmter Tiefe zur Darstellung, während darüber und darunter Unschärfe herrscht. Trommelschlägelfinger, Verbreiterung der Fingerendglieder bei Geschwülsten und anderen Krankheitsprozessen in der Brust. Tumor, Geschwulst, Schwellung. Ventrikel, Herzkammer. W-A-R, Wassermannsche Reaktion auf Syphilisinfektion. Zyste, durch eine häutige Kapsel abgeschlossene sackartige Geschwulst mit dick- und dünnflüssigem Inhalt.
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