Die Hexe von Soho von Frank Bowman
Über London brach ein schreckliches Unwetter herein, als Edward Wilson den Katakomb...
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Die Hexe von Soho von Frank Bowman
Über London brach ein schreckliches Unwetter herein, als Edward Wilson den Katakomben-Club in Soho kurz nach Mitternacht durch den Hofausgang für Prominente verließ. Er knöpfte sich den Mantel bis zum Kinn zu, als die Sturmböen in seinen Haaren wühlten und die Blitze über den Dächern zuckten. Dann ging ein Hagelschauer nieder, daß er kaum noch die Hand vor dem Gesicht zu sehen vermochte. Sinnlos, gegen diesen Sturm anzulaufen, dachte Edward Wilson bei sich, der keinen Schirm mitgenommen hatte und nur einen leichten Mantel trug. Wer rechnete in London schon am ersten Mai mit einem Hagelsturm? Er konnte nur den Hut kräftig in die Stirn ziehen, damit ihm die Hagelkörner nicht in die Augen schlugen, und ließ sich vom Wind in eine Richtung treiben, in die er gar nicht wollte.
Hoffentlich stoße ich bald auf ein Taxi, dachte er, ehe ich bis auf die Haut durchnäßt bin. Doch bei diesem heftigen Wirbel aus Eis und Schnee vermochte er bald die Wagen nicht mehr auseinanderzuhalten, die auf den engen Straßen Sohos an ihm vorbeihuschten. Sie glichen Eisbergen auf Rädern. Er lief ein paarmal in einen Schneemann hinein, der sich dann schimpfend beschwerte oder zerknirscht um Entschuldigung bat. Er schien nicht der einzige zu sein, der von diesem Wettersturz im Vergnügungsviertel überrascht wurde. Blind tappte er so durch die Gassen, und als er zum zweitenmal eine Mülltonne umwarf, bereute er zutiefst, daß er nicht im Club geblieben war. Denn inzwischen hatte er überhaupt keine Ahnung mehr, wo er sich befand. Soho ist ein kleines Labyrinth inmitten der Metropole, ein Stadtviertel, in dem man alle Nationalitäten der Welt antreffen kann. Dort gibt es eine Menge Straßenzüge, wo ganze verwahrloste Häuserzeilen abgerissen wurden oder neue Häuser dem alten Stil ihrer Umgebung angepaßt wurden. Jedenfalls schien Edward Wilson nach einer Weile nur noch im Kreis herumzulaufen, und wenn er sich nicht bald irgendwo unterstellte oder in einem Hauseingang verkroch, bis dieses Toben und Hageln aufhörte, würde er sich höchstwahrscheinlich eine Lungenentzündung holen. Er befand sich nun in einer Gasse, wo sich niedrige alte Häuser eng aneinanderdrängten. Das höckerige Kopfsteinpflaster war so glitschig, daß er mit seinen eleganten Halbschuhen darauf rutschte wie auf einem Eisring. Die Feuchtigkeit holte die Gerüche von Jahrhunderten aus dem Verputz der Mauern, die Edward Wilson schon als Kind unsympathisch gewesen waren den Geruch der Armut, der Unsauberkeit und der Unzucht. Blinde schwarze Scheiben starrten ihn aus den Hauswänden abweisend, feindselig an. Er rüttelte an Hoftüren und Hausklinken, die rissig waren vom langen Gebrauch und unangenehm knarrten in den rostigen Lagern. Aber die Türen gaben nicht nach. Und dann
sah er plötzlich ein strahlend helles Viereck – ein von warmem Licht überflutetes Schaufenster, an dem die Flocken sich sofort auflösten und heruntertropften, als hätte man die Heizung im Laden dahinter tüchtig aufgedreht. Für ihn war das Schaufenster wie ein rettendes Leuchtfeuer zwischen dunklen, kalten Klippen. Er ging darauf zu. Fensterladen und Ladentür waren mit roter Farbe frisch gestrichen, und hinter der Türscheibe hingen saubere weiße Vorhänge. Das Ganze sah aus, als hätten unternehmungslustige junge Leute aus einem abbruchreifen Haus mit viel Liebe und Ölfarbe eine Boutique gemacht. Selbst die Ziegel auf dem Dach waren bunt bemalt. Aus der Nähe betrachtet, erinnerte die Fassade Wilson eher an das Knusperhäuschen aus dem Märchen als an einen modernen Shop. Er sah im Schaufenster nur ein paar Tongefäße, Vasen und Topfpflanzen. Anscheinend wurden hier keine Kleider verkauft. Egal, was hier angeboten wurde, es gab jedenfalls Licht und vor allem Wärme, die Edward Wilson jetzt dringend brauchte, denn er war naß bis auf die Haut, und seine Zähne klapperten wie im Schüttelfrost oder Fieberanfall. Die Klinke der Ladentür gab lautlos nach, als er sie hinunterdrückte. Irgendwo im Hintergrund des Ladens hörte er ein Glockenspiel. Dann stand er im Laden, schloß die Tür hinter sich vorsichtig wieder wie ein Dieb und blickte sich um. Er horchte in das Halbdunkel hinein. Nichts regte sich. Seltsam, dachte er, irgendwie verrückt und auch beklemmend. Vielleicht hatte der Besitzer aber auch nur vergessen, den Laden abzuschließen, beruhigte er sich sogleich selbst. Es war nicht nur warm im Raum, sondern fast unangenehm heiß, und die Luft war schwer, mit einem süßlichen Geruch darin. Wilson hätte sich am liebsten seinen Mantel ausgezogen. Er gähnte. Auf einmal fühlte er sich furchtbar schläfrig. Er hatte zwar im Club eine Menge Whisky getrunken, doch das Unwetter und der eiskalte
Wind hatten ihn inzwischen gründlich ernüchtert. Jetzt wirkten der Alkohol und die Anstrengung gleichzeitig auf ihn ein. Was könnte es schaden, sich hier irgendwo in eine Ecke zu legen und zu schlafen? Auf jeden Fall würde er hierbleiben, bis seine Kleider getrocknet waren und es aufgehört hatte zu schneien. Er blickte sich wieder im Laden um. Ein seltsamer Laden, ging es ihm durch den Kopf. Links ein Regal, das vom Boden bis zur Decke mit Puppen gefüllt war. Unten ganz kleine Puppen, oben Riesenpuppen, die meistens so groß waren wie schulpflichtige Kinder. Ein Spielzeugladen, der nur Puppen verkaufte, Puppen aller Art. Männliche und weibliche, mit angestrickten Körpern, niedlichen Kleidchen und feierlichen Anzügen. Aber für seine Tochter, wenn er eine gehabt hätte, überlegte Wilson, hätte er keine dieser Puppen gekauft. Ihm gefielen die Gesichter nicht. Einige waren abstoßend häßlich, andere wieder ganz hübsch, aber mit irgendwelchen Zügen im Gesicht, die fast persönlich wirkten. Puppengesichter mit Lebenserfahrung, dachte Wilson amüsiert. Vielleicht war das ein neuer Verkaufsschlager der Puppenindustrie. Nein, dachte er im nächsten Moment erschrocken, als er eine dieser Puppen in die Hand nahm und sie aus der Nähe betrachtete. Diese Gesichter waren so realistisch, so naturgetreu, als lebten sie! Ein Schauer lief Edward Wilson über den Rücken. Sein Geschmack war das jedenfalls nicht. Und wieder wurde ihm dieser ekelhaft süßliche Geruch bewußt. Er kam von diesem Regal. Diese Puppen rochen. Sie stanken geradezu. Ein Gestank, als verwesten ihre Puppenkörper unter ihren hübschen Kleidchen und feierlichen Anzügen. Schauderhaft, dachte Edward Wilson, und stellte rasch die weibliche Puppe, die er vom Regal genommen hatte, an ihren Platz zurück. Sie sah aus wie eine kleine Puppenleiche. Unsinn, das kommt von dem vielen Whisky, redete Edward Wilson sich ein. Wenn man so säuft wie ich, sieht man am Ende die ver-
rücktesten Sachen – Riesenspinnen und Ameisen und grüne Männchen vom Mars und dergleichen mehr. Er bemerkte einen langen dunklen Samtvorhang, der die hintere Hälfte des Ladens abteilte. Wahrscheinlich hielt sich dort am Tag der Ladenbesitzer oder Verkäufer auf, solange er keine Kundschaft hatte. Vielleicht war auch die Luft dort sauberer als hier, und er würde dort vielleicht einen Stuhl finden, wenn nicht gar ein Sofa. Draußen vor der Schaufensterscheibe nahm das Unwetter noch zu. Edward Wilson trat auf den Vorhang zu und schob ihn auseinander. Ein panischer Schrecken ließ ihn zurückprallen. Schlagartig war er vollkommen nüchtern. Sein Gesicht wurde so grau und teigig wie die Visage der Puppe, die er eben angesehen hatte. Vor ihm saß sein Vater. Er saß in einem Sarg, umgeben von vier brennenden Kerzen, und starrte ihm ins Gesicht. Einen Moment war Edward Wilson wie gelähmt, dann stieß er einen gurgelnden Schrei aus, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Laden, wieder hinaus in die Schnee- und Hagelschauer …
* »Liebling, wer war es denn? Was beunruhigt dich?« fragte die junge, hübsche Frau aus den Kissen ihres Ehebettes. Der schlanke Mann mit den schlohweißen Haaren band den Gürtel seines seidenen Morgenmantels wieder auf. »Sehr merkwürdig.« Er betrachtete liebevoll die Frau im Bett. Edward Wilson senior war knapp vierzig Jahre älter als seine zweite Frau Mildred. Er hätte sich mit seinem Vermögen fast jede hübsche junge Frau leisten können, aber die echte Zuneigung einer jungen Frau von knapp über zwanzig war selbst für einen Multimillionär von Anfang sechzig unerschwinglich. Er wußte dieses seltene Geschenk sehr zu schätzen.
»Aber nichts, was dich betrifft, Liebling«, sagte er sanft, setzte sich auf das Bett und sah sie nachdenklich an. »Edward, rede mit mir darüber. Du siehst blaß aus. Ist irgend etwas mit deinen Fabriken passiert? Oder hat es einen Börsensturz gegeben?« Er lächelte, schüttelte den Kopf und strich über ihr Haar. »Aber, Liebes, um drei Uhr morgens ist doch die Börse noch gar nicht geöffnet.« »Nun, die Börse von Tokio ist doch jetzt schon geöffnet, oder?« Er streichelte ihre Wangen. »Mildred, wenn ich bedenke, daß du noch vor drei Monaten ein Fotomodell gewesen bist, das einen Scheck nicht von einem Wechsel unterscheiden konnte, muß ich dir jetzt ein Kompliment machen. Du wirst noch eine richtige Juniorpartnerin. Eine echte Geschäftsfrau.« Nun beugte er sich über sie. In ihrem weißen Shorty sah sie einfach hinreißend aus. Er küßte ihren vollen, sinnlichen, ein bißchen schmollend aufgeworfenen Mund und ihren schlanken Hals. Sie rekelte sich, noch befangen in der wohligen Wärme des Schlafes. Sie blickte die Uhr auf dem Nachttisch an. »Nun sag schon, wer dich um diese Zeit unbedingt sprechen wollte, morgens um drei Uhr.« Er seufzte. »Es war, nun, es war – ein Krankenhaus.« Sie sah ihn mit ihren großen unschuldigen Augen prüfend an. »Ein Krankenhaus? Hat es vielleicht einen Betriebsunfall bei der Nachtschicht gegeben? Hör mal, muß man dich deswegen mitten in der Nacht aus dem Bett klingeln? Du hast doch schließlich deine Direktoren! Wieso benachrichtigt man die denn nicht?« Er strich ihr wieder liebevoll über das Haar, während er seinen Morgenmantel abstreifte. »Du bist so fürsorglich, Mildred. Aber es hat schon seine Richtigkeit.« »Edward, was war nun wirklich? Sag es schon.« »Edward«, erwiderte er und seufzte. »Es ging um Edward.«
»Um Himmels willen! Dein Sohn? Ist ihm etwas zugestoßen?« Edward Wilson senior lachte kurz: »So kann man es nennen. Irgendwo in Soho las man ihn aus der Gosse auf.« Mildred richtete sich im Bett auf. »Er war betrunken?« »Auch das. Er tobte und redete unsinniges Zeug. Er war wie von Sinnen, und die Polizei mußte ihn in eine Nervenklinik bringen.« Mildred blickte ihren Mann einen Moment von der Seite an. Jetzt war nichts Unschuldiges mehr in ihren Augen. »So schlimm?« fragte sie leise. »Der Arzt, der mich eben anrief, meinte, er befände sich im Delirium tremens.« Edward Wilson kroch unter die Bettdecke und blickte an die Zimmerdecke hoch. »Er phantasiert. Dem Arzt und der Polizei erzählte er, er habe meine Leiche in einem Sarg in Soho gesehen. Man kann es ihm nicht ausreden. Er wollte unbedingt hierher, und deswegen riefen sie bei mir an.« Edward Wilson senior lachte kurz, diesmal herzlich und voller Humor. »Ich habe dem Arzt gesagt, daß ich mich bester Gesundheit erfreue …« Er drehte den Kopf und zwinkerte seiner Frau schalkhaft zu. »Ich liebe dich …«, sagte er und streichelte ihr wieder zärtlich über das Haar. Sie rückte von ihm ab. »Bitte, Edward, jetzt nicht.« »Na hör mal, Mildred, jetzt siehst du aber ziemlich blaß aus. Was hast du denn?« »Ich bin eben erschrocken, Edward. Und wenn man aus dem Schlaf gerissen wird …« Er sah sie besorgt an. »Du liebst mich doch, nicht wahr, Mildred?« »Oh, aber sicher, Edward. Das weißt du doch. Lösch jetzt bitte das Licht und schlafe weiter. Morgen wird es ein anstrengender Tag für dich.« »Du bist rührend um mich besorgt, Mildred, Liebling«, sagte er und löschte das Licht. Er sah nicht mehr, wie sie im Dunkeln an die Decke starrte, und wie ihr Gesicht sich verzerrte. Er legte den Arm um sie und schlief wieder ein …
* Jetzt trat sie in den Laden, und der hübsche, silberhelle Klang der Glocke beruhigte sie sofort. Dabei hatte sie so viel Angst gehabt, einzutreten, daß sie mehrere Male durch die Gasse gegangen war und nicht gewagt hatte, auch nur einen Blick auf das Schaufenster zu werfen. Und als nun die Töne der Ladenglocke verhallten, hätte sie am liebsten sofort wieder kehrt gemacht. Doch dazu war es zu spät. Der Vorhang im Hintergrund des Ladens teilte sich, und eine ältere Frau lächelte sie an. Sie sah sehr mütterlich aus. »Nun, mein Kindchen?« fragte sie wohlwollend. »Ich …« sagte das junge Ding, das eben den Laden betreten hatte, und das nächste Wort blieb ihr schon im Hals stecken. »Sie sehen allerliebst aus, Kindchen. Ach ja, die Jugend. Das Kostüm steht Ihnen großartig …« Die alte Dame seufzte. Das junge Mädchen lächelte nun gezwungen: »Eine Freundin hat mir …«, hauchte es und verstummte wieder. Nun betrachtete die alte Dame sie versonnen, als müßte sie für ein Kleid Maß nehmen. »Ganz reizend, meine Liebe, diese Verlegenheit steht Ihnen. Und diese Grübchen, wer würde Sie nicht darum beneiden! Auch ich war einmal jung. Aber selbst in meinen besten Tagen hatte ich keine Grübchen.« Sie rieb sich die Hände und nickte ein paarmal rasch hintereinander. »Ja, und verheiratet sind Sie auch schon, wie ich an Ihrem Ring sehe.« Sie seufzte und nickte noch einmal. »Deswegen kommen Sie doch zu mir, nicht wahr, Kindchen? Sie brauchen mir gar nichts zu erzählen. Ich verstehe vollkommen. Ihre Freundin hat mich empfohlen, weil ich sie bereits bedient habe, nicht wahr? Und weil sie sehr zufrieden war.« »Ich …«, hauchte das Mädchen verlegen. »Aber, aber«, sagte die alte Dame mit süßer Stimme und nahm sie bei der Hand wie ein Kind. Dabei schlossen sich ihre knochigen Fin-
ger wie Krallen um ihr Handgelenk. »Wir gehen jetzt in meinen Salon, und da werden wir alles in Ruhe bei einer Tasse Tee und einem Gläschen Sherry besprechen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob die alte Dame ihre Kundin durch eine Tür neben dem Vorhang, hinter dem sich das Sarglager befand …
* Für jeden Werktag hatte Edward Wilson senior einen für zwölf Stunden ausgebuchten Terminkalender. Er war Präsident eines recht großen multinationalen Konzerns, der nach einem Jahrzehnt ungestörten Wachstums plötzlich arg ins Schlingern geriet, seit Politiker armer Länder der Dritten Welt die Filialen der Wilson-Incorporated mit Boykotts, Enteignungen und sogar Zerstörungen bedrohten. Eigentlich verfügte Wilson senior über genügend jüngere tüchtige Vizepräsidenten, die an Krisen gewöhnt waren und sie bisher auch alle erfolgreich bewältigten. Doch das Gefühl, daß er überall seine Hand darauf hatte, über allem schwebte, seine Direktoren eigentlich nur seine verlängerten Arme waren, bedeutete für Edward Wilson ein wichtiges Lebenselixier. Es täuschte über seine schwindenden Kräfte hinweg, nährte sein ungebrochenes Selbstbewußtsein, war für ihn Beweis, daß er vital war wie ein Junger und jung genug, um noch so ziemlich alles zu können. Tatsächlich aber setzte sein Gedächtnis oft schon aus, fehlten ihm die richtigen Worte bei Konferenzen, traf er manchmal Anordnungen, die seine Direktoren dann stillschweigend übergingen, weil sie sonst dem Konzern nur geschadet hätten. Es waren die Torheit und Tragik des Alters, die keinen verschonen. Der kleine Mann findet sich wohl eher damit ab und trauert nur einer verlorenen Jugend nach. Wilson senior aber war reich und besaß Macht. Und Männer in seiner Position glauben manchmal, daß
das genügt, um die Naturgesetze auf den Kopf stellen zu können. So kam es auch zu einem Zerwürfnis mit seinem Sohn, Edward Wilson junior. Es hatte begonnen, als der Senior nach seiner Hochzeitsreise mit Mildred in die Präsidentensuite seiner Konzernverwaltung zurückkehrte. Sein Sohn, Erster Vizepräsident des Konzerns, hatte ihn während seiner Kreuzfahrt in der Südsee vertreten und ein paar wichtige Entscheidungen gefällt, mit denen Edward Wilson senior nun nicht einverstanden war. Er hatte damals seinen Sohn zu sich ins Allerheiligste rufen lassen. »Hör mal«, hatte er gesagt und energisch mit der Faust auf einen Aktendeckel geschlagen, »bist du verrückt geworden? Ich hatte dir aufgetragen, die Aktien dieser Tochtergesellschaft an der Börse zu verkaufen, und du hast sie der Belegschaft zum Nennwert zum Kauf in der Landeswährung angeboten. Das ist eine Riesendummheit!« Er schlug wieder auf den Aktendeckel. »Ich wollte harte Währung dafür, keine unnützen Papierfetzen! Ich hatte die Absicht, mein Geld herauszuziehen und es wieder dort anzulegen, wo es sicher ist!« Sein Sohn blieb ganz ruhig und erwiderte: »Hast du die ganze Akte gelesen?« »Die ganze Akte? Wofür habe ich denn dich? Du hast die Vorarbeit zu leisten, ich fälle die Entscheidungen! Und kaum muß ich dir einmal die Entscheidung überlassen, machst du einen solchen Bockmist! So was will nun mein Nachfolger werden. Das war doch nur wieder ein Beweis mehr, daß ich das Heft noch lange nicht aus der Hand geben kann!« Sein Sohn zog gelassen einen Stuhl an den Schreibtisch heran, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Auch das reizte Edward Wilson senior bis aufs Blut. Er wußte, sein Sohn war ein Choleriker wie er selbst, doch seit ein paar Monaten reagierte der Junior in kritischen Momenten voller Zündstoff nicht mehr mit Explosionen,
sondern mit stoischer Ruhe und kleinen Mätzchen wie zum Beispiel Kreise aufs Papier malen oder Zigaretten paffen. »Nun sag schon was!« brüllte der Senior seinen Sohn an. »Vater, ich hatte deine Vollmacht.« »Aber nicht für Idioten!« »Und du warst nicht zu erreichen«, fuhr der Sohn unbeirrt fort. »Ich habe es versucht.« »Ich hatte angenommen, daß ich einmal Urlaub nehmen kann, ohne daß zu Hause gleich alles drunter und drüber geht!« Wilson junior drückte bedächtig und gründlich seine halbgerauchte Zigarette aus. »Ich wollte dir nur Gelegenheit geben, noch einmal Gegenargumente gegen meine Entscheidung vorzubringen, die ich in deiner Abwesenheit zu fällen bevollmächtigt war. Wenn du die Akte durchgelesen hättest, wüßtest du auch, daß es die einzig richtige und mögliche Entscheidung war. Man hätte uns sonst enteignet. So haben wir nicht nur einen Gewinn, sondern uns sogar noch Freunde im Land gemacht. Wir können weitermachen und auch expandieren.« »Willst du mich belehren, was falsch und richtig ist? Ich habe diese Firma aufgebaut, und du hast deine Ausbildung hier genossen!« Sein Sohn seufzte. »Deine Mitarbeiter haben auch ein bißchen mitgeholfen, daß aus deiner Firma etwas Großes wurde«, sagte er mit leisem Sarkasmus. »Und bisher waren doch die meisten Entscheidungen, die ich dir vorgeschlagen habe, richtig, wie die Erfolge beweisen.« »Bisher ja – aber diesmal ist sie es nicht! Und du bist kaum wiederzuerkennen! Früher war ich stolz auf dich, weil ich in dir mein Ebenbild sah – voll Saft und Kraft, immer mit der Faust auf den Tisch, mutig und voller Tatendrang.« »Aber Vater, die Zeiten ändern sich.« »Widersprich mir nicht! Nicht die Zeiten haben sich geändert, sondern die Menschen. Der jungen Generation fehlt eben die harte
Schule, die uns Ältere so gestählt und vital gemacht hat. Verweichlichte, verwöhnte Duckmäuser, die überall nachgeben, wo sie hart bleiben sollten. Auch Mildred ist der Meinung! Sie fühlte sich zu mir hingezogen, weil sie bei mir fand, was sie bei Männern deiner Generation so sehr vermißt: Durchhaltevermögen, Vitalität, Entschlußkraft. Wie findest du das, mein Junge?« »Wahrscheinlich schmeichelt sie dir.« »Du weißt genau, daß sie mich liebt und nur mein Bestes will!« »Bist du so sicher, daß man eine Frau, die man fünf Monate kennt, wirklich schon durchschaut, Vater?« »Jetzt gehst du aber entschieden zu weit! Du maßt dir nun auch schon Entscheidungen in meinem Privatleben an, mein Junge?« erboste sich Edward Wilson senior und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Ich hatte von Anfang an das Gefühl, daß es dir nicht paßt, wenn ich mich wieder verheirate. Offenbar hat ein Witwer in deinen Augen keinen Anspruch mehr auf Eheglück, oder?« Edward Wilson junior zuckte statt einer Antwort nur mit den Schultern. Das reizte seinen Vater nur noch mehr, weil er das als Trotz und Opposition auslegte. »Ich sehe keinen Grund, meine Entscheidung für Mildred zu bereuen. Aber das da«, Wilson senior deutete auf den Aktendeckel auf seinem Schreibtisch – »wird sofort rückgängig gemacht. Das ist ein Befehl!« Edward Wilson junior erhob sich von seinem Stuhl und stellte ihn an seinen alten Platz neben dem Konferenztisch zurück. »Da ist unmöglich«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Zudem würdest du mich damit in der Firma diskreditieren.« »Das hast du dir selbst zuzuschreiben.« »In diesem Fall müßte ich von meinem Posten zurücktreten.« »Wenn dir dein Eigensinn wichtiger ist als die Firma – bitte. Ich hindere dich nicht daran.« Sein Sohn blickte ihn nicht mehr an und ging.
* An diese Auseinandersetzung erinnerte sich Edward Wilson senior, als er durch den Vorgarten seines Hauses auf seinen Rolls Royce zuging, neben dem sein Chauffeur mit gezogener Schirmmütze wartete. Sein Sohn fehlte ihm an allen Ecken und Enden; aber wenn er sich stur stellen wollte, sollte er ruhig merken, daß er auch in diesem Punkt seinem Vater nicht gewachsen war. »Zur Verwaltung, Sir?« fragte Paul, der Chauffeur, gewohnheitsmäßig. Er fuhr seinen Boß nun schon seit zehn Jahren an jedem Werktagmorgen um zehn in das Konzernhochhaus. Einmal jedoch war er nach dem »Guten Morgen, Sir« einfach gestartet, und Edward Wilson hatte ihn angeschnaubt, seit wann die Angestellten darüber zu entscheiden hätten, wohin ihre Chefs zu fahren hätten. Tyrann, hatte Paul sich gedacht, und sich entschuldigt. Seither vergaß er nie mehr, sich jeden Morgen aufs neue zu erkundigen, wohin die Fahrt ginge. Edward Wilson senior streifte seinen Chauffeur mit einem verächtlichen Blick. »Ich fahre heute selbst, Paul«, sagte er. »Wie bitte?« Paul blickte seinen Chef entgeistert an. In zehn Jahren hatte es das noch nicht gegeben. Edward Wilson senior gab seinem Chauffeur Gelegenheit, die Seite zu wechseln und ihm die rechte vordere Wagentür aufzuhalten. Als das nicht geschah, öffnete er selbst den Schlag und warf die Tür recht heftig hinter sich zu. »Und ich?« fragte Paul verdattert. »Sie werden mit dem Bus in das Büro zurückfahren, Paul«, erwiderte Wilson senior kühl. »Oder halten Sie es vielleicht für richtig, daß Sie in Ihrer Chauffeuruniform im Fond sitzen, während ich sie durch den Hyde Park kutschiere?« »Natürlich nicht, Sir«, verteidigte sich Paul. »Ich wollte doch nur …«
»Sie wollen das, was ich Ihnen sage, Paul«, unterbrach ihn Edward Wilson senior schlechtgelaunt und gab Gas. Paul blieb mitten auf der Fahrbahn stehen und sah ihm entgeistert nach. Altes Ekel, dachte er beleidigt. Er hatte eigentlich gar nichts gegen seinen Chef, aber der benahm sich nur in letzter Zeit so unleidlich. Prolet, dachte Edward Wilson wütend, obwohl er im Grunde mit Paul ganz zufrieden war, denn sonst hätte er ihn schon längst entlassen. Der Grund seines Ärgers war eigentlich auch gar nicht Paul, sondern sein Sohn, der ihm die Schmach angetan hatte, sich in eine Nervenklinik einliefern zu lassen. Und er konnte sich schließlich vor Paul nicht die Blöße geben, sich von ihm dorthin chauffieren zu lassen, sondern mußte eben heute morgen seinen Rolls selbst fahren. Auch das ärgerte ihn. Und er ließ nur seine Wut an den Falschen aus, an Menschen, die es nur gut mit ihm meinten. Er wußte das, und das ärgerte ihn noch mehr. Jetzt fuhr er viel zu schnell die Kings Road stadteinwärts hinunter. Als er in die Buckingham Palace Road einbog, befand er sich im üblichen Stau des Verkehrsstroms am Rand der City. Ein Lastwagen vor ihm kam auch nicht schneller voran. Er hatte Eisenstangen geladen, die weit über die Ladefläche hinausragten. Die längste Stange trug ein rotes Tuch am Ende, das vorschriftsmäßig die Gefährlichkeit der Ladung allen folgenden Verkehrsteilnehmern sichtbar ankündigte. Auf Edward Wilson senior wirkte dieser rote Fetzen, der vor ihm auf- und abtänzelte, wie ein rotes Tuch auf einen Stier. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sein Atem ging rauh und schnell. Seine Nebennieren schütteten so viel Adrenalin auf einmal in seinen Blutstrom, daß sich diese Gereiztheit zu einem wahnsinnigen Jähzorn steigerte. »Wenn du nicht weichen willst, du Hundesohn, muß ich eben Gewalt anwenden!« keuchte Edward Wilson senior und gab Vollgas. Der Rolls Royce nahm einen gewaltigen Anlauf. Hunderte von Verkehrsteilnehmern und Passanten schrien entsetzt auf, als die Frontscheibe des Rolls Royce zersplitterte und kurz darauf auch die
Heckscheibe. Der Luxuswagen fuhr fast auf die Ladefläche des Lasters hinauf, ehe er in den Stangen hängenblieb. Edward Wilson konnte ihn nicht mehr abbremsen. Die Gerüststange, die seine Wut so sehr angestachelt hatte, hatte ihn durchbohrt.
* Zwei Stunden später überbrachte man Edward Wilson junior die Nachricht von dem Tod seines Vaters. Er nickte nur ganz apathisch, noch benommen von den vielen Beruhigungsspritzen, die man ihm in der Nacht zuvor verabreicht hatte. Er fing wieder an zu phantasieren, wie der behandelnde Arzt sich ausdrückte. »Was sagt er?« fragte die Oberschwester, als der Arzt das Krankenzimmer wieder verließ. »Als er seinen Vater heute nacht im Sarg gesehen hat, da wäre sein Hals von einem eisernen Schürhaken durchbohrt gewesen«, erwiderte der Arzt. »Schrecklich«, flüsterte die Schwester entsetzt, »er muß den Tod seines Vaters im Traum vorausgesehen haben.« »Ich bin mir nicht so sicher, Schwester«, sagte der Arzt, »vielleicht gibt es da auch andere Zusammenhänge.« »Sie meinen – ein Verbrechen?« fragte die Schwester schnell. »Immerhin geht es hier nicht um Kleinkram, sondern um die Erbschaft eines Riesenvermögens. Dabei fällt mir nur ein Artikel in der ›Times‹ ein, der vor einer Woche von einer schlimmen Auseinandersetzung zwischen Wilson senior und Wilson junior berichtete«, entgegnete der Arzt kühl. »Und deshalb könnte …« »Ja, Doktor?« fiel ihm die Schwester beflissen ins Wort. »Wir werden auf jeden Fall eine Kopie des Krankenberichts an Scotland Yard schicken, Schwester. Bitte veranlassen Sie das sofort.«
* Myra sah sich in dem Zimmer um, in das die alte Dame sie hineingeführt hatte. Von ihrer Freundin hatte sie gehört, daß die alte Dame einen überraschend guten Geschmack hätte. Und da mußte sie ihr zustimmen. Die Einrichtung bestand aus solidem Holz. Nicht ein Stück aus dem Kaufhaus. Geschnitzte Truhen in den Ecken, die so alt und verwittert aussahen wie Grabplatten aus dem Mittelalter, die man aus Friedhöfen geborgen und in die Kirchenwände eingemauert hat. Zwei Vitrinen, vollgestopft mit Krimskrams, den die Alte noch von ihren Urgroßeltern geerbt haben mußte. Alte rissige Gemälde, die so nachgedunkelt waren, daß man kaum noch etwas darauf erkennen konnte. In einem Regal standen Kupfertöpfe, Glaskolben und klobige Mörser, die aus einer Alchimistenküche zu stammen schienen. Offensichtlich neueren Datums waren nur das Sofa, die Sessel und der Tisch – vielleicht hundert Jahre alt –, und das Samtpolster, auf dem Myra sich niederließ, besaß sogar Sprungfederkerne. Die Alte holte zwei Gläser aus einer Vitrine und stellte zwei Karaffen dazu, die eine mit einer braunen, die andere mit einer ölig-grünen Flüssigkeit gefüllt. »Nun, Kindchen«, sagte sie mit einem süßen Lächeln, »einen guten alten Sherry zur Stärkung, bevor wir zum geschäftlichen Teil übergehen?« »Danke, gern«, sagte Myra beklommen, obwohl sie sonst gar keinen Sherry trank. Die Alte schenkte Myra aus der Karaffe mit der braunen Flüssigkeit ein. Sie selbst bediente sich mit dem grünen Zeug. Das roch nach Pfefferminzlikör. Myra nippte an ihrem Glas. Der Sherry tat ihr gut: Er rieselte warm ihre Kehle hinunter und gab ihr Mut. »Nun?« fragte die Alte und setzte ihr Glas wieder ab. Sie lächelte gütig. Komisch, dachte Myra, eben noch erschien sie mir wie eine Hexe,
die gerade vom Friseur gekommen ist. Jetzt gleicht sie meiner guten alten Tante Daphne, die immer so nett zu mir war. Myra nahm noch einen Schluck von dem Sherry. Wirklich, hier konnte man es gut aushalten. Urgemütlich. Fast hätte sie gekichert. »So jung, so hübsch und so verliebt«, sagte die alte Dame. »Ich beneide Sie darum, Kindchen. Aber das sagte ich Ihnen ja schon. Ich kann es nur nicht oft genug wiederholen. Aber Sie wären sicher nicht zu mir gekommen, wenn Sie nicht trotz allem irgendwo der Schuh drückte.« Die alte Dame legte ihre knochigen Hände auf die vergilbte Spitzendecke. »Ich nehme an, es ist der Ehemann, nicht wahr? Oder der andere?« Myra lief dunkelrot an. »Woher wissen Sie …?« hauchte sie. »Es sind immer die gleichen Probleme bei den jungen Damen. Daran ändern auch die Jahrhunderte nichts«, sagte die alte Dame selbstbewußt. Myra nickte geistesabwesend. »Also wollen Sie Ihren Ehemann loswerden«, fuhr die Alte fort, als wäre sie vollkommen im Bilde über die Situation ihrer Kundin. »Haben Sie es denn schon mit einer Scheidung versucht?« »Ich habe alles probiert«, erwiderte Myra, und ihr Ton hatte einen verzweifelten Klang. »Aber er ist außer sich. Ich kann mit ihm nicht sprechen. Wissen Sie, er ist zwanzig Jahre älter als ich.« »Ich weiß«, sagte die Alte. »Er hängt furchtbar an mir. Er ist wie eine Klette. Und wenn er jetzt zärtlich zu mir sein will …« Myra schüttelte sich. »Nie hätte ich geglaubt, daß es so weit kommen würde. Aber ich ekle mich vor ihm. Ich bin noch so jung, und …« Sie brach ab und nippte rasch wieder an dem Sherry, um sich neuen Mut zu holen. »Kindchen«, sagte die Alte beruhigend, »Sie haben ein Recht auf Ihre Jugend. Das Recht, sie in vollen Zügen zu genießen. Damit Sie später das Alter mit Anstand hinter sich bringen können. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Da gäbe es aber noch die Trennung …«
Myra schüttelte energisch den Kopf: »George will mich enterben. Ach, ohne Claud würde ich das alles gar nicht durchhalten.« »George ist Ihr Ehemann, und Claud Ihr Liebhaber?« »Nun, nennen wir es mein Freund«, verbesserte Myra hastig. »Er studiert. Er hat eine glänzende Zukunft vor sich, sagt sein Professor. Er will in den diplomatischen Dienst. Er ist – so …« »Natürlich«, fiel die Alte ihr trocken ins Wort. »Weiß er, daß Sie bei mir sind?« »Oh, nein! Er würde mir schreckliche Vorhaltungen machen! Er darf es nicht erfahren. Es soll ein Opfer für ihn werden.« »Hm, das ist eine lobenswerte Einstellung von Ihnen, Kindchen. Er sollte es auch nicht erfahren. Sonst kämen wir nicht ins Geschäft.« Die alte Dame lehnte sich zurück. Was für rote Augen sie hat, dachte Myra. Fast wie ein Albino. Aber vielleicht kam das vom Alkohol. »Ich brauche aber noch ausführlichere Angaben von Ihnen.« Die Alte holte einen Notizblock aus ihrer Tischschublade und einen Kugelschreiber mit Federkiel. »Zuerst beginnen wir mit Ihrem Mann George. Nachname?« »George Gateskill.« Die Alte notierte. »So – und er behandelt Sie jetzt schlecht, Kindchen?« »Er ist eher – undankbar!« sagte Myra grollend. »Sicher – er hat mir einmal sehr geholfen, als es mir ganz schlecht ging. Ich mochte ihn. Aber heute weiß ich, daß ich in ihm wahrscheinlich nur den Vater sah, den ich nie gehabt hatte. Es war eben eine Verwechslung von Gefühlen. Als ich Claud kennenlernte, wurde mir das bewußt. Bei Claud war es Liebe auf den ersten Blick …« Sie seufzte wohlig und lehnte sich in das Polster zurück. »Ja, zu Claud kommen wir schon noch. Jetzt sagen Sie mir, weshalb George undankbar ist.« »Ich habe ihn schließlich geheiratet, ihm meine Unschuld geopfert und drei Jahre meiner Jugend. Das ist eine Menge, wenn man be-
denkt, daß er schon über vierzig ist. Und ich denke, daß ich dafür wirklich eine gute Abfindung von ihm verlangen könnte, wenn er nur bereit wäre, sich ordentlich scheiden zu lassen. Er besitzt schließlich ein gutgehendes Werbebüro.« »Und Claud?« »Oh …« Myra senkte den Kopf. Ihr Gesicht lief blutrot an. »Ohne ihn kann ich keine Minute mehr leben.« »Gewiß nicht.« Die alte Dame sah sie prüfend an. »Deswegen Ihre Eile, Kindchen?« »Nein«, sagte Myra, und ihre Stimme klang wieder verzweifelt. »George hat unser Bankkonto überprüft. Und dabei ist alles herausgekommen …« Myra sah jetzt wirklich verzweifelt aus. »Nur nicht aufregen, Kleine. Bleiben Sie ganz ruhig und erzählen Sie mir, was herausgekommen ist.« »Claud hat nur noch eine Mutter, die mit einer kleinen Rente auskommen muß. Er brauchte Bücher, neue Anzüge und vor allem das Geld, um weiterstudieren zu können …« »Und das hat er von Ihnen erhalten, Kindchen?« Myra nickte hastig. Ihre Augen waren jetzt feucht. »Es war schrecklich.« »Nun, wenn Sie Claud Schecks gegeben haben statt Bargeld, war das wohl sehr töricht von Ihnen, Kindchen!« »Aber George hatte mir bisher immer vertraut! Er ließ mir wirklich viel Freiheiten.« Sie wischte sich die Augen. »Er hat sich von der Bank die Schecks zeigen lassen, erfuhr Clauds Namen und somit unser Geheimnis.« »Sie brauchen mir nicht alle Einzelheiten zu schildern, Kindchen. Das quält Sie nur. Bleiben wir bei den Fakten. Also was tat George? Drohte er Ihnen?« Wieder nickte Myra rasch. »Er will sich auf keinen Fall scheiden lassen. Aber für alle Fälle wird er sein Testament ändern, sagt er, in dem ich bis jetzt als Alleinerbin eingesetzt bin. Am Montag schon!« Myra schluchzte laut.
»Aha.« Die Alte hatte voll und ganz begriffen. »Heute ist Dienstag. Am Montag will er sein Testament ändern lassen. Das bedeutet, daß wir also noch eine knappe Woche Zeit haben.« Sie holte einen Terminkalender aus der Schublade und studierte ihn mit gefurchter Stirn. Myra blickte die alte Dame an, als hinge ihr Seelenheil von diesem Kalender ab. Und in gewisser Weise stimmte das sogar. »Wir könnten es so einrichten«, sagte die Alte nach einer Weile. »Wirklich?« Myra schlug die Hand vor die Brust. »Oh, mir fällt ein Stein vom Herzen!« Jubel schwang in ihrer Stimme mit. »Und alles, was meine Freundin mir erzählte, stimmt?« »Sicher, Kindchen.« Die alte Dame sprach jetzt im geschäftsmäßigen Ton und bereitete ein Formular für die Unterschrift vor. »Wir werden selbstverständlich den Vertrag vordatieren, so fällt auch nicht der geringste Verdacht auf Sie, meine Liebe. Sie werden den Sarg bei uns kaufen und hier die Beerdigung bestellen. Zu bezahlen brauchen Sie erst später. Alles andere erledigen wir.« Die Alte entblößte lächelnd ihr tadelloses Gebiß. »Es ist alles so, wie bei einem ganz normalen Todesfall. Da gibt es keinen Unterschied.« »Und mir kann dabei wirklich nichts passieren? Ich meine, daß die Polizei vielleicht irgendeinen Verdacht schöpfen und mich verhören könnte? Das hielten meine Nerven nicht durch, und es wäre alles umsonst!« »Ich sagte, alles wie bei einem ganz normalen Todesfall«, wiederholte die Alte ein wenig beleidigt. »Er wird den Tod erhalten, den er verdient. Ich denke, daß es spätestens am Sonntag passieren wird. Sie sollten sich darauf einrichten, Kindchen.« Myra nickte beklommen. »Auf jeden Fall aber muß es passieren, ehe er sein Testament ändern kann.« Die Alte schrieb etwas in das vorgedruckte Formular. »George ist zwar ein Hemmschuh für Ihr Glück, scheint aber sonst kein übler Mensch zu sein. Gönnen Sie ihm also einen schönen Tod, Kindchen?«
»Sicher …« erwiderte Myra leise. »Gut. Ein schöner, friedlicher Tod. Wird gemacht.« Die Alte strahlte jetzt. »Das ist besser fürs Gewissen. Daran knüpfen wir natürlich auch ein paar Bedingungen. Wir bekommen die Leiche. Eine Feuerbestattung ist also ausgeschlossen. Und Sie garantieren uns, daß Sie uns eine neue Kundin aus Ihrem Bekanntenkreis in einer bestimmten Frist verschaffen. Wir müssen uns unsere Existenz schließlich auch sichern. Und Werbung können wir uns aus Gründen, die Sie sicher verstehen, nicht gestatten. Ansonsten verlangen wir keine höheren Preise als die normale Konkurrenz. Sie können das alles hier auf der Rückseite des Vertrages lesen. Das Kleingedruckte. Möchten Sie erst einmal lesen?« Myra winkte hastig ab. »Ich lese nie das Kleingedruckte. Mir genügen Ihre Erklärungen.« »Ihr Vertrauen ehrt mich, Kleine«, sagte die Alte mit süßem Lächeln. »Dann bliebe also nur noch die Kaution. Haben Sie sie mitgebracht?« »Ja.« Myra öffnete rasch ihre Handtasche. »Ich hoffe, daß ich meine Freundin richtig verstanden habe«, sagte sie leise, während sie zwei Röhrchen auf den Tisch legte. Auf die Röhrchen, die früher vielleicht einmal Tabletten enthalten haben mochten, war mit schwarzer Tusche ein Vorname geschrieben worden: auf das eine »Myra«, auf das andere »George«. Die Alte nahm die Röhrchen und hielt sie ins Licht. »Sehr schön, Kindchen. Ein langes blondes Haar von Ihnen. Gut. Und das Braune? Ein bißchen gestocktes Blut von Ihnen? Auch gut. Und George hat schon graue Haare? Ach Kindchen, ich kann Sie ja so gut verstehen! Ah, und auch ein bißchen Blut von ihm. Ausgezeichnet. Das wäre es!« »Bei Kaution hatte ich eigentlich eher an Geld gedacht«, sagte Myra zaghaft. »Geld ist keine Garantie«, winkte die Alte ab. »Das steht alles im
Kleingedruckten. Wir brauchen ein Pfand, das gewährleistet, daß sich jeder Partner an den Vertrag hält. Mit Geld ist so etwas nicht möglich.« »Ich verstehe«, sagte Myra, obwohl sie gar nichts verstand. »Das da in den Röhrchen brauchen wir für unsere Puppen. Sie kommen ins Archiv und werden dann später vernichtet. Aber bis dahin …« Die Alte zuckte mit den Schultern. »Es hat eben jeder so seine Geschäftspraktiken. Sie garantieren, daß keiner mehr vom Vertrag zurücktreten kann, sobald er unterzeichnet ist. So können Sie es sich immer noch anders überlegen, meine Liebe. Aber sobald Sie die Unterschrift leisten, gibt es für Sie kein Zurück mehr. Das Risiko wäre für uns zu groß.« Myra wollte es hinter sich bringen. Um keinen Preis wollte sie mehr zurück. Sie wollte ihren Claud. »Ich unterschreibe«, sagte sie entschlossen, als gäbe sie bereits ihr zweites Jawort vor dem Standesamt. »Sehr gut«, sagte die Alte strahlend und nickte Myra gönnerhaft zu. »Sie werden mit uns sehr zufrieden sein. Sie bekommen Georges Vermögen und Ihren geliebten Claud. Sicher wird man Ihnen als junger Witwe beides gerne gönnen. Bei einer Ehebrecherin, die geschieden wird, sähe das anders aus …« »Ich weiß«, unterbrach Myra die Alte. »Was muß ich jetzt noch tun?« »Nun, die beiden Röhrchen bekommt mein Mann. Er ist für die Puppen zuständig und arbeitet nur nachts. Und von Ihnen bekomme ich nur noch eine Unterschrift.« Die Alte klatschte in die Hände, und es raschelte plötzlich in einer Ecke des Salons. Mäuse, dachte Myra erschrocken, oder sogar Ratten. Sicher gab es so etwas in einem so alten Haus, und wenn es auch noch so gepflegt war. An der Seitenwand der uralten Truhe, die Myra an einen verwitterten Grabstein erinnerte, bewegte sich etwas. Ein Stück Holz hob
sich dicht über dem Boden wie die Klappe einer Mausefalle. Doch was da herauskam, war weder eine Maus noch eine Ratte. Es war ein ganz allerliebstes kohlschwarzes Meerschweinchen. Myra hatte als Kind auch Meerschweinchen gehabt. Und die waren ebenso zutraulich gewesen wie dieses Tier, das geradewegs auf sie zulief und sich an ihrem Fußknöchel rieb wie eine Katze. »Wie reizend«, sagte Myra entzückt. Im Grunde war sie doch noch ein halbes Kind. Ihren Vertrag hatte sie im Augenblick vollkommen vergessen. »Eric mag Sie«, sagte die Alte voller Genugtuung. »Na komm schon, Eric!« Das Meerschweinchen packte die Spitzendecke, die bis auf die Erde hing, mit den Vorderpfoten und kletterte dann gewandt daran hoch wie ein Matrose an den Wanten, wenn er die Segel setzen soll. Myra streichelte das Tier, das aufgeregt auf der Tischplatte hinund herlief, als fühlte es sich nicht ganz wohl im hellen Tageslicht. »Ich liebe Meerschweinchen«, sagte sie, doch plötzlich zuckte sie erschrocken zurück. Das Tier hatte sie mit seinen nadelscharfen Zähnen in den Zeigefinger gebissen. Die Wunde blutete heftig. Das Meerschweinchen sah Myra ganz merkwürdig mit seinen dunklen Augen an. Und dabei fuhr es sich mit der kleinen Zunge über den Gaumen, wie ein Mensch, der sich nach einer guten Mahlzeit die Lippen leckte. »Mach, daß du fortkommst, Eric!« rief die Alte und klatschte wieder in die Hände. Das Meerschweinchen zuckte zusammen, kletterte hastig vom Tisch herunter und flüchtete in die Truhe zurück, als würde es sich seiner Tat schämen. »Eric ist darauf dressiert«, erklärte die Alte und reichte Myra jetzt eine lange schwarze Feder, die unten spitz zugeschnitten war. »Wie ich schon sagte, jeder hat so seine Geschäftspraktiken. Und Eric ersetzt für uns das Tintenfaß. Da, nehmen Sie!« Sie drückte Myra die
Feder in die Hand. »Was soll ich damit?« fragte Myra verwundert. »Hat Ihnen Ihre Freundin davon nichts erzählt?« Die Alte lächelte liebenswürdig. »Tauchen Sie die Feder jetzt in das Blut, das aus Ihrem Finger quillt, und unterschreiben Sie dann hier!« Die Alte deutete auf eine gestrichelte Linie unter dem gedruckten Text des Vertragsformulars. »Ich …« »Nun unterschreiben Sie schon, ehe es zu bluten aufhört!« drängte die Alte barsch. Und Myra unterschrieb. »Jetzt ist die Sache besiegelt. Sie können sich gratulieren, Myra.« Plötzlich war die Stimme der Alten gar nicht mehr so schmeichlerisch und liebenswürdig. Im Gegenteil, sie klang sogar ein bißchen höhnisch. »Sie finden den Weg auch alleine hinaus?« Myra nickte und stand auf. Und als die Alte ihr zum Abschied nicht einmal die Hand reichen wollte, flüchtete sie fast so schnell wie das Meerschweinchen zur Salontür und aus dem Laden. Drinnen saß die Alte und blickte ihr nach. Ihr Blick war erfüllt von Haß, Triumph und Genugtuung …
* Ein paar weiße Stellen unter den Büschen, wo die Sonne und der Wind nicht so rasch hinkamen, und ein paar schmutzige Häufchen Pappschnee am Rand der Gehsteige, wo die städtische Reinigung mit ihren Maschinen noch am frühen Morgen die Hagelkörner und den tauenden Matsch zusammengeschoben hatte, war alles, was vom Schneesturm der vergangenen Nacht zurückgeblieben war. Die Sonne spiegelte sich in den nassen Straßen. Die Vögel zwitscherten. Der Mai hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden. Bentleys und andere Luxusmarken drängten sich auf der Auffahrt
zu Wilsons Villa. Männer in dunklen Anzügen begrüßten sich mit gedämpfter Stimme und blickten scheu zu den Fenstern in der zweiten Etage hinauf. Im Park hinter dem Haus achteten zwei Bobbys darauf, daß keine Reporter über den Zaun stiegen, die Stiefmütterchen zertrampelten und ihre Teleobjektive auf die Fenster des Hauses richten konnten. Mildred Wilson hatte dem Butler aufgetragen, mit Unterstützung eines Herrn der Direktion die Kondulenzbesucher zu empfangen, ihre Visitenkarten einzusammeln und sie, falls nötig, mit kurzen Getränken abzuspeisen. Sie lag in einem langen schwarzen Kleid, das ihr vorzüglich stand, auf dem Sofa in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock und war, wie man das bei einem so herben Schicksalsschlag erwarten mußte, unpäßlich. Auf dem Nachttisch neben ihr standen ein Glas Wasser und ein Röhrchen, das Kopfschmerztabletten enthielt. Über ihre Augen hatte sie ein dunkles Tuch gebreitet, weil sie an Migräne litt. Es klopfte. Der Butler kam auf Zehenspitzen herein. Er trug zum dunklen Anzug heute eine dunkle Krawatte und einen Trauerflor diskret im Revers. Er hielt einen Telefonapparat in der Hand. »Was ist denn, Henry«, fragte Mildred unendlich verdrossen und müde und machte mit geschlossenen Augen eine müde Handbewegung. »Verzeihung, Madam«, erwiderte Henry mit gedämpfter Stimme, »Sie sagten mir, für die engsten Freunde der Familie seien Sie notfalls zu sprechen. Darf ich den Apparat kurz anschließen?« Mildred richtete sich müde auf. »Wer ist es denn?« fragte sie, immer noch apathisch, das dunkle Tuch von den Augen nehmend. Henrys Mundwinkel senkten sich etwas herab. »Eine gewisse Myra Gateskill. Mir sagt ihr Name zwar nichts, Madam, aber sie behauptet, mit Ihnen eng befreundet zu sein.« »Ach so«, Mildred bewegte kraftlos den Arm, »Myra. Das ist
schon in Ordnung. Stöpseln Sie ein, Henry. Und wenn ich nach Ihnen läute, können Sie den Apparat wieder abholen.« »Sehr wohl, Madam.« Der Butler verneigte sich und verließ das Zimmer. Mildred wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, dann warf sie das dunkle Tuch aufs Bett und nahm den Hörer auf. »Bist du verrückt, hier anzurufen?« zischelte sie wütend in die Muschel. »Ich habe einen Trauerfall und das Haus voller Leute!« Myra am anderen Ende der Leitung ließ sich nicht einschüchtern. »Ich komme eben von der Alten«, sagte sie vergnügt. »Bei dir scheint es also geklappt zu haben, wie? Das ist ja großartig.« »Was hat geklappt?« »Nun, dein Todesfall! Du hast mir eben gesagt, du hättest einen Trauerfall!« »Ja doch. Da konnte nichts schiefgehen. Es funktioniert immer. Das wußte ich schon von der Bekannten, die mich empfohlen hatte. Aber das ist noch kein Grund, daß du bei mir anrufen mußt. Was du jetzt gerade machst, ist ein Verstoß gegen die Abmachung des Vertrages!« »Wieso? Gegen was verstoße ich, indem ich dich anrufe?« fragte Myra erstaunt. »Das ist wieder typisch für dich. Wahrscheinlich hast du gar nicht alles durchgelesen, was auf der Rückseite des Vordrucks stand.« »Kein einziges Wort.« Mildred seufzte. »Du wirst dich wohl nie ändern. Als man dich als Fotomodell engagierte, hast du mich gefragt, ob ich wüßte, was in dem Vertrag steht, den du längst unterschrieben hattest. Aber lassen wir das. Es ist nicht mehr wichtig.« Mildred schnitt sich selbst eine wütende Grimasse im Spiegel. »Man darf nur ein einziges Mal noch darüber reden, wenn man unterschrieben hat. Verstehst du? Nur ein einziges Mal, wenn man jemand anwirbt. Sonst nie mehr.« »Ja, ist gut, Mildred. Ich wollte mich ja nur bedanken. Und jetzt
wo ich weiß, daß es funktioniert, bin ich ganz beruhigt.« »Myra!« zischelte Mildred warnend ins Telefon. »Ist schon gut. Mildred. Noch einmal vielen Dank für den Tip. Und ich wünsche dir alles Gute. Selbstverständlich auch mein Beileid, wenn du es haben willst.« Myra verbiß sich ein Kichern. »Aber hättest du etwas dagegen, wenn ich zur Beerdigung käme?« »Wenn du unbedingt mußt«, erwiderte Mildred, »werde ich dich nicht daran hindern.« »Ich denke, es gehört sich so. Und außerdem bist du dann verpflichtet, auch zu meiner zu kommen. Ruf mich mal am Sonntag an. Es könnte dann schon so weit sein.« »Myra! Wenn jemand mithört!« »Ach, Mildred, sei nicht so übervorsichtig.« Myra kicherte vergnügt. »Den Sherry der Alten muß der Teufel selbst gebraut haben. Obwohl ich nur ein halbes Glas davon getrunken habe, bin ich jetzt noch ganz beschwipst.« »Ich habe bei ihr nichts getrunken«, raunte Mildred. »Da ist dir aber etwas entgangen. Und von dem Meerschweinchen hast du mir auch nichts erzählt …« »Von was für einem Meerschweinchen?« »Na, das Meerschweinchen, das einen in den Finger beißt, damit das Blut kommt zum Unterschreiben.« »Myra, du mußt wirklich betrunken sein. Das Meerschweinchen war eine Ratte!« Mildred knallte den Hörer auf die Gabel. Dann läutete sie dem Butler. Als Henry ins Zimmer kam, lag sie leidend auf dem Sofa, das dunkle Tuch wieder über die Augen gebreitet. »Henry«, sagte sie leise, als der Butler den Stöpsel aus der Büchse nahm und den Apparat vom Nachttisch entfernt hatte, »verschonen Sie mich mit weiteren Anrufern. Ich bin für niemanden mehr zu sprechen.«
*
Das Brausen der City drang nicht bis in den Park, wo die harmlosen Patienten hinter den hohen Krankenhausmauern am Tag spazieren gehen durften. Jetzt um elf Uhr abends lagen sie alle in ihren Betten und schliefen, durch die Wirkung von Drogen oder Spritzen für eine Weile von den Dämonen ihrer kranken Phantasiewelt befreit. Nur in einem Ein-Bett-Zimmer der psychiatrischen Universitätsklinik, dessen Fenster sehr diskret vergittert war, brannte noch Licht, obwohl das gegen die Vorschrift verstieß. Edward Wilson junior war eben nicht nur irgendein Patient. Er durfte die Vorzüge eines Privatpatienten erster Klasse genießen, obwohl diese angeblich nach den Vorschriften des verstaatlichten Gesundheitswesens abgeschafft sein sollten. Er hatte, was ebenfalls gegen die Vorschriften verstieß, um die Zeit noch Besuch. Chefinspektor Ray Benskin, ein liebenswürdiger Vierziger mit Schnurrbart und guten Manieren, führte das Verhör im Plauderton. Er war der Experte des Yard für Prominente. Sergeant Roach führte unauffällig das Protokoll. Edward Wilson junior, die Kissen in den Rücken gestopft, saß mit angezogenen Beinen im Bett und rauchte. Erst seit einer Stunde war die Wirkung der Beruhigungsspritzen so weit abgebaut, daß er, juristisch gesprochen, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Darauf kam es Benskin an, und deshalb hatte er den jungen Wilson nicht schon am Nachmittag verhört. »Wo befindet sich mein Vater jetzt?« fragte Edward Wilson junior und zog tief an seiner Zigarette. »Er ist noch in der Obduktion, Sir. Leider eine unvermeidliche Maßnahme. Es war ein ungewöhnlicher Unfall, und wir müssen jeden Verdacht ausräumen. Für den Coroner, Sir.« »Ja, das verstehe ich«, sagte Edward Wilson. Chefinspektor Benskin war ein sehr scharfer Beobachter. Wenn der verrückt ist, bin ich es auch, dachte er. Verbindlich lächelnd stellte er
höflich seine Fragen. Benskin konnte das; in seinem Kopf bis zu drei verschiedene Themen gleichzeitig verfolgen, ohne sich zu verheddern. »Die Geschichte, die Sie dem Arzt erzählt haben, ist auch sehr ungewöhnlich, Sir. Dürfen wir sie noch einmal hören? Wenn man erst einmal darüber geschlafen hat, Sir, sieht manches ganz anders aus.« »Sie glauben wohl, daß ich tatsächlich verrückt bin, wie?« »Mehr oder weniger sind wir das alle, Sir. Aber ich möchte nur herausfinden, ob Sie im Zustand der nüchternen Überlegungen das zurücknehmen wollen, was Sie gestern nacht unter Einfluß von Alkohol von sich …« »Sie meinen, ich wäre betrunken gewesen, wie?« »Ich bitte Sie, Sir! Machen Sie mir die Sache nicht so schwer. Ich habe keine Vorurteile. Ich brauche nur einen Bericht für die Akte. Reine Routine. Für den Coroner. Das ist Vorschrift. Sie müssen ja nicht, wenn Sie nicht wollen. Es bleibt Ihnen überlassen, aber dann nehme ich mir eben eine Fotokopie vom Krankenblatt mit und suche mir alles Sachdienliche aus dem Gestammel heraus, was Sie gestern nacht von sich gegeben haben.« Er machte eine Pause und setzte dann hinzu: »Wäre es Ihnen lieber, Sir, wenn ich dann wiederkäme und es von Ihnen unterschreiben ließe?« »Nein.« Edward Wilson drückte seine Zigarette aus. »Ich weiß nicht mehr, was ich da alles geredet habe. Aber jetzt weiß ich genau, was ich sage. Und Sie können, wenn Sie wollen, hinter jeden Satz noch ein Ausrufezeichen setzen!« Aha, aggressiv ist er, dachte Benskin. Aber das wundert mich nicht, das wäre ich auch, wenn man mich gegen meinen Willen in eine Nervenklinik einliefert. Dieselben grauen Augen wie sein Vater, energisches Kinn, gutes Profil, athletisch gebaut. Er ist ein typischer Wilson, ihm fehlt nur der brutale Zug um den Mund, den der Senior auf allen Fotos hat, die ich in seiner Villa und seiner Firma gesehen habe. Junior sieht ganz gesund und normal aus, nur ein biß-
chen verkatert und unrasiert. Und bedrückt, wenn die Rede von seinem alten Herrn ist. Ob er tatsächlich um seinen Vater trauert? »Sie haben Ihren Vater doch seit drei Wochen nicht mehr gesehen, Sir, seit Sie – äh – eine Auseinandersetzung …« »… seit ich von ihm fristlos aus seiner Firma entlassen wurde, wollten Sie sagen?« fiel Edward Wilson junior ihm kühl und sachlich ins Wort. »Nein, lebend habe ich ihn nicht mehr gesehen. Erst gestern nacht. Aber als Leiche.« »Als Leiche – hm … Und Sie hatten zuvor eine Menge getrunken, nicht wahr, Sir?« Edward Wilson lächelte. »Nicht mehr als sonst, wenn ich gründlich über etwas nachdenken muß. Diesmal zum Beispiel über meine Zukunft. Ich bin Ende zwanzig. Da hat man in der Regel noch eine Menge Zukunft vor sich.« Er grinste. »Und ich halte es da so wie viele bekannte Maler oder Künstler – ich begebe mich unter Menschen und trinke. Und das tue ich, weil ich mich da am besten auf mich selbst konzentrieren kann und mir dabei die besten Ideen kommen.« »Sie waren im Katakomben-Club?« »Er bietet eine anregende Zerstreuung in den Denkpausen.« »Zum Beispiel Nonstop-Striptease.« »Aha, Sie kennen also den Laden, Chefinspektor.« »Kennen ist übertrieben – nur die vordere Bar für das gemeine Volk«, erwiderte Benskin sachlich. »Die Mädchen sind hinten die gleichen. Da gibt es nur teureren Whisky.« Verflixt, dachte Benskin, der Junge ist auch noch sympathisch. Das war wirklich eine Überraschung – denn er war schließlich ein Wilson. Der Alte soll ja ein ausgewachsenes Ekel gewesen sein, wie mir alle Direktoren der Firma einmütig bestätigt haben. Ein Tyrann, wie er im Buche steht. Und der Junior sollte nichts zu lachen gehabt haben bei ihm. Er wurde von seinem alten Herrn kujoniert wie ein
ganz gewöhnlicher Angestellter. Und der Zustand sollte sich noch verschlimmert haben, seit er sich wieder verheiratet hatte. Und was flüsterte ihm da noch einer der Vizepräsidenten zu, der es ganz genau wissen mußte, weil er mit Wilson junior befreundet war? Der alte Herr hatte ihm die Freundin ausgespannt und sie dann geheiratet! Der Alte dem Jungen. In der Regel lief das doch umgekehrt. Und Edward Wilson junior sah ihm gar nicht so aus, als ob er sich so ohne weiteres eine Frau wegnehmen ließe. Aber man kann ja nicht hinter die Fassaden sehen. Und Männer haben eben Fehler, die nur Frauen entdecken können. »Natürlich war der Alkohol daran schuld, daß ich mich hinterher nicht so besonnen verhalten habe, wie es meine Gewohnheit ist. Schließlich war ich nicht darauf gefaßt, in einem wildfremden Laden die Leiche meines Vaters zu sehen. In einem Sarg, den Hals von einem …« er stockte – »einem Schürhaken durchbohrt! Ich stand unter Schock, und das ist meine einzige Entschuldigung.« »Sie haben also die Leiche Ihres Vaters gesehen und sind davongelaufen?« »Eben. Ich hätte sie anfassen, mitnehmen, bergen müssen. Vielleicht wäre dann heute Vormittag nichts geschehen.« »Was wäre nicht geschehen?« »Nun, der Unfall eben. Daß mein Vater mit seinem Wagen auf einen Laster auffährt und sich eine Eisenstange durch den Hals bohrt. Entsetzlich.« »Ja, seltsam. Wie magisch davon angezogen. Als wollte er Selbstmord begehen. Das ist die Aussage vieler Augenzeugen.« »Selbstmord? Mein Vater? Niemals!« »Klingt das nicht alles ein bißchen paradox?« »Was?« »Daß Sie vielleicht den Tod Ihres Vaters hätten verhindern können, obwohl sie seine Leiche bereits gesehen haben, ehe er über-
haupt tot war?« fragte Benskin. »Natürlich klingt das paradox«, erwiderte Wilson junior sarkastisch. »Seltsam. Aber ich denke, daß ich deswegen ja auch hier bin.« »Na ja, hm.« »Ist das Ihr einziger Kommentar dazu, Chefinspektor?« »Das war nur eine private Bemerkung, Sir. Als Amtsperson muß ich ausführlicher dazu Stellung nehmen. Nämlich daß alles, was Sie in dem Laden gesehen haben, wenige Stunden später eine Tatsache war. Ihr Vater ist tot, mit durchbohrtem Genick. Kann es sein, daß man die Leiche Ihres Vaters aus dem Laden entfernte, ihn an das Steuer seines Rolls setzte und den Wagen dann auf den Laster auffahren …?« Chefinspektor Benskin sprach nicht weiter. »Nicht sehr befriedigend, wie?« Wilson junior grinste, was jedoch den Ausdruck der Trauer in seinen Augen nicht widerlegte. »Sie haben doch eine Menge Zeugen dafür, daß er noch ganz lebendig heute morgen mit seinem Wagen losgefahren ist, nicht wahr?« »Habe ich«, bestätigte Chefinspektor Benskin. »Eine sehr seltsame Geschichte, nicht wahr?« »Das kann man wohl sagen«, seufzte Benskin. »Wenn Sie mir wenigstens beschreiben könnten, wie Sie in diesen Laden gekommen sind. Oder wenn Sie sich nur noch annähernd an den Weg dorthin erinnerten.« »Ich kann mich nicht erinnern.« »Und der Laden? Was war es denn nun? Ein Puppenladen oder ein Bestattungsunternehmen?« »Er war beides.« »Finden Sie nicht auch, daß das eine sonderbare Mischung gibt?« Die Stimme des Chefinspektors klang jetzt ausgesprochen skeptisch. Er sah Wilson durchdringend an. »Sicher verrückt«, murmelte Edward Wilson junior, »aber ich habe alles genau so erlebt, wie ich es Ihnen schilderte.« »Nehmen Sie mir die Frage nicht übel. Aber wer profitiert denn
nun eigentlich von dem plötzlichen Dahinscheiden Ihres Vaters, Mister Wilson?« fragte Chefinspektor Benskin behutsam. »Ich vermutlich.« »Nun ja«, sagte Benskin mit einem liebenswürdigen Lächeln, »es ist verständlich, daß Sie sicher das meiste Interesse daran haben, jeden Verdacht an ein Verbrechen auszuräumen. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Nacht, Sir.« Die beiden Beamten vom Yard verabschiedeten sich. Edward Wilson junior blickte den beiden mit einem leisen Seufzer nach. Er hatte seinem Vater nur manchmal den Tod gewünscht. Aber anscheinend gab es jemanden, der ihn so sehr haßte, daß er ihn umgebracht hatte. Er trat an das vergitterte Fenster, blickte nachdenklich in die Nacht hinaus und sah schemenhaft die Umrisse der Trauerweide, deren Zweige sacht im Nachtwind schaukelten …
* Blasser Mondschein sickerte durch das Oberlicht im Salon neben dem Sarglager in Soho. Die alte Dame saß auf ihrem Sofa und beobachtete mit einem boshaften Lächeln, wie das fade Licht über den Boden kroch und die alte, verwitterte Truhe in der Zimmerecke erreichte. Das aufgeregte Trappeln und Scharren hinter der Truhenwand nahm noch zu und wurde von einem schrillen Quieken und Piepsen begleitet. Die Alte schien sich eine Weile lang an diesen Tönen zu weiden, dann legte sie ihr Strickzeug beiseite und rief halb lockend, halb befehlend: »Eric!« Das schwarze Meerschweinchen kam durch die Klappe in der Truhenwand heraus. Es hob witternd die Schnauze in das Mondlicht und kauerte unschlüssig auf dem Boden, das Fell gesträubt, die Lefzen voller Geifer, als würde es von Angst und Gier hin- und hergerissen. Die Alte hob den Finger und krümmte ihn. »Komm näher,
Eric!« lockte sie. Das Meerschweinchen gehorchte zögernd. Es schien auf dem Bauch zu kriechen, als es vor dem Sofa anlangte. Die Augen der Alten funkelten wie zwei kleine rote Laternen. Ihr Blick war eine Mischung aus Haß, Triumph, Abscheu und Begierde. »Mein armer Eric hat Hunger«, sagte sie süß. Die Augen des Meerschweinchens blickten sie unterwürfig an. Die Alte stand auf und ging hinaus in den Laden. Kein Licht brannte heute im Schaufenster. Die Alte schien im Dunkeln besser sehen zu können als eine Eule. Sie ließ die Tür hinter sich offen, damit ihr das schwarze Tier folgen konnte. Das Meerschweinchen folgte ihr wie ein Schoßtier und so geduckt wie ein Leibeigener. Die Alte sperrte die Tür zum Sarglager auf. Es roch muffig nach alten Kleidern, und darin mischte sich der widerlich-süßliche Geruch von verdorbenem Fleisch. Auch hier brannten heute keine Kerzen. Doch das Mondlicht genügte beiden, sich im dunklen Raum so gut zurechtzufinden, als wäre er taghell erleuchtet. In der Mitte und an der Hinterwand waren ein paar neue Särge so unordentlich aufgestapelt, als wäre das Geschäft damit nur eine Nebensache. Die Regale hingegen, die links und rechts die Seitenwände verstellten, waren pedantisch, fast liebevoll aufgeräumt. Zwei Regale voller Puppen … Und der süßliche Geruch, der die Luft hier so unheilvoll schwängerte, kam eindeutig von links, wo nur männliche Puppen auf den Regalbrettern kauerten, die erwachsenen Gesichter starr wie Totenmasken. Instinktiv wich das Meerschweinchen zur Seite, als es den Geruch in die Nase bekam. Die Alte sah es und lachte boshaft: »Ich weiß ja, wo es dich hinzieht«, sagte sie spöttisch. »Und da ich heute gut gelaunt bin, darfst du dir deine Puppe selbst aussuchen.« Das Tier nickte dankbar wie ein Mensch und schoß dann auf das rechte Regal zu. Hier saßen nur weibliche Puppen, genau so starr
wie das andere Geschlecht gegenüber. Aber ihre Leblosigkeit war ganz anderer Natur. Sie schienen voller Saft und Kraft zu sein, nur zu schlafen und dabei süß zu träumen, denn die meisten Gesichter lächelten. Das Meerschweinchen witterte ununterbrochen. Es hechelte fast wie ein Hund, und der Geifer tropfte ihm von den nadelscharfen Zähnchen. »Nur zu, mein guter Eric!« rief die Alte kichernd. Das Meerschweinchen machte einen kleinen Satz auf das erste Regal hinauf. Schnüffelnd lief es von einer Puppe zur anderen, als fiele ihm die Wahl schwer. Dann turnte es behende zum nächsthöheren Brett hinauf. Es zitterte vor Aufregung, huschte fiepend hin und her und hielt dann endgültig neben einer Puppe an. Es stieß einen leisen Pfiff aus, setzte sich auf die Hinterpfoten und zerrte am Arm der erwähnten Puppe, bis sie vom Regalbrett kippte und neben einem Sarg auf dem Boden landete. Die Alte ging zu der Puppe, hob sie auf und betrachtete sie. Dann blinzelte sie dem Meerschweinchen verständnisvoll zu. »Einen schlechten Geschmack hast du ja noch nie gehabt, Eric«, sagte sie. »Nun wollen wir mal sehen, was für mich diesmal abfällt.« Sie hob den Saum des Puppenkleides an und studierte irgendeine Nummer oder ein Zeichen. Dann ging sie, die Puppe unter den Arm geklemmt, auf das Regal an der linken Wand zu und betrachtete die Schuhsohlen der männlichen Puppen, die dort ausgestellt waren. Sie blieb vor einer stehen und sagte naserümpfend: »Na ja.« Sie holte die Puppe vom mittleren Brett herunter und warf sie dem Tier vor die Schnauze, das mit gesträubtem Fell Witterung aufnahm und davor zurückwich, als müsse es Rattengift schlucken. »Wenn du essen willst, mußt du es dir erst verdienen«, sagte die Alte, und dann lachte sie so schrill und boshaft, daß alle Puppen in den Regalen erschrocken zusammenzufahren schienen. Das Meerschweinchen blickte sie gequält an und lief wieder auf
die Puppe zu.
* Lady Rosebud wollte nicht mehr an ihre üppige, aber kerkerhafte Vergangenheit erinnert werden, wie sie sich ausdrückte, und deshalb hatte sie ihren alten Künstlernamen Nora Spiers wieder angenommen. Selbstverständlich blieb sie deshalb immer noch Lady Rosebud, da der teure Lord plötzlich verschieden war, ehe er die Scheidung einreichen konnte. Der Kreis schließt sich, dachte Lady Rosebud, alias Nora Spiers, mit einem leisen Zucken um ihren üppig-sinnlichen Mund. Es war kein Bedauern, sondern der Ansatz eines zufriedenen Lächelns, daß die Vorsehung es, dank ihrer schlauen Initiative, eigentlich gut mit ihr gemeint hatte. Sehr gut sogar. Aber das durfte sie keinem verraten. Schließlich war ihr Trauerjahr noch nicht ganz vorüber. Und sie trug auch außerhalb der Bühne noch dezentes Schwarz mit einem Hauch von Farbe, der den neubeginnenden Frühling all jenen Männern signalisierte, auf die es Nora Spiers ankam: auf gut aussehende potente Männer, denn reich war sie ja jetzt selbst. Nora Spiers lächelte rätselhaft in den Spiegel ihres Garderobentisches hinein. Vor vier Jahren hatte Lord Rosebud hier hinter ihrem Stuhl in der Stargarderobe dieses Theaters gestanden und war auf dieses Lächeln hereingefallen. Fünfzig langstielige Rosen hatten seinem Werben jenes Gewicht gegeben, was ihm an jugendlichem Ungestüm fehlte. Mein Gott, sie hatte ja gesagt! Und dann hatte er sie drei Jahre lang auf Händen getragen, wie er das versprach. Aber sie war weder auf seiner Ranch in Australien noch auf seiner Jacht in der Karibik glücklich geworden. Im Gegenteil. Seine unbewußte Bettelei, weil er nicht mehr ganz so jung war
und seine rasende Eifersucht auf die jungen Männer, die unbeschwert mit ihr flirteten, hatten ihre Abneigung gegen ihn so hochgezüchtet, daß sie einfach ausbrechen mußte. Erst nur mit einem Seitensprung, dann mit Beleidigungen. Er hatte vor ihr auf den Knien gelegen und sie angefleht, doch bei ihm zu bleiben. Oh, wie sie das angewidert hatte! Und dann kam der Tod zu ihm, befreite sie von ihm und der ganzen Heuchelei, mit der sie vor der Öffentlichkeit die brave Ehefrau gespielt hatte, um sein Image nicht zu zerstören. Sie lächelte in den Spiegel. Jetzt war sie wieder die alte Nora Spiers, strahlender Mittelpunkt jeder Show, Burleske, oder was gerade auf dem Programm stand. Und da sie noch eine Vergangenheit, einen in der Gesellschaft hochgeschätzten Namen und ein Vermögen besaß, lockte sie mehr Zuschauer ins Haus denn je zuvor. Siel konnte sich alles und jeden leisten. Jetzt lächelte sie triumphierend in ihren Spiegel hinein. Wenn sie es so überlegte, waren dafür die drei Jahre Knechtschaft bei einem alten Mann wirklich kein zu hoher Preis gewesen. Und heute nacht würde sie mit John schlafen – dem unersättlichen, dämonischen John, der in allen Dingen das köstliche Gegenteil von dem darstellte, was Lord Rosebud einmal gewesen war. Sie strahlte ihr Spiegelbild an. Sie war unendlich erleichtert und glücklich. Ein schlechtes Gewissen hatte sie noch nie gekannt …
* Mildred Wilson holte ihr teures Coupe aus der Garage und fuhr zur psychiatrischen Klinik. Sie hatte es kaum mehr erwarten können, bis die letzten Kondulenzgäste endlich die Parkvilla in Chelsea räumten. Danach rief sie die Station der Psychiatrischen an, wo ihr »Stiefsohn«, sich noch befand.
Am Telefon hatte sie von der Nachtschwester eine robuste Antwort bekommen: »Dies hier ist eine geschlossene Abteilung. Sind Sie verrückt, um diese Zeit noch anzurufen?« »Ich hätte nicht angerufen, wenn es nicht so dringend wäre. Ich möchte Edward Wilson sprechen.« »Meine Güte! Zwei Verrückte!« »Wollen Sie damit sagen, daß ihm wirklich etwas fehlt?« fragte Mildred erschrocken. »Ganz und gar nicht. Er war wirklich nur betrunken. Aber er hatte darauf bestanden, noch heute nacht entlassen zu werden. Unter allen Umständen.« »Aber weshalb denn?« »Er litt an Verfolgungswahn. Er würde es hier nicht mehr aushalten, hat er gesagt. Die Patienten in den Nachbarzimmern stören ihn. Sie schnarchen, stöhnen oder haben Alpträume. Etwas Selbstverständliches bei uns. Am meisten bedrückten ihn jedoch die Gitter vor den Fenstern. Aber das kann ich noch gut verstehen. Mir geht es hier ebenso.« Die Nachtschwester tankte Luft. »Sind Sie wirklich seine Mutter?« »Stiefmutter.« »Sie haben eine verdammt junge Stimme für eine Mutter. Hören Sie, wenn das nur ein Trick sein soll und Sie seine …« Mildred hatte einfach aufgelegt. Und nun wartete sie unter den breiten Ästen der blühenden Kastanien, dem schmiedeeisernen Parktor gegenüber, das auch dem Buckingham Palast gut angestanden hätte mit den prächtigen Schnörkeln und der frischen Goldbronzebemalung. Was die Menschen nicht gerne sehen wollen, verstecken sie hinter Büschen, Bäumen und Fassaden, dachte sie. In der Luft hing ein Fliederduft, der durch den warmen Nachtregen, der leise herniederfiel, noch verstärkt wurde. Mildred erschauerte. Der Duft erinnerte sie an unangenehme Dinge. Sie steckte sich
rasch eine Zigarette an, um das süße Aroma mit Rauch zu ersticken. Dann sah sie ihn. Er kam über den Kiesweg im zerknitterten Abendanzug, als hätte er im Park hinter dem Gitter geschlafen. Die nassen blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Als er das kleine Tor neben der Einfahrt passierte, blieb er drüben unschlüssig unter den Kastanien stehen und blickte nach links und nach rechts. Es sah aus, als wartete er darauf, daß zufällig hier ein Taxi vorbeikam. Doch die Taxis ließen sich in dieser Allee selten sehen. Verrückte werden von ihren Familien mit eigenen Wagen abgeholt. Mildred lief ein Schauer der Erregung über den Rücken, als sie die schlanke athletische Gestalt da drüben in dem diffusen Licht sah, das die City abstrahlte wie ein künstlicher Vollmond. Das junge Ebenbild seines Vaters, aber mit einem ganz anderen Geist. Ein altmodisches Wort, dachte sie, aber es drängte sich ihr immer wieder auf, seit – seit … Sie drückte rasch auf den Anlasser, ließ den Motor aufheulen und fuhr mit einer rasanten Wendung auf den Gehsteig gegenüber direkt unter die Bäume. Sie beugte sich nach rechts und öffnete den Wagenschlag. »Steig ein!« sagte sie. Ihre Stimme klang rauh, spröde, als hätte sie lange nicht mehr geredet. Er sah sie ungläubig an: »Du?« »Steig ein!« »Ich bin doch nicht wahnsinnig!« Sein Blick glitt über ihre Gestalt. Sie spürte ihn. Sie erschauerte. Wie sehr hatte sie sich nach ihm gesehnt in all diesen schrecklichen Monaten. Doch er sah nur das schwarze, maßgeschneiderte Kleid. Ein Trauerkleid mit einem gewagten Ausschnitt. Und es stand ihr ausgezeichnet. Sein energischer Mund kräuselte sich verächtlich: »Du warst wohl gut darauf vorbereitet, wie?« Sie gab ihm darauf keine Antwort, zuckte nur mit den Schultern, und sie hielt den Wagenschlag noch immer geöffnet. »Warum bist du hier? Willst du für mich den Chauffeur spielen?
Und wohin würde die Fahrt gehen? Ins Obdachlosenasyl?« Sie blickte ihn jetzt fast verzweifelt an und schüttelte den Kopf. Er kannte diesen Blick. Sie konnte einen Mann bezaubern mit ihren Augen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er schwach wurde, wenn sie ihn so ansah. »Komm mit nach Hause.« »Du bist tatsächlich verrückt!« »Dann setz dich wenigstens zu mir in den Wagen. Du wirst naß im Regen.« »Du machst dir Sorgen um mich?« Seine Stimme war nicht nur verächtlich, auch Bitterkeit schwang darin mit. »Lieber gehe ich zu Fuß durch ganz London, als daß ich mich zu dir in den Wagen setze!« »Edward, es gibt etwas, das ich dir erzählen muß! Du solltest es wissen!« »Nun, den Vorteil hattest du ja, die Vornamen im Bett nicht durcheinanderbringen zu können.« Er lachte bitter. »Edward!« »Wenn du bei der Lautstärke bleibst, kann ich dich hier draußen recht gut verstehen.« »Edward, es ist wichtig. Ich muß dir etwas gestehen. Es ist wichtig für uns beide. Und es ist schrecklich …« Sie stöhnte leise, und er spürte, daß dieses Stöhnen echt war. »Was?« Er kam einen Schritt näher. Er lachte nicht mehr, aber sein Blick war voller Mißtrauen. Sie sah ihn verzweifelt an. »Ich habe ihn umgebracht«, sagte sie leise. Jetzt sah er sie ungläubig an. Seine Wangenmuskeln spielten nervös. »Du? Deinen Mann? Meinen Vater?« Sie nickte stumm. Er starrte sie eine Weile an. Dann flammten seine Augen auf. »Mein Gott! Auch das noch! Was soll ich jetzt tun? Dich erwürgen?
Dich zur Polizei bringen?« »Du warst in einem seltsamen Laden gestern nacht? Wie bist du dahin gekommen?« fragte sie schnell. »Woher weißt du davon?« »Ich wußte es sofort, als der Anruf kam. Und ich weiß auch, wie man dahin kommt. Schließlich bin ich ja selbst dort gewesen!« »Oh!« Jetzt blickte sie ihm gerade in die Augen, liebevoll, verzweifelt und voller Angst. Ihre Stimme klang wie in Trance: »Man kommt dorthin, wenn man jemand so sehr haßt, daß man ihm den Tod wünscht. Wenn dieser Gedanke überwiegt; ganz gleich, ob nun bewußt oder unbewußt.« »Nein! Bei mir war es Zufall! Das Schneegestöber gestern nacht!« »Oh nein, das war nur der äußerliche Anlaß. Der mechanische Motor. In Wirklichkeit hat dich dein Unterbewußtsein dahin getrieben. Du kannst es mir glauben.« Er zuckte nur mit den Schultern. »Ich bestreite ja nicht, daß ich ihn …« Er stockte. »Immerhin hätte ich gute Gründe gehabt.« Er holte tief Luft. »Aber getötet hätte ich ihn trotzdem nicht. Nur in Gedanken habe ich damit gespielt.« »Ich wußte es«, sagte sie leise, »und das ist der Grund, weshalb ich es getan habe. Für dich!« »Oh!« Er war jetzt ganz dicht an den Wagen herangetreten, starrte sie durch das Fenster an wie eine Geistererscheinung. »Aber ich weiß, daß es entsetzliche Folgen haben wird. Und ich weiß, daß du in Gefahr bist. Steig ein.« Er setzte ein spöttisches Grinsen auf. »Ein Mörder, der hier irgendwo unter den Bäumen mit einem Schalldämpfer auf mich lauert? Meinst du das mit Gefahr?« »O Edward! Du willst nicht begreifen! Gleich kommt der Vollmond hinter den Wolken hervor. Ich werde dir zeigen, was passiert, wenn du dich nicht richtig verhältst!«
Obwohl er es gar nicht wollte, stieg er zu ihr in den Wagen. Sie zog rasch die Wagentür ins Schloß und gab Gas. Dann hielt sie wieder vor einem schmiedeeisernen Tor. Ganz in der Nähe von Soho. In einem der verschwiegenen Squares, die der Fortschritt der Jahrhunderte zu übersehen haben schien. »Du meine Güte! Was willst du hier beim alten Pestfriedhof?« fragte Edward verständnislos. »Er wird immer noch verwendet. Mit Sondergenehmigung für teures Geld. Für Leute, die auf eine Marmorgruft Wert legen. Dein Vater wird hier beerdigt.« »Wie bitte? Hier? Ausgeschlossen! Er hatte immer schon den Wunsch, verbrannt zu werden!« »Ich weiß. Aber ich mußte es tun. Alle Leichen aus dem Puppenladen werden hier beerdigt.« »Du redest wirres Zeug!« Sie erwiderte nichts, zog ihn aus dem Wagen, den sie in einer dunklen Toreinfahrt, dem kleinen Friedhof gegenüber, geparkt hatte. Sie lief vor ihm her. Er hatte ihr seine Hand überlassen, und er merkte jetzt gar nicht, daß er in Gewohnheiten früherer Zeiten zurückgefallen war. Er war viel zu verwirrt, es zu bemerken. Ihre Erregung, ihre leise Nervenpanik wirkte ansteckend auf ihn. So liefen sie im Schatten der Linden, die einen alten Brunnen umstanden, auf eine Nische zu, die knapp fünfzig Meter neben dem schmiedeeisernen Tor in die Friedhofsmauer eingelassen war. Eine Nische mit einem Mauerbogen darüber, der wie eine Muschel geformt war. Und darin stand auf einem Podest ein Mann in Lebensgröße und blickte besinnlich-andächtig ein Kruzifix an, das er in beiden Händen hielt. Irgendein Heiliger. Sie zog ihn in diese Nische hinein. »Hier sind wir sicher«, flüsterte sie, »und wir können auch alles gut beobachten.« »Was?«
»Gleich! Wenn es Mitternacht schlägt!« Sie warteten. Der Platz war wie ausgestorben. Die alten Häuser, die an den Square grenzten, waren dunkel und tot wie Ruinen. Nur der Mond, der tatsächlich wie auf Kommando hinter den Wolken hervorkam, gab mit dem Schattenspiel, das er mit den Giebeln und Zweigen trieb, dem Platz ein gespenstisches Leben. Irgendwo in der Nähe schlug eine Turmuhr. Zwölf spröde, dumpfe Glockenschläge. »Da!« Sie deutete mit der Hand. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, damit er etwas erkennen konnte. Er sah eine Ratte. Er hätte jetzt gelächelt, wenn er nicht gesehen hätte, daß diese Ratte – oder war es ein Meerschweinchen? – einen Kanaldeckel unmittelbar vor dem Friedhof anhob, den zwei Männer nur mit Mühe hätten hochwuchten können. Doch dieses schwarze Biest hob ihn so mühelos mit der Schnauze und dem Rücken an, als wäre die faustdicke Platte nur ein leichtes Papierstück. »Das ist nicht zu fassen!« entfuhr es ihm. Sie hielt seine Hand fest und drückte sie. »Es kommt noch schlimmer …« Die Ratte – oder was es sein mochte – setzte in langen Sprüngen auf das Friedhofstor zu und zwängte sich unter dem Gitter hindurch. Dort verschwand es. »Und?« »Warte!« Nach wenigen Minuten hörten sie ein leises Quietschen. Dann kam ein Mann durch das Tor aus dem Friedhof heraus. Ein großer Mann mit schwarzem Anzug. Seine Schuhe knarrten, als er vor dem Friedhofstor auf und ab zu wandern begann – auf und ab, wie ein Pendel. Edward beugte sich vor. Er sah weiße Haare, die sich über dem Kragen kräuselten. Die Barthaare fast fingerlang in dem kalkweißen, starren Gesicht. Es leuchtete von innen wie eine schwache grüne Laterne. Die Augen waren leer – irgendein verschwommenes
milchiges Etwas. Edward lief ein Schauer über den Rücken. »Mein Gott«, flüsterte er. »Den kenne ich! Lord Rosebud. Aber – aber er ist doch …« »Er ist vor knapp einem Jahr gestorben. Richtig, Edward.« »Ich will mit ihm reden!« Sie hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest. »Du kannst doch nicht mit ihm reden. Er ist tot!« Er zog schnell den Kopf zurück, als er den langgestreckten Schatten bemerkte, der aus der Gasse herauskam und in den Square einbog. Ein schwarzer Cadillac. Ein Caravan mit weißen Vorhängen an den hinteren Fenstern. Ein Leichenwagen. Er hielt vor dem Friedhofstor. Eine alte Dame saß am Steuer. Lord Rosebud – oder das, was von ihm übriggeblieben war – stieg in den Wagen ein. Aber nicht hinten, sondern vorn auf den Beifahrersitz. Mechanisch, mit leeren Augen. Die alte Dame fuhr an, und der Wagen schwenkte um den Brunnen und verschwand wieder in der Gasse. »Was soll das alles nur bedeuten?« flüsterte Edward rauh. »Sie bestraft ihn«, erwiderte Mildred rätselhaft. »Wen?« Er sah sie fast mitleidig an. »Einen Toten?« »Nein, das Wesen, das in ihm steckt. Du wirst es später noch erleben. Wir haben Zeit. Komm mit!« Sie zog ihn hinter sich her durch das noch offen stehende Friedhofstor zu einer Gruft, die aussah wie ein kleiner griechischer Tempel. Sie sahen in ein Mausoleum hinein, dessen Marmorfliesen im Mondlicht wie Silber glänzten. »Über welche Kraft muß dieses – dieses Wesen verfügen?« sagte Edward. »Nicht Wesen – Biest«, sagte Mildred. Der Deckel des Bleisarges, der in dem Marmorkatafalk steckte, war in die Höhlung neben den Sarg gerutscht. Das gemeißelte Ober-
teil des Sarkophags, der wohl eine Tonne wiegen mochte, lag schräg auf dem Unterteil. »Ich begreife nicht«, flüsterte Edward erschaudernd, »was machen die beiden in dem Wagen?« »Sie kommen zurück – in ein paar Stunden«, hauchte Mildred. Ihre Hand zitterte in seinem Griff wie ein gefangener Vogel. »Und was passiert dann?« »Sie feiern hier ein grausiges Fest«, erwiderte Mildred, und ihre Finger zuckten noch mehr in seinem Griff.
* Lady Rosebud spielte in ihrem jetzigen Stück genau die Rolle, die sie im echten Leben verkörperte. Eine nach außen hin Anstand wahrende Witwe, die sich hinter der Bühne gründlich austobt. Das war auch der Grund, weshalb sie den Butler und das Mädchen heute abend fortschickte. Sie sollten nicht wissen, daß sie nachts öfters das Haus verließ. Zumindest nicht, bis ihr Trauerjahr vorüber war. Sie lenkte den Wagen unter die hohen Säulen vor die Garage. Das Haus, das Lord Rosebud ihr in Kensington hinterlassen hatte, war ein Palais, ein Vermögen wert, wenn man die Grundstückspreise in Kensington kannte. Selbst ein Ölscheich hätte sich nach dieser Liegenschaft die Finger abgeleckt. Auch die idyllische Lage und Ruhe waren unbezahlbar. Sie betrat das Haus, schaltete den Leuchter in der großen Halle ein und ging, leise vor sich hin singend, den roten Läufer auf den breiten Marmorstufen hinauf. An der Wand begleiteten sie die Ahnenbilder der Rosebuds bis hinauf zur Galerie. Schottische Haudegen mit blinkenden Rüstungen, tiefliegenden stechenden Augen und Hakennasen. Lords in roten Roben mit Hermelinkragen in königlicher Pose. Und ganz oben der letzte Lord im dunklen Cut, der an der Börse Schlachten geschlagen hatte wie seine Vorfahren auf dem
Schlachtfeld. Ihr Summen verstummte, als sie sein Bild passierte. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie nur an ihn dachte. Er hatte sie geliebt wie eine teure Marmorstatue. John war anders. Er liebte sie wie eine Zigeunerin. In allen Ecken seines herrlich aufgeräumten Ateliers. Er würde schon ihre Lieblingsplatten bereitgelegt haben und ihre Zigarettenmarke. Sie war ganz sicher, daß er auf sie wartete. Im Badezimmer legte sie ihre Kleider ab und stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser tat ihrer Haut wohl, und danach nahm sie noch ein Bad in ihrer Körperlotion, die ihr den Duft von herben Rosen verlieh, den sie so sehr liebte. Obwohl niemand im Hause war, zog sie den Duschvorhang zu. Dampf wölken hüllten sie ein. Sie liebte alles ganz heiß. Das Wasser prasselte so laut gegen die Fliesen, daß sie die knarrenden Stiefel nicht hörte, die auf die Duschkabine zukamen. Erst als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie durch den transparenten Stoff des Vorhangs die schwarze, große Gestalt. Sie spürte die Kälte, die von ihr ausging, obwohl sie sich unter dem Wasser fast die Haut verbrannte. Und der Geruch, den diese unheimliche Gestalt ausströmte, würgte ihren Schrei ab zu einem entsetzlichen Lallen. Der Vorhang spaltete sich. Sie war gelähmt vor Schreck. Er griff mit seinen verwesenden, aufgedunsenen Händen zärtlich nach ihr. Sie spürte nicht die höllisch kalte Flamme, die von dieser Berührung ausging. Ihre Nerven reagierten nicht mehr. Sie war eine wassertriefende Statue, die unter dem Blick der milchigen Augen erstarrte. Die Haut hatte sich von seiner Hakennase gelöst. Doch die Lippen darunter waren noch frisch – blühender als bei John. Dann zog er sie aus der Duschkabine, hob sie mit den verwesenden Armen hoch, als wäre sie nur eine Puppe. Er trug sie zur Badewanne und warf sie hinein. Sie schrie, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Sie wand sich wie eine Schlange, die an den Boden genagelt wird. Und in seinem
schon von den Würmern zerfressenen Gesicht erkannte sie das Begehren von John, die erregte Erwartung, als trüge dieses Ungeheuer ein zweites Gesicht unter der Haut. Und dann warf sich dieses entsetzliche Wesen über sie, öffnete den Mund und schlug die spitzen Eckzähne in ihren schönen Hals. Sie schrie immer noch; doch diesmal war es eine Mischung aus Wollust und Entsetzen. Als dieses unholde Wesen nach langer Zeit wieder von ihr abließ, war sie eine leere Hülle, so weiß wie die Fliesen über der Wanne. Nicht einen einzigen Blutstropfen hatte das Ungeheuer übrig gelassen. Nicht lange danach verließ ein junger Mann das Palais, schloß sorgfältig die Haustüre hinter sich ab und ging schwankend wie ein Betrunkener die Vortreppe hinunter zur Einfahrt, wo ein Wagen ihn erwartete. Hinter ihm lag das große Haus friedlich wie in einem schönen Traum. Irgendwo in der Nähe schrie ein Käuzchen und stob entsetzt davon.
* Die Alte lachte, als der junge Mann sich wieder zu ihr in den Leichenwagen setzte. Sie strich ihm über die braunen Locken, die ihm bis zu den Schultern hinunterfielen. Der Anzug saß jetzt stramm über dem blühenden, jungen Körper. Die Hände waren sehnig und voller Leben. An seinem Hals pulsierten die Adern. Die Alte rieb sich vergnügt die Hände. »So gefällst du mir, Eric«, flüsterte sie, während sie die Gestalt umarmte und sich selbst an seinem Hals labte …
*
John Laxton kochte vor Wut, als es lange nach Mitternacht endlich an seiner Haustür läutete. Die Platte mit den Brötchen hatte er bereits zur Hälfte abgeräumt, und die Bowle hatte er mit einer Flasche Wein nachbessern müssen, damit man den Substanzverlust nicht sofort merkte. Er warf die Zigarette in den Aschenbecher und nahm sich zusammen. Als er die Tür öffnete, war er wieder der alte, charmante Casanova John Laxton. Schließlich war Lady Rosebud nicht irgendwer, sondern eine Frau, die ihn trotz seines miesen Talentes aufzubauen vermochte, auch wenn er sich mit der Rolle eines Prinzgemahls abfinden mußte. Als er die Tür schwungvoll geöffnet hatte und ihm ein vorwurfsvolles »Da-bist-du-ja-endlich!« auf der Zunge lag, sah ihn ein Wesen an, das ihn förmlich mit den Augen auszog. Er war so davon überrascht, daß er nur ein »Ah« über die Lippen bringen konnte. Sie sah so aus, daß er es nicht fertigbrachte, die Tür wieder zu schließen, sondern sagte: »Sie müssen sich in der Wohnung geirrt haben.« Hier oben gab es eine Reihe von Ateliers mit angehenden Künstlern, und jeder von ihnen hatte seine mehr oder weniger feste Freundin. »John Laxton?« »Er steht vor Ihnen.« »Sie erwarten Besuch?« Er nickte. Einen Moment später setzte er hinzu: »Bedauerlicherweise.« »Sie kommt nicht«, sagte dieses bezaubernde Wesen energisch und lächelte schelmisch. »Werden Sie mich als Ersatz zu sich in die Wohnung lassen?« John Laxton sah sie an, und in seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte keinen sehr schnellen Verstand, aber gut funktionierende Drüsen. Dieses Wesen war Nora Spiers hoch zehn. Es strömte eine Sinnlich-
keit aus, die man nur als unheimlich bezeichnen konnte. Für John Laxton war das Wort unheimlich die größte Anerkennung, die er einer Frau zu zollen wußte. Er hielt schweigend die Tür für sie auf. John war tief von ihr beeindruckt. Sie schien auch jünger zu sein als Nora Spiers. Beschwingter, schöner, erregender, hinreißender. »Sind Sie vielleicht eine Freundin von Nora? Ich meine, sind Sie auch vom Theater?« fragte er und errötete sofort. Was für einen blödsinnigen Fehler hatte er da gemacht. Hatte Lady Rosebud ihm nicht strengste Diskretion eingeschärft? Aber das Wesen sah ihn nur mit seinen dunklen Augen strahlend an. Wie faszinierend, dachte er. Dunkle Augen, die rötlich schimmerten. »Mann kann es gewissermaßen so nennen. Sie schickt mich, möchte ich sagen.« Das Wesen lachte, was ihn ein bißchen unangenehm berührte, da es eher gehässig klang als humorvoll. Aber der Schatten verflog sofort, als sie zum Sofa ging, ihre Schuhe abstreifte und sich einfach hinlegte. »Nein, ich bin nicht vom Theater«, sagte sie und nippte an seinem Glas, das noch zur Hälfte gefüllt war, und stellte es mit einem leisen Zucken ihrer roten Lippen auf den Tisch zurück. Jetzt stand er vor ihr wie ein Schuljunge, dem die Antwort auf eine Frage einfach nicht einfallen wollte. »Schickt Sie …?« Sie überging seine Frage, hob den Arm und winkte ihm. »Komm!« Und er kam näher, angelockt von den Sirenenklängen ihres Körpers. Er beugte sich über dieses Gesicht mit den rötlich schimmernden Augen. Noch nie hatte er bei einer Frau so sinnliche Lippen gesehen. Ein Mund, so voller Leben und Blut. Er küßte sie, während sie ihn zu sich hinunterzog. Ihr Mund begann an seinem Hals zu saugen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er eine solche Wonne empfunden …
*
»Unfaßbar«, sagte Edward Wilson zwei Stunden später erschüttert und zündete sich mit bebenden Händen eine Zigarette an. »Nicht das Gespenstische ist es«, murmelte er, während er sich neben Mildred in der dunklen Einfahrt wieder in den Jaguar setzte. »Aber diese Töne, diese unaussprechlichen Geräusche – einfach schrecklich.« Er inhalierte tief und blickte hinüber zu dem Friedhofstor, das immer noch halb geöffnet war. Es war vollkommen windstill. Edward glaubte, er könne diese Geräusche immer noch hören, die ihn vorhin in die Flucht getrieben hatten. Gott sei dank sah man nicht, was sich dort drüben im Mausoleum tat. Der Mond hatte sich wieder hinter die Wolken verkrochen. Jetzt hing nur noch ein fahler grauer Schimmer zwischen den Hochhäusern im Osten. Es konnte nicht mehr lange dauern, und die Morgendämmerung zog herauf. Mildred sah ihn an. »Sie lieben sich, bis das Licht heller wird als die Schatten der Nacht«, sagte sie. »Woher weißt du das?« »Ich wollte es wissen. Ich habe sie belauscht, Edward. Aber ich weiß nicht, was das für Wesen sind, Werwölfe, Wiedergänger, Zauberer. Auf jeden Fall Vampire, die sich hassen, unbeschreiblich böse Wesen.« Er schwieg und sah sie nur fragend an. »Ja«, sagte sie mit tonloser Verzweiflung, als hätte sie die stumme Frage in seinen Augen lesen können, »ich habe einen Pakt mit ihnen geschlossen, ehe ich wußte, wer und was sie sind.« »Du meine Güte! Warum nur, warum?« Er sah sie wild an. »Ich bekomme ein Kind. Ein Kind von dir, Edward.«
* Chefinspektor Benskin saß am späten Vormittag in seinem Büro in
New Scotland Yard und ließ dabei den Blick über das frische Grün der Bäume am Themseufer schweifen. Er seufzte: »Das ist der verdammte Nachteil meines Auftrags, mich um Prominente zu kümmern«, fluchte er leise. »Man muß immer für sie zu sprechen sein und kommt nie zum Arbeiten.« »Aber Sir«, sagte Sergeant Roach, »er will Sie dringend sprechen. Mir wollte er nichts erzählen.« »Sie wissen nicht, was er will, Roach?« »Nein. Aber erschrecken Sie nicht, Sir. Heute sieht er wirklich verrückt aus. Ich glaube, er ist die ganze Nacht nicht aus den Kleidern gekommen. Eine unrasierte Leiche im Abendanzug ist nichts dagegen.« »Na schön, Roach. Dann holen Sie die Leiche zu mir herein. Vielleicht will sie ein Geständnis ablegen.« Benskin zündete sich eine Pfeife an, während Roach im Vorzimmer verschwand. Die Tür öffnete sich nach wenigen Minuten. »Aber, mein guter Mister Wilson«, sagte Benskin liebenswürdig und stand auf, als Edward Wilson junior hereinkam. »Ich verstehe nicht, weshalb Sie sich nicht erst einmal von Ihrem Schock erholt haben. Sie hätten doch noch in der Klinik bleiben und ausschlafen sollen.« Er blickte Edward Wilson erschrocken an: »Ist Ihnen nicht gut?« »Nein«, erwiderte Edward Wilson grimmig, »aber ich würde zunächst einmal ganz gerne Platz nehmen.« »Oh, Entschuldigung, bitte setzen Sie sich«, sagte Benskin nüchtern. Hier bahnte sich etwas Wichtiges an. Kein Mensch kam mit so einem Gesicht und in so einer Verfassung in sein Büro hereingeschneit, ohne etwas sehr Ernsthaftes auf dem Herzen zu haben. Er klingelte. Roach steckte den Kopf zur Tür herein. »Bringen Sie uns bitte einen Kaffee, schnell«, rief Benskin ihm zu. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und beobachtete eine Weile vor sich hinpaffend seinen Besucher. Leiche war der richtige
Ausdruck, überlegte er. Eine verstörte Leiche in einem zerknitterten, ziemlich verschmutzten Abendanzug. Aber er schien nicht betrunken zu sein. Trotzdem fragte Benskin: »Haben Sie etwa, nachdem Sie das Krankenhaus verlassen haben, bis zum Morgen durchgezecht und dabei – äh – Puppen oder Leichen gesehen?« »Ich habe nicht die Nacht durchgezecht, aber ich habe Leichen gesehen. Eine oder vielleicht auch zwei, so genau läßt sich das nicht sagen.« Edward Wilson sprach ganz ernsthaft, war sich der unfreiwilligen Komik seiner Antwort gar nicht bewußt. »Aha. Eine oder zwei Leichen«, wiederholte Benskin gedehnt, wieder ganz der liebenswürdige Beamte. »Und sind Ihnen auch Puppen begegnet?« »Diesmal nicht.« »Wie viele Gläser Whisky waren es nun wirklich?« »Ein großes.« Edward schüttelte sich, während er einen Punkt auf dem großen Stadtplan von London fixierte, der hinter Benskins Rücken an der Wand hing. »Aber erst, nachdem ich mit dem Wagen vom Friedhof wegfuhr.« Benskin lehnte sich im Zeitlupentempo in seinen Sessel zurück. »Sind Sie davon überzeugt, Sir, daß Ihre Entscheidung, das Krankenhaus noch während der Nacht zu verlassen, richtig war? Ich meine, was hätte es geschadet, wenn Sie noch etwas länger dort geblieben wären?« Edward Wilson lachte hohl, ohne den rotmarkierten Punkt auf der Karte aus den Augen zu lassen. »Nein, ich bin doch nicht wahnsinnig!« »Sicher nicht. Aber ein Schock, eine Psychose können sich in ähnlicher Form äußern. Ein berühmter Professor, eine Kapazität auf diesem Gebiet, spricht von Pseudowahnsinn, der …« Nun sah Edward Wilson dem Chefinspektor gerade ins Gesicht. In seinen Augen spiegelten sich Entschlossenheit und eine Spur von
Angst. Aber von Wahnsinn war da nichts zu bemerken. »Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um mir pseudowissenschaftliche Vorträge anzuhören, sondern weil ich Ihnen helfen möchte.« »Mir helfen?« echote Benskin erstaunt. »Haben Sie gesagt, mir helfen?« »Ja, das habe ich gesagt. Und zwar bei der Suche nach dem Mörder meines Vaters. Es können auch mehrere gewesen sein.« »Mehrere …« Benskin stöhnte leise. »Eben habe ich den Befund von der Gerichtsmedizinischen und vom Erkennungsdienst bekommen. Der Tod Ihres Vaters war ein ganz gewöhnlicher Unfall. Zwar unter etwas – äh – befremdlichen Umständen, aber ich denke, der Coroner wird mir zustimmen, daß es ein Unfall war. Selbstmord halte ich für ausgeschlossen.« »Ich rede nicht von Selbstmord. Es war Mord!« wiederholte Edward hart. »Das ist ganz sicher.« »Nun, Sir«, Benskin lachte gezwungen, »dann wissen Sie mehr als alle meine Leute vom Yard. Aber lassen wir das mal im Augenblick beiseite. Mich interessiert die Leiche, die Sie gesehen haben wollen. Handelte es sich wieder um eine prominente Persönlichkeit? War Ihnen die Leiche bekannt?« »Es war die Leiche von Lord Rosebud.« »Hm. Ich entsinne mich.« Benskin klang irgendwie erleichtert, fast ironisch. »Der letzte Lord Rosebud ist vor knapp einem Jahr verstorben.« Er sog heftig an seiner Pfeife. »Woran?« fragte Edward Wilson zerstreut und schien gar nicht ganz bei der Sache zu sein. »Ganz undramatisch, ganz konventionell, an einem Herzschlag in der Badewanne.« Edward betrachtete seine Hände. Sie zitterten noch immer. »Ich sah ihn heute nacht. Er befindet sich zwar schon in dem Zustand der Verwesung, aber …« Es klopfte.
Benskin rief: »Herein!« und Inspektor Miller von der Mordkommission stampfte auf seinen kurzen Beinen ins Zimmer. Miller war ein drahtiger Bullenbeißertyp, der für vornehme Allüren nichts übrig hatte. Er warf nur einen kurzen, scharfen Blick auf den Besucher, schien innerlich die Nase zu rümpfen und beugte dann seinen Borstenkopf zu Benskins elegantem Scheitel hinunter. Er raunte dem Chefinspektor etwas ins Ohr. Es folgte ein kurzer, geflüsterter Wortwechsel, wobei sie beide Seitenblicke auf Wilson warfen. »Der Chef meint, der Fall sei für dich«, schloß Miller die vertrauliche Unterhaltung mit lauter Stimme ab. Dann verließ er wieder das Büro. Benskin lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück. »Wilson, Sie sind entweder ein Hellseher oder Schlimmeres«, sagte er. »Wie bitte?« fragte Wilson junior müde. »Nun, Sie haben mir soeben eine phantastische Geschichte von dem verstorbenen Lord Rosebud erzählt, stimmt doch?« »Sicher, eine wahre Geschichte, Chefinspektor.« »So. Dann geben Sie mir auch ein Alibi, Sir. Einen Nachweis, wo Sie heute nacht von Mitternacht bis gegen fünf Uhr morgens gewesen sind. Haben Sie so ein Alibi?« »Was soll das bedeuten, Chefinspektor? Ich komme zu Ihnen, um Ihnen zu helfen. Und jetzt verlangen Sie ein Alibi von mir?« »Leider, Sir, müßte ich Sie verhaften, wenn Sie kein Alibi beibringen können.« »Und weshalb, wenn ich fragen darf?« »Man fand die Leiche von Lady Rosebud in ihrer Wohnung. In ihrer Badewanne.« »O Gott! Ermordet?« fragte Edward Wilson erschrocken. Benskin nickte nur. Edward Wilson sackte auf seinem Stuhl zusammen und wurde im
Gesicht noch fahler, soweit das überhaupt noch möglich war.
* George Gateskill arbeitete unermüdlich und verbissen in seinem Büro in der fünfzehnten Etage des Hochhauses, wo er seine Werbeagentur eingerichtet hatte, obwohl er ziemlich elend und müde war. Seine Sekretärin kannte seinen Kummer. Seine Werbetexter und Grafiker waren auf Vermutungen angewiesen. Aber sie mochten den Chef und besprachen seinen »Fall« nur außerhalb der Bürozeiten. »Welcher vernünftige Mann, der bereits auf die Pensionierung zuschreitet, heiratet auch ein Mädchen, das noch nicht einmal volljährig ist. Das widerspricht allen Naturgesetzen. Dieses Drama hätte er vermeiden können«, meinten die einen. »Nun ja, erst hat sie ihn gedrängt, er soll sie heiraten, und ihm den Himmel auf Erden versprochen, wenn er ihr einen Halt, ein Heim und ein bißchen Erziehung gibt. Und jetzt, nachdem sie flügge und selbstbewußt geworden ist, was sie alles nur ihm zu verdanken hat, ist er ihr plötzlich zu alt, ein Ekel, eine Last. Aber sein Geld ist ihr noch gut genug. Also leid tun kann er einem schon«, meinten die anderen. George Gateskill hing sehr an Myra. Er hatte ihr einmal sehr geholfen, aber sie hatte seine Hilfe auch wirklich gebraucht. Und er hatte ihr einen echten Schutz geben wollen. Aber jetzt brauchte er anscheinend selbst Hilfe. In der Arbeit, die sich auf seinem Schreibtisch türmte, fand er sie nicht. Seine Sekretärin, die schon seit zwanzig Jahren bei ihm war, drehte sich an ihrem Schreibtisch um: »Sie sehen elend aus, Chef. Sie sollten zum Arzt gehen oder pausieren.« Er antwortete ihr nicht, kramte wortlos in seinen Zeichnungen und Werbespots. »Glauben Sie mir, es lohnt sich nicht, sich wegen dieser Schlampe
krankzumachen.« George Gateskill schluckte schwer. Anne, seine Sekretärin, war immer nett und loyal zu ihm gewesen. Doch sie hatten von Anfang an vereinbart – keine näheren Beziehungen zwischen Chef und Angestellter, und das war gar nicht so einfach gewesen, denn vor zwanzig Jahren hatte sie verdammt gut ausgesehen. »Ist nicht so schlimm«, sagte George Gateskill, »mir fehlt nur Schlaf.« Das stimmte zwar, gab jedoch nicht die ganze Wahrheit wieder. Seit zwei Tagen fühlte er sich hundeelend. Nicht nur seelisch. Die alte Wunde vom letzten Krieg schmerzte plötzlich wieder unaufhörlich. »Ein paar Tabletten tun’s auch. Und eine Tasse Kaffee. Etwas anderes verschreiben mir die Ärzte doch nicht«, sagte er und ließ sich auf seinen Drehstuhl fallen. »So, meinen Sie?« Anne wirbelte auf ihrem Stuhl herum. »Treiben Sie nur Raubbau mit Ihrer Gesundheit, George! Bleiben Sie stur!« Sie seufzte. Sie meinte es nur gut mit ihm. »Aber gehen Sie wenigstens zum Notar, solange es noch nicht zu spät ist, George.« George erwiderte nichts. Er wühlte weiter in seinen Papieren. »Oh, George, enterben Sie die Schlampe! Oder möchten Sie, daß sie alles, was Sie in vierzig Jahren harter Arbeit mühsam aufgebaut haben, in einem Jahr mit ihrem Liebhaber verjubelt?« George wühlte weiter, zuckte diesmal aber zusammen. »Und wenn Ihnen das auch egal ist, dann denken Sie wenigstens an Ihre Mitarbeiter, George, die so lange zu Ihnen gehalten haben. Sichern Sie diesen Leuten ihren Arbeitsplatz in Ihrem Testament. Vermachen Sie Ihr Geld nicht dieser Schlampe; überlassen Sie es lieber dem Tierschutzverein oder den hungernden Kindern in Asien!« George kramte nicht mehr. Er sah gequält hoch: »Anne, ich bitte Sie, sprechen Sie nicht so von meiner Frau.« »Das ist sie ohnehin nur auf dem Papier.«
Er erhob sich mit einem Ruck von seinem Stuhl. »Ja«, sagte er leise, »das weiß ich selbst. Ich gehe.« »Wo sind Sie für dringende Fälle zu erreichen?« fragte Anne. »Sie erreichen mich bei meinem Notar, Anne. Genau das, was Sie wollten.« Und damit nahm er seinen Mantel und verließ das Büro.
* Die Beamten hatten den Sarkophag wieder zugedeckt und traten mit etwas betretenen Gesichtern beiseite. »Verrückt«, murmelte Chefinspektor Benskin. »Aber es ist ja meine Pflicht, jeder Spur nachzugehen.« Edward Wilson tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Zum Kuckuck, was hatte er denn erwartet? Ein Gespenst oder ein Monster im Bleisarg von Lord Rosebud? Die Sonne spiegelte sich in den Marmorfliesen, und die Vögel hüpften zwitschernd auf den alten Gräbern umher, sammelten Würmer und Körner für ihren Nachwuchs in den Sträuchern und den Gesimsen der Mausoleen. Das war so ein stinknormales, sehr heiteres Panorama auf dem Friedhof. Und was hatte er erwartet? Er gehörte schließlich zur normalen Welt mit sehr logischen Gesetzen. Was wußte er schon von dem Übersinnlichen? Nichts. Aber Mildred hatte doch neben ihm gestanden und wie er das Monster gesehen, diese lebende »Leiche« des Lord Rosebud. Chefinspektor Benskin wußte natürlich, was in dem jungen Wilson vorging. »Sie haben sich nicht getäuscht, Sir«, sagte er väterlich. »Manche behaupten, die Welt existiert nur in unseren Vorstellungen. Soweit möchte ich nicht gehen, aber Sie sind eben eine hellseherische Begabung. Sie können den Tod der Menschen voraussehen. Meine Großmutter konnte so etwas auch.«
Chefinspektor Ray Benskin wischte sich ein paar Blütenblätter vom Anzug, nahm den jungen Wilson dann beim Arm und führte ihn den Kiesweg hinunter zum Friedhofsausgang, wo sein Dienstwagen sie erwartete. »Ich muß diesen Laden wiederfinden«, murmelte Edward Wilson, als stünde er unter Mordanklage. »Gut, machen wir das gemeinsam.« Innerlich stieß Ray Benskin einen Seufzer aus. Man muß ihm jeden Gefallen tun, hatte der Superintendent zu ihm gesagt. Gewiß erbt er den Konzern seines Vaters, und damit ist er ein sehr wichtiger Steuerzahler. Von diesen Leuten leben wir schließlich. Und vielleicht hat er tatsächlich eine Spur, die uns zu dem Mörder von Lady Rosebud bringen kann. »Dieses Biest kam aus dem Kanalschacht dort«, sagte Edward Wilson und deutete auf den Kanaldeckel auf der Straße vor dem Friedhofstor. »Gewiß«, räumte Benskin ein, »Ratten pflegen meistens in Kanalröhren zu leben. Andere Möglichkeiten geben wir ihnen kaum noch.« »Aber dieses Biest hob den Kanaldeckel an und kroch heraus!« »Hm.« »Sie glauben mir nicht?« erwiderte Wilson hitzig. »Sir, ich besitze nur laienhafte Kenntnisse über Gespenster. Ich verdankte sie – hm – nun, es spielt keine Rolle. Jedenfalls benötigen sie in der Regel weder Taxis noch Leitern oder Kanalröhren, um von einem Ort zum anderen zu gelangen.« »Das Biest kam aber dort heraus!« »Jawohl, Sir. Ich schlage vor, wir halten uns eher an die physikalischen Regeln unserer Ermittlungsarbeit. Zufällig habe ich einen Plan vom Stadtbauamt dabei, auf dem die Kanalsysteme eingezeichnet sind. Einen Moment Geduld, Sir.« Benskin öffnete seinen Diplomatenkoffer und holte eine Spezialkarte heraus. Nachdem er sie auf der Motorhaube entfaltet hatte, deutete er auf einen Punkt: »Hier – da
ist er ja schon, der Kanal am Friedhof. Er verläuft in westlicher Richtung durch die Pangrove Street bis zum Holborn Viadukt. Links und rechts, das sind keine Fischgräten, sondern Stichkanäle, mit denen diese Gassen versorgt werden. Hm, ja. Nehmen wir doch einfach das Kanalsystem als Orientierungshilfe und schauen in die Seitengassen hinein, ob Sie nicht das mysteriöse Gebäude wiederfinden!« Edward Wilson nickte hastig und trabte los. Benskin blieb keine Zeit mehr, die Karte wieder ordentlich zusammenzufalten. Mit Kniffen, wo sie nicht hingehörten, verstaute er die Karte rasch in der Brusttasche. Sie passierten die etwas anrüchigen Fassaden des Vergnügungsviertels von Soho, wobei Wilson nach jeder Seitenstraße stehenblieb, mit gerunzelter Stirn die Häuser studierte, dann den Kopf schüttelte und weiterging. Je weiter sie nach Westen vordrangen, um so länger wurde Benskins Gesicht. Sie hatten längst die anrüchigen Häuser hinter sich gelassen und waren in den seriösen, sogar eleganten Teil von Soho vorgedrungen. Benskin wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der junge Wilson legte ein Tempo vor, als versäumte er sonst ein wichtiges Rendezvous. Wenn das so weiterging, landeten sie noch vor dem Buckingham Palast und entlarvten die Queen als Nachtgespenst! Sie waren schon bei Lincolns Inn, als Edward Wilson stutzte, herumschwang und dann erregt mit den Armen in eine Seitenstraße hineindeutete: »Da!« Der Chefinspektor trat zu ihm, blickte in die angedeutete Richtung, sah auf das Straßenschild und blinzelte. »Du meine Güte, Sir, Sie werden doch wohl nicht das Britische Museum meinen?« Wilson schüttelte den Kopf. »Das Schild dort an dem Gebäude!« rief er erregt. »British Undertakers« buchstabierte Benskin. »Sir, das kennt jeder
Londoner in fortgeschrittenem Alter, der sich ein gutes Begräbnis leisten kann! British Undertakers ist das größte und rennomierteste Bestattungsunternehmen der Metropole!« »Mag wohl sein«, erwiderte Edward Wilson erregt und holte tief Luft, »aber mein sechster Sinn sagt mir, daß dort der Puppenladen sein muß, den ich suche!« Der Chefinspektor betrachtete das fünfstöckige moderne Haus mit der dunklen Marmorverkleidung, der Antenne auf dem Flachdach und der Einfahrt zur Tiefgarage. »Hatten Sie nicht etwas von einem Knusperhäuschen erwähnt, Sir? Haben Sie mir nicht ein Hexenhaus mit Schaufenster beschrieben? Aber das ist doch …« »Schauen Sie lieber auf Ihrem Kanalisationsplan nach«, unterbrach ihn Wilson. »Endet dort nicht ein Stichkanal vor dem Haus? Ist das nicht ein Kanaldeckel gleich vor dem Bürgersteig?« »Das ist der Fall, Sir«, erwiderte Benskin. »Aber das ist schon mindestens der zwanzigste Kanaldeckel, den wir passiert haben, und …« »Gehen wir einmal in den Laden und schauen ihn uns an«, unterbrach Wilson ihn energisch und lief auf das moderne, marmorverkleidete Gebäude zu. Ob er wollte oder nicht – Benskin mußte ihm folgen.
* George Gateskill rang noch mit sich, ob er das Testament tatsächlich ändern sollte, als er mit seinem Bentley zum Notar in die Kings Road fuhr. Er war doch organisch gesund, hatte ihm sein Arzt versichert, und deswegen konnte er sich eigentlich ein paar Wochen Zeit lassen, um noch einmal alles in Ruhe zu überdenken. »Sie sind außerordentlich gut in Schuß für Ihr Alter«, hatte der Arzt zu ihm gesagt.
Es war merkwürdig. Das Autofahren hatte ihm doch noch nie Schwierigkeiten gemacht. Doch plötzlich hatte er das Gefühl, er würde nicht gefahren, sondern müßte diese schwere Karosse schieben. Unglaublich, was für Kraft er dafür brauchte, um den Schalthebel zu bedienen. Und gar erst die Bremse! Da schien ein Tonnengewicht daran zu hängen! Alles Einbildung, versuchte er sich zu beruhigen. Du bist abgespannt, hast zuviel gearbeitet, oder dein Unterbewußtsein rebelliert gegen das, was deine Vernunft dir gebietet. Du liebst Myra, aber das hilft alles nichts. Dein Verstand sagt, du mußt sie enterben. Himmel, fluchte er plötzlich laut, als ihm der Schweiß in die Augen lief, ich fühle mich nicht nur schlapp, sondern jetzt wird es mir auch noch heiß! Er schaltete das Gebläse ein. Wenn er durch die Scheiben auf den Gehsteig sah, mochte er kaum glauben, daß die Passanten Mäntel trugen. Ein Tief zog mit kaltem Wind von Norden heran. Und er schwitzte in seinem Auto wie bei einer Safari in Afrika! Vielleicht stimmte was mit der Heizung nicht. Er sah auf die Klimaanlage. Der Schieber stand auf Frost, nicht auf Wärme. Er langte mit der linken Hand nach unten und spürte die kalte Luft aus den Heizdüsen unter dem Sitz. Verdammt, es konnte nicht an einem mechanischen Defekt liegen, daß ihm der Schweiß über den Rücken lief. Das Auto war die reinste Sauna. Und sein Herz fing so laut zu pochen an, als habe er eine halbe Stunde lang Rugby gespielt. Er war ein sehr guter Rugbyspieler gewesen, bis ihn die Verwundung an der Hüfte für jeden Sport untauglich machte. Auch für das Tennisspielen reichte es nicht mehr, obwohl Myra sich gleich nach ihrer Heirat für diesen Sport begeisterte. Er hatte ihr nur theoretisch etwas beibringen können. Er hatte nur beim Spielen zugesehen, während Myra mit einem jungen Mann namens Claud Lintwood übte, der sich liebenswürdig als Trainingspartner zur Verfügung stellte. Jetzt war er auch ihr Partner im Bett geworden!
Gateskill biß die Zähne zusammen. Die Vorstellung der beiden im Bett bestärkte ihn wieder in seinem Entschluß. Doch er vermochte kaum noch etwas zu sehen, weil ihm der Schweiß in Bächen über die Augen floß. Es ist die Erschöpfung und die Aufregung, versuchte er sich zu beruhigen. Seit Wochen schlief er nicht mehr, lag dösend neben ihrem leeren Bett und horchte auf jeden Laut. Vielleicht drehte sich doch noch der Schlüssel im Schloß? Aber dann war es nur die Tür eines Autos gewesen, die zufiel. Kein Pochen an der Tür, sondern ein Knacken in der Heizung. Erst später am Morgen schlief er ein. Und da Myra sich auf Zehenspitzen durch die Hintertür ins Haus schlich, hörte er sie nie. Sie bereitete ihm das Frühstück zu, das schon auf dem Tisch stand, wenn der Wecker klingelte. Sie selbst riegelte sich im Kinderzimmer ein, das gewöhnlich als Fremdenzimmer verwendet wurde. Dort schlief sie dann, wenn er das Haus verließ. »Anstand«, nannte sie das, dachte er verbittert. Sie stellte ihn nur nachts bloß, während sie tagsüber im Hause blieb, damit die Bekannten der Familie nichts zu klatschen hatten. Er legte das Taschentuch neben sich auf den Sitz. Es war schon patschnaß. Dann hatte er plötzlich die Lösung für diese unerklärliche Hitzewellen, die ihn peinigten. Ich habe Fieber! Ich muß sofort zum Arzt gehen, wenn die Sache beim Notar erledigt ist! Da war es schon, das Eckhaus mit der dekorativen viktorianischen Fassade, wo sein Notar seine Kanzlei eingerichtet hatte. Mit seinem Blutdruck konnte auch etwas nicht stimmen. Durch seine Schläfen pochte es, als würde eine Teerdecke in seinem Schädel aufgerissen. Vielleicht sollte ich doch erst zum Arzt gehen und dann zum Notar? Unsinn! Es sind nur noch wenige Meter! Ich kann doch nicht mitten im Verkehr stehenbleiben und mir die Jacke ausziehen! Er kurbelte das rechte Seitenfenster herunter. Das Lenkrad war so glitschig von seinem Schweiß, daß er es kaum festzuhalten vermochte. Er öffnete weit den Mund, um die kühle Luft einzusaugen, die an seinem Fenster vorbeitrieb.
Und dann explodierte die Sonne vor seinen Augen. Ein Mann, der die Straße überqueren wollte, hatte es kommen sehen. Ein grüner Bentley war an sich schon auffallend, aber wenn er anfing, Schlangenlinien zu fahren, wurde auch der Fahrer, der darin saß, zu einer interessanten Ausnahmeerscheinung. Dieser Fahrer schien einem Schlaganfall nahe zu sein. Er war puterrot im Gesicht und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen! Und dann, als er das Fenster herunterkurbelte, knickte er plötzlich nach vorn, schlug mit dem Kopf auf das Lenkrad, und der grüne Bentley stieß einen hellen Fanfarenton aus. Ein Lastwagenfahrer trat fluchend auf die Bremse. Der Bentley scherte aus der Kolonne aus, fuhr quer über die Straße und dann auf den Bürgersteig. Es klirrte und schepperte, als er mit einem Feuerhydranten kollidierte. Daneben befand sich ein Cafe, und bleiche Gesichter starrten durch die Scheiben. Sie hatten schon damit gerechnet, daß der Wagen erst im Kuchenbuffet zum Stehen kommen würde. Ein Bobby kam im Eilschritt von der nächsten Kreuzung herbei. Er riß den Wagenschlag des Bentley auf und schob den Mann vom Lenkrad weg, damit endlich das Jaulen der Fanfare aufhörte. Neugierige strömten herbei und schlossen einen dichten Ring um den Wagen. Gleich über dem Cafe praktizierte ein Arzt für Allgemeinmedizin. Der Bobby schickte einen Jungen, der zu den Gaffern gehörte, zu ihm hinauf, während er den Bentley untersuchte … Dem war nicht viel passiert. Ein eingedrückter Kühler nur und verbogenes Chrom. »Merkwürdig«, sagte der Arzt, nachdem er den Fahrer des Bentley untersucht hatte, »äußerst merkwürdig.« Er nahm die Decke, die auf dem Rücksitz des Bentley lag, und warf sie über den Kopf und die Schultern von George Gateskill. Wie peinlich, daß dieser Bedauernswerte so begafft wurde. »Er ist tot, Sir?« fragte der Bobby erschrocken. »Richtig«, erwiderte der Arzt.
»Mein Gott, Sir! Das war doch nur ein kleiner Bums!« »Ja«, bestätigte der Arzt, »obwohl er durchaus genügt, wenn man nicht angeschnallt ist. Aber das ist nicht das Merkwürdige an der Sache.« »Was dann, Sir?« »Der Mann ist nicht an dem Aufprall gestorben, sondern an einem Hitzschlag!« »Aber Sir!« gab der Bobby kopfschüttelnd zurück. »Wir haben doch gerade zwölf Grad im Schatten! Ich friere schon seit zwei Stunden auf der Kreuzung, obwohl ich den Verkehr regeln muß!« »Ich bin überfragt«, erwiderte der Arzt gereizt, »ich verstehe es selbst nicht! Vielleicht handelt es sich auch um eine geheimnisvolle Tropenkrankheit, die man nur feststellen kann, wenn der Tote seziert wird. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Da muß sich schon der amtliche Leichenbeschauer um den Fall bemühen.«
* »Womit kann ich dienen, meine Herrschaften?« Es war ein sehr dekorativer, fast feierlicher Rahmen, in dem die »British Undertakers« ihre notwendigen, wenn auch unerfreulichen Dienste der Öffentlichkeit anbot: Urnen, die sich mit Blumenvasen im Schaufenster abwechselten, ein weißer Marmorfußboden, auf dem Tische und Stühle wie in einem Hotelfoyer mit diskret bereitgelegten Vertragsformularen für Bestattungen verschiedener Preisklassen standen. Überall Blumen, nicht gerade in den buntesten Frühlingsfarben, aber doch in voller Blüte, damit auch im Trauerfalle noch eine Atmosphäre von Trost und Hoffnung übrig blieb. Das Dekor des Bestattungsunternehmens war in Gemeinschaftsarbeit von einem Innenarchitekten und einem Psychologen entworfen worden. Es regte dazu an, daß für den teuren Verstorbenen keine Kosten gescheut wurden. Doch falls die Kosten die Möglichkeiten
überstiegen, brauchte man nur ein Formular der Kreditabteilung auszufüllen, das ebenfalls auf den Tischen bereitlag. »British Undertakers« besaßen viele Filialen und hatte eine eigene Kredit-Bank für ihre Kundschaft. Diese Kundschaft war sehr groß, denn jeder von uns kommt eines Tages in die Verlegenheit, sich zu einem Leichenbestatter begeben zu müssen. Der Chefinspektor hatte nicht so vergängliche Gedanken. Er war wütend. Dieser hochmoderne Laden sollte eine Hexenküche sein? Die Ermittlungen wurden peinlich. Das Ganze war ein Reinfall. Und wenn die Presse davon Wind bekam, würde er noch zum Gespött ganz Londons werden. »Handelt es sich um eine Frau oder einen Mann? Oder gar um ein Kind?« fragte die Dame, die aus einem Nebenraum gekommen war, als sich die Ladentür öffnete und das Glockenspiel ertönte. Edward Wilson antwortete nicht. Er starrte auf den dunkelroten Vorhang im Hintergrund des Raumes. Das war der gleiche Vorhang, den er vorgestern nacht auseinandergerissen hatte. Ja, und dieses Glockenspiel! Auch daran erinnerte er sich. Die Dame bemerkte, daß Edward Wilson nur Augen für den Vorhang hatte und sagte: »Dahinter stehen unsere Mustersärge, Sir.« Erst jetzt blickte Edward Wilson die Dame an, die sie empfangen hatte und mit einem eingefrorenen Lächeln auf die Wünsche der angeblichen Kundschaft wartete. Es war eine ältere Dame mit Silberlöckchen, mit einem grauen Kostüm bekleidet. Sie spielte mit einer langen Perlenkette, die über das weiße Spitzentuch ihrer Bluse herabhing und leise schepperte, während sie über die Marmorfliesen ging. Sie war so stil- und würdevoll wie eine Empfangsdame vom diplomatischen Corps. Und ihre Eleganz erinnerte an einen Modesalon. Edward Wilson starrte sie an, als müßte er ein Bild aus dem Gedächtnis malen. Sie hielt mit einem höflichen Lächeln seinem Blick stand. Ihre Augen spielten ins Rötliche. Das stieß ihn ab, doch alles
in allem sah die Dame sehr vertrauenerweckend aus. Aber diese Augen. Sie waren irgendwie satt und so glänzend, daß sie nicht zu den grauen Haaren passen wollten. Und sie hatte eine animalische Ausstrahlung, auf die ein Mensch wie er sofort ansprach. Er hätte wetten mögen, daß er sie sogar begehrt hätte, falls … Edward Wilson riß sich zusammen. Er durfte nicht aus der Rolle fallen oder Halluzinationen bekommen. Eines war für ihn auffallend, auch wenn er vieles nur für die Einbildung überreizter Nerven hielt. Diese Frau hatte einen jugendlichen, begehrenswerten Körper, aber den Kopf einer Alten. Beides paßte nicht zusammen. Zum Teufel, so etwas gab es nicht! »Wollen Sie eine Erd- oder eine Feuerbestattung, Sir?« fragte die Dame mit dem begehrenswerten Körper und dem runzeligen Gesicht. Chefinspektor Benskin sprang in die Bresche, weil Wilson einfach kein Wort über die Lippen brachte: »Dürfen wir vielleicht zuerst einmal die Mustersärge sehen?« sagte er nach einem kleinen Hüsteln. »Aber selbstverständlich!« Die Dame schien erleichtert, daß sie endlich Dienst am Kunden leisten konnte. Denn dafür wurde sie ja wohl auch bezahlt. Stinknormal, dachte Edward, fast wütend auf sich selbst. Ich sehe schon Tagesgespenster, ging es ihm durch den Kopf. Während die Dame zu dem Vorhang ging, suchte er mit einem raschen Blick noch einmal die Wände ab. Keine Regale, keine Puppen, kein rötliches Licht in der Auslage. Und schon gar kein Holzfußboden, sondern Marmorfliesen! Und kein Kruzifix! Er stutzte und trat näher an die Tische heran, auf denen die Karten und Reklamebroschüren in kleinen Holzständern gestapelt waren. Er betrachtete eingehend die Vasen und die Urnen.
Nirgends ein christliches Symbol! War das Zufall oder Absicht? Er ließ den Chefinspektor mit der Dame allein in das Sarglager gehen. Als die beiden hinter dem Vorhang verschwunden waren, ging Edward Wilson auf Zehenspitzen zu der Tür, durch die diese Dame mit den nicht zusammenpassenden Körperteilen vorhin in den Laden gekommen war. Er drückte die Klinke nieder, aber die Tür gab nicht nach. Sie war verschlossen. Merkwürdig, dachte Edward Wilson bei sich – diese Tür hat ja gar kein Schloß! Er klopfte gegen die Wandverkleidung aus Alabaster. Alles hart und solide! Keine Attrappe, hinter der man etwas verstecken konnte. Auf einmal hielt er mitten im Schritt inne, blähte die Nasenflügel, trat schnell einen Schritt zur Seite und schüttelte benommen den Kopf. Noch einmal, ganz nah an die Wand heran! Er hob witternd den Kopf, streckte die Hand aus, zog sie rasch wieder zurück. Dann einen Schritt von der Wand weg. »Wollen Sie wissen, woher der Marmor stammt?« fragte der Chefinspektor plötzlich hinter ihm. »Ich glaube, es ist portugiesischer.« »Italienischer«, verbesserte ihn die alte Dame, die lächelnd hinter dem Chefinspektor stand. Es war ein stinknormales Kundendienstlächeln. Edward Wilson errötete. Es war ihm peinlich, aber trotzdem hätte er schwören mögen, daß dieser seltsam süßliche Geruch auch drüben an der anderen Wand auftreten würde, falls er eine bestimmte, unsichtbare Grenze im Laden überschreiten würde. Nein, das war keine Einbildung! Hier existierte noch etwas im Raum, das man zwar nicht sehen konnte, aber riechen! Nur riechen! Es war derselbe, süßliche Geruch der ihn in der vorletzten Nacht
so erschreckt hatte, als er in dieses Knusperhäuschen-Geschäft kam. Und da war noch etwas in der Wand – eine heiße Stelle, als stünde dort ein unsichtbarer Bunsenbrenner. Eigentlich idiotisch, ging es Edward Wilson wieder durch den Kopf. Unsichtbare Regale mit unsichtbaren Puppen, die stinken! »Also, es ist italienischer Marmor«, sagte der Chefinspektor mit einem warnenden Unterton, als fürchtete er, Edward Wilson könnte noch mehr aus der Rolle fallen und den ganzen Yard blamieren. Da hatte Edward Wilson plötzlich einen Einfall. Er schwang herum und sagte liebenswürdig: »Haben Sie auch einen Wagen, mit dem Sie die Verstorbenen transportieren?« »Aber selbstverständlich«, erwiderte die alte Dame höflich. »In unserer Kellergarage stehen verschiedene Modelle, die wir unseren Kunden zur Verfügung stellen. Ich habe hier ein paar Fotografien, wenn Sie sich hier herüberbemühen wollen. Manche Kunden wünschen eine unauffällige Abholung. Andere wieder verlangen von Anfang an einen feierlichen, pompösen Rahmen. Wer für das Antike schwärmt, kann von uns selbstverständlich auch eine Kutsche mit vier Rappen bekommen …« »Ich möchte keine Fotografien sehen«, unterbrach Wilson sie rasch, »sondern die Leichenwagen in natura. Wäre das möglich?« »Falls Sie das wünschen!« erwiderte die Dame mit leichtem Stirnrunzeln. Sie gingen in die Tiefgarage des Beerdigungsinstituts hinunter. Die Garage konnte beheizt oder nach Wunsch auch gekühlt werden, wie die Dame ihnen erklärte. Im Augenblick war sie gekühlt. Der Atem stand ihnen wie eine Wolke vor dem Mund. »Für die Kutschen müssen wir allerdings einen Sondertarif berechnen. Bei den anderen Wagen entstehen keine besonderen Kosten. Sie haben freie Auswahl. Alles ist im Pauschalpreis inbegriffen. Selbstverständlich holen wir den Verblichenen auch nachts ab, wenn Sie es auf ganz unauffällige Art regeln möchten.«
Edward Wilson hörte ihr nicht mehr zu. Er starrte auf den Cadillac, der zwischen einem Rolls Royce und einem schwarzen BedfordKastenwagen stand. Der Cadillac hatte eine kleine Delle im Kühlergrill. Daran erkannte er ihn wieder. Es war der gleiche Cadillac, der vor dem Pestfriedhof Lord Rosebud abgeholt hatte! Oder den widerbelebten Lord Rosebud, wenn man es genau nahm. Egal, wen oder was – hier war wenigstens eine konkrete Spur, die auch nüchterner Nachprüfung standhalten würde. Edward Wilson raunte mit einer Atemwolke dem Chefinspektor ins Ohr: »Lassen Sie den Cadillac auf Spuren absuchen! Das ist er!« »Was ist er?« hauchte Benskin zurück. »Der Wagen, der heute nacht diesen Lord Rosebud vom Friedhofstor abholte!« »Gütiger Himmel«, knurrte Benskin. Jetzt würde er sich wieder blamieren müssen. Na, diesmal konnte er die Blamage wenigstens an seinen Vorgesetzten weitergeben. Er holte seinen Dienstausweis heraus und sagte liebenswürdig: »Madame, wir haben niemanden zu bestatten. Das Gegenteil ist der Fall – wir suchen einen Mörder. Unsere Ermittlungen folgten einer gewissen Spur, die hier in diesem Laden endet. Dieser Cadillac dort drüben hat etwas mit dieser Spur zu tun. Es tut mir leid, aber wir müssen ihn eine Weile lang sicherstellen. Einen halben Tag, denke ich. Leider.« Die alte Dame schien zu erschrecken. Jedenfalls schauerte sie zusammen. Das konnte allerdings auch an der Kälte in der Garage liegen. »Ein Mordfall? Wie schrecklich! Und unser Cadillac hat etwas damit zu tun?« »Nun ja, es ist eine Routinesache, Madame.« »Oh!« Sie hauchte in die Luft. »Verdammt!« knurrte Wilson.
»Was haben Sie denn jetzt schon wieder?« fragte Benskin aufgebracht. »Ich gehe jeder Ihrer verrückten Ideen nach, und jetzt paßt es Ihnen trotzdem nicht!« Edward Wilson knirschte mit den Zähnen. Die Delle im Kühler war weg, wie fortgeblasen. Der Grill sah aus wie neu. »Lassen Sie den Cadillac stehen, Chefinspektor. Sie werden keine einzige Spur mehr finden. Gehen wir«, sagte er. Er drehte sich verdrossen um und ging zur Treppe zurück. Von oben aus dem Laden drang ein dumpfes Geräusch in die Tiefgarage, als stürze jemand zu Boden. Dann folgte ein hoher, schriller Schrei. Ein Todesschrei! Das hörte sogar dieser skeptische Chefinspektor. »Was war denn das?« fragte er die alte Dame scharf. Diese spielte nur mit der Perlenkette und erwiderte würdevoll: »Ich habe nichts gehört, Sir.« »Da hat doch jemand geschrien!« »Tatsächlich?« Wilson und Benskin wechselten einen Blick. Dann raste der Chefinspektor nach oben in den Laden. Er war so leer, steril und feierlich wie zuvor. Und trotzdem hatten jetzt beide Männer das Gefühl, daß irgendwo in diesem Raum ein Toter lag.
* Myra Gateskill war durchaus noch nicht vorbereitet auf den Tod ihres Mannes. Er kam ihr zwei Tage zu früh. Und sie war ehrlich überrascht, sogar betrübt. Jetzt, wo es vorüber war, tat George ihr sogar leid. Wie alle naiven Gemüter konnte sie aus einer bösen eine gute Sache machen und sogar noch behaupten, es wäre ein harter Schick-
salsschlag für sie. »Ihn soll der Schlag getroffen haben, Sie Luder«, sagte Anne am Telefon, als sie Myra den Tod ihres Mannes mitteilte. »Was haben Sie denn gegen mich?« erwiderte Myra am Telefon und schluchzte in ihr Taschentuch. »Ich hoffe nur, er hat wenigstens erreicht, was er sich vorgenommen hatte«, fuhr Anne am anderen Ende der Leitung grimmig fort. Myra ließ die Tränen weiterlaufen, dämpfte jedoch ihr Schluchzen ein wenig. »Was hatte er denn vor?« »Ich hatte ihn endlich so weit gebracht, daß er sein Testament ändern lassen wollte. Natürlich nicht zu Ihren Gunsten, meine Liebe«, erwiderte Anne gehässig. »Am Steuer seines Wagens hat ihn dann der Schlag getroffen. Schrecklich, aber ich hoffe, er war bereits auf dem Rückweg von seinem Notar«, fügte sie dann noch hinzu. »Oh!« sagte Myra. »Das jagt Ihnen wohl einen bösen Schrecken ein, wie, Kindchen?« »Sie haben ihn in den Tod getrieben«, schluchzte Myra, von einem kurzen Anfall schlechten Gewissens geplagt. »Ich?« erwiderte Anne erbost. »Ich liebte ihn! Und ich hätte ihn nie betrogen wie Sie – Sie …« »Sie hatten ein Verhältnis mit George?« fragte Myra und ließ das Essen auf dem Herd ruhig anbrennen. Es war ein Zeichen von Schmerz und Verzweiflung, wenn man das Essen anbrennen ließ. Das hatte sie erst vor kurzem von einem Fernsehspiel gelernt. »Man kann einen Mann lieben, ohne ein Verhältnis mit ihm anzufangen, was Sie natürlich nie verstehen können. Und mein Mann merkt es gar nicht, daß ich ihn nicht liebe! Im Gegenteil, er entbehrt nichts bei mir, während George bei Ihnen … Oh, ich könnte Ihnen einiges auskratzen, Sie Schlampe! George hat Sie von der Straße weggeholt, und wie haben Sie es ihm gedankt?« Anne fing am anderen Ende der Leitung verzweifelt zu schluchzen an. Das Weinen steckte an. Hoffentlich hat George sein Testament
nicht mehr ändern können, dachte Myra. Sie tat sich selbst leid, wenn sie sich vorstellte, daß George im letzten Moment sein Testament geändert und sie enterbt hatte. Doch was hatte die Alte im Laden zu ihr gesagt, als sie den Vertrag schlossen? Wir werden mit allen Mitteln verhindern, daß Ihr Mann sein Testament ändern kann. Deshalb also Georges plötzlicher Tod noch vor dem Wochenende. Er war auf dem Weg zum Notar gestorben, nicht auf dem Rückweg. »Hatte er wenigstens einen sanften Tod?« erkundigte sich Myra, als sie sich an die anderen Vereinbarungen erinnerte. »Ein Gehirnschlag, hat man uns gesagt«, erwiderte Anne schluchzend. »Ich sollte es Ihnen schonend beibringen. Du lieber Himmel! Sie springen doch vor Freude an die Decke! Es sei denn, George hat Sie doch noch enterben können, Sie Ehebrecherin!« Myra hatte nun genug von diesen Haßausbrüchen. Sie fühlte sich gekränkt. »Ich würde an Ihrer Stelle die Zunge etwas in Zaum nehmen, Anne«, sagte sie spitz. »Es könnte ja sein, daß ich Sie morgen entlasse.« »Wenn Sie den Laden hier erben, ist er in wenigen Monaten pleite, Sie Schlampe. Und außerdem kündige ich sowieso, wenn Sie hier Chefin werden sollten. Die Kündigung habe ich Ihnen hiermit schon ausgesprochen. Morgen bekommen Sie es noch schriftlich. Per Einschreiben!« Es knackte in der Leitung. Anne hatte den Hörer auf die Gabel geworfen.
* John Laxton war wie im Fieber. Nora Spiers, alias Lady Rosebud, war tot. In ihrer Badewanne verblutet, wie er erfuhr, als er bei der Mordkommission angerufen hatte. Seine Zunge war wie gelähmt gewesen, und er hatte keine weiteren Fragen gestellt.
Nora Spiers war für ihn gestorben, auch wenn sie noch gelebt hätte. Die andere, die sie ihm ins Haus geschickt hatte, lag ihm jetzt im Blut. So sehr beschäftigte sie ihn, daß er nicht mehr zu arbeiten vermochte. Er war besessen von ihr. Und das war ihm bisher noch bei keiner Frau passiert. Er hatte den ganzen Tag versucht, ihren Körper aus dem Gedächtnis auf eine Leinwand zu bannen. Es war ihm nicht gelungen. Er hatte fünf Rahmen mit Leinwand bespannt und jedesmal anders grundiert. Er erinnerte sich an jede Pore ihrer Haut, doch er konnte sie nicht in Form oder Farbe umsetzen. Sie zerfloß wie ein Nebel vor seinem inneren Augen, sobald er ihren Körper skizzierte. Dann überschwemmte ihn nur noch die Woge der Erregung, die sich nicht mehr bändigen ließ. Seine Hände zitterten. Er warf fluchend den Pinsel in eine Ecke, wo er einen breiten blutroten Streifen auf der Tapete hinterließ, ehe er zu Boden klatschte. »Ich bin verhext!« knurrte John Laxton und goß sich ein Zahnputzglas voll Gin ein. »Ich zittere schon, wenn draußen Schritte die Treppe heraufkommen. Ich zerstreue mich nur noch. Ich warte auf sie, obwohl ich gar nicht weiß, wie sie heißt, wo sie wohnt, ob sie überhaupt noch einmal wiederkommt.« Er arbeitete, ohne etwas zu schaffen. So eine Bindung, das wußte er genau, war der Ruin eines Künstlers. Es war eine Abhängigkeit von der Willkür des Gefühls, ohne Liebe, nur voller Begierde, die unter der Haut brannte. Es wurde bereits dunkel. Nebenan wurde gelacht und gescherzt. Ein unbefangenes Paar, diese beiden, dachte John Laxton neidisch. Er schaute alle paar Minuten aus dem Fenster, ob sie nicht kam. Sie hatte ihm nichts versprochen, nichts gesagt, als sie ging. Er hatte es nicht einmal bemerkt, so war er berauscht gewesen von dieser Frau. So dumm hatte er sich noch nie bei einer Affäre verhalten. Immer hatte er die Zügel in der Hand gehabt.
Teufel, in was für eine Falle bin ich da geraten! Konnte er sich denn nicht wenigstens einmal in seinem Leben beherrschen? Aber Reue half ihm jetzt nichts mehr. Da er nichts anderes zu tun wußte, bereitete er wieder Sandwiches zu und setzte eine Bowle auf. Ich laufe im Kreis herum, dachte er. Ich tue Dinge, als wollte ich diese Unbekannte beschwören, wieder in mein Haus zu kommen, als zwänge ich ein Gespenst mit einem Zauber herbei. Er würde die ganze Nacht warten, falls es nötig war, ohne zu murren, ohne ungeduldig zu werden. Er setzte sich mit seinem Stuhl ans Fenster, starrte regungslos in die Dunkelheit hinaus und wartete so bis Mitternacht.
* Mildred wartete ebenfalls. Sie lag im Schlafzimmer auf ihrem Bett, ein feuchtes Taschentuch über den Augen. Sie hatte sich wieder mit Migräne bei ihrem Butler entschuldigt, und sie wäre für niemanden zu sprechen, außer für Edward Wilson junior. Tatsächlich hatte Mildred panische Angst. Edward hatte ihr versprochen, in die Villa nach Chelsea zu kommen, sobald es dunkel wurde. Er verlangte Aufklärung von ihr. Er wollte von ihr genau wissen, wie es damals zugegangen war, daß sie seinen Vater geheiratet hatte. »Laß mich bitte nicht im Stich, Edward«, hatte sie ihn angefleht, als er sie heute morgen nach Hause brachte. »Schlaf dich erst einmal aus«, hatte er erwidert. »Ich glaube, tagsüber droht dir keine Gefahr.« »Und was machst du inzwischen?« hatte sie ängstlich gefragt. »Ich gehe auf Gespensterjagd«, war seine seltsame Antwort gewesen, und dann war er wieder losgefahren, während sie ihm durch
das Schlafzimmerfenster nachstarrte. Sie liebte ihn. Oh, wie sie ihn liebte! Und wie sehr hatte sie seinen Vater gehaßt, als er herausbekam, daß er ihr Verhältnis zu seinem Sohn zerstört hatte.
* Edward Wilson junior mußte von etwas überzeugt sein, ehe er seine Unsicherheit ablegte. Dann war er so gründlich und gewissenhaft wie sein Vater. Und mindestens so zäh wie der Senior gewesen war. »Ich hoffe, Sie brauchen mich jetzt nicht mehr«, sagte er zu Chefinspektor Benskin, als sie wieder vor der modernen marmorglatten Hausfassade des »British Undertaker« standen. »Der Leichenwagen …« Edward Wilson schnitt dem Chefinspektor mit einer Handbewegung das Wort ab. »Es gibt keinen Zweifel, Chefinspektor, daß es sich um den gleichen Wagen handelt, den ich heute kurz nach Mitternacht vor dem Pestfriedhof bemerkte. Aber wenn Sie ihn auch mit der Lupe absuchen – Sie werden keine Partikel oder Stäubchen finden, mit denen Sie meine Behauptungen beweisen könnten. Sie wurden auf übersinnliche Weise entfernt. Diesen Leuten oder Spukwesen muß man anders beikommen. Da helfen wissenschaftliche Methoden nicht.« »Hm«, sagte Chefinspektor Benskin und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Ich hoffe, Sie sind jederzeit zu erreichen. Immerhin sind Sie – äh – eine wichtige Person, die im Zusammenhang mit einem mysteriösen Mordfall eine Rolle spielt.« »In zwei Mordfällen.« »Oh, diese Theorie habe ich inzwischen aufgegeben. Ihr Vater ist eindeutig das Opfer eines Unfalls gewesen. Jedenfalls gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt für das Gegenteil.« Sie standen in der Sonne auf dem Pflaster vor einem Neubau, wie er nüchterner und sachlicher nicht sein konnte. Gespenster mußten
sich hier so heimisch fühlen wie Schimmelpilze in einem Atomreaktor. Chefinspektor Benskin war der geborene Skeptiker. Er glaubte weder an die Wunder der Bibel noch an Zauberei. Sobald er mit solchen Dingen zu tun hatte, kam er sich vor wie ein Narr, der wieder an den Osterhasen glauben sollte. »Die Leiche Ihres Vaters wird spätestens heute abend freigegeben. Sie oder – äh – Ihre Stiefmutter können sie dann bestatten lassen.« »Gut, gut«, murmelte Edward Wilson, dem das glatte Lächeln des Chefinspektors auf die Nerven ging, »ich bin jedenfalls unter der Adresse von Mrs. Wilson zu erreichen. Dort können Sie eine Nachricht für mich hinterlassen. Ich hoffe nur, daß man auch Sie oder einen Ihrer Beamten jederzeit im Yard erreichen kann.« »Selbstverständlich, Sir. Der Yard hat Dienst rund um die Uhr.« »Schön, Chefinspektor.« Edward Wilson deutete mit dem Daumen auf die Filiale des Beerdigungsinstituts. »Ich würde Ihnen empfehlen, einmal nachzuprüfen, wie viele Leute dieser Laden dort in den letzten Monaten eingesargt hat. Ich würde auch ermitteln, woran diese Leute gestorben sind. Und wer diesem Laden die Leichen anvertraut.« »Amtlicherseits besteht dazu keine Veranlassung, Sir.« »Amtlicherseits«, erwiderte Edward Wilson verächtlich, »geschieht doch nur, was unbedingt sein muß. Das reicht in unserem Fall nicht aus.« Er verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken, ehe er um die nächste Gebäudeecke in der Kingsway untertauchte …
* Dr. Vincent Fry saß auf einer Bank im Bedford Square und genoß die Sonne und die Stille. Er war Historiker und verabscheute den Rummel der Tagespolitik und der Sensationspresse.
»Die Menschen machen seit fünftausend Jahren immer die gleichen Fehler«, pflegte er zu sagen. »Nur machen sie heute mehr Krach als früher.« Edward Wilson schätzte den alten Gelehrten sehr. Er hatte auf der Universität seine Vorlesungen über Geschichtsphilosophie gehört. Sie hatten ihn fasziniert und mehr gebildet und geformt als sein Fachstudium. Dr. Vincent Fry verbrachte die meiste Zeit des Tages in der Bibliothek des Britischen Museums. Mußte er das Gelesene verdauen, saß er auf dem stillen Bedford Square und schien mit halbgeschlossenen Augen zu dösen. Er hatte eine lange graue Mähne, und die Anzüge, die er trug, schienen aus dem letzten Jahrhundert zu stammen. Seine ganze Leidenschaft galt der Wissenschaft, und deswegen hatte er auch in seinem Leben keine Zeit für eine Frau oder gar eine Familie gehabt. Wer ihn in seinem zerknitterten Anzug in der Sonne sitzen sah, hätte ihn leicht mit einem Penner verwechseln können. Doch so etwas passierte nur den Banausen. Seine Studenten und ehemaligen Schüler verehrten ihn wie einen Halbgott. Edward Wilson kannte die Gewohnheiten des alten Gelehrten sehr genau. Er ging vorsichtig auf die Bank zu, wo Dr. Fry ein Nickerchen zu halten schien, und war sehr darauf bedacht, dem alten Mann nicht das Sonnenlicht wegzunehmen. Nach einer Weile blickte Dr. Fry hoch und lächelte amüsiert. »Hallo, Wilson.« Dr. Fry besaß ein phänomenales Gedächtnis, das so zuverlässig funktionierte wie ein Computer-Datenspeicher. »Sie sehen verstört aus. Bin ich gar nicht von Ihnen gewohnt. Sie haben doch einen klaren Kopf, was man nur wenigen Menschen bescheinigen kann. Wo drückt der Schuh? Setzen Sie sich zu mir. Ich vermute, es hat nichts mit Betriebswissenschaft zu tun. Sonst wären Sie kaum vor meiner Bank aufgekreuzt.« Wilson setzte sich zu dem Gelehrten in die Sonne und streckte die
Füße von sich. Dr. Fry liebte das Unkonventionelle. Mit ihm konnte man auch über alles reden. »Mein Vater ist gestern bei einem mysteriösen Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, begann Edward Wilson mit halbgeschlossenen Augen. »Sie mochten ihn, obwohl er Sie behandelte wie ein griechischer Tyrann der Antike, der sich vor seinem Nachfolger fürchtet«, stellte Fry sachlich fest. Er nahm dabei das Gesicht nicht aus der Sonne. »Und in der vergangenen Nacht beobachtete ich Lord Rosebud, als er den Pestfriedhof in Soho mit einem Taxi verließ. Das Taxi war ein Leichenwagen. Kurz darauf wurde seine Witwe, Lady Rosebud, alias Nora Spiers, ermordet in ihrem Haus aufgefunden.« Dr. Fry verzog angewidert das Gesicht. »Schauerromantik übelster Sorte. Das richtige Thema für die Boulevardpresse. Wollen Sie mich ärgern, Wilson?« »Leider ist es diesmal die Wahrheit, Professor. Ich brauche Ihren Rat und Ihre Hilfe.« »Auf dem Gebiet der Psychologie bin ich ein Laie.« »Es geht hier nicht um Wahrnehmungen. Ich denke an geschichtliche Ereignisse okkulter Art.« »Das ist etwas anderes«, erwiderte Dr. Fry mit einem feinen Lächeln. »Die Geschichte des Okkulten, zwar nur ein Randgebiet, aber immerhin. Schießen Sie los.« »Gibt es Hexen oder Zauberer?« »Das kommt auf die Definition an«, erwiderte Dr. Fry bedächtig. »Im neurotischen Sinn gibt es davon mehr als genug.« »Gab es Hexen?« »Sie spielten jahrhundertelang eine ziemlich große Rolle. Man hat sie zu Tausenden verbrannt. Ob das alles Hexen waren, wage ich stark zu bezweifeln. In den meisten Fällen waren es wohl nur Individualisten, die den Mund in der Öffentlichkeit zu voll nahmen.« »Und hier in London?«
Der Professor lachte in sich hinein. »Man hat sie hier genau so oft verbrannt oder in den Fluß geworfen wie in anderen europäischen Großstädten auch.« »Nicht weit von hier entfernt steht ein modernes Haus. Könnte es sein, daß – hm …« Wilson brach ab und kniff die Augen zu. »Ich kenne Sie, Edward. Schon als Student hatten Sie Angst, über Dinge zu sprechen, die Sie lächerlich machen konnten. Und dabei hatten Sie immer etwas Gescheites zu sagen. Also heraus damit.« »Nun gut. Könnte es sein, daß in einem Neubau eine Hexe wohnt? Und daß dieses Haus zuweilen ganz anders aussieht, als … Oh, Himmel, wie albern klingt das alles.« Dr. Fry lehnte sich weit zurück. Seine Augen blieben geschlossen, als genieße er nur die Sonne und hinge Tagträumen nach. »Ich kann Ihnen darauf, da es offenbar um ein ernsthaftes Problem für Sie geht, nur eine historische Antwort geben. Im Tower, der ja gar nicht so weit von hier entfernt liegt, waren eine ganze Menge Personen eingesperrt, denen man Hexerei zur Last legte. Aber ein modernes Gebäude hier in der Nähe … wahrhaftig, das ist starker Tobak. Und käme die Frage nicht von Ihnen, Wilson, würde ich Ihnen kaum noch zuhören.« »Ich denke, ich muß Ihnen erst einmal alles der Reihe nach berichten, Professor.« Edward schilderte sein merkwürdiges Erlebnis in der Nacht, als das Unwetter über London tobte. Er berichtete von den Puppen, der Leiche seines Vaters in dem Sarg, dem tödlichen Unfall seines Vaters und den eigenartigen Verwandlungen, die mit dem Haus vorgegangen waren, als er den Laden mit den Puppen und den Särgen wiedergefunden zu haben glaubte. Er erwähnte auch die Sache mit dem Cadillac, dem mysteriösen Schrei und den Bemerkungen der alten Dame, die offenbar die Filiale von »British Undertakers« in Kingsway führte. »Sagten Sie Kingsway?« Dr. Fry hob rasch den Kopf und blickte Wilson mit seinen klugen Augen scharf an. »Habe ich richtig
gehört? Etwa an der Ecke von Parker Street?« »Richtig.« »Samuel Pepys!« »Wie bitte?« »Ich sage ja immer, man sollte an der Schule vor allem Geschichte unterrichten. Das wäre viel wichtiger als Chemie oder die Kenntnisse der alten Sprachen.« »Ich gebe Ihnen ja recht, Professor. Aber was hat das mit Samuel Pepys zu tun?« »Sie kennen doch sein intimes Londoner Tagebuch von 1660 bis 1669, das erst vor hundert Jahren dechiffriert wurde?« »Selbstverständlich kenne ich es.« »Aber Sie haben wahrscheinlich diejenigen Teile des Tagebuchs nie gelesen, die im Archiv des Britischen Museums liegen und nie veröffentlicht wurden?« »Nein.« »Aber ich. Gehört zum Quellenstudium der Londoner Geschichte. War ja eine schreckliche Zeit für die Stadt, als Pepys sein berühmtes Tagebuch schrieb. 1665 raffte die Pest in London fast siebzigtausend Menschen hinweg. Im Jahre darauf brennen in London über dreizehntausend Häuser ab. Pepys erwähnt in diesem Zusammenhang das Haus in der Kingsway in den Teilen seines Tagebuches, die noch im Archiv liegen.« »Sie machen mich schrecklich neugierig, Professor.« »Dort wohnte eine gewisse Joan Hubbard, eine Quacksalberin, die gegen Liebeskrankheiten Zaubertränke mischte und die Zukunft voraussagte. Solche Typen findet man ja auch heute überall, ohne sie gleich als Hexen abzustempeln. Aber vielleicht ist Joan Hubbard zu einer richtigen Hexe geworden, als man ihr das Haus über dem Kopf anzündete.« »Pepys beschreibt das in seinem Tagebuch?« »Ja. Er schildert die schreckliche Brandkatastrophe vom zweiten
September 1666 in allen Einzelheiten. Alle Häuser im Viertel der Kingsway brannten ab, nur das Haus der Joan Hubbard nicht. Die Nachbarn machten die Frau für den Brand verantwortlich. Aus Haß habe sie Feuer gelegt, behaupteten sie, weil ihr Mann, der viel jünger war als sie, sich mit der Weiblichkeit in der Nachbarschaft vergnügte und sie darben ließ. Und deshalb sperrten die Nachbarn sie in ihrem eigenen Haus ein und zündeten es an.« »Die Dame kam dabei um, vermute ich?« »Pepys vermutet das auch. Aber er läßt Zweifel offen. In der Asche ihres Hauses habe man nur die verkohlte Leiche eines Mannes gefunden. Die Leute behaupteten, Joan Hubbard sei wie eine echte Hexe auf einem Besen durch den Schornstein entkommen. Und danach habe man Joan Hubbard noch öfter in der Nähe gesehen. Was später mit ihr geschah, oder was sich nun wirklich in dem Hause zugetragen hatte, weiß ich natürlich nicht. Es gibt keine historischen Belege darüber.« »Vielleicht taucht ihr Name demnächst wieder in der Zeitung auf, Professor.« Dr. Fry lachte leise. »Habe ich den Aberglauben in Ihnen wiedererweckt, Wilson, der in jedem Menschen steckt?« »Nur einen Verdacht. Und jetzt werde ich die Probe aufs Exempel machen und feststellen, was wirklich daran ist«, entgegnete Edward Wilson, erhob sich von der Bank und drückte dem Professor zum Abschied die Hand.
* »Eric«, sagte die Alte in ihrem Salon und kraulte das schwarze Meerschweinchen hinter den Ohren, »ich glaube, wir müssen Großreinemachen. Die Menschen sind heute dümmer denn je. Sie glauben nur an das, was sie sehen, riechen und anfassen können.« Die Alte kicherte höhnisch. »Aber sie ahnen etwas, und vielleicht kom-
men sie auch auf die Idee, in alten Büchern nachzuschlagen, wie man uns beikommen kann. Also sahnen wir lieber ab und verschwinden für ein Weilchen, bis man uns wieder vergessen hat. Du stimmst mir doch zu wie immer, nicht wahr, mein kleiner Eric?« Sie zwickte das Meerschweinchen ins Ohr, daß es erbärmlich fiepte, was die Alte zu ergötzen schien. Das Verhältnis der beiden war unzertrennlich, aber nicht gerade herzlich. »Der Mond wird die ganze Nacht hindurch scheinen.« Die Alte gab Eric noch einen Klaps auf das Hinterteil. »Es wird ein langes Fest. Wir werden uns mästen, daß es für hundert Jahre reicht.« Die Alte reckte sich in ihrem Salon und lachte so laut und triumphierend, daß die Puppen in den Regalen erschreckt zusammenfuhren …
* Myra Gateskill hatte das Ehebett abgezogen und die Jalousien im Schlafzimmer heruntergelassen. Sie würde nie mehr in diesem Zimmer schlafen. Das hatte sie zwar schon seit Wochen nicht mehr getan; aber mit dem Hintergedanken, daß sie dort eines Tages, wenn ihr die Villa gehören würde, mit Claud Lintwood in neuen Betten und anderen Tapeten glücklich werden würde, ohne daß der Gedanke an ihren früheren Gatten ihre Harmonie stören könnte. Doch das war ein Irrtum, wie sie jetzt einsah. Vorher hatte sie das Schlafzimmer aus Abneigung gegen ihren Mann gemieden. Jetzt hatte sie ein Grauen davor. Sie würde das Haus verkaufen. Sie mußte jede Erinnerung an George abtöten. Sie hatte geglaubt, ein Anrecht auf ihr Glück mit Claud zu haben. Und jetzt hatte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen, das mußte sie loswerden, ehe sie zu Claud Lintwood in die Wohnung fuhr. Claud war sehr lieb und rücksichtsvoll; doch er hatte kein Ver-
ständnis für trübe Stimmungen und »Grillen«, wie er das nannte, wenn sie am Morgen nach einer Nacht in seiner Studienbude zu weinen anfing, weil sie zu ihrem Mann zurückfahren mußte, um die Form zu wahren. Und jetzt, wo ihrem Glück nichts mehr im Wege stand, hatte sie plötzlich Angst. Wovor? Sie wußte es selbst nicht genau. Es war ein unbestimmtes, unwägbares Grauen, das sie überfallen hatte wie eine Krankheit. Sie mußte es loswerden. Als kleines Kind hatte eine Freundin, die ein paar Jahre älter war als sie, sie mit Geschichten von Menschenfressern erschreckt, die nachts kleine Kinder aus den Betten stahlen. Erst der Pfarrer hatte sie damals von ihrer panischen Angst befreien können. Er kam regelmäßig zu ihnen ins Haus, um nach der Mutter zu schauen, die eine Alkoholikerin gewesen war. Der Pfarrer! Sie würde in die Kirche gehen und eine Kerze für George stiften, ehe sie zu Claud fuhr. Vielleicht würde sie sogar für George beten. Schließlich war sie ja nur indirekt schuld an seinem Tod. Außerdem hatte sie aus Not gehandelt. Sie hatte ein Recht auf ihr Glück! Gott würde ihr verzeihen. Ganz gewiß. Dafür war er ja da. Und dann würde sie so unbeschwert wie immer mit ihrem geliebten Claud schlafen. Sie wollte zu Fuß gehen. Es war ganz gut, überlegte sie, wenn die Nachbarn sie dabei beobachteten, wie sie in Trauerkleidung noch abends zur Messe in die Kirche ging. Um so eher würde man ihr später verzeihen, wenn sie als junge Witwe Trost bei einem anderen Mann suchte. Die St. Georgs-Kirche war nur ein kurzes Stück von ihrem Haus entfernt, eine kleine, neugotische Kapelle inmitten eines gepflegten kleinen Parkes. Auch der Pfarrer war ein gepflegter vornehmer Mann und sprach von Gott wie von einem Aufsichtsratsvorsitzenden, der die reichen Leute gerne in den Himmel aufnahm, weil sie
ihre Sünden schon dadurch abgebüßt hatten, daß sie ihr Geld auf der Erde zurücklassen mußten. Der Mond hing niedrig über den Baumwipfeln am wolkenlosen Himmel. Ein leichter Dunst kroch durch die Zäune der Gärten und nistete zwischen den Zweigen. Eine Katze huschte über die Straße. Ein Wagen kam hinter ihr um die Ecke und fuhr ganz langsam. Myra beschleunigte ihre Schritte. Es war ungewöhnlich für dieses Viertel, daß Männer sich auf der Straße aufdringlich benahmen, wenn sie eine hübsche Frau sahen. Es schmeichelte ihr natürlich, aber wenn die Nachbarn hinter ihren Vorhängen beobachteten, wie sie in ihrer Trauerkleidung zuließ, daß man mit ihr einen kleinen Flirt anbahnte … Nein. Sie ging rascher. Sie drehte sich nicht um. Der Wagen blieb ihr immer auf den Fersen, die Straße hinunter und auch noch, als sie in die Seitengasse einbog, um den Weg zur Kirche abzukürzen. Nur ein Casanova konnte so aufdringlich sein, eine junge Frau in Schwarz zu verfolgen. Ein unverschämter Schürzenjäger, dachte Myra aufgebracht. Sie lief jetzt auf die Kirche zu, deren Kreuz über dem Portal ihr Trost und Vergebung zu versprechen schien. Und Zuflucht vor aufdringlichen Männern. Der Wagen fuhr nun auf gleicher Höhe mit ihr. Myra riskierte einen Blick zur Seite und blieb wie gelähmt auf dem Bürgersteig stehen. Es war ein schwarzer Wagen – ein Leichenwagen! Vor dem Fahrer saß ein Maskottchen auf dem Armaturenbrett. Sie selbst, als Puppe nachgebildet! Die Puppe blickte Myra an, als lebte sie und litte unter dem gleichen schlechten Gewissen wie ihr Original in Lebensgröße. Der Wagen hielt jetzt ebenfalls. Das Fenster wurde heruntergekurbelt, und die Alte, die mit ihr den Vertrag geschlossen hatte, lächelte sie an. Sie war der Fahrer dieses Leichenwagens.
»Nun, Kindchen«, sagte die Alte mit geheucheltem Bedauern, »du hast bekommen, was du wolltest. Georges Tod auf Bestellung. Und die Erbschaft. Aber deinen Liebhaber bekommst du leider nicht, Kindchen. Denn du hast den Vertrag nicht eingehalten.« »Ich …« begann Myra. Die Zunge versagte ihr den Dienst. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie war sich keiner Schuld bewußt. Aber hatte Mildred sie nicht am Telefon vor Schwatzhaftigkeit gewarnt? Außerdem wußte sie ja gar nicht, was in dem Vertrag stand. Sie hatte ihn nicht durchgelesen. »Kindchen, du kannst deine Seele nicht doppelt verpfänden. Du hast sie uns anvertraut. Und jetzt bist du auf dem Weg zur Konkurrenz.« Die Alte deutete auf die Kirchenfenster, die im Licht der Kerzen dahinter erstrahlten. »Damit hast du den Vertrag gebrochen. Der Boß ist da sehr eigenwillig. Er schickt mich zum Kassieren.« »Was – kassieren?« stammelte Myra verwirrt und entsetzt zugleich. »Die Konventionalstrafe. Dich, Kindchen.« Myra starrte die Alte an. Da war nichts mehr von der devoten Liebenswürdigkeit und der Schmeichelei, mit der sie Myra umgarnt hatte. Diese Frau beneidete sie nicht um ihre Jugend. In diesen Augen las sie jetzt nur eine abgrundtiefe Boshaftigkeit. Den Triumph einer Macht, die kein Erbarmen kennt. Myras Selbstbehauptungstrieb weckte sie aus ihrer Erstarrung. Sie spürte in diesem Augenblick, daß es nicht nur um ihr Leben ging. Und sie spürte auch, daß sie nur im Gotteshaus, das noch einen Steinwurf von ihr entfernt war, Schutz vor dieser Alten mit den roten Augen finden konnte. Sie raste los. Der Wagen folgte ihr nicht. Myra wußte nicht, daß die Alte sich nur ergötzte an diesem Spiel. Wie eine Katze, die der Maus eine Vorgabe einräumt, ehe sie losspringt und ihrem Opfer die Krallen in den Leib bohrt. Myra sah schon die Stufen vor sich, das offene Tor, den gepflaster-
ten Weg zum Kirchenportal. Nur noch drei Schritte, und sie war im Garten der Pfarrei, wo ihr diese abscheuliche Alte nichts mehr anhaben konnte. Das spürte sie instinktiv. Die Alte kicherte und packte Myras Puppe, die sie auf dem Schoß hielt. Ihre Krallenfinger krampften sich um den Hals der Puppe. Myra blieb mitten im Schritt wankend stehen. Sie griff sich an den Hals. Die Augen quollen ihr aus den Höhlen. Sie bekam keine Luft mehr, als legte sich ein eiserner Ring um ihre Kehle, der wie eine Garotte immer enger wurde. Doch da war nichts an ihrem Hals, was sie beengen konnte. Sie wollte um Hilfe schreien, aber sie bekam keinen Ton heraus. Das Blut pochte in ihren Schläfen. Dann drehte sich alles um sie herum. Und als sie ohnmächtig wurde und zusammenbrach, stieg Eric aus dem Laderaum des Leichenwagens, glitt wie ein Schatten auf sie zu, hob sie auf und trug sie auf seinen Armen zum Wagen zurück. An diesem Abend wurde John Laxton auf eine harte Geduldsprobe gestellt. »Ich bin verhext«, murmelte Laxton, während er ruhelos zwischen seiner Küche und seinem Atelier hin und her wanderte. »Ich muß mich von diesem Wesen befreien.« An Nora Spiers, alias Lady Rosebud, verschwendete er längst keinen Gedanken mehr. Ihr tragisches Schicksal ließ ihn kalt. In der Liebe gibt es keine Dankbarkeit oder Verdienste. Stirbt die Leidenschaft, ist auch der Mensch vergessen, dem diese Leidenschaft galt. Bis Mitternacht wanderte Laxton in seiner Atelierwohnung auf und ab. Dann warf er den Rest seiner Sandwiches in den Abfalleimer, goß die Bowle auf den Hinterhof und warf sich angezogen auf sein Bett. »Ich bin verhext«, murmelte er immer wieder, bis er in einen von wirren Träumen begleitete Halbschlaf fiel. Er fand sich auf einem Friedhof wieder, auf dem er seine Staffelei aufgebaut hatte. Es war ihm herzlich zuwider. Lebenstüchtige Men-
schen wie John Laxton haßten Friedhöfe wie die Pest. So empfand er es sogar in seinem Traum. Nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters war er auf einen Friedhof gegangen. Er raffte seine Malutensilien zusammen und wollte diese Stätte fluchtartig verlassen. Doch in diesem Moment öffneten sich um ihn herum die Gräber und Mausoleen, die er für antike Tempel gehalten hatte. John Laxton schloß schaudernd die Augen, denn er war auf verwesende Skelette und vermodernde Leichentücher vorbereitet. Aber statt dessen hörte er lustiges Lachen, jugendliche Stimmen, die so peppig klangen wie bei einer Reklamesendung. Es waren alles junge Männer und Frauen, und ihre Augen glänzten wie frischer Lack vor Lebenslust. Besonders die jungen Frauen sahen appetitlich aus und hatten prächtige Zähne, was John besonders angenehm auffiel. Er hatte etwas übrig für schneeweiße Zähne. Die Gestalten drängten von allen Seiten auf ihn ein und schmiegten sich an ihn. Sie waren warm, wohltuend, erregten seine Sinnlichkeit. Nora Spiers gehörte zu den Mädchen, die sich um ihn rissen, und sie hatte das schönste Gebiß und die hungrigsten Augen von allen. Er schob ein paar zudringliche Gestalten beiseite und streckte die Arme nach ihr aus. Wie hatte er sie nur so schnell vergessen können – ihren süßen Körper, ihre unersättliche Leidenschaft. Und dann schloß er die Arme um ihren Nacken und küßte sie. Ihre Lippen schmeckten nach Blut, was ihn erregte wie nie zuvor. Er wankte unter ihrem Gewicht und warf sich lachend auf den Rücken, sie mit sich zu Boden reißend. Der Boden war weich und nachgiebig wie seine Liege im Atelier. Er spürte ihre Zunge an seinem Hals und dann einen kleinen, jähen Schmerz, als sie ihn biß. Das hatte sie öfters getan, um ihn zu reizen. Doch diesmal war es anders. Der Biß war spitz, drang durch die Haut. Er spürte warmes Blut, das sie begierig in sich hineinsog. Sie ließ nicht mehr ab von seinem Hals, und das erschien ihm bedenk-
lich, weil sein Kopf plötzlich so schwer wurde, als bekäme er nicht mehr genügend Sauerstoff. Und auch ihr Gewicht auf seiner Brust nahm immer mehr zu, während sie sein Blut trank. Das war kein Traum mehr, wußte er plötzlich. Er war in einer schrecklichen, tödlichen Gefahr! Seine Lider waren wie Bleigewichte. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, die Augen zu öffnen und in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sein Fenster stand offen. Die Vorhänge wehten im Nachtwind. Der Mond zog eine silbrige Staubbahn bis zu seinem Bett. Sein Oberkörper war nackt, sein Hemd über die Hüften herabgestreift. Auf ihm hockte ein nacktes Wesen, feucht, als wäre es eben aus der Badewanne gestiegen. Er sah, wie sich ihr unnatürlich weißer Hals allmählich rosig färbte, als stiege ein Blutpegel in ihrem Körper hoch. »Nora!« schrie er. Aber er bekam keinen Ton heraus. Ihre Augen glänzten so hungrig, wie er das eben im Traum gesehen hatte. Ihr schwarzes Haar lag auf seinem Gesicht. Dann sah er die spitzen Eckzähne, die sie in seinen Hals geschlagen hatte. Sie war ein Vampir geworden, ein Nachtwesen! Dieses Monster, das auf seiner Brust hockte und ihm das Leben aussaugte, war nur noch die Hülle von Nora Spiers! Ein schrecklicher Dämon, der dennoch eine unglaubliche Sinnlichkeit in ihm auslöste! Seine Gedanken wurden träge, unkontrolliert, zusammenhanglos, wie die Mattigkeit in seinen Gliedern zunahm. Erinnerungen an Geschichten und Filme wurden in ihm wach, über die er früher nur gelacht hatte, weil er sie für dummen Aberglauben hielt. Einen Vampir kann man mit einem Kreuz vertreiben, mit Sonnenlicht verbrennen, in fließendem Wasser ertränken. Er tastete über den Tisch neben seinem Sofa, während er sich verzweifelt aufzubäumen versuchte. Dieses Wesen ließ sich nicht abschütteln, schien mit ihm zu verwachsen wie eine bösartige Ge-
schwulst. Seine Finger fanden ein angebissenes Sandwich, Zigarettenkippen, Papiertaschentücher und einen Schlüsselbund, den er der schönen Unbekannten von gestern nacht hatte geben wollen, wenn sie heute wieder bei ihm aufgetaucht wäre. Kein Feuerzeug, kein Messer und schon gar kein Kreuz oder Kruzifix fanden sich in Reichweite. Ein Kruzifix hatte er auch noch nie besessen. Er tastete nach dem Lichtschalter der Stehlampe, hatte aber keine Kraft mehr, ihn zu bedienen. Das nackte Wesen wurde schwer wie eine Marmorstatue. Rote Funken tanzten vor seinen Augen, während seine Finger sich immer noch krampfhaft bewegten wie bei einem Menschen in Agonie. Als sie endlich von ihm abließ, war er so bleich wie das Mondlicht – eine ausgezehrte fleischliche Hülle, ein Kadaver, in dem ein neuer Vampir heranwuchs, wenn er nicht rechtzeitig beseitigt wurde. Nora Spiers aber zog die Kleider, die sie bei ihrem Liebhaber hinterlassen hatte, an, nahm den Schlüsselbund vom Tisch und verließ die Atelierwohnung durch die Tür. Mechanisch schloß sie hinter sich ab, als habe sie die Gewohnheit ihres irdischen Daseins noch nicht ganz vergessen …
* Edward Wilson hatte noch am gleichen Abend eine zweite ausführliche Unterredung mit seinem ehemaligen Lehrer, Dr. Vincent Fry, der mit ihm in die hintersten Winkel des Archivs für apokryphe Schriften und Bücher in der Bibliothek des Britischen Museums vordrang und über die Hartnäckigkeit des jungen Wilson den Kopf schüttelte. Doch schließlich wurde er von Wilsons Eifer angesteckt und bekam sogar einen hochroten Kopf vor Erregung, als sein ehemaliger Schüler ein paar Entdeckungen machte, die nicht nur historisch interessant waren, sondern auch bisher verborgen gebliebene Sachverhalte aufklärten, die bis in die Gegenwart reichten.
»Sollte es wahr sein, daß diese Mrs. Hubbard nicht nur den Brand ihres Hauses im Jahre 1666 überlebt hat, sondern heute aktiver ist denn je? Unglaublich!« murmelte Dr. Fry, über verstaubte Folianten gebeugt. »Mich interessiert jetzt nur noch, was man dagegen machen kann«, sagte Edward Wilson zerstreut, über eine englische Ausgabe des »Hexenhammers« gebeugt. »Historisch ist das irrelevant«, dozierte Dr. Fry, wieder ganz der Gelehrte. »Vergessen Sie nicht, Professor, daß ich ein ganz normaler Sterblicher bleiben möchte.« »Was hält Sie davon ab, mein Junge?« »Eine ganz bestimmte Frau, wenn ich das nicht im letzten Augenblick verhindern kann.« Dann schrieb Edward Wilson junior eine lange Liste von merkwürdigen Dingen auf, ehe er sich von dem Professor verabschiedete. Anschließend telefonierte er mit Chefinspektor Benskin. »Haben Sie immer noch Order, Sir«, fragte Wilson höflich, »mich als – äh – wichtigen Steuerzahler nach Kräften zu unterstützen?« »Sir«, erwiderte der Chefinspektor steif, »ich wollte gerade nach Hause gehen.« »Sir, ich würde das an Ihrer Stelle nicht tun. Im Gegenteil. Nehmen Sie ein paar Leute und rüsten Sie sie folgendermaßen aus …« Edward Wilson junior blickte auf seine Liste und las vor, was er unterstrichen hatte. »Aber«, erwiderte der Chefinspektor leicht irritiert, »was soll das denn werden? Ein Fastnachtstreiben?« »Eine Mörderjagd, Sir. Und wenn Sie nicht zu den Opfern gehören wollen, würde ich Ihnen empfehlen, sich genau an meine Anweisungen zu halten. Also hören Sie mir zu …« Es war ein sehr langes Telefongespräch, an dessen Ende Chefinspektor Benskin den Hörer auf die Gabel knallte. »Wenn ich mich
deinetwegen noch einmal lächerlich mache, zahle ich dir das heim!« sagte Ray Benskin leise zu sich. »Aber wenn ich tatsächlich den Fang machen sollte, den du mir versprichst, werde ich noch in diesem Jahr der jüngste Superintendent von Scotland Yard sein.« Und da Benskin ein sehr ehrgeiziger Mann war, riskierte er lieber, sich lächerlich zu machen, als eine Beförderung zu versäumen. Er ließ Sergeant Roach aus der Kriminalbereitschaft zu sich kommen. »Sergeant, das wird heute eine lange und nicht ganz ungefährliche Nacht werden. Und der verrückteste Einsatz, den Sie je erlebt haben. Wichtig ist nur, daß Sie ihn überleben.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Sergeant Roach. »Worum geht es, Sir?« »Um zwei Massenmörder.« »Oh!« Sergeant Roach riß die Augen auf. »Ein neuer Fall?« »Ein uralter Fall, Roach. Wie ich soeben hörte, mindestens zweihundert Jahre lang ungeklärt.« »Oh!« Roachs Gesicht wurde eine Maske. Vermutlich hatte der Boß sich gestern in der psychiatrischen Klinik angesteckt, dachte er bei sich …
* Sie hatten verabredet, daß er dreimal klingeln sollte. Mildred Wilson hatte den Butler fortgeschickt. Sie öffnete selbst die Tür. Er war ein breiter, hoher Schatten, vom Mondlicht mit silbernen Konturen nachgezeichnet. Sie erschrak fast, wie sehr er als Silhouette seinem Vater glich. Nur die Schultern waren etwas höher und straffer. Sie zog ihn über die Schwelle in die Diele hinein. »Willkommen wieder in deinem Haus, Edward«, sagte sie leise und drängte sich an ihn. »Du darfst nie mehr fortgehen. Ich habe dich nicht aus dem Haus vertrieben, ich wollte es dir nur für immer übergeben können.
Ich liebe dich so sehr, Edward, daß ich es kaum auszudrücken vermag. Wenigstens nicht in Worten, Edward.« Er schob sie sacht von sich und blickte sich rasch in der halbdunklen Diele um. In den knapp neun Monaten, die er das Haus nicht mehr betreten hatte, schien sich nicht viel verändert zu haben. Nur die Garderobe und die Blumen in den Bodenvasen waren ihm fremd. Als er noch allein mit seinem Vater das Haus bewohnte, waren sie mit Rosen und Nelken in beliebigen Farben gefüllt gewesen. Doch er hatte Mildred nie Nelken bringen dürfen. Und sie mochte auch kein leuchtendes Rot. Er legte seinen Mantel ab und hängte ihn über den mit blauem Samt überzogenen Kleiderbügel, wie er das früher immer getan hatte. Dann sah er sie an. Sie war etwas bleich, aber begehrenswerter denn je zuvor. Ihre Brüste waren etwas voller geworden. Und ihre Augen hatten einen Glanz, den man bei Frauen eigentlich nur bewundern kann, wenn sie sich mit dem Mann, den sie lieben, vereinigt haben. Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich her in den Oberstock. Sie führte ihn in das Schlafzimmer, den schönsten Raum im Haus mit Blick auf die Terrasse und den Park. »Es ist jetzt nur noch mein Zimmer«, sagte sie. »Ich habe ein Bett schon hinausschaffen lassen.« Sie erschauerte. »Hier kannst du dich ausruhen, Edward. Ich werde mich neben das Bett setzen und deinen Schlaf bewachen, damit dir nichts passieren kann.« »Was soll mir schon passieren?« »Oh …« Sie ging nicht weiter darauf ein, zog ihm das Jackett aus, massierte ihm leicht und zärtlich die Schultern und den Nacken und bemühte sich um ihn wie eine Frau, der das Wohlergehen des Geliebten über alles geht. Es war alles so, wie es auch früher zwischen ihnen einmal gewesen war. Als ob es nie eine Ehe zwischen Mildred und Edwards Vater gegeben hätte.
Er setzte sich auf den niedrigen Stuhl neben das Bett vor den Glastisch, auf dem sie einen kalten Imbiß für ihn zubereitet hatte. Alles Delikatessen, von denen sie wußte, daß er sie gerne aß. »Wie stellst du dir das nun vor, Mildred? Meinst du vielleicht, wir könnten einfach so tun, als …« Er brach ab und blickte sie ernst an. »Ich muß gestehen, daß ich vieles nicht verstehe und nicht verstanden habe. Willst du mir nicht erklären, wie das alles gekommen ist, Mildred?« Sie goß ihm den Tee ein, den sie frisch aufgebrüht hatte. »Gern, Edward. Es blieb mir gar keine andere Wahl, auch wenn du es nicht so empfunden hattest. Dein Vater hat dich getäuscht. Nur ich kannte die Wahrheit.« »Dann weihe mich ein.« Sie setzte sich ihm gegenüber auf das Bett, und ihre grünen Augen schimmerten im Kerzenlicht wie Smaragde. »Dein Vater hatte feste Pläne, was deinen Ehepartner betraf, Edward. Du wurdest im Büro bespitzelt. Der Spitzel lieferte deinem Vater Bilder von dir und mir – wie wir uns trafen, wie wir zusammen ausruhten, wie wir uns versteckten vor neugierigen Reportern, die ihre Blätter mit neuem Stoff versorgen wollten. Immerhin – du warst ja der erklärte Erbe des Familienkonzerns. Und da ließ – vor neun Monaten dein Vater mich plötzlich zu sich kommen, während du dich auf einer Dienstreise befandest.« »Afrika?« Mildred nickte. »Warum hast du mir davon nichts gesagt?« »Ich durfte nicht, Edward. Ich konnte nicht!« »Warum nicht?« »Aus Liebe zu dir.« »Pah!« Die ganze Enttäuschung, die sich in den vergangenen neun Monaten in ihm aufgestaut hatte, drückte sich in seinem Tonfall aus. Sie stand auf und lief erregt im Zimmer auf und ab. »Du solltest
die Tochter von Henry Maxwell heiraten. Jennifer Maxwell. Sie ist gerade neunzehn geworden und noch ein unbeschriebenes Blatt. Abgesehen davon, daß sie vierzig Prozent der Aktien des WilsonKonzerns als Mitgift mitbekommt.« »Ich wurde dem Mädchen vor einem Jahr bei einem Wohltätigkeitsball vorgestellt«, erinnerte sich Edward. »Und danach?« »Meine Affäre mit dir, Mildred?« »Gut«, sagte Mildred bitter. »Du solltest zwar dein Leben genießen, aber keine festen Bindungen eingehen. Deswegen hatte dein Vater die Sache auch geduldet, wie er sich ausdrückte. Und als er befürchten mußte, daß unsere Affäre ernste Formen annehmen könnte, fühlte er sich verpflichtet, einzugreifen. Er kannte ja deinen Sturkopf.« »Er hat dich erpreßt?« fragte Edward mit dumpfer Stimme. »Er wollte dich enterben, wenn du ein mittelloses Fotomodell heiratest, aber er habe auf jeden Fall ein Mittel, uns beide auseinanderzubringen, sagte er. Ein Mittel, das seine Wirkung auf dich nicht verfehlen könne, weil er deine altmodische Einstellung kenne.« »Dann stammten die Bilder, die mir zugespielt wurden, also von ihm?« fragte Edward leise. »Ich war es, die sie dir schickte«, antwortete Mildred genau so leise. Er starrte sie an. »Diese Fotos, die dich und deinen Agenten in verfänglicher Pose zeigten, hast du mir selbst geschickt?« Sie nickte. »Diese Affäre war vor deiner Zeit, Edward. Aber du solltest glauben, sie wären entstanden, als du in Afrika warst.« »So habe ich es auch aufgefaßt.« Edwards Stimme klang gepreßt. »Es waren abscheuliche Fotos.« »Das sagte dein Vater auch. Er hatte Abzüge davon in seinem Schreibtisch, als er mich zu sich zitierte. Sein Spion hatte sie ihm beschafft. O ja, er war ein durchtriebener Geschäftsmann, der mit allen
Mitteln sein Ziel zu erreichen suchte!« Edward sah sie immer noch entgeistert an. »Du hast ihm nicht gesagt, daß du schwanger bist?« Mildred schüttelte den Kopf. »Das hätte an seinem Entschluß nichts geändert, sondern nur noch seinen Zynismus bestärkt.« »Was meinst du damit?« »Er hatte Gefallen an mir gefunden. Er war entschlossen, mich zu heiraten. Als Entschädigung gewissermaßen, denn ich hätte es doch nur auf den Reichtum der Familie abgesehen, behauptete er, und den könnte ich genießen, wenn ich ihn an deiner Stelle nähme.« »Das hat er gesagt? Unglaublich!« »Er hatte keine sehr hohe Meinung von mir, Edward. Kein Wunder also, daß ich auch keine Skrupel hatte, ihn nur als Werkzeug zu verwenden, um dir die Erbschaft zu retten und das Kind, das ich von dir bekomme. Denn als er mir das Ja-Wort abrang, stand mein Entschluß fest.« Er starrte sie an. Die Wahrheit war so ungeheuerlich, daß er sie kaum auszusprechen wagte: »Meinen Vater zu beseitigen?« Sie sah ihm in die Augen. »Ja?« erwiderte sie mit fester Stimme, »ehe dein Kind auf die Welt kommen würde, das er sonst als sein eigenes ausgegeben hätte.« »Und wenn es nun doch von ihm ist?« »Ich habe es mir schriftlich geben lassen. Vom gerichtsmedizinischen Institut, das nicht nur die Todesursache feststellen sollte. Sie mußten mir noch etwas bescheinigen …« »Was?« »Daß dein Vater gar nicht mehr in der Lage war, die Ehe mit mir zu vollziehen. Nach dem Gesetz ist die Ehe mit ihm ungültig, Edward.« Mildred hob die Arme und kam langsam auf ihn zu. »Ich bin frei, Edward. Wir können endlich heiraten!« Edward wich vor ihr zurück. »Du bist ein Ungeheuer, Mildred«, sagte er, noch wie betäubt von ihrer Offenbarung. »Deine Liebe ist
unheimlich, gewissenlos, ohne Moral und Skrupel. Ich könnte dich unmöglich heiraten nach all diesen schrecklichen Dingen, die jetzt zwischen uns stehen, Mildred.« Sie starrte ihn an, und ihr Gesicht war ein blasser Fleck am Fenster. Langsam ließ sie die Arme sinken. Sie hielt sich am Fensterbrett fest und fing an zu stöhnen: »Mutter, Mutter, hilf mir! Bitte!« Und dann zuckte ein Blitz vom Himmel und überzog das Zimmer mit einem düsteren, schwefelgelben Licht. Die beiden Kerzen, die auf dem Glastisch standen, flackerten unruhig, obwohl das Fenster und die Terrassentür geschlossen waren und kein Luftzug durch den Raum gehen konnte …
* Einen Moment war es totenstill. Dann kamen leise, schlurfende Geräusche durch den Garten. Auch unten in der Diele knisterte und knackte es, als würde das Holz lebendig und wehrten selbst die Wände sich gegen das Ungeheuerliche, das sich nun Zutritt verschaffen wollte. Wieder zuckte ein Blitz hernieder, und das Knacken draußen wurde zu einem knarrenden Poltern, als materialisierte sich etwas, bekam Gewicht und näherte sich der Schlafzimmertür. Die Kerzenflammen neigten sich dem Fenster zu, als hätten sie ihr eigenes Leben, und die Klinke bewegte sich lautlos, und die Tür schwang nach innen. Eine Frau stand auf der Türschwelle. Ihre Augen funkelten rötlich im Mondlicht und im gespenstischen Schein der Kerzen. Sie spielte mit einer Perlenkette, die sie um den Hals trug. »Ich habe dich gewarnt, Mildred«, sagte sie mit einer zänkischen, aber auch anteilnehmenden Stimme. »Ich sagte dir gleich, daß man sich nicht an einen Mann hängen soll. Man muß sie beherrschen, sonst ist kein Verlaß auf sie.« Sie trat ins Zimmer. Als sie am Spiegel vorbeikam, bemerkte Ed-
ward Wilson, daß die Alte weder einen Schatten warf, noch ein Spiegelbild erzeugte. Dasselbe galt für das schwarze kleine Tier, das hinter ihr über die Schwelle huschte und das Edward in der Nacht zuvor für eine Ratte gehalten hatte. Jetzt aus der Nähe erkannte Edward, was es wirklich war – ein schwarzes Pelztier mit einem Gesicht, das irgendwie an einen Schrumpfkopf der Papuas erinnerte. Statt Tatzen, wie man sie bei einem Nagetier erwartete, besaß dieses Wesen winzige Hände und Füße wie eine menschliche Frühgeburt. »Eric«, sagte die Alte gebieterisch zu dem unheimlichen Wesen, »paß auf, daß er keine Dummheiten macht, bis wir mit ihm fertig sind!« Sie deutete auf Edward Wilson, und Eric, der nun tatsächlich aussah wie eine überlebensgroße Ratte, entblößte die spitzen Reißzähne und kauerte sich auf dem Teppich sprungbereit zusammen, die tückischen Augen auf Edward gerichtet. »Ich hatte dich gewarnt, Mildred«, wiederholte die Alte, diesmal mit einem mitleidigen Unterton, »daß du mit dem Gewissen der Menschen rechnen mußt, wenn du als Mensch unter ihnen leben willst.« Edward Wilson stand wie gelähmt an der Wand und beobachtete abwechselnd die Alte und das bösartige unheimliche Wesen auf dem Teppich. Mildred schluchzte leise und verbarg das Gesicht in den Händen, als habe sie etwas erfahren, das ihr jede Kraft und Zuversicht nahm. »Sollen wir ihn in unsere Familie aufnehmen?« fragte die Alte lauernd. »Nein!« Mildred schrie es fast heraus. »Schade, mein Kind, aber dann müssen wir sein irdisches Dasein sehr rasch beenden. Dein Bräutigam weiß zuviel, Mildred.« »Das ist richtig, Mrs. Joan Hubbard«, sagte Edward und war selbst davon überrascht, wie fest seine Stimme klang. Die Alte sah ihn an. In ihren roten Augen spiegelten sich die Kerzenflammen. Sie schüttelte bekümmert den Kopf, daß ihre weißen
Löckchen ganz durcheinanderkamen. »Auch eine Hexe möchte, daß ihre Tochter glücklich wird«, sagte sie. »Niemand kann etwas für seine Abkunft. Auch du nicht, Mildred. Aber er weiß jetzt, wer ich wirklich bin, und nun gibt es keine andere Möglichkeit mehr. Wir müssen ihn in unsere Familie aufnehmen.« »Nein!« Die Alte schüttelte den Kopf, als habe sie es mit einem störrischen Kind zu tun. »Du wolltest ihn haben. Nun sollst du ihn auch bekommen.« »Ich wollte ihn als Mensch haben! Ich will auch bleiben, was ich bin!« rief Mildred. Sie war ganz außer sich. »Dann hättest du es anders einfädeln müssen, meine Tochter«, sagte die Alte und schritt im Zimmer auf und ab. »Du wolltest alles auf einmal haben, und das war zuviel. Auch wir Hexen haben unsere Grenzen, Mildred.« »Nein!« Mildred krümmte sich wie ein getretener Wurm. »Du wolltest die Liebe der Menschen erleben – das einzige, was ihr erbärmliches Leben mit einem Funken von Würde und Glanz umgibt. Doch gleichzeitig wolltest du die Brücken zu uns abbrechen, deinen Eltern. Du hast das Dämonische und das Menschliche gegeneinander aufgeboten und ein schreckliches Durcheinander angerichtet.« »Nein«, schluchzte Mildred, »ich wollte nur glücklich sein. Glücklich mit ihm!« »Das kannst du auch als Vampir, Kindchen. So wie Eric und ich, nicht nur ein erbärmliches Menschenleben lang. Wir haben uns sehr, sehr lange. Bis zum Jüngsten Tag. Aber die Menschen lieben sich nur kurze Zeit.« »Nein!« Die Alte seufzte. »Kinder sind immer unbelehrbar, wenn sie verwöhnt sind. Ich habe alle deine Wünsche erfüllt, Mildred. Doch nun
mußt du dich entscheiden. Entweder folgt er seinem Vater in den Tod, oder er gehört dir als Wesen der Nacht.« »Er liebt mich nicht mehr«, schluchzte Mildred verzweifelt. Die Alte blieb stehen und lachte schrill. Es klang wie eine Erleichterung. »Kindchen, warum sagst du das nicht gleich? Du bist schön und jung. Du kannst jeden Mann haben! Sie taugen sowieso nicht viel. Und er gefällt mir so, wie er ist. Ich nehme ihn zu mir in die Gruft …« Langsam kam sie auf Edward Wilson zu. Zum erstenmal bemerkte Edward die langen spitzen Eckzähne im Oberkiefer der Alten, die sie bisher so gut zu verbergen gewußt hatte. Mit einem Sprung rettete sich Edward zur Tür und flüchtete hinaus in das Treppenhaus. Aber dort warteten sie bereits auf ihn …
* Sie waren alle unten in der Halle versammelt – die ganze »Familie«. Ein Hauch von Kälte ging von diesen Wesen aus, obwohl sie zu fiebern schienen vor Gier und Verlangen. Edward Wilson blieb wie versteinert auf dem Treppenabsatz stehen. Er kannte sie alle. In jener Nacht, als er sich in den Laden von Joan Hubbard verirrte, hatte er sie als Puppen auf den Regalen stehen sehen. Lady Rosebud, alias Nora Spiers, die naive Myra Gateskill, der athletische ihn Laxton und Claud Lintwood, der Student und Geliebte von Myra Gates-Kill, der sich in den Türrahmen drückte, als habe er sich noch nicht richtig eingewöhnen können in dieser Gemeinschaft der Verdammten. Sie standen am Fuß der Treppe und starrten zu ihm hinauf, wie eine Meute Bluthunde. Da Edward nicht mehr ins Freie entkommen konnte, wich er zurück bis zur Bodentreppe, die unholden Geschöpfe nicht aus den
Augen lassend. Und da kamen sie der Reihe nach zu ihm herauf, allen voran John Laxton, in dessen weit aufgerissenen glänzenden Augen keine Erinnerung mehr war an die Persönlichkeit, die zu seinem Körper einmal gehört hatte. Edward Wilson griff in die Tasche und holte das kleine Kruzifix heraus, das früher einmal seiner Mutter gehört hatte. Als der Vampir in John Laxton ihm an die Kehle springen wollte, streckte Edward blitzschnell den Arm mit dem Kruzifix vor. John Laxton fauchte wie ein Raubtier, dem plötzlich das Fallgitter den Ausweg versperrt. Auf seiner Stirn brannte sich das kleine Kruzifix ein, als bestünde es aus weißglühendem Eisen. Der Dämon wich zurück und versperrte den weiblichen Vampiren den Weg zu ihrem Opfer. Unter der Schlafzimmertür stand die alte Dame mit den Silberlöckchen, die die Filiale von »British Undertakers« in Kingsway verwaltete. Sie sah sehr distinguiert aus wie eine Managerin in einem Modesalon, doch aus ihren Augen leuchtete der gleiche Heißhunger wie bei den anderen Dämonen. Aber sie war noch kein Vampir, sondern immer noch ein menschliches Geschöpf, das sich nur dem Bösen verschrieben hatte. »Eric«, befahl sie und schnippte mit den Fingern. Die kleine schwarze Bestie mit den winzigen Menschenhänden und -füßen huschte aus dem Zimmer heraus. Die dunklen Augen auf den Boden gerichtet, damit es das Kruzifix nicht sehen mußte, hüpfte es auf die Bodentreppe zu. Dann sprang es auf das Geländer und turnte behende wie ein Affe daran empor. Schließlich landete es mit einem Satz auf Edward Wilsons Schulter und schlug seine spitzen Zähne in dessen rechten Arm, der das Kruzifix hielt. Das geschah alles so schnell, daß Edward Wilson keine Chance zu einer Abwehrbewegung bekam. Wilson versuchte nun, das höllische Tier abzuschütteln. Es besaß die Kräfte eines Riesen. Edward verlagerte das Kruzifix von der
rechten in die linke Hand und drehte es so, daß die Bestie es sehen mußte. Doch Eric, der Gehilfe der Hexe, die dort unten bei der Schlafzimmertür stand und das schreckliche Wesen durch Zurufe anfeuerte, kam seiner Bewegung zuvor. Es kletterte an Edwards Rücken hinunter und verbiß sich dort. Edward schrie auf. Das Wesen war schlimmer als ein Vampir. Die Untoten sprungbereit vor sich, das höllische Raubtier im Rücken, gab es für Edward Wilson kein Entrinnen mehr. Die Hexe sah es und kicherte triumphierend. »Noch hast du die Wahl, mein Junge«, rief sie zu ihm hinauf. »Entweder wirst du ein Nachtwesen wie die anderen, mit all den Freuden, die den Vampiren beschieden sind, oder Eric verspeist dich bei lebendigem Leib. Ich denke, du wirst das ewige Leben eines Vampirs vorziehen, nicht wahr?« Edward Wilson gab keine Antwort. Er warf das Kruzifix John Laxton ins Gesicht, der wieder zu einem Sprung auf seine Kehle ansetzen wollte. Diesmal war die Wirkung schlimmer als vorhin. Das Gesicht des entmenschten Wesens zerfloß wie Wasser unter dem geweihten Kreuz, das an der Wange des Vampirs hängenblieb. John Laxton schlug die Hände vor das Gesicht, taumelte gegen das Treppengeländer und kippte darüber hinweg. Er überschlug sich in der Luft und schlug unten auf den Marmorfliesen in der Halle auf. Dort erhob sich das unholde Wesen wieder, als sei es nur auf eine Gummimatte gefallen, und kam mit verrenkten Gliedern und zerfleischtem Gesicht erneut die Treppe herauf. Diesmal kroch er auf allen vieren. Da zog Edward Wilson verzweifelt die Pistole aus seiner Tasche, die er sich erst vor ein paar Stunden besorgt hatte. Und die silbernen Kugeln, mit denen der Revolver geladen war, hatte er sich von einem Juwelier gießen lassen, den er gut kannte und der kopfschüttelnd seinem Wunsch nachgekommen war, weil reiche Leute ja oft die verrücktesten Einfälle hatten.
»Zur Hölle mit euch allen!« schrie Edward und schoß das Magazin leer. Doch ehe noch die letzte Kugel aus dem Lauf war, drehte sich die Waffe in seiner Hand wie durch Zauberei nach innen. Edward Wilson bot seinen ganzen Willen auf, um die Waffe wieder in die alte Richtung zu lenken. Vergeblich. Er sah noch den Rauch, der sich von seinem letzten Schuß aus dem Lauf kringelte, ehe er erneut abdrückte. Er fiel nach vorn, auf die Fratzen der Vampire zu, und stürzte in die Tiefe eines Brunnens, aus dem es kein Entrinnen mehr für ihn gab …
* Chefinspektor Benskin und Sergeant Roach, die Edward Wilsons Hinweise nicht so ernst genommen hatten, kamen zu spät. Als sie die Villa in Chelsea durchsuchten, war der letzte Schuß bereits gefallen. Sie rochen nur noch das verbrannte Kordit, nachdem sie die Tür eingetreten hatten, aber das Drama selbst war bereits vorüber. Sie nahmen eine sehr gründliche Untersuchung vor, die nach streng bewährten Regeln verlief. Sie fanden eine in Tränen aufgelöste junge Witwe – Mildred Wilson –, die sich über die Leiche ihres »Stiefsohnes« beugte, der sich mit einem Kopfschuß offensichtlich selbst gerichtet hatte. Man fand auch vier plattgedrückte Kugeln in der Wand des Treppenhauses und eine Kugel in der Füllung der Schlafzimmertür im ersten Stock. Außer Mildred Wilson gab es keinen lebenden Zeugen des Dramas im Haus, der Mildred Wilsons Aussage vielleicht widersprechen konnte. Keine Spur von einer Hexe, von Vampiren oder einem schwarzen dämonischen Tier, das der Hexe als Gehilfe und Überwachungsorgan vom Teufel zugeordnet worden war, wie Edward Wilson sich noch vor ein paar Stunden am Telefon ausgedrückt hatte, als er Ben-
skin um Hilfe bat. Angeblich hatte er Benskin den »Mörder seines Vaters« ausliefern wollen und ihn deshalb aufgefordert, noch in der Nacht in die Villa seines Vaters nach Chelsea zu kommen. Natürlich hatte das Ganze ein gerichtliches Nachspiel vor dem Coroner, wie der Untersuchungsrichter heißt, der sich mit allen Mordfällen in der Voruntersuchung befassen muß, wozu natürlich auch Selbstmorde gehören. Er war ein vielbeschäftigter Mann, da in Zeiten der Depression die Selbstmordrate rapide zunimmt. Als Mildred Wilson in dem Zeugenstand saß, die in kurzer Zeit nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Stiefsohn verloren hatte, machte sie einen sehr guten Eindruck in ihrem schwarzen Kostüm und dem Hütchen mit dem Schleier, der ihr Gesicht bis zum Kinn verdeckte. »Nun erzählen Sie mal, Mrs. Wilson, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte.« »Edward war verrückt«, begann Mildred mit stockender Stimme. »Er litt an Verfolgungswahn. Er faselte viel von einer Hexe, von wandelnden Leichen und den mörderischen Absichten dieser Gespenster auf sein Leben. Deswegen wurde er ja auch in die psychiatrische Klinik gebracht. Er glaubte, er habe ein Anrecht auf mich, da ich früher mit ihm befreundet gewesen war. Doch dann heiratete ich seinen Vater. Das hat er nie überwunden.« »Hm, das kann ich mir denken, Mrs. Wilson.« Diese Familienverwirrungen gingen den Coroner nichts an. Er mußte sich auf die Umstände der Tat beschränken. »Die Polizei fand mehrere Einschüsse im Haus. Wie erklären Sie uns das?« Mildred Wilson senkte den Kopf. Sie sah sehr rührend aus und hilfsbedürftig. Und sehr leidgeprüft. »Er bedrängte mich, daß ich ihn jetzt heiraten sollte, da sein Vater ja tot sei. Bedenken Sie, Herr Richter, als Witwe seines Vaters sollte ich den Sohn heiraten! Ich
wies ihn natürlich ab. Schließlich gehörte dieser Antrag ja auch zu den verrückten Symptomen, die ich Ihnen bereits schilderte.« Sie stockte und setzte leise hinzu: »Er behauptete, ich sei von ihm schwanger. Von ihm, Herr Richter!« »Waren Sie das?« »Nein, Herr Richter, wo denken Sie hin! Es war nur ein Symptom seiner Verrücktheit.« »Hm – schildern Sie uns nun die letzten Minuten vor dem Ende von Edward Wilson, Mrs. Wilson.« »Er drohte, mich zu erschießen, wenn ich seinen Antrag nicht annehmen wollte. Ich lief von ihm weg und wollte mich verstecken. Er schleppte mich dann gewaltsam die Bodentreppe hinauf. Es gelang mir, mich loszureißen. Er schoß, traf mich aber nicht. Dann muß er eingesehen haben, daß er mich zu nichts zwingen könne, setzte die Pistole an seinen Kopf und drückte ab. Ich weiß es aber nicht genau. Ich habe es nicht beobachtet. Ich war im Schlafzimmer. Ich konnte mich ein zweitesmal dahin flüchten und habe die Tür hinter mir abgesperrt.« »Ein Geschoß steckte in der Türfüllung des Schlafzimmers, Euer Ehren«, bestätigte Chefinspektor Benskin die Aussage der Witwe. »Hm«, meinte der Vorsitzende, »aber mit silbernen Kugeln? War das nun wirklich nicht ein bißchen – verrückt?« »Das sage ich ja«, gab der Chefinspektor zurück. »Er war verrückt. Ich stimme in diesem Punkt mit der Zeugin vollkommen überein.« »Was sagen Sie dazu, Mrs. Wilson?« fragte der Coroner die trauernde Witwe von Mr. Edward Wilson senior. »Er sagte, ein Wilson dürfe nicht an einer gewöhnlichen Bleikugel sterben«, erwiderte Mildred mit stockender Stimme. »Paßt alles zusammen, Euer Ehren«, murmelte Chefinspektor Benskin. »Tja«, sagte der Coroner, »ich denke, damit ist dieser Fall geklärt. Mr. Edward Wilson junior hat sich in einem Augenblick geistiger
Umnachtung selbst den Tod gegeben. Hiermit ist die Sitzung geschlossen.«
* Mildred Wilson hatte ihr Ziel fast erreicht. Sie war unermeßlich reich, reingewaschen von jedem Verdacht des Verbrechens und schön und begehrenswert, daß sie sich die besten Partien in der feinsten Londoner Gesellschaft aussuchen konnte. Daß sie ihre Liebe zu Edward vor Gericht geleugnet hatte, war die verständliche Rache einer zurückgewiesenen Frau. Aber es hatte auch mit ihrer Mutter, Joan Hubbard, zu tun, die sie als Hexe nicht bloßstellen wollte. Schließlich verband sie das gemeinsame Erlebnis einer enttäuschten Liebe. Als sie nach der Verhandlung in die Villa in Chelsea zurückkehrte und sich auf ihr Bett im Schlafzimmer niederlegen wollte, weil sie wieder einmal an Migräne litt, meldete sich der Butler bei ihr. Er war ein recht passabel aussehender junger Mann, gehörte aber nicht zu den guten Partien, die Mildred Wilson vielleicht vorschwebten. Trotzdem war er recht selbstbewußt, ja sogar unverschämt, als er in ihr Schlafzimmer eindrang, ohne anzuklopfen. »Henry, was erlauben Sie sich!« sagte Mildred entrüstet. »Oh, Madam«, sagte der Butler mit einem hinterhältigen Lächeln, »ich denke, wir beide würden ein gutes Paar abgeben.« Mildred Wilson starrte ihn entgeistert an. »Sind Sie verrückt geworden?« »Genau so wenig verrückt wie mein bedauernswerter junger Herr Wilson, Madam. Ich würde auch den Senior noch in mein Bedauern einschließen, aber ich hatte den Tyrannen nie ausstehen können. Doch seine Witwe gefällt mir. Ganz ohne Frage.« »Verlassen Sie sofort das Zimmer, Henry!« Der Butler schüttelte den Kopf. Und dann holte er das Ding her-
vor, das er auf dem Rücken versteckt gehalten hatte, als er ins Schlafzimmer trat. Es war eine kleine Puppe, ohne Zweifel eine Nachbildung von Edward Wilson junior. Keine sehr kunstvoll angefertigte Puppe, aber sie hatte ihren Zweck erfüllt. »Wissen Sie«, sagte Henry, und sein Lächeln wurde zu einer höhnischen, überlegenen Fratze, »ich bin nicht so gebildet wie die Herrschaften, mit denen Sie bisher verkehrten, Mrs. Wilson. Aber meine Mutter erzählte mir als Kind eine Menge Geschichten von Gespenstern, Hexen und Zauberern. Sie sind mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben.« »Was wollen Sie damit sagen, Henry?« »Nun, Sie wissen, daß sie mich in jener Nacht, als sich der bedauernswerte Junior, Ihr Stiefsohn, erschoß, beurlaubt haben.« »Ja, aber …« »Ich ging nicht in einen Pub, um mich zu betrinken, sondern erhielt von einer älteren Dame, die mich draußen vor der Villa erwartete, zweihundert Pfund in bar.« »Henry, ich …« »Lassen Sie mich erst aussprechen, Mrs. Wilson«, fuhr der Butler fort, als habe er schon das Sagen in diesem Haus. »Ich wurde von dieser alten Dame gebeten, mich in eine Filiale der ›British Undertaker‹ in die Kingsway zu begeben und dort auf weitere Anweisungen zu warten, die mir telefonisch übermittelt werden würden. Es war eine sehr merkwürdige Anweisung, aber ich befolgte sie genau. Gehen Sie in den Keller, hatte die Dame zu mir gesagt, dort finden Sie eine Puppe in einem Regal. Daneben liegt ein Revolver. Schießen Sie der Puppe eine Kugel durch den Kopf, wenn ich Sie anläute.« »Ich fand die Puppe«, fuhr der Butler fort, »als ich in den Keller des Beerdigungsinstitutes ging, wie es mir angeschafft worden war. Als ich sie mir bei Licht betrachtete, sah ich, daß sie aussah wie Ihr Stiefsohn, Edward Wilson junior.« Der Butler drehte die kleine Puppe zwischen den Händen und
deutete auf das Loch in deren Kopf. »Ich bekam meinen Anruf und führte die Anweisung aus. Ich schoß diesem Ding eine Kugel durch den Kopf. Warum auch nicht? Schließlich war es nur eine Puppe.« Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Doch als ich dann am nächsten Morgen von dem Tode des jungen Herrn erfuhr, kamen mir Bedenken. Und ich erinnerte mich an die vielen Hexengeschichten, die mir meine Mutter als Kind erzählte. Ich erinnerte mich auch an die Gewalt, die Hexen über einen Menschen gewinnen können, wenn sie ihn als Puppe nachbilden und dabei irgendeinen Bestandteil seines Körpers darin verarbeiten – einen Fingernagel, ein Stück Haut oder ein paar Haare.« Der Butler warf die Puppe auf das Bett neben seine junge Herrin. »Ich befolgte die Anweisungen, die ich telefonisch erhielt. Ich erschoß eine Puppe, aber in Wirklichkeit tötete ich damit meinen jungen Herrn. Mein Gewissen drückt mich sehr, und dafür möchte ich auch eine Entschädigung haben. Und damit Sie nicht glauben, daß Sie mich genau so verhexen können wie meine früheren Herrschaften, habe ich auch den Revolver mitgebracht, den ich im Keller des Bestattungsinstitutes vorfand. Er ist mit silbernen Kugeln geladen, um allen Eventualitäten vorzubeugen. Und ich bin sicher, wenn Sie meinen Antrag ablehnen, daß ich Ihnen auf der Stelle eine Kugel durch Ihren hübschen Kopf jagen würde, ohne daß mir etwas passiert.« »Henry!« »Denn …«, unterbrach er sie brutal, »die Polizei würde keine Leiche im Haus finden. Sie würde nichts finden, nicht einmal die Abdrücke Ihres Körpers auf dem Bett. Denn Hexen lösen sich spurlos in ein Nichts auf, wenn man sie mit einer geweihten silbernen Kugel tötet.« Und so kam es, daß Mildred Wilson nach der Affäre mit Edward Wilson junior, der kurzen Ehe mit Edward Wilson senior am Ende
noch den Butler des Hauses heiratete, was die Londoner Gesellschaft sehr verwunderte. Ob sie dabei glücklich geworden sind, wissen wir leider nicht zu sagen … ENDE
Poker mit dem Satan von Frederic Collins »Black Mirror« hieß die heruntergekommene, verrauchte Kneipe von El Paso in Mexiko. Und die Hauptattraktion des Hauses war tatsächlich ein riesiger, schwarz glänzender Spiegel. Doch daß jener schwarze Spiegel mehr war als nur Blickfang, erfuhr Captain Bill Scranton auf dramatische Weise, als er nach El Paso kam, um im Auftrag des FBI eine Schmugglerbande aufzureiben. Denn der Spiegel barg ein höllisches Geheimnis – und den Geist eines ermordeten Pokerspielers. Bill Scranton interessierte sich für das Geheimnis, und das kam ihn teuer zu stehen. Er geriet in ein Abenteuer, aus dem er scheinbar nicht mehr herauskommen sollte …