Karel Verleyen
Die Hexe von Bodmin Moor
Aus dem Flämischen von Monika Götze
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Karel Verleyen
Die Hexe von Bodmin Moor
Aus dem Flämischen von Monika Götze
cbt
cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House 1. Auflage Deutsche Erstausgabe Dezember 2005 © 2002 der Originalausgabe by Karel Verleyen und Davidsfonds Uitgeverij NV, Blijde-Inkomststraat 79-81, 3000 Leuven, Belgium.
Die belgische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Het vuur van de wraak« bei Davidsfonds Uitgeverij NV, Leuven. © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Monika Götze Lektorat: Eva Schweikart Umschlagillustration: AKG Berlin Umschlagkonzeption: init.büro für gestaltung, Bielefeld If • Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN-10: 3-570-30192-3 ISBN-13: 978-3-570-30192-0 Printed in Germany www.cbj-verlag.de
Ein packender Roman zum Thema Hexenverfolgung: Der junge Hirte Thomas muss mit ansehen, wie die geheimnisvolle Fremde, in die er sich verliebt hat, der Hexerei angeklagt und grausam verfolgt wird. Der eifrigste Hexenjäger ist dabei der Dorfpfarrer Dowe, der sich von ihrer Schönheit sexuell angezogen fühlt und dabei schmerzlich an seine Frau Irene erinnert wird, die ihn vor vielen Jahren wegen eines Seemannes hat sitzen lassen. Die Stimmung im Dorf heizt sich bedrohlich auf und erst als sich die sehr angesehene Kräuterfrau den Inquisitoren selbstbewusst entgegenstellt, wendet sich das Blatt. Karel Verleyen wurde 1938 geboren und hat die verschiedensten Berufe ausgeübt. Als Konstanten bleiben seine Tätigkeiten als Lehrer, als Journalist und das Schreiben für Jugendliche, dem er sich seit 1996 ausschließlich widmet. Zahlreiche seiner Bücher wurden übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet.
1. DIE HEULER
Der Wind, so schien es, kroch wie ein verspielter junger Hund dicht am Boden entlang, um bei jedem Hindernis aufzuspringen und weiterzutollen. Sechs Krähen flatterten vom grauen Himmel herab, flogen eine weit ausladende Kurve und ließen sich auf drei riesigen Steinen nieder. Zwei der Steine standen aufrecht, der dritte lag halb auf ihnen, wie ein Dach. Auf diese Weise bildeten sie eine Art Höhle, einen Unterschlupf vor Kälte und Regen. Dennoch hatte hier noch nie ein Mensch oder Tier Zuflucht gesucht, denn wenn der Wind über Bodmin Moor fegte und zwischen den Steinen hindurchblies, erklang ein schrilles Heulen. Wie die Wehklage zweier Seelen in Not, sagten die Einwohner von Saint Breward, dem Dorf, das kaum drei Meilen entfernt an einem Hügel lag. Und obwohl jeder die traurige Geschichte von Mary Finnemore kannte, wurde sie immer wieder, Abend für Abend, wenn das Torffeuer im Kamin prasselte, erzählt. Wie lange war das alles nun schon her? Ja, es geschah kurz bevor ein Schaf von John Becket ein Lamm mit fünf Beinen bekam. Das bringe Unglück, hieß es, genau wie der Komet, der damals am Firmament erschien. Fünfzehn oder sechzehn Jahre war es her, ja. Mary Finnemore war ein bildschönes Mädchen. Das fanden alle, vor allem aber ihr Freund Michael Kelly. Sie wollten heiraten und der junge Kelly hatte bereits mit dem Bau eines kleinen Steinhäuschens unten am Fluss begonnen. Mary half ihrer Mutter im Haushalt, konnte sehr gut spinnen und weben und vom Kochen verstand sie auch nicht gerade wenig. Auf den Dorffesten war sie immer fröhlich und beim Tanzen
schwang sie ihre Röcke übermütig in die Luft. Vielleicht war es beim Erntedankfest gewesen, dass sie Junker Stephen, dem Sohn Lord Galsworthys, aufgefallen war. Der Lord hatte in der Nähe von Wenfordbridge ein Jagdhaus bauen lassen und sein Sohn Stephen verbrachte dort einen großen Teil des Jahres. Junker Stephen war bald ganz und gar im Bann des schönen rothaarigen Mädchens mit den grünen Augen. Und reiche Herren bekommen meistens, was sie wollen. Sie haben da so ihre Mittel. Zuerst war Mary ganz aufgeregt, weil ihr der Junker Beachtung schenkte. Als dann der Hausknecht von Mylord zu ihrer Mutter kam und fragte, ob Mary im Haus »dienen« wolle, war sie sehr zufrieden. Aber sehr bald wurde Mary klar, welche Art von Diensten Junker Stephen eigentlich meinte. Er nannte sie »Täubchen«, schenkte ihr schöne Bänder und einmal sogar eine Silberspange. Mary bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln, funkelte mit ihren grünen Augen und hatte Spaß an diesem Spiel. Bis eines Abends… Wenn die alten Einwohner Saint Brewards bei diesem Teil der Geschichte angelangt waren, senkten sie die Stimme zu einem warnenden Flüstern. Die Mädchen blickten dann zu Boden und schlugen ein Kreuz. Bis eines Abends…
Mary war mit ihrer Arbeit bei Mylord fertig und wollte, wie jeden Abend, nach Hause gehen. Als sie feststellte, dass die große Tür des Hauses verschlossen war und alle anderen Angestellten wie vom Erdboden verschwunden schienen, schöpfte sie noch keinerlei Verdacht. Aber als auch das Gartentor nicht aufging, bekam sie Angst. Sie rief und rüttelte an der Tür, da erschien Junker Stephen.
Ungefähr eine Stunde später sahen die Nachbarn Mary Finnemore ins Dorf rennen. Mit zerrissenen Kleidern, einem blauen zugeschwollenen Auge, voller Schürfwunden. Alle begriffen sofort, was geschehen war. Innerhalb der eigenen vier Wände wurde darüber im Flüsterton gesprochen, aber in der Öffentlichkeit schwieg man. Denn mit den hohen Herrschaften legte man sich besser nicht an. Und vielleicht war Mary selbst ja unvorsichtig gewesen. Schönheit ist eben für junge Mädchen gefährlich. Nur Michael Kelly wollte das, was passiert war, nicht hinnehmen und schwor, Marys und seine Ehre zu rächen. Eine Woche später hatte Mary Junker Stephen unter einem Vorwand zu den Steinen gelockt und dort war es zwischen den beiden Männern zu einem Kampf gekommen. Niemand hat je erfahren, was dort genau geschehen war. Mary war danach spurlos verschwunden und erst Wochen später fand ein Hirte zwei Leichen. Die Füchse hatten sie angefressen und die Raben die letzten Fleischreste weggepickt. Hatten die Männer sich gegenseitig getötet? Niemand wusste es. Zu jener Zeit fingen die Steine an zu heulen, wenn der Wind hindurchstrich, und einige Hirten behaupteten felsenfest, dass sie zwei Menschen gesehen hätten, die ihre Hände flehend ausgestreckt hatten. Der Ort war zu einer Furcht einflößenden Stätte geworden und seitdem nannte jedermann die Steine »Die Heuler«. An diese merkwürdige, erschreckende Geschichte musste Thomas Bylloun denken, als er auf der Suche nach einem Bock und drei Schafen aus seiner kleinen Herde war, die sich verirrt hatten. Thomas war ein großer, schlanker, muskulöser Junge mit schwarzem Haar und saphirblauen Augen. Viele hielten ihn für den hübschesten Jungen von Saint Breward. Zudem hatte er eine schöne Stimme, und wenn er eines der keltischen Lieder
sang, die er von seinem Großvater gelernt hatte, schien es, als würden sogar die Vögel schweigen, um ihm zuzuhören. Kein Wunder also, dass Thomas lächelnd durch die unschuldigen Wunschträume vieler Mädchen von Saint Breward geisterte. Wenn er in Camelford auf dem Markt erschien, versuchten auch die Mädchen dort, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er tat dann so, als würde er ihre schmachtenden Blicke nicht bemerken, aber innerlich grinste er zufrieden. Jeden Morgen nahm er seinen zierlich geschwungenen Hirtenstab und zog ins Bodmin Moor, um seine Schafe zu hüten. Er liebte die weite graue Landschaft, den Wind, der kam und ging, die Wolken, die sich gegen Abend schwer und grau vor der Sonne zusammenzogen, und das Wechselspiel der Jahreszeiten, die er so gut kannte. Ein Unwetter kündigte sich an, die Erde schien zu flimmern und plötzlich hing eine unbestimmte, drohende und erstickende Stille in der Luft. »Sogar der Wind hält den Atem an«, flüsterte Thomas vor sich hin und legte seine Hand auf Duskers Kopf. Der schwarzweiße Hund zitterte und jaulte auf einmal nervös – ein hoher, schriller Ton, der die Angst, die sich breit machte, noch verstärkte. Da bemerkte der Junge die vier Schafe. Sie hatten zwischen den Farnen gelegen und jetzt streckten sie aus unerfindlichem Grund die Köpfe in die Höhe. Selbst aus der Entfernung konnte Thomas sehen, dass ihre gelben Augen zu einer ganz bestimmten Stelle starrten. Im selben Moment, als er auch dorthin sah, krachte der erste Donnerschlag. Er klang wütend, grollend und tückisch, wie das Lachen eines bösen alten Riesen, und sein Echo hallte unzählige Male über Bodmin Moor. Thomas zuckte zusammen. Dusker ließ ein Knurren hören; seine Nackenhaare stellten sich auf. Die Schafe sprangen aus
den Farnen und kamen blökend und steifbeinig herbei. Ein Blitz tauchte Bodmin Moor in grelles blauweißes Licht, zuckte vom schwer verhangenen Himmel herab und schlug krachend dicht neben den Heulern ein. »Dusker!« Thomas wollte den Hund festhalten, aber der rannte mit langen Sprüngen und eingezogenem Schwanz davon. Thomas wunderte sich. So etwas hatte Dusker noch nie gemacht. Das war doch wirklich nicht das erste Gewitter, das er erlebte! Thomas drehte sich wieder zu den Heulern um. Das bläuliche Licht des Blitzes schien noch um die Steine zu wabern. Da rissen unerwartet die Wolken auf und ein Sonnenstrahl fiel auf die Erde, genau in die Öffnung zwischen den Steinen. »Herr im Himmel!«, flüsterte Thomas und schlug hastig ein Kreuz. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Oder hatte er wirklich ein wunderschönes Mädchen gesehen, ein Mädchen, das in der Höhle aus drei Granitblöcken stand und die Arme nach ihm ausstreckte? Thomas schloss die Augen, schüttelte ungläubig den Kopf und sah wieder hin. Der Sonnenstrahl, der sich einen Weg durch die Wolken hatte bahnen können, war weg. Die Heuler wirkten dunkel und matt, wie eine schwarze Narbe auf der braungrauen Haut von Bodmin Moor. Niemand, es war niemand zu sehen. War das Mädchen eine Vision gewesen? Eine Geistererscheinung? War sie aus dem Reich der Toten zurückgekehrt? Thomas schluckte. Etwa die schöne Mary Finnemore? Bei diesem Gedanken schlug der Junge drei Kreuze. Seine Fantasie ging mit ihm durch, wie ein scheues Wildpferd, wiehernd, mit allen vier Hufen um sich tretend. Die schöne Mary Finnemore! Niemand hatte sie je wiedergesehen. Vielleicht hatte ihr Freund sie hier begraben und der Blitzschlag hatte ihrem Leichnam neue Lebenskraft gegeben, ihrem… Thomas dachte
nicht länger nach, seine Füße trugen ihn trotz aller Angst zu den Heulern. Er wollte wissen, ob dort ein Mädchen Unterschlupf gesucht hatte. Ein weiterer Donnerschlag krachte. Plötzlich prasselte Regen herab. Im Nu waren Thomas’ Kleider patschnass. »Dusker!« Der Hund ließ sich nicht blicken. Als Thomas fast bei den Steinen war, löste sich plötzlich eine menschliche Gestalt aus dem tiefen Schatten und stieß ihn kurz an, so sanft, als wollte sie ihn streicheln. Sie trug ein schmutziges Kleid, das einmal weiß gewesen sein musste, und einen langen Umhang von einer Farbe wie Fledermausflügel. Thomas wollte das Mädchen festhalten, erwischte aber nur den Mantel. Sie versuchte zu fliehen, doch der junge Hirte war schneller. Wie ein flüchtendes Schaf ließ er sie über das geschwungene Ende seines Holzstabs stolpern. Das Mädchen fiel der Länge nach ins dürre Gras und die harten Heidekräuter, wandte ihm das Gesicht zu, gab aber keinen Laut von sich. Thomas beugte sich über sie. Im grellen Licht eines neuerlichen Blitzes sah er rote Haare, grüne Augen, geschwungene Brauen, wütend oder ängstlich zusammengekniffene Lippen. Inzwischen war das Kleid des Mädchens klatschnass. Zwei kleine runde Brüste mit harten Warzen zeichneten sich unter dem Stoff ab, der an der Haut klebte. Thomas schluckte. Als sein Blick den seidigen dreieckigen Schatten zwischen ihren Schenkeln streifte, wurde ihm innerlich merkwürdig warm. Sein Herz schlug aufgeregt. »Mary Finnemore?«, flüsterte er.
2. SAINT BREWARD
Thomas Bylloun streckte die Hand aus. Das Mädchen duckte sich ängstlich. Er lächelte beruhigend und beugte sich noch weiter vor. Wie eine wilde Katze kratzte sie nach seinen Augen. Thomas wich erschrocken zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel in die Sträucher. Blitzschnell war das Mädchen auf den Beinen, griff rasch ihren Mantel und verschwand hinter den Heulern. Thomas blieb einen Moment lang liegen. Es bestand kein Zweifel, das Mädchen war aus Fleisch und Blut. Obwohl – er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie splitternackt aus einem Blitz geboren und vom Regen angekleidet wurde. Wann hätte sie auch sonst Kleider anziehen können? Oder hatten ihn seine Augen getäuscht? Sie hatte dieselben roten Haare, dieselben grünen Augen, dieselben feinen Gesichtszüge wie die verschwundene Mary Finnemore. Er kannte Mary. Die junge Frau hatte in seinem Kopf zu leben angefangen, nachdem er die Geschichte ihres traurigen Endes so oft gehört hatte. Wieso hatte das Mädchen nichts gesagt? Keinen Laut von sich gegeben? War sie etwa doch ein Gespenst? Ein Geist? Eine Zurückgekehrte? Thomas bekreuzigte sich. Früher hatte er immer den Mut gehabt zu spotten, wenn in Saint Breward Geistergeschichten erzählt wurden, aber jetzt, nach diesem Erlebnis, würde er das nie wieder tun. Er stand auf und sah sich um. Über Bodmin Moor hatten sich die Wolken zusammengeschoben und der Himmel war schiefergrau. Der Regen bildete eine graue Wasserwand. Sollte er hinter dem Mädchen herrennen? Nein, es war sinnlos, sie zu
suchen. Außerdem war das Moor nach einem derartigen Regenguss gefährlich und tückisch. Er hob seinen Hirtenstab auf, ging zu den Farnen, in denen sich seine Schafe erneut verkrochen hatten, und schob die gefiederten Zweige zur Seite. Der Bock blökte empört, stellte sich auf die Hinterbeine und wollte mit seinem schweren Kopf zustoßen. Thomas traf ihn mit dem Ende seines Stabs. Er fühlte sich plötzlich verlassen und irgendwie verärgert. Merkwürdig. Hatte ihn das Mädchen denn so tief beeindruckt? In Gedanken vertieft, trieb Thomas die Schafe vor sich her über die runde Kuppel des Alex Tor. Von hier aus konnte er fast das ganze Dorf Saint Breward sehen. Im dichten Regen war der Glockenturm ein undeutlicher rechteckiger Schatten. Die Häuser waren graue, verlaufene Flecken, und die Wege, die den Hügel hinab ins Tal führten, schienen zu schäumen. In der Ferne grummelte der Donner und ein Blitz erleuchtete Roughtor und Brown Willy, den höchsten Hügel in der Gegend. In der Nähe konnte Thomas die Trennmauern zwischen den Feldern erkennen. Weiter oben im Moor gab es keine mehr. Dort gehörte der Boden dem ewigen Wind und denen, die sich trauten, dort ihre Schafe und Kühe zu weiden. Als Thomas das erste Gatter öffnete, kam Dusker angeschlichen. Der Hund schaute schuldbewusst, als wüsste er, dass er seinen Herrn im Stich gelassen hatte. Auch das war sonderbar. Dusker war kein ängstlicher Hund, und trotzdem hatte er, noch bevor Thomas das Mädchen gesehen hatte, die Flucht ergriffen. Der Junge klopfte dem Hund ermutigend die Flanke und schickte ihn zur Herde. Die Schafe sollten für den Rest des Tages auf einer der eingezäunten Weiden grasen. Sein Großvater würde natürlich murren und sagen, dass er in jungen Jahren keine Angst vor Regengüssen gehabt hatte und dass das saftige Gras der Talweiden als Winterheu dienen sollte.
Aber Thomas hatte keine Lust, länger im Regen herumzulaufen. Und viel fressen würden die Schafe heute nicht mehr. Sie würden sich in dem halbrunden Pferch, der aus Granitbrocken und Schiefersteinen an die Begrenzungsmauer gebaut war, verkriechen und dicht zusammenrücken. Thomas sah die ersten Schafe kommen, zögernd, die Köpfe unruhig hin und her schüttelnd, mit trippelnden Schritten. Als sie ihn bemerkten, blieben sie stehen. Er spreizte die Arme und tat, als wollte er auf sie zurennen. Die Schafe erschraken, wollten flüchten und drängten durchs Gatter in den Pferch, wobei sie übereinander stolperten und purzelten. Dann war nur noch das metallische Klicken des Riegels zu hören, den Thomas vorschob, und ein kurzes zufriedenes Bellen von Dusker. Der Arbeitstag war zu Ende. Thomas wischte sich mit dem Ärmel die Regentropfen aus dem Gesicht und schnaubte. Was für ein Mistwetter! Drei Gatter musste er noch öffnen und schließen, bevor er den Dorfrand erreichte. Das Dorf, das seit so vielen Jahren seine Welt war, wurde ihm langsam, aber sicher zu klein. Genau wie die Jacke, die er letztes Jahr bekommen hatte. Stolz und unbeugsam stand der Kirchturm da und die Häuser am Wegrand schienen innen zu glühen: Die Bewohner von Saint Breward hatten die Lampen angezündet. In den Kaminen schwelten Torfstücke unter verrußten Kesseln, in denen das Abendessen köchelte. Thomas verspürte Hunger… »Thomas!« Erschrocken drehte er sich um. Wer hatte da gerufen? »Father?« Nicholas Downe, der für die Gemeinde Saint Breward verantwortliche Geistliche, zog seinen langen schwarzen Mantel fester um sich. »Wie geht es dir, Thomas?« Die Frage klang wie ein Vorwurf.
Downe war ein großer, kräftig gebauter Mann. Sein fleischiges Gesicht war immer hochrot und seine seltsam blassen Augen schienen über den Wangen zu schwimmen. »Er badet zu oft in Portwein«, bemerkten die Bewohner von Saint Breward oft spottend. Aber niemand wagte es, das im Beisein von Downe zu wiederholen. Alle hatten Angst vor ihm, ohne ihn deswegen zu respektieren. »Thomas, ich habe gehört, dass du dich in Camelford mit der Tochter von Master Marwood unterhalten hast.« Der Junge nickte – äußerlich ergeben, innerlich kochend. Er fluchte lautlos. Wer hatte da schon wieder getratscht? »Und du sollst sogar deinen Arm um ihre Taille gelegt haben.« Thomas nickte erneut. Na und? War das etwa verboten? Minnie Marwood hatte es gefallen und ihm auch. »Und du hast sie am Kinn gestreichelt.« »Father, ich…« Der Geistliche legte seine schwere Pranke auf die Schulter des Jungen und schüttelte ihn. »Thomas, weißt du denn nicht, dass die Sünde des Fleisches direkt in die ewige Verdammnis führt?« Sofort musste Thomas an das unbekannte Mädchen denken und spürte erneut die seltsam aufregende Wärme durch seinen Körper strömen. Die Sünde des Fleisches? Das große, atemberaubende Geheimnis, das unbekannte Land, über das ab und zu im Flüsterton und mit verblümten Worten gesprochen wurde? Der junge Hirte wusste genau, wie ein Schaf von einem Bock besprungen werden musste, damit es zu Beginn des Frühjahrs ein Lamm bekam. Er wusste auch, dass zwischen Mann und Frau Ähnliches geschah, und vermutete, dass es etwas Atemberaubendes sein musste, etwas, was einen wahnsinnig machen konnte. Es musste auch etwas Gefährliches sein. Warum sonst hatte Derek Bindrawn eine
derartige Tracht Prügel bekommen, als herauskam, dass er es mit einer Zigeunerin getan hatte? Derek hatte damals schwören müssen, mit keinem anderen Jungen darüber zu sprechen, und er hatte tatsächlich kein Wort über das, was er erlebt hatte, verloren. Und Father Downe warnte ohnehin jeden jungen Mann vor den Folgen der Sünde des Fleisches. »Thomas?« Der Junge, ganz in Gedanken versunken, erschrak. Was hatte Father Downe gerade gefragt? »Ich habe gefragt, ob du bereust?« Bereuen? Was denn? Er hatte nichts getan, wofür er sich schämen müsste. »Wenn du aufrichtig bereust und dir fest vornimmst, dich vom anderen Geschlecht fern zu halten, bis die Zeit gekommen ist, dann werde ich den Herrn bitten, dir zu vergeben.« Thomas nickte und senkte den Kopf. Regentropfen platschten auf die silbernen Schuhschnallen des Geistlichen. Vergeben? Was gab es da zu vergeben? Sich vom anderen Geschlecht fern halten? Was sollte das heißen? Nie mehr mit einem Mädchen sprechen, nie mehr ihre Lippen berühren, nie mehr die Hand heimlich über diese himmlischen geheimnisvollen Rundungen gleiten lassen? Nie mehr Worte flüstern, die einen trunken machten, vollkommen trunken wie von jungem Cider? Kam gar nicht infrage, höchstens noch vorsichtiger sein, dafür sorgen, dass keiner es mitbekam. Das unbekannte Mädchen war wahrscheinlich noch in der Nähe. Vielleicht war sie ja auch eine Zigeunerin, so eine wie… »Thomas, ego te absolvo…« Der Rest war ein unverständliches Gemurmel, das im Prasseln des Regens unterging. »Geh jetzt und sündige fortan nicht mehr!« Thomas schlug ein Kreuz, unsicher, ob das die richtige Geste war.
Nicholas Downes Blick hatte etwas Tyrannisches, aber auch etwas Ängstliches. Tyrannen leben von der Angst, sie verströmen auch deren Geruch. Hastig schlüpfte Thomas an Father Downe vorbei und murmelte etwas wie einen Dank. Downe sah ihm nach. Der junge Bylloun hat zu schnell eingelenkt, dachte er unzufrieden. Ein Sieg ohne Kampf konnte nur eins bedeuten: Thomas Bylloun war eines der unzähligen Opfer weiblicher Perversität. Oh, wie hasste er Frauen im Allgemeinen und schöne, junge und üppige Frauen im Besonderen. Sie hatten ihre Macht vom Teufel höchstpersönlich bekommen. Vielleicht waren sie sogar Geschöpfe des Teufels, der dem Schöpfer ein Schnippchen geschlagen hatte. Es konnte doch nicht sein, dass der Allmächtige mit voller Absicht die Frau erschaffen hatte, ein Wesen, das die Ursache von so viel Angst, so viel Neid, so viel Grausamkeit war? Warum gab es Frauen? Ohne sie wäre die Schöpfung perfekt! Gab es denn keine andere Möglichkeit, den Fortbestand der Menschheit zu sichern? Nicholas Downe ging weiter. Immer wenn ein junger Mann aus seiner kleinen Herde anfing, einer Frau den Hof zu machen, wuchs der Hass ihres Hüters. Wenn er sah, wie sie einander tief in die Augen schauten, kam der Schmerz über Irenes Untreue zurück, schärfer, brennender, härter. Warum war seine geliebte lachende Irene mir nichts, dir nichts mit einem Seemann durchgebrannt? Warum hatte noch nicht einmal sie dem Ruf, dem unbeherrschten Schrei der Lust widerstehen können? Sie hatte ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht, sogar darüber hinaus. Warum? Das war eine Frage ohne Antwort, ein Schrei ohne Echo. Der Bischof von Exeter hatte ihn in dieses Dorf verbannt, ihn, Nicholas Downe, den begnadeten Redner, den prophetischen Prediger, der die Gewölbe der Kathedrale mit
seinen Worten erzittern lassen konnte! Er hatte die Weisung angenommen, hatte erkannt, dass dies seine wahre Berufung war. Die Sünde des Fleisches war auch hier überall unterschwellig da, die Menschen lebten fast wie Tiere! Am Sonntag würde er sie von der Kanzel herab erneut warnen, ihnen nochmals die Augen öffnen. Konnten sie denn nicht sehen, dass sich das Böse in ihre Herzen und in ihr Leben schlich, gehüllt in ein Lächeln, in eine anmutige Kopfbewegung, in das herausfordernde Hochwehen eines bunten Kleides im Wind? Merkten sie denn nicht, dass das Verlangen, das Brennen in ihrem Körper zu löschen, das Höllenfeuer nur noch mehr anfachte? Nicholas Downe war durch seinen Hass so geblendet, dass er gar nicht bemerkte, wie ein hübsches rothaariges Mädchen, nur wenige Schritte entfernt, an ihm vorbeihuschte und ins Dorf schlich. Ihr Mantel hatte die Farbe von Fledermausflügeln.
3. DIEBE?
Die Lampe warf einen Lichtkegel auf den Tisch. Die Zimmerecken waren in Dunkel gehüllt. Auf der blank gescheuerten Tischplatte stand dampfendes geschmortes Schaffleisch mit Möhren und Rüben. Thomas’ Mutter brach von dem Brotfladen, den sie am Nachmittag gebacken hatte, ein Stück ab und legte es neben den Holzteller ihres Sohnes. »Wer träumt, kann nicht arbeiten«, brummte William Bylloun. »He, Thomas, wach auf!« Der alte Mann knuffte seinen Enkel in die Seite. Thomas schrak aus seinen Träumereien auf. »Erzähl, Thomas, was ist los? Hast du die Weiße Frau gesehen?« Thomas lächelte verlegen. Die Weiße Frau tauchte in vielen Geschichten auf. Sie schwebte angeblich über den Tümpeln von Bodmin Moor, und wenn sie einen mit ihrem Mantel berührte, war man verhext. Nein, es war nicht die Weiße Frau gewesen, sondern… Der Junge zögerte. Hier, in seinem ruhigen, sicheren Zuhause, erschien das Erlebnis im Moor erst recht wie ein Traum, ein Hirngespinst. Und doch: Er hatte sie gesehen, sie hatte ihn berührt. Das hatte er genauso deutlich gespürt wie gerade den Knuff von seinem Großvater. »Da war ein Mädchen bei den Heulern«, sagte Thomas. »Oho!«, spöttelte der Großvater, und um seine Augen bildeten sich noch mehr Falten als ohnehin. »Thomas hat sich in den Rockfalten eines Fräuleins verirrt!« »Schluss mit dem Unsinn!« Ben Bylloun, Thomas’ Vater, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Father Downe hat sich auch schon über dich beklagt!«, jammerte seine Mutter. »Thomas, du bist doch noch ein Junge!« Jetzt wurde der Großvater wütend. »Er kann gut auf sich selber aufpassen. Und wenn nicht, dann sind wir auch noch da. Diese schwarze Kirchenkrähe soll sich lieber selbst eine Frau suchen, statt sich um die Angelegenheiten anderer zu kümmern.« Merkwürdig, dachte Thomas, auf einmal fühlt sich Großvater berufen, mich zu verteidigen. Oder war der alte Mann etwa zurechtgewiesen worden, weil er nicht die ganze Zeit ein wachsames Auge auf seinen Enkel gehabt hatte? Als Thomas nämlich mit Minnie herumalberte, war der Großvater im Wirtshaus gewesen, um seine Kehle mit einem großen Krug Bier zu befeuchten. »Thomas ist noch viel zu jung, um schon hinter den Mädchen her zu sein!« Ben Bylloun fand, dass über dieses unwichtige Thema schon zu viele Worte gefallen waren. »Ob er zu jung ist oder nicht, das wird ihm schon sein Körper sagen!«, grinste der Großvater. »Das liest man nicht in Büchern, noch nicht mal in der Bibel. So was weiß man nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch.« »Vater!« Thomas’ Mutter war erschrocken. Thomas versuchte, weiterhin ein ernstes Gesicht zu machen, aber das fiel ihm nicht leicht, denn die Mutter war rot bis über die Ohren. Beging sie etwa immer noch die Sünde des Fleisches? »Großvater, kanntest du Mary Finnemore gut?« Der alte Mann füllte sich nochmals den Teller und fischte nach einem großen Stück Fleisch. »Deine Mutter und sie waren befreundet. Mary kam damals ab und zu vorbei. Aber ich hatte keine Zeit, mich mit jungen Mädchen zu beschäftigen – dafür war ich schon zu alt!«
»Ja«, sagte die Mutter, »ich war hier gerade erst eingezogen damals, als ich deinen Vater geheiratet hatte.« Thomas betrachtete sie. Die Zeit hatte tiefe Furchen in ihre Haut gegraben, ihr angegrautes Haar war nach hinten gekämmt und zu einem runden Knoten gedreht, der unter einer weißen Haube versteckt war. Ein dickes Wollkleid verbarg jede Rundung ihres Körpers. Mutter und die schöne Mary Finnemore? »Rotes Haar und Erlenholz wachsen nie auf gutem Boden«, murmelte der Großvater geheimnisvoll. »Ich glaube, ich habe sie im Bodmin Moor gesehen. Sie war’s, die bei den Heulern…« Die plötzliche Stille im Zimmer brachte Thomas zum Schweigen. Ein Fensterladen klapperte Unheil verkündend. »Thomas! Das ist unmöglich! Du hast geträumt!« Der Junge schüttelte den Kopf und sah seiner Mutter dann fest in die Augen. »Nein«, sagte er, »ich war hellwach. Ich habe sie aus der Erde aufsteigen sehen, ein Blitz hat sie zum Leben erweckt.« Ein Holzlöffel fiel zu Boden. Die drei Erwachsenen starrten den Jungen an. »Herr, segne dieses Haus und vergib uns…« Die Stimme von Thomas’ Mutter klang wie ein heiseres Keuchen. Sie schlug drei-, viermal ein Kreuz. Thomas biss sich nervös auf die Lippe. »Vier von meinen Schafen…« Er erzählte die ganze Geschichte. Und wieder spürte er die seltsame Erregung. »Ihr Geist«, sagte der Großvater und nickte. »Schweig!«, gebot die Mutter. »Lass die Toten in Frieden ruhen. Der Herr verbietet derartige Gotteslästerungen. Die Toten werden erst beim Jüngsten Gericht auferweckt. Schweig und bete!«
»Thomas, ich will nicht, dass du mit jemandem darüber sprichst!«, fuhr der Vater Thomas an. »Kein Mensch darf davon hören. Downe könnte dich aus der Kirche jagen. Mary Finnemore ist tot, verschwunden!« »Aber niemand weiß, was aus ihr geworden ist!«, protestierte der Junge. »Wenn sie noch am Leben ist, sieht sie sicherlich nicht mehr wie ein junges Mädchen aus. Vergiss die ganze Geschichte, Thomas, vergiss sie!« Die Stimme der Mutter klang flehend, beschwörend. Thomas nickte, füllte seinen Teller auf und aß weiter. Für den Rest des Abends blieb die Spannung im Raum hängen. Das Torffeuer glimmte. Thomas war auf seinem Stuhl eingenickt. Die Familie ging früh zu Bett. Bald sank Thomas in einen unruhigen, wilden Traum. Mitten in der Nacht wachte er plötzlich auf. Das Gewitter war inzwischen weitergezogen und ein heller Mond stand am blauschwarzen Himmel. Thomas hatte etwas gehört, ganz sicher. Er stand auf und verließ sein kleines Zimmer, das auf halber Höhe der Treppe lag. Die Treppe knarrte, als er in die Küche hinunterschlich. Der Mond schien durch das dicke, milchige Glas der beiden kleinen Fenster und warf silbernes Licht auf den Boden. Dusker, der vor dem erloschenen Kaminfeuer geschlafen hatte, stand an der Haustür – die Ohren gespitzt, die Schnauze wachsam vorgereckt. Der Hund hatte es also auch gehört. Diebe? In Saint Breward? Unwahrscheinlich! Im Dorf besaß keiner mehr als der andere. Der einzige persönliche Reichtum eines jeden waren die Kraft der eigenen Arme und die Schärfe der Augen, hieß es.
Außerdem war das Geräusch von draußen gekommen. Ein Fuchs vielleicht? Ein Wiesel im Hühnerstall? Eine streunende Katze? Ganz langsam schob Thomas den hölzernen Riegel zurück. Neben dem Türrahmen stand der schwere Hirtenstab seines Großvaters aus hartem Eschenholz. Am Ende hatte er eine geschmiedete eiserne Spitze. Thomas nahm den Stab. Dusker glitt wie ein Schatten nach draußen und ging direkt auf die niedrige kleine Hütte zu, in der die Milch aufbewahrt wurde. Thomas’ Großvater machte dort den Käse, den er in Camelford verkaufte. Dort hing auch ein geräucherter Schinken zum Trocknen für den Winter. Thomas zögerte. Die Tür der Hütte stand einen Spaltbreit offen, das war ungewöhnlich. Dusker machte sich sprungbereit. Wer oder was auch immer die Geräusche verursacht hatte, war in der Hütte. »Komm da raus«, brummte Thomas und versuchte, seine Stimme so tief und erwachsen wie möglich klingen zu lassen. Mit dem Ende des Hirtenstabs schob er die Tür auf. Die Holzangel quietschte. »Komm raus. Und zwar langsam. Ich habe einen Hund bei mir.« Thomas ging noch einen Schritt näher und stocherte mit dem Stab in die dunkle Hütte. Plötzlich schien die Welt zu wanken. Ein heftiger Ruck am Stab. Thomas taumelte nach vorn und fiel auf Hände und Knie. Jemand wollte seitlich an ihm vorbei. Thomas griff wild um sich und streifte mit der linken Hand ein nacktes Bein. Mit einer schwungvollen Bewegung kam er hoch. Er packte zu und nahm einen sonderbar aufregenden Geruch nach Heide, feuchtem Holz und Frau wahr. Das Mädchen?
Miteinander ringend taumelten sie hinaus ins Mondlicht. Er konnte ihr schönes blasses Gesicht mit den blitzenden grünen Augen deutlich sehen. Die Wärme ihres Körpers drang durch sein Hemd. Er packte sie noch fester und spürte ihren keuchenden Atem, als er die Luft aus ihren Lungen drückte. Kurz lockerte er den Griff. Das Mädchen war kräftig, kräftig und stark. Sie nutzte sofort die Gelegenheit, beugte den Kopf und biss ihn in die Schulter. Thomas schrie vor Schmerz auf. Aber der Biss machte ihn auch wütend. Ein Mädchen würde ihn nicht… Fast wäre sie aus seinen Armen entwischt. Thomas hakte seinen rechten Fuß hinter ihren linken und beugte sich vor. Das Mädchen wurde zu Boden gedrückt, Thomas fiel auf sie, spürte, wie sein Körper sich ihren Formen anpasste. Die Sünde des Fleisches!, zuckte es ihm durch den Kopf. Dein Körper sagt dir, wenn es so weit ist, das weiß man nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch. Da bellte Dusker warnend. Das Mädchen unter ihm spannte überraschend den Körper zu einem Bogen und warf Thomas seitlich ab. Schneller, als er es für möglich gehalten hätte, stand sie auf den Beinen. Er sah sie über die niedrige Mauer neben der Hütte verschwinden, eine dunkle Silhouette vor dem milchigen Nachthimmel. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Nein, diesmal sollte sie ihm nicht entkommen. Er kannte die Gegend hier wie seine Westentasche. Hastig rappelte er sich auf. »Dusker, such!« Wieder fiel ihm auf, dass der Hund tapsig, beinah ängstlich reagierte. Es schien, als könnte ihn das Mädchen ohne Worte, ohne Befehl auf Abstand halten. Aber viel Zeit zum Nachdenken hatte er nicht. Er rannte zum Mäuerchen. Erst da merkte er, dass er barfuß war und nur ein Nachthemd trug. Er fluchte. Das Mädchen würde wieder entwischen.
Da hörte er sie fallen. Dusker sprang über die Mauer. Thomas folgte, barfuß und im Hemd. Dem Mädchen war etwas passiert.
4. DIE KRÄUTERFRAU
Dusker sprang zusammen mit Thomas über das nächste Mäuerchen. Mist, dachte der Junge, ich hätte doch meine Holzschuhe anziehen sollen. Die dürren Grashalme stachen in seine Fußsohlen und ab und zu stieß er sich die nackten Zehen an hervorstehenden Steinen. Aber sein Tempo verlangsamte er deswegen nicht. Irgendetwas trieb ihn voran. Er hatte gehört, wie das Mädchen gefallen war, aber sie hatte nicht aufgeschrien. Das war merkwürdig. Sie schien überhaupt nie Geräusche zu machen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, sie keuchen gehört zu haben, als sie miteinander kämpften. »Such, Dusker, such das Mädchen!« Der Hund blieb stehen, drehte den Kopf zu seinem Herrchen und fing dann an, mit den Vorderpfoten zu graben. Das machte er öfter, wenn er einen Befehl nicht verstanden hatte und doch zeigen wollte, dass er guten Willens war. »Nein, du sollst nicht nach Kaninchen suchen! Das Mädchen! Such das Mädchen!« Der Hund bellte kurz, machte ein paar Sätze nach links, blieb stehen, kam zurück, rannte nach rechts. Ganz so, als würde er verirrte Schafe suchen. »Dusker!« Thomas war schon über die nächste Mauer gesprungen. Bodmin Moor dehnte sich gespenstisch vor ihm aus. Der Wind flüsterte Geschichten von Einsamkeit und vom ewigen Kampf ums Überleben. Der Hund kam gerannt, sprang hoch, blieb stehen, drehte sich um die eigene Achse und jagte dann den ersten Hügel hinauf. Thomas wusste sofort, dass Dusker Witterung aufgenommen
hatte, dass er das Mädchen finden würde. Sein Herz schlug schneller. Wer war sie? Was wollte sie? Warum war sie ins Dorf gekommen? Er fühlte die spitzen Steine nicht mehr, nahm keine Notiz von den vertrockneten, harten Sträuchern, die seine Waden aufkratzten. Er dachte nur noch an das Mädchen und ihr stilles Geheimnis. Dusker wartete ein Stück weiter auf ihn, angespannt, die Schnauze vorgereckt, eine Vorderpfote erhoben. Thomas verlangsamte sein Tempo. Rechts sah er ein dichtes Gebüsch. Unwillkürlich schloss er die Hand fester um Großvaters Hirtenstab. Es war, als würde er seine Stimme im Kopf hören: Rotes Haar und Erlenholz wachsen nie auf gutem Boden! Eine Warnung? »Hab keine Angst, Junge.« Thomas erschrak heftig, das Blut gefror ihm in den Adern, er stolperte. Dusker knurrte. »Und halt den Hund zurück. Das Mädchen hier ist gefallen. Fuß verstaucht, vielleicht sogar gebrochen. Du musst mir helfen.« Die Kräuterfrau! Was machte sie mitten in der Nacht hier am Rand von Bodmin Moor? Thomas hatte sie erkannt, als sie die Kapuze ihres Mantels zurückschlug und der Mond ihr ausdrucksvolles, willensstarkes Gesicht beschien. Die Kräuterfrau kannte alle Geheimnisse von Saint Breward, denn jeder ging mit seinen Wehwehchen und Schmerzen, mit seinen Sorgen und Ängsten zu ihr. Sie wohnte in einer abgelegenen Holzhütte oben am Hügelkamm neben dem Steinbruch und stellte dort ihre Salben, Tränke und Kräutertinkturen her. Man ging auch zu ihr, wenn Schafe oder Kühe krank wurden, wenn die Ernte verloren zu gehen drohte, wenn Insekten an den Pflanzenwurzeln fraßen, wenn Mäuse und Ratten allzu gierig von den Vorräten naschten. »Helfen?«
Die Hand der Kräuterfrau winkte ihn gebieterisch heran. Thomas ging um das Gebüsch herum. Das Mädchen lag auf dem Boden, das Gesicht schmerzlich verzogen, aber ihre Augen funkelten wütend. »Wer ist sie?«, fragte Thomas. Die Kräuterfrau zuckte mit den Schultern. »Für mich ist sie ein Mädchen, das hingefallen ist und allein hier auf dem Boden liegt. Wenn sie will, dass wir wissen, wer sie ist, dann wird sie uns das schon sagen. Kannst du sie stützen?« Thomas nickte, beugte sich vor und wollte dem Mädchen die Hand reichen. »Nein, du musst sie unter den Armen packen. Sie kann nicht mit dem Fuß auftreten und ich kann sie nicht allein hochheben.« Thomas trat zögernd einen Schritt näher. Er fühlte sich unbeschreiblich lächerlich, wie er da stand: barfuß und im Nachthemd. Der Saum wehte hoch, aber die Kräuterfrau tat, als würde sie nichts bemerken. »Ich habe sie verfolgt«, sagte Thomas. »Sie war in der Hütte bei unserem Haus und wollte Käse stehlen. Dann ist sie abgehauen. Ich habe sie gehört, ich wollte…« Er brach ab. Die Kräuterfrau schien nicht zuzuhören und das Mädchen sah ihn wütend und auch ein wenig triumphierend an. Er warf den Hirtenstab ins Heidegras, packte sie recht unsanft und zog sie hoch. Sie war schwerer, als er vermutet hatte. Ihr Kleid fühlte sich noch leicht feucht an. Wieder dieser sonderbare Geruch, der ihm durch und durch ging. Thomas stöhnte, nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung. Dusker kam zu ihnen und schnüffelte am Mantel des Mädchens. »Leg den Arm um meine Schulter«, keuchte Thomas, aber das Mädchen reagierte nicht. Die Kräuterfrau packte ihre linke Hand und legte sie um Thomas’ Schulter. Das Mädchen hatte
einen Fuß angezogen und biss sich vor Schmerz auf die Lippe. Die Kräuterfrau kniete sich vor sie hin und betastete mit langen, schlanken Fingern den Knöchel, der dick angeschwollen war. »Wir müssen sie so schnell wie möglich zu meiner Hütte tragen. Ich helfe dir, so gut ich kann.« »Mein Stock!« Die Kräuterfrau bückte sich, um den Hirtenstab aufzuheben. Sie war nicht mehr jung, schien aber noch sehr gelenkig zu sein. Merkwürdig, dachte Thomas, ich kenne noch nicht mal ihren Namen. Alle nannten sie »Kräuterfrau«. Da stand er also mit einem Mädchen, das von den Toten auferstanden war, und einer Frau, die Kräutertinkturen mischte. Und er im Hemd! »Was stehst du noch herum, du Träumer? Ich muss sie so schnell wie möglich versorgen, der Fuß sieht schlimm aus!« Schon nach einer Minute wusste Thomas, dass er es nicht schaffen würde. Die Hütte der Kräuterfrau lag hinter dem zweiten Hügel. Und dann mussten sie auch noch den steilen Hang neben dem Steinbruch hoch! »Kann ich nicht bei ihr bleiben, während du… Ich habe keine Schuhe an. Vielleicht kannst du ein paar Kräuter holen?« »Glaubst du wirklich, dass ich nur ein paarmal in die Hände klatschen muss, ein paar Kräuter auf den Fuß lege, und dann kann sie zurückgehen? Ich kann nicht zaubern, weißt du!« Thomas schüttelte den Kopf. »Dann lass mich erst nach Hause gehen und Kleider und Schuhe anziehen. Meine Füße tun weh und zu dir ist es noch weit.« Die Kräuterfrau sah ihn prüfend an. »Hast du Angst?« Thomas wollte schon protestieren, er habe keine Angst vor einem alten Weib, aber als die Kräuterfrau ihn eindringlich
ansah, merkte er, dass sie Recht hatte. Er hatte tatsächlich Angst: Angst vor dem Unbekannten, vor der unwiderstehlichen Anziehungskraft dieses menschlichen Mysteriums, vor Sachen, die es gab, die er aber nicht verstand. »Gut«, sagte die Kräuterfrau mit kurzem Nicken. »Geh nach Hause, zieh dir was an und komm dann zurück, um zu helfen. Wenn du jemanden bitten kannst mitzukommen, umso besser. Dann können wir sie tragen.« Thomas lächelte mühsam und ging. Auf einmal spürte er wieder jeden spitzen Stein unter seinen Fußsohlen, das Pieksen des harten Grases, jedes Kratzen der holzigen Heidesträucher, das Streicheln der weichen Farnblätter. Seine Sinne waren geschärft, so sehr, als würde er doppelt intensiv leben. Erst zu Hause merkte er, dass er den Hirtenstab seines Großvaters vergessen hatte. Jetzt musste er auf jeden Fall zurück. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Hatte er etwa vorgehabt…? Ja, stimmt, er hatte nicht die Absicht gehabt zurückzugehen. Irgendetwas sagte ihm, dass das Mädchen etwas entfesseln und eine Spur des Elends in Saint Breward hinterlassen würde und dass er nie mehr von ihr loskommen würde. Es sei denn, er würde heute Nacht… Trotzdem, er konnte nicht so tun, als wüsste er nicht, dass die Kräuterfrau und das Mädchen da draußen im Bodmin Moor saßen und in die Nacht starrten. Dusker wartete vor der Tür. Der Hund schien verstanden zu haben, dass sein Herr gleich wieder zurückgehen würde. Thomas zögerte. Sollte er seinen Vater wecken, den Zauber auf diese Weise brechen? Nein, dies war sein Geheimnis, sein Abenteuer, sein Sprung ins große, gefährliche Leben. Mit klopfendem Herzen ging er die Treppe hoch in sein kleines Zimmer, tastete nach seinen Kleidern, hielt die Luft an,
als er hörte, wie sich jemand im anderen Zimmer umdrehte. Als es im Haus wieder still war, schlich er mit seiner Hose und den Holzschuhen in der Hand nach draußen. Noch nie hatte er sich so seltsam unsicher, so ängstlich und glücklich, so kalt und warm zugleich gefühlt. Als er zum Himmel hochschaute, war der Mond halb hinter der Kirche verschwunden. Der Schatten des Kirchturms fiel wie ein drohender Finger übers Dorf. Thomas lief ein Schauder über den Rücken. Was Downe wohl dazu sagen würde? Dusker stand schon wieder beim Mäuerchen. Nun da Thomas seine Holzschuhe anhatte, kam er viel schneller voran. In Hosen fühlte er sich auch viel weniger verletzlich. Eine Eule flog lautlos vorüber, die weißen Flügelunterseiten waren deutlich zu sehen. Was das wohl zu bedeuten hatte? Thomas schlug ein Kreuz. Aber viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht. Die Kräuterfrau hatte anscheinend schon nach ihm Ausschau gehalten. »Beeil dich!«, rief sie von weitem. »Das Mädchen hat schreckliche Schmerzen. War niemand da, der helfen kann?« Der kaum verborgene Spott in ihrer Frage trieb Thomas das Blut ins Gesicht. Er hatte das unangenehme Gefühl, die Kräuterfrau könnte seine Gedanken lesen und würde grinsend den Sturm in seinem Herzen und seinem Kopf betrachten. »Wenn du ihr ein wenig hilfst, kann ich sie auf den Rücken nehmen. Dann braucht sie nicht zu laufen.« Die Kräuterfrau nickte. Das Mädchen saß mit dem Rücken an einen Stein gelehnt. Im Mondlicht konnte Thomas Schweißtropfen auf ihrer Stirn erkennen; demnach musste sie wirklich heftige Schmerzen haben. Zusammen halfen sie dem Mädchen hoch. Thomas wandte ihr den Rücken zu, sie schlang die Arme um seinen Hals und spreizte die Beine. Der Junge ging ein wenig in die Knie, griff
ihre Kniekehlen und richtete sich auf. Ihr Körper presste sich an seinen Rücken. Er spürte ihren Atem am rechten Ohr, fühlte, wie sie ihren Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ. Ihr Körper entspannte sich, Angst und Schmerzen schienen aus ihr wegzuströmen.
5. DER TEUFELSPFUHL
Jonathan Dunn rieb sich die schlanken, bleichen Hände. Das Fenster der Herberge ging zum Marktplatz. Fünf schwarz verkohlte Pfähle ragten wie warnende Finger in die Luft. Dunn lächelte. Der graue, fusselige Bart, der von seiner Kinnspitze herunterhing, machte sein ausgemergeltes Gesicht noch länger. Seine fanatischen schwarzen Augen funkelten. Er konnte zufrieden sein. Vier Hexen und ein Zauberer hatten gestanden und waren auf dem Scheiterhaufen gestorben. Tausende von Menschen hatten ihr Schreien gehört, gesehen, wie sich ihre Körper schmerzvoll wanden, wie sich die schwarzen Seelen wie eine dämonische Rauchfahne am regengrauen Himmel auflösten. Dunn hatte die Zuschauer beobachtet, nicht die zum Tode Verurteilten. Verkohlende Körperteile, das Knistern brennender Haare, das leise Knallen platzender Augäpfel und der Geruch nach versengtem Fleisch waren ihm so vertraut, dass es ihn kaum noch berührte. Aber jedes Mal aufs Neue genoss er die Angst und das Grauen auf den Gesichtern der Zuschauer. Er lächelte beim Gedanken an die unausgesprochene Erwartung, Hexen und Zauberer könnten im letzten Moment mit einem teuflischen Zauber entkommen. Das war nicht geschehen, war überhaupt noch nie geschehen – nicht in Exeter und nicht in den anderen Städten, in denen er seine Arbeit zu Ehren Gottes verrichtet hatte. Wenn er mit den Hexen und Zauberern fertig war, lag der Teufel in den letzten Zügen, und ihm blieb nur eine Möglichkeit: eine andere schwarze Seele zu suchen. Jonathan Dunn würde dem Teufel folgen und ihn finden. Der Kampf würde nicht eher enden, bis
der Teufel geschlagen war oder Dunn seine Seele dem Schöpfer befehlen würde. So schob Jonathan Dunn jeden noch so kleinen aufkommenden Zweifel erfolgreich von sich. Er nahm sein in schwarzes Leder gebundenes Buch und las die Worte, die er notiert hatte: »Unter den anderen großen Sünden, Unglücken und Gräueln, die diese unmenschlichen Zeiten hervorbringen und die zu Unordnung und schließlich zum Untergang der Welt führen, zeigen sich immer wieder die wahren Werkzeuge des Teufels. Hexerei und Zauberei sind die größten Missetaten, die schlimmsten Lästerungen gegen Gott, seine Lehre und Ehre. Hexen und Zauberer – die Heilige Schrift erschaudert in höchstem Maße, hegt derartige Abscheu, derartiges Grauen vor ihren Taten, dass Gott sie auf Erden nicht leben lassen kann und will!« Diese Worte, die er auch hier gesprochen hatte, schienen noch von den weißen Hausgiebeln rund um den Marktplatz widerzuhallen. Jonathan Dunn nickte. Es war ein schöner Prozess gewesen. Er hatte seinen Lohn verdient, er konnte dem Herrn danken. Für ihn gab es nicht nur den ewigen Lohn im Himmel: Einem Hexenjäger stand eine ordentliche Vergütung zu, die von der Obrigkeit bezahlt werden musste. Dunn klimperte mit dem Geldbeutel in seinem weiten Ärmel. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Der Fuhrmann, der ihn nach Bodmin bringen sollte, wartete vielleicht schon. Dunn legte sein strenges schwarzes Gewand in eine große Tasche aus weichem Leder und darauf die Teufelsnadeln, das Kruzifix, die Flaschen mit heiligem Öl und Weihwasser, das in raues Leder gebundene Buch Der Hexenhammer, sein schwarzes Notizbuch und den Geldbeutel. Er war fertig. Da war es wieder, das anregende Kribbeln der Kopfhaut. Er konnte von neuem an die Arbeit. Mutter Bylloun schüttelte den Kopf. Thomas war ohne Essen aus dem Haus gegangen. Das Tuch, in das sie Käse, einen
Apfel und ein großes Stück Brot geknotet hatte, lag noch auf der Sitztruhe neben der Tür. Was war nur mit dem Jungen los? In letzter Zeit war er zerstreut, nervös, gereizt. Jede Frage, jede Bemerkung ließ ihn hochgehen. In der vergangenen Woche hatte ihn niemand lachen sehen oder hören. Er war in seinen Gedanken gefangen, wie ein Blinder, der nach einem Ausweg tastet. So ging es nicht weiter. Es gelang ihr nicht mehr, mit dem Jungen zu sprechen, Großvater brauchte sie erst gar nicht zu fragen und ihr Mann tat Thomas’ Grübeleien als Kinderflausen ab. Aber Mutter Bylloun spürte, dass es um viel mehr ging, dass es ungeheuer tief saß und gefährlich war, dass Thomas nie mehr der Junge sein würde, den sie kannte. Ging es um das Mädchen, das er im Moor gesehen hatte? Der Geist von Mary Finnemore? Die Weiße Frau, die die Gestalt von Mary angenommen hatte? Wie auch immer, keinem Menschen wäre es möglich, den Jungen in so kurzer Zeit so tiefgreifend zu verändern – es musste eine stärkere Kraft am Werk sein. Auf einmal wusste Mutter Bylloun, was sie zu tun hatte. Father Downe musste mit Thomas sprechen, musste für ihn beten, ihn zur Not hart rannehmen. Und genau wie sonst auch reagierte sie impulsiv, Gedanke und Tat waren bei ihr wie Zwillinge. Sie band sich ein Kopftuch um und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Ihr Mann und ihr Schwiegervater waren zum Viehmarkt nach Camelford gefahren. Niemand brauchte etwas von dem, was sie vorhatte, zu wissen. Die Dorfstraße war still und verlassen. Der Himmel spannte sich wie eine Kuppel über das Moor, an der die Sonne einen strahlend weißen Fleck bildete. Die Luft flirrte vor Hitze. Sobald man das kühle Haus verließ, hüllte sie einen ein. Nicholas Downes Haus schien Melany Bylloun feindselig anzusehen. Sie zögerte, griff dann aber doch nach dem Türklopfer. Es dauerte eine Weile, bevor Downe die Tür
öffnete. Die grauen Haare standen wirr von seinem rot angelaufenen Kopf ab, seine Augen waren glasig. »Melany?« Die Frau erschrak. Downe hatte eindeutig getrunken. »Father, ich möchte Sie bitten, mit Thomas zu sprechen. Mit ihm ist etwas… Er behauptet, er habe den Geist von Mary Finnemore gesehen und…« »Was? Komm rein!« Father Downe trat einen Schritt zurück. Auf einmal waren seine Augen wieder klar, etwas Angespanntes, Lauerndes lag in seinem Blick. Melany Bylloun schob sich an Father Downe vorbei. Sie zögerte. Beim Anblick der Steinwände und der schweren Eichenmöbel wusste sie auf einmal nicht mehr, was sie tun sollte. Plötzlich hatte sie Angst, Kräfte in Gang zu setzen, die sie nicht im Zaum halten könnte. »Erzähl, Melany. Mary Finnemores Geist? Du weißt, dass es eine sonderbare Geschichte ist.« »Ja, Father.« »Gut, ich höre.« Melany Bylloun erzählte, was vor mehr als einer Woche geschehen war. Downe nickte, sah sie mit brennenden Augen an. »Jemand muss ihm diesen Unsinn ausreden, Father.« »Du hast gut daran getan, mich aufzusuchen, Melany. Wo ist Thomas jetzt?« »Im Moor, mit den Schafen, Father. Würden Sie mit ihm sprechen?« Nicholas Downe nickte und lächelte bitter. Oh ja, er würde es tun; er würde sich den Kampf mit der Sünde, die Frau hieß, nicht entgehen lassen. Thomas zögerte. Sollte er seine Schafe in Richtung der Hütte der Kräuterfrau treiben? Wie es wohl dem Mädchen ging, das er auf seinem Rücken getragen hatte? Er fühlte immer noch
das Kribbeln ihrer langen seidigen Haare an seinem Ohr, die Wärme ihres Körpers an seinem Rücken. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Er fühlte sich leer, unvollständig, sonderbar verwirrt. Immer wieder tauchte das Mädchen in seinem Kopf auf, trieb seine Gedanken wie eine Schar erschreckter Spatzen auseinander. Plötzlich hatte er es eilig, pfiff seinem Hund und machte eine ausladende Bewegung. Dusker rannte leicht geduckt um die Herde herum, wobei er fünf Schafe, die sich von den anderen entfernt hatten, wieder herantrieb. Thomas stieß einen tiefen Seufzer aus.
Nicholas Downe stapfte über die Hügel des Moors. Die Sonne brannte erbarmungslos, er aber summte vor sich hin. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so stark und sicher gefühlt. Noch ein kleines Stück, und er würde sich ausruhen können. Vom Alex Tor aus wollte er nach Thomas Bylloun Ausschau halten. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Jungen zu sprechen, aus seinem Mund zu hören, welches teuflische Wesen ihm den Verstand geraubt hatte. Er wusste bereits, was er sagen würde… Oben auf dem Hügel war ein kleines Plateau. Dort sprudelte eine Quelle, die einen kleinen See speiste. Das Gras ringsum war grün und saftig, hier wuchsen auch niedrige Sträucher und vier knorrige Bäume hatten sich durch den harten Boden gezwängt. Vom See aus, in dem sich farbige Algen wiegten und dessen Wasser wie eine umgedrehte Himmelskuppel wirkte, ergoss sich ein Wasserlauf über bemooste Steine den Hang hinab. Es war ein hübsches Plätzchen zum… Nicholas Downe brachte seinen Gedanken nicht zu Ende. Er zog sich in den Schatten der Baumgruppe zurück und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wer war das?
Ein Mädchen in einem langen schmutzig weißen Kleid hinkte auf das Wasser zu. Sie stützte sich schwer auf einen gegabelten Stock. Als sie beim See war, ging sie in die Hocke und hielt ihre Hand ins Wasser. Dann richtete sie sich wieder auf und löste das Band, das ihr Kleid zusammenhielt. Sie schüttelte sich kurz, sodass das Kleid über die Schultern, die Hüften und die Schenkel zu Boden glitt. Father Downe vergaß tatsächlich zu atmen. Was für ein schönes Mädchen! Ihr junger Körper war schmal, ohne knochig zu sein, ihre Haut hatte die gesunde Farbe des Sommers, ihre Bewegungen waren so graziös wie die eines Rehs. Sie hob ein Bein, spritzte mit dem rechten Fuß silberne Wassertropfen aus dem See und ließ sich dann bis zu den Schultern ins Wasser gleiten. Nicholas Downe schluckte zwei-, dreimal. War dies das bewusste Mädchen? War sie der Geist von Mary Finnemore? Er selbst hatte Mary nicht gekannt, aber gehört, sie habe rotes Haar und sei wunderschön… Downe bekreuzigte sich. Was geschah mit ihm? Wonach schrie sein Körper? Was wollte sein Blut? Hass, Wut, Scham, Verlangen, Scham, Wut, Hass! Plötzlich hasste er das Mädchen, wie er noch nie zuvor jemanden gehasst hatte, nicht einmal die Frau, die ihn verlassen hatte. Nie hatte diese Frau solch sündige Gedanken in ihm wachgerufen. Seine Hände wollten das Mädchen streicheln, seine Arme sich um ihre Taille schließen, sein Mund wollte ihre Lippen berühren, sein… Nein! Weg damit! Sünde! Jeden könnte sie vernichten, aber nicht ihn, Nicholas Downe! Nein! Aber wie er sich auch wehrte, in seinem Körper blieb ein tiefes, schmerzliches Verlangen. Da wusste es Downe: Dieses Mädchen war kein menschliches Geschöpf, sie war eine Kreatur des Teufels! Keine Frau aus Fleisch und Blut könnte diesen Sturm von sündigem Begehren in ihm entfesseln!
Nicholas Downe sah erneut zum Wasser. Das Mädchen stand wie eine Alabasterfigur in dem silbrig blauen See. Dann beugte sie den Kopf, verschwand vollständig im Wasser. Ihr Körper glitt an dem braunen und grünen Seegras entlang. Downe rang die Hände, schloss die Augen, murmelte ein beschwörendes Gebet. Aber das Bild hatte sich auf seiner Netzhaut eingebrannt, das Bild des schwebenden Frauenkörpers im Wasser. Downe stürzte mehr, als dass er lief, den Hügel hinab, zurück in den Schutz seines Hauses, seines Gebetbuches: seines Zaumzeugs. Als er die Tür hinter sich zuwarf und sich dagegen lehnte, war er vollkommen außer Atem. Minutenlang blieb er so stehen; den Kopf zurückgelehnt, versuchte er, sein altes Selbst wiederzufinden, und appellierte an all den Hass, den er in sich trug. Es gelang ihm nicht, das Mädchen aus seinem Kopf zu verjagen, ihr Bild war in sein Gedächtnis gemeißelt; sie war nicht der Engel an der Pforte des Paradieses. Downe stürzte ins Wohnzimmer, packte die Flasche Portwein, die noch auf dem Tisch stand, und trank gierig. Aber die Glut in seinem Körper blieb. Der Teufel! Der Teufel wollte seinen Körper und seine Seele! Der Teufel in Gestalt des Geistes eines Mädchens… Downe setzte die Flasche wieder an. Der Bodensatz des Portweins war krümelig und bitter. Er warf die Flasche von sich, sie zerbrach am Kamin in tausend Scherben. Dann riss er sich Jacke und Hemd vom Körper, packte die Riemenpeitsche neben der Tür und geißelte seinen nackten Rücken. Das Klatschen der ledernen Riemen, die Peitschenschläge, die in sein Fleisch schnitten, machten ihn noch wütender. »Weiche von mir, Frau, Satan! Weg, zurück in die ewige Verdammnis!« Er schlug erneut, hart und unbarmherzig drosch er auf seinen sich verzehrenden Körper ein.
Der Schmerz ließ ihn die Dinge anders sehen: Das Mädchen wurde zum Opfer, zu seiner Gabe an seinen Schöpfer. Er würde für seine Herde Buße tun, ihre Sündhaftigkeit aus seinem Körper peitschen. Immer wieder holte er aus und schlug zu. Er schrie, fiel halb bewusstlos vornüber. Und da wusste er es sicher: Das Mädchen würde ein Opfer werden!
6. DIE WILDE
Jonathan Dunn blickte vom Bock des schwankenden Wagens aus über das Moor. Der Himmel färbte sich am Horizont langsam dunkelrot, die Vögel sangen ihr Abendlied, die Luft war getränkt mit Gerüchen. »Es wird dunkel«, sagte Dunn. »Ist es noch weit?« »Angst im Dunkeln?«, fragte der Fuhrmann grinsend und ruckte kurz an den Zügeln. Die beiden vor sich hin trottenden Pferde hoben die Köpfe und fingen zu traben an. Dunn spürte jede Kuhle des Sandwegs, über die der Wagen holperte; Achsen und Räder knarrten. »In einer Stunde sind wir bestimmt in Bodmin. Das Städtchen liegt dort hinter den Hügeln. Ich weiß ja nicht, was Sie da wollen – es ist dort so ruhig wie in einem verlassenen Kloster. Welchen Handel treiben Sie?« »Nennen Sie mich einfach Seelenretter!«, sagte Dunn. Der Fuhrmann sah ihn erstaunt an. »Und deswegen wollen Sie nach Bodmin? Ich frag mich, ob da jemals einer etwas tun würde, was seine Seele in Gefahr bringen könnte. Wenn man einen Krug Bier trinkt, wird man schon schief angeguckt. Langweiliges Nest, dieses Bodmin!« Dunn nickte und grinste. Keine Sorge, wo er auftauchte, blieb es nie lange ruhig. Überall gab es Zeichen, die auf den Feind hinwiesen; immer wieder fand er die Spur des Satans und seiner Handlanger. Warum sollte es in Bodmin anders sein? Außerdem war er nicht auf gut Glück unterwegs nach Bodmin. Jemand hatte ihm gesagt, er solle sich einmal dort umsehen, hatte den Namen Margareth Wilcock genannt.
Sein Informant hatte geflüstert, mit vor Angst aufgerissenen Augen, aber die Aufregung genossen. Er hatte erzählt, dass sie ihre Gestalt manchmal ändern würde, eine grässlich gelbe Haut bekomme und dabei zittere und bebe. Zudem wüsste die Frau, dass einige sie verdächtigten, eine Hexe zu sein, und trotzdem hatte sie mit keinem Wort widersprochen. Das sei immer ein Eingeständnis von Schuld. Jonathan Dunn nickte. Margareth Wilcock würde sich wundern, wenn er sie zu sich bestellte. Natürlich würde sie alles leugnen: die Tränke, die sie aus teuflischen Stoffen braute, das Verfluchen des Nachbarn, der daraufhin verzweifelte und sich das Leben nahm, den bösen Blick, mit dem sie die Ziege der Nachbarin angesehen hatte – dabei hatte das Tier sie bloß angestoßen, als sie vorbeikam. Jemand hatte sogar von Flügen auf einem schwarzen Besen berichtet… Jonathan Dunn verzog die Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. Letzteres wurde immer wieder genannt: das Fliegen auf einem Besen. Das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er hatte so viele Hexen verurteilen lassen und immer kam das Fliegen zur Sprache, mit oder ohne Besen. Allerdings war es kaum zu beweisen, denn niemand hatte es je gesehen. Das Gerücht aber hielt sich hartnäckig, und verrückterweise gestanden die Hexen bei der Folter, dass sie geflogen waren. Dafür konnte es nur einen Grund geben: Fliegen war nun einmal die einzige Möglichkeit, zum Hexensabbat zu gelangen, der Versammlung der Hexen, bei der sie mit dem Teufel schliefen, um danach noch gefährlicher, gottloser und giftiger als zuvor zurückzukehren. Jonathan Dunn schrak aus seinen Gedanken hoch. Der Wagen hatte gehalten. Eine kleine Schafherde wurde von einem Jungen über den Sandweg getrieben; ein Hirtenhund sprang munter um die Herde herum, schnappte nach den Schafen, die trödelten, trieb sie zur Eile an. Der schlanke
schwarzhaarige Hirte beachtete den Wagen gar nicht. Er ging, offenbar tief in Gedanken versunken und mit einem düsteren Ausdruck auf dem fein geschnittenen Gesicht, weiter und verschwand auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad im Moor. Der Fuhrmann ließ seine Peitsche knallen und der Wagen fuhr knarrend los. Dunn sah dem Jungen nach. »Der kommt aus Saint Breward, dort drüben. Sein Vater ist…« Jonathan Dunn nickte, hörte aber den Ausführungen des Fuhrmanns nicht zu. Er hatte ein merkwürdiges Zittern gespürt, etwas, was er nicht einordnen konnte. Ach was, er konzentrierte sich besser auf Bodmin und Margareth Wilcock. Zuerst musste er den örtlichen Mayor sprechen und ihn über seinen Verdacht informieren. Es könnte vielleicht schwierig werden, eine angemessene Belohnung für die Anklage, die Befragung und die Verurteilung der Hexe zu bekommen. Auf dem Lande hatten die Leute mit Hexenprozessen nicht viel am Hut, sie waren verschlossen, einsilbig, argwöhnisch. Und vor allem sehr sparsam. Aber vielleicht würde Margareth Wilcock noch ein paar andere Hexen oder Zauberer verraten. Dann würde alles einfacher gehen, wäre die Belohnung für beinah dieselbe Arbeit höher. Eine Hexe verbrennen oder fünf – der Unterschied lag in der Zahl der Zuschauer.
Thomas schlenderte weiter im roten Abendlicht. Er merkte nichts von den prächtigen Himmelsfarben, sah nicht den großen Schwarm Stare über das Moor zu den Schlafplätzen fliegen, dachte nicht an das Abendessen, das inzwischen wohl auf dem Tisch stand, nicht an das Schimpfen seiner Mutter, das ihm bevorstand: Seine Gedanken kreisten immer wieder um das sonderbare Mädchen.
Thomas nickte. Sein Entschluss stand fest: Er würde sie aufsuchen, heute Abend noch, sobald er die Schafe nach Hause gebracht hatte. Er verstand noch immer nicht, was mit ihm los war, wie ein Mädchen so großen Eindruck auf ihn machen konnte. Die anderen Mädchen aus dem Dorf, aus Camelford oder Bodmin hatten nach einem Treffen nicht eine Spur in seinen Gedanken hinterlassen, nicht den leisesten Kratzer auf seiner Seele. Das unbekannte Mädchen dagegen, das noch kein einziges Wort gesagt hatte, hatte ihn derart durcheinander gebracht, dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Er konnte sich das Ganze nicht erklären. Dennoch fühlte er sich sonderbar glücklich, wie jemand, der endlich nach Hause gekommen war. Das verwirrende Verlangen nach der ersten Begegnung war inzwischen einer Gewissheit gewichen, die einem sanften Streicheln glich, einer Zärtlichkeit, die ihn tröstend wiegte. Es schien, als wäre das Mädchen die Einzige auf der Welt, die hörte, was er mit Worten nicht sagen konnte. Das Unaussprechliche. Meine Liebste ist eine Taube im Baum, eine Blume, eine Wolke, ein stiller Traum. Ihre silberne Stimme erhellt meine Tage, mein Herz ihr zu schenken, kaum dass ich’s wage. Meine Liebste, liebe Liebste, Morgentau, meine Mittagssonne, mein Abend blau, ich liebe dich, komm, werd meine Frau! Thomas sang, schrie, weinte den Refrain des Liedes, das er auf dem Markt zufällig gehört hatte und das jetzt erneut, Wort für Wort, Ton für Ton, in seinem Kopf erklang. »Melany?« Father Downe lugte um die Ecke. Melany Belloun sah auf. Sie wusch gerade das braunrote Steingut ab, in dem sie das Abendessen zubereitet hatte. »Father Downe?«
»Ich suche Thomas. Gestern konnte ich ihn im Moor nicht finden. Ist er zu Hause?« Downe versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Nein, Father, ich weiß auch nicht, wo er bleibt. Mein Mann und sein Vater haben schon gegessen. Sie machen gerade Heu. Jetzt ist das Wetter noch gut, aber man weiß nie, wann Regen kommt. Thomas wird sicher gleich da sein. Wollen Sie auf ihn warten?« Melany Bylloun wurde nervös. Wenn die Männer den Gemeindehirten im Haus antrafen, würde sie den Grund für seinen Besuch sagen müssen. Und das würde mit Sicherheit Ärger geben. »Nein«, sagte Downe. »Hast du eine Ahnung, wo er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hat?« Melany Bylloun zögerte, aber dann beschloss sie, mit offenen Karten zu spielen. Sie war eine tiefgläubige Frau und Father Downe war schließlich ein Geistlicher, ein Seelenhirte. »Thomas hat sie zuerst bei den Heulern gesehen. Damals dachte er, sie wäre der Geist von Mary Finnemore. Später hat er sie noch mal gesehen, im Moor. Sie hatte sich den Fuß verstaucht…« Downe hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen. Das Mädchen, das auf der Krücke herumgehinkt war. Das also war sie gewesen, genau wie er gedacht hatte. Das Ebenbild ihrer Mutter, der auf geheimnisvolle Weise verschwundenen Mary Finnemore. Denn an die Geistergeschichte glaubte er nicht mehr. Es sei denn… »Thomas hat sie zur Hütte der Kräuterfrau gebracht.« Father Downe nickte lächelnd. »Father, Sie müssen mit Thomas sprechen.« »Ich freue mich schon darauf. Noch einen schönen Abend, Melany!«
Im gleichen Moment, als Downe die Tür öffnete, um zu gehen, traten Thomas’ Vater und Großvater ein. »Ist der Junge immer noch… Oh, Father!« Großvater Bylloun murmelte etwas Unverständliches. Er hatte kein Bedürfnis, mit dieser schwarzen Krähe zu sprechen, die in den Herzen der Leute herumpickte und ihre Schwächen wie Leckerbissen fraß. »Bis dann, Melany!«, sagte Downe, nickte den Männern zu und ging. Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Was wollte er?«, fragte Ben Bylloun. »Ich habe ihn gebeten, mit Thomas zu sprechen. Er ist nicht mehr er selbst…« »Du bist verrückt! Er ist einfach nur durcheinander, seit er das Mädchen gesehen hat!« »Er behauptete, es sei der Geist von Mary Finnemore!« »Hast du das etwa Downe erzählt?« Großvater Bylloun verdrehte die Augen zur Zimmerdecke. »Melany, wo hast du nur deinen Verstand gelassen? Der Junge tut nichts Unrechtes, lass ihn doch!« In dem Moment stieß Thomas die Tür auf. Drei Augenpaare sahen ihn fragend, zweifelnd, forschend an.
»Downe!« Der Geistliche, der in Gedanken versunken durchs Dorf ging, blieb überrascht stehen. Wer rief da seinen Namen? »Oh, Mylord! Guten Abend, Mylord!« Lord Galsworthy nickte. »Ich bin gerade bei dir gewesen. Vergeblich.« »Ich habe einen Hausbesuch gemacht, Mylord. Selbst wenn die Herde ruht, muss der Hirte wachen.«
Lord Galsworthy machte ein gelangweiltes Gesicht. Zu Spaßen war er nicht aufgelegt. »Ich will dich sprechen.« Downe nickte untertänig. »Was soll der Unsinn mit dem Geist der Mörderin?« »Darüber habe ich gerade gesprochen, und zwar mit…« »Du weißt also Näheres?« »Sicher, Mylord, ich habe die Geschichte auch gehört, aber ich dachte…« Lord Galsworthy seufzte und schlug ungeduldig mit der Reitpeitsche in die Handfläche. »Was dachtest du?« »Ich dachte, es ist besser, mich erst einmal umzuhören, um dann, falls nötig, mit Mylord zu sprechen.« »Und darüber entscheidest also du, Downe?« Der Geistliche sah zu Boden. Lord Galsworthy war ein kräftig gebauter, breitschultriger Mann, der sogar mit seinen dreiundsiebzig Jahren noch zur Jagd ging, ritt und seine Ländereien mit eiserner Hand verwaltete. »Mylord, ich…« »Du, Downe, sorgst dafür, dass dieser Unsinn aufhört, verstanden? Ich will nicht, dass die ganze Geschichte wieder aufgerollt wird. Mein Sohn wurde ermordet, Gott sei seiner Seele gnädig, und die Mörderin läuft noch frei herum. Aber irgendwann werde ich sie finden! Glaubst du, dass etwas an der Geschichte…« Downes bleiche Hände machten eine abwehrende Geste. »Nein, Mylord, ich glaube, der junge Thomas Bylloun hat geträumt. Ich werde es herausfinden, Mylord, und wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass es Schwierigkeiten geben könnte, werde ich nicht versäumen, es Sie wissen zu lassen.« »Du wirst noch mehr tun, Downe, du wirst diese Schwierigkeiten beseitigen! Verstanden? Ich dachte, dass du dafür entlohnt wirst?«
»Jawohl, Mylord!« »Und keinen Rummel, verstanden! Ich will nicht, dass die alte Geschichte erneut die Runde macht. Schreib dir das hinter die Ohren!« Ohne ein Wort des Abschieds, ohne Downe auch nur eines Blickes zu würdigen, ging Lord Galsworthy davon. Sein Pferd hatte er am Zaun des Friedhofs festgebunden. Behände wie ein junger Mann schwang er sich in den Sattel, gab dem Tier die Sporen und galoppierte fort, Richtung Wenfordbridge.
»Ich will nichts mehr davon hören, verstanden?« Ben Bylloun war rot vor Wut. »Vater, ich…« »Du hältst den Mund! Du bist gerade mal trocken hinter den Ohren, und ich will nicht, dass du dich mit Mädchen herumtreibst, und schon gar nicht mit Mädchen, die wir nicht kennen. Willst du, verdammt noch mal, dass wir aus dem Haus vertrieben werden? Glaubst du, Mylord hat schon vergessen, dass Mary seinen Sohn verführt hat und danach…« »Junker Stephen hat sie… Das erzählt ihr doch immer selbst, wenn…« Ben Bylloun schnitt ihm das Wort ab. »Das glaube ich schon lang nicht mehr! Sie hat ihm den Kopf verdreht, und als er sich nehmen wollte, was sie angeboten hatte, hat sie Schwierigkeiten gemacht. So sind Frauen nun mal. Aber darum geht’s jetzt nicht. Jeder weiß, dass Mylord noch immer wie besessen auf der Suche nach der rothaarigen Teufelin ist.« Thomas wunderte sich über den heftigen Ausbruch seines Vaters. Es gab doch keinen Grund für all die Wut. Oder doch? Hatte sein Vater vielleicht etwas mit Mary gehabt? Möglich wäre das natürlich. Mary war damals oft bei ihnen gewesen. Thomas erinnerte sich an ein früheres Gespräch. Hatte
Großvater damals nicht gesagt, er hätte keine Zeit gehabt, sich mit jungen Mädchen zu beschäftigen, und mit Nachdruck hinzugefügt: »…dafür war ich schon zu alt!« Wollte er damit etwa sagen, dass jemand anderes, Vater vielleicht, nicht zu alt gewesen war? Sein Vater verliebt in Mary? Jungen, die einen Korb bekommen hatten, redeten oft schlecht über das Mädchen, das sie zuvor noch angebetet hatten. Thomas betrachtete seinen Vater, sah die tiefe Falte auf der Stirn. Ja, vielleicht hatte er richtig geraten. Großvaters Gesicht sprach Bände. »Thomas, du tust deine Arbeit, und du, Melany, sagst zu dem Säufer Downe, dass alles in Ordnung ist. Ich will keine Scherereien, verstanden?« Ben Bylloun sank auf einen Stuhl neben dem Kamin und starrte in die schwarze Öffnung. Dort glühten die letzten Holzstückchen, auf denen seine Frau das Abendessen gekocht hatte. Rote spottende Augen? Thomas ging zur Tür. Niemand sagte etwas. Er lief hinaus in die Nacht.
Die Kräuterfrau streichelte das rote Haar des Mädchens. »Dein Fuß heilt schnell. Noch ein paar Tage, und du wirst wieder herumrennen wie früher.« Das Mädchen lächelte. »Du verstehst mich, aber du kannst nicht sprechen, stimmt’s?« Das Mädchen nickte. »Kannst du auch nicht schreiben?« Die Kräuterfrau seufzte. Dieses Gespräch hatte sie jetzt schon viele Male geführt. Sie wusste nicht, was sie mit dem Mädchen
machen sollte. Sie war wie ein wildes Tier, das kam und ging, wie es wollte. Den ganzen Tag über war das Mädchen weg gewesen. Jetzt war sie wieder zurückgekommen, den Geruch nach Moor und Sonne auf der Haut. Hungrig hatte sie sich auf das Graubrot und die Moosbeeren gestürzt, die die Kräuterfrau auf dem Tisch hatte stehen lassen. Danach hatte sich das Mädchen auf den Boden gesetzt und durch Zeichen deutlich gemacht, dass die Kräuterfrau den Fuß versorgen sollte. Sie hatte Johanniskraut und Arnika in Wasser gekocht und frische Umschläge um das noch blau geschwollene Fußgelenk gemacht. Später hatte das Mädchen selbst den Fuß mit einer Salbe aus Brennnesseln, Ackerschachtelhalm, Wacholderbeeren und Minze eingerieben. »Du bist wild, ich will dich nicht einsperren«, sagte die Kräuterfrau. »Allerdings befürchte ich, dass andere es versuchen werden. Du bist ein Donnerschlag bei blauem Himmel, eine Warze auf der Nase von Saint Breward. Vielleicht weißt du’s nicht, aber du siehst jemandem sehr ähnlich, jemandem, den manche hier aus unterschiedlichen Gründen vergessen wollen.« Das Mädchen sah die Kräuterfrau sehr ernst an. Dann nickte sie, zuckte mit den Schultern und warf ihr rotes Haar zurück, das ihr in Wellen über den Rücken fiel. Eine wilde, freie Bewegung. Die Frau zog ihren Kapuzenumhang enger um sich. Obwohl die Luft noch warm war, war ihr kalt. Angst, Unruhe, Müdigkeit. Wo war das Mädchen? In dem kleinen Dorf am Rande von Dartmoor hatte sie noch jemand gesehen, aber danach schien sie sich in Luft aufgelöst zu haben. Der Frau lief ein Schauer über den Rücken. Nein, sie wagte sich nicht in Richtung Bodmin.
7. HEXE! HEXE!
Thomas zögerte. Die Hütte der Kräuterfrau zeichnete sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Thomas fühlte sein Herz schneller schlagen. Er würde das Mädchen Wiedersehen, vielleicht erfahren, wer sie war. Wieso nur hatte er bei der ersten Begegnung annehmen können, sie sei ein Geist? Jetzt konnte er nur lächeln, wenn er an seine Angst dachte. Blitz, Regen, die Atmosphäre des Moors, seine Fantasie, die Geschichte von der schönen Mary Finnemore… Die Tür der Hütte öffnete sich, ein Lichtviereck fiel aufs Gras; in der Türöffnung stand die Kräuterfrau. Thomas erkannte sie an der kantigen Gestalt, dem fransigen Kopftuch und der spitzen Nase. »Wer ist da?« Hatte ihn die Kräuterfrau gehört? Wie war das möglich? Erst da merkte Thomas, dass sich jemand aus dem Dunkel löste und ins Licht trat. Dreispitz, Kniehose, Schuhe mit Silberschnallen… Father Downe? Was wollte der bei der Hütte? Thomas duckte sich, gespannt, neugierig, ängstlich, ohne zu wissen, warum. Die Tür schloss sich wieder. Fast sofort setzte sich Thomas in Bewegung. Er wollte hören, was drinnen geredet wurde; er hatte das Gefühl, dass er etwas damit zu tun hatte. Keine zwanzig Sekunden später drückte er sich an die Holzwand der Hütte, dicht am Fenster. »Welches Mädchen meinst du eigentlich?« Die Stimme der Kräuterfrau klang hart, kühl, ausweichend.
»Komm schon, Frau, du weißt sehr wohl, dass hier ein unbekanntes Mädchen wohnt«, sagte Nicholas Downe salbungsvoll, Freundlichkeit heuchelnd. »Ich wohne hier.« »Darf ich mich setzen?« Zum ersten Mal wagte Thomas es, in die Hütte zu spähen. Er war schon einmal bei der Kräuterfrau gewesen, aber im Dunkeln sah alles ganz anders aus. Über einem Torffeuer hing ein schwarzer Kessel an einem Haken und vor dem Kamin waren Kräutersträuße zum Trocknen aufgehängt. Auf einem Holzregal standen Flaschen, Tiegel und Krüge. Neben dem Kamin lehnte ein Besen. Die schweren dunklen Möbel waren glänzend poliert. Vorm Kamin lag zusammengerollt eine Katze und schlief, der Besuch schien sie nicht zu stören. Downe hatte seinen Dreispitz auf den Tisch gelegt und wischte sich mit einem rot karierten Taschentuch die Stirn, auf der die Kopfbedeckung einen roten Striemen hinterlassen hatte. »Ich will ihr nichts Schlechtes«, sagte Downe lächelnd. »Wer ist das Mädchen und wo ist sie?« »Father, ich empfange in meinem Haus, wen ich will, und wenn ich keine Fragen stellen will, tu ich’s auch nicht…« »Du gibst also zu, dass sie hier ist? Ich will sie sprechen.« Thomas spähte weiter durchs Fenster. Die Kräuterfrau stand jetzt am Tisch, auf ihre kräftigen Fäuste gestützt, und sah Downe direkt in sein rotes Gesicht. »Und was glaubst du, wer du bist, dass du hier Forderungen stellst?« Sofort hob der Gemeindepfarrer beschwichtigend die Hände und schüttelte den Kopf. »Warum regst du dich so auf? Ich habe gehört, dass sich ein fremdes Mädchen bei dir aufhält; jemand hat mir erzählt, sie sei der Geist von Mary Finnemore – Unsinn natürlich; jemand
hat sogar gesagt, sie sei schöner als der Frühling, ihr Körper sei…« Downe brach ab, hüstelte, leckte sich die Lippen. »Da gibt’s ja eine ganze Menge Leute, die etwas über sie wissen. Die wissen mehr über sie als ich.« Downe beugte sich vertraulich vor. »Ich mache mir doch nur Sorgen, Frau. Mylord hat die Gerüchte auch gehört, und jeder weiß, wie sehr er noch um seinen Sohn trauert…« Die Kräuterfrau schob einen Stuhl heran, setzte sich und legte die Unterarme auf den Tisch. »Ich glaube, Father, du hast mich noch immer nicht verstanden. Es ist mir völlig egal, was mit Mylord ist, es ist mir egal, was die Leute im Dorf sagen, ich versteh nicht, was du hier willst, und ich bin müde. Außerdem ist es nicht gut für eine unverheiratete Frau, wenn sich die Leute erzählen, dass sie abends in ihrer einsamen Hütte Herren empfängt. Und du weißt besser als jeder andere, wie schnell getratscht wird.« Thomas grinste – das saß! Nicholas Downe starrte die Kräuterfrau mit offenem Mund an. »Frau, ich bin der Hirte der Gemeinde, ich bin…« »Father, muss ich dich daran erinnern, dass auch Peter Strongfellow in Bissland Hirte einer Gemeinde war? Hast du schon vergessen, dass er letztes Jahr eingesperrt wurde, weil er die Frau eines Gemeindeglieds auf eigenartige Weise ›gesegnet‹ hatte? Father, ich bin eine unverheiratete Frau.« »Ich… äh… ich wollte euch beide einladen, dem Gottesdienst beizuwohnen. Gott, den Schöpfer der Welt, zu loben. Das Mädchen und du täten besser daran…« »Danke, Father. Ich fühle mich hier Gott sehr nah und glaube nicht, dass ich ihm besser dienen könnte, wenn ich ein Dach zwischen meinem Kopf und dem Himmel hätte.«
Downe sprang wütend auf. Sein Gesicht war rot angelaufen, an seiner rechten Schläfe klopfte eine Ader. »Frau, du lästerst Gott!« Die Kräuterfrau lachte kurz auf. Downe zeigte alle Anzeichen von Wahnsinn. Sie hatte sonderbare Geschichten über ihn gehört; er schien sogar seinen eigenen Körper zu verachten, hielt ständig erbitterte Reden über das sündige Fleisch. Sie hätte viel darum gegeben zu wissen, was sich in den Tiefen seiner Seele tat. Er könnte gefährlich werden, aber deswegen wollte sie ihre Ideale nicht verleugnen. »Nein, Father, das tu ich nicht. Gott ist überall, hier auf meinem Hügel, dort im Bodmin Moor, da auf Alex Tor, auch bei den Heulern, in deiner Kirche ebenfalls. Aber sage mir, warum sollte ich dann ausgerechnet den einen Ort auswählen? Die Bäume hier sind schöner als die Granitsäulen in deiner Kirche, das spiegelnde Sonnenlicht in den Pfützen heller als deine Kerzen, der Duft meiner Kräuter voller als der Nebel deines Weihrauchs, der freie Himmel höher, strahlender als deine morsche Decke und die Gespräche des Windes mit den Vögeln, den Bienen und den Blumen so viel heiliger als die Worte des Menschen. Die Wärme des Sommers ist wirklich warm, die Kraft des Sturms wirklich stark, hier gibt es nichts, was heuchelt, alles ist echt, so wie Gott es geschaffen hat. Warum also sollte ich in deine Kirche kommen?« Thomas dachte nicht mehr daran, sich zu ducken. Er war von den Worten der Kräuterfrau wie hypnotisiert. Father Downe stand bewegungslos da. Die Worte dröhnten in seinem Kopf, jagten das Blut durch seine Adern. »Für diese Worte wirst du brennen«, zischte er. »Brennen in der Hölle!« »Wieso fängst du zu drohen an, sobald du keine Antwort weißt? Wieso denkst du nicht erst mal nach über das, was ich
und andere sagen? Auch wir sind Geschöpfe deines ewigen Gottes, Wesen mit Vernunft und Verstand. Wieso solltest nur du allein wissen, was gut und böse ist? Das ganze Dorf versuchst du mit deinen Drohungen niederzumachen und du kannst sie noch nicht einmal selbst ausführen!« Jetzt stand die Kräuterfrau auf und ging zur Tür, um sie für den Geistlichen zu öffnen. Der holte auf einmal aus und schlug die Frau mitten ins Gesicht. »Der Herr gibt mir die Macht!«, brüllte er und hatte tatsächlich Schaum vorm Mund. Die Kräuterfrau kam einen Schritt näher und drehte ihren Kopf. »Der Herr hat gesagt, man solle die andere Wange hinhalten, wenn man geschlagen wird. So schlag, Father Downe, schlag zu!« Der Geistliche hob die Hand, zögerte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schlug dann, so fest er konnte, auf die ihm hingehaltene Wange. »Hexe!«, schrie Downe. »Hexe! Teufelsweib!«
Hölzern und stolpernd, wie eine übergroße Vogelscheuche, rannte Downe den Hügel hinab; er rutschte aus, fiel, rappelte sich auf, drehte sich zur Hütte um. Die Kräuterfrau stand mit erhobenem Haupt in der Tür. »Dich krieg ich! Dich krieg ich!«, schrie Downe und schüttelte beide Fäuste. »Nur zu, Downe, setz dich an die Stelle Gottes! Hat er nicht gesagt: ›Mein ist die Rache!‹? Willst du etwa…« Die letzten Worte hörte Downe nicht mehr. Er hielt beide Hände an die Ohren. War die bewegungslose Gestalt dort oben etwa stärker als er? Kein Wort schien sie zu treffen, keine Schläge brachten sie zum Schweigen. Die Frau hatte ihn aus
der Fassung gebracht! Wie seine Hände zitterten! Wie machte sie das? Wieso kam er nicht gegen sie an? Welche Teufelskünste hatte sie eingesetzt? War er nicht Nicholas Downe? Hatte der Herr ihm nicht den Auftrag erteilt, das Böse mit allen Mitteln zu bekämpfen? War diese Frau nicht das lebende, sprechende Böse? Seine Wut wich eiskalter Entschlossenheit. Er würde sie kleinkriegen, mit allen Mitteln, die ihm der Himmel und die Erde zur Verfügung stellten. »Die Pforten der Hölle werden mich nicht überwältigen!« Diese Worte schrie er, als er durch das Moor stapfte, ohne zu wissen, wohin.
»Komm nur rein, Junge!«, sagte die Kräuterfrau und drehte den Kopf in seine Richtung. Thomas erschrak. »Ja, ich hab dich da am Fenster stehen sehen. Was willst du?« Thomas lächelte gequält, fand keine Worte, wusste nicht, wohin mit seinen Armen, die auf einmal viel zu lang schienen. »Ich war…« »Erzähl mir nicht, dass du zufällig in der Nähe warst. Niemand kommt einfach so. Suchst du das Mädchen?« Die Stimme der Frau hatte wieder den harten Tonfall wie bei ihrer letzten Begegnung. »Ich hab mich gefragt, wie’s wohl ihrem Fuß geht.« Die Kräuterfrau trat einen Schritt zur Seite und ließ Thomas herein. »Sieh dich nur um«, sagte die Frau. »Sie ist nicht da. Ich weiß auch nicht, wo sie ist, wann sie zurückkommt, wieso sie immer wieder verschwindet, was sie tut oder denkt. Ihr Fuß heilt jedenfalls schnell.«
Thomas drehte sich überrascht um, sah in die traurigen Augen der Kräuterfrau. »Das wolltest du doch wissen, oder?« Thomas nickte, lächelte und zuckte mit den Schultern. »Oder gibt’s noch was?« »Father Downe ist wohl sehr, sehr böse geworden, nicht?« Der Gesichtsausdruck der Kräuterfrau veränderte sich; das Harte, Kantige verschwand und sie entspannte sich. Auf einmal erinnerte sie Thomas an seine Mutter. »Ach, der! Willst du was trinken?« Thomas nickte. Er hätte alles Mögliche getan, um länger bleiben zu dürfen. Vielleicht kam das Mädchen ja doch noch. Die Frau streute Kräuter in einen großen Steingutbecher und schöpfte heißes Wasser aus dem Kessel über dem Torffeuer. Ein strenger, bittersüßer Geruch erfüllte den Raum. Thomas nahm den Becher mit einem höflichen Nicken entgegen und atmete den Duft tief ein. »Downe«, sagte die Kräuterfrau, »ist ein gefährlicher, blinder Verrückter. Blind ist er, weil er nur seine Wahrheit sieht. Er hat Angst und deswegen ist er gefährlich. Er ist ein Mensch und deswegen kann er hassen. Darum ist er gefährlicher als jedes Tier. Er ist auch so verrückt zu glauben, er wäre von Gott auserwählt, das Böse zu bekämpfen. Alles, was er hasst, weil er es nicht hat oder weil er es nicht kriegen kann, ist für ihn ›das Böse‹.« Die Kräuterfrau hatte halblaut vor sich hin gemurmelt, als ob es ihr egal wäre, ob Thomas sie verstand oder nicht. Sie starrte nach draußen, in die Nacht, aber ihr Blick hatte etwas Schwebendes, ihre Gedanken schienen im Raum umherzuflattern. »Downe hat mich geschlagen, aber mich nicht kleingekriegt. Er wird erneut versuchen, mich zu treffen, nicht mehr mit seinen Fäusten, sondern auf gemeine, hinterhältige Weise. Er
wird mit der Tugend in seinem Wappenschild aufkreuzen, hinter der Fahne des Glaubens, an der Spitze seines Heers von gutgläubigen Angsthasen!« Thomas schlürfte von dem Kräutertrank, einfach um etwas zu tun zu haben. Die Flüssigkeit streichelte seine Kehle, strömte warm durch den Körper. Trotzdem zitterte er. »Geh ihm aus dem Weg, Junge.« Thomas nickte. »Und bleib von dem Mädchen weg.« Die Kräuterfrau sah ihm jetzt direkt in die Augen. »Ich? Warum? Sie ist…« »Sie ist ein Mädchen mit roten Haaren und ohne Namen, aber mit einem prächtigen Körper, ein Mädchen ohne Vergangenheit, ohne Worte, sie gehört zu niemandem…« Thomas verstand die geheimnisvollen Worte nicht. Natürlich war sie ein Mädchen. »Thomas, geh ihr aus dem Weg!« Die Stimme der Kräuterfrau klang ängstlich und zugleich gebieterisch, als sähe sie Dinge, die er nicht sehen konnte. Thomas schüttelte den Kopf. »Ich will sie Wiedersehen. Ich darf sprechen, mit wem ich will. Downe soll sich lieber selbst eine Frau suchen, anstatt sich in das Leben anderer einzumischen!« Das waren die Worte seines Großvaters, aber Thomas sprach sie aus, als wären sie von ihm. »Das sagt mein Großvater auch«, fügte er rasch hinzu. »Was soll daran Schlimmes sein, wenn ich sie wiedersehe?« »Hast du mir nicht zugehört? Downe hasst alles, was er nicht hat! Freundschaft, Liebe, Wärme, Gefühle wie Sehnsucht. Das ist für ihn ›das Böse‹.« Thomas verstand jetzt besser, was die Kräuterfrau vorhin gemeint hatte. Er erinnerte sich an den Tag, als er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Damals im Regen
hatte Downe ihn wegen der »Sünde des Fleisches« angesprochen. Schon da hatte Thomas bemerkt, dass Downe offenbar manches durcheinander brachte, von etwas besessen war, was Thomas nicht deutlich war – damals noch nicht deutlich war. »Ich… sie hat niemanden… warum sollte ich… morgen komm ich mit den Schafen vorbei. Vielleicht hat sie ja Lust mitzugehen.« Die Kräuterfrau lächelte und nickte. »Komm morgen ruhig vorbei, Thomas. Ich werde dich nicht abhalten. Aber denk gut darüber nach. Du kennst das Mädchen nicht, niemand kennt sie, du weißt nicht, was sie…« »Ich will sie ja nicht gleich heiraten!«, warf Thomas dazwischen. »Was willst du dann?« Thomas zuckte mit den Schultern. Was für eine Frage! Er wollte einfach in ihrer Nähe sein, einfach die Sonne in ihren Haaren sehen, den Regen auf ihrer Haut, den Wind mit ihrem weißen Kleid spielen sehen. Er wollte ganz einfach für sie sorgen, ihr Freund sein, sie beschützen, sie… »Thomas, ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber ich fühle etwas wie einen Winterwind aufkommen. Ich habe Angst, Thomas. Scheinheilige Schufte wie Nicholas Downe geben nicht eher Ruhe, bis alles, was klar war, schmutzig ist, alles, was im Mund süß war, bitter schmeckt, aus der Sonne ein Höllenfeuer wird und ein Schmetterling wie eine Fledermaus aussieht! Sei wachsam, Thomas, das Moor ist nicht die ganze Welt und niemand kann Liebe oder Schmerz aus seinem Leben verbannen. Sie sickern überall durch.« Die Kräuterfrau stand auf, legte die Hand auf Thomas’ Kopf und strich durch sein Haar. »Du gehst besser nach Hause«, sagte sie. »Und nimm dich vor der Weißen Frau in Acht!«
Thomas hob erschrocken den Kopf, konnte aber von ihrem Gesicht nichts ablesen. Hatte sie wirklich die geisterhafte, geheimnisvolle Frau aus den Gruselgeschichten gemeint?
8. DIE VERZAUBERUNG
Mit leichtem Widerwillen sah Dunn sich um. Die einzige Herberge von Bodmin war ein tristes Gebäude aus grauem Stein mit kleinen Fenstern, durch die nie die Sonne schien. Die Wände des Zimmers waren kalt und feucht, und das Feuer, das der Wirt im Kamin entfacht hatte, konnte die Kälte nicht vertreiben. Dunn nickte. Bodmin war tatsächlich ein Nest, in dem nichts los war. Mit Sicherheit würde er diesen Auftrag möglichst schnell hinter sich bringen. Dunn, der Hexenjäger, war in Bodmin nicht willkommen. Der Mayor hatte kaum ein Wort gesagt. Und er hatte hilflos mit den Schultern gezuckt, als Dunn erklärte, die Kosten für den Hexenprozess würden zwei Pfund in Gold betragen, das Holz für den Scheiterhaufen, das Bodmin selbst liefern musste, nicht mitgerechnet. Es war ein schwieriges, unangenehmes Gespräch gewesen. Daran war auch der junge Geistliche schuld, der sich bei jeder Gelegenheit eingemischt hatte. »Sie reden, als wäre das Urteil schon gesprochen.« Dunn sah den jungen Mann, der beim Mayor gesessen hatte, wieder vor sich. Ein blonder Mann mit einem offenen, ehrlichen Blick. So einen musste man im Auge behalten. Wie war sein Name doch gleich wieder? Genau, Cardew. Father Cardew. Natürlich würde Cardew einen Hexenprozess nicht verhindern können, aber er konnte es Dunn schwer machen, Fragen stellen nach dem Wie und Warum. Dunn arbeitete lieber allein. Ein Geständnis war ein Geständnis, und wie man daran kam, spielte keine Rolle. Er würde schon sehen.
Jonathan Dunn zog sein Hemd aus, kniete sich neben das Bett und stützte den Kopf in die Hände.
Die Frau nickte dankbar, als sie die Steingutschüssel mit warmer Suppe nahm. »Du meine Güte, jetzt seh sich einer die Füße an! Du musst mindestens drei Tage ausruhen! Wie lange läufst du schon so?« Die Frau lächelte. »Ach, ich bin Schlimmeres gewöhnt. Ich suche ein Mädchen. Rote Haare…« Winnifred Bawden, die alte Witwe, die am Rand von Chagford ein baufälliges Häuschen bewohnte, runzelte die Stirn. »So ungefähr sechzehn? Sagt kein Wort?« Die Frau nickte. Ihr Herz schlug schneller. Elisabeth, Betty, wie sie sie nannte, war also hier gewesen. »Ich habe sie gesehen«, sagte die Witwe. »Dachte, sie gehört zu der Horde Zigeuner, die neulich vorbeikamen. Drei Planwagen… Was ist mit ihr?« Die Frau hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie schluchzte, ihr Brustkorb hob und senkte sich. Angst? Erleichterung? »Sie sind Richtung Bodmin gezogen, quer durchs Dartmoor.«
Nicholas Downe vermochte nicht zu sagen, warum er nicht auf direktem Wege ins Dorf zurückgekehrt war. Hatte eine höhere Macht seine Schritte gelenkt? War er in einer Art Vision weitergelaufen? Hatte eine Stimme ihn gerufen? Wieso hatte er den beinah unsichtbaren Schlängelweg gewählt? Wieder hing der Mond milchweiß am blauschwarzen Himmel und ritzte Schattenstreifen in die Heide und Tümpel von Bodmin Moor.
Die Heuler ragten drohend in der nun fast weihevollen Stille empor. Nur der Wind schien unverständliche Worte zu murmeln. Downe runzelte die Stirn und blinzelte. Konnte er seinen Augen trauen? Saß da ein Mädchen auf dem flachen Stein? Wehte der Wind ihre Haare hoch? Trug sie ein weißes Kleid? Downe blieb stehen, schloss die Augen, versuchte, das wilde Schlagen seines Herzen zu bändigen, schluckte, stöhnte. Wollte Gott ihn denn immer wieder auf die Probe stellen? Oder war das ein Zeichen? War es schon jetzt Zeit für das Opfer? Vorsichtig ging er den Hügel hinab. Das Mädchen blieb auf dem Stein sitzen, die Beine ausgestreckt, auf die nach hinten gestreckten Arme gestützt, den Kopf in den lauen Nachtwind erhoben, der das Kleid an ihren Körper drückte, wodurch sich jede einzelne Rundung abzeichnete. Downe schlug die Hände vors Gesicht, versuchte zu beten. Herr, lass diesen Krug an mir vorübergehen! Hilf mir, Herr, ich sterbe! Nicht mein Wille…
Thomas schlenderte weiter, kickte ab und zu einen Stein aus dem Weg, sah zum Mond, über die Heide und die silbern glänzenden Tümpel des Moors. Er holte tief Luft. Was war mit ihm los? Er hatte mehr Fragen als Haare auf dem Kopf. Es hatte nicht erst mit dem sonderbaren Mädchen angefangen, sie hatte lediglich das Feuer angefacht, dessen Glut bereits unsichtbar geschwelt hatte. Genau wie ein Heidebrand war es plötzlich aufgelodert, verzehrend, schnell um sich greifend. Seine alte Welt war ein Haufen Asche, und er musste erst noch die Steine finden, um ein neues Haus zu bauen, in dem er weiterleben konnte. Seine Eltern kamen ihm auf einmal wie Fremde vor, Downe war eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden hing und die
verrücktesten Sprünge machte; die Kräuterfrau verstand ihn, aber er verstand sie nicht. Oder traute er sich nicht, sie zu verstehen? Seine Freunde aus dem Dorf waren zu Schemen geworden, die Vergangenheit zu einem staubigen Dachboden. Das Mädchen jedoch war in ihm, in seinem Kopf, überall war sie bei ihm. Sie war ein lebendes, ab und zu auftauchendes und dann wieder verschwindendes Geheimnis, das er ergründen wollte. Sie war wie ein Frühlingstraum, unfassbar. Eins aber wusste er mit Sicherheit: Er würde sie Wiedersehen. Die anderen nahmen ihn nicht ernst, wollten ihn festhalten, ihn mit den alltäglichen Dingen beschäftigen. Kümmere du dich um deine Arbeit, das ist schon schwierig genug, Thomas. Tommie, du bist noch so jung! Sag deine Gebete, Thomas, hüte dich vor der Sünde des Fleisches! Zu meiner Zeit gaben wir den Mädchen einen Kuss, einen Klaps auf den Po – aber wir hatten wegen ihnen keine schlaflosen Nächte! Wisst ihr, dass der junge Bylloun auf rosaroten Wolken schwebt? Vater, Mutter, Kirche, Dorf… »Ich will dich Wiedersehen!«, schrie Thomas, um den Druck in seiner Brust loszuwerden. »Ich will dich sehen, mit dir sprechen!« Er lauschte. Irgendwo hörte er ein Käuzchen spottend rufen. Das Mädchen lauschte der Nacht, dem Wind, ihren eigenen Gedanken. Wieso zog es sie immer wieder zu den Steinen? Sie waren für sie zum Mittelpunkt der Welt geworden. Die Kräuterfrau war sehr nett, ließ sie kommen und gehen, stellte keine Fragen, aber auch sie verstand nicht, was in ihr vorging. Konnte sie es denn selbst verstehen? Auf den Gesichtern der Menschen, die sie traf, las sie sonderbare Geschichten. Sie machten sie scheu, unruhig, ängstlich. Und dann war da noch ihr Körper, so anders als früher. Er wollte vollkommen frei sein, von der Luft, vom Wind, vom Wasser gestreichelt
werden. Ihr Kleid erschien ihr wie ein Kokon, aus dem sie schlüpfen musste. Sie lächelte und schloss die Augen, wiegte den Kopf hin und her und merkte, wie sie langsam zu schweben anfing, ein Vogel wurde, ein Schmetterling, der vom lauen Wind getragen wurde. Warum musste sie immer wieder zu den Heulern? Welche geheime Anziehungskraft hatten sie? Was war hier geschehen? Wieso hatte ihre Mutter den Namen der Steine immer wieder in ihren Fieberträumen genannt? Es hatte Monate gedauert, bis sie herausgefunden hatte, wo sich die Steine befanden. Und nun, da sie hier war, kreisten ihre Gedanken um ein tiefes schwarzes… Was war das? Auch wenn sie in eine Art Trance versunken war, lauschte sie so aufmerksam wie immer. Das Mädchen drehte sich um. Ein Mann kam auf sie zugerannt und fuchtelte wild mit den Armen. Er war groß und kräftig, hatte eine schwarze, halblange Jacke und eine Kniehose an. Der Mond spiegelte sich in den silbernen Schnallen seiner Schuhe. »Weg, Teufelsweib! Verschwinde!« Nicholas Downe schrie. Er zitterte am ganzen Körper, er kämpfte gegen etwas, wovon er geglaubt hatte, es wäre vor langer Zeit in seinem Körper erloschen. Das Mädchen zuckte zusammen und wollte rasch aufstehen. Sie tastete nach dem Stock, der neben ihr lag. Aber Downe war schneller und schnappte ihr den gegabelten Stock unter den Fingern weg. »Wer bist du?«, fragte Downe. Für ihn stand es inzwischen fest: Dies war das Mädchen, von dem Melany Bylloun gesprochen hatte, das Mädchen, das den jungen Thomas verhext hatte, das Mädchen, das bei der Kräuterfrau wohnte, das Mädchen, das er im See gesehen hatte, im Teufelssee.
Das Mädchen rutschte auf dem Stein nach hinten. In ihrem Blick lag keine Angst, wohl aber eine Drohung. Downe schluckte. »Komm zu mir!« Er versuchte, seine Stimme freundlich klingen zu lassen, betörend freundlich. Aber das Mädchen misstraute ihm. Die Geschichte, die sie vom Gesicht des schwarz gekleideten Mannes las, war voller Hass, Neid und alles verzehrender Leidenschaft. Und wieso nannte er sie plötzlich »Irene«? Sie hieß Elisabeth, Betty, wie ihre Mutter sagte. Downe lächelte immer noch, aber in seinem Kopf ging alles durcheinander. Die Zeit und der Ort, die Personen waren nicht mehr dieselben. Der jahrelange Schmerz um den Verlust und das Unverständnis spülten über den letzten Damm der Selbstbeherrschung, wie Wellen bei einer Springflut. Vollkommen unerwartet stürzte er sich auf sie, auf sein Opfer auf dem Altar des heidnischen Bauwerks. Er, Downe, war der Hohepriester, der mit seinen Segnungen… Das Mädchen öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei, versuchte zu flüchten, auf der anderen Seite vom Stein zu rutschen. Aber Downe kam ihr erneut zuvor, der Wahnsinn machte ihn wendig wie ein Tier, schien seine Kräfte zu verdoppeln – die steife Vogelscheuche wurde zum gelenkigen Tänzer. Noch bevor die Füße des Mädchens den Boden berührten, stand Downe schon vor ihr. »Täubchen«, sagte er, »du musst keine Angst haben. Der Herr hat es so gewollt. Er hat mich hierher gesandt. Ich werde den Teufel in dir besiegen, das Paradies werde ich für dich öffnen, deine Seele wird aufsteigen…« Downe sprang auf das Mädchen zu, sie streckte die Hände abwehrend aus. Die Geschichte, die auf seinem Gesicht geschrieben stand, kündete vom Tod.
Was willst du bei den Heulern, Thomas Bylloun? Glaubst du, sie wird wie durch Zauberhand erneut erscheinen? Was willst du eigentlich? Der Junge grinste. Er sprach mal wieder mit sich selbst. Und der andere Thomas wusste nicht eine einzige Antwort. Auf einem niedrigen Hügel westlich der Heuler blieb er stehen. Der Wind wehte am Boden entlang. Es würde einen warmen Tag geben. Und dieser Mond! Die Heuler…
Was war das? Thomas sah, dass sich dort unten etwas bewegte. Seine scharfen Augen täuschten ihn nicht. Menschen! Miteinander ringende Menschen. Die Geschichte vom Kampf zwischen Junker Galsworthy und Michael Kelly ging ihm wieder durch den Kopf. Nein, das war unmöglich. Das Mädchen? War das Mädchen in Schwierigkeiten? Thomas dachte nicht länger nach, griff einen schweren Stein und rannte los, den Hügel hinunter, mit viel zu großen, stolpernden Schritten. Das Bild wurde deutlicher: ein schmuddeliges weißes Kleid, ein kämpfendes Mädchen, jemand in schwarzen Kleidern, der auf ihr lag und versuchte, ihre kratzenden Hände, ihre tretenden Beine festzuhalten. Thomas hörte ein Keuchen und Grunzen, wie von einem Tier… Die Sünde des Fleisches? Downe? Für einen Moment verlangsamte Thomas seinen Schritt. Wenn er sich hier einmischte, hätte er einen Feind mehr. Aber Downe gewähren lassen? Was war in ihn gefahren? War er verrückt geworden? Thomas warf den Stein weg, rannte noch schneller. Mit beiden Händen packte er den Mann, riss ihn zurück und sah die vor Todesangst weit aufgerissenen Augen, den offenen Mund des Mädchens.
Er stieß Downe zur Seite, stellte sich zwischen den Geistlichen und das Mädchen, sah ihre schlanken Oberschenkel, die im Mondlicht wie aus Marmor gemeißelt wirkten, sah den Verband an ihrem Fuß. »Father!« In dieses eine Wort legte Thomas seine Abscheu, sein Unverständnis, seine Angst und seinen Hass. Father! Das Wort, das für Vertrauen, Glaube, Sicherheit und Wärme stand, war auf einmal zum Schimpfwort geworden. Downe rappelte sich auf. Er schüttelte den Kopf, sein Blick war lauernd. Er strich sich die Kleider glatt. »Sie hat mich verhext!«, stammelte er. »Sie ist eine Tochter des Teufels, aus der Hölle hergekommen, um einen ehrlichen Mann zu vernichten. Ich wollte sie segnen!« Die »eigenartige Segnung«, von der die Kräuterfrau gesprochen hatte? »Ich verfluche dich, Hexe! Ich werde dafür sorgen, dass du in der Hölle schmorst!« Thomas ballte die Hände zu Fäusten. »Schweigen Sie!«, zischte er. »Schweigen Sie!« Mehr brachte er nicht über die Lippen. Die Ehrfurcht vor dem schwarzen Priestergewand war noch immer da, ließ ihn verstummen. Downe fiel auf die Knie, hob die gefalteten Hände zum Mond. »Herr, sie war mein Opfer!« Da begriff Thomas, dass Downe verrückt geworden war. Das Mädchen war ängstlich zu ihm gekrochen. Aus ihrer Nase lief Blut und die Unterlippe war aufgeplatzt. Hatte Downe sie geschlagen? Ihr Kleid war in Fetzen gerissen, mit verkrampfter Hand versuchte sie, es zusammenzuhalten. Das Mädchen begann zu weinen, jedoch ohne einen Laut. »Ich bring dich zur Kräuterfrau«, flüsterte Thomas.
Merkwürdig, die Erregung, die er vorher gespürt hatte, war nicht mehr da. Er war nun ihr Beschützer, erwartete keine Gegenleistung für die Zärtlichkeit, die er ihr schenken wollte. Ich liebe dich, dachte er, brachte aber kein Wort über die Lippen. Downe machte sich davon, jetzt wieder mit hölzernen Bewegungen, wie eine alte Vogelscheuche.
9. HEXEN MÜSSEN BRENNEN
Eine ganze Woche war vergangen. Thomas hatte in einer Art Halbschlaf gelebt, wie betäubt von dem, was er gesehen hatte, was er nun wusste. Im Sonntagsgottesdienst hatte Father Downe eine donnernde Predigt über Argwohn, Verdächtigungen und Klatsch gehalten. Mindestens zehn Mal hatte er Thomas fast herausfordernd in die Augen gesehen. Seine Gesten waren Warnungen, Drohungen gewesen. »Allzu oft missdeuten wir die Absichten unserer Mitmenschen. Das Böse, das in uns selbst steckt, lässt uns die Dinge in einer Art und Weise deuten, die mit unserem eigenen sündigen Naturell übereinstimmt!« Diese Worte hallten in Thomas’ Kopf wie ein Echo. Hatte er sich getäuscht? War das, was er gesehen hatte, nicht das, was er dachte? Hatte seine eigene Verwirrung seinen Blick getrübt? Als er das unbekannte Mädchen zur Kräuterfrau gebracht hatte, war er in nervöses Schluchzen ausgebrochen, außerstande zu erzählen, was passiert war. Aber die Kräuterfrau hatte keine Erklärungen gebraucht. Schon der Name Downe war genug gewesen. Sie hatte das Mädchen ins andere Zimmer mitgenommen. Thomas hatte das Plätschern von Wasser in einen Holzbottich gehört und den schweren süßen Duft von Kräutern gerochen. Die Kräuterfrau war mit ernstem Gesicht hin und her gegangen, hatte aus einem Topf weitere Kräuter geholt und kochendes Wasser darüber gegossen. Nach einer Weile war ihm, als ob das Erlebte ihn ein wenig losließ, ihm nicht mehr so sehr zusetzte. Dann hatte die Kräuterfrau ihn ein Stück Weg begleitet, bis zu der Stelle, von der aus man das Dorf sehen konnte. Thomas
hatte sich wieder gewundert, dass er sich bei der Kräuterfrau so sicher fühlte. Das gleiche Gefühl hatte er vor langer Zeit gehabt, wenn er mit seiner Mutter im Herbst Beeren pflückte. Zu Hause war er ins Bett geschlüpft und in einen traumlosen Schlaf gefallen. An den Tagen darauf hatte er beim ersten Hahnenschrei die Schafe aus dem Steinpferch geholt und war sofort losgezogen, immer in dieselbe Richtung. Zu Hause gab er sich fröhlich und entspannt. Alle gingen ihm auf den Leim. Niemand stellte mehr Fragen, niemand sprach mehr über die Unruhe vor ein paar Tagen. Und das war Thomas nur recht. Jeden Tag hatte das Mädchen auf ihn gewartet. Genau wie er hatte sie – in ein Tuch gewickelt – Brot, Käse oder kaltes Fleisch dabei. Es waren stille Tage gewesen. Das Mädchen sagte kein Wort. Sie freute sich an den Farben, den Gold-, Grün- und Rosatönen des Moors. Manchmal lachte sie überraschend, lief dann einen Hügel hinauf, kniete bei einem kleinen Tümpel nieder und betrachtete lange ihr Spiegelbild im Wasser. Thomas versuchte, mit ihr zu sprechen, nannte die Namen der Pflanzen, die sie sahen, zeigte ihr Pünktchen am Himmel, die bald zu Raubvögeln wurden, und sang für sie. Aber danach herrschte wieder Stille. Nur ab und zu stieß ihn das Mädchen an, zeigte auf etwas und sah ihn fragend an. Sie trug nicht mehr ihr schmuddeliges weißes Kleid, sondern Kleider, die ihr die Kräuterfrau gegeben hatte. Sie ließen sie normaler erscheinen, weniger geheimnisvoll. Aber Thomas ertappte sich mehr als einmal dabei, wie seine Augen die Linien ihres jungen Körpers unter dem dicht gewebten Kleiderstoff suchten.
An diesem Morgen wehte es stärker als an den vergangenen Tagen. Wolken türmten sich hoch auf, formten graue Höhlen am noch hellen Himmel. »Hast du’s auch gehört?«, fragte die Kräuterfrau. Normalerweise winkte sie Thomas nur von weitem zu. Es musste also etwas Besonderes vorgefallen sein. Das Mädchen kam gerade um die Ecke. Ihr Lachen war traumhaft, fand Thomas. »Nein, ich habe nichts gehört.« »Heute Abend wird in Bodmin eine Hexe verbrannt.« »Was?« Die Kräuterfrau nickte. »Ein Hexenjäger ist nach Bodmin gekommen. Margareth Wilcock ist angeklagt und wird heute Abend verbrannt.« Thomas zuckte mit den Schultern. Bodmin? Was kümmerte ihn das? Und Hexen? »Ich mache mir Sorgen, Thomas«, sagte die Kräuterfrau und starrte in die Ferne. Auf ihrem Gesicht lag ein trauriger Zug, als sähe sie schmerzliche Dinge. Thomas schwieg. Das Mädchen trat zu ihm, griff seine Hand und zog ihn mit sich. Dusker bellte – auch er wollte los.
»Father Cardew, Sie können nicht leugnen, dass sie bekannt hat, Umgang mit dem Teufel zu pflegen und von ihm gelernt zu haben, eine Salbe zu bereiten, die Menschen tötet.« Der junge Geistliche sah Dunn verächtlich an. »Ich frage mich, was für ein Mensch Sie sind, Dunn! Natürlich hat die arme Frau gestanden. Sie würde sogar bekennen, einen ganzen Kirchturm aufgegessen zu haben – so wie Sie zu Werke gehen!«
Dunn wandte den Kopf nicht ab, hielt dem Blick des Geistlichen stand. Er war Schlimmeres gewohnt. Diese wehleidigen Wichte! »Father Cardew, haben Sie auch nur einen einzigen Moment bemerkt, in dem ich etwas tat, was bei dergleichen Befragungen nicht erlaubt ist?« Father Cardew schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht…« »Oh doch! Ich warne Sie, Father Cardew. Halten Sie sich aus meinen Angelegenheiten heraus und kümmern Sie sich um Ihre Gemeinde. Wenn nicht, komme ich wieder. Vielleicht ist das Böse hier noch nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet, vielleicht gibt es noch andere, die, als harmlose Menschen getarnt, Hexen sind, die mit dem Teufel paktieren!« »Mit dem Teufel? Glauben Sie wirklich, dass Margareth Wilcock etwas mit dem Teufel zu tun hat?« Father Cardew schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Mayor schwieg, sah zu, lauschte. Der junge Geistliche riskierte eine Menge! Dachte er etwa, sein Priestergewand würde ihn gegen die Anschuldigungen eines Hexenjägers schützen? »Zeugen haben gesehen, wie sich ihre Hautfarbe veränderte, wie ihr Körper bebte und zitterte, als der Teufel von ihr Besitz ergriff, sie haben sie vor Genuss stöhnen hören, als sich der Samen des Bösen in sie ergoss!« »Das ist Wahnsinn!« Father Cardew wurde von Minute zu Minute wütender. Und genau das wollte Dunn erreichen. »Ist es nicht so, dass der Vater der Hexe Wilcock an der geheimnisvollen Krankheit gestorben ist? Ist es nicht so, dass ihre Mutter zusammen mit dem Haus verbrannt ist und die Nachbarn sie haben lachen hören, als die Flammen das Dach zum Einsturz brachten?«
Im Zimmer herrschte Stille. Draußen klangen harte Hammerschläge. Man hatte angefangen, das hölzerne Gerüst zu zimmern, an dem die Hexe festgebunden werden sollte. »Die arme Frau hat durch allerlei Schicksalsschläge den Verstand verloren. Und Margareth Wilcock hat mehr Leid erfahren, als ein Mensch ertragen kann. Sie hat nächtelang bei ihrem kranken Mann gewacht, keinen Schritt ist sie von seiner Seite gewichen. Kein Wunder, dass sie blass war und vor Müdigkeit kaum auf den Beinen stehen konnte! Sie, Magister Dunn, machen daraus Teufelszeichen.« »Sie hat bekannt! Und sie ist bei ihrem Mann geblieben, damit niemand seine Seele erretten konnte. Seine Seele hatte sie dem Satan verkauft, verkauft für die Kenntnis des größten Übels.« Dunn nahm ein Blatt Papier vom Tisch und fuchtelte damit vor der Nase des jungen Geistlichen herum. »Sie hat gesagt, sie habe gottlose, heidnische, verwerfliche Dinge getan, die die Gesundheit, das Seelenheil und das Wohl guter Christenmenschen gefährden!« »Die arme Frau weiß noch nicht einmal, was diese Worte bedeuten! Sie haben sie foltern lassen, sie wurde stundenlang an den Handgelenken aufgehängt. Sie haben sie bedroht, sie hat drei Tage lang gehungert und gefroren. Als sie vor Schmerzen und Erschöpfung fast wahnsinnig war, haben Sie sie gestehen lassen, was Sie wollten!« »Oh, Father Cardew, die Sorge um diese Menschen macht Sie blind! Dieser Prozess wurde geführt, wie es sich gehört. Das Urteil wird heute Abend vollzogen, wie es das Gesetz und der ewige Gott fordern.« Dunn nickte gnädig und ging, ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. »Mein Großvater!«
Thomas wusste plötzlich nicht mehr ein noch aus. Was wollte sein Großvater von ihm? Es kam zwar öfter vor, dass der alte Mann über das Moor spaziert kam, um zu kontrollieren, ob der Junge die besten Weideplätze ausgesucht hatte. Aber seit Thomas mit dem Mädchen unterwegs war, hatte er nicht mehr daran gedacht. »Thomas, wer ist das?« Die aufmerksamen Augen des alten Mannes musterten das Mädchen von Kopf bis Fuß. Himmel, Thomas hatte Geschmack. Kein Wunder, dass er einige Tage lang mit dem Bauch statt mit dem Kopf gedacht hatte. Aber was machte das Mädchen bei den Schafen? »Das ist das Mädchen, Großvater. Das Mädchen, das bei der Kräuterfrau wohnt. Ihr Fuß ist wieder geheilt. Sie ist gern bei den Schafen.« Der alte Mann nickte. Das Mädchen lächelte ihn unbefangen an. Ihre roten Haare leuchteten im schräg einfallenden Sonnenlicht, der Wind wehte sie hoch. Die grünen Augen gaben ihr etwas Verspieltes. »Sie ähnelt ihr!« »Wem?« Der Großvater setzte sich auf einen weiß geäderten grauen Findling. »Mary Finnemore.« Jetzt war es ausgesprochen. Thomas hatte es immer wieder verdrängt, wollte nicht daran denken. Mary Finnemore – allein der Name konnte einen in Schwierigkeiten bringen. »Kennt sie sie?« »Weiß ich nicht. Sie kann nicht sprechen.« Der Großvater betrachtete das Mädchen erneut. »Hört sie einen, wenn man etwas sagt?« »Sie hört so gut wie eine Katze. Und sie versteht, was man sagt… wenn sie es verstehen will.«
Der Großvater lachte und auch das Mädchen hatte ihren Spaß. »Typisch Frau«, sagte er. »Nur hören, was einem in den Kram passt. Aber dennoch keine komplizierte Frau; eine Frau, die ihren Mund hält.« Thomas blieb auf der Hut. Ob es möglich war, dass der Großvater bloß vorbeikam, um ein Schwätzchen zu halten, und danach wegging, als ob nichts gewesen wäre? »Und sie ist die ganze Zeit bei dir?« »Sie ist gern bei den Schafen!«, wiederholte Thomas. »Manchmal sucht sie auch Kräuter für die Kräuterfrau.« Um zu beweisen, dass sie das Gespräch verfolgt hatte, hielt das Mädchen ein Sträußchen Kräuter in die Höhe. Dann steckte sie ihre Nase hinein und atmete tief ein. »Dein Vater will, dass du früher nach Hause kommst. Wir fahren zusammen nach Bodmin.« »Die Hexe?« Der Großvater nickte. »Downe hat sich die Ehre gegeben. Er hat deine Mutter verrückt gemacht, so hat er auf sie eingeredet. Er will, dass du das erlebst, dass du siehst, was mit jemandem geschieht, der vom rechten Weg abkommt. Weiß er hiervon? Ist es das, was ihn so außer Rand und Band bringt?« »Er weiß, dass das Mädchen bei der Kräuterfrau wohnt.« »Das habe ich nicht gefragt.« »Nein, er weiß nicht, dass sie mit mir herumzieht.« Der Großvater nickte und stand mühsam auf. »Sieh zu, dass du zeitig zurück bist. Und nimm dich in Acht. Rote Haare und Erlenholz… du weißt schon.« Ohne das Mädchen noch eines Blickes zu würdigen, ging er davon, zurück nach Saint Breward.
Die Frau schleppte sich über den einzigen Weg, der sich durchs Dartmoor nach Tavistock schlängelte, mühsam voran. Mit jedem Schritt schmerzten ihre Füße mehr, wuchs die Unruhe in ihr. Sie war inzwischen davon überzeugt, dass Betty den Weg nach Bodmin und Saint Breward eingeschlagen hatte. Sie musste sich ausruhen, nachdenken. Nein, sie musste sich beeilen, das Mädchen einholen, sie mitnehmen, weg von dem verfluchten Dorf, weg von den alten Geschichten, die offenbar nicht vergessen werden wollten. Da hörte sie hinter sich das dumpfe Aufschlagen von Pferdehufen im Sand. Ein Wagen. Oh, wenn der sie mitnehmen würde! Nur hatte sie kein Geld, um zu bezahlen. »Brrr!« Die Stimme eines Mannes. Das Schnauben eines Pferdes. Das Hufgetrappel wurde langsamer. »Wo willst du hin?« Die Frau sah in das verwitterte, gutmütige Gesicht des Fuhrmanns. »Dieser Weg führt doch nur nach Tavistock! Also geh ich nach Tavistock.« Sie versuchte zu scherzen, aber ihr Gesicht verriet, dass sie Schmerzen hatte. »Steig auf. Du siehst aus, als würdest du jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich fahre nicht ganz bis Tavistock. Mein Haus steht eine Stunde vom Dorf entfernt.« Die Frau nickte dankbar, ergriff die ausgestreckte Hand, stellte den Fuß auf eine der Speichen des Vorderrads und zog sich stöhnend hoch, auf den Bock neben den Fuhrmann. »Hast du gehört? Sie verbrennen eine Hexe in Bodmin.« Der Mann schnalzte mit der Zunge und zog an den Zügeln. Er merkte nicht, dass die Frau die Augen schloss und eine Hand aufs Herz legte.
Sie waren mit zwei Wagen nach Bodmin unterwegs. Es wurde nicht viel gesprochen. Ab und zu setzte Downe zu einem Psalm an, den sie mit ihren ungeübten Stimmen mitsangen. »Er weidet mich auf grüner Aue…« Thomas saß Schulter an Schulter mit seinem Vater. Die Mutter saß bei den Frauen im anderen Wagen. Der Junge fand den Anlass der Fahrt schrecklich, und die Gesichter der anderen verrieten ihm, dass auch sie sich nicht darauf freuten, bei der Verbrennung zuzusehen. An der Wegkreuzung bei Wenfordbridge begegneten sie zwei Reitern. Ihre Pferde waren schweißnass, sodass ihr Fell glänzte. Die prächtigen Tiere kauten auf ihrem Gebissstück, schlugen mit dem Schwanz, waren offenbar bereit für einen weiteren schnellen Ritt. »Downe?« »Mylord?« Der alte Lord Galsworthy brachte sein Pferd zum Stehen; das Tier tänzelte nervös neben dem knarrenden Wagen hin und her. »Du hast nichts mehr von dir hören lassen, Downe. Ich will dich gleich in Bodmin sprechen.« Nicholas Downe nahm seinen Dreispitz ab und verbeugte sich tief, aber Lord Galsworthy hatte seinem Pferd schon die Sporen gegeben. Thomas grinste. Downe, der wie ein Hund herumkommandiert wurde. Doch plötzlich wurde sein Herz zusammengeschnürt. Er erinnerte sich daran, was sein Vater über Mary Finnemore gesagt hatte. Lord Galsworthy war noch immer auf der Suche nach dem Mörder seines Sohnes. Downe kannte das Mädchen, er wusste, dass sie Mary Finnemore sehr ähnelte. Und anscheinend hatte er vom Lord irgendeinen Auftrag bekommen. Die Kirche und die Obrigkeit gegen ein Mädchen, das noch nicht einmal sprechen konnte?
Und niemand in dem eingeschüchterten Dorf, der auch nur einen Finger rühren würde… Auf einmal sah Thomas alles vor sich: Downe würde sich rächen und Lord Galsworthy würde das Ganze auch noch gutheißen. »Und führet mich zum frischen Wasser…«, fuhr Downe fort.
Die Kräuterfrau saß mit dem Mädchen vor ihrer Hütte und sah, wie die Sonne allmählich sank. Die Heide wurde rot und die Kräuterfrau erschauderte. Blut? Feuer? Sie legte den Arm um die Schultern des Mädchens und zog sie an sich. Sie wusste, dass es nicht helfen würde, aber sie wollte wenigstens an diesem einen Abend die Gefahr vertreiben. Hexen! Downe hatte sie beide Hexen genannt. Arme Margareth Wilcock! Warum waren die anderen blind? Warum gab es keinen Gott ohne Teufel? War es wirklich notwendig, dass die Menschen im Schatten lebten, um die Sonne genießen zu können? Konnten sie Gott nicht einfach wegen seiner Güte anbeten? Warum musste ein Vater gefürchtet werden? Warum? Weil es keinen Schatten ohne Licht gibt, dachte die Kräuterfrau, aber auch kein Licht ohne Schatten. Das Mädchen erschauderte, ganz so, als könnte sie sogar Gedanken lesen. Der Marktplatz von Bodmin hatte sich gefüllt. Nicht nur aus der Stadt, auch aus allen Dörfern der Gegend waren die Menschen herbeigeströmt. Die meisten waren einfach neugierig, nur hier und da war jemand mit angespannten Zügen zu sehen – ängstlich und unruhig wegen der bedrohlichen Stimmung, die in der Luft lag. »Thomas?« Der Junge stand ein bisschen abseits von den anderen.
»Father Cardew!« Über Thomas Byllouns Gesicht glitt ein breites Lächeln, seine Augen strahlten. »Was bist du für ein stattlicher Kerl geworden! Ich kann meinen Augen kaum trauen! Bist du hier wegen…« Die Frage klang für Thomas wie ein versteckter Vorwurf. »Alle mussten mitkommen«, sagte er. »Father Downe hat darauf bestanden.« »Von ihm war nichts anderes zu erwarten!«, murmelte Father Cardew. »Und, wie geht es dir?« Thomas wusste nicht, was er sagen sollte. »Dich, junger Mann, bedrückt etwas! Kannst du nicht darüber sprechen?« Father Cardew war noch immer derselbe: erfrischend direkt in seinen Fragen. Er war vor Jahren in Saint Breward gewesen, als Father Downe für eine Zeit nach Exeter zurückgerufen wurde. Die ganze Gemeinde hatte damals aufgeatmet. Father Cardew hörte zu, bevor er sich ein Urteil bildete, versuchte zu verstehen, bevor er kritisierte, sprach Vergebung aus, ohne an Rache zu denken. »Angst? Bist du denn solch ein schlimmer Sünder geworden?« Thomas grinste. »Es ist schwierig, Father. Ich weiß nicht…« »Thomas, wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich finden kannst. Nur warte nicht zu lange!« Thomas hatte sich gerade entschlossen, dem jungen Geistlichen sein Herz auszuschütten, da ertönten Schreie des Grauens. Der Lärm schwoll an, ergoss sich über die Menschen auf dem Platz. »Gott sei ihrer Seele gnädig!«, murmelte Father Cardew. »Ich hoffe, der Teufel holt Dunn, bevor er noch mehr Elend anrichten kann.«
10. DAS KOMPLOTT
»Weil es jedem Christen verboten ist, in seiner Ehrfurcht vor Gott zu versagen und seine christlichen Pflichten zu versäumen in dem Wissen, dass Gotteslästerung und die Unterwerfung an die Gesetze des Teufels mit dem Tode bestraft werden; weil die hier anwesende Margareth Wilcock, gefangen im Auftrag des Mayor von Bodmin und des Lord Galsworthy, 46 Jahre alt, Witwe von James Wilcock, genannt Brown, dieses Gebot doch übertreten hat, mutwillig ihre Pflichten vernachlässigt hat, Gott, dem Schöpfer und Retter der Welt, und seinen Sakramenten entsagt hat; weil sie sich dem Teufel, den sie Mackerell nennt, hingegeben und mit ihm abscheuliche Gemeinschaft gepflegt hat; weil sie sich der Zauberei bedient hat, wie sie selbst bekannt und wiederholt bestätigt hat, verurteilen wir die hier anwesende Margareth Wilcock zum Tod durch Verbrennen.« Die Stille auf dem Marktplatz wurde gebrochen. Geflüster, Geschluchze, Gejohle und hier und da ein Fluch. Dunn streckte sich noch mehr, spähte mit stechenden Augen in die Menge. Thomas fühlte für einen Moment seinen Blick auf sich ruhen und erschauderte. Da spürte er die Hand von Father Cardew auf seiner Schulter, warm, kraftvoll, unterstützend. »Father, hat die Frau das wirklich gestanden?« »Jemand, der sich tagelang vor Schmerzen winden muss, gesteht alles. Sie hat die Peitschenhiebe nicht mehr ertragen können, dem Strecken ihrer Muskeln ein Ende machen wollen. Es ist furchtbar, was sie tun!« »Aber warum? Ist das Gottes Wille?«
»Nein, Thomas. Das kann nicht Gottes Wille sein. Es ist das Werk von Menschen, die vielleicht tatsächlich glauben, Gott damit zu dienen. Die Kirche Gottes, Thomas, ist auch eine Kirche der Menschen. Auf einen Dunn kommen tausend sanftmütige Heilige, auf einen Downe hundert verständnisvolle Hirten.« Thomas nickte, drehte den Kopf zu Father Cardew und sah, dass er weinte, machtlos die Tränen fließen ließ. »Sie haben mir noch nicht einmal erlaubt, Margareth Wilcock in ihrer letzten Stunde beizustehen. Sie wollten mich nicht der Gefahr der teuflischen Verführung aussetzen!« Thomas nickte. Die Stimme Dunns ertönte messerscharf über den Marktplatz. »Bürger! Margareth Wilcock soll als abschreckendes Beispiel dienen für all diejenigen, die mutwillig und nachlässig ihre christlichen Pflichten nicht mehr erfüllen!« »Hass, Angst, Terror! Immer wieder! Wie sollen wir die Menschen auf diese Weise führen? Wieso dürfen wir nicht lieben, trösten und ermutigen, um den Weg zu finden, der zu wahrem Erdenglück führt? Wieso sollen wir das Glück bis zum Anbruch der Ewigkeit hinausschieben?«, stöhnte Father Cardew. »Ein jeder, der hier anwesend ist oder von dieser Verurteilung weiß oder in Zukunft davon hören wird, hüte sich, Böses zu tun, denn niemand wird ungestraft bleiben.« Ein Schaudern ging durch die Menge. Männer wie Frauen reckten die Hälse. Dann folgte eine so tiefe Stille, dass Thomas das Knistern von Flammen hören konnte. Da sah er auf. Vor der Kirchenmauer stand ein hölzernes Gerüst, an das ein bedauernswerter, geschundener Körper gebunden war, der nur noch wenig Menschliches hatte. Ein Mann hielt eine Fackel ans trockene Holz, das unter dem Gerüst gestapelt lag. Gierig
griffen die Flammen um sich, die hellblaue Rauchfahne wurde zur Wolke, das dürre Holz fing Feuer. Geknister. Feuerglut. Thomas senkte den Kopf, er konnte es nicht mit ansehen. Wieso wurde das Bild der Sterbenden auf einmal von dem des Mädchens überdeckt? Ließ ihn seine Angst plötzlich Dinge sehen, die nicht da waren? Ein Schrei voller Schmerz und Todesangst wurde von den Hauswänden zurückgeworfen. Thomas hob erschrocken den Kopf. Die Flammen fraßen die Kleider der Frau. Ihr nackter, von der Folter misshandelter Körper war für wenige Sekunden zu sehen. Dann schien er zusammenzuschrumpfen, sich in den züngelnden Flammen aufzulösen. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg Thomas in die Nase. Er musste sich übergeben.
Der Wirt der Herberge stand schwitzend am Herd. Die Herren saßen vorm Kaminfeuer und redeten. Hoffentlich ist ihnen nicht kalt, dachte der Wirt. Dieser schreckliche Mann, Dunn, gibt den Ton an. Er sieht selbstzufrieden aus, wie eine streunende Katze, die soeben ein großes Stück Fleisch ergattert hat. »Wir dürfen nicht in der Hoffnung schwelgen, meine Herren, einen Sieg über unsere Feinde zu erringen, bevor wir nicht die Säumigen innerhalb unserer Gemeinschaft zur Ordnung gerufen haben.« Downe, Lord Galsworthy und der Mayor von Bodmin nickten. Letzterem war überhaupt nicht wohl bei dem Gespräch, das war deutlich zu sehen. Die beiden anderen nippten genüsslich an ihrem Wein, mit glänzenden, zufriedenen Augen. »Und dies gilt vor allem für das widerwärtigste Übel, die scheußlichsten Gräuel der Hexerei, Wahrsagerei,
Verzauberung und Entzauberung und alles, was die Wut Gottes auf uns niedergehen lässt, nicht nur auf die Schuldigen, sondern auf die gesamte Bevölkerung!« Dunn nahm einen Schluck Wein, studierte unauffällig die Gesichter der anderen. Vielleicht sah es ja doch nicht so schlecht aus, gab es noch mehr Hexen zu verfolgen. Vor allem Father Downe schien tief beeindruckt zu sein. Auch trank er zu viel und war augenscheinlich mit sich im Zwiespalt. Wusste er etwas? »In unserer Gegend soll also ein so frevelhaftes Fest gefeiert worden sein? Ein Hexensabbat, bei dem der Teufel angebetet wird?« Lord Galsworthy saß lang ausgestreckt in seinem Stuhl. Sollte er wirklich glauben, was er gehört hatte? »Margareth Wilcock hat gestanden, sie sei mehrmals mit ihrem Teufel Mackerell auf einem solchen Fest gewesen. Zuerst hat sie der Teufel in ihrem Haus besucht. Später traf sie ihn auf der Weide, auf der ihre Kuh graste. Er forderte sie auf, ihn zu umarmen!« Dunn machte eine taktische Pause. Die Herren lauschten dann umso gespannter. Aha, die Herren waren also am Umgang von Hexen mit dem Teufel interessiert? Nun, darüber konnte er ihnen mehr als genug erzählen. Es gab Zeiten, da hatte Dunn diese Geschichten ebenfalls genossen, aber inzwischen war die Abscheu vor der Sünde größer geworden als die Erregung, die sie hervorrufen konnten. »Zuerst wusste sie nicht, wie ihr geschah. Sie dachte, ein Geistlicher hätte sie aufgesucht. Das ist die Schläue des Teufels. Er nimmt die Gestalt seiner ärgsten Gegner an, um die Einfältigen in die Irre zu führen!« Nicholas Downes Gesicht bekam einen noch fanatischeren Ausdruck. Dunn meinte auch, eine Art Erleichterung erkennen zu können, etwa die Folge einer plötzlichen Einsicht?
War das, was er erzählte, für Downe die Lösung eines Problems? Der Wirt schlurfte heran. »Darf ich die Herren zu Tisch bitten? Das Fleisch ist gar. Guten Appetit.« Die Herren tranken ihre Krüge leer und standen auf. Downe verfluchte den Wirt. Warum musste er sie gerade jetzt unterbrechen, da es spannend wurde? »Und dann?«, fragte er. »Hat sie den Teufel erkannt?« »Nach einigen Besuchen hat er sie zu einer bestimmten Stelle geführt, einer Wegkreuzung. Da stand eine Art heidnischer Altar, errichtet aus großen Steinen. Dort versammelten sich auch die anderen Hexen. Sie haben einen Gottesdienst abgehalten, und zwar rückwärts, und so das Wort des Herrn entweiht. Sie bekamen auch das heilige Brot gereicht, aber mit der linken Hand. Sie nahmen es in den Mund, versuchten, es nicht anzufeuchten, und später wurde auf das Brot gespuckt. Dann ließen sie ihr Wasser darüber laufen und lachten wie verrückt!« Jetzt war Dunn wirklich in Fahrt. Seine Zuhörer lauschten und wiederholten in Gedanken seine Worte, genossen jedes einzelne. »Und dann? Ich habe gehört, dass sie auch den Beischlaf mit dem Teufel pflegen.« Sogar der Mayor war nun interessiert. »Welchen Genuss sollte ihnen das verschaffen?«, fragte Lord Galsworthy. »Soweit ich weiß, haben Teufel keinen Körper, kein Blut, kein Fleisch, keine Wärme.« Dunn nickte. »Margareth Wilcock sagte, der Teufel habe einem echten Mann sehr geähnelt. Er habe sich an sie gedrückt. Er sei kalt wie Schnee gewesen, als er in sie eindrang!« Alle schwiegen. Der Wirt stellte die Schüssel mit einem herrlichen Braten auf den Tisch. Dunn schielte kurz auf den
Geldbeutel, den der Mayor neben sich gelegt hatte. Das Leben hatte so seine angenehmen Seiten, fand er und grinste. Die anderen hatten sich auf das Essen gestürzt, ohne ein Dankgebet zu sprechen.
»Thomas, du darfst nicht an der Güte Gottes zweifeln. Sieh dich um, wenn du mit deinen Schafen im Moor unterwegs bist. Ist es dort nicht wunderbar?« Father Cardew versuchte zu lächeln. »Father«, seufzte Thomas. »Wieso muss ich darüber plötzlich nachdenken? Wieso beschäftigt mich das auf einmal?« Father Cardew lachte nun laut. »Fragst du den Wind, wieso er weht? Muss dir der Regen erklären, warum er nass ist? Manche Dinge sind so, weil der Schöpfer sie so gewollt hat und weil du sie so haben willst. Denk nicht länger nach, wirf alles von dir ab; sobald eine Frage auftaucht, verschließ die Ohren. Du wirst schon sehen, das hilft! Allerdings wirst du dann nach einer Weile gar nichts mehr hören und sehen. Auch die schönen Dinge entbehrst du dann.« Thomas nickte. So war es tatsächlich. Seit kurzem schien er viel intensiver zu leben. »Ich bin froh, dass ich dich wiedergesehen habe, Thomas. Du musst öfter hierher kommen. Meine Tür steht immer für dich offen. Und nimm dich vor Downe in Acht. Vielleicht ist er nicht der, für den du ihn hältst, sondern…« Father Cardew beendete seinen Satz nicht. Er durfte niemanden, schon gar keinen Amtsbruder, verleumden. »Father, da ist dieses Mädchen…« Genau in dem Augenblick passierte etwas Unerwartetes. Die Menschen, die noch in das schwelende Feuer gestarrt hatten,
schrien auf. In die schwarz verkohlten Reste von Margareth Wilcock schien Leben zu kommen. »Die Auferstehung!« Aber das war nur Einbildung. Das Skelett fiel plötzlich auseinander, der verkohlte Schädel rollte über das Pflaster. Alle rannten weg, auch Thomas. Kurz darauf stand er keuchend vor der Herberge. Die Tür ging auf. Schwerfällig vom Braten, vom Wein und von der Gewissheit, rechtschaffen gehandelt zu haben, kamen die vier Männer heraus. Der Junge drückte sich an die Wand in den Schatten. »Downe«, sagte Lord Galsworthy, »ich erwarte dich morgen, spätestens übermorgen bei mir. Ich hatte gedacht, wir könnten die Sache heute Abend regeln, aber jetzt steht mir der Sinn nach anderem. Das bedeutet aber nicht, dass du der Angelegenheit ihren Lauf lassen kannst. Einer meiner Leute hat gehört, dass noch immer über die Mörderin meines Sohnes gesprochen wird. Ich will, dass das ein Ende hat. Ohne Skandal. Das habe ich dir schon mal gesagt. Wo ist mein Pferd?« Downe nickte, verbeugte sich mindestens dreimal, wollte etwas sagen, aber Lord Galsworthy gebot ihm mit einem hochmütigen Kopfschütteln zu schweigen. Er ging zum Vordach an der Seitenwand der Herberge. Dort hatte er sein Pferd angebunden. Dunn stand noch immer an der Tür und sah sich um. Thomas starb fast vor Angst. Der Mayor von Bodmin zog seinen Hut und ging. Der Zauber war gebrochen; er hatte Dunn den Geldbeutel gegeben, den Lohn für die Grausamkeit. Zum Glück war es vorbei. Heute Abend würden die Leute noch über die Hexenverbrennung sprechen, aber schon morgen würde man in Bodmin wieder zur vertrauten Tagesordnung übergehen. Er musste dafür sorgen,
dass der Scheiterhaufen noch heute Abend weggeräumt würde. Sollte er die Überreste von Margareth Wilcock in geweihter Erde begraben lassen? Hatte sie für ihre Sünden Vergebung empfangen? »Magister Dunn«, sagte Downe zögernd, »was Sie gesagt haben, hat mich nachdenklich gemacht. In Saint Breward…« Dunn legte die Hand auf Downes Arm. »Father Downe, ich bin froh, dass Sie von sich aus darüber sprechen. Den ganzen Abend schon spüre ich die Nähe des Bösen. Haben Sie einen Verdacht?« Downe zögerte einen Moment. Wie sollte er die Geschichte aufrollen, damit nicht etwa ein Teil des Verdachts auf ihn fiel? »Winnifred Thornbee, alle nennen sie die Kräuterfrau…« Thomas spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Downe, der Schuft! »Sollen wir drinnen weitersprechen? Es sei denn…« Dunn kniff die Augen halb zusammen, gedankenverloren strich er sich mit der rechten Hand das fusselige Bärtchen. Vielleicht würde er doch länger in Bodmin bleiben als gedacht. Downe ging erneut in die Herberge. Thomas fluchte aus tiefstem Herzen, trat aus dem Schatten und spähte durchs Fenster ins Haus. Downe und Dunn standen beim Wirt. Dunn machte mit der Hand ein Zeichen und der Wirt nickte. Beide Männer durchquerten die Gaststube und gingen die grob gezimmerte Holztreppe zu den Zimmern hinauf. Sie würden in Dunns Zimmer weitersprechen. Thomas ging ein paar Schritte von der Hauswand weg und schaute nach oben. Er sah eine Kerze aufflackern, im Fenster direkt über dem Vordach. Ohne nachzudenken, kletterte Thomas einen der Pfosten hoch auf das mit Schiefer gedeckte Dach und blieb lauschend liegen. Die Steinwand ließ keine Geräusche durch. Verdammtes Mauerwerk. Nervös sah sich Thomas um.
Eine Luke? Der Dachboden! Dort stapelte der Wirt das Heu für die Pferde der Reisenden, die in seiner Herberge nächtigten. Ob er wohl herankam? Thomas richtete sich vorsichtig auf, setzte seine Schritte so behutsam, als ginge er auf Eiern. So gelangte er zum unteren Rand der Luke. Zum Glück öffnete sie sich beim leisesten Druck, aber um hineinzukommen, würde er springen müssen. Hoffentlich hielt das Dach. Er ging in die Knie, drückte sich ab, sprang und krallte sich fest. Ein Stück Schiefer schlitterte über das Dach nach unten. Thomas hielt die Luft an. Niemand schrie, nichts regte sich unten am Haus. Langsam zog Thomas sich hoch, bis er sich mit den Ellenbogen aufstützen konnte, dann glitt er hinein. Der Dachboden roch stark nach Heu und Katze. Aufgeschreckte Mäuse huschten raschelnd weg. Unter sich hörte er Stimmengemurmel. Der Junge drückte sein Ohr an den staubigen Holzboden. »Father Downe, eigentlich müsste ich Sie vor den Richter schleifen!« Dunns Stimme klang kühl und hart wie Stahl. »Ich habe nie verstanden… Ich wusste nicht… Erst jetzt wird mir bewusst…« Downe fand keine Worte. »Wie konnten Sie so blind sein? Eine Frau, die in aller Öffentlichkeit mit Kräutertränken, mit Zaubermitteln umgeht? Ein junges Mädchen, das aus der Erde hervorkommt und jeden mit furchtbarer Blindheit schlägt? Father Downe! Der Teufel hat von Saint Breward Besitz ergriffen und Sie haben es nicht gesehen!« »Ich habe immer als strenger Hirte über meine Herde gewacht, ich habe die jungen Leute vor der Sünde gewarnt, vor allem vor der Sünde des Fleisches. Allerdings habe ich nicht bemerkt, dass eine gefährlichere Straftat fast in aller Offenheit stattfand. Wie kann ich meinen Fehler wieder gutmachen?« Dunn runzelte die Stirn. Das klang alles nicht sehr ehrlich. Downe verhielt sich plötzlich zu unterwürfig, wollte zu schnell
zu viel! Er musste aufpassen! Es war schon öfter geschehen, dass ein Hexenjäger in die Falle gelockt wurde, dass jemand ihn als Instrument für persönliche Rachegelüste missbrauchen wollte. »Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Zauberei im Spiel ist, müssen Sie so schnell wie möglich eine Untersuchung einleiten!« Das ließ noch alles offen. »Aber wie erkenne ich das Böse? Es erscheint vermummt in allerlei Gestalt – sogar als Priester!« Thomas biss die Zähne zusammen. Was war Downe doch für ein raffinierter Mistkerl! Er würde das Mädchen anklagen, er würde allen einreden, dass nicht er, sondern der Teufel, der seine Gestalt angenommen hatte, sie überfallen hatte. »Ich kann eine Untersuchung einleiten. Aber dafür brauche ich die Zustimmung der Obrigkeit.« Dunn wusste, dass er sich auf dünnes Eis wagte, aber die Chance, noch eine Hexe, vielleicht sogar zwei der verwerflichen Wesen zu demaskieren, ließ ihn das Risiko eingehen. »Lord Galsworthy ist für Saint Breward zuständig.« »Für das Verhör muss die Hexe eingesperrt werden.« »Die Kirche hat ein Nebengebäude, eine Art Scheune mit kleinen Fenstern und einer soliden Tür.« »Ich müsste ein paar Werkzeuge anfertigen lassen… « »In Saint Breward gibt es gute Handwerker!« Nicholas Downe glühte förmlich vor Erregung. Er würde sich endlich, endlich an der Kräuterfrau rächen können und gleichzeitig sein zweites Problem lösen. Lord Galsworthy bekam, was er wollte: Die Geschichte von Mary Finnemore würde auf den zugekniffenen Lippen seiner Untertanen sterben. Und er, Downe, würde von dem sündigen Begehren, das der Teufel und die Hexen bei ihm geweckt hatten, befreit. Das Mädchen würde ein Opfer sein!
Dunn merkte sehr wohl, dass in der Fantasie des Geistlichen bereits Flammen loderten und er das Geschrei der Frau hörte. Über die Prozesskosten würde er später sprechen. Außerdem konnte er sich an Lord Galsworthy wenden. Saint Breward? Ach ja, das wäre eine kleine Abwechslung. Thomas hörte, wie Stühle gerückt wurden. Schritte, dann fiel eine Tür ins Schloss. Er musste sich beeilen, damit er hörte, was sie jetzt planten. Noch bevor er vom Dach herunter war, hörte Thomas die Stimme Downes unter sich. »Leute von Saint Breward! Wir fahren ab! Sagt den anderen Bescheid. Wir fahren bei der Kirche ab. Sagt es weiter, Leute von Saint Breward! Zu den Wagen!«
11. DIE JAGD
Die Wagen holperten durch die Nacht. Downe hatte vergeblich versucht, seine kleine Herde zum Singen zu bewegen. Die Leute waren müde und verschlossen. Sie hingen ihren Gedanken nach, in denen sich Angst und Wut mischten. In Bodmin hatte niemand gejubelt, als die »Hexe« verbrannt wurde. Margareth Wilcock hatte mehr Freunde als Feinde gehabt. Jeder wusste, wie aufopferungsvoll sie sich um ihren kranken Mann gekümmert hatte, wie sie um jeden Tag seines Lebens gekämpft hatte. Das hatten die Bodminer denen aus Saint Breward erzählt. Die Anklage war von einem verbitterten Bauern gekommen. Er hasste Margareth Wilcock und ihren Mann seit Jahren. Sie hatten ein Stück Weideland gekauft, das er gern gehabt hätte. Aber das war während des Prozesses nicht zur Sprache gekommen. Ja, da sah man wieder mal, wie ungerecht Gerichte sein konnten. Und das Geständnis? Ach was. Die Leute, die Margareth gekannt hatten, waren davon überzeugt, dass sie gestanden hatte, weil sie nicht mehr länger leiden konnte oder wollte. Margareth Wilcock war keine Hexe. Aber was sollte man machen? Nicht einmal Father Cardew hatte ihr helfen können! Die Leute waren empört, beunruhigt, unterschwellig aufgebracht. Und diese Stimmung reiste nach Saint Breward mit. Downe musste darüber lächeln. Er wusste, dass er in der Lage war, sie im Handumdrehen zu beeinflussen, dass er ihre Gedanken und Gefühle wie die Saiten einer Harfe bespielen konnte. Schlug er einen fröhlichen Ton an, wurden sie fröhlich,
bei einem tiefen Ton wurden sie traurig und ein falscher Akkord ließ sie vor Angst vor der ewigen Verdammnis zittern. Das Wort Gottes, von Nicholas Downe ausgesprochen, die ewigen Worte auf ein Menschenherz zugeschneidert, wirkten Wunder! Thomas sah das Lächeln auf Downes Gesicht und ihm war hundeelend vor Angst und Anspannung. Die Hände zu Fäusten geballt, saß er im Wagen. Hatten Downe und Dunn, als sie nach draußen gingen, noch mehr geplant? Wann würde Downe das Startzeichen geben? »Lasst uns singen, Brüder! Der Herr ist mein Hirte…« Downe unternahm einen weiteren Versuch. Er stimmte mit dröhnender Stimme den Psalm an. »Downe, hören Sie auf damit, ja? Uns steht der Sinn nicht nach Ihren Gesängen!« Alle erschraken. Was war in William Bylloun gefahren? »William?« »Richtig! Merken Sie denn nicht, dass uns nicht nach Singen ist? Sie haben heute Ihre Seele erquicken können, wir nicht! Also hören Sie damit auf!« Thomas fühlte sich sogleich erleichtert. Es gab noch jemanden, der Downe nicht wie ein Schaf hinterher trotten würde. Thomas’ Großvater bekam sogar Nachahmer. »William hat Recht, Father. Uns ist nicht nach Singen. Glauben Sie, dass die Frau eine Hexe gewesen ist, Father?« John Hokey, ein Tagelöhner, der beim De Lank River einen kleinen, armseligen Hof bewohnte, hatte die Frage gestellt. Downe legte die Stirn in Falten. Was war hier los? »Der Teufel ist überall, John! Oft nimmt er die erstaunlichsten Gestalten an.« »Das war nicht die Frage, Downe!« Erst jetzt fiel Thomas auf, dass sein Großvater den Geistlichen nie mit »Father« ansprach.
»Ich habe die Frage wohl gehört!«, keifte Downe zurück. »Ja, ich glaube, dass sie mit dem Teufel paktiert hat. Ich habe mit Magister Dunn gesprochen, sehr lange, und ich bin davon überzeugt, dass die arme Seele sich dem Fürsten der Finsternis ergeben hat.« »Wenn ich Sie so höre, stolpern wir tagtäglich über den Teufel!«, spottete der Großvater. Downe verzog den Mund zu einem bösen Lächeln und kniff dabei die Augen zusammen. Thomas wurde erneut angst und bange. »Du sagst es«, nickte Downe, »wir stolpern über den Teufel! Auch in Saint Breward. Auch in unserem Dorf gibt es Hexen!« Überraschte Aufschreie. Thomas vergaß zu atmen. »Ich habe den Auftrag bekommen, sie zu fangen und einzusperren. Lord Galsworthy hat mich…« Thomas sprang auf. Der Wagen schwankte durch eine Kuhle. Thomas verlor das Gleichgewicht, fiel halb über Downe. »Sie lügen! Lord Galsworthy hat keine Silbe…« Downe saß vollkommen überrascht da. Erst wurde jemand ausfällig und jetzt wurde er von einem Jungen als Lügner beschimpft. »Thomas!« Die Stimme seines Vaters. »Thomas, komm her und halt den Mund.« Der Junge stand auf, am ganzen Körper zitternd. Die Wagen fuhren nun die letzte Anhöhe nach Saint Breward hinauf. Downe sah einem nach dem anderen in die Augen. Jetzt musste er sie überzeugen, die Verwirrung in ihrem Geist nutzen, ihnen keine Zeit geben, Fragen zu stellen. »Ich soll sie noch heute Nacht fangen. Sobald wir im Dorf sind, holt ihr Fackeln, Heugabeln und Kruzifixe. Ich werde für Weihwasser und geweihtes Öl sorgen!«
Downe fühlte sich wieder vollkommen Herr der Lage. In solchen Momenten war er stark. Er durfte sich nicht von dem Jungen oder dem rebellischen Großvater reizen lassen. Mit Letzterem würde er später abrechnen. Jetzt musste er sich auf die Schwächsten der Gruppe konzentrieren, sie mussten ihm hinterherlaufen wie junge Hunde. »Father…« »Will sich jemand weigern? Will sich jemand deswegen gegenüber Lord Galsworthy verantworten? Will jemand von Magister Dunn verhört werden? Morgen kommt er nach Saint Breward!« Downe hämmerte ihnen die Angst gleich wieder ein. Die meisten senkten die Köpfe, wagten es nicht, aufzusehen. Nur William Bylloun schüttelte den Kopf. »Tu, was du nicht lassen kannst, Downe!« »Wer sind die Hexen?« »Wer hat sie angeklagt?« »Was haben sie gemacht?« Downe hob die Hände. »Es wurden noch keine Namen von Klägern genannt. Eine der Frauen hat jedenfalls einen schlechten Ruf. Sie beschäftigt sich fortwährend mit Zauberei. Sie hat öffentlich und in meinem Beisein Gott gelästert; sie wolle ihm nicht dienen, hat sie gesagt.« Thomas lauschte bestürzt den Lügen, den Halbwahrheiten, den Verdrehungen. Er blickte in die Gesichter der Männer. Im Mondlicht war deutlich zu sehen, dass sie zögerten, nicht glauben konnten, was sie da hörten, aber aus Angst vor der Kirche und Mylord bereit waren, die Beschuldigungen hinzunehmen. Lord Galsworthy und Downe? Wenn die beiden zusammen behaupteten, ein Schaf müsse grün sein und fünf Beine haben, dann konnte man nichts dagegen einwenden. Man arbeitete auf dem Land des Lords, wohnte in einem Haus
des Lords, der Lord konnte geben und nehmen, wie es ihm beliebte. »Wer weigert sich mitzugehen, um die Hexen zu fangen?« »Sag uns, wer sie sind!« »Winnifred Thornbee, genannt die Kräuterfrau…« Sofort kam Protest. »Die Kräuterfrau? Sie hat mir geholfen, als meine Schafe ihre Lämmer verloren! Sie hat mein Kind geheilt! Du musst verrückt sein, Downe! Die Kopfschmerzen meiner Frau! Die Blässe meiner Tochter! Der Arm meines Sohnes war blauschwarz, bevor sie ihn heilte!« Downe ließ den Sturm über sich ergehen. Thomas verlor ihn keine Sekunde aus den Augen. Mit jedem Herzschlag wuchs seine Angst. Downe würde sich durchsetzen, egal wie. Nichts würde ihn aufhalten. Alles passte so wunderbar zusammen. »Merkt ihr denn nicht, dass sie euch Sand in die Augen gestreut hat?« Die Männer verfielen in Schweigen. Im Wagen der Frauen dahinter war es ruhig. Sie schienen nichts zu ahnen. »Woher hat sie die Kräfte, das zu tun, was ihr gerade genannt habt? Habe ich solche Kräfte? Ich, ein Diener des Herrn?« Thomas stöhnte leise. Downe war wieder in Fahrt gekommen und niemand durchschaute ihn. Er, Downe, ein Diener des Herrn! »Sie hat ihre Macht vom Teufel! Sie hat euch mit ihren vergifteten Geschenken günstig gestimmt. Aber jetzt hat sie ihre Maske abgeworfen! Vom letzten Hexensabbat hat sie einen Geist mitgebracht!« Downe hatte die einfachen, abergläubischen Menschen wieder vollkommen im Griff. Sogar William Bylloun lauschte mit aller Aufmerksamkeit. Würde er seinen Widerstand aufgeben?
Thomas beobachtete die Männer. Er musste etwas unternehmen! Sie durften die Kräuterfrau nicht zu fassen bekommen und das Mädchen musste in Sicherheit gebracht werden. »Der Geist hat die Gestalt eines bezaubernden jungen Mädchens angenommen. Das Mädchen sieht einer Frau, die zu ihrer Zeit Tod und Verderben nach Saint Breward gebracht hat, zum Verwechseln ähnlich. Außerdem besitzt das Mädchen nicht die Gabe des Sprechens! Das ist ein Merkmal teuflischer Geister. Sie können nicht sprechen, weil sie ihre Kraft verlieren, wenn sie zufällig den Namen des Herrn aussprechen. Sie ist schon oft bei den Heulern gesehen worden. Ihr werdet euch fragen, was es damit auf sich hat. Nun, die Hexe von Bodmin hat gestanden, bei einem Sabbat gewesen zu sein, und zwar an einer Wegkreuzung, an der ein Altar aus großen Steinen stand. Damit können nur die Heuler gemeint sein! Jeder weiß, dass es an diesem Ort nicht geheuer ist. Muss ich euch noch mehr Beweise nennen?« Downe genoss nun voll und ganz den Ausdruck auf den Gesichtern seiner Zuhörer. Thomas sah an ihren Blicken, dass sie Downe glaubten. Dieser elende Lügner! Jede Wahrheit hat ihre Lüge und jede Lüge ihre Wahrheit. Auf einmal erschienen Dinge in einem anderen Licht. Was hatte Downe gesagt? Unser sündiges Gemüt lässt uns Dinge in einer Weise sehen, die mit dem übereinstimmt, wie wir selber sind. Plötzlich hielt Thomas es nicht mehr aus, er musste etwas tun! Er sprang auf. Jemand versuchte, ihn festzuhalten, aber er riss sich los, schob einen Mann zur Seite und sprang vom Wagen. »Thomas! Komm zurück! Thomas!« Das war sein Großvater.
»Thomas, hierher, zum Kuckuck!« Das war sein Vater. Aber niemand hätte ihn aufhalten können. Er rannte ins Moor. Thomas fühlte sein Herz klopfen, sein Atem jagte, ab und zu flimmerte es vor seinen Augen. Nie zuvor war er so lange gerannt. Endlich! Er konnte die Hütte der Kräuterfrau sehen. Jetzt noch den Hang hinab. Der Junge schluckte zweimal und rannte noch schneller als zuvor. In der Hütte war kein Licht zu sehen. Schliefen die beiden etwa? Thomas erreichte die Tür, fiel beinah gegen sie und schlug mit der Faust auf das harte Holz ein. Hoffentlich schlief die Kräuterfrau nicht allzu fest… Nein! Fast sofort wurde die Luke einen Spaltbreit geöffnet. »Was ist los? Wer ist da? Ihr braucht meine Hütte nicht zu schleifen, ich bin wach!« »Ich bin’s, Thomas Bylloun. Ihr müsst fliehen!« »Was?« Die Luke wurde geschlossen, Gepolter von drinnen, der Holzriegel wurde zurückgeschoben, die Tür geöffnet. »Was erzählst du da für Unsinn, Thomas?« Die Kräuterfrau trug noch immer ihr Tuch um den Kopf. Sie war barfuß und über ihr Nachthemd hatte sie ein buntes gewebtes Schultertuch geschlagen. Im Zimmer hing ein fast unmerklicher Kräuterduft. »In Bodmin wurde eine Hexe verbrannt!« Die Kräuterfrau nickte. »Downe hat mit dem Hexenjäger gesprochen. Er behauptet, du seist eine Hexe!« Die Kräuterfrau schüttelte den Kopf und lächelte traurig. »Was für ein Lump! Aber niemand glaubt ihm, oder?« Thomas wusste nicht, was er darauf antworten sollte. »Nein, sie haben gesagt… aber dann hat Downe von dem Mädchen
gesprochen. Alles deute darauf hin, dass sie ein Geschöpf des Teufels sei, hat er gesagt. Er behauptet sogar, dass sie ihn behext hat…« Thomas sprudelte die ganze Geschichte heraus. Erst als er fertig war, merkte er, dass auch das Mädchen im Zimmer stand. Sie sah so kindlich unschuldig aus mit ihrem verschlafenen Gesicht, dem wirren Haar, ihrem Nachthemd, das knapp über die Knie reichte, und dem Verband, den sie noch immer trug, obwohl sie den Fuß wieder gut belasten konnte. Thomas lächelte gequält. Nein, ihr durfte nichts geschehen, zur Not würde er für sie kämpfen. »Die müssen verrückt geworden sein«, seufzte die Kräuterfrau. »Seit mehr als dreißig Jahren klopfen sie stets bei mir an, wenn sie Hilfe brauchen, und jetzt wollen sie mich auf einmal auf den Scheiterhaufen werfen?« »Du musst fliehen!«, drängte Thomas. »Sie werden noch heute Nacht kommen.« Die Kräuterfrau setzte sich an den Tisch. »Ich kann’s nicht glauben. So stark ist Downe nicht!« Thomas merkte, wie die Angst in ihm wuchs. Er musste sie überzeugen. »Es ist nicht nur Downe! Lord Galsworthy will das Mädchen aus dem Weg räumen! Downe und Mylord! Niemand wird es wagen, nicht zu gehorchen!« Die Frau nickte, schüttelte dann den Kopf, strich sich mit der Hand über die Stirn und seufzte. »Thomas, das ist unmöglich, nicht in Saint Breward!« »Du musst fliehen, bitte!« Thomas faltete sogar flehend die Hände. Die Kräuterfrau starrte lange auf die Tischplatte. »Nein«, sagte sie dann, »ich werde nicht fliehen. Ich werde ihnen sogar entgegengehen. Sie können mir nichts tun. Wenn
ich fliehe, würde ich eingestehen, etwas Falsches getan zu haben. Ich werde ihnen in die Augen sehen und…« »Du kennst Dunn nicht, Kräuterfrau. Er ist ein schrecklicher Mann. Denk auch an sie!« Thomas zeigte auf das Mädchen, das mit weit aufgerissenen Augen zuhörte. Täuschte er sich oder zitterte sie wirklich? »Das Mädchen ist so unschuldig wie der Tau auf dem Gras!« »Aber begreifst du denn nicht, dass das Downe vollkommen egal ist?« »Danke, Thomas. Ich bleibe und werde sehen, was passiert. Ich habe nicht vor zu fliehen. Ich warte hier auf sie und werde ihnen entgegengehen, wenn sie kommen. Gute Nacht.« Anscheinend hatte die Kräuterfrau ihre unerschütterliche Ruhe wiedergefunden. Thomas dagegen zitterten die Knie. Er warf einen letzten Blick auf das Mädchen, flehte sie wortlos an, etwas zu tun. Das Mädchen hob die rechte Hand. Ein Gruß? Ein Abschied?
Das Dorf Saint Breward hatte eine unruhige Nacht. Downe stand mitten auf der Dorfstraße, das düstere Kirchengebäude wie zur Unterstützung hinter sich. Er konnte zufrieden sein. »Wir müssen sofort hinter ihm her. Er darf die Hexen nicht warnen. Sonst werden sie auf ihren Besen fliehen und Teufelssaat über das Dorf ausstreuen!« Niemand sagte mehr etwas. »Vorwärts!«, feuerte Downe die Männer an. »Wir gehen!« William Bylloun trat einen Schritt vor, breitete die Arme aus und hielt die Männer zurück. »Downe, du bist verrückt!« Bylloun drehte sich zu den Männern um. »Und ihr, denkt doch mal nach! Glaubt ihm doch nicht einfach! Du, Stephen, du hast noch vor kaum zwei Stunden
geschworen, dass sie dich nicht so weit kriegen würden! Du würdest nie jemanden anklagen! Jetzt stehst du hier, bereit, jemanden gefangen zu nehmen – ohne Anklage! Nur aufgrund von Downes Geschichte!« Stephen Worn sah zu Boden und zuckte mit den Schultern. Er konnte sein Verhalten nicht erklären. Eine Reihe anderer auch nicht. Die männliche Bevölkerung von Saint Breward war gespalten. Eine Gruppe stand hinter William Bylloun, eine andere hinter Father Downe. »Hört nicht auf ihn! Er will seinen Enkel schützen!«, brüllte Downe. »Der arme Junge ist auch schon verhext, im Bann der Teufelsdienerinnen!« »Thomas ist ein ganz gewöhnlicher Junge!«, erwiderte William Bylloun. »Er hat ein nettes Mädchen gesehen und ist hin und weg. So was kannst du nicht verstehen, Downe! Aber ihr müsstet das verstehen! Ach, ihr könnt mich alle mal!« William Bylloun begriff auf einmal, dass er gegen eine Wand aus fanatischer Angst anredete. Sieben Männer hatten Downes Seite gewählt. Waren sie schlechter als die anderen? Nein, sie hatten nur mehr Angst, hatten vielleicht mehr zu verlieren. Sie dachten, sie könnten ihr Los verbessern, indem sie sich Downe anschlossen. Deswegen saugten sie seine Worte auf, die ihr Gewissen betäubten. Ihre Augen glänzten wie im Fieber. Sie waren zu Jägern geworden. Ihre Fackeln rauchten. Sie hielten Kruzifixe in den schwieligen Fäusten, hoben ab und zu streitlustig die Heugabeln. »Downe«, sagte William Bylloun traurig, »du weißt nicht, was du tust. Du stürzt das gesamte Dorf ins Verderben. Und ihr, ihr blinden ängstlichen Trottel, glaubt ihr wirklich, ihr werdet hierfür belohnt? Glaubt ihr, die Himmelspforte wird für euch aufgehen? Glaubt ihr etwa auch nur eine Sekunde lang, Mylord würde euch mit Gaben danken? Ihr werdet für dumm
verkauft! Eure Fäuste sollen einen leeren Himmel verteidigen. Denn wenn das die Leute sind, die in den Himmel kommen, dann bin ich davon überzeugt, dass Gott und seine Heiligen schon längst den Himmel verlassen haben. Die wollen mit…« »Er lästert Gott! Hört nicht auf ihn! Los geht’s!« Downe drehte sich um. Die sieben Männer zögerten einen Augenblick. Dann stürmten sie hinter ihm her. »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott…« Downes Stimme hallte durch die Nacht. In Saint Breward blieben weinende Frauen und machtlos fluchende Männer zurück.
Mitten in der Nacht schrak die Frau aus einem furchtbaren Traum auf. Betty! Wo war sie? Was geschah mit ihr? Wieso träumte sie von einem Flammenmeer, das das Mädchen stets mehr umschloss? Sie hatte Bettys Mund gesehen, zu einem Schrei aufgerissen, aber das Mädchen konnte keinen Laut herausbringen.
12. GEFANGEN
»Still jetzt! Dort ist die Hütte!« Wie ein Feldherr befahl Downe der kleinen Gruppe, auszuschwärmen und die Hütte der Kräuterfrau zu umzingeln. »Du kannst dir die Mühe sparen, Downe! Hier bin ich.« Die Tür schwang auf und die Kräuterfrau trat heraus, vollständig angekleidet, ein Schultertuch umgeschlagen. In einem geknoteten Tuch hatte sie Brot und Käse bei sich. »Hexe, wir sind gekommen, um dich gefangen zu nehmen. Du wirst deiner rechtmäßigen Strafe nicht entgehen.« Das klang falsch, unecht, als ob Downe eine Rolle in einem Theaterstück spielte, eine Rolle, die nicht zu ihm passte. »Ich sagte bereits, du brauchst dir keine Mühe zu machen, Downe! Ich werde mit dir gehen. Spar dir also dein Geschwätz.« Die Kräuterfrau war beeindruckend. Sie lächelte den anderen Männern zu. Die kamen sich auf einmal lächerlich vor mit ihren Kruzifixen, ihren Fackeln, ihren Heugabeln. Die Männer schlugen die Augen nieder, zweifelten plötzlich an dem, was sie hier machten. Sobald die anfeuernden Reden Downes wegfielen, fingen sie an, das Ganze zu überdenken. »Abführen! Sie wird in der Scheune bei der Kirche eingesperrt.« Die Kräuterfrau lachte. »Ach, und ich dachte, du würdest mich sofort verbrennen lassen!« Einer der Männer lachte nervös. Downe spürte, wie ihm die Situation aus den Händen glitt. Genau wie beim letzten Mal redete ihn die Kräuterfrau einfach
an die Wand und erneut musste er sich mit der Waffe der Schwachen behelfen: Gewalt. Er ohrfeigte die Kräuterfrau, der Schlag hallte in der Stille der Nacht. »Auch wieder die andere Wange?«, fragte sie gleichmütig. »Führt sie ab! Weg mit ihr!«, kreischte Downe, puterrot vor Wut. »Fesselt sie!« Aber keiner der Männer rührte sich. Es wurde immer deutlicher, dass etwas nicht stimmte. Waren sie mit offenen Augen in die Falle geraten? John Hokey streckte den Arm aus. Die Kräuterfrau sah ihn mit funkelnden Augen an. »Finger weg, John Hokey! Ich sagte bereits, dass ich mitkomme. Wie geht es übrigens deinem Hund? Ich habe gehört, er ist schon wieder auf den Beinen. Und dein Sohn? Hustet er immer noch?« Hokey fluchte laut. »Und du, Stephen Worn, bring mir so schnell wie möglich den Krug zurück, in dem das Mittel gegen die Huffäule deiner Schafe war! Einer deiner Freunde hat auch Probleme damit und ich würde ihm gern helfen.« Dann ging sie mit erhobenem Haupt den Pfad in Richtung Saint Breward entlang. »Halt!«, brüllte Downe. »Wo ist die zweite Hexe?« »Ich bin alleine hier. Außerdem bin ich keine Hexe, Downe!« Die Kräuterfrau blieb stehen und versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Das Mädchen war soeben in plötzlicher Panik durch die Hintertür entwischt. Und vielleicht war es tatsächlich besser so. Sie würde sich fürs Erste zu helfen wissen. Sie durfte in nächster Zeit nicht in die Hände der Männer fallen, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Jede Sekunde Aufschub vergrößerte ihren Vorsprung. »Wo ist die Teufelsbrut?«
»Father Downe, ich befürchte, du hast geträumt. Von wem sprichst du eigentlich?« Downe war vor Wut fast außer sich. War das Mädchen entwischt? War sie mit Thomas Bylloun verschwunden? »Durchsucht die Hütte!« »Wenn es jemand von euch wagt, ohne meine Zustimmung einen Fuß ins Haus zu setzen…« Zwei Männer, die sich bereits in Bewegung gesetzt hatten, blieben stehen. »Sie droht euch mit Zauberei! Hat ein jeder das gehört? Sie sagt selbst, dass sie eine Hexe ist!« »Ich habe nichts dergleichen gesagt, Downe! Du legst mir Worte in den Mund. Du bist nicht nur ein Lügner, sondern auch ein Feigling. Na ja, bei einem Kerl, der eine Frau schlägt, muss man auf so ziemlich alles gefasst sein.« Die Männer wagten es nicht mehr, Downe anzusehen. Der Geistliche hatte seine Glaubwürdigkeit verloren, seine Autorität gegenüber den Männern aus dem Dorf war weg; er war nur noch ein armseliger, rachsüchtiger Mann. Aber die Angst blieb. Hinter Downe spürten sie den Schatten von Lord Galsworthy, vielleicht einen Schimmer der ewigen Verdammnis. »Ich werde selbst hineingehen. Ich jage die Teufelsbrut zur Tür hinaus!« Mit wehenden Rockschößen stürmte Downe aufs Haus zu. »Downe!« Der Geistliche hörte nicht oder wollte nicht hören. Er riss die Tür auf. Im Kamin glühten noch einige Torfstücke. Im Zimmer hing der Geruch nach frisch gebackenem Brot und getrockneten Sommerblumen. Downe sah sich um. Er kannte die Wohnstube, wusste, dass sich hier niemand verstecken konnte. Das kleine Zimmer hinter der Stube? Nichts. Die Kammer auf dem Treppenabsatz, in der die Kräuterfrau
schlief? Nichts. Es gab keine Schränke, keine geheimen Luken, keine… Die Hintertür stand einen Spalt offen. Downe öffnete sie ganz, ging ein paar Schritte nach draußen und starrte übers Tal. In der Ferne schienen sich die Sterne am Horizont zu stapeln. Dort! Er sah es ganz deutlich: Da stand jemand! »Was machen Sie da?« John Hokey stand neben Downe. Hatte er etwas gesehen? Downe scheuchte ihn zur Vorderseite der Hütte.
Thomas wusste sich keinen Rat mehr. Alles war schief gelaufen. Die Kräuterfrau hatte nicht auf ihn hören wollen, das Mädchen war bei ihr geblieben, er hatte, ohne nachzudenken, alles riskiert. Das würde ihm Downe nie verzeihen. Seine Eltern standen jetzt vermutlich Todesängste aus und fragten sich, was wohl passiert war. Lord Galsworthy würde ihn hart bestrafen. Was sollte er tun? Wo konnte er hin? Wann… Der Junge blieb stehen, lauschte in den Wind. In der Stille der Nacht waren Geräusche weithin zu hören. Geschrei? Sie waren also schon da. Thomas setzte sich auf einen Stein, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Er hätte nicht sagen können, warum. Aus Angst, Enttäuschung, Abscheu, Wut? Es war von allem etwas. Father Cardews Antwort auf seine Frage kam ihm wieder in den Sinn: Schließ die Augen, vergiss alles… Da fühlte Thomas auf einmal eine Hand auf seiner Schulter. Downe wütete in der Hütte der Kräuterfrau. Er griff den Besen neben dem Kamin und schlug mit einem einzigen Schwung alle Kräutertöpfe vom Regal. Dann warf er den Tisch um, trat die Hocker durch den Raum, zertrümmerte ein Regal mit kleinen Steinkrügen. Ein Wirbelsturm von Gerüchen jagte
durchs Zimmer. Mit einem bösen Miauen sprang die Katze unter einer Bank hervor und rannte fauchend an Downe vorbei. Der Geistliche war völlig von Sinnen. Da er gegen die Kräuterfrau nicht ankam, ließ er seine Rachegelüste an der Einrichtung aus. Alle Erniedrigungen, die er meinte, erlitten zu haben, verliehen ihm eine blinde, vernichtende Kraft. Downe riss die getrockneten Kräuter von der Decke, drückte sie zu einer Fackel zusammen und hielt sie ins Feuer. Gierig fraßen sich kleine Flammen durch die Zweige, vereinten sich zu einer großen Flamme, zu einer Feuersäule, die Downe von sich schleuderte. Die ätherischen Öle in einigen Töpfchen fingen an, mit bläulichen Flammen zu brennen. Rauch, noch mehr Flammen. Das Teufelsnest sollte in Rauch und höllischem Geknister aufgehen! Downe lächelte, lachte, schrie vor Lachen. Er hatte die Kräuterfrau besiegt. Er würde sie verbrennen lassen, wie er es vorausgesagt hatte. Niemand konnte ihn, Nicholas Downe, zurückhalten. Irene! Irene! Siehst du, was du verloren hast? Den Mann, der über das Feuer herrscht, über die Seelen der Menschen, sogar über die Hölle! Diesen Mann hast du wegen eines kläglichen Matrosen verlassen! Auf einmal spürte Downe die Tragweite dieses Augenblicks. Zum ersten Mal triumphierte der Mann über die Frau! Endlich! Die Befreiung war nah. Als er nach draußen stürmte, die Arme triumphierend in die Höhe gestreckt, mit stolz erhobenem Haupt vor dem nun schnell um sich greifenden Feuer stehen blieb, wussten die Männer, dass sie einem Verrückten gefolgt waren. Es ist ein Jammer, dachte Stephen Worn, dass so viel Macht in den Händen Verrückter liegt. Und ich habe drei Kinder zu ernähren!
Die Kräuterfrau beobachtete das Feuer, das ihre Hütte verschlang. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Der Schmerz, den dieser Wahnsinn auslöste, zerriss ihr das Herz, jeder einzelne Muskel ihres zähen, knochigen Körpers verkrampfte sich. Aber sie würde ihren Schmerz nicht zeigen. Diese Genugtuung gönnte sie Downe nicht. Inzwischen wusste sie nämlich, wie sie sich rächen würde. Denn was Downe getan hatte, schrie nach Rache.
»Du?« Thomas traute seinen Augen nicht. Das Mädchen? Sie nickte, lächelte, aber die Angst stand in ihren Augen und ihre Hände zitterten leicht. Zudem war sie außer Atem. Nun da Thomas zum ersten Mal mit ihr ganz alleine war, wusste er nicht, was er sagen oder tun sollte. In den vergangenen Tagen war es anders gewesen, da waren sie einfach zusammen mit den Schafen über die Heide gegangen. Jetzt waren sie aufeinander angewiesen und das Mädchen zählte auf ihn – jetzt kam es darauf an! Das Gefühl, mit ihr ganz alleine zu sein, ging tiefer als alle Gefühle zuvor. Eine wohlige Wärme verscheuchte die Unruhe von eben. »Ich wünschte, ich wüsste deinen Namen«, sagte Thomas und wunderte sich im gleichen Moment über sich selbst. Bisher hatte er nicht den Wunsch verspürt, sie mit ihrem Namen anzusprechen. Für ihn war sie einfach »das Mädchen« gewesen, als ob es nur ein einziges Mädchen gäbe. Sie nahm seinen Arm, drehte Thomas zu sich. Dann tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Nase und bewegte die Lippen. Zwei Silben ohne Laut. Ein B oder P zu Anfang, ein T oder D in der Mitte?
»Bodmin? Willst du nach Bodmin?« Das Mädchen schüttelte den Kopf, einen Augenblick lang funkelten ihre Augen. Sie schien verärgert, weil er nicht verstanden hatte. Erneut tippte sie mit dem Finger auf ihre Nase, schaute ihn mit großen Augen an. »Willst du mir deinen Namen sagen?« Sie nickte lachend. Wieder formten ihre Lippen das Wort, langsam, mit noch mehr Nachdruck. Thomas meinte tatsächlich, etwas zu verstehen. »Betty? Heißt du Betty?« Sie nickte begeistert, packte seinen Kopf mit beiden Händen und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Thomas errötete. Sie war so wunderbar spontan. Er tastete nach ihrer Hand und lächelte. »Wir müssen fliehen.« Thomas runzelte die Stirn. In der Ferne sah er auf einer Anhöhe einen Mann. Downe? Das Mädchen folgte seinem Blick und schlug die Hände vor den Mund. Hatte sie Downe erkannt? Jetzt standen zwei Männer dort! Einer von ihnen verschwand fast sofort wieder. Würden sie sie jetzt verfolgen? Auf einmal wollte Thomas keine Zeit mehr verlieren. Wieso hatte die Kräuterfrau so lange gewartet? Wo war sie jetzt? War sie gefangen genommen und weggebracht worden? Thomas spähte noch einmal zu der Anhöhe hinüber. Feuer? Die Hütte der Kräuterfrau? Hatten sie sie in Brand gesteckt? Das Mädchen sah das Feuer ebenfalls. Sie griff nach seinem Arm und zog ihn fort. Thomas folgte ihr, aber schon nach ein paar Schritten wurde ihm bewusst, dass sie nirgendwohin konnten. Wo sollten sie sich verstecken? Wo Essen finden? Wer würde ihnen noch helfen, wenn Lord Galsworthy die Nachricht verbreiten ließ,
sie würden gesucht? Aber vielleicht tat Mylord das auch nicht, vielleicht gab er sich damit zufrieden, dass das Mädchen aus Saint Breward verschwunden war? Thomas schüttelte die sorgenvollen Gedanken ab und ging mit großen Schritten weiter. Er wollte und musste sich mit dem Mädchen durchschlagen. Schließlich war er ihr Beschützer! Hatte er nicht geschworen, für sie zu sorgen und, wenn nötig, für sie zu kämpfen? Und gab es nicht viele andere, die durchs Land streunten, ohne zu verhungern? Sie gingen weiter über das endlose Moor in Richtung Brown Willy, dem höchsten Hügel der Gegend. Dort gab es genug Verstecke, Höhlen an den Flanken des Schiefersteins; dort strömte der De Lank River und es gab frisches Wasser. Er würde Fallen aufstellen und Kaninchen fangen. Mit ein bisschen Glück würde es ihm gelingen, Feuer zu machen. Oft genug hatte er Feuersteine aneinander geschlagen, sodass Funken sprangen. Er kannte die Beeren, die man essen konnte, die Wurzeln, die bitter, aber nahrhaft waren… Das einzige Mittel gegen die Verzweiflung, die ihn erneut zu überwältigen drohte, war, Pläne zu schmieden. Das Mädchen schien ihn zu verstehen, denn sie drückte ermutigend seine Hand.
Als Downe ins Dorf zurückkehrte, standen die Bewohner schweigend vor ihren Türen. Düstere, bedrohliche Silhouetten in der Nacht. »Wir haben die Hexe gefangen!«, brüllte Downe. »Und du hast auch ihr Haus angezündet!«, schrie jemand. »Nein!«, antwortete Downe. »Das hat sie selbst getan. Ich war drinnen, um die andere Hexe zu suchen, als plötzlich überall Flammen…« »Downe«, rief die Kräuterfrau, »du bist ein Erzlügner!«
Gemurmel. Downe machte eine ungeduldige Geste. »Die Hexe wird in der Scheune bei der Kirche eingesperrt. Wer versucht, ihr zu helfen oder sich ihr auch nur nähert, wird ebenfalls angeklagt.« Die Leute knurrten unwillig. Downe versuchte mit drohenden Blicken, seine Autorität wiederzuerlangen, jedoch ohne Erfolg. Die Abwehrhaltung der Dorfbewohner war überdeutlich, aber das war Downe egal. Morgen würde Dunn da sein und er würde sich auf die Macht von Lord Galsworthy berufen können. Schon bald würden sie wieder zu allem Ja und Amen sagen, wie er es wollte. Der armselige Zug ging zur Scheune bei der Kirche. Die Zuschauer murmelten Drohungen, aber niemand griff ein. Die Kräuterfrau versuchte, nicht ängstlich zu wirken, grüßte den einen, rief einem anderen etwas zu. Eins wusste sie sicher: Wenn es von den Einwohnern von Saint Breward abhing, würde man sie nicht verurteilen können. Allein der Gedanke an den Hexenjäger Dunn beunruhigte sie. Sie waren bei der Scheune angekommen. Die Fenster waren kaum mehr als Mauerritzen, durch die zwar Luft, aber so gut wie kein Licht ins Innere kam. Das Moos in den Fugen der Steinmauern verriet, wie kalt und feucht es drinnen sein musste. Die Tür wurde mit Schwung aufgerissen. »Rein mit dir!«, brüllte Downe. Ungefähr zwanzig Leute waren mitgegangen, sie schauten aus einiger Entfernung zu. »Danke für die freundliche Einladung«, sagte die Kräuterfrau spöttisch. »Leider konnte ich dich nicht einladen. Mein Haus ist abgebrannt, wie du weißt.« Downe packte sie bei der Schulter und stieß sie hinein. Die Kräuterfrau stolperte, fiel auf Hände und Knie. Sie hörte, wie
die Tür zugeschlagen, der Riegel vorgeschoben wurde. Sie war gefangen und allein. Sie tastete im Dunkeln herum und kam schließlich auf die Beine. Nun da sie sich nicht länger beherrschen musste, zitterte sie am ganzen Körper. »Trotz allem, Downe, mich kriegst du nicht! Und wenn ich sterbe, werde ich dich mitnehmen in die Hölle!«, schluchzte sie.
Die Frau konnte nicht wieder einschlafen. Sie würde weiterziehen. Am nächsten Morgen, in aller Frühe. Ihre Füße waren beinahe geheilt. In drei Tagen müsste sie es eigentlich bis Saint Breward schaffen. Sie war sich inzwischen sicher, dass Betty im Moor herumstreifte. Sie spürte das. Bis zu diesem Abend war sie nicht übermäßig unruhig gewesen, jetzt aber hatte Panik sie ergriffen. Immer wenn sie die Augen schloss, kam das Bild von den Flammen zurück. Warum? Was bedeutete das? Wieso war das Mädchen in das verfluchte Dorf gegangen?
In Saint Breward war scheinbar wieder Ruhe eingekehrt. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen und hingen im Dunkeln ihren Gedanken nach. Man sprach im Flüsterton miteinander. »Wir können ihn nicht gewähren lassen!« »Das geht zu weit. Er muss den Verstand verloren haben.« »Halt dich da raus! Lord Galsworthy hat ihm aufgetragen, sie zu fangen.« »Warum Mylord wohl so plötzlich Hexen fangen will? Ob auch er durchgedreht ist?«
Thomas’ Vater versuchte erfolglos, seine Frau zu trösten. Sie hörte nicht auf zu schluchzen. William Bylloun saß am Kamin. »Meinen Enkel kriegst du nicht, Downe! Du nicht und niemand anderes. Zur Not schneide ich dir die Kehle durch, aber du kriegst ihn nicht! Du hast uns lange genug für dumm verkauft.«
Bei der Kirche drehte Stephen Worn seine Runden. Die Nacht war lau und dennoch zitterte er. Wieso hatte Downe ausgerechnet ihn bestimmt? Wenn die Gefangene sich nun in ein wildes Tier verwandeln und ihn in Stücke reißen würde? Vielleicht konnte sie ihn sogar durch die Tür oder die Mauern hindurch behexen. Downe liegt jetzt in seinem Bett, dachte er, und mich lässt er die gefährliche Arbeit tun! Stephen Worn postierte sich ein Stück von der Scheune entfernt. Das Dorf schien zu atmen. War das der Wind? Die Seelen der Toten?
»Mylord? Hier ist ein Mann, der Sie unbedingt sprechen will. Muss!« Lord Galsworthy drehte sich in seinem Bett um, vom Schlaf noch ganz betäubt. »Was sagst du? Ein Mann? Muss mich sprechen? Zu dieser nachtschlafenden Stunde?« »Es geht um das Mädchen, Mylord.« Mit einem Schlag war Galsworthy hellwach. War Downe verrückt geworden? Lord Galsworthy ging in die Halle seines imposanten Hauses. »Was zum Kuckuck willst du?«
Der Mann starrte den Lord verwirrt an. Ohne Perücke, im Nachtgewand und mit einer zerknautschten Schlafmütze sah der Besitzer Saint Brewards alles andere als Respekt einflößend aus. Die Kerzen flackerten, die Schatten geisterten über die Vertäfelung aus Eichenholz. »Mylord, Sie haben die Hexen fangen lassen…« Galsworthy runzelte die Stirn. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? »Hexen? Welche Hexen?« »Father Downe hat die Kräuterfrau gefangen genommen, aber das Mädchen, von dem man sagt, sie sei der Geist von Mary…« »Schweig! Ich will den Namen nicht hören! Was ist mit dem Mädchen?« John Hokey zuckte zusammen. Warum hatte er nur auf seine Frau gehört? Wieso lag er jetzt nicht im Bett? »Sie ist entkommen, Mylord! Sie ist auch eine Hexe und sie ist entkommen. Aber ich weiß, wo sie jetzt ist. Ich hab sie gesehen! Sie flieht Richtung Roughtor. Father Downe hat sie auch gesehen, aber er hat nichts unternommen. Ich wollte Mylord sagen, dass es nicht meine, nicht unsere Schuld ist, wenn sie entkommt. Ich will Mylord nur einen Dienst erweisen.« »Roughtor, aha. Du hast sie gesehen? Und Downe hat sie entwischen lassen?« Lord Galsworthy verstand von der ganzen wirren Geschichte noch immer kein Wort. Das Einzige, was er inzwischen mit Sicherheit wusste, war, dass in Saint Breward etwas vor sich ging, dass Downe Dummheiten machte. Wollte Downe das Mädchen als Hexe verurteilen lassen? Der Trottel! Hatte er denn vergessen, dass er, Lord Galsworthy, keinen Skandal wollte?
»Du hast gut daran getan, mich zu unterrichten, braver Mann. Ich werde es nicht vergessen. Geh jetzt in Ruhe schlafen. Du hast deine Pflicht getan. Gut gemacht!« Lord Galsworthy machte eine gebieterische Handbewegung, und der Hausknecht sprang zur Tür, um sie für den Besucher zu öffnen. Da bin ich so weit gegangen und er hat noch nicht einmal nach meinem Namen gefragt!, dachte John Hokey, als er in der Dunkelheit den Weg nach Saint Breward einschlug.
13. »DU BIST EIN ESEL, DOWNE!«
Kaum war die Nacht dem Morgen gewichen, da wurden die Leute in Saint Breward von Hufgetrappel und Hundegebell geweckt. Hier und da wurde ein Fensterladen geöffnet und jemand spähte heraus: Lord Galsworthy mit fünf seiner Knechte zu Pferd und mit der Hundemeute, die für die Treibjagd eingesetzt wurde. Die braunweißen Jagdhunde liefen mit gesenkten Köpfen, sabberten und schnüffelten hier und dort. Sie waren hungrig und nervös, wussten nicht, was ihr Herr von ihnen wollte. Überall verwirrende Gerüche! Der Jagdaufseher, der für die Meute zuständig war, musste immer wieder seine lange Peitsche knallen lassen, um sie zusammenzuhalten. Lord Galsworthy ritt auf seinem besten Jagdpferd, einem hochbeinigen Wallach mit rotbraunem Fell und flachsblonder Mähne. Ohne nach rechts oder links zu sehen, ritt Mylord schnurstracks zum Haus von Downe.
»Sie werden den Jungen suchen«, jammerte Thomas’ Mutter, nachdem sie aus dem Fenster geschaut hatte. »Sie werden ihn hetzen wie ein wildes Tier, und die Hunde werden ihn zerfleischen!« Ben Bylloun nickte stumm. Ein verfluchter Dummkopf war dieser Bengel von einem Sohn! Und das alles wegen eines Mädchens! Ben Bylloun seufzte. Warum nur? Und du, damals?, fragte eine spitze Stimme in seinem Kopf, hast du schon vergessen, was für verrückte Pläne du hattest, um die schöne Mary
Finnemore zu kriegen? Erinnerst du dich etwa nicht mehr daran, dass du alles hättest stehen und liegen lassen? Ein kleiner Wink von Mary wäre genug gewesen. Ben Bylloun versuchte, die Stimme zum Schweigen zu bringen. Er hatte es nicht getan! Er… Du hast nie eine Chance gehabt. Mary hat dir sofort die Leviten gelesen! Du warst nämlich verheiratet… »Können wir denn gar nichts tun?«, jammerte Melany Bylloun. »Wir müssen Mylord im Namen des Jungen um Vergebung bitten.« »Nein!« Die Stimme des alten William Bylloun klang hart und entschieden. »Vorläufig tun wir nichts. Vielleicht schnappen sie den Bengel gar nicht. Und wenn doch, wird Mylord weder ihn noch das Mädchen von seinen Hunden zerreißen lassen. Er wird sie hierher bringen lassen und sie wie die Kräuterfrau wegen Zauberei oder dergleichen anklagen. Erst dann können wir etwas tun.« Er sprach mit so ruhiger Zuversicht, dass Thomas’ Eltern wieder Hoffnung schöpften. »Downe kriegt den Jungen nicht! Und wenn ich…« William Bylloun brach ab, aber der drohende Ton in seinen Worten war unüberhörbar. Zur Not würde er bis zum Äußersten gehen – er hatte etwas von einem abgekämpften Wolf. Lord Galsworthy stieg vom Pferd und gab die Zügel einem seiner Knechte. Mit großen Schritten ging er zu Downes Haustür. Stephen Worn, der vom Wacheschieben vollkommen erschöpft und halb schlafend an einem Baum gelehnt hatte, schreckte hoch und nahm seine Mütze ab. Lord Galsworthy beachtete ihn jedoch gar nicht. Der Lord schlug mit der Faust an Downes Tür, die vorsichtig geöffnet wurde. »Mylord?«
»Ich muss dich sprechen, Downe!« Mehr hörte Stephen Worn nicht, denn die Tür wurde geschlossen.
Downe stand im Nachthemd und barfuß in der Wohnstube seines Hauses. Lord Galsworthy sah sich kopfschüttelnd um. »Was für ein Schweinestall!«, sagte er. »Aber das ist dein Problem. Was hat das mit den Hexen zu bedeuten?« Downe wusste nicht, wie ihm geschah. Wer hatte Lord Galsworthy Bescheid gesagt? Was wusste er? »Ich habe gestern mit Magister Dunn gesprochen. Und da wurde mir klar, dass auch in Saint Breward Hexen am Werke sind.« Die sonst so kräftige Stimme Downes war kaum mehr als ein Piepsen. »Was?« Downe nickte. »Und dann habe ich alles unternommen, um sie zu fangen. Magister Dunn kommt heute hierher. Er kann sofort mit seiner Untersuchung anfangen.« Lord Galsworthy starrte den Geistlichen an, als hätte der plötzlich zwei Köpfe. »Und das hast du einfach so beschlossen?« »Ich wollte heute mit Ihnen darüber sprechen, Mylord. Sie hatten doch gesagt, ich müsse die Probleme lösen!« Lord Galsworthy war sprachlos. »Eine Hexe ist bereits eingesperrt. Ich werde noch heute ein Palei und ein Hexenkreuz machen lassen!« »Ein was?« »Werkzeuge für die Befragung. Magister Dunn hat mir alles genau erklärt. Ich brauche auch einen Amboss…« Lord Galsworthy ging kopfschüttelnd im Zimmer auf und ab. »Das ist nicht zu glauben! Gleich wache ich auf – ich träume bloß!« Mit jeder Sekunde wurde der Edelmann wütender.
»Was soll der Mist, Downe?« »Mylord, die Kräuterfrau ist eine Hexe! Genau wie das Mädchen. Ein Kind des Teufels, das nicht sprechen kann. Wir können sie verurteilen, sie werden verbrannt und niemand wird je mehr über Mary Finnemore sprechen. Außerdem tut es Not, dass die Bewohner von Saint Beward eine Lektion erteilt bekommen. Ab und zu widersetzen sie sich, auch mir gegenüber, auch gegenüber den Geboten des Herrn!« Lord Galsworthy sank auf einen Stuhl und starrte Downe mit offenem Mund an. »Willst du mir damit etwa sagen, dass du das alles eingefädelt hast, um das Mädchen aus dem Weg zu schaffen? Ist es das, was du mir gerade zu erklären versuchst? Du hast den Verstand verloren, Mann!« Downe rang die Hände. »Die Kräuterfrau stachelt alle gegen Sie und die Kirche auf, Mylord. Sie ist eine Hexe, das weiß ich genau. Und das Mädchen verzaubert jeden, der sie sieht. Sie hat sogar mich angefallen, dachte, dass ich der Teufel in Gestalt eines Priesters wäre! Erinnern Sie sich nicht mehr an die Worte des Magisters Dunn? Sie griff mich an, wollte mich verführen, sie wollte… sie war kalt wie Eis, Mylord! Und der Junge, Thomas Bylloun, ist auch von ihr verhext worden. Vielleicht steht er schon im Dienst des Teufels! Denn als ich anfing, Psalmen zu singen, flüchtete er.« »Hör auf, Downe! Das sind Geschichten, mit denen man allenfalls Säuglingen Angst machen kann. Du solltest einfach dafür sorgen, dass nicht mehr über das Mädchen geredet wird. Was, glaubst du, wird jetzt passieren? Noch mehr Fantasiegeschichten über den Geist der Mörderin, der keine Ruhe findet und an den Ort des Verbrechens zurückkehrt? So allmählich musst du die Leute hier doch kennen!« Downe senkte den Kopf.
»Und du hast das Mädchen auch noch entwischen lassen!« Jetzt war Downe vollkommen ratlos. Jemand musste ihn verraten haben. »Ich wollte… wir hätten heute… wir werden sie fangen. Sie können nirgendwohin!« »Sie?« »Der Junge hat sie gewarnt und ist mit ihr mitgegangen.« Lord Galsworthy nickte. »Im Grunde ist es wohl so, dass der Junge sich in das hübsche Kind verliebt hat, du dich wie ein wahnsinniger Prophet aufführst und der Junge seine Liebste beschützen will!« Downe schloss die Augen. Herr, wenn du sogar die Obrigkeit mit Blindheit schlägst, dachte er, wie soll es dann erst den Knechten ergehen? »Also gut, ich werde dich vorläufig weiter unterstützen müssen, Downe. Aber ich warne dich! Wenn die Sache außer Kontrolle gerät, lasse ich dich auf die Insel Scilly verbannen. Ich werde deine Hexe und deinen Zauberer fangen. Der Rest ist dann deine Sache. Und pass, verdammt noch mal, auf, dass nichts mehr schief geht, verstanden?« Downe nickte unterwürfig. Lord Galsworthy ging zur Tür. »Wo hast du die beiden zum letzten Mal gesehen?«, fragte er. »Sie gingen in Richtung Roughtor, oder?« Downe nickte wieder. »Du bist ein Esel, Downe! Ein dreifacher Esel!« Dennoch schwang Lord Galsworthy sich aufs Pferd, um die beiden jungen Leute zu fangen. Macht leugnet nun einmal nie Macht. Wenn sie das täte, würde sie sich zu guter Letzt selbst aufheben.
Thomas richtete sich leise auf. Das Mädchen schlief noch. Er hatte ihr seine Jacke gegeben, hatte trockenes Gras gesammelt und daraus eine Art Kopfkissen gemacht. Letzte Nacht waren sie noch stundenlang gelaufen, das Mädchen hatte wieder zu humpeln angefangen. In der Nähe von Brown Willy hatten sie Halt gemacht. Das Mädchen war sofort eingeschlafen. Thomas hatte noch lange die Sterne angestarrt. Seine Gedanken hatten sich im Kreis gedreht, wie eine Ziege, die an einen Pfahl gebunden ist und stets aufs Neue denselben Kreis abgrast. Aber er war um keinen Deut schlauer geworden. Er betrachtete das Mädchen. Ihr rotes Haar lag wie ein Schleier über ihrem Gesicht. Sie atmete ruhig. In ihrem Mundwinkel platzte ein Speichelbläschen. Sie sah so unendlich lieb, jung, wehrlos, zerbrechlich aus. Was war ihr Geheimnis? Würde er es je erfahren? Ach, eigentlich spielte es keine Rolle. Er liebte sie, genau wie er den Himmel und die Heide liebte. Auch die würde er nie ganz ergründen können. Dunn saß in einer zweirädrigen Kutsche, die ihn nach Saint Breward brachte. Hinter ihm ging die Sonne auf und tauchte alles in rosarote Glut. Lebe wohl, Bodmin! Er freute sich schon auf den neuen Auftrag in Saint Breward. Sonderbares Dorf, Saint Breward. Hier stand die höchste Kirche im rauen Cornwall, dem heiligen Branwalader geweiht, oder, wie ihn die Geistlichen nannten: Sanctus Brewweredi de Hamathethi. Auch die Bewohner schienen sonderbar zu sein. Er hatte von einem Prinzen gehört, der in einen Krieg mit einem Rivalen verwickelt war und die Einwohner gefragt hatte, auf welcher Seite sie stünden. Und sie hatten ihm unverfroren geantwortet, sie gehörten allein zu Saint Breward. Die Sache könnte also ziemlich spannend werden! Obwohl – Downe schien seine Herde mit eiserner Hand zu führen und hatte diesen Lord, wie hieß er doch gleich?, jederzeit als Druckmittel in der Hinterhand. Wie auch immer, es war ein wunderschöner Tag,
ideal für die Untersuchung. Er strich über seine Tasche aus weichem Leder. Ja, ein schöner Tag!
Die Frau ging die verlassene Straße entlang. Vor ihr ging die Sonne auf. Sie spürte die Wärme des rosaroten Lichts auf ihrem Gesicht. Wie friedlich das Moor dalag. Sanfte Hügel in Pastelltönen. Und trotzdem: Wer weiß, welche Dramen sich ein Stück entfernt abspielten? Sie kam fast um vor Angst, nun da sie nach Saint Breward zurückkehrte. All die Gefühle von früher, all die Tränen und Reue waren auf einmal wieder da. Sie fragte sich, ob sie die Kraft haben würde, ihren Weg bis zum Ende zu gehen. Und Betty? Wie und wann würde sie Betty Wiedersehen? Die Pferde trabten schnaubend über die trockene Heide, Richtung Roughtor. Lord Galsworthy ließ die Hunde nun frei laufen. Sie bellten, hechelten mit weit aufgesperrten Mäulern, sprangen durch- und übereinander, wussten noch immer nicht, welche Beute sie nun eigentlich jagen sollten. »Kennst du irgendwo in der Nähe von Roughtor einen Ort, an dem man sich verstecken könnte?« Der Jagdaufseher schüttelte den Kopf. »Mylord kennt Bodmin Moor genauso gut wie ich. Dort gibt es keine Verstecke. Man kann sich natürlich in Farnkraut ducken…« »Dann müssen wir weiter. Sie brauchen mindestens drei Tage, bis sie ein anderes Dorf erreichen, wenn sie in dieser Richtung weitergezogen sind.« Lord Galsworthy gab seinem Pferd die Sporen. Mit donnernden Hufen stob die Gruppe Richtung Brown Willy. Die Hunde heulten, die Jagd war eröffnet! Ganz kurz hielten sie die Pferde bei Middle Moor Cross an, einem roh behauenen Stein, in den eine fromme Seele ein
Kreuz geritzt hatte. Der Stein stand mitten in der verlassenen Landschaft, an einem alten Weg, der quer durchs Moor von Femacre nach Swallock verlief. Die Hunde blieben stehen und schnappten nach Luft, aber keiner fing zu schnüffeln an, was sie zweifellos getan hätten, wenn vor kurzem ein Mensch hier entlanggegangen wäre. »Sucht!«, befahl der Jagdaufseher. Die Hunde liefen ziellos herum. Sie suchten eine Spur, aber da war nichts. Bis einer der Hunde plötzlich aufheulte und mit der Nase am Boden loslief. Die anderen Hunde stürmten hinterher. »Da lang!«, rief Lord Galsworthy und zeigte mit seiner Peitsche in Richtung Brown Willy. Die Pferde schnaubten.
»Was sagst du?«, fragte Downe ungläubig. »Ich hab kein Holz mehr übrig. Alles Holz ist vorbestellt.« »Dann fordere ich es ein!« »Ich kann auch nicht zimmern, mein Arm…« Henry Hawken sah Downe trotzig in die Augen. »Ich brauche das Hexenkreuz und Palei!« »Ich weiß überhaupt nicht, was das für Dinger sind. Und selbst wenn ich Holz hätte und zimmern könnte, würde ich auf keinen Fall…« »Ich zeig dir, wie sie auszusehen haben!« Henry Hawken schüttelte den Kopf und drehte Downe den Rücken zu. »Henry!« »Tut mir Leid, Father!« Die Tür fiel ins Schloss. Downe konnte seinen Augen und Ohren nicht glauben. Der letzte Zimmermann in Saint Breward hatte sich soeben geweigert, die Folterwerkzeuge, die Dunn brauchte, zu bauen.
Wütend stiefelte Downe nach Hause. Zur Not würde er selbst den Hammer in die Hand nehmen. Henry Hawken sah ihm durchs Fenster nach und grinste. »Damit hat er eindeutig nicht gerechnet!« Seine Frau kam zu ihm. Sie trocknete ihre roten Hände an der Schürze ab. »Bist du sicher…« »Lovely, ich mache keine Folterwerkzeuge, mit denen sie die Kräuterfrau peinigen. Du warst auch dabei in Bodmin. Sie müssen erst beweisen, was sie behaupten! Außerdem gibt es niemanden, der das Zeug zimmern will. Der verrückte alte William Bylloun hat geschworen, dass er uns höchstpersönlich die Eier abschneidet, wenn wir die Dinger bauen.« »Henry!« »Das waren seine Worte, Lovely, nicht meine.« Henry Hawken ging aus dem Haus, nahm den Hammer in die Hand und fing an, den Rahmen für eine neue Egge zu zimmern.
Dunns Kutsche hatte Wenfordbridge hinter sich gelassen. Der Kutscher war auf dem Bock eingedöst, aber das störte Dunn nicht. Er genoss die Fahrt.
Thomas sah auf. Was war das? Er hörte Pferde schnauben und Hunde bellen. Sie wurden also gesucht! Er rüttelte das Mädchen wach. Sie schrak auf, strich sich verwirrt das seidige Haar aus dem Gesicht und lächelte. »Betty, hörst du das?« Plötzlich war Angst in ihren Augen. Auch sie hatte sofort begriffen, was los war. »Komm mit!«
Er sah sich um. Sie konnten nur noch den Hang hinaufrennen, dort eine Höhle suchen und beten, dass die Verfolger vorbeireiten würden. Aber die Hunde? Thomas zog das Mädchen mit sich mit. In einiger Entfernung tippte der Jagdaufseher mit der Reitpeitsche den Arm Lord Galsworthys an. Dann zeigte er zum Hügel. Der Edelmann nickte. Er gab seinem Pferd die Sporen. Schade, dass die Jagd schon vorbei war. Er hatte den temporeichen Ritt genossen.
»Magister Dunn? Sie kommen früh!« »Ich schätze es nicht, die schönsten Stunden des Tages zu verschlafen. Wie steht es hier?« Downe lächelte nervös. »Ach ja«, sagte Dunn, »bezahlen Sie doch bitte den Kutscher. Er wartet draußen.« Downe verließ sofort das Zimmer. »Was für ein Schweinestall«, murmelte Dunn, als er die Unordnung im Zimmer sah. »Wahrscheinlich werde ich hier untergebracht. Ein Grund mehr, dass ich die Sache schnell hinter mich bringe.« Downe kam zurück, kriecherische Hilfsbereitschaft in Person. »Was ist mit den Hexen?« »Eine haben wir gestern gefangen. Die zweite wird noch heute hierher gebracht.« Dunn nickte. »Bloß…« Dunn sah ihn fragend an. »Niemand will ein Palei und ein Hexenkreuz bauen. Aber einen Amboss habe ich im Schuppen.«
Dunn runzelte die Stirn. »Was hat das zu bedeuten?« »Ach, es gibt Widerstand. Aber Lord Galsworthy steht voll und ganz hinter dem Prozess.« Dunn bereute sofort, dass er so übereifrig gewesen war. Er erinnerte sich auf einmal wieder an das, was er über den Charakter der Bauern von Saint Breward gehört hatte: dickköpfig, grantig, zu Gewalt neigend. Er würde sich vorsehen müssen.
14. DUNN
Jonathan Dunn öffnete das in schwarzes Leder gebundene Buch und zündete eine zweite Kerze an. Er wollte nicht einfach herumsitzen und auf die morgige Hinrichtung warten. An der Verurteilung zweifelte er nicht mehr. Noch ein letztes Verhör, und das Geständnis würde vorliegen. Der Rest wäre eine Sache von wenigen Stunden. Morgen, noch bevor die Sonne untergegangen war, würde er bereits unterwegs sein. Vielleicht würde er gar nicht bis zur Verbrennung bleiben. Downe würde das Urteil verlesen und eine flammende Rede über Gut und Böse halten. Es sei denn… Dunn hatte mehr als genug von Saint Breward, von den sturen, verschlossenen Gesichtern, von der schweigsamen Unbeugsamkeit, von dem unverhohlenen Hass. Er blätterte eine Seite um, wollte nochmals die gesamte Befragung durchgehen. Zum ersten Mal missfiel ihm seine Arbeit. War es wegen des Mädchens? Der Hexenjäger schüttelte den Kopf und begann zu lesen.
»Befragung der Hexe Winnifred Thornbee, genannt Kräuterfrau, und eines unbekannten Teufelskindes, das der Sprache nicht mächtig ist. Befragung des jungen Hirten namens Thomas Bylloun. Die Befragung fand in Saint Breward statt, in einer Scheune, die Eigentum der Kirche ist. Die drei Beschuldigten wurden dort gefangen gehalten und waren gefesselt. Die Befragung wurde aufgrund der Anklage von Father Downe, Gemeindehirte daselbst, durchgeführt und
von Lord Galsworthy, Herr von Saint Breward, gutgeheißen. Als Zeugen und beisitzende Richter hat er folgende Männer ernannt: John Hokey, Stephen Worn und Herbert Finney, Jagdaufseher von Mylord. Drei weitere Dorfbewohner, die für Sitze im Gericht berufen waren, haben sich ungehörigerweise geweigert, als Grund anführend, sie wünschten nicht, an einem Mord beteiligt zu sein. Ihre Namen sind uns bekannt und auf Wunsch können wir sie später wegen Verdachts auf Verschwörung mit den Hexen verhören. Der Ankläger Nicholas Downe, der Geistliche der Gemeinde, ist ein hingebungsvoller und strenger Hirte, dem das Wohl seiner Herde über alles geht, wie er daselbst erklärte. Er bedauerte es, diese Anklage erheben zu müssen, befand es aber als seine Pflicht gegenüber Gott und den Menschen. Im Beisein der ernannten Richter beteuerte er auf wiederholte Nachfrage hin, die Kräuterfrau habe Gott und seine Heiligen gelästert, sich geweigert, dem Gottesdienst beizuwohnen, weil sie ihre eigenen Dienste habe, sie habe sich also dem Teufel ergeben und in seinem Auftrag Tod und Verderben gesät. Der Ankläger forderte eine Befragung unter Folter und Tortur, weil er davon überzeugt ist, sie habe Umgang mit dem Teufel gehabt, der ihr übernatürliche Kräfte verliehen habe, und weil sie deswegen bei einer Befragung unter normalen Umständen nicht gestehen werde.«
Dunn lehnte sich zurück und sah sich im Zimmer um, das Downe für ihn hatte sauber machen lassen. Die erste Befragung. Downe hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, während die drei beisitzenden Richter mit ausdruckslosen Mienen dagesessen hatten.
Die Kräuterfrau hatte laut gelacht und Downe für verrückt erklärt. Das Mädchen hatte wie eine Statue in der Scheune gestanden und der Junge hatte geschluchzt.
»Der Geistliche Downe stützte seine Beschuldigungen auf folgende Punkte: 1. Die Kräuterfrau wusste, dass sie im Verdacht stand, eine Hexe zu sein, und hat nie etwas unternommen, diesen Verdacht zu entkräften. Er selbst habe ihr wiederholt vorgeworfen, eine Zauberin zu sein, und auch darauf habe sie lediglich spöttisch geantwortet, sie würde Downe mit in die Hölle nehmen. 2. Downe ist davon überzeugt, dass sie ihre Gebete nicht mehr aufsagen kann. Außerdem konnte er bezeugen, dass sie an heiligen Feier tagen nicht in der Kirche war. 3. Des Weiteren hat Downe in ihrem Haus geheimnisvolle Salben und Pulver vorgefunden. Neben dem Kamin stand auch der Besen, mit dem sie zum Hexensabbat geflogen ist, das letzte Mal vor kaum einer Woche. Am selben Abend hat sie mittels Zauberei einen Blitz unmittelbar an dem Ort, der ›die Heuler‹ genannt wird, ein schlagen lassen, um auf diese Weise den Geist einer Mörderin zu erwecken. Nach Anhörung dieser Beweise haben die drei beisitzenden Richter es für gesetzlich begründet befunden, die Genannte der Befragung unter Qualen zu unterwerfen, was wir demzufolge getan haben.«
Dunn nickte. Ein klarer Bericht. Es war nicht notwendig, die stundenlange Diskussion zwischen Downe, ihm und den Richtern wiederzugeben. Die hatten nämlich nicht viel Beweislast in den Worten Downes
gefunden, und vor allem der Jagdaufseher Lord Galsworthys hatte, was die Erweckung des Geistes anbelangte, große Schwierigkeiten gemacht. Bei der Befragung des Mädchens war es im Übrigen noch schlimmer gewesen. »Die Befragung des unbekannten Mädchens war nicht möglich, da sie die Gabe der Sprache nicht besitzt. Gegen sie hat Downe folgende Beschuldigungen vorgebracht: 1. Sie ist durch Naturgewalten erschienen. Da von zeugt die Aussage des Jungen Thomas Bylloun, die er wiederholt gemacht hat. 2. Sie kann nicht sprechen, und das deutet auf ein Bündnis mit dem Teufel hin, der sie stumm gemacht hat, auf dass sie durch das Aussprechen des Namens Gottes nicht ihre Seele retten kann. 3. Sie ist ihm, dem Geistlichen Downe, eines Abends durch das Moor gefolgt und hat ihn angegriffen. Sie versuchte, ihren Mund auf den seinen zu drücken und ihn zur Sünde des Fleisches zu verführen. Dabei war sie so kalt wie Eis. Sie hatte eindeutig geglaubt, der Teufel habe die Gestalt des Geistlichen angenommen, und flehte ihn an, eine schwarze Messe für sie abzuhalten. 4. Sie ging des Nachts allein ins Moor und wurde von Downe dabei gesehen, wie sie nackt in einem See badete und auf einem Stein der Heuler saß, den die Hexe aus Bodmin als Altar für den teuflischen Ehrendienst angewiesen hat. Aufgrund dieser Beweise bat Father Downe darum, auch sie einer Befragung unter Qualen zu unterwerfen. Sie verstehe schließlich alles, was man sage, und vielleicht würde die Folter sie zur Einsicht bringen, den Namen Gottes auszusprechen, auf dass ihre Seele gerettet werden könne, wenn sie denn eine besitze.«
Wieder machte Dunn eine Pause. Erneut sah er die Gesichter der drei Richter vor sich, als das Mädchen sie mit flehenden Augen angeschaut und sich bemüht hatte, einen Ton hervorzubringen. Er hatte schnell und energisch dazwischengehen müssen, sonst hätten sie sie ohne weiteres freigelassen. Sie war in der Tat besonders anziehend.
»Befragung des Thomas Bylloun. Wiederum forderte Father Downe eine Befragung unter Qualen, auch wenn er zugab, dass der zu Befragende vielleicht ein unschuldiges Opfer der beiden Hexen sei: 1. Thomas Bylloun hat als Erster das Mädchen gesehen, als sie, seinen eigenen Worten nach, ›aus einem Blitz und der Erde geboren wurde‹. Seine fromme Mutter hat später berichtet, er sei nicht mehr er selbst gewesen und habe zu essen und trinken vergessen. 2. Er wurde zusammen mit dem Mädchen, das er der Kräuterfrau anvertraut hat, im Moor gesehen, als sie Zauberzutaten sammelten. Dieser Tatbestand lässt vermuten, dass er in bestimmte Zauberkünste eingeweiht war und vielleicht etwas gehört oder gesehen hat, was ein Beweis für die Schuld der beiden Hexen sein könnte. Nach der Verbrennung der Hexe in Bodmin ist der Junge geflüchtet, als Father Downe mit anderen Männern zusammen einen Psalm zu singen begann. 4. Er hat die junge Hexe aufgesucht, oder sie hat ihn zu sich gelockt, und beide sind geflüchtet. Daraufhin hat Lord Galsworthy beide gefangen genommen. Weil Father Downe Gnade vor Recht ergehen lassen wollte und davon überzeugt war, dass der Junge wieder auf den rechten Weg kommen könnte, wollte er von der Folter
absehen, wenn Thomas Zeichen der Reue zeigte und sich bereit erklärte, zukünftig ein tiefgläubiges, gottesfürchtiges Leben zu führen.«
Dies war der schrecklichste Moment gewesen. Die Kräuterfrau hatte Father Downe die abscheulichsten Verwünschungen an den Kopf geworfen. Der hatte die Fassung verloren und wie ein Irrer zu weinen und zu brüllen begonnen. Dunn fragte sich noch immer, warum er die Kräuterfrau »Irene« genannt hatte, warum er geschrien hatte, sie habe ihn verlassen. Darüber befragt hatte Downe ihm stockend und stotternd geantwortet, er sei müde und krank. Die Kräuterfrau habe gedroht, ihm den Verstand zu rauben, und er habe immer wieder furchtbare Kopfschmerzen, weil sie ihn verflucht habe. Wie dem auch sei: Die drei Richter hatten die Beweise gegen Thomas Bylloun für nicht ausreichend befunden. Der Junge war als gesunder Knabe bekannt, als fröhlich, hilfsbereit und als ein guter Sohn. Er würde vermutlich nach einer Ermahnung den rechten Weg nicht mehr verlassen. Deswegen hatten sie beschlossen, ihn sofort freizulassen. Dunn hatte deutlich gemerkt, dass dies der Wille Lord Galsworthys war, denn der Jagdaufseher hatte mit solcher Entschlossenheit gesprochen, dass sogar Downe gemerkt hatte, dass er nur aufgrund der Gnade seiner Lordschaft hier anwesend war. Dunn zuckte mit den Schultern. Nun ja, die Beschuldigungen gegen den Jungen waren in der Tat sehr dürftig gewesen. Obwohl man nie wissen konnte… Dem Teufel gelang es oft, seine wahren Absichten hinter der unschuldigsten Maske zu verbergen.
»Antwort der Beschuldigten Winnifred Thornbee, genannt Kräuterfrau, die ebenfalls für das Mädchen sprach. Zu Anfang sagte die Beschuldigte, Downe würde lediglich aus Rachsucht handeln. Sie bat darum, die Bewohner von Saint Breward aufzurufen und zu fragen, ob es einen unter ihnen gäbe, der ein einziges schlechtes Wort über sie sagen wollte. Sie gab zu, Father Downe mehrmals gebeten zu haben, einen Beweis für das zu liefern, was er ihr vorwarf. Das Mädchen sei müde, erschöpft und verletzt bei ihr angekommen, und sie habe ihr zu essen gegeben, sie versorgt und ihr einen Schlafplatz gewährt, wie es die Pflicht eines jeden Christenmenschen sei. Später sei das Mädchen bei ihr geblieben, habe ihr geholfen. Sie gab außerdem zu, dass das Mädchen für sie Kräuter gesammelt habe. Jedoch leugnete sie entschieden, jemals in Kontakt mit dem Teufel gekommen zu sein, sie glaube nicht an den Teufel, und das Mädchen sei so unschuldig wie Quellwasser und Morgentau. Als sie geendet hatte, urteilten die Richter, ihre Antwort sei kein Beweis für ihre Unschuld, und befahlen mir, sie einem scharfen Verhör zu unterwerfen, zur Not zur Folter überzugehen, wobei lediglich die normalen Mittel, die in solchen Fällen üblich seien, angewendet werden sollten. Ich habe als Mittel angegeben: 1. Aufhängen an beiden Armen. 2. Auspeitschen über dem Amboss. 3. Verwendung des Hexenkreuzes zusammen mit Aufhängen an den Armen. Des Weiteren habe ich unter Eid geschworen, alle Mittel einzusetzen, um Hinweise auf den Umgang beider Frauen mit dem Teufel zu finden.« Dunn spürte wieder die Erregung, die ihn ergriffen hatte, als er mit der wirklichen Arbeit angefangen hatte, nachdem die
Richter gegangen waren. Sie brauchten der Befragung nicht beizuwohnen. Es genügte, wenn sie die abschließenden Geständnisse hörten. Und diese mussten eine Nacht nach der letzten Folter wiederholt werden. Geständnisse auf der Folterbank waren ungültig. Also…
»Nach dem Weggang der Richter und der Freilassung Thomas Byllouns führte ich sogleich den mir erteilten Befehl aus. Zuerst wurden die Frau und das Mädchen gefragt, ob sie sofort bekennen wollten, dass die Beschuldigungen gegen sie wahr seien. Die Kräuterfrau antwortete mit einem spöttischen Lächeln und sagte, sie würde sich keinesfalls als Angeklagte betrachten. Das Geschwätz des perversen, rachsüchtigen Downe könne doch wohl niemand ernst nehmen. Die Kräuterfrau schrie nicht, hatte keinen Schaum vor dem Mund und zitterte nicht. Das Mädchen sagte nichts, bestätigte aber die Worte der Kräuterfrau, indem sie mit dem Kopf nickte. Merkwürdigerweise schien das Mädchen keine Angst zu haben, solange die Kräuterfrau bei ihr war. Sobald sie voneinander getrennt waren, zeigte sie Zeichen der Angst. Ich schloss daraus, dass der Teufel des Mädchens auf die Unterstützung des Teufels, der in der Kräuterfrau hauste, rechnete. Deswegen beschloss ich, die beiden Angeklagten in Zukunft getrennt zu befragen. Father Downe wohnte der Befragung bei und wirkte erregt. Als sich die Hexen weigerten zu bekennen, bin ich zur Rasur übergegangen. Zuerst habe ich die Frau mit gefesselten Händen an einem der Deckenbalken festgebunden. Dann habe ich sie entkleidet und ihre Kopfhaare sowie alle anderen Haare
ihres Körpers mittels Rasur entfernt. Ich habe dies aus zwei Gründen getan: 1. Ich wollte mich vergewissern, ob sie keine Pergamentstücke oder andere Zaubermittel bei sich hatte. Ich habe sie deswegen einer gründlichen Untersuchung unterzogen und in alle Körperöffnungen geschaut. 2. Nur auf diese Weise ist es möglich, Teufels male zu entdecken. Solche Male werden vom Teufel hinterlassen, wenn er sich mit einer Hexe paart. Am Körper der Kräuterfrau habe ich drei mögliche Male entdeckt.«
Dunn stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. Im blassen Mondlicht wirkte das Dorf wie ausgestorben. Irgendwo heulte ein Hund. Dunn lief eine Gänsehaut über den Rücken. Die Erinnerung an den grobknochigen, sehnigen Körper der Kräuterfrau ließ ihm keine Ruhe. Selten hatte er einen kräftigeren Frauenkörper gesehen, kerngesund, mit glatter, junger Haut, trotz ihres mittleren Alters. Er setzte sich wieder hin, zögerte weiterzulesen. Jedes Wort, das er geschrieben hatte, sah er bildlich vor sich. »Dann habe ich das Mädchen auf dieselbe Weise wie die Kräuterfrau festgebunden. Als ich sie ihrer Kleider entledigt hatte, fühlte ich mich wie in einem Rausch. Die Haut des Mädchens war wie Honig. Ihr herzförmiges Gesicht mit den grünen Augen, eingerahmt von rotem Haar, drückte so viel Traurigkeit, so viel Angst, so viel Unglauben, eine so flehentliche Bitte aus, dass ich zögerte. Ich konnte Downe, der diese Anziehungskraft dem Teufel zuschrieb, verstehen. Ihr Körper hatte die Zartheit der Jugend und weibliche Fülle. Downe verschlang sie mit den Augen. Einige Augenblicke später murmelte er wieder den Namen ›Irene‹ und streckte die Hände aus, um das Mädchen zu streicheln. ›Sie ist nicht kalt‹,
sagte ich zu ihm. Daraufhin war er vollkommen verwirrt, wusste zuerst nicht, was ich meinte, schien sich erst dann an seine Aussage zu erinnern. Als ihre roten Haare auf den Scheunenboden fielen, wandte er den Kopf ab, als würde es ihm Schmerzen bereiten. Auch das Mädchen habe ich von Kopf bis Fuß untersucht, habe aber auf ihrer Haut, die so glatt wie eine Eierschale war, keinerlei Unvollkommenheiten, Flecken, Narben oder Warzen gefunden.« Dunn vergrub das Gesicht in den Händen. Er fühlte wieder die sonderbare Rührung, die ihn beim Sehen und Anfassen des jungen Körpers ergriffen hatte. Zwei Frauen, die ihn in seinem tiefsten Innern berührt hatten, die eine durch ihre intensive Kraft, die andere durch ihre unberührte, federzarte, vollkommene Schönheit, die selbst das Feuer des Scheiterhaufens nicht auffressen konnte. Deswegen konnte sie nur des Teufels sein! Wieso musste derartige Schönheit eine Waffe der Sünde sein? Sogar Downe… Dunn unterbrach seine Gedanken.
»Nach der Untersuchung der Beklagten habe ich bei der Kräuterfrau die Nadelprobe, wie sie im Handbuch der Dämonologie beschrieben steht, durchgeführt. Dazu habe ich eine geweihte Silbernadel aus meinem persönlichen Instrumentarium verwendet. Ich habe sie fingertief in die drei möglichen Teufelsmale, die ich am Körper der Kräuterfrau gefunden hatte, getrieben. Aus einem von ihnen kam kein Blut. Daraus muss ich schließen, dass sie mindestens ein Teufelsmal trägt und deswegen mindestens ein Mal geschlechtlichen Umgang mit dem Teufel hatte. Wie man weiß, hinterlässt der Teufel auf dem Körper seiner Geliebten ein geheimes Zeichen. Selbst wenn ich bisher gezweifelt hätte, wäre ich jetzt mit vollkommener Gewissheit zur Folter übergegangen. Ich
beschloss, das Mädchen vorerst zu verschonen, und hoffte, sie würde beim Anblick der Qualen der alten Hexe zur Einsicht kommen. Sollte sie wirklich ein Kind des Teufels sein, würde sie vielleicht mit ihrer Teufelsmacht versuchen, die alte Hexe zu beschützen. In diesem Falle würde ich sie auch ohne Geständnis verurteilen lassen können. Denn dann wäre ich persönlich Zeuge ihrer Zauberkünste geworden.« Dunn schloss das Buch. Er wusste, was danach passiert war, erinnerte sich genauestens an jede einzelne Sekunde des vergangenen Nachmittags. Morgen müsste die Kräuterfrau gestehen. Er hatte sie mit den Worten verlassen: »Bekenne, nun da du noch kannst. Deine Schuld steht fest und du wirst sowieso brennen. Erspar dir die vorangehenden Leiden.« Die Frau hatte ihn mit gequältem Ausdruck angesehen und gelächelt. »Morgen«, hatte sie geflüstert. »Noch eine Nacht. Dann will ich, dass Downe hier ist. Denn der einzige Teufel, den ich kenne, ist Downe!«
15. DAS GESTÄNDNIS
Thomas hielt es nicht mehr aus. Als er nach Hause gekommen war, war ihm seine Mutter weinend um den Hals gefallen, sein Vater hatte ihn umarmt. Die Erleichterung und Freude seiner Eltern hatten für ihn etwas Erdrückendes, etwas Zwingendes. Sie sagten es nicht, aber er verstand auch so, dass sie wollten, er möge alles vergessen, sich nirgends einmischen, leben, wie Downe und Mylord es wünschten: mit verschlossenen Augen und Ohren und vor allem mit verschlossenem Mund! Alles war Gottes Wille und der seines Stellvertreters auf Erden, Father Downe. Dass Gott auch mal eine schlechte Wahl traf, musste man eben hinnehmen. Aber das konnte und wollte Thomas nicht. »Junge«, hatte sein Großvater gebrummt, »lass es an dir abperlen. Ich hab von Anfang an gesagt, dass dich Downe nicht kriegt.« Das hieß auch nichts anderes. An sich abperlen lassen! Und was war mit dem Mädchen? Was geschieht mit Betty?, schrie sein Herz, glaubt ihr etwa, ich will ohne sie noch leben? Das konnte und wollte er nicht laut sagen. Keiner der Erwachsenen würde das verstehen. Er konnte Betty nicht einfach sterben lassen, er musste sich etwas einfallen lassen, etwas unternehmen. Er wartete, bis im ganzen Haus nur noch das ruhige Atmen schlafender Menschen zu hören war. Sogar Dusker schien zu träumen. Ab und zu fiepte er, seine Pfoten zuckten, als wollte er jeden Augenblick losrennen. Aber als Thomas mitten in der
Nacht nach draußen schlich, ohne genau zu wissen, was er tun sollte, blieb Dusker ruhig liegen. Thomas ging die Dorfstraße entlang Richtung Kirche. Ab und zu blieb er stehen, kein Laut war zu hören. Das ganze Dorf war dunkel. Nein, hinter einem Fenster von Downes Haus brannte noch Licht. Wie ein Schatten schlich Thomas zur Scheune. War wirklich niemand da? Offenbar hielt Downe es nicht mehr für notwendig, die Frauen bewachen zu lassen. War er sich seiner Sache so sicher?
Downe stand auf. Lord Galsworthy blieb auf seinem Stuhl sitzen, paffte an seiner langstieligen Steinpfeife. »Du erwartest also morgen keine Schwierigkeiten?« »Nein, Mylord. Dunn versicherte, die Hexen würden morgen gestehen und…« »Ich muss nur das Urteil bestätigen und sie zum Feuertod verurteilen. Ich brauche also nicht noch einmal einer Verbrennung beizuwohnen, hoffe ich.« Lord Galsworthy machte ein gelangweiltes Gesicht. »Sicher, Mylord. Sie haltend, wie es Ihnen beliebt, Mylord.« Downe verbeugte sich nochmals untertänigst. »Das Mädchen?« Die Frage, die die ganze Zeit im Raum geschwebt hatte, war gestellt. »Sie redet nicht und ist schuldig. Sie wird morgen mit der anderen Hexe sterben und niemand wird jemals wieder ihren Namen vernehmen.« Lord Galsworthy nickte. »Ach ja, da ist auch noch Dunn. Der muss natürlich bezahlt werden. Sieh zu, dass du das Geld für deine Dummheit
irgendwie zusammenkriegst. Du rechnest doch nicht damit, dass ich für die Kosten aufkomme?« Downe hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen. Dieser alte adelige Geizhals! Jeder sollte für ihn in die Bresche springen, aber wenn es etwas kostete, wusste er von nichts. »Natürlich, Mylord!« »Was meinst du damit? ›Natürlich bezahle ich die Kosten selbst‹ oder ›Natürlich rechne ich auf Mylord bei der Bezahlung‹?« »Ersteres, Mylord.« »Das will ich dir geraten haben! Du lässt meinen Jagdaufseher kommen, wenn es Zeit ist, mich abzuholen?« »Jawohl, Mylord.« Lord Galsworthy machte eine abwehrende Geste. Downe konnte gehen. Die Frau zögerte. Von dort, wo sie stand, konnte sie den massigen Kirchturm von Saint Breward sehen. War das Mädchen dort? Würde sie sich zeigen können? Unwillkürlich zog sie die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht.
Thomas stand bei der Scheune. Tatsächlich war niemand da, um sie zu bewachen. Er starrte den schweren Holzbalken an, der als Riegel diente. Obwohl niemand in der Nähe war, versuchte er, jedes Geräusch zu vermeiden. Der Balken ließ sich ohne Probleme aufschieben. Das große Tor ging von selbst auf. Thomas zögerte, schlüpfte dann hinein. So riecht Schmerz, dachte er, das ist der Geruch nach Leiden! Die eine Seite der Scheune war stockdunkel. Auf die andere Seite fiel durch einen schmalen Spalt ein Strahl Mondlicht herein. Aber außer etwas dreckigem Stroh war dort nichts. Thomas wartete, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
Da hörte er ein Stöhnen, einen klagenden, hohen Ton. Er drehte sich um, machte einen Schritt nach vorn, stieß heftig gegen etwas Hartes. »Ich bin’s, Thomas!«, flüsterte er. »Thomas?« Das war die Stimme der Kräuterfrau. Sie sprach lispelnd, kaum verständlich. »Wo ist das Mädchen?« Ein kurzes Auflachen, das in dumpfes Stöhnen überging. »Komm hierher. Sie ist neben mir festgebunden. Sei vorsichtig.« Thomas stolperte wieder. Holz? Eine Art… Kreuz? Hatte Downe das etwa selbst gezimmert? Sein Großvater hatte ihm doch erzählt, dass keiner der Zimmerleute des Dorfes etwas für Downe zimmern würde. Die Hände vor sich ausgestreckt, suchte er den Weg. »Hier!« Die Stimme kam von links. Er spürte die Wärme eines menschlichen Körpers. Sonderbar, wie sehr seine Sinne geschärft waren. Seine Augen konnten noch immer nicht viel erkennen. Da berührte er sie. Wieder stöhnte die Kräuterfrau. »Um Gottes willen, was haben sie mit dir gemacht?« Thomas hatte alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. »Das Mädchen ist da, rechts von mir. Versuch, sie zuerst loszubinden. Ich halt noch einen Moment durch.« Thomas bewegte sich vorsichtig. Das Mädchen? Er streichelte ihr Gesicht, merkte, dass es nass vor Tränen war, er wollte sie trösten… Ihre… wo waren ihre Haare? Hatten sie sie kahl geschoren? Auf einmal schien dies das Schlimmste, was man ihr hatte antun können. Er fand ihre Schultern, ihre nach oben gestreckten Arme, die Seile um ihre zarten Handgelenke. Fieberhaft suchten seine
Finger die Knoten, versuchten, sie zu lösen. Er merkte, wie einer seiner Fingernägel riss, und zog an dem Seil… Er konnte sie kaum auffangen, als sie wie eine Lumpenpuppe zusammensackte. Sehr, sehr behutsam legte er sie auf den Boden. War sie bewusstlos? Dann schlich er zur Kräuterfrau zurück. »Vorsichtig«, flehte sie. »Jede Bewegung tut weh, als ob jemand eine glühende Ahle durch meine Arme stößt.« Thomas tastete wieder sehr behutsam. Diese Schufte! Die Kräuterfrau war ebenfalls an ihren Armen aufgehängt worden, aber sie hatten ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und sie dann über den Kopf nach vorn gezogen, sodass ihre Schultergelenke ausgekugelt waren. »Ich will dir nicht wehtun, aber ich muss die Knoten lösen«, flüsterte Thomas. »Nur zu«, keuchte die Kräuterfrau. »Wenn man weiß, dass am Ende die Erlösung kommt, hält man’s aus.« Dennoch schrie sie dreimal auf, bevor Thomas auch sie auf den Boden legen konnte. »Gott segne dich, Thomas!« »Was ist mit dem Mädchen?« »Genau wie ich ist sie ausgepeitscht worden, an den Armen aufgehängt, kahl geschoren, wieder ausgepeitscht… Es war schrecklich! Und dieser furchtbare Mann stellte die ganze Zeit Fragen, in denen bereits die Antwort formuliert war. ›Hast du Hexenkräuter benutzt? Hast du andere Hexen getroffen?‹ Und dann schlagen sie dich so lange, bis du Ja sagst, denn wenn du verneinst, schlagen sie nur noch fester zu. Oder sie lassen dich in der Luft am Seil zappeln.« Plötzlich fing die Frau zu weinen an, ihre Schultern bebten.
Thomas legte seine Hand auf ihre Schulter. Das Mädchen kroch dichter heran, er hörte das Stroh rascheln. Sie stieß ihn an. Noch nie hatte er sich ihr näher gefühlt. Auf einmal hörte er einen Fluch. Das gelbe Licht einer Laterne flackerte vor der Scheune. »Wer ist da?« Downes Stimme. Wütend, misstrauisch, gefährlich. »Wer ist da?« »Du musst fort, Thomas! Schnell!« Die Kräuterfrau hatte die Worte in sein Ohr gehaucht. Er bekam einen kleinen Stups und erhob sich langsam. Downe stand noch bei der Tür, hob seine Laterne und ging dann langsam in die andere Richtung. »Wer immer du bist, zeige dich!« Thomas schlich zur Wand. »Downe, ein Engel aus dem Himmel ist hernieder gekommen, um uns zu helfen!« Der Geistliche drehte sich abrupt um, ging mit großen, entschlossenen Schritten zu der Stelle, an der die Kräuterfrau lag. Thomas schlich zur Tür hinaus und fühlte sich wie ein Feigling. Drinnen ertönte ein Schmerzensschrei. Keine zehn Sekunden später erschien Downe. Er schmiss die Tür zu und schob den Riegel vor. Dann stiefelte er davon, Richtung Haus. Thomas blieb stehen. Sollte er wieder hineingehen? Nein, wahrscheinlich behielt Downe die Scheune jetzt selbst im Auge. Und fürs Erste hatte er der Kräuterfrau und dem Mädchen ja helfen können. Hilfe? Wer hatte ihm noch vor kurzem Hilfe angeboten? Father Cardew! Er dachte nicht länger nach. Der Weg nach Bodmin war lang. Und selbst wenn er nicht genau wusste, was Father Cardew tun könnte – schon mit ihm zu reden, würde hilfreich sein.
»Father Downe«, sagte Dunn und faltete die Hände. »Ich habe nachgedacht. Es geht um mehr als nur diesen Prozess.« Downe nahm die Flasche Portwein und sah seinen Gast fragend an. Als Dunn verneinte, schenkte er sich selbst den Becher voll. »Saint Breward muss wieder lernen, was Demut ist. Deshalb dachte ich…« Dunn machte eine Pause. Downe trank und starrte über den Rand seines Bechers in das lächelnde Gesicht Dunns. »…dass Sie die letzte Befragung leiten sollten. Die Frau hat mir versichert, sie würde gestehen. Sie will nicht noch einmal die furchtbaren Schmerzen ertragen.« »Jemand hat sie losgebunden. Die Tür war offen.« Dunn erschrak sichtlich. Losgebunden? Das hatte er noch nie erlebt. In sämtlichen anderen Fällen hatten alle die Hexen im Stich gelassen. Niemand wollte in einen Hexenprozess verwickelt werden. Meistens schlug die Angst in Hass um. Und jetzt hatte es jemand gewagt, den Hexen unter den Augen des Scharfrichters zu helfen! Wenn Derartiges in Saint Breward möglich war, konnte hier noch so einiges passieren. Dunn betrachtete sich selbst als Held. Aber Vorsicht war eine ebenso große Tugend wie Heldentum. Und sein Tod würde den Sieg des Bösen bedeuten. Nein, jetzt würde er erst recht seinen Plan durchführen. »Wenn die Hexe Ihnen gegenüber bekennt, wird Ihnen jedermann mit noch größerer Ehrfurcht begegnen«, führte er an. Downe begann, vor Zufriedenheit zu strahlen. Ja, das war eine gute Idee. Er läuft mit offenen Augen in die Falle, dachte Dunn und lächelte zufrieden.
Father Cardew schreckte aus dem Schlaf, als an seine Tür geklopft wurde. Es war noch nicht Morgen. Wer weckte ihn um diese Zeit? Er warf sich einen schwarzen Mantel um und ging zur Tür. »Thomas?« Der Junge zitterte vor Erschöpfung. Er war blass, schweißgebadet und außer Atem. »Thomas, was ist passiert?« Der Priester stützte den Jungen, als er ins Haus wankte. »Sie wollen die Kräuterfrau und das Mädchen verbrennen.« »Was?« Thomas sah verwundert drein. War das Gerücht denn noch nicht bis Bodmin durchgedrungen? Gab es keinen, der erzählt hatte… »Mich hatten sie auch eingesperrt, weil ich dem Mädchen geholfen…« »Thomas, ich gebe dir erst mal etwas zu trinken. Dann erzählst du mir alles und dann gehst du ins Bett. Nein, du ruhst dich ein paar Stunden aus.« Er verfrachtete den Jungen auf einen Stuhl, holte einen Becher Milch und ließ ihn trinken. Dann erzählte Thomas. Alles sprudelte aus ihm heraus: Anspannung, Schmerz, Trauer. »Thomas, ruhig, Junge. Ich weiß nicht, was ich tun kann, aber ich werde mit dir nach Saint Breward kommen. Was ist Downe doch für ein wahnsinniger Narr! Aber damit befassen wir uns später. Du legst dich jetzt hin. Du siehst aus wie ausgespuckt.« Thomas gehorchte nur zu gerne.
Dunn sah mit deutlichem Widerwillen auf den schlafenden Downe herab. Er hatte ihn betrunken gemacht, ihn Becher um
Becher trinken lassen, ihn in den Himmel gelobt, ihn herausgefordert. Dann war Downe plötzlich in sich zusammengesunken, der leere Becher war aus seiner Hand gerollt, sein Kopf auf die Tischplatte aufgeschlagen. Sturzbetrunken. »Ich hoffe, Saint Breward rechnet mit dir ab, Downe. Ich hätte klüger sein sollen. Das Geld kannst du der Kirche opfern. Du, Downe, hättest auf den Scheiterhaufen gemusst.« Dunn drehte sich um. Noch nie hatte er sich so erniedrigt, in die Irre geführt gefühlt. Warum hatte er nicht sofort erkannt, dass Downe auf persönliche Rache aus war? Warum hatte er nicht gesehen, dass Downe wahnsinnig war und von Lord Galsworthy wie eine Marionette benutzt wurde? Wieso war er auf Downes Vorschlag eingegangen? War es die Erregung nach getaner Arbeit in Bodmin gewesen? War es seine Getriebenheit, die ihn angespornt hatte? Es war nicht gut zu zweifeln, es war überhaupt nicht gut, sich Fragen über die Arbeit, die man tat, zu stellen. Es war Gott gegenüber falsch, die Hexenverfolgung nicht bis zum Äußersten durchzusetzen. Aber er konnte es nicht, nicht jetzt. Die Frau und das Mädchen waren auf einmal so offensichtlich unschuldig. Warum handele ich dann nicht wie ein Mann und sage es morgen ganz Saint Breward?, fragte Dunn sich. Er lachte gezwungen. Wenn er das täte, würden die Trottel von Saint Breward wahrscheinlich durchdrehen, in ihrer Wut verrückte Sachen anstellen. Und er, er war von Gott berufen, noch viele Male den Teufel zu bekämpfen. Merkwürdig war das: Der fanatische Eifer, der ihn noch in Bodmin getrieben hatte, die Überzeugung, die ihn in Exeter die größten Taten hatte vollbringen lassen, waren verflogen. Er fühlte sich innerlich leer. Downe begann zu schnarchen. Dunn ließ die flackernde Kerze brennen und ging in sein Zimmer, um die Ledertasche
zu packen. Für einen Moment blätterte er in dem schwarzen Buch. »Ich bin gescheitert«, sagte er halblaut. »Und vielleicht habe ich zum ersten Mal meine Pflicht getan.« Er lächelte bitter. Sein blasses Gesicht erschien noch magerer. Unter den Augen waren bläuliche Ringe und seine Haut war wie Wachs. »Ich komme wieder, Satan! Ich werde dich finden, wo immer du bist, Satan! Du kannst dich vermummen, verkleiden…« Nein, sein Feuereifer kam nicht zurück. Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Dunn verließ das Haus und schloss leise die Tür hinter sich. Die Sterne und der Mond verblassten, der Himmel wurde durchscheinend blau. Dunn wählte den Weg durchs Moor, Richtung Tavistock.
Die Frau hatte, an einen Findling gelehnt, unruhig geschlafen. Steif stand sie nun auf. Auf ihrem Mantel lag Tau. Ja, sie würde nach Saint Breward gehen. Wieder spürte sie, dass Betty sie brauchte, sie rief, sie anflehte zu kommen. Vielleicht war das ein Vorzeichen. Als sie kurz darauf den Weg erreichte, ging die Sonne auf. Sie sah den Mann schon von weitem. Er war ganz in Schwarz gekleidet. An seiner linken Hand baumelte eine Ledertasche. Er sah auf den Boden und schien mit sich selbst zu sprechen, versunken in seine eigene Welt. »Das Mädchen«, hörte sie ihn sagen, »ich habe nie etwas Schöneres gesehen. Ich habe das Schönste, was ich je gesehen habe, geschändet. Möge mir der Herr vergeben. Ich dachte, ich würde meine Pflicht tun.«
Dann war er an ihr vorbei. Er hatte sie noch nicht einmal bemerkt. Die Sonne warf seinen Schatten vor ihn. Ein langer, jämmerlicher, geschlagener Schatten. Die Frau ging schneller. Ihr war ein Schauder über den Rücken gelaufen, als der Mann an ihr vorbeigegangen war.
16. DER MORGEN
Downe erwachte aus seinem Rausch. Sein Mund war trocken, sein Schädel brummte, und ihm schien, als wären seine Augen zerstritten und weigerten sich, in dieselbe Richtung zu schauen. Er stöhnte. Da war plötzlich wieder die Erinnerung an die vergangene Nacht. Dunn? Um Himmels willen, Dunn hatte ihn in diesem Zustand gesehen! Was war in ihn gefahren, sich derart zu betrinken? Downe richtete sich auf und dabei durchzuckten höllische Schmerzen seinen Kopf, explodierten gleißende Blitze vor seinen Augen. Er blieb einen Moment stehen und unterdrückte einen Brechreiz. Downe torkelte nach draußen. Über Bodmin Moor lag ein Schleier aus Tau. Die kühle Morgenluft tat ihm gut. Mit beiden Händen schöpfte er Wasser aus der Regentonne und schnaubte, als er sich das Gesicht damit wusch. Dann ging er ins Haus zurück. Es wurde Zeit, sich die Hexen vorzunehmen. Als er an Dunns Zimmer vorbeikam, erschrak er. Keine Spur von ihm: keine Kleider, keine Bücher, keine… »Magister Dunn?« Downe ging durch die offene Tür. Das Bett war unbenutzt. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Dunn ihn im Stich gelassen? Ein Erinnerungsfetzen… Dunn, der ihn davon überzeugt hatte, die letzte Befragung selbst vorzunehmen, selbst das Geständnis zu erzwingen. Downe kniff die Lippen zusammen. Nun, Magister Dunn, das würde er auch tun! Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch aufhalten, jetzt nicht mehr! Sofort unterdrückte er den aufkommenden Zweifel. Ja, es würde ihm gelingen! Nein, es würde keine Probleme geben!
In Saint Breward ging es zu wie in einem Bienenstock. Downe hatte alle zusammengetrommelt, jemanden zu Lord Galsworthy geschickt, drei Männer gezwungen, aus rauen Brettern ein Gerüst vor der Kirche zu zimmern. Die Hammerschläge klangen wütend. Andere mussten Äste und Zweige heranschleppen und stapeln. Jemand hatte einen Weidepfahl herbringen müssen. Einen! Die beiden Hexen sollten gemeinsam an einem Pfahl verbrannt werden. Das Murren wurde lauter, aber bisher traute sich anscheinend niemand, sich zu verweigern. Die Scheune war noch immer verriegelt. »Mach dir keine Gedanken, Täubchen, ich sorge dafür, dass dir nichts geschieht.« Die Kräuterfrau versuchte, das zitternde Mädchen zu trösten, das bei jedem Hammerschlag zusammenzuckte und die Hände an die Ohren hielt. »Du begreifst, was sie tun, nicht wahr?« Das Mädchen schmiegte sich enger an die Kräuterfrau. Die fühlte sich trotz Schmerzen und Erschöpfung bereit für den letzten Kampf. Und sie wusste, sie würde gewinnen. Dunn würde ihre Worte nicht vergessen haben. Sie kannte diese Sorte unermüdlicher Fanatiker. Nichts und niemand, selbst Downe nicht, war vor ihrem verbissenen Eifer sicher. Beim ersten Auspeitschen hatte sie den Samen des Zweifels gesät, sie hatte gemerkt, wie er beim zweiten gekeimt war, und als Dunn sie schließlich, an den ausgekugelten Schultergelenken aufgehängt, zurückließ, war auf seiner Stirn eine tiefe, nachdenkliche Falte gewesen.
Die Frau ging ins Dorf. Bei jedem Schritt fühlte sie ihr Herz schneller schlagen. Einige Frauen standen bei der Kirche und redeten aufgeregt, aber im Flüsterton miteinander. Was sollte
das Gehämmer? Männer liefen mit verschlossenen, aufsässigen Mienen hin und her. Niemand schien sie zu bemerken. Höchstens ein zerstreuter, fragender Blick in ihre Richtung. Die Leute von Saint Breward waren mit anderen Dingen beschäftigt.
Thomas und Father Cardew waren fast am Ende der letzten Anhöhe vor Saint Breward, als Lord Galsworthy und Herbert Finney, sein Jagdaufseher, an ihnen vorbeiritten. Die Pferde tänzelten aufgeregt und kauten auf ihren Gebissstücken herum. Hinter ihnen kamen sechs Knechte des Lords. Jeder von ihnen trug einen dicken Knüppel bei sich. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Stephen Worn und John Hokey standen mit todunglücklichen Gesichtern bei der Scheune. Downe hatte sie dort mit dem Auftrag postiert, alle fern zu halten. Auf sein Zeichen hin sollten sie die Hexen nach draußen bringen. Das Warten galt nur noch Lord Galsworthy und dem dritten Richter, hatte Downe gesagt. Richter? So ein Unsinn! Das ganze Dorf hielt sie für verrückt. Downe’s doggies, Downes Hündchen, wurden sie inzwischen genannt…
Bevor der Weg ins nächste Tal hinabführte, drehte sich Dunn zum letzten Mal nach Saint Breward um. Nur die Spitze des Kirchturms war noch zu sehen, ganz klein in der Ferne. Im Dorf siedete es vermutlich gerade, wie in einem Wasserkessel überm Feuer. Schade, dass er das nicht miterleben konnte. Auf einmal fühlte Dunn eine merkwürdige Wehmut. Vielleicht war es ja Zeit für ihn aufzuhören? Bis vor kurzem hatte die Stimme des verbissenen Hasses auf den Satan lauter in ihm getönt als das tückische Flüstern des Zweifels. Jetzt war dies nicht mehr
so. Dunn musste sich eingestehen, dass Downe ihn öffentlich missbraucht hatte, dass dies vielleicht nicht das erste Mal gewesen war, dass ihn jemand an der Nase herumgeführt hatte! Wie oft war er wohl schon unwissentlich zum Instrument menschlicher Rachsucht geworden? Hass und Neid hatten das Feuer seiner Scheiterhaufen genährt. Der Teufel hatte seine Netze geschickt ausgelegt. Indem er, Dunn, derart gnadenlos den Satan und sein Gefolge gejagt hatte, hatte er sich blindlings darin verstrickt, war er zum Handlanger des Satans geworden! Wie lange schon? Wieso musste er das auf einmal in einem so abgelegenen Nest wie Saint Breward entdecken? Das Mädchen? Die augenscheinlich wehrlose Unschuld dieses bildschönen Kindes, das sogar sein Blut schneller durch die Adern pulsieren ließ? Hatte er endlich eingesehen, dass die Sünde nicht in der Schönheit, in der Anziehungskraft der Frau lag, sondern im Verlangen des Mannes, diese zu missbrauchen? Dunn schüttelte den Kopf. Dies war weder der Ort noch die Zeit, darüber zu grübeln. Er ging den Hügel hinunter. Die Kirche von Saint Breward war für immer aus seinem Gesichtsfeld verschwunden.
Mit einem feierlichen Ausdruck auf dem aufgedunsenen Gesicht stellte sich Downe auf das Podest neben dem Gerüst. Es wurde zur Kanzel, zum Podium, zur Bühne. »Geliebte Brüder und Schwestern!« Es erklang eine Art Hohngelächter, hier und da war ein Keifen und Knurren zu hören. Herbert Finney kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Mylord hatte gut daran getan, die Knechte mitzunehmen. Es lag etwas in der Luft, Widerstand braute sich zusammen.
»Wir sind hier zusammengekommen, um die Geständnisse von Winnifred Thornbee, besser bekannt als die Kräuterfrau, und dem sonderbaren Wesen in Gestalt eines Mädchens zu hören. Nach Aussagen einiger Zeugen ist sie ein Teufelskind, das die Gabe der Sprache nicht besitzt. Jeder weiß, was das bedeutet. Bringt die beiden zu mir!« Die Kräuterfrau und das Mädchen wurden aus der Scheune geholt. Downe schrie über das Gemurmel der Zuschauer hinweg: »Du hast gestanden, eine Hexe zu sein!« Atemberaubende Stille. Lord Galsworthy saß, von seinen Knechten umringt, auf einer hastig herbeigeschleppten Kirchenbank. Er wartete gespannt auf die Antwort der Kräuterfrau. Selbst misshandelt, kahl geschoren, schwankend auf den Beinen, war sie immer noch beeindruckend. »Ja«, sagte die Kräuterfrau, »ich habe den Teufel wiederholte Male getroffen. Ja, der Teufel ist in Saint Breward. Er hat mich nachts in meinem Haus besucht. Er hat mich dazu gebracht, zu sagen, dass ich nicht mehr in der Kirche beten will, dass ich ganz heidnisch den Himmel und die Erde, die Bäume und die Blumen und die Vögel der Kirche, dem Weihrauch und dem Gesang der Psalmen vorziehe. Ich spreche ebenfalls für das Mädchen. Sie hat den Teufel im Moor getroffen, in meinem Haus, bei den Heulern!« Es wurde, sofern das überhaupt möglich war, noch stiller. Die Leute starrten mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen auf das Podest, auf dem Downe zwischen der Frau und dem Mädchen stand, das mit leeren Augen ins Nichts starrte. Father Cardew legte die Hand auf Thomas’ Schulter. »Warte«, flüsterte er. »Ich will erst alles hören.«
Die unbekannte Frau hörte so gespannt zu, dass sie nicht merkte, wie die Kapuze ihres Mantels herunterrutschte und ihr mit silbergrauen Strähnen durchzogenes rotes Haar zu sehen war. Einige Frauen in ihrer Nähe schlugen die Hand vor den Mund.
»Richter, Mylord, geliebte Brüder und Schwestern, jeder hat das Geständnis dieser Hexe, die für zwei spricht, gehört!« Die Kräuterfrau hob die Hände. »Dies alles ist wahr!«, schrie sie. »Dies alles ist wahr! Ich werde nun auch den Namen meines Teufels preisgeben! Jedermann weiß, dass sich der Teufel in den irreführendsten Erscheinungen versteckt. Mein Teufel ist Downe!« Die Stille zerbrach jäh. »Was?« Lord Galsworthy sprang auf. Die Zuschauer stürmten nach vorn, zum Gerüst. »Die Frau ist verrückt!«, brüllte Downe. »Nein!«, schrie die Kräuterfrau mit schriller, sich überschlagender Stimme. »Ich bin nicht verrückt! Ich verzehre mich bloß vor Verlangen nach dir, mein Teufel. Wir wollen dir für immer gehören. Nimm uns jetzt mit zu dem ewigen schwarzen Fest, wie du uns versprochen hast, als du unseren Geist und unsere Körper berührtest! Downe, mein Schatz, mein kalter Geliebter, mein Gebieter, mein Verderben, nimm mich endlich für immer mit.« Downe versuchte, noch etwas zu sagen, aber seine Stimme war wie erloschen. Mit hervorquellenden Augen, kopfschüttelnd, am Rande eines Nervenzusammenbruchs, streckte er seine Hände abwehrend aus. Die Kräuterfrau schien diese Geste als Einladung zu verstehen. Sie warf sich in seine
Arme, klammerte sich an ihn, drückte ihre Lippen auf die seinen, presste ihren Körper an ihn. Lord Galsworthy war sofort klar, dass etwas schief ging, dass die Kräuterfrau die Oberhand gewann. Er winkte kurz den Knechten, sprang auf und lief zum Gerüst. Die Männer schwangen drohend ihre Knüppel und stellten sich in einer Reihe, Schulter an Schulter, vor das Gerüst. Mylord riss die Kräuterfrau von Downe weg, der aussah, als hätte er einen Geist gesehen. »Leute von Saint Breward!« Mylord sah mit blitzenden Augen um sich. Dann deutete er auf die drei »Richter«. »Habt ihr das Geständnis gehört?« »Ja, Mylord.« »Wie lautet euer Urteil?« Die Bewohner von Saint Breward heulten auf. »Downe ist auch schuldig! Downe ist der Teufel!« »Nein!«, brüllte Mylord. »Seht ihr denn nicht, dass der Teufel durch ihren Mund spricht? Er wittert die Chance, euren Gemeindehirten zu blamieren, euch gegen ihn aufzuwiegeln. Das alles ist gelogen!« Die Verwirrung war nun perfekt. Father Cardew hatte sich nach vorn gedrängt. Behände war er aufs Podest gesprungen. »Mylord, Leute von Saint Breward, Freunde!« Einer nach dem anderen murmelte seinen Namen – überrascht, erleichtert oder froh, seine Stimme zu hören. »Was machst du hier?«, kreischte Downe. »Es ist die Pflicht eines jeden Geistlichen, Unrecht – wenn möglich – zu verhindern. Und verhindern ist besser als vergeben, Father Downe. Ich bin gekommen, um diesen beiden Frauen beizustehen, um ihre Seelen zu retten, sofern dies noch möglich ist.«
»Der hat hier nichts zu suchen!«, brüllte Lord Galsworthy. »Ergreift ihn!« Die Knechte zögerten. Father Cardew? Einen Geistlichen? »Ergreift ihn!«, schrie Lord Galsworthy wieder. »Ich verurteile diese Frau und dieses Mädchen. Für mich sind die Beweise erbracht und sie haben gestanden! Wagt es jemand, mir zu widersprechen?« Die Stimme einer Frau übertönte das aufkommende Rumoren: »Du ermordest deine Enkelin!« Die Menschenmenge wich auseinander, als die Frau zum Gerüst rannte. »Erst hat dein Sohn mein Leben zerstört und jetzt willst du auch noch seinem Kind das Leben nehmen! Ja, ich bin’s! Mary Finnemore! Dein Sohn hat mich mit Gewalt genommen, hat all meine Träume zerstört, hat dieses junge Leben mit Gewalt entstehen lassen und jetzt willst du es mit Gewalt auslöschen. Wieso rächst du dich nicht an mir? Ja, ich habe Stephen getötet, als er bei den Heulern meinen Liebsten von hinten angriff und mich dann neben der Leiche seines Opfers mit Gewalt nehmen wollte.« Die Menge wurde laut. Mary Finnemore? Nicht tot? Lebend zurückgekehrt? Das Mädchen war ihre Tochter? Die Enkelin des Mylord? Plötzlich wurde die Frau zum Symbol des jahrhundertelangen Unrechts, der vor Angst gebeugten Häupter, des hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Unmuts. Der schwelende Unmut erwachte wie ein brüllendes Tier. Geschrei, geballte Fäuste, Schimpfwörter, abfälliges Spucken! Die Knechte Lord Galsworthys formierten sich im Kreis um ihren Herrn, die Holzknüppel in den Fäusten. »Ich habe nicht gewusst, dass das Kind hierher gekommen ist. Gott hat sie hergeführt und ich bin ihr gefolgt. Anscheinend
hat Gott gewollt, dass ich zurückkehre, Lord Galsworthy. Und jetzt willst du deinem Enkelkind das Leben nehmen?« Das Mädchen schien aus einem tiefen Schlaf erwacht zu sein. Sie stolperte zu Mary Finnemore, fiel ihr um den Hals, schluchzte. Sie war ergreifend jung, schön, wehrlos. Thomas schluckte. »Sie ist eine Hexe! Genau wie die Alte…« Downe unternahm einen letzten Versuch, das Ruder herumzureißen. Er hätte besser geschwiegen. Eine Welle aus zornigen, schimpfenden Menschen spülte plötzlich über ihn hinweg. Er schrie auf, als sie ihn auf die Holzbretter des Podiums warfen und ihre Fäuste hoben. Lord Galsworthy machte keine Anstalten, ihm zu helfen; er wich zurück. Die Knechte knüppelten jeden nieder, der ihm zu nahe kam. Saint Breward hatte sich entschieden.
Als Stunden später der Tumult vorüber war, baumelte Downe am Glockenzug seiner Kirche, brannte das Jagdhaus von Lord Galsworthy, war der Lord von Saint Breward mit nicht mehr als den Kleidern, die er am Leib trug, geflohen. »Das hätte nicht passieren dürfen«, sagte Father Cardew kopfschüttelnd. »Heute, Father«, sagte William Bylloun, »ist eine neue Zeit angebrochen. Saint Breward ist erwacht, und ich denke, die ganze Welt wird nun bald dasselbe tun.« Father Cardew nickte. »Ich bin kein Gelehrter, Father«, sagte William Bylloun, »aber eins weiß ich sicher: Der Mensch bekommt seine Autorität nicht durch sein Gewand, den edlen Familiennamen oder ein Landgut. Man kann Menschen mit einem Knüppel zwingen zu gehorchen, aber nur, wer für die Gemeinschaft
wirklich etwas bedeutet, genießt Respekt. Downe und Mylord waren genau wie die Heuler im Moor. Niemand wusste mehr genau, wozu sie dienten.« Thomas kam ins Zimmer. »Sie schläft. Ihre Mutter ist bei ihr.« Die beiden Männer sahen kaum auf. »Mylord wird zurückkommen, William. Er wird vielleicht Soldaten bei sich haben.« »Soldaten können Menschen töten, Father. Aber die Gedanken von Menschen, die zum ersten Mal ihre Angst überwunden und gefühlt haben, was frei sein heißt, nein, die kann man nicht zurückdrängen. Die Zeit der Unterdrückung ist vorbei.« »Ich gehe mit den anderen, Großvater«, sagte Thomas. Das ganze Dorf hatte beschlossen, noch am selben Tag das Haus der Kräuterfrau wieder aufzubauen. Das Holz vom Gerüst konnten sie dafür gut gebrauchen. »Hast du keine Angst, dass das Mädchen weggeht?«, versuchte ihn der Großvater aufzuziehen. »Selbst wenn sie weggehen sollte, ist sie immer noch hier!«, erwiderte Thomas und deutete dabei auf sein Herz. Er winkte und pfiff nach Dusker. Das Moor sah irgendwie verändert aus.