„Whitley Strieber ist wohl der originellste Vertreter der neuen Horrorautoren." PETER STRAUB
Titus und Patricia sind da...
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„Whitley Strieber ist wohl der originellste Vertreter der neuen Horrorautoren." PETER STRAUB
Titus und Patricia sind dazu auserkoren, den Sohn Satans in die Welt zu setzen und die Herrschaft der „Kirche der Nacht" zu etablieren . . . Whitley Strieber beweist mit diesem Thriller einmal mehr, dass er zu den Spitzenautoren der amerikanischen Horror-Literatur zählt.
Von Whitley Strieber sind bisher als Heyne-Taschenbücher erschienen: »Die Besucher« (Band 01/7789) »Katzenmagie« (Band 01/7666) »Die Kirche der Nacht« (Band 01/7888) »Der Kuss des Todes« (Band 01/7828) »Schwarzer Horizont« (Band 01/8265) »Todesdunkel« (Band 01/8179) »Transformation« (Band 01/8385 in Vorbereitung) »Wolfsbrut« (Band 01/8076)
WHITLEY STRIEBER
DIE KIRCHE DERNACHT Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/7888
Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE NIGHT CHURCH übersetzt von Ronald M Hahn
5. Auflage Copyright © 1983 by Wilson & Neff, Inc. Copyright © der deutschen Übersetzung 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München Printed in Germany 1995 Umschlagzeichnung: Hiroko Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: IBV Satz und Datenmechanik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-03313-2
Für Bruder Edwin
Ich möchte Patricia Soliman danken, ohne deren Einsicht und Verständnis ich dieses Buch nie gewagt hätte.
Prolog August 1963 Es war eine regnerische Nacht in Queens. Kew Gardens war still; die einzigen Geräusche auf der Beverly Road waren der gemächlich tröpfelnde Regen, das gelegentliche Rauschen von Reifen auf dem glatten Asphalt oder das eilige Platschen von Füßen auf dem Gehsteig. Ein Mann, in einen Regenmantel gehüllt, die Augen von einem Hut beschattet, kam rasch des Weges. Als er stehenblieb und den Kopf hob, um ein Straßenschild zu entziffern, zeigte sich sein Gesicht. Es war bleich und faltig, wie eine abgetragene Maske. Runzeln umrahmten einen kleinen Mund und grüne, ironisch-kalte Augen. Er schaute in ein Notizbuch. Dann näherte er sich der Eingangstür eines bestimmten Hauses. Man hatte es sorgfältig ausgewählt; die Leute, die in ihm wohnten, waren erst vor wenigen Wochen aus einem anderen Bundesstaat gekommen. Ihr kleiner Sohn hatte die Konfessionsschule der Heiligen-Geist-Gemeinde noch nicht betreten; noch hatten sie ihn gar nicht angemeldet. Für gewisse Leute waren die Cochrans eine demographische Merkwürdigkeit von äußerst speziellem Interesse, denn außer sich selbst hatten sie keine Verwandten, und sie waren gerade erst neu zugezogen. Sie waren völlig allein. Der Alte betätigte die Klingel nicht; er hielt nicht einmal auf der Veranda inne. Vielmehr warf er einen Blick über seine Schulter und glitt dann um die Hausecke, wo er sofort in den Schatten untertauchte. Er bewegte sich schnell; das Vorgehen hier war sorgfältig geplant. Und es war gefährlich. Hin und wieder besaßen Leute von der Art der Cochrans Schusswaffen; und manchmal riefen sie die Polizei an. Sie verstanden es nie. Sie widersetzten sich immer. Franklin Titus nahm die Kellertür in Angriff. Im Inneren des Hauses wurde es 21.30 Uhr. Die Zeit verging. Letty Cochran hatte Klein-Jerry zu Bett geschickt. George und sie machten es sich bequem, um sich die zweite Hälfte der GarryMoore-Show anzusehen. »Mama?« Frank Fontaine setzte gerade dazu an, >Maytime< zu singen; Letty hatte im selben Moment die Augen geschlossen. Sie seufzte.
»Warum bist du nicht im Bett, Liebling?« »Im Haus ist jemand.« George steckte sich eine Zigarette an. Er rührte sich nicht. Letty stand auf und ging zu ihrem Jungen. Sie machte sich Sorgen. Jerry war kein ängstliches Kind. Er war ein Draufgänger. Als sie sah, wie er mit seinen großen Augen, die voller unschuldiger Furcht waren, vor ihr stand, empfand sie große Zuneigung und Liebe zu ihm. »Nur wir sind hier, Liebling.« »Da ist ein Mann. Er kam gerade aus dem Keller, aber als ich ihn sah, ist er in die Vorratskammer zurückgegangen.« Seine Furcht war nicht aus der Luft gegriffen. Jerry war entsetzt. »Na schön, Jerry, dann wollen wir mal sehen, ob wir ihn verscheuchen können.« Jerry folgte Letty in den Korridor und zupfte an ihrem Ärmel. »Nein, Mama, geh nicht da rein. Da war wirklich einer. Ich habe nicht geträumt.« »Jerry-Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?« Bevor er antworten konnte, hörte Letty ein Geräusch. Es kam aus dem Keller ein kurzes, erbittertes Wort, wie ein Fluch. Sie nahm den Jungen in die Arme. »George! Ich glaube, Jerry hat recht. Da ist jemand im Keller.« Ihr Mann war sofort neben ihnen, und seine große Hand legte sich auf Lettys Schulter. »Ich schau' mal nach. Wahrscheinlich ist es eine Katze.« Er öffnete die Kellertür, langte in die Finsternis hinein und drehte die Glühbirne fest, die über den Treppenstufen hing. »Da unten ist nichts.« »Ich habe ganz deutlich etwas gehört.« »Ich geh' mal runter.« Sofort als er dazu ansetzte, die Treppe hinunterzusteigen, fühlte Letty sich von einer dunklen Vorahnung gepackt. Furcht kämpfte gegen Vorsicht; sie wollte zwar in Georges Nähe bleiben, aber nicht die Treppe hinuntergehen. »He«, sagte er, »ihr zwei habt ja wirklich Angst!« Er streckte die Arme aus und nahm Jerry. »Komm her, Großer, wir sehen uns mal um.« Als er schwerfällig nach unten ging, wankte er unter dem Gewicht des Neunjährigen von einer Seite zur anderen. »Daddy, nicht! Ich will nicht mit!« Erkannte er denn nicht, dass er den armen Jungen nur noch mehr in Furcht versetzte? Letty ging hinter ihnen her; ihr Herz war ganz auf Jerrys Seite. »George-Schatz, lass ihn doch...«
»Ich weiß schon, was ich tue!« George war erst vor einem Monat aus Vietnam zurückgekommen. Er war der Ansicht, dass sie ihren Sohn während seiner Abwesenheit verwöhnt hatte und dass der Junge verweichlicht war. Der gemächliche George war mit einem schweren seelischen Schaden und einem finsteren, brütenden Innenleben zu ihr zurückgekehrt, was Letty inzwischen zu fürchten gelernt hatte. Der Krieg hatte ihn verletzt; seine Wunden waren für seine Frau und seinen Sohn an jeder Stelle fühlbar. Er setzte den Jungen neben dem alten schwarzen Koksofen ab. »Na siehst du, Junge, hier ist niemand; nicht mal hinter dem Ofen. Der Keller ist leer.« Jerry antwortete nicht; er schaute nur auf. Letty folgte seinem Blick. Sie verfielen alle drei in Schweigen. Die über ihnen befindlichen Dielenbretter wölbten sich unter einem Gewicht nach unten. Jemand ging auf leisen Sohlen von der Küche ins Wohnzimmer. Die Schritte hielten vor dem Fernsehapparat an. »Hör dir das an, George!« »Halt die Klappe!« Garry begann gerade mit dem Unterhaltungsteil der Sendung. Seine Stimme brach ab. Der Fernseher war ausgeschaltet worden. »Was zum Teufel...« George ließ Letty und Jerry stehen und nahm jeweils drei Treppenstufen auf einmal. Nun war auch Letty entsetzt. Sie packte den Arm ihres Sohnes und eilte hinter George her. Das Wohnzimmer war leer. George stand vor dem Sofa und starrte den alten DuMont-Fernseher an. Er war ausgeschaltet. »Was, zum Teufel, geht hier vor? Soll das ein Scherz sein?« »Sollten wir nicht lieber die Polizei anrufen?« »Und weswegen? Weil jemand unseren Fernseher abgeschaltet hat? Die werden sich freuen.« Er schaltete ihn wieder an. Das Gerät brauchte eine Weile, um wieder warm zu werden. Doch als es soweit war, zischte es nur und zeigte Schnee. George drehte den Schalter. Nichts. Er fand keinen Sender. »Das verdammte Ding ist kaputt«, murmelte er. »Ein saudämlicher Scherz!« Es fiel Letty nicht schwer, zu erkennen, wenn er wirklich wütend war; in solchen Fällen spiegelte sich die Army stets in seinem Wortschatz wider. Er schaltete den Apparat mehrmals ein. Dann gab das Gerät plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall von sich, dass es jeden von
ihnen wie eine große, nach unten hämmernde Faust traf. Letty spürte, wie sie hinfiel; sie sah, wie der Raum kippte, und wie durch Zauberei schwebte sie dem Boden entgegen. Dann hörte das Geräusch auf. Sie saß auf dem Sofa. »Wasw-was?« »Liebling...« An was versuchte sie sich zu erinnern? »Ich... Ich glaube, ich bin eingenickt. Ich habe geträumt, wir wären im Keller gewesen. ..« George zog sie an sich. »Bring den Jungen zu Bett.« Er fing an, ihre Brüste zu befummeln. »Doch nicht vor Jerry!« Sie stieß ihn von sich, und er hörte auf. »Bring den Jungen zu Bett.« Sie schüttelte den Kopf. »Herrjeh... Ich hab' so'n komisches Gefühl. Ich hab' mit offenen Augen geträumt. Wir sind in den Keller gegangen; ich hab' wirklich Angst gehabt...« »Ich hab' auch geschlafen. Ich schätze, wir sind übermüdet.« »Das nehme ich auch an.« Er fing schon wieder an. »Jetzt nicht!« Sie schlug ihm sanft auf die Hand. »Bring den Jungen zu Bett.« Klein-Jerry hatte den Schlafanzug schon an. Er spielte hinter ihnen im Korridor mit seiner Spielzeugeisenbahn. »Komm jetzt, Schätzchen. Es ist Zeit fürs Bett.« Jerry trottete hinter seiner Mutter her. Als sie das Schlafzimmer erreicht hatten, gab sie ihm einen Gutenachtkuss, nahm ihn in die Arme und spürte seine kräftige Statur und Wärme. Er roch frisch und sauber. Oh, wie sie ihn liebte! »Gute Nacht, Jerry. Und jetzt schlaf schön.« »Du auch, Mama.« »Und sprich dein Gebet. Das für deinen Schutzengel, und drei Ave Marias.« »Mach ich, Mama.« Dann ließ sie ihn in der Dunkelheit seines kleinen Zimmers zurück. George erwartete sie. Liberaces Fernsehshow fing gerade an. Als die anschwellende Musik das Zimmer erfüllte, sank sie in Georges Arme. Keiner von ihnen hörte das leise Klicken der Vorratskammertür, als sie sich öffnete. Sie hörten auch das Rascheln des Regenmantels nicht, der an den Esszimmervorhängen vorbeistrich, oder den keuchenden Atem, der das einzige Geräusch war, das der Alte machte, als er im Korridor stand und ihnen zusah.
»Liebling«, flüsterte George. »Liebling...« Ach, wie sehr sie ihren George mit der harten Schale und dem weichen Kern verehrte. Sie schmiegte sich eng an ihn und inhalierte die Mischung aus Jade Hast Aftershave und Tabak, die er ausströmte. »Ihr gebt mir euren Sohn.« Was hatte er da gesagt? »George?« »Yeah?« »Was hast du gesagt?« »Nichts.« »Ich hab' gedacht, du hättest was gesagt.« »War wahrscheinlich im Fernsehen.« »Aber da redet doch keiner.« Liberace lächelte strahlend und im vollen Glanz seines Rheinkiesel-Dinnerjacketts. Er spielte die >Ungarische Rhapsodie Nummer eins< von Liszt. Im Moment redete niemand. »Ihr werdet ihn mir geben.« Letty empfand ein abscheuliches, übelkeitserregendes Gefühl, als hätte sie gerade etwas Totes gerochen. »O George, mir wird schlecht!« Er schien es nicht zu bemerken. Er fummelte am Fernseher herum. »Ich glaub', wir empfangen wieder den Sender aus Hartford. Da läuft ein Spielfilm oder so was. Wahrscheinlich überlappt sich der Ton.« »Ihr werdet ihn mir geben. Sagt ja, alle beide. Ja!« Letty fühlte sich so schwindlig, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Irgend jemand wollte etwas von ihr; irgend jemand, der wichtig war, wollte, dass sie ihren kleinen Jerry hergab... »Nein!« Eine schreckliche Stille breitete sich im Raum aus. George schien vor dem Fernseher erstarrt zu sein. Irgend etwas berührte Lettys Schulter. Sie spürte, wie sich kalte Finger in ihre Muskeln gruben. Ihre Seele schrie unter heftigen Schmerzen die Hand fühlte sich sogar bösartig an. »Er wird nur in eine Schule gehen, Letty. In die beste Schule der Welt. Und Sie und George werden in ein neues Leben eintreten, mit neuen Hoffnungen und neuen Ansichten über den Glauben.« Die Stimme schien zwar nun aus dem Inneren ihres Kopfes zu kommen, aber dennoch war sie sich einer düsteren Gestalt bewusst, die sich im gleichen Raum aufhielt: Ein Mann, der an der gegenüberliegenden Wand neben dem Bild des neuen Papstes
lehnte, das sie erst gestern aufgehängt hatte; ein Mann, der nur aus Hut, Mantel und einer hypnotischen Stimme bestand. Ein Mann, der so bösartig war, dass Letty es kaum glauben konnte total, absolut, mit jedem kleinsten Teil seines Seins. Er war so bösartig, dass er unter Umständen nicht einmal ein Mensch war. Aber seine Stimme kräuselte und drehte sich wie ein verführerischer Rauch durch ihren Geist. »Eine neue Kirche, Letty, und Sie und George werden bald von ihr hören. Sie werden sie verehren und ihr beitreten.« »N-n-n...« »Wenn Sie ihr beitreten, werden Sie Jerry wiedersehen. Sie können ihn in seiner neuen Schule besuchen. Und jetzt lassen Sie zu, dass ich ihn mitnehme, Letty.« Die Stimme drang immer tiefer in sie ein; sie schien Letty s Seele zu streicheln. »Sagen Sie ja, sagen Sie ja...« Sie hatte den relativ klaren Eindruck, genau in die gelbgrünen Augen einer Schlange zu sehen. In die Augen eines Dings, das fürchterlich und überwältigend bösartig war. Und von überwältigender Schönheit. Aber sie konnte nicht schreien. Sie wusste nicht einmal, ob sie es überhaupt wollte. Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie den Mund öffnete, um ein Wort zu bilden... Sie wehrte sich dagegen, kämpfte gegen sich selbst. Sie spürte, wie das Wort gegen ihre zusammengepressten Zähne anstürmte. »Ja«, sagte sie. »Ja! Ja! Ja!« George kauerte vor dem Fernseher. Er kämpfte wie ein angebundenes Tier, während Liberace spielte und sang. Er sagte es auch; sein Ja war ein ersticktes Flüstern. »Noch einmal beide zusammen!« »Ja, nehmen Sie ihn; ja!« »Sehr schön.« Lettys Übelkeit schwand. Sie und George schmiegten sich in der Dunkelheit aneinander und starrten wie gelähmt auf das hypnotische graue Leuchten des Bildschirms, auf dem Liberace gerade durch die letzten Takte seiner Rhapsodie fegte. Draußen regnete es, und der Wind flüsterte in den Bäumen. Jerry lag bewegungslos da und starrte an die Decke. Nachdem seine Mutter ihn verlassen hatte, hatte er den Blick auf seine Eulen-Uhr gerichtet und zugesehen, wie sich die mattbeleuchteten Augen endlos von links nach rechts und wieder zurück bewegten. Und er lauschte dem beharrlichen Wispern. »Hin und her, hin und her... und du wirst müde, Jerry... Du vergisst, dass du auf die Heiligen-
Geist-Schule gehen sollst; du vergisst, dass du in San Diego aufgewachsen und nach Queens gezogen bist jede Einzelheit. Du hast schon immer hier gewohnt; du wirst auf eine andere Schule gehen, auf eine bessere Schule, eine versteckte, geheime Schule.« »Yeah... eine geheime Schule...« Jerry trieb dahin, er nahm nur die Stimme wahr, ihren sanften, summenden Singsang, ihre Intensität. »Die Titus-Schule in Greenwich Village. Du bist schon immer auf ihr gewesen.« »Immer...« »Und du kehrst mit mir zurück, weil das neue Schuljahr anfängt.. .« »Ja, Sir.« Mit einem Rascheln und dem kaum hörbaren Knarren der Dielenbretter kam der Alte aus dem Korridor herein. »Hallo, Jerry«, sagte er. »Wir müssen jetzt gehen. In einer Stunde findet in der Aula eine Versammlung statt.« »Mitten in der Nacht? Ich bin müde.« Der Alte ignorierte seinen Protest. »Ich habe deine Uniform mitgebracht, Kleiner. Zieh dich an. Und beeil dich.« Jerry konnte nichts dagegen tun, als der Alte ihn aus dem Bett und durch den Raum zog, um ihm die Uniform anzuziehen. »Du musst eine große Aufgabe erfüllen, Jerry. Was bist du doch für ein überragend gut gebautes und intelligentes Kind. Eine große Aufgabe.« Jerry hatte das unheimliche Gefühl, dass all dies eine Art Traum war, obwohl es sich wie die Wirklichkeit anfühlte. Aber das konnte doch nicht sein. Oder doch? Der Alte nahm seine Hand. Er konnte seine trockene Klaue fühlen. Sie war ganz real. Und nun führte der Alte ihn aus dem Zimmer. Jerrys Augen wurden feucht. Er schluchzte, als sie im Wohnzimmer stehen blieben, um sich von seinen Eltern zu verabschieden. Er schüttelte Daddy die Hand und küsste seine Mama. »Letty, sagen Sie >Wie hübsch du in der Uniform aussiehst<.« »Wie hübsch du in der Uniform aussiehst«, murmelte Letty. »Steht sie ihm nicht gut, George?« Papa grinste, er klopfte Jerry auf die Schulter. »Sagen Sie, dass er jetzt ein großer Junge wird, George.« »Du wirst jetzt ein großer Junge!« »Mama, Papa... ist das Wirklichkeit?«
Die Stimme des Alten fing an zu murmeln und wiederholte pausenlos: »Es ist Wirklichkeit, es ist immer Wirklichkeit gewesen. Du bist schon immer auf die Titus-Schule gegangen, du weißt es, du weißt es...« »Ich möchte nicht gehen!« Jerry umarmte seine Mutter. Letty wandte sich verzweifelt dem Alten zu. »Bitte, lassen Sie ihn doch noch ein bisschen bleiben!« Der Alte packte Jerrys Arm. »Sie werden ihn Allerseelen wiedersehen, Letty.« »Mama, Papa, er soll mich nicht mitnehmen!« »Sie können sich nicht bewegen, George. Sie sind erstarrt. Sie auch, Letty,« George Cochran, der große, starke Mann, verbarg das Gesicht in den Händen. »Mama, bitte! Mama!« Jerry wehrte sich gegen den bösartigen Griff des Alten. »Helft mir! Er soll mich nicht mitnehmen!« Seine Eltern hätten den Mann zwar leicht aufhalten können, aber sie saßen wie angebunden da; ihre Gesichter sahen ängstlich aus, sie hatten Tränen in den Augen. Jerry schlug um sich, schrie und zerrte an dem Alten, bis sie in der Küche waren. Dann geschah etwas Schreckliches. Der Alte zog ein langes, dünnes Stilett aus einer Scheide, die in seinem Ärmel verborgen war. »Wenn du nicht aufhörst, gehe ich zurück und schneide deinen Eltern die Kehle durch. Sie sind hypnotisiert, Kleiner, und sie können nicht das geringste tun, um mich daran zu hindern.« Der Tonfall seiner Stimme war der furchteinflössendste, den Jerry je gehört hatte. Elend, krank im Herzen, den Blick auf die lange blaue Klinge gerichtet, ging Jerry mit dem Alten zur Tür. Das Letzte, was er in dieser Nacht von seinen Eltern hörte, war ein abgehacktes Schluchzen, ein unvertrauter Klang, der offenbar aus der Kehle seines Vaters kam. Jerry würde auf eine ganz besondere Schule gehen, an einen Ort, der unter den Rissen des Vertrauten versteckt war, um von Gefahren und finsteren Wahrheiten zu erfahren. Von nun an würde er mit seinem vorherigen Leben nichts mehr zu schaffen haben. Der Alte nahm ihn mit über die nasse, von Unkraut überwucherte Gasse hinter dem Haus. Sie verschwanden zusammen in der Nacht, die sich dahinter ausbreitete.
1. Kapitel Juni 1983 Alles war Hässlichkeit und Boshaftigkeit; Es hatte keinen Namen. Für sie war Es die Schlange. Sie tauchte in ihren Träumen auf und flüsterte ihr auf ihre höhnische Weise etwas ein, das sie nicht ertragen konnte. Du möchtest mich doch küssen, sagte Es, und dann grinste Es sie an und kam näher. Jetzt, flüsterte Es, und wenn Es dies tat, konnte sie seinen fauligen Atem riechen. »Du weißt, was wir tun müssen«, flüsterte Es dann. »Wir können und müssen es tun. Unsere Liebe ist die Zukunft, die Hoffnung der Welt.« Nein! Nein! Du bist schlecht, du hast mit Hoffnung nichts zu tun! Ich muss dich haben, mein Liebling. Nein! Wenn sie dann losrannte, trieb und wehte Es hinter ihr her, wie ein Blatt, dessen gewaltige Form beängstigend substanzlos war. Es war nie weit weg. Lass mich doch, sagte Es dann, und seine Stimme wurde eines mit dem Wind: Lass mich doch, lass mich doch. Nein! Lass mich in Ruhe! So schnell sie auch lief, wohin sie auch ging: Es war immer da. Sie rannte durch leere Straßen, die noch leerer wurden; sie eilte an grauen und schwarzen Gebäuden und an den letzten Plätzen der Stadt vorbei und erreichte riesige Felder, auf denen der Weizen spross. Und der Wind sang im Weizen: Du schaffst es, du bringst es über dich, dich von mir berühren zu lassen. Du musst es dir wünschen, sagte der Wind. Du musst es dir nur wünschen, dann wird es so sein. Und dann fiel sie schluchzend zwischen die trockenen Stängel, und der Wind wehte um sie herum. Er wehte durch ihren Körper und tief in ihr Inneres, und seine ungestüme Kälte drang in ihre weichen und geheimen Tiefen vor. Und dann erkannte sie die Wahrheit der Worte, die Es gesprochen hatte: Irgendein abgründiger Teil ihres Ichs wünschte sich, dass Es sie liebte; er sehnte sich danach, ihm das zu gestatten, was Es von der Welt verlangte. Aber das durfte sie nicht tun! Nein. Tat sie es, mussten Tausende und Abertausende leiden und sterben mit fleckigen Gesichtern, rudernden Armen und zuckenden, schwarz anlaufenden Leibern, die der Schmutz aufbrechen ließ.
Und wenn sie schließlich aus ihrem Traum erwachte, war sie so entsetzt, dass sie eine gewisse Zeit brauchte, um sich an ihren Namen zu erinnern. Erst nach einer Weile kehrte ihre alltägliche Wirklichkeit zurück so vorsichtig wie eine verängstigte Katze. »Ich heiße Patricia«, sagte sie dann in die Dunkelheit hinein. »Ich heiße Patricia!« Und dann flüsterte der Sommerwind nicht mehr. Und das Ebenbild des Bösen löste sich allmählich auf. Seit Patricia Murray nicht mehr unter dem Dach der Institution lebte, in der sie aufgewachsen war, hatte dieser Traum sie gefoltert. Er hatte sich bis zu dem Punkt in ihr Leben gedrängt, wo er es allmählich erstickte, denn er hatte eine Angst mit sich gebracht, die so vernichtend war wie ein tödlicher Virus. Manchmal entdeckte sie Tränen auf ihren Wangen selbst dann, wenn ein glücklicher Augenblick die Furcht scheinbar verdrängt hatte. Sie nahm an, dass ihr tieferes Ich nie entkam, nicht einmal für kurze Zeit. Angst, Kälte und Grauen mussten die einzigen Wegweiser in der Landschaft ihres tieferen Ichs sein, ein Feld voller zertrampeltem, verrottendem Weizen. Warum war sie in ihrem Inneren so? Es war, als sei ihre Liebe, die reine Frucht ihres Leibes, erkrankt. In solchen Fällen betastete sie ihren glatten, flachen Bauch, spürte die Weichheit ihrer Haut und stellte sich vor, wie leer ihr Schoss war finster und schweigend hinter der fleischlichen Mauer. Und das Ebenbild der Schlange glitzerte in ihrem Geist. Sie hatte die schreckliche, sich windende Kreatur aus ihren Träumen im Grunde nur einmal gesehen. Sie war durch das Getreidefeld geglitten und hatte den Weizen verdorren lassen. ]ede Ähre, die ich vernichte, hatte sie während des Dahinschlängelns gesagt, machen eine Million Menschenleben aus. Sie hatte gesehen, dass die Schlange das Gesicht des Todes trug vorausgesetzt, der Tod hatte überhaupt ein Gesicht: grünäugig, grinsend, und sehr leise. Komm, Geliebte, tanz mit mir.
Die Morgensonne war Patricias beste Freundin. Neues Licht brachte die altvertraute Welt zurück. Ernten mit dem Sensenmann, was Sie nicht sagen! Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, und die Leute sagten, sie wäre schön. Sie hatte mit dem Leben zu tun, nicht mit dem Tod. Sie war ein normales, anständiges Mädchen, noch sehr jung und voller Leben, und sie war, wie die Leute sagten, eine Schönheit.
Sie hätte am liebsten geglaubt, dass ihr Traum nichts anderes war als ein Ausdruck ihrer völlig natürlichen Angst vor dem Anfang eines neuen Lebens. Sie hatte tatsächlich keinen Geliebten; sie wünschte sich Freunde des anderen Geschlechts. Sie hatte eigentlich niemanden. Rendezvous, Gelächter, Spaß sie wünschte sich alle Freuden, die man mit Männern haben konnte. In ihrer Wohnung lebte sie noch einsamer als seinerzeit im Waisenhaus. Die einzige Therapie dagegen und gegen den Albtraum bestand darin, dass sie sich mit Leuten traf. Sie war schüchtern. Unter normalen Umständen. Sie war unsicher. Wer, der so unerfahren war wie sie, wäre es nicht gewesen? Doch egal wie überzählig und ausgestoßen sie sich vorkam, sich selbst gegenüber bestand sie darauf, völlig normal zu sein. Sie saß vor dem Frisiertisch und möbelte ihr Aussehen für eine Verabredung auf. Sie wollten sich am späten Abend treffen, etwas trinken und sich unterhalten. Sich miteinander bekannt machen. Patricia hatte Geschicklichkeit dabei entwickelt, solche Rendezvous selbst zu arrangieren. Sie wollte nicht allzu viel Zeit mit einem Mann zusammen verbringen, den sie zum ersten Mal traf. Die Frisiertischlampe flackerte. Patricia richtete sie, und sie fiel beinahe auseinander. Dinge dieser Art passierten hier ständig; sie hatte nicht gerade die begehrteste Wohnung in Queens gemietet. Aber es war die erste, die ihr ganz allein gehörte, und sie liebte jeden Quadratzentimeter von ihr. Sie liebte auch die Möbel, die sie zusammengetragen hatte das große Sofa, den indianischen Läufer und das Bett mit der hübschen gelben Zierdecke. Ihr gefiel der Gedanke, dass die Wohnung, die beim Einzug aus nackten Wänden und einem schmutzigen Fußboden bestanden hatte, jetzt ein Zuhause geworden war. Ein entzückendes, bequemes, stilles kleines Zuhause. Auch wenn es nicht so still war, wie es hätte sein sollen. Sie hörte damit auf, ihre Lidschatten aufzulegen und lauschte. Hatte sie nicht gerade das Schaben eines sich öffnenden Fensters gehört? Patricia kam sich vor, als lebe sie am schmalen Rand der Normalität. Sie litt an Hysterie und nächtlichem Grauen. Sie war nicht immer so gewesen. Sie redete sich ein, dass dies nur eine Reaktion auf den Auszug in die private Welt war. Die Albträume, die dunklen Vorahnungen und unerklärlichen Tränen würden vergehen.
Im Wohnzimmer schaltete sich plötzlich der Fernseher an. Sie erschrak, und ihr Herz schlug heftig, als sie aufsprang. Das heisere Geräusch des eingeblendeten Gelächters warf Echos durch die Wohnung und war so laut, dass sie es nicht ignorieren konnte. Sie eilte ins Wohnzimmer und schaltete das Gerät ab. Ihr nächster Impuls bestand darin, zur Tür zu rennen. Doch sie zwang sich zu Gelassenheit darin war sie gut. Sie blieb, wo sie war. Ein Einbrecher oder Sittenstrolch würde sein Dasein bestimmt nicht damit ankündigen, dass er den Fernseher einschaltete. Als sie die Finger vom Knopf nahm, flackerte der Bildschirm. Sie lächelte. Ihr Herz schlug wieder normal. Dummes Weib, du fürchtest dich vor einem losen Schalter am Fernseher. Irgendein Beben musste einen losen Schalter in Bewegung versetzt haben. >Ein Herz und eine Seele< war zu Ende. Der Bildschirm glühte nun in einem seltsamen, pulsierenden Licht. Das Flüstern der atmosphärischen Störung wurde niedrig und dumpf, so dumpf, dass man es eher fühlen als hören konnte. Patricia starrte ein paar Augenblicke auf das eigenartige Phänomen; sie war fasziniert von seinem Klang und den schattenhaften Bewegungen auf dem Bildschirm. Dann zog sie den Stecker aus dem Apparat. Es würde zu nichts führen, wenn sie den Schaden noch förderte. Morgen musste sie einen Fernsehtechniker anrufen. Es war zwar trostlos genug, doch das Fernsehen war im Moment ihre Hauptunterhaltungsquelle. Am Abend, nach der Arbeit, freute sie sich geradezu darauf. Nun, das war erledigt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war fast acht. Sie sollte sich beeilen. Sie musste sich noch anziehen, sonst würde sie ihre heutige Verabredung auf sich warten lassen. Sie ging zum Schlafzimmer und schluckte. Ihr Mund war noch immer trocken vor Furcht. Sie ging in die Küche und schenkte sich etwas Eiswasser ein. Sie blieb am offenen Küchenfenster stehen, trank und schaute hinaus. Die Taftvorhänge, die sie für das Fenster genäht hatte, flatterten leicht im Abendwind. Sie hatte das Fenster doch geschlossen. Hatte sie vielleicht eventuell heute morgen ihren Toast anbrennen lassen und das Schiebefenster deswegen hochgeschoben? Oder... Was war das für ein schabendes Geräusch gewesen, das sie eben gehört hatte? War doch jemand in der Wohnung? Sie schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch besser sehen. Das
Küchenfenster lag über einem Luftschacht, der sechs Stockwerke in die Tiefe führte. Man müsste eine menschliche Fliege sein, um die Wand hinaufzuklettern und es zu öffnen. Menschliche Fliege vergewaltigt Sekretärin. Das war genau die Schlagzeile, mit der die Post die Geschichte bringen würde. Sie fiel allmählich ihren hysterischen Fantasien zum Opfer. Patricia knallte das Fenster zu und verschloss es, dann kehrte sie an den Frisiertisch zurück. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war etwas blass und wirkte leicht angespannt. Sie nahm ein wenig Rouge, was zu helfen schien. Rouge. Lidschatten. Lippenstift. Ich habe das fatale Glück, anziehend auf Männer zu wirken. Die Schwestern im Marienheim hatten nicht viel über Sexualität erzählt. Die meisten Waisen hatte dies in Panik versetzt, als sie auf das zwanzigste Lebensjahr zugingen. Wie sollte man sich geben, was sollte man tun, wenn es einem keiner sagte? Wie verzweifelt sie darauf aus gewesen waren, Erfolg bei Männern zu haben. Im Gegensatz zu den Mädchen von draußen hätten sie sehr gern Ehefrauen sein wollen. Sie hatten einander leidenschaftlich versichert, irre sexy zu sein; die unwiderstehlichsten Mädchen, die die Menschheit je gesehen hatte. Das, was Patricia aus dem Spiegel entgegenblickte, war eine hübsche Frau von zweiundzwanzig Jahren. Das wusste sie. Sie sah viel besser aus als die meisten anderen Waisenkinder. Und sie war viel scharfsinniger. Sie würde sich nie in jene Art Beziehung stürzen können, mit denen die anderen zufrieden waren. Sie wollte etwas mehr als das übliche alltägliche Dasein einer Ehefrau. Sie beendete ihr Make-up. Sie sah gut aus. Darin machte ihr jedenfalls keine andere etwas vor. Sie sah frisch gebadet aus, hatte freundliche grüne Augen und erstaunlicherweise ein heimliches Lächeln auf den Lippen, das keine Tragödie hatte wegwischen können weder der Tod ihrer geliebten Eltern bei dem sinnlosen Unfall, noch das Leben im Umfeld der Glocken und der kalten Korridore, das >Ja, Schwester<, der überfüllte Schlafsaal und das Wissen, wo ein Mädchen ihrer Art unweigerlich landen würde. Das Beste an ihr war das rauchblonde Haar, das ihr Gesicht wie ein zauberhaft zierlicher Rahmen umschloss, und eine Sinnlichkeit suggerierte, von der Patricia wusste, dass sie sich irgendwann erfüllen würde wenn sie den richtigen Mann gefunden hatte, mit
dem sie es erfüllen konnte. Denen, die kein College-Stipendium bekommen hatten, hatte das Marienheim nach dem Schulabschluss die Chance eines einjährigen Praktikums an einer Handelsschule angeboten. Patricia hatte ihren Sekretärinnen-Abschluss gemacht und hatte dann eine Stelle bei der Filiale der Hamil-Bank am Queens Plaza bekommen. Und ihre kleine Wohnung. Sie hatte sich der örtlichen Heiligen-GeistGemeinde angeschlossen, und Pater Goodwin, ihr gramgebeugter und erschöpfter Pfarrer, hatte sie mit hoffnungslosem Enthusiasmus willkommen geheißen. Harry Goodwin war Pfarrer einer immer kleiner werdenden Gemeinde von verwitweten italienischen und irischen Damen, und manchmal hatte er pro Woche fünf oder sechs Beerdigungen. Anfangs hatte Patricias Jugend ihn misstrauisch gemacht. Bei Gemeindeveranstaltungen hatte er bei ihr nach Neurosen oder gar Fanatismus gesucht. Sie hatte ihm mit allem Mitgefühl und aller Freundlichkeit, die sie für ihn empfand, geantwortet. In letzter Zeit hatte er sich verändert. Wenn sie ihm jetzt begegnete, stand ihm das Leid im Gesicht geschrieben. Sie konnte sich seine zölibatären Seelenqualen gut vorstellen. Um ihm zu helfen, ging sie nur noch, wie die Schwestern es genannt hatten, in >Marien<-Kleidung zur Kirche mit langen Ärmeln, langen Röcken und Kragen, die sie fast erwürgten. In der Heiligen-Geist-Kirche trug Patricia kein Make-up, und sie legte auch kein Parfüm auf. Aber selbst dann, wenn Pfarrer Goodwins Blick bei der Messe auf seine Schäfchen fiel, traf der ihre unausweichlich den seinen, und er konnte ihn nicht mehr von ihr nehmen. Wandte sie den Blick ab, verhaspelte er sich unweigerlich bei der Predigt, und dann wies seine Stimme einen abgerissenen Tonfall auf. Heute abend trug Patricia keine marienähnliche Kleidung; bei dem Mann, den sie treffen wollte, brauchte sie es nicht. Wenigstens war sie sich sicher, dass er kein Priester war. Das Rascheln von Kleidern ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich um und fiel dabei fast vom Stuhl. »Wer ist da?« Niemand. Sie drückte die Handflächen gegen ihre Schläfen. Wie schön es doch gewesen wäre, einen lauten Aufschrei zu tun, aber dem, was an ihren Nerven nagte, konnte sie sich auch stellen: Sie hatte entsetzliche Angst vor Verabredungen mit Männern, die sie nicht kannte. Aber Verabredungen, die Freunde organisiert hatten, waren ihre größte Chance für ein ordentliches gesellschaftliches Leben. Warum
auch nicht? Schließlich musste alles irgendwo seinen Anfang nehmen. Obwohl Patricia wusste, was sie erwartete, waren nervenaufreibende Rendezvous dieser Art eine Sache, die sie nicht zu unterbrechen wagte. Manchmal waren die Männer, mit denen sie ausging, anständig. Manchmal waren sie es nicht. Einmal hatte einer sogar zu ihrem Albtraum gepasst. Sie war darauf aus, eine gute Partie zu machen. Mary Banion, ihre erste wirkliche Freundin von >draußen<, hatte gemeint, sie solle vor ihrem zukünftigen Gefährten um jeden Preis das Verlangen nach einer festen Bindung verbergen. »Um Himmels willen, Pat, lass sie bloß nicht wissen, wohinter du her bist. Männer wollen Huren. Was sie angeht, ist die Tatsache, dass sie statt dessen Ehefrauen kriegen, ein verwirrendes Rätsel für sie. Sobald sie verheiratet sind, verbringen sie den Rest ihres Lebens damit, sich zu fragen, was, zum Teufel, eigentlich schiefgegangen ist.« Mary Banion war einundvierzig, die zweite Frau eines hohen Polizeibeamten namens Mike Banion. Beide hatten ihre ersten Ehepartner verloren. Patricia hatte Mary auf der Bank kennengelernt. Die beiläufigen Gespräche der Angestellten zur Kundin hatten in einer Einladung zum Essen und in Freundschaft gegipfelt. Patricia beneidete Mary, weil sie stets geliebt worden war. Ihr erster Gatte hatte sie vergöttert, doch sein Privatflugzeug hatte über den Sümpfen von Jersey den Geist aufgegeben. Nun vergötterte Mike Banion sie stellvertretend für seine junge Frau, die kurz nach Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahrs an Krebs gestorben war. Mary sah so aus und sie verhielt sich so wie Patricias heimliches Ideal des weiblichen Erfolges. Sie kleidete sich elegant, in Seide und Leinen. Und sie war schön, denn sie hatte feingemeißelte Züge und leuchtendes, kastanienbraunes Haar. Die Tatsache, dass Mike in Schlotteranzüge und Billigzigarren vernarrt war, ließ sie nur noch schöner erscheinen. »Du wirst sehen, ich mache ihn noch zum Oberkommissar. Vielleicht sogar zum Bürgermeister, falls sein Stil mal wieder in Mode kommt.« So rechtfertigte Mary ihre zweite Ehe. »Mein alter Lastwagen«, nannte sie ihn. Ohne Zweifel, sie würde ihn an die Spitze fahren. Heute abend wollte Patricia mit Marys Sohn Jonathan ausgehen. Er war zwar spät dran, aber er würde noch kommen. Wehe, wenn
er nicht kam. Sie hatte sich darauf vorbereitet, seit sie aus der Bank gekommen war. Mary neigte dazu, ihren Sohn in den Himmel zu heben; als wäre es nicht schon eine Leistung, ihn zur Welt gebracht zu haben. »Er wird dich faszinieren. Er ist sehr intelligent.« Patricia musterte sich misstrauisch im Spiegel und zog eine Braue hoch. War das sexy? War es gewinnend? Die meisten Männer, mit denen sie sich verabredet hatte, hatten nicht wieder angerufen. Mary meinte, dass dergleichen extrem gut aussehenden Frauen sehr oft passierte. Männer hatten Angst vor allzu viel Schönheit. Aber das sei kein Grund zur Sorge; es würde schon noch alles gut werden. Nur die besten Männer würden sich bei Patricia wohl fühlen. Allerdings riefen die, die überhaupt keine Frau haben wollten, immer wieder an jene Typen, die man lieber gehen als kommen sah. Sie riefen nicht nur an, sie kamen auch an den Bankschalter. Die Mädchen in der Bank nannten sie Kletten. »Mach dir keine Sorgen«, sagten sie, »jede hübsche Kassiererin hat ihre Klette.« Allem Anschein nach waren viele Männer, die niemand haben wollte, auf die Idee gekommen, Mädchen kennenzulernen, indem sie Konten bei den Banken eröffneten, bei denen sie tätig waren. Würde Jonathan sich etwa auch als Klette erweisen? Vielleicht hatte Mary ihn deswegen so in den Himmel gehoben. Zumindest, hoffte Patricia, würde er nicht furchteinflössend sein. Es hatte da einen jungen Mann gegeben, der ihr zu still gewesen war. Er war wie ein Zombie durch die abendlichen Formalitäten gegangen und hatte darauf bestanden, dass sie mit nach Hause fuhr. Er war sogar weitergefahren, als sie sich offen geweigert hatte. Dann hatte sie die kleine schwarze Pistole unter seiner Sportjacke gesehen. Sie war ihm entkommen, indem sie aus dem Wagen gesprungen war, als der Verkehr auf der Brücke an der 59. Straße langsamer geworden war. Sechs Wochen später hatte man in Massapequa auf Long Island einen jungen Mann festgenommen und unter seinen Dielen eine technisch ausgefeilte Keller-Folterkammer und die Leichen dreier Mädchen entdeckt. Ob er es gewesen war? Sie war sich dessen nie sicher gewesen. Als Patricia den Summer hörte, sprang sie vom Frisiertisch auf, schaltete den Sunbeam-Make-up-Spiegel ab und lief ins Wohnzimmer an die Gegensprechanlage. »Ja?« »Miss Murray, ein Mr. Banion möchte sie besuchen.«
»Schicken Sie ihn herauf, Tony.« Es war Patricia peinlich gewesen, Mary danach zu fragen, wie er aussah, aber wenn er auf seine Mutter herauskam, musste er eine gesunde Hautfarbe haben und ansehnlich, intelligent und gebildet sein. Gott sei Dank war der patronenförmige Mike nur sein Stiefvater. So genial er auch war Inspektor Banion war nicht gerade eine Quelle guten Aussehens und Betragens. Ein Pochen an der Tür. »Ja?« »Ich bin's, Jonathan Banion.« Welch sanfte Stimme. Am Telefon war es ihr gar nicht bewusst geworden. Sie öffnete die Tür, und ein großer, hagerer Mann lächelte zu ihr hinunter. »Hallo«, sagte sie. »Kommen Sie doch rein.« Er trug eine Sportjacke aus leichtem Leinen über einem OxfordHemd. Man konnte ihn wirklich als gut aussehend bezeichnen. Patricia glaubte, dass er das schönste Gesicht hatte, an das sie sich erinnern konnte. Er trat in den Mittelpunkt des Raumes und sah sie lange an. »Sind wir uns schon mal begegnet?« Sie wusste sofort, was er meinte. »Ich glaube, es kann gar nicht anders sein.« Sie lachte. »Ich weiß aber nicht, wo.« Er streckte die Hände aus, und sie nahm sie. Sie waren warm und vertraut, etwa so, wie die eines alten Freundes. »Ich würde ja gern sagen, dass ich den Eindruck habe. Sie schon seit ewig zu kennen«, sagte er, »aber es hört sich so nach Schmus an.« »Dann tun wir so, als hätten wir uns schon mal gesehen, und machen von da an weiter.« Einen Moment lang antwortete er nicht. Er sah sie aus seinen freundlich-grünen Augen neugierig an. »Lassen Sie uns noch etwas hier bleiben«, sagte er. »So unterhält es sich leichter.« Patricia lächelte. »Möchten Sie etwas trinken?« »Schenken Sie mir irgend etwas ein. Ich nehme an, es wird mir sowieso schmecken.« Sie ging an den Glastisch, auf dem sie die kleine Flaschensammlung aufbewahrte, und bereitete zwei Gin-Tonic zu. Als sie sich umdrehte, stand er immer noch mitten im Raum. Er nahm das Glas, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Setzen Sie sich doch«, sagte Patricia in dem Tonfall, den Schwester Dolorosa stets angeschlagen hatte, wenn sie im Salon des Marienheims Besucher empfing. Er sank auf das Sofa und machte einen sichtlich unbehaglichen Eindruck. Patricia setzte sich neben
ihn. Sie hätte den Sessel nehmen sollen, doch sie wollte ihm sehr nahe sein. »Wir müssen herauskriegen, woher wir uns kennen«, sagte sie. Angenommen, dachte sie, er würde mich jetzt in den Arm nehmen. Jetzt gleich. Wäre das nicht schön? »Vielleicht haben wir uns in einem anderen Leben gekannt. « »Das ist unmöglich. Es gibt keine Reinkarnation.« »Nicht? Wissen Sie das genau?« »Nun, es ist gegen die Kirchendoktrin.« Er hob sein Glas. »Prost.« »Auf uns.« Vorsicht, meine Dame, fall nicht mit der Tür ins Haus. Immer sachte. Der hier sieht zu gut aus, um ihn zu verlieren. »Auf unsere erste Begegnung.« »Das kann nicht sein. Ich kenne Sie.« Sie hätte es fast prophezeien können, dass er das sagen würde. Je länger sie zusammen waren, desto mehr verdichtete sich in ihr das Gefühl, sie erneuerten einfach eine alte, enge Vertrautheit. »Sie müssen auf die New Yorker Uni gehen«, sagte er. Er wandte sich schwerfällig auf dem Sofa um und sah sie an. »Ich arbeite in der Psychologie. Ich muss sie auf dem Korridor oder sonst wo gesehen haben.« »Da bin ich nie im Leben gewesen. Arbeiten sie mit der Hamil-Bank an der Queens Plaza?« »Nein, Citybank. Sie hat eine Filiale in Uni-Nähe, mit einem Geldautomaten. Ich habe Sie nicht in einer Bank gesehen. Ich habe Sie... Ich habe Sie...« Er runzelte die Stirn. Sie verfielen beide in Schweigen. Zweifellos spürte er ebenso den leisen Hauch der Furcht wie sie. Das hier war kein Scherz; aber es war irgendwie leicht furchteinflössend. Trotzdem war Patricia verdammt froh, ihn zu sehen. Er stellte sein Glas ab auf eine bestimmte Weise, die ihr irgendwie vertraut erschien -, beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. Sie musste lächeln. »Sie sind unglaublich schön«, sagte er. Er sagte es ganz einfach, und es klang so ernst gemeint, dass es ihr nur wenig peinlich war. »Vielen Dank, Jonathan.« »Ich habe Sie vermisst. Ich habe es bloß nicht gewusst.« Sie nickte: »So geht's mir auch.« Doch als sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, stellte sie fest, dass er über ihre Schulter hinwegsah, zum dunklen Eingang des Schlafzimmers hin. Patricia schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie sagen: Noch nicht. »Ist da jemand?«
»Ich lebe allein, Jonathan, und es ist niemand bei mir.« »Ich habe etwas gehört.« »In meiner Wohnung spukt es heute abend. Sie hätten hier sein sollen, als der Fernseher sich von allein eingeschaltet hat. Aber die Wohnung ist leer. Ich hab's nachgeprüft. Abgesehen von uns natürlich.« Er drehte ihr Gesicht in seine Richtung. »Sie sind so süß.« »Vielen Dank«, sagte sie erneut. Hätte sie doch nicht das Rouge aufgelegt. Wahrscheinlich glühten ihre Wangen jetzt. Er musterte sie. »Meine Mutter nennt sie Pat. Aber sie hören Patricia lieber, nicht wahr?« »Was wäre, wenn ich sage, dass Pat mir lieber ist?« »Dann würden Sie lügen.« Damit hatte er recht. Sie wollte sich zu einem Lachen zwingen, doch es erstarb sehr schnell. Er war ein so gut aussehender Mann er war genau das, wonach sie sich sehnte. Na schön, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Kopf, AlbtraumMann? Als er ihr Handgelenk berührte, zog sie es zurück, ohne es zu wollen. »Vielleicht tun wir lieber so, als wären wir uns fremd«, sagte er, »und erzählen einander etwas über uns. Das ist für den Anfang das Beste.« Sie lächelte, um die lächerliche Angst zu verdecken, die in ihr heranwuchs. »Sie fangen an.« Ihre Stimme klang zu scharf. Beruhige dich, Mädchen. Nimm's leicht. »Ich bin Wissenschaftler. Ich arbeite an geheimen Experimenten, die nur wenige Leute verstehen. Offiziell bin ich psychologischer Assistent an der Universität von New York, aber in Wirklichkeit bin ich Forscher in der Hirnphysiologie.« »Welche Forschung betreiben Sie?« Sie musste ihn am Reden halten. Dann konnte sie einfach die Augen schließen und sich vom Klang seiner Stimme beruhigen lassen. »Jetzt sind Sie dran, Patricia. Ich möchte, dass Sie auch etwas sagen.« »Sie haben mir kaum etwas erzählt.« »Erzählen Sie mir etwas, dann verrate ich Ihnen etwas mehr.« »Ich nehme an, Mary hat Ihnen gesagt, dass ich aus dem Marienheim komme.« Sie hatte etwas gegen das Wort Waisenhaus. »Ich bin auf die Clark-Sekretärinnenschule gegangen und habe einen Job in der Hamil-Bank bekommen. Absolut nichts Glamouröses.« »Das sehe ich anders. Sie sind vielleicht die schönste Frau der
Welt. Ich möchte Sie nur ansehen. Mache ich Sie nervös? Bin ich Ihnen zu heftig?« Patricia nickte und bedauerte es auf der Stelle. Wenn sie doch nur ihre Ängste hätte überwinden und ihm erlauben können, sie in die Arme zu nehmen. »Verzeihung.« Er ging zu dem verblassten kastanienbraunen Kleinsofa hinüber, das sie aus (wenigstens) dritter Hand von Rebecca Strangers aus der Bank gekauft hatte. »Ist es so besser?« Sie wollte wirklich nur eins: dass er zurückkam, sie ins Schlafzimmer trug, auszog und genau das mit ihr tat, von dem sie glaubte, sie müsse es für ihren Ehemann aufsparen. Sie wünschte es sich tausendmal mehr als alles andere in ihrem Leben. Und er wollte das gleiche man konnte es an der Intensität erkennen, die sein Gesichtsausdruck angenommen hatte. Seine dunklen Brauen waren leicht gerunzelt, seine grünen, freundlichen Augen waren durchdringend geworden. Seine Lippen waren sinnlich, doch fest aufeinandergepresst. Wenn er es doch täte er konnte sie haben. Sie würde nichts unternehmen, um ihn daran zu hindern. Was war nur mit ihr los? Sie hatte ihn erst vor ein paar Minuten kennengelernt, und doch war sie wild auf ihn. Es war ein unheimliches Gefühl, doch auch ein köstliches. Und als würde er ihr Verlangen teilen, stand er wieder auf und reichte ihr die Hände. Patricia legte ihre Hände in die seinen und hoffte, er würde sie vom Sofa hochziehen. Er ragte über ihr auf. Doch er zitterte, und auf seiner Oberlippe bildeten sich kleine Schweißperlen. Er drückte flehentlich ihre Hände. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich weiß, dass ich Ihnen zu schnell bin. Aber ich kann mich einfach nicht beherrschen.« Ihre Antwort bestand aus einem Lächeln. Das ermutigte ihn, und er zog sie an sich. Die Umarmung brachte Patricia spontane Erleichterung von ihrer Furcht, und sie ließ keine Frage offen, was nun geschehen würde. Das Schlafzimmer war dunkel und einladend, aber es wirkte auch bedrohlich. Da Schwester Dolorosa Patricia das erklärt hatte, was die Schwestern >die klinischen Notwendigkeiten nannten, fürchtete sie sich nicht vor ihrer Unerfahrenheit. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Aber es galt doch nur für die Ehe! Es galt doch nur für die Ehe! Sie saßen gerade auf dem Bettrand, als Patricia eine Bewegung im Raum wahrnahm. Jonathan, der sie ebenfalls sah, schrie auf. In dem gleichen Zeitlupentempo, das ihr auch der Albtraum
aufzwang, drehte Patricia sich zu ihm um und sah, wie eine schattenhafte, sich schnell bewegende Gestalt, die aus dem Schrank hervorbrach, Jonathan in den Schwitzkasten nahm. Dann wurde sie von jemanden gepackt und mit unglaublicher Kraft auf das Bett zurückgerissen. Es schien ihr unmöglich, unglaublich zu sein, aber sie erkannte unter den Angreifern Mary Banion. Patricias Überraschung war so übermächtig, dass das, was als lauter Schrei aus ihrem Mund hätte kommen sollen, bloß zu einem Keuchen wurde. Jemand machte Anstalten, ein feuchtes, äthergetränktes Tuch über ihren Kopf zu werfen, aber sie kämpfte sich frei. »Patricia, beruhige dich!« Sie beruhigte sich nicht. Zwei große, bösartig aussehende Männer hatten Jonathan bereits gefesselt. Patricia sprang sie an und zerriss ihr Kleid, als sie versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. »Haltet sie fest!« Es war Mary Banion. Ganz sicher. Patricia rannte zur Wohnungstür. Sie erreichte sie, bearbeitete die Schlösser, stieß sie auf. Hinter ihr polterten Schritte, als sie durch den Korridor rannte und mit der Hand gegen den Aufzugknopf schlug. »O Gott, haltet sie fest!« Mary hörte sich wirklich panisch an. »Mary du musst verrückt sein!« »Bleib, wo du bist, Pat. Sei ein braves Mädchen.« Die Männer, die hinter ihr her waren, waren grauenhaft groß, aber schnell. Sie trugen schwarze Regenmäntel und hatten, um nicht erkannt zu werden, die Hüte in die Stirn gezogen. Patricia floh über die Feuertreppe, nahm vier Stufen auf einmal. Dann stürmte sie durch die Hintertür des Wohnhauses. Sie wollte um das Haus herum zur Eingangshalle rennen, damit der Portier einen Polizisten rief, doch auf dem Weg dorthin sah sie den alten Franklin Apple, einen älteren Herrn, den sie von einem Rentneressen des Pfarrbezirks her kannte, bei dem sie ausgeholfen hatte. »Ach, Mr. Apple! Mr. Apple, Gott sei Dank, dass sie hier sind! Ich brauche Hilfe! Ich...« Er lächelte ihr zu und umfasste ihre Handgelenke mit seinen trockenen, klauenartigen Händen. Einen Augenblick lang war Patricia wie gelähmt, dann erfüllte sie kaltes, stechendes Entsetzen. Apples altes Skelettgesicht grinste. Er redete beruhigend auf sie ein, als sei sie ein aufgeregtes Baby. Seine Finger, die ihre Gelenke umfassten, waren kalt und hart wie Stein.
2. Kapitel Nach einem verzweifelten Kampf hatte Patricia den Griff des Alten schließlich gelöst und war in wilder Panik durch die leeren, vom Regen aufgeweichten Straßen geflüchtet. Sie hatte gehofft, auf einen Polizisten oder eine Telefonzelle zu stoßen. Doch bevor sich eins von beidem bewahrheitet hatte, hatte sie einen halben Häuserblock entfernt drei hochgewachsene Männer aus einem Wagen springen sehen. Sie war in eine Seitenstraße gelaufen, ihre Schuhe hatten auf dem Bürgersteig geklappert, und von den Bäumen lief Regenwasser über ihren Rücken. Sie war auf eine beleuchtete Veranda gerannt und hatte um Hilfe geschrien; sie hatte an die Tür geklopft und an den Fensterläden gerattert. Statt einer Antwort war das Verandalicht erloschen. Dann waren an beiden Enden der Straße dunkle, schnelle Wagen aufgetaucht. Sie war über das Verandageländer in nasse und dornige Büsche gesprungen, hatte sich an beleuchteten Fenstern vorbei einen Weg durch den kleinen Hintergarten geschlagen und im Inneren des verschlossenen Hauses das entfernte Summen der Zehn-UhrNachrichten gehört. Dann hatte sie endlich die aufgeweichte, finstere Gasse erreicht. Und fand sich nun einer Ziegelsteinmauer gegenüber. Doch hinter der Mauer ragte ein schwarzer, heiliger Schatten auf, der vertraute Klotz der Heiligen-Geist-Kirche. Irgendein Instinkt hatte sie an diesem Ort Schutz suchen lassen. Bestimmt gab es dort Plätze, an denen man sich verstecken konnte, wenn man sich ruhig verhielt. Und Pater Goodwin schloss seine Kirche nie ab. Als hinter ihr zwei Männer zwischen den Bäumen auftauchten, hatte Patricia die Mauer schon überwunden. Sie lief auf die Front der Kirche zu und trat ein. Die Stille im Inneren des Gebäudes ließ sie einen Moment verharren. Geweihte Kerzen warfen tanzende Schatten um sie herum. Jede Bewegung erzeugte in dieser steinernen Halle ein Echo. Ganz vorne, neben dem Altar, leuchtete das dunkle Rot des Ewigen Lichts und bestätigte das heilige Leben, das hier residierte. Patricia vergaß, dass sie sich verstecken wollte. Sie vergaß auch die Gefahr. Sie lief zum Altargeländer und kniete sich hin; ihr Blick suchte den dunklen Glanz des Tabernakels. Das Flackern der geweihten Kerzen verlieh den Heiligenbildern, die über dem Kirchenschiff in den Dom gemalt waren, eine
sprunghaft vorstoßende Bewegung. Der Regen prasselte gegen die bunten Glasfenster, und der Wind heulte an der Schieferdachkante des alten Gebäudes entlang. Die Luft in der Kirche war warm und schwül, wie vor einem Sturm. Patricia spürte, wie der Schweiß ihre Lippen kitzelte, wie er zwischen ihren Brüsten perlte und an ihren Schenkeln hinablief. Als sie kniete, empfand sie das gleiche Gefühl des Bösartigen, das sie aus ihrem vertrauten Albtraum kannte das schmutzige, fragende Es, das es offenbar nicht nur darauf abgesehen hatte, ihren Körper zu vergewaltigen. Es wollte ihr Herz vergewaltigen, ihr Ich, ihre Seele. Es war hier, irgendwie, in dieser finsteren alten Kirche; sein Gestank erfüllte Patricias Nase, sein Leib schlängelte sich zischend über den kalten Marmorboden. Patricia zwang sich, keine lauten, von Grauen erfüllten Schreie auszustoßen, sie versuchte das bisschen Fassung zu bewahren, das ihr geblieben war, denn das war alles, was sie noch hatte. Das nächste Stadium bestand aus blinder, hilfloser Panik. Um sich neue Kraft zu verleihen, dachte sie an die sanfte Stimme Pater Goodwins in einem intimen Augenblick während der Beichte, als sie die Einsamkeit und das Grauen ihres Lebens vor ihm ausgebreitet hatte; als sie dem Zorn Ausdruck verliehen hatte, den sie Gott gegenüber empfand, weil er sie ihrer Eltern beraubt hatte. Pater Goodwin hatte gesagt: »Beten Sie einen Rosenkranz, Patty. Ich weiß zwar, dass das heute nicht mehr in Mode ist, aber das gilt ja auch für alles andere. Nehmen Sie einfach die Perlen in die Hand, und Maria wird Sie trösten...« Ihre zitternden Finger fanden den Rosenkranz in der Tasche ihres Kleides. Doch Patricias Griff war so fest, dass sie ihn zerriss und über ein Dutzend Stellen verstreute. Der Talisman war ruiniert; er bestand nur noch aus einzelnen Perlen und zerrissenen Gliedern. Eine Handvoll Kunststoff bot keinen Schutz. Jemand trat hinter sie. »Bleib ruhig, Patricia. Niemand wird dir etwas tun.« Schon wieder dieser grässliche Mr. Apple. »Was haben Sie vor? Was ist überhaupt los?« »Sei still, meine Liebe. Habe Geduld.« Er war bei einem Rentneressen des Pfarrbezirks dabei gewesen, als Patricia Spaghetti serviert hatte. Was war er doch für ein verhutzelter, kleiner alter Mann. Seine Augen waren schlickgrün, sein Gesicht völlig verrunzelt. Er hatte vor ihr gestanden, hatte
seinen Pappteller in der Hand gehalten, und seine dünnen Lippen hatten ein eigenartiges, fast ironisches Lächeln gezeigt. »Endlich!« hatte er gesagt. »Hungrig?« hatte Patricia genießerisch gefragt. Sie hatte sich in diesem Augenblick besonders wohl gefühlt. »Ich werde dich in ein paar Tagen nach Hause bringen. Ich wollte nur, dass du es weißt.« Senil. Sie hatte noch einmal gelächelt und ihm eine Extraportion gegeben. Während des gesamten Essens hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Sein Kopf war hin und her gewackelt, seine Spinnenfinger hatten die Gabel und den Spaghettilöffel mit Schwierigkeiten bewegt. »Das ist aber ein komischer Kerl«, hatte Patricia zu Pater Goodwin gesagt. »Er ist wohl ein bisschen senil.« »Er ist halt alt.« »Er tut so, als würde ich ihm gehören oder so was.« »Vielleicht ist er nur einsam. Warum gehen Sie nicht hin und reden mit ihm?« »Ich würde 'ne Gänsehaut kriegen.« »Seien Sie nett zu ihm. Was kann ein einsamer alter Mann Ihnen schon tun?« Auf diese Weise hatte sie Mr. Apple kennengelernt. Und jetzt schluchzte sie laut und drehte die Perlen in den Händen, während sie sich dem Tabernakel näherte und sich wünschte, an die Hostien heranzukommen, um Gott irgendwie als Schutzschild vor sich zu halten. Das, was sie vom Altar sah, verschwamm und flackerte. Aus den Tiefen der Kirche kam ein begieriges Hasten. Patricia presste die Hände auf ihre Ohren und verstreute Perlen auf dem granitenen Boden. Ihr Verstand schrie panisch auf sie ein: Lauf, um Gottes willen, lauf! Menschen, Hunderte von Menschen, kamen durch die Seitentüren und aus der Krypta in die Kirche. Sie füllten die Gänge und dann die Bankreihen. Sie vernahm schlurfende Schritte, gemurmelte Entschuldigungen und ein gelegentlich gedämpftes Husten. »Gott, beschütze mich!« Ihre Stimme war ein brüchiges Ächzen. Sofort ertönte ein anderes Geräusch, leise, gedämpft, schadenfroh. »Sie lachen!« rief sie in die Dunkelheit hinein. »Sie lachen mich aus!« Sie strich sich die Haare aus den Augen. »Hab keine Angst, Patricia. Ich habe doch gesagt, niemand wird dir etwas tun.«
»Sie müssen verrückt sein; Sie alle!« »Wir aktivieren euer Unterbewusstsein deins und das Jonathans. Die Kirche, die Nacht das ganze Drum und Dran dient dazu, dass eure Fantasie eine neue Wirklichkeit erzeugt.« »Sie glauben wohl, dass Sie böse Geister beschwören, nicht wahr, Mr. Apple? Das hier ist eine Schwarze Messe.« »Unsinn. Es hat nichts mit Aberglauben zu tun.« »Es ist Gotteslästerung und dazu werde ich nicht beitragen!« »Du weißt ja nicht, was du sagst. Du gehörst zu uns, Patricia. Du hast immer zu uns gehört und wirst auch immer zu uns gehören. Deine Eltern haben dich der Kirche übergeben. Unserer Kirche.« Wie konnte er es wagen, so über ihre Eltern zu reden! Sie hatten diesen bösartigen Alten garantiert noch nie im Leben gesehen. Ihre Eltern hätten ihm niemals erlaubt, ihre Tochter anzurühren, und noch weniger hätten sie sich einverstanden erklärt, dass sie... die Dinge tat, die zu einer Schwarzen Messe gehörten. »Heilige Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, gebenedeit sei...« Wieder das Lachen. Ein mitleidiges Lachen. Es war peinlich. Mr. Apple legte es darauf an, andere ebenso zu verderben, wie er selbst verdorben war. Das Böse war stets darauf aus. Patricia faltete fest die Hände und kauerte sich vor die Menge hinter ihr. Sie war von ihrem Rennen durch die nassen Straßen von Queens völlig durchnässt. Hinter sich hörte sie einen schweren, kratzenden Schritt. Sie ächzte. Die Gemeinde fing sehr leise an zu klatschen. Das Geräusch war deswegen so schrecklich, weil es so sanft war; ein schneller werdender, wilder Rhythmus, der so innig war wie das Rascheln von Blättern. Patricia hob den Blick, bis sie wieder auf das Tabernakel sah. In seinem Inneren lag das leibhaftige Rätsel in eigener Person, der Gott, dem sie all ihre Treue und Liebe geschenkt hatte. Sie brauchte jetzt Fürsprache. Er musste sein übliches Schweigen brechen; dies war die Zeit und der Ort für ein Wunder. »Schick den Erzengel Michael«, flüsterte sie. »Es geht los, Patricia. Hab keine Angst.« »O mein Gott, es tut mir von Herzen leid...« »Hilf ihr, Mary.« »Ich werde es versuchen.« Mary war keine katholische Nonne das erkannte Patricia am Dunkelrot ihrer Tracht. Es gab keine rote Tracht in der Kirche. Mary richtete sich schwungvoll auf, sie war nun blass und
aufgewühlt und trieb in einem Meer aus weinroter Seide. Ihr Gesicht war von gestärktem schwarzem Leinen umrahmt. Ein echter Nonnenschleier musste weiß sein. Eine Hand legte sich auf Patricias Schulter, Stärke knisterte an ihrem Ohr. »Komm, mein Liebling, lass mich dir helfen.« »Fass mich nicht an!« »Patricia, du verstehst nicht. Du stehst unter Hypnose, damit du deine Rolle vergisst. Du musst uns vertrauen. Wir sind im Begriff, für die Welt etwas Wunderbares und Wichtiges hervorzubringen.« »Ihr begeht einen Schändungsakt. Du bist doch Katholikin. Wir sind doch zusammen in der Messe gewesen. Ich habe dich beten sehen!« »Ich halte jetzt ein Tuch über deinen Mund und deine Nase. Ich möchte, dass du tief Luft holst.« Als Marys Gesicht lächelnd und nahe über ihr aufragte, wurde Patricia beinahe klar... erinnerte sie sich fast... Doch die Stellung, die ihre neue angebliche Freundin in der Vergangenheit tatsächlich eingenommen hatte, lag ebenso wie die Jonathans nicht in der Reichweite ihres Bewusstseins. Mary stellte eine goldene Schüssel sie war mit einer klaren blauen Flüssigkeit gefüllt auf den Boden und tauchte ein Tuch in sie ein. Sie nahm Patricias Kopf in beide Hände und hielt ihr Gesicht nach oben. Sie hatte starke Arme; Patricia fehlte die Kraft, sich ihr zu widersetzen. Das Tuch verhüllte ihren Blick. Patricia hielt die Luft an. »Hole jetzt Luft, Patricia. Na, komm schon, Liebling.« Patricia hielt weiterhin die Luft an. Aber nicht für immer. Hinter ihr polterte eine Männerstimme: »Wir können ihn nicht halten!« Eine andere: »Franklin, es hat keinen Zweck. Es funktioniert einfach nicht, wenn sich beide unwillig verhalten.« »Seid alle still!« Ein lautes Händeklatschen. »Musik! Jetzt!« Eine lange, tiefe Melodie vibrierte in der Atmosphäre. Patricia sehnte sich allmählich verzweifelt nach Luft. Das feuchte Tuch erstickte sie. Mary flüsterte beruhigend auf sie ein, ihre hellgrünen Augen schienen so etwas wie Mitleid auszudrücken. Dann richtete sich ihr Blick auf etwas, das sich im Dunkeln aufhielt. Ihr Ausdruck verwandelte sich in Angst. Etwas Hartes und Kaltes berührte Patricias Schulter. Hinter ihr erklang ein abscheulich abgehacktes Atmen. Sein Klang vermischte sich mit der Musik. Hände, die so rau wie Borke waren, fingen an, Patricias Arme, ihre Taille und ihre Schenkel zu streicheln.
Kräftige Finger zerrissen ihre Kleider; sie kniete nun nackt zwischen den Stofffetzen. »Atme es ein, Patricia«, sagte Mary. »Atme es ein!« »Mary, geh weg von ihr.« »Sie ist nicht im geringsten betäubt, Franklin.« »Beeil dich siehst du denn nicht, was er vorhat?« »Franklin...« »Lauf! Er reißt dich in Stücke, wenn du ihm im Weg bist!« Patricia fühlte sich von den Beinen gerissen und von starken Armen gewiegt, die so eng waren wie Drähte. Sie schloss die Augen, denn sie hatte Angst, in die Augen desjenigen zu sehen, der sich schrecklich andersartig anfühlte. Die dumpfe Musik pulsierte, und die Gemeinde nahm ihr Klatschen wieder auf. »O Gott, bitte, nimm mich zu dir!« Sie hatte es kaum ausgesprochen, als auch schon Luft in ihre Lungen eindrang. Sie war klamm und schmeckte typisch nach Kirche nach Kerzenqualm und Weihrauch... und nach dem verschwitzten Rotz des Dinges, das sie festhielt. Jetzt hätte sie eine Betäubung willkommen geheißen. »Helft mir doch!« »Denke an unser Ziel, Patricia. Es ist das Opfer wert!« Mary war gar nicht ihre Freundin. Sie war eine von ihnen hier, jetzt; sie trug eine ungeweihte rote Tracht. Die nette, freundliche Mary. Sie hatte Patricia mit süßen Schlingen umgarnt. Patricia hielt die Augen geschlossen, als das Ding der Mann, oder was es auch war, sie auf den Altar legte und seine Hände über ihre bebende Haut gleiten ließ. Die Musik dröhnte tiefer als jede andere Orgelmelodie; sie wurde von einem Instrument erzeugt, das sich oben auf der Chor-Empore befand. Es waren so viele; die Heiligen-Geist-Kirche war so voll, wie es bei den Messen Pater Goodwins nie der Fall gewesen war. Tagsüber war Pater Goodwin damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass seine Handvoll Katholiken überhaupt kamen. Und nachts traf sich diese gewaltige, aufgeputzte, reiche Gemeinde hier, um offenbar Rituale ganz anderer Art abzuhalten. Der arme Pater. Dies mussten die verlorenen Glieder seiner Gemeinde sein; diejenigen, die nie zur Messe kamen. Ihr neuer Geliebter war schwer. Er warf sich ungeschlacht und keuchend auf sie und nagelte sie an den kalten Marmor des Altars. Wie oft hatte der Pater, genau an dieser Stelle, das Wunder der Umwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi
vollbracht. Sie wollte ihren nackten Körper von dem heiligen Ort erheben, aber sie konnte es nicht. Er bedeckte sie mit dem seinen, hüllte sie ein, zerdrückte sie so sehr, dass die Luft aus ihren Lungen entwich. Die Musik wurde nun schneller. Bis jetzt hatte Patricia sich als >letzte Jungfrau< bezeichnet und das alte katholische Spiel > Wie weit kann man gehen< gespielt; sie hatte zugelassen, dass man ihre Schenkel streichelte, ihre Brust berührte und den Druckbehoster Härte an ihrem Knie gespürt. Sie zuckte. Er war so schwer, so groß, er roch so muffig. Er nahm seine schmutzige Arbeit in Angriff. Patricia konnte spüren, wie er in ihrem Intimbereich stocherte und bohrte. Sie versuchte, die Knie zusammenzudrücken, aber es war sinnlos. »O Gott! O Gott!« Der Schmerz schnitt ihre Worte ab. Die schwarze Musik donnerte und pulsierte. Die Gemeinde stöhnte wie aus einem Munde. Die Kirche warf das Echo des Keuchens einer monströsen Leidenschaft zurück. »Goooott!« Es gab keine Antwort, kein Gefühl seiner Gegenwart. Überhaupt nichts. Bestimmt liebst du mich noch immer, Jesus. Du willst, dass ich zu dir in den Himmel komme. Du hast mich nicht verstoßen. Nein. Doch wenn du mich nicht mehr willst... Die Arme umschlangen sie ganz. »Patricia, versteh doch es wird weh tun, wenn du dich nicht beruhigst!« Die Worte führten nur dazu, dass sie sich noch heftiger wehrte. Plötzlich empfand sie einen Schmerz, der wie Feuer zwischen ihren Beinen war, und so intensiv, dass er ihr einen durchdringenden Aufschrei entlockte. »Das hat die Nachbarschaft geweckt!« rief jemand. »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.« »Auf der anderen Straßenseite ist ein Licht angegangen!« »Okay, holt ihn runter. So funktioniert es nicht.« Hände griffen nach der finsteren Gestalt, die auf ihr hing, doch sie fauchte, schlug zurück und unternahm einen weiteren Versuch, ihr weh zu tun. Die Gestalt stieß zu, bohrte, warf sich auf sie. Sämtliche Gedanken Patricias, all ihre Gebete wurden in einem schmerzenden Blitz fortgeschwemmt, als Knochen knackten und Nerven sich trennten. Ihr Bewusstsein nahm ab. Sie vernahm entfernte Rufe und sah die aufgeregte, Luftsprünge machende Gestalt Mr. Apples in einem Ornat, das um seinen Kopf herumflog.
Dann war das zermalmende Gewicht weg. »Beruhigt ihn! Lasst ihn nicht aus dem Kreis.« Dies war das Letzte, was sie verstand. Zwar hörte sie noch Stimmen, aber sie waren nur noch summende Misstöne ohne Zusammenhang. Das Licht ihres Bewusstseins flackerte und erstarb allmählich. Als Schwester Mary diesmal das süß riechende Tuch gegen Patricias Gesicht presste, inhalierte sie dankbar, schluchzend und keuchend. »Du wirst vergessen«, sagte Marys Stimme. »O Mary, warum hast du zugelassen, dass er mir weh getan hat...« Die Finsternis kam, und sie sank wieder in den Traum zurück, den sie das normale Leben nannte. Man ließ sie verletzt und blutend allein.
Mary: Das Wiederaufleben der Inquisition Ich habe solche Angst um Patricia und Jonathan, dass ich sie ertragen kann. Wir haben heute abend einen äußerst schrecklichen Fehler mit ihnen begangen. Unglaublich, dass wir so dumm sein konnten! Ist es etwa nicht unglaublich? In einer Institution, die zweitausend Jahre alt ist, gibt es für jeden Fehler einen Präzedenzfall. Jene, die 1334 voreilig den Schwarzen Tod losließen, haben schließlich einen noch größeren Fehler gemacht als wir. Aber das ist Geschichte, und dies hier ist die Gegenwart. Sie blutet; vielleicht stirbt sie sogar in diesem Moment! Könnte ich Blut schwitzen, ich glaube, ich würde es jetzt tun.. Doch ich bin völlig hilflos. Wenn ich mich jetzt zeige, riskiere ich die Bloßstellung der gesamten Kirche. Fehlern darf nicht erlaubt werden sich fortzupflanzen. Deswegen verbringe ich die Stunden vor dem Morgengrauen schreibend und in der Hoffnung, dass mich die Handlung, Worte zu Papier zu bringen, irgendwann so entspannt, dass ich ein paar Stunden Ruhe finde. Welch eine Katastrophe! Und wir haben soviel Zeit vergeudet, nachdem sie verletzt wurde! Wir mussten uns erst entfernen, bevor wir den Pfarrer rufen konnten. Ich kann nur hoffen und beten, dass er Patricia rechtzeitig ins Krankenhaus bringt. Mein Gott, wir mussten sie allein lassen! Ich sehe mir die Worte an, die auf dem Papier stehen trocken und unbeweglich. Worte der Furcht. Ich denke es, ich sage es: Furcht,
Furcht, Furcht. Wir leben genauso wie alle Nachtwesen wir verstecken uns, schleichen herum und wissen zu schweigen. Wir und die Ratten, die Eulen, die Fledermäuse. Die Kinder sind so unglaublich wichtig. Bitte, bitte, ihnen darf nichts mehr passieren. Unser Fehler hat sie einem noch schlimmeren Gegner ausgesetzt als unserer eigenen Dummheit! Die Inquisition hat unser protziges öffentliches Fiasko gewiss bemerkt. Nun wird unser unermüdlicher alter Gegner wieder hinter ihnen her sein. Er versteckt sich ein paar Jahre, wiegt uns in Sicherheit, führt uns in Versuchung... Dann stürzt er aus dem Nichts hervor direkt auf unsere Kehle! Die Inquisition wird uns so lange bekämpfen, bis der Katholizismus eingeht. Im letzten Moment der letzten katholischen Kirche auf Erden wird der letzte Priester den letzten Schlag gegen uns führen. Die Kirche behauptet, wir seien bösartig, wir arbeiten daran, dass Satan sich manifestiert, um ihm seine physische Gestalt zu geben. Liebe Inquisitoren, lasst euch gesagt sein: Weder ist das Böse in seiner Gesamtheit schwarz, noch ist euer >Satan< in seiner Gänze schlecht, und die Welt ist auch nicht so einfach, wie ihr es gern glauben würdet. Inquisition bedeutet Ermittlung. Verhör. Welch kleines Wort für diesen gewaltigen Terror. Für die normale Welt ist die Inquisition tot und vergangen. Was würde der Durchschnittskatholik empfinden, wenn er wüsste, dass der gut aussehende Priester mit der Aktentasche, der so zuversichtlich aus der Kanzlei schreitet, ein Inquisitor ist? Und dass seine Samsonite-Tasche Daumenschrauben, ein Peilgerät und eine Autobombe enthält? Daddy hat gelacht und sie Christus-Terroristen genannt. Ich lache nicht. Sie haben meinen Vater getötet, indem sie ihn Plutonium aussetzten. Sie haben dieses spezielle Grauen gewählt, damit die Strahlung uns hindert, seinen Samen zu bergen, und damit seine wertvollen Gene. Daddy war von Geschwüren bedeckt, er hat gekeucht, das Haar ist ihm auf dem Kissen ausgefallen. O Gott, steh uns bei! Bewahre die Kinder vor einem solchen Schicksal. Bewahre meine Jungen!
Müssen die heißen Sommertage in diesem Herbst sein? Tod, Geburt, das Vergehen der Jahreszeiten, Veränderungen am Himmel: Jonathan ist das Ende einer langen Reihe, die Perfektion einer geduldigen zweitausendjährigen Zucht. Die Inquisition ist so geschickt. Wie kann sie nur so verdammt gut bei diesen Dingen sein? Sie besteht doch nur aus einer Bande fanatischer Priester! Die Welt hat uns zwar vergessen, aber die Kirche nicht; nicht einen Augenblick. Ich höre mein Herz schlagen: Bumm, bumm; rette sein Leben, rette sein Leben. Ich werde dich lieben, bis mein Herz bricht; ich kann nicht atmen, wenn ich dich berühre, und ich kann nicht sprechen, wenn ich deine Schönheit schaue. Du bist so gern geschwommen, du hast so gern Basketball gespielt; du hast Radio gehört und dir die Sterne angesehen. Wir haben deinen Geist vergewaltigt, damit nicht einmal die Inquisition die wahre Identität aus die herausfoltern kann. Und jetzt schau die Katastrophe dieses Abends wird sie so anziehen, wie ein Kadaver die Fliegen anzieht! Ich habe meinen Vater geliebt. Ich habe auch meinen Gatten geliebt. Der arme Martin. Er war so glücklich und sah so gut aus! Doch auch an ihn will ich nicht mehr denken. Ich habe Sehnsucht nach meinen Männern, nach Daddy und Martin! Es ist eine Freude, seinen Namen zu schreiben. Er hatte einen so schönen Namen. Ich kann es fast spüren, wie seine Maschine abstürzt. Ich stelle mir vor, wie der Wind an den bewegungslosen Propellern vorbeizischt. Ich kenne sämtliche Einzelheiten der Einsamkeit; die Kälte plötzlich leerer Bettdecken, die Kisten voller Anzüge, die auf dem Dachboden stehen. Und dann gibt es auch noch Mike. Ach, Mike. Wenn du wüsstest, für wie langweilig ich dich halte. Ich habe dich nur deswegen geheiratet, weil du, ohne es zu wissen, eine gute Tarnung für Jonathan abgibst. Sogar die Inquisition wird zögern, den Sohn eines Polizeibeamten umzubringen. Das hoffen wir jedenfalls. Wird alles funktionieren, was es auch sei? Können wir der Inquisition je entkommen? »Durch die Nächte, durch die Tage; durch die Biegungen der Zeit, der Himmelhund...«
Er heult im Umkreis der Finsternis und in meinem Herzen. Ich fühle mich schrecklich. Ich kann die düstere alte Kirche, die wir benutzen, nicht ausstehen. Natürlich kann unser Priester keinen besseren Pfarrbezirk leiten. Ich schwitze. Mir ist schlecht. Ich stelle mir vor, wie es ist, wenn man mich in die Eiserne Jungfrau steckt, den eisernen Sarkophag, der innen mit Dornen versehen ist. Wird sie geschlossen, durchdringen die Spitzen der Dornen den Leib des Opfers einen Zentimeter tief. Mutter Regina war drei Stunden lang in ihr. 1954. Sie hat wirklich geredet! Sie hat der Inquisition den gesamten Abstammungsverlauf verraten und ihr unsere ganze Geschichte erzählt. - Gegründet von Titus Flavius Sabinus Vespasianus, am Sonntag, dem 9. September im Jahre des Herrn 70, auf den noch rauchenden Ruinen des Salomontempels in Jerusalem. - Basierend auf jenen Zuchtgeheimnissen, die man heute als Genetik bezeichnet, die enthalten sind in den Schriftrollen, die man als Salomons Schatz kennt. - Beauftragt mit der Zucht einer neuen und höheren Spezies aus altem menschlichem Material; einer Spezies, die sich mit dem verbindet, was die Menschheit das Böse nennt, so wie sie mit dem verbunden ist, was sie als das Gute bezeichnet. Doch das Böse ist weder böse, noch ist das Gute gut. Beides sind einfach unterschiedliche Prinzipien. Der Mensch bezeichnet sich selbst als schön. Laut seinen Kriterien wird das, was ihn ersetzt, so grauenhaft sein, dass es jeder Beschreibung spottet. Doch die Spezies, die ihn ersetzt, wird mächtig sein, klüger als er, resistenter gegen Krankheiten und viel naturverbundener. Die ganze Sache liegt am Blut. Jonathan und Patricia sind so wertvoll wegen ihres Blutes. Sie sind laut den salomonischen Prinzipien die Meisterwerke der Zucht von Jahrtausenden. Aus ihrer Verbindung wird eine neue Spezies entstehen. Das hier ist schlimmer, als im Schlafzimmer zu liegen und zu schwitzen. Es ist... o Teufel, ich werde dieses Stück Papier verbrennen und mich ins Dunkle setzen. Die arme Patricia. Wie sie geschrien hat! »Hilf ihr, Mary.« Du hast es gesagt, Franklin, du Tor! Gott weiß, dass ich es versucht habe.
3. Kapitel
Pater Harry Goodwin erwachte urplötzlich vom Läuten seines Telefons. Das Schrillen explodierte in seinem Kopf. Einmal. Zweimal. Dann noch einmal. Stille. Bitte, läute weiter. Bitte! Nein. Die Stille blieb. Es würde kein viertes Läuten geben. Harry hievte sich auf den Bettrand. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich in tausend Stücke zerbrechen. Ihm war schlecht vor Angst. Die ganzen Jahre hatte er sich davor gefürchtet, das es in irgendeiner Nacht, in der die Titusianer seine Kirche benutzten, dreimal klingeln würde. Das dreimalige Klingeln war ein Signal für den größten anzunehmenden Unfall. Es konnte nur eins bedeuten: Irgend etwas war schrecklich schiefgegangen, und seine Kirche war in Gefahr. Seine erste Reaktion war, zur Kirche hinüberzurennen, doch er fühlte sich, als sei er in erstickendem Unrat versunken. Die Angst lahmte ihn. Es dauerte mehrere Minuten, bis er es schaffte, zum Fenster zu kommen und zur Kirche hinüberzuschauen. Er hatte damit gerechnet, Zerstörungen zu sehen; eine Feuersbrunst oder irgendein namenloses Grauen etwa ein beschwörtes Ding -, das über die Dachpfannen kroch. Aber es gab nicht einmal einen Anflug von Rauch an der Dachlinie des alten Gebäudes; nicht einmal ein Flackern hinter den bunten Glasscheiben. Harry Goodwin pochte an sein eigenes Fenster. Wenn die Kirche niederbrannte, gab es keine Chance mehr für einen Neubau. Ein Brand bedeutete für seinen schönen alten Pfarrbezirk das Ende. Vielleicht war das dreimalige Klingeln ein Zufall gewesen. Die Kirche auf der anderen Seite des Parkplatzes sah äußerst friedlich aus. Der Anfang eines frühmorgendlichen Regens ließ sie leicht verschwimmen. Die vertraute morgendliche Erschöpfung ließ Harry gebeugt gehen. Sein Wecker stand auf 4.15 Uhr. In zwei Stunden musste er die erste Messe abhalten... vor einer Gemeinde von vielleicht sieben Personen, in einer Kirche, die man gebaut hatte, damit sie fünfhundert aufnahm. »Freitag«, murmelte er. »Gott, gib mir Kraft.« Er fühlte sich entsetzlich. Hatte er gestern abend eine Schlaftablette genommen? Nein, es waren keine mehr da. Um so besser. Tabletten waren keine Lösung. Valium-Priester, Seconal-Priester, Thorazin-Priester. Sie waren schlimmer als die Whisky-Priester alter Zeit. Bisher war er den Verlockungen der Beruhigungsmittel und Stimmungspillen
entkommen. Das Ergebnis: Sein Leben war hart von Einsamkeit und dem Gefühl unerfüllter Versprechungen. Der Hauptgrund dafür war freilich sein zweifelnder Glaube. Sein Beichtvater, Pater Michael Brautigan, ein raubeiniger und freundlicher Jesuit, würde blau .wie immer sagen, beim Glauben käme es darauf an, seinen Instinkt zu entspannen, um mit etwas in Berührung zu kommen. »Versuche nicht, mit Christus in Berührung zu kommen«, sagte er manchmal. »Darum geht's bei Thomas doch, oder?« Harry musste mit etwas in Berührung kommen. Aber die Sache hatte zwei Seiten: Wer andere berührte, brauchte die Berührung ebenfalls. Manchmal tauchte er, unbekleidet inmitten seiner stillen Pfarrei, die Hände ins kalte Wasser, bis sie lahm waren und er sie nicht mehr fühlte, dann schloss er die Augen, legte die Hände auf seine Schultern und tanzte mit sich selbst durch die schäbigen Räume. Kürzlich war er zu verzweifelt gewesen, hatte selbst dafür zuviel Selbstmitleid gehabt. Niemals berührt das heißt gebraucht zu werden, war ihm als das verderbliche Hauptproblem seiner Existenz erschienen. Als er zum Priester geweiht worden war, war er davon ausgegangen, die Katholiken, die nach dem Beistand ihrer Kirche hungerten, würden seine Dienste inbrünstig herbeisehnen. Doch statt dessen hatte er sein Leben damit verbracht, das Bezahlen von Rechnungen hinauszuzögern, seine immer kleiner werdende Gemeinde zusammenzuhalten, und war dazu gezwungen worden, Wohltätigkeitsbasare, Bingospiele und Tombolas abzuhalten, bis schließlich auch diese Maßnahmen versagt hatten. Und dann waren die Titusianer gekommen. Der alte Franklin und der gut aussehende Martin hatten >die Anlage<, wie sie es ausdrückten, ein paar Nächte pro Woche mieten wollen. Niemand wird es erfahren, Pater. Wir stehen Dutzenden von Pfarrbezirken auf die gleiche Weise bei wie der Heiligen-Geist-Kirche. Niemand außer Ihnen wird sich dafür interessierten. Unser Geld wird Ihnen helfen. Sie werden die Tore niemals schließen müssen.
Zuerst hatte er angenommen, dass es um Drogen, Fälschungen oder irgendeine Art von weißem Sklavenhandel ging. Doch er hatte ihren leisen Gesang gehört und das Geflacker ihrer Kerzen gesehen. Obwohl er es sich selbst nicht eingestanden, kannte er die Wahrheit. Jeden Montag und Freitagmorgen, nach diesen Nächten, hatte er den Altar neu weihen müssen. Und er
verwahrte die Hostien in diesen Nächten auch nicht mehr im Tabernakel auf. Sie blieben unter seinem Kissen, versteckt im Ziborium. Siebenundzwanzig Jahre Priester. Seit zwanzig Jahren eine Kreatur der Titusianer. Verräter an seinem eigenen Glauben, an seiner eigenen Seele. Wie finster kann die Sünde sein? Er drückte die Hände auf seine stoppeligen Wangen und rieb sie. Er sehnte sich nach den samtenen Fingern einer Frau, oder nach denen des Todes. Als die Zeit die traurige Bestimmung offenbart hatte, die ihm zugedacht worden war, hatte er begriffen, dass sein ganzes Leben selbst seine Berufung im Grunde gar keinen Wert hatte. In der Welt seiner Jugend waren Priester unentbehrliche Leute gewesen, und ihre Gemeinden hatten sie für alle Arten von Beistand gebraucht. Wenn die Blätter jetzt auf seinen Gang fielen, blieben sie liegen, und das undichte Dach leckte weiter. Seine Finger fanden die richtigen Schalter, und er betätigte sie alle auf einmal. Licht überflutete die Kirche. Auf dem Altar lag eine Frau. Auf dem Rücken. Ihr Blut floss in dünnen Rinnsalen auf den Boden der Sakristei. Harry hatte nur einen Augenblick, um zu erschrecken. Das Mädchen stöhnte schon wieder schrecklich. Er näherte sich dem Altar. Die Arme lag in einer dunklen Pfütze ihres eigenen Blutes, die Beine gespreizt, die Arme in die Seiten gestemmt, das Haar fiel ihr übers Gesicht. Die Tatsache, dass er die Frau sehr gut kannte, entriss seiner Kehle den ersten Ton. Sein eigener Aufschrei war realer und beängstigender für ihn, als das sich vor ihm ausbreitende Grauen. In seiner Eile, das Telefon in der Sakristei zu erreichen, ließ er die Pistole fallen, die in der Finsternis hinter dem Hochaltar am Rückteil des Kirchenschiffes scheppernd zu Boden fiel. Es. war unglaublich. Dies konnte er nicht verzeihen. Und doch... Er musste mit der ganzen Affäre äußerst vorsichtig umgehen. Sein eigenes Leben, seine eigene Seele schaukelte auf des Messers Schneide. Er wandte sich von dem grauenhaften Anblick ab, eilte mit langen Schritten zum Telefon und wählte 911. Die Titusianer würden zwar schäumen, wenn er die Polizei anrief, aber was konnten sie anderes von ihm erwarten? Sie waren einfach verschwunden und hatten ihn ohne ein erklärendes Wort mit dieser Tragödie alleingelassen. Draußen waren Stimmen zu hören. Nachbarn. Natürlich die Schreie des Mädchens hatten die Nachbarschaft aufgeweckt. Die
Titusianer hatten bestimmt nicht die Absicht gehabt, sie hier zurückzulassen. Die Umstände hatten sie dazu gezwungen. Vielleicht wollen sie sogar, dass sie gerettet wurde. Sie würde auf jeden Fall gerettet werden. Harry Goodwin hatte vielleicht nicht mehr viel von einem Priester an sich, aber er war immer noch ein menschliches Wesen. Kurz nachdem er aufgelegt hatte, hörte er die ersten Sirenen. Über die Hälfte der New Yorker Stadtpolizei bestand aus Katholiken, die die Kirche fast ebenso sorgfältig beschützten wie die Kirche sich selbst. Harry kannte einen der beiden Beamten, die mit gezogenen Waffen durch den Gang rannten. Er hieß Timothy Reilly. Kaum zu glauben, dass ein solch knochiger, ausgelassener Messdiener zu einem solch gewaltigen, kompetent wirkenden Mann in Blau herangewachsen war. Reilly überschaute die Lage mit einem Blick. »Glauben Sie, dass er noch in der Kirche ist, Pater?« Harry erzählte ihm wie ihm bewusst wurde die erste von vielen Lügen, die noch folgen würden. »Ich habe geglaubt, ich hätte ihn gehört, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht war es auch nur das Echo einer Tür, die geschlossen wurde.« Er musste die Cops dazu bringen, dass sie die Kirche absuchten. Er musste Titus und seiner Gemeinde etwas mehr Vorsprung verschaffen. Reillys Partner fing mit einer Taschenlampe an zu suchen, während Reilly sich neben Harry vor das arme, verletzte Mädchen stellte. Ihre Augen klappten langsam nach oben. »Sie heißt Patricia Murray«, sagte Harry, und Leid nagte an seinem Herzen. »Sie gehört zu den am härtesten arbeitenden jungen Frauen im Pfarrbezirk.« Seine Kehle wurde enger. »Sie gehört zu meinen besten Leuten.« Es war sinnlos und dumm, aber er war so voller Zorn, Selbstverachtung und Leid, dass er sich wünschte, man würde ihn auf der Stelle in Stücke reißen und die widerlichen Fetzen seines Ichs in den schmutzigsten Tiefen der Gruft verstreuen, wobei jedes für sich das volle und ganze ewige Strafmaß der Verdammnis erleiden musste. »Sie ist schwer verletzt, Pater. Sie darf nicht so viel Blut verlieren. Hoffentlich ist der Notarzt bald hier.« »Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten.« Harry rannte in die Sakristei und zog den uralten Kasten aus dem alten Regal. Als er zurückeilte, betastete er den Verschluss. Als er den Kasten offen hatte, waren die Bandagen verrottet und mit Schabenhaut bedeckt. Die Medizin war vertrocknet und unbrauchbar, die Aderpresse ein spröder Haufen aus Gummi.
»Wollen Sie sie nicht salben, Pater?« »Salben?« Das Bürschlein hatte angenommen, er würde das Chrisam holen. »Oh, natürlich.« Draußen ertönte eine weitere Sirene. Zwei schwarze Sanitäter eilten durch die Reihen der vom Alter verdunkelten Kirchenbänke und schleppten eine Tragbahre und andere Ausrüstungsgegenstände. Als sie den Altar erreicht hatten, schritten sie mit blitzartiger Professionalität zur Aktion, packten Bandagen, Plasma, Nadeln und Spritzen aus. Sekunden später war die Nacktheit der Frau von Mull und Klebeband bedeckt. Sie lag mit blauen Flecken da und wirkte wie eine Tote im Leichenhaus. Ihre Augen waren wächsern und starrten vor sich hin; ihre Haut war grau. »Hat sie Drogen genommen?« »Bestimmt nicht. Sie ist eine sehr gute Katholikin.« »Dann hat man ihr Drogen verabreicht. Benachrichtigen Sie lieber ihre nächsten Verwandten, Pater.« »Sie hat keine Verwandten. Sie ist in einem Waisenhaus groß geworden. Sie wurde im Marienheim erzogen. Sie hat kaum über ihre Vergangenheit gesprochen. Und sie gehört unserer Gemeinde erst seit einem knappen halben Jahr an.« Immer mehr Polizisten betraten die Kirche. Draußen stellten die Sirenen ihr Geheul ein. Offenbar hatte sich das ganze Revier hier versammelt. Harry fragte sich, ob er den Männern vielleicht eine große Kanne Kaffee machen sollte. Nein, das war eine blöde Idee. Als er nach unten schaute und das heilige Öl an seinen Händen sah, wurde ihm klar, dass er einen Schock hatte und sich wie ein Roboter bewegte. Ein Teil seines Ichs führte immer noch seelsorgerische Pflichten aus. Der Rest wünschte sich in diesem Augenblick, alles andere zu tun und zu sein. Was auch immer. Patricia lag bereits auf der Trage. Harry bahnte sich einen Weg an ihre Seite und fing an, ihr das Sakrament zu erteilen. Die Sanitäter fuhren sie schnell durch den Gang. Er murmelte sein Gebet, als einer der Männer wie selbstverständlich in ein Walkie-Talkie sprach. »Multiple Beckenbrüche, eventuell gebrochenes Rückgrat, starke Vaginalblutung und deutliche Blässe. Haben Plasma und Antischockverfahren mit Kältepackung verabreicht. Patientin im Schockzustand, zweites Stadium, möglicherweise Drogenopfer.« Das Ambulanzfahrzeug schaltete die Sirene ein und ließ das Licht aufblitzen, als die Trage hineingeschoben wurde. Die Türen
knallten hinter den beiden Schwarzen und ihrer weißverpackten Patientin zu. Harry blieb mit dem Chrisam in der Hand zurück. Er hatte das Sakrament nicht voll erteilen können. Er wischte das restliche Öl von seinem Daumen sorgfältig am Rand des Behälters ab. Dann verschloss er ihn und machte sich auf, um in die Kirche zurückzukehren. Mike Banion stand im Eingang; er sah in dem Licht, das hinter ihm sichtbar war, wie ein vierschrötiger Baumstumpf aus. Er war ein wichtiger Polizist, ein Detective Inspector, achtzehn Jahre im Dienst und der beste Freund, den Harry Goodwin je gehabt hatte. Mike war sowohl körperlich als auch politisch stark. Man traf ihn bei sämtlichen Polizistenbeerdigungen und großen, schlagzeilenträchtigen Verbrechen an. Im Moment sah er sich mit verletztem Kinderblick durch seine vertrauten Zweistärkengläser um. Ihn hier zu sehen, bestätigte die Ernsthaftigkeit der ganzen Affäre. Also war auch dies ein schlagzeilenträchtiges Verbrechen. Als wolle es das Schreckliche der ganzen Situation bestätigen, kam brüllend ein Fahrzeug der Kanal-2-Nachrichten die Morris Street entlang und stoppte. Der Regen nieselte nur noch, das Morgengrauen setzte dazu an, die Umrisse der blitzenden Wagen zu zeichnen und berührte das Kreuz auf dem Turm mit einem feinen, grauen Leuchten. Als Harry zum Turm hinaufsah, hatte er sich fast wieder unter Kontrolle, doch als er dann nach unten schaute, verengte sich seine Kehle und seine Augen fingen erneut an zu tränen. »Pater Goodrich, ich bin Charles Datridge von den Kanal2Nachrichten.« Ein junger Mann streckte ihm die Hand entgegen, während ein dickliches Mädchen ihm mit einer Puderquaste durchs Gesicht fuhr. »Was dagegen, wenn wir jetzt anfangen?« »Ich...« Plötzlich flammte eisenblaues Licht auf. Harry kniff die Augen zusammen. »Bewegung!« rief eine Stimme hinter dem Leuchten. »Ton! Tempo!« »Hier spricht Charles Datridge. Wir befinden uns vor der Heiligen-Kirche in Queens. Bei mir ist Pater Michael Goodrich. Pater Goodrich...« »Abbrechen, Charlie.« »In Ordnung, Inspektor. Mach das Licht aus, Benny.« »Heiligen-Geist-Kirche, Charlie. Und der Pfarrer heißt Harry Goodwin, nicht Michael Goodrich. Ihr bleibt in eurem Wagen, bis wir
etwas über den Täter wissen. Dann könnt ihr eure Aufnahmen machen. Vorausgesetzt, ihr haltet jetzt unsere Spielregeln ein.« »Machen wir, Inspektor.« »Vielen Dank, Charlie. Kommen Sie, Pater, gehen wir irgendwohin, wo wir uns unterhalten können. Hast du Kaffee in der Küche?« »Klar, Mike, ich kann eine Kanne aufsetzen.« Mike Banion wandte sich der Pfarrei zu. »Charlie leidet an Nachrichtenfieber. Er ist der rasende Reporter von Kanal 2.« Er lachte; es war ein tiefer, beruhigender Klang, die leichte Heiterkeit der Autorität. »In ein paar Stunden hast du eine ganze Horde von denen auf dem Hals. Zuerst wird die Post hier sein und nach Fotos Ausschau halten. >Wo ist die Leiche?< werden sie rufen. Dann kommen die von der News; die wollen wahrscheinlich Aufnahmen vom Altar machen. Dann die Fernseh und Rundfunksender, und alle werden wie die Irren durcheinander quasseln.« Er lachte erneut. »Wenn's hell wird, wird möglicherweise ein Typ von der Times anrufen. Er heißt Terry Quist. Aber da du Priester bist, wird er sich als Terence vorstellen. Er wird die Geschichte zwar schon in allen Einzelheiten kennen, aber er wird dir das wirklich Wichtige aus der Nase ziehen; etwa, wie man sich nach so was fühlt.« Sie erreichten die Pfarrei. »Tut mir leid, dass ich es sagen muss, Harry, aber du wirst berühmt werden. Und das arme Mädchen auch.« »Mike, sie war ein Vorbild für die Gemeinde, sie gehörte zu wenigen jungen Leuten, die sich wirklich um etwas kümmern. Sie war wunderbar, sie war mein Star.« »Das höre ich nicht so gern, Harry. Es muss dir ganz schön wehtun. Ich nehme an, der Täter hat es gewusst. Ich meine, da gibt es einen hübschen Pfarrbezirks-Star, und er schnappt sie sich und vergewaltigt sie brutal auf dem Altar. Das sagt mir, dass er es gewusst hat, und dass wir es mit einem der Fälle zu tun haben, wo einer mitspielt, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Vielleicht war's jemand, den sie kannte. Jemand, der sich mit Absicht an sie rangemacht hat. Teufel, es könnte sogar eine Pfarrbezirks-Affäre sein. Ein Psychopath.« Sie kamen in die Küche. Harry schaltete das Licht ein und enthüllte den alten Herd, die verschmutzten Schränke, das gelb werdende Wachstuch auf dem Tisch. »Lass mich einen Kaffee machen«, sagte er. »Füll ihn bis zum Rand mit Tand.« »Ich hab keinen Muckefuck, Mike.« »Und ich trinke keinen. Ich wollte nur einen leichteren Ton
anschlagen. Das senkt unseren Blutdruck und rettet uns vor dem Infarkt. Ein Verbrechen wie das hier hat Auswirkungen auf einen, Pater. Es frisst einen auf.« Harry sah ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Kurz darauf fuhr Mike fort: »Die Kleine war also ein Star im Pfarrbezirk. Und sie war zu einer sehr ungewöhnlichen Zeit allein in der Kirche. War sie ein bisschen bekloppt in Sachen Religion? Ich meine, besteht die Möglichkeit, dass sie aus eigenem Antrieb hier hergekommen ist und ein paar Penner erwischt hat, die auf den Kirchenbänken schliefen? Es ist wichtig, dass wir das wissen.« »Sie war eine solide, ganz normale Person. Sie hat mir erzählt, dass ihre Eltern bei einem Brand umgekommen sind. Sie lebt seit etwa sechs Monaten in Queens. Sie hat sich nur verschwommen über ihre Vergangenheit geäußert. Ziemlich vage. Aber sie war ein wirklich gutes Mädchen, Mike. Ein verdammt gutes Mädchen.« Mike Banion sank auf einen Stuhl. Der Kessel fing an zu pfeifen, und Harry schüttete das Wasser in ihre Tassen. Als Mike den Dampf inhalierte, hustete er wie ein Fahrzeug, das nicht anspringen will. »Ein nebliger Morgen«, sagte er und wog die Tasse in den Händen. Plötzlich sah er Harry direkt an. Und wie immer überraschte Harry der Schmerz in seinem Blick. Seit dem Tag, an dem Mikes erste Frau gestorben war, hatte er ihn nicht mehr abgelegt. Obwohl Mike wieder verheiratet war, ging er immer noch jeden Sonntag an Beths Grab. »Harry, erzähl mir deine Geschichte. Was hast du gesehen?« »Ich war wach. Die übliche Morgenhölle. Wir haben uns darüber ja schon öfter unterhalten.« »Wach, geil, besorgt.« Die Kälte im Raum hüllte Harry ein. Er redete zuviel mit Mike Banion; er hatte ihm bis auf die wirklich schlimmen Dinge die Geschichte mit dem Titusianern alles erzählt. Durfte ein Angehöriger der Gemeinde seinen Pfarrer so intim kennen? Aber wenn nicht Mike, wer dann? Harry reagierte auf die Akkuratesse von Mikes Aussage mit einem Nicken. »Ich habe ein Geräusch gehört. Es war laut. Ein schreckliches Stöhnen. Also ging ich rüber, um mal nachzusehen.« Ich habe es dreimal klingeln hören. Das Notsignal. Aber das kann ich dir nicht erzählen.
»Muss ganz schön laut gewesen sein.« »Sehr.« »Die Kirche war natürlich nicht abgeschlossen.« Darauf hatte Harry gewartet. »Du weißt doch, dass sie immer offen ist.«
Mikes Gesicht verfinsterte sich. Harry und er hatten schon Dutzende von Malen darüber gesprochen. Er schaute zu, wie Mike seine Zigarre neu anzündete und einen langen Zug machte. Mike rauchte auf die gleiche Weise Zigarren, wie andere Menschen Zigaretten rauchten. Er behauptete, nie betrunken zu werden, weil sich in seinem Blut so viel Nikotin befand, dass für Alkohol gar kein Platz mehr war. Gab man ihm einen halben Liter guten Scotch, nickte er vielleicht mal kurz ein, aber das war auch alles. »In Zukunft schließt du deine Kirche um 22.00 Uhr ab, Harry. Du darfst es als Befehl ansehen. Ich werde den Männern von der Streife sagen, dass sie es nachprüfen sollen. Glaub also nicht, ich würde es nicht erfahren.« Mikes große, fleckige Hand langte über den Tisch und legte sich auf die Harry s. Die Berührung währte nur einen kurzen Augenblick, doch die Güte, die darin lag, führte dazu, dass Harry sich fast unerträglich schämte. Danke, Gott, für gute Freunde, die da sind, wenn man sie braucht. Die Geste trug nicht dazu bei, seine Scham über das, was aus ihm geworden war, offenzulegen; sie malte sie nur in einem verbitterten Licht. »Kirchen müssen offen sein«, sagte er. »Du bist sentimental. Das ist eine Schwäche.« »Gott steh mir bei, das arme Mädchen ist in meiner Kirche vergewaltigt worden! Mike, sag nicht, es hätte daran gelegen, weil sie nicht abgeschlossen war.« »Ich werfe dir nichts vor, Pater. Sag mir nur, ob du den Täter deutlich genug gesehen hast, um ihn mir zu beschreiben.« Und jetzt wieder eine Lüge. »Ich habe ein Geräusch gehört. Vielleicht war es ein Husten, vielleicht aber auch das Geräusch einer Seitentür, die zuging.« »Das bedeutet, dass der Bursche erst in dem Moment abgehauen ist. Dann muss er noch in der Umgebung sein.« »Ja. Ich habe Reilly gesagt...« Mike Banion stand auf und ging durch die Küchentür hinaus. Kurz darauf schrie er etwas. Harry hörte, wie er rief, man hätte schon längst Straßensperren errichten und die Häuser durchkämmen sollen, und so weiter. Cops bewegten sich von hier nach dort, Lichter flammten auf, Stimmen durchbrachen fortwährend die morgendliche Stille. Kurz darauf kam Mike wieder in die Küche zurück. »Bei Gott, warum hast du mir nicht gesagt, wie sie heißt?« »Habe ich... das nicht?«
»Reilly sagt, sie heißt Pat Murray. Stimmt das, Pater?« »Nun ja, es stimmt, Mike.« »Sie ist eine gute Freundin meiner Frau. Sie hatte ein Rendezvous mit meinem Stiefsohn!« Mike Banion polterte in den Kirchhof hinunter. Kurz darauf schlitterte sein alter Dodge zur Ausfahrt des schlammigen Parkplatzes. Pater Harry Goodwin blieb eine ganze Weile einfach nur sitzen und starrte vor sich hin. Dann versuchte er zu beten. Seine Worte waren der reinste Hohn, und bald verloren sie sich in der Stille.
4. Kapitel Sie geleiteten Jonathan zu einem Wagen und brachten ihn nach Hause. Sie badeten und überwachten ihn sechs junge Schwestern in roten Trachten und ein todernster Mann von etwa dreißig, der so freundlich war, dass er ihn einfach gernhaben musste. Er legte seinen erschöpften Freund ins Bett.
Jonathan träumte von nassen Zweigen, die in sein Gesicht stachen und nach seinen Armen schnappten. Er rannte durch einen bösartigen Dschungel aus zuschnappenden Pflanzen und glatten, vor Erregung kochenden Lebewesen, die sich kaum zeigten. In seinem Traum lief er mit der Kraft eines starken Tieres und dem Hunger eines Monsters. Er verfolgte eine Frau. »Er hat einen Albtraum«, sagte eine der Schwestern. »Sollen wir ihn nicht aufwecken, Jerry?« »Lasst ihn schlafen.« Jerry Cochran wischte über Jonathans verschwitzte Stirn. Im Traum streckte Jonathan die Arme aus, griff nach dem fliegenden Haar seiner Traumfrau und schrie sein Verlangen hinaus. Sie rannte weiter, durch tröpfelnde Alleen aus Bäumen, vorbei an flackernden Kerzen und blutbeschmierten Kreuzen. »Jerry, es geht ihm nicht gut!« »Wir müssen ihn schlafen lassen, sonst wird die Hypnose unter Umständen permanent geschwächt. Er darf sich nicht an das erinnern, was er getan hat.« Jerry sah seinen jungen Freund an. »Oder an das, was er ist.« Jonathan hörte nichts davon. Er hatte sich in seinem Inneren völlig verlaufen, wurde von seinem Albtraum gequält. Im Traum berührten seine Finger ihr Haar, und er riss sie zu Boden und setzte sich mit gespreizten Beinen auf sie.
Er versuchte verzweifelt, wach zu werden. Die Hände, die sie gepackt hatten, waren nicht seine eigenen; sie waren hässlich, hornig und voller bösartiger Kraft. Seine Bewacher hörten unten ein Geräusch, das Schlagen einer Tür, das Trommeln der Schritte Mike Banions. »Wenn er Bescheid weiß, bringen wir ihn um«, sagte der junge Mann gefühllos. Eine der Schwestern zog eine lange, schmale Klinge aus ihrer Tracht. Als Jonathan mit gebrochenen Schreien seinen Schmerz hinausschrie, zogen sie sich in den hinteren Teil des Korridors zurück. Mike kam rennend die Stufen hinauf; er nahm die dichter gewordenen Schatten am anderen Ende des finsteren Korridors nicht wahr. »Wach auf, Jonathan!« schrie er über das brüllende Geschrei hinweg. Jonathan hörte zwar seine Stimme, aber sie war zu schwach, um ihn die Worte verstehen zu lassen. Der Albtraum setzte sich fort. Er schob den verhüllenden Haarnebel seines Opfers nach hinten und musterte ihr Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, ein Aufschrei stieß aus ihm hervor wie ein Wespenschwarm und dann übernahm ihn sein Zorn, sein grauenhafter, bösartiger Zorn, und ließ es ihn genießen, wie sich das Fleisch von ihrem Leib löste, als er sie streichelte. Unter den schuppigen Flächen seiner Hände riss sie ab wie Haut beim Häuten eines Kaninchens. Das war das Allerschlimmste. Es war der absolut bösartigste Traum, den er je gehabt hatte. Und er konnte ihn nicht enden lassen. Er sah sich zu, wie er die Haut von ihren knorrigen, verdrehten Muskeln zog. Seine eigenen Schreie mischten sich mit den ihren. »Wach auf! Wach auf!« Eine panische Stimme schrie auf ihn ein. Hilf mir! Bitte, hilf mir!
»Wach auf!« Sein Retter packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn so fest, dass der Traum schließlich abbrach. »Wach auf, Junge«, sagte Mike Banion. »Wir beide haben ein großes Problem.« »Dad?« Seine eigene Stimme war ein Flüstern. Mike hielt ihn an den Schultern fest; er hatte ihn halb aus dem Bett gezogenMike schlang die Arme um ihn. »Wach auf, Johnny. Es ist ein ernsthaftes Problem.« Jonathan umarmte ihn ebenfalls. Er hatte den ruppigen Mike Banion lieben gelernt. Obwohl er zwar auch grimmig sein konnte, liebte der Bulle ihn auf seine eigene Art. Hinter seiner harten Schale
schlug ein Herz. Ganz bestimmt. Aber auf seine eigene Weise. »Ich muss dir eine schlimme Sache erzählen, Johnny.« Jonathan schaute in die Augen des Kriminalbeamten. Die Heftigkeit seines Traumes ließ sogar die Realität, die Mike verkörperte, vage erscheinen. Es war, als befände er sich auf der anderen Seite eines schmutzigen Fensters. Jonathan gab sich alle Mühe, sich auf die Dinge zu konzentrieren, um sich auf das vorzubereiten, was an Unvorstellbarem auch passiert war. »Okay, Dad.« »Deine Freundin ist im Krankenhaus. Sie ist vergewaltigt worden.« Ein Erdbeben. Die Decke, die Wände, der Boden alles flog in die Nacht hinaus. »Meine... meine...« »Patricia Murray. Sie wurde etwa gegen Mitternacht auf dem Altar der Heiligen-Geist-Kirche vergewaltigt. Sie ist in der Poliklinik. Ich fürchte, es sieht schlimm aus, mein Sohn.« Mikes Worte ließen den Traum aus Jonathans Unterbewusstsein wieder nach oben kommen. Diesmal brachte er das lähmende, schreckliche Bild eines blonden Kopfes mit sich, der sich unter ihm drehte und wendete, während seine Lippen voller Blut waren. Jonathan spürte den Körper unter dem seinen; er zuckte spasmisch. Ein Schauer kitzelte ihn, als sei eine Spinne über seinen Hals gelaufen. »Nein!« Mike packte seine Schultern. »Du musst der letzte gewesen sein, der sie vor dem Täter gesehen hat.« Auf diese Worte hin rauschte Jonathans Mutter ins Zimmer, ihr rotes Seidengewand flatterte hinter ihr her. »Lass ihn in Ruhe!« Sie war außer sich. Sie sah aus, als hätte sie seit einem Monat nicht mehr geschlafen; ihr Gesicht war eine starre Maske. »Mary, ich versuche doch nur, unseren Jungen zu trösten. Das Mädchen, mit dem er heute abend verabredet war, ist in der Heiligen-Geist-Kirche vergewaltigt worden.« Mary zwang ihre Gesichtszüge zu einer Grimasse, »Nein«, stieß sie hervor. »Das ist doch verrückt!« »Aber es war so.« Jonathan sah ein Meer des Mitleids in den Augen seiner Mutter. Sie streckte die Hände nach ihm aus, dann hielt sie inne. Sie schaute von Jonathan zu Mike und dann wieder zurück. Sie schwieg. Jonathans Geist wandte sich wieder seinem Traum zu. Er hatte jemanden im Traum vergewaltigt. Und die weiträumigen Reihen der Baumstämme und Kreuze... Der Traumdschungel konnte durchaus eine Kirche aus dem wahren Leben gewesen sein.
Die Erinnerung, dass er es genossen hatte, ihr wehzutun, ließ ihn Mikes beruhigende Umarmung abschütteln und in Panik auf die Beine springen. Er wollte wegrennen, sich verstecken, irgendwie dem roten Feuer des wahnsinnigen Zorns entkommen, der in ihm war. Mike umschloss Jonathans Arm mit starker Hand. »Es ist schon in Ordnung, Junge. Beruhige dich. Beruhige dich doch.« Das konnte er nicht, nicht, nachdem er das Ungeheuer in den Schatten seiner Seele erblickt hatte. Jonathan versuchte panisch, das Entsetzen zu ersticken. Dad hielt ihn offenbar für vom Leid übermannt. Wie konnte er ihm sagen, dass sein richtiges Gefühl Angst war? Er kam zu dem Schluss, dass der Eindruck der Vergewaltigung mehr war als ein Traum. Es war beinahe eine Erinnerung. Vielleicht entdeckten Psychopathen auf diese Weise ihre Untaten. »Dad...« Wie konnte er es ausdrücken? Als sie vergewaltigt wurde, habe ich geträumt, ich hätte sie vergewaltigt? Ein komischer Zufall, nicht wahr, Dad? »Komm, Junge, ich fahre dich zum Krankenhaus.« »Du lässt ihn hier, Mike Banion! Sieh ihn dir an. Er ist doch völlig fertig! Du weckst ihn mitten in der Nacht auf, ziehst ihn aus dem Bett...« »Aber Schatz! Pat war doch seine Freundin...« »Sie haben sich einmal gesehen! Und ich habe es arrangiert.« Endlich riss Jonathan sich zusammen, um zu reden. Er musste es ihnen sagen; er konnte die Übereinstimmung seines Traums nicht für sich behalten. In seiner Kehle arbeitete es; er versuchte, die Worte herauszukriegen. »Ich hatte einen schlimmen Traum... Mein Gott, hatte ich einen schrecklichen Traum! Es war... Nein. Es ist unmöglich, aber ich habe geträumt, ich hätte sie vergewaltigt. Ich habe es geträumt, als du mich aufgeweckt hast!« »Na, komm schon, Junge; beruhige dich.« »Jonathan, du weiß doch nicht, was du sagst! Mike, er ist doch noch gar nicht wach! Das sieht man doch!« »Hört mir zu! Ich habe es geträumt. Ich habe es wirklich geträumt.« Jonathan sah Mike an. »Dad, du musst mich an einen Lügendetektor anschließen, und zwar jetzt sofort.« »Den Teufel werde ich tun!« brüllte Mike. »Das tun wir auf gar keinen Fall!« »Ich bin ein Hauptverdächtiger, Dad. Ich war der Letzte, der sie
gesehen hat.« »Um Gottes willen, auch Lügendetektoren können sich irren! Was ist, wenn er positiv reagiert?« »Dann musst du deine Pflicht tun.« »Junge... Ach, Junge... Willst du es hört sich fast so an das Verbrechen gestehen?« »Mike, wenn du das tust... Wenn du es wagst...« Seine Mutter verfiel in Schweigen, ihr Gesicht war rot vor Angst und Wut. Mike ignorierte sie, er sah Jonathan traurig an. »Erzähl mir nicht so was, Johnny.« Jonathan empfand in diesem Augenblick das allergrößte Mitleid mit seinem Stiefvater. »Hätte ich dich früher unter meine Fittiche bekommen«, hatte Mike einst gesagt, »hätte ich einen Bullen aus dir gemacht. Und was für einen!« Er hatte Jonathan auf die Schulter geklopft. »Du hättest einen tollen Cop abgegeben.« Der arme Mike, er hatte sich völlig in dem Traum von dem Sohn, den er nie gehabt hatte, verfangen. Seine erste Frau war gestorben, bevor sie sich Kinder hatten leisten können, also hatte der zwanzigjährige Jonathan die Stelle seines Ungeborenen übernommen. Natürlich stand außer Frage, dass Mary ihm Kinder gebar. Sie hatte schon vor Jahren eine Hysterektomie gehabt. »Mike, du musst dich der Sache stellen. Ich muss an den Detektor. Ganz besonders deswegen, weil ich dein Stiefsohn bin. Wenn du mich nicht persönlich kennen würdest, wäre ich ein Hauptverdächtiger mit oder ohne Traum -, und zwar schon deswegen, weil ich als Letzter mit ihr zusammen war. Ich säße schon in dieser Minute auf dem Revier und würde verhört.« »Verdammt noch mal! Ich hätte nach einer Sekunde raus, dass du es nicht gewesen bist. Ich bin nämlich schon ziemlich lange in dieser Branche, Kleiner. Und ich weiß, dass du es nicht warst. Mein gottverdammtes Schüttelknie sagt es mir.« Er schlug Jonathan auf die Schulter. »Das arme Mädchen sieht wirklich übel aus. Ein grüner Junge wie du hätte das gar nicht geschafft.« Und warum habe ich es denn geträumt? »Wenn ich nicht dein Sohn wäre, würdest du routinemäßig einen Polygraphen anfordern. Es wäre deine Pflicht; und es ist auch jetzt deine Pflicht.« Mikes Gesicht trübte sich. Jonathan hatte ihn in die Enge getrieben. Die Wahrheit war offensichtlich. »Ich rufe das Revier an und lasse einen Techniker aus dem Bett holen«, murmelte Mike. Er machte schwerfällige Anstalten, zur Treppe zu gehen. Kurz davor hielt er
inne. Er warf einen Blick zurück. Die Korridorbeleuchtung spiegelte sich auf seinen Brillengläsern, seine Haut hatte die Farbe schmutzigen Mehls. »Gottverdammt, mir ist gerade was eingefallen. Wären wir auf der Jagd, würden wir ungefähr um diese Zeit aufstehen. Ich kann den Kaffee schon riechen, mein Sohn.« Mikes Jagdleidenschaft war seine persönliche Vorstellung vom Paradies. Sie hatten dort draußen zusammen eine Menge Spaß gehabt, trotz Jonathans absoluter Unfähigkeit, das abzuschießen, was er ins Visier genommen hatte. Er hatte kein Verständnis dafür, dass man aus Spaß etwas tötete. Die Freuden der Jagd schienen ihm keine Rechtfertigung dafür zu sein, ein Leben zu nehmen. Ihm genügte es, einen Hirsch zu sehen. »Ich bin in einer Minute fertig.« Er ging an seinen Schrank und fing an, sich anzuziehen. Mutter folgte Jonathan in sein Zimmer und redete auf ihn ein, als er sich anzog. »Ist dir nicht klar, dass er dich für schuldig hält? Er wird dafür sorgen, dass man den Test so interpretiert, wie er ihn interpretiert haben will.« »Mutter, um Himmels willen ich habe um den Test gebeten!« Sie wurde leiser. »Er ist gerissen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ich hätte den unwiderruflichen Fehler begangen, einen Inquisitor zu heiraten.« »Einen was?« Sie blinzelte verärgert um sich. »Es ist nur eine Redewendung. Du weißt doch, die erste Pflicht eines Polizisten besteht darin, den Fall zu lösen. Ob er dabei den Richtigen erwischt, ist ein sekundäres Problem.« »Mike würde sich nie Vorteile dieser Art verschaffen. Das ist nicht seine Art.« »Ich bin diejenige, die dich liebt, Jonathan. Du bist mein Kind, und es ist meine Pflicht, dich zu beschützen.« Ihre Hände flatterten hilflos vor seinem Gesicht herum. »Seine Zuneigung falls man es überhaupt so nennen kann ist gewöhnlich. Ganz gewöhnlich.« Sie packte ihn. »Du bist so intelligent, so gut er hat gar keine Ahnung, wer du bist. Er ist ein Barbar.« »Warum hast du ihn dann geheiratet? Ich glaube beinahe, du hast ihn nie geliebt, stimmt's?« »Es geht dich nichts an. Ich hatte einen guten Grund, Mike zu heiraten. Einen besseren, als du dir vorstellen kannst.« »Und ich habe einen guten Grund, mich einem Lügendetektor zu stellen.«
»Ich kann dich also nicht davon abhalten?« »Kaum, Mutter.« »Dann zieh dein Hemd an, geh zu deinem geliebten Lügendetektor, und Gott stehe dir bei! Mit mir kannst du es ja machen. Ich kann dich ja doch nicht aufhalten.« Sie rauschte hinaus, den Kopf hoch erhoben, die Fäuste geballt. Tränen standen in ihren Augen. Arme Mutter. An ihrem Sohn war so viel, das sie nicht verstand. Ich bin ein gutmütiger Mensch, der Träume hat wie ein Ungeheuer. Jonathan ging die Treppe hinunter und fand Mike in der Küche stehend vor. Sein Gesicht war vor Verlegenheit gespannt. »Der Techniker wartet.« Er ging still hinter Jonathan in die Garage. Doch in dem Moment, als die Tür sich schloss, fing er wieder an zu argumentieren. »Um Himmels willen, Johnny, das Mädchen liegt im Krankenhaus, und wir vergeuden unsere Zeit. Sie braucht jetzt einen Freund. Komm, ich fahre dich zu ihr. Vergiss den verdammten Lügendetektor. Niemand verdächtigt dich ich am allerwenigsten.« Jonathan blieb neben dem Wagen stehen. In seinem Inneren sagte eine stille, feste Stimme: Irgend etwas stimmt nicht mit mir, und jetzt ist die richtige Zeit, um herauszufinden, was. »Tu es für mich, Dad.« Mit diesem Satz fing er sich eine Ohrfeige, die Jonathans Ohr klingeln ließ. Er setzte sich in den zigarrenvermieften alten Dodge und wünschte sich, dass Mike sich endlich mal seiner Kräfte bewusst wurde. »Tut mir leid, Johnny. Verzeihung. Es ist nur... Ich kenne eben meinen Job. Sag mir nicht, wie ich ihn machen soll. Und ich möchte dich nicht an einem Lügendetektor sehen.« Er musste präziser mit Mike sein. Es gab keinen Weg drumherum. »Dad, als du mich geweckt hast, hatte ich einen sehr eigenartigen Traum. Ich habe geträumt, ich hätte Patricia vergewaltigt. Sehr brutal. In einer Kirche.« Mike stieg in den Dodge. Er schwieg einen Moment. Dann schlug er mit der Hand gegen das Lenkrad. »Zufall.« »Was ist, wenn ich ein Psychopath bin, ohne es zu wissen?« »Kommt selten vor. Einmal unter Millionen.« »Aber es kommt vor, Dad.« »Ich weiß, dass es vorkommt! Aber so was kann dir doch nicht passieren. Du bist das wissenschaftliche Genie der Familie. Du müsstest doch wissen, ob du ein Psycho bist.« Er sah Jonathan an. In seinen Augen war Angst. »Oder?«
»Ich habe einen Filmriss, was meine Erinnerungen angeht.« »Großartig! Meine Erinnerungen haben auch ein paar Lücken. Du bist ein guter Junge. Ich meine, man soll sich zwar nicht den Kamm schwellen lassen, wenn der Inspektor einem ein Kompliment macht, aber ich kann einen guten Jungen erkennen, wenn ich einen sehe. Du führst ein anständiges Leben und arbeitest schwer. Diese Traumsache ist eine verdammte Narretei. Jeder hat hin und wieder verrückte Träume. Man weiß nicht, woher sie kommen. Menschen sind brutal. Das ist eine Tatsache. Teufel, ich sollte dich einbuchten, weil du mit falschen Hinweisen oder so was die Zeit der Polizei vergeudest. Gott, ich wünsche mir, das wäre ein Verbrechen! Dann hätten wir nur halb soviel zu tun. Aber so ist es nun mal nicht. Es geht darum, dass das Mädchen brutal vergewaltigt worden ist, Jonathan. Könntest du wirklich jemandem so wehtun? Du kannst nicht mal einen Hirsch schießen, verflucht noch mal! Du hast weniger Killerinstinkt als jeder andere, den ich kenne. Ich meine es ernst, Junge.« »Die nettesten Menschen sind oft die unterdrücktesten. Das sind die Leute, die ihre Familie in Stücke hacken und sich anschließend an nichts mehr erinnern können. Die Psychotherapie braucht Jahre, um das Monster zu enthüllen, das in ihrem Inneren schlummert.« Mike ließ den Wagen an und fuhr in den ruhigen Morgen hinaus, in die Stille von Kew Gardens. Vor dem Morgengrauen hatte es geregnet, jetzt leuchtete der Tau im Sonnenlicht und ließ die Blätter, das Gras, die Straße und die Dächer der hohen, eleganten Gebäude glänzen. Während der Fahrt überfiel Jonathan wegen Patricia ein neuer Anflug der Qual. Welch unaussprechliches Grauen hatte sich ihrer bemächtigt? Wenn ich sie vergewaltigt habe, bringe ich mich um. Als sie Kew Gardens verließen und auf den Queens Boulevard abbogen, fühlte Jonathan in seinem Inneren etwas, das ihm beinahe schmutzig vorkam, als hätte eine verkommene, bösartige Präsenz sich in seiner Seele eingenistet und schmierige Flecken hinter sich zurückgelassen. Vielleicht zerfiel jetzt sein ganzes Leben in Stücke. Mike steckte sich eine Zigarre an; seine fahle Haut leuchtete kurz im Schein der Feuerzeugflamme. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick in Jonathans Richtung. Der Schmerz schien aus seinen verschwitzten Brauen zu sickern, aus seinen gebuckelten Schultern, aus seinem verratenen Gesicht.
Sein Glaube an mich ist also doch leicht erschüttert. Die Kälte kroch in Jonathan hoch. Die Stunde, in der der Morgen graute, war eine Zeit, in der man irgendwie weniger am Leben zu hängen schien. Er kuschelte sich in seine Jacke. Das Haus, in dem das 112. Polizeirevier untergebracht war, war ein modernes Gebäude. Es war grau und bestand in seiner Gänze aus Platten und Glas. Jonathan hatte es noch nie von innen gesehen. Mike hielt seinen Arbeitsplatz sogar seine Eigenarten und Freunde von seinem Stiefsohn fern. Trotz seiner gelegentlichen Vorschläge, Jonathan solle zur Polizei gehen, pflegte er seine Bekanntschaften in den Kreisen der Polizei für sich allein. »Hartärsche«, pflegte er zu sagen. »Sie würden dir nicht liegen.« Mike fuhr den Wagen in eine Parkverbotszone vor dem Bahnhof. Das einzige Problem, das New Yorker Polizisten nicht hatten, war das, einen Parkplatz zu finden. Sobald der Wagen hielt, stieg Jonathan aus. »Moment noch. Warte 'ne Sekunde.« Mike nahm den Arm seines Stiefsohns. »Hör zu, du bist nicht im geringsten ein Verdächtiger oder so was. Niemand wird erfahren, dass du einen Lügendetektortest machst, und es wird auch nichts in den Akten stehen, wenn du nicht...« Er hielt inne. »Nun komm schon, Dad. Bringen wir's hinter uns.« Jonathan folgte Mike durch ein leeres Wartezimmer und an einem diensthabenden Sergeanten mit permanent gerunzelter Stirn vorbei in einen metallummantelten Aufzug, der grauenhaft quietschte, als er sich in Bewegung setzte. Die Büros waren im dritten Stock, und das größte gehörte Mike Banion. Als sie eintraten, stand ein großer skelettdünner Mann auf. »Morgen, Blake«, murmelte Mike. »Tut mir leid, dass ich Sie um diese Zeit rausjagen musste.« »Kein Problem, Inspektor. Freut mich, was zu tun zu haben.« Blake musterte Jonathan. »Ist das der Verdächtige?« »Er ist kein Verdächtiger.« Blake sah Jonathan mit einer Neutralität an, die beinahe furchterregend war. »Haben Sie die Buchungsbelege?« »Er ist ein Freiwilliger. Es kommt nicht in die Akten, klar?« »Wie soll ich dann den Einsatz der Maschine begründen? Es muss in den Unterlagen auftauchen; besonders bei den tragbaren Dingern. Wenn wir unten in der Polizeiakademie wären, wo's 'ne feste Installation gibt, wäre es viel leichter. Das Ding wird laufend
eingesetzt. Aber das hier das holt nie jemand raus.« »Dann sagen Sie, Sie hätten es getestet. Um sich zu versichern, dass es noch funktioniert.« Mike hielt einen Moment inne. »Hören Sie, Blake. Sie werden's eh erfahren, wenn Sie die Fragen stellen, deswegen sage ich Ihnen sofort, dass dies mein Stiefsohn Jonathan ist. Er hatte das Pech, die letzte respektable Person zu sein, die mit einer sehr reizenden jungen Dame namens Patricia Murray gesehen wurde. Sie wurde vergewaltigt, nachdem er sie verlassen hat. Wir sind gekommen, um ihn zu entlasten.« Das Gesicht des Lügendetektor-Technikers wurde schmal. Jetzt hing er mitten in der Sache drin. Offensichtlich war er der Meinung, er solle so wenig Gefühl zeigen wie möglich. Sie verließen Mikes blitzsauberes Büro mit dem glänzenden Eichentisch und den Wänden, die voller Belobigungen und Auszeichnungen hingen, und gingen durch einen Gang zu einem kleinen Raum, in dem es nach kaltem Zigarettenqualm roch. In diesem Zimmer dominierte ein elektronisches Instrument auf einem Tisch neben einem altmodischen Bürostuhl. Hinter ihnen auf dem Korridor tauchte ein junger Polizist auf. Er folgte ihnen in den Raum hinein und durchwühlte einen Aktenschrank. »Raus, Kollege«, raunzte Mike. »Aber, Sir... Ich muss...« »Raus, zum Teufel! Das hier ist privat.« Der junge Cop eilte zur Tür. Jonathan sah sich das Polizeigerät an. Er erkannte Elektroden und die Kabel eines Hautgalvanometers. Er verstand das Prinzip, nach dem der Polygraph arbeitete; die Geräte, mit denen er im Labor zu tun hatte, waren beträchtlich weiterentwickelte Versionen des gleichen Systems. Als Jonathan erkannte, wie primitiv das Polizeigerät wirklich war, zweifelte er allmählich die Effektivität dieser Sitzung an. Vielleicht war alles wirklich nur reine Verschwendung von Zeit und Gefühlsenergie. Mike starrte zur Tür. »Wer war der Typ, Blake; ein Neuer?« »Wahrscheinlich. Hab' ihn noch nie gesehen.« »Seine Uniform sah aus wie die von einer Sau. Haben Sie das auch gesehen.« »Nein, Sir.« »Yeah. Irgendein verdammter schweinischer Anfänger.« Mike sah Jonathan durch seine Zweistärkengläser an. »Fangen wir jetzt an.« »Entfernen Sie bitte alle metallenen Gegenstände aus Ihren
Taschen und rollen Sie die Ärmel hoch.« Mike stand am anderen Ende des Raumes und hatte die Finger in die Gürtelschlaufen gehakt. Seine Lippen waren gespitzt, sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Sein Blick war zu gelassen. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor. Jonathan sagte kein Wort über den armen Anfänger, der immer noch auf dem Korridor lauerte. Glücklicherweise konnte Mike ihn von seinem Standort aus nicht sehen. Was dem jungen Cop jetzt noch fehlte, war ein Zusammenstoss mit Mike Banion. Jonathan spürte die Augen des jungen Polizisten auf sich; er beobachtete ihn vom Rand des Lichts aus. Müßige Augen. Welch ein glücklicher Jungbulle er sorgte sich nur um eine verdammte Akte. Der Techniker rieb Jonathans Gelenke mit einem elektrostatischen Gel ein und befestigte die Riemen. Dann band er den Gerätegürtel um seinen Brustkorb. Er legte ein paar Schalter um, und der Flotter spuckte Grafikpapier aus. Als nächstes kam ein Test, der bestätigen sollte, dass die Schreibnadeln alle korrekt liefen. »Wie ist Ihr Name, bitte?« »Jonathan Titus Banion.« »Alter?« »Zweiundzwanzig.« »Beruf?« »Assistent an der Universität von New York.« »Sind sie homosexuell?« »Lassen Sie den Scheiß weg! Stellen Sie ihm keine doofen Fragen!« »Tut mir leid, Mike. Aber das ist bei Vergewaltigungsfällen so Routine.« »Versuchen Sie einen anderen Gang, Junge.« Der Techniker räusperte sich. »Mögen Sie Mädchen?« »Ja.« »Haben Sie je ein Mädchen geschlagen oder ihm auf irgendeine Weise wehgetan?« »Nicht dass ich wüsste.« »Gehen Sie sonntags zur Kirche?« »Nein.« »Baden Sie?« »Ja.« Gleich würde es kommen. Normalerweise kam der Hammer nach ein paar unschuldigen Fragen, damit man die Abweichung auf der Grafik besser lesen konnte. »Haben Sie einen Führerschein?«
»Ja.« »Haben Sie Patricia Murray vergewaltigt?« »Nein.« »Waren Sie bei Ihrer Vergewaltigung zugegen?« »Nein.« Stille senkte sich herab. Jonathan hatte das Vergnügen, Mikes Gesicht von verkniffenem Elend zur Erleichterung wechseln zu sehen. Die Nadeln hatten nicht einmal gerülpst. Doch sein eigener Geist war noch so voll Fragen wie zuvor. Solange der Test lief, hatte er das zunehmende Gefühl, dass der Polygraph das falsche Instrument war. Es gab feinfühligere Methoden, um an die Wahrheit zu kommen, statt zu messen, ob ein Mensch glaubte, dass er log oder nicht. Jonathans äußeres Ich glaubte offenbar, dass er unschuldig war. Aber reichte das aus? Es gab andere, tiefere Ichs in jedem menschlichen Wesen: Ichs, die die Persönlichkeit, die sich an der Oberfläche befand, nie zu sehen bekam. Ein simpler Polygraph konnte das Wirrwarr in den Tiefen eines Menschen dort, wo die Schlangen krochen vielleicht gar nicht erfassen. »Hab' selten einen so sauberen Test gesehen, Inspektor. Der Junge lügt nicht. Er war es nicht. Dafür setze ich meinen Ruf aufs Spiel.« Mike fing langsam an zu lächeln. Er klatschte in die Hände. Seine Augen fingen an zu leuchten. Dann wechselte er abrupt zu einem ernsteren Ausdruck. Kein Grund zum Feiern; das war jetzt nicht passend. »Okay. Ich schätze, du möchtest sofort zum Krankenhaus fahren, stimmt's, Jonathan?« Jonathan stand auf. Er wünschte sich, er wäre ebenso schnell zu überzeugen gewesen wie Mike. Wissenschaftler, prüfe dich selbst. Im Privatbereich seines persönlichen Labors, das jetzt, im Sommer, nicht benutzt wurde, fand er vielleicht eine tiefergehende Antwort als jene, die ihm das simple Polizeigerät anbot. Aber nicht jetzt. Er wusste, dass Mike sich vehement dagegen wehren würde, jetzt zum Labor zu fahren. Und im Moment war er selbst dagegen. Er wurde im Krankenhaus gebraucht. Er sehnte sich danach, dort zu sein, und mit jedem Augenblick, der verging, wurde das Gefühl stärker. Der Polygraph-Techniker verließ das Zimmer. Jonathan wollte ihm folgen, doch Mike hielt ihn auf. »Warte noch einen Moment. Ich kann nicht mitgehen; ich habe in diesem Fall noch zuviel zu tun.
Ich möchte dir nur sagen... Mensch, Johnny! Mir fehlen einfach die Worte...« »Ich mag dich auch, Dad.« Jonathan küsste die Wange seines Stiefvaters und verlieh seinen Gefühlen damit solchen Ausdruck, dass Mike es spürte und beinahe Furcht empfand. Statt einer Antwort schüttelte er ihm mit beinahe komischer Feierlichkeit die Hand. »Freut mich. Ich habe gedacht, ich schicke dich mit einer Eskorte zum Krankenhaus. Dann bist du in zwei Minuten da.« »Ich kann doch ein Taxi nehmen, Dad. Und bring' dich nicht um, solange ich nicht bei dir bin. Vergiss nicht, zwischendurch auch mal zu schlafen.« Sie gingen wieder durch die mit Platten ausgelegten Korridore zu dem knarrenden Aufzug zurück, und diesmal schaute der Sergeant vom Dienst nicht mal auf, als sie an ihm vorbeikamen. Auf dem Weg nach unten, zu der Ecke, an der Jonathan sich ein Taxi nehmen wollte, wurde ihm plötzlich klar, dass es dafür noch zu früh war. Er würde den Bus nehmen müssen. Als er an der Haltestelle stand und sich die Zeit mit Warten vertrieb, schien sämtliche Energie seinen Körper zu verlassen. Er fühlte sich, als hätte er einen Monat nicht geschlafen. Er konnte sich vorstellen, nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und bis Mittag zu schlafen. Wie konnte er dergleichen nur in Erwägung ziehen, wo Patricia ihn doch brauchte? Brauchte sie ihn denn? Er kannte sie nun seit genau zwölf Stunden. Aber ja, sie brauchte ihn. Sie war jetzt ganz allein in diesem Krankenhaus, und vielleicht verlor sie sogar das Leben ... »Sie hat wohl einen sehr großen Eindruck auf dich gemacht, wo du sie doch nur so kurz kennst.« Mike war ihm gefolgt. »Ich bin auf der Flucht vor einem Reporter«, sagte er einfältig. »Vergewaltigungen in Kirchen haben einen hohen Nachrichtenwert. Ich werde dich doch fahren.« »Nein, ich brauche etwas Zeit, um zu mir selbst zu finden. Ungefähr eine Busfahrt lang.« »Was ist sie für eine, Johnny?« »Tja, wie soll ich es sagen? Ich habe mich in sie verliebt. Sie ist wunderbar.« »Sie gehört zu Pater Goodwins frommsten Gemeindemitgliedern. Bisher habe ich immer gedacht, die leichtlebigen Typen wären dir lieber.«
»In meiner Lage kann man keine Ansprüche stellen.« »In deiner Lage? Na, hör mal, sie laufen dir doch nach.« Mike packte Jonathans Schulter. »Du bist ein verdammt gutaussehender Junge. Mädchen spüren so was doch.« Jonathan brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. Der falsche Bus kam und fuhr wieder ab; er spuckte einen zerknitterten Mann aus, der überrascht zu sein schien, sie zu sehen. »Na so was! Wenn das nicht Mike Banion ist, der direkt an der richtigen Straßenecke auf mich wartet! Hast du schon 'ne Spur, Mike?« »Das ist der gottverdammte Reporter, vor dem ich mich verstecken wollte. Der einzige Typ ohne Studium, der noch bei der Times arbeitet.« »Ich bin eine Institution.« »Du schreibst nach fünfzehn Jahren immer noch den Polizeibericht. Ich nehme an, du bist wirklich so was wie 'ne Institution.« Der Journalist lächelte Jonathan an. Er hatte sehr schlechte Zähne. »Terry Quist, stets zu Diensten. Sie stellen was an wir bringen's in die Zeitung.« »Er meint die Nachrichten. Er druckt jeden Schund, solange es die Leute interessiert.« »Solange es schlechte Nachrichten sind. Werft mir bloß nicht vor, ich hätte schon mal was Gutes publiziert.« Quist war eine dünnere, etwas fadenscheinige Version Mikes. Auch er bewahrte Zigarren in der Außentasche seines Jacketts auf. Seine Füße waren so groß wie die eines Clowns und steckten in Schuhen, die so aussahen, als bestünden sie nur aus Schuhcreme. Aus seinem wettergegerbten Gesicht sprach alle Verschmitztheit eines Menschen, der Verständnis für die Tücken seines blödsinnigen Lebens hatte. »Terry, darf ich dir meinen Stiefsohn Jonathan vorstellen? Jonathan, das ist Terry Quist.« »Hallo«, sagte Jonathan. Terry Quist musterte ihn, als sei er eine Kobra, die sich am Fußende seines Bettes zusammenrollte. »Bleibt er bei uns?« Mike nickte. »Bis der Bus kommt.« »Ich stecke in ziemlichen Schwierigkeiten. Ich muss dich unter vier Augen sprechen.« Als Quists Stimme zitterte, wurde Jonathan klar, dass der Mann sich bemühte, eine tiefliegende Angst zu kaschieren. Er fand schon seine Gegenwart zum Frösteln. Sein
eigenes Entsetzen, das grauenhafte Gefühl, dass etwas Bösartiges in ihm steckte, war der Oberfläche noch immer nahe. »Du hast zehn Minuten«, sagte Mike zu dem Reporter. »Bitte, in deinem Büro. Ich werde eventuell etwas über mein Leben erzählen, Inspektor.« Der Bus kam, als Mike und Terry das Reviergebäude betraten. Jonathan setzte sich allein irgendwohin. Als der Bus weiterschaukelte, versuchte er sich auf das vorzubereiten, was er im Krankenhaus wahrscheinlich vorfinden würde. Aber er schaffte es nicht. Noch vor ein paar Stunden hatte Patricias Schönheit ihn schwindlig gemacht. Nun war sie das Opfer eines Jemands geworden, der ihr Aussehen verachtete. Jemand, der finster und bösartig war. Jonathan holte tief Luft. Einen Augenblick lang wäre er am liebsten davongelaufen, hätte er seinen Körper am liebsten übernehmen lassen, um der Situation irgendwie zu entkommen. Er blieb im Bus, als sei er auf dem Sitz festgefroren. Eine Zeitlang war er nicht mal fähig, sich zu bewegen. Als der Bus den großen Art-deco-Klotz der Poliklinik erreichte, lagen die Straßen voll im Sonnenlicht, und die weißen Mauern des Gebäudes waren ein Meer funkelnder Fenster. Er stand auf und zwang sich auf den Gehweg hinaus. Er betrat das alte Gebäude durch den Haupteingang. Als er in der Empfangshalle war, ging er zum Auskunftsschalter. Hinter dem Tresen saß ein dicker Wachmann mit einem SamBrowne-Gürtel und einer Pistole. In der Poliklinik von Queens wurden keine Mätzchen geduldet. In diese Klinik wurden die schlimmsten Fälle des Bezirks eingeliefert. Vor dem Wachmann standen oft Menschen, die vor Schock und Leid verrückt waren. »Ich suche eine Frau namens Patricia Murray, das Opfer einer Vergewaltigung. Sie ist schwer verletzt.« Der Wachmann konsultierte einen Computerausdruck. »Hier Murray, Patricia. Intensivstation, Station C, fünfte Sektion. Das ist im fünften Stock, am Ende des Korridors.« Jonathan fand einen Aufzug voller Internisten, Schwestern und zwei Patienten in Rollstühlen. Er hielt unglaublich lange in jedem Stockwerk an. Doch endlich erreichte er das Schwesternzimmer, das für die Intensivstation zuständig war. »Ich möchte Patricia Murray besuchen«, sagte er zur diensthabenden Schwester. »Die Besuchszeit beginnt um neun.« Sie blätterte in einer Akte. »Oh. Sind Sie mit ihr verwandt?«
Jonathan log, weil er keine andere Möglichkeit sah. »Ja.« »Vielleicht ist sie schon wach. Aber Sie werden sie durch ein Fenster beobachten müssen. Noch kein direkter Kontakt.« Er folgte der Schwester durch einen Gang voller medizinischer Gerätschaften: Rollstühle, Betten auf Rädern, elektronische Instrumente. Patricia lag in einem olivdüsteren Krankenhausnachthemd da. Man hatte sie verbunden. Ihre Beine waren gespreizt, über ihrem Kopf befand sich ein Kunststoffzelt, das ihr Gesicht verschwimmen ließ. Eine Anzeige, auf der SAUERSTOFF EINGESCHALTET stand, blitzte über dem Fenster auf, durch das man in ihr Zimmer sehen konnte. Ihr gesamter Bauch war mit Mull und Bandagen bedeckt, und auch an ihren Armen befanden sich welche. Auch wenn man nicht erkennen konnte, wie schlimm sie verletzt war, ließ ihre absolute Stille Jonathan die eigenartige, tiefe Seelenqual des erniedrigten Menschen spüren. Nur wenn sie tot gewesen wäre, hätte sie noch stiller sein können. Er stand da und sah sie an. Er spürte, wie die Tränen seine Augen brennen ließen und seine Kehle sich verengte. Er wünschte sich irgendwie, es wäre anders gekommen. Welch schreckliche Sache war letzte Nacht passiert? Irrte er sich, oder hatte sich ihr Kopf ihm wirklich langsam zugewandt? Aufgrund des faltigen Kunststoffzelts, das einen klaren Blick verhinderte, war es schwer zu sagen. Ja,, sie hatte ganz bestimmt zu ihm herübergesehen. Aber was war das für ein Ausdruck auf ihrem Gesicht? War es Liebe oder Entsetzen oder war es Wahnsinn? Er spannte seine Muskeln und schaute sie an, aber er konnte es nicht unterscheiden. Nach ein paar Minuten zupfte die Schwester an seinem Ärmel und zog ihn zurück. Als er durch den Korridor ging, übermannte ihn die Erschöpfung mit aller Macht, und mit ihr kam eine große Sorge. Seine kurze Liebe war zerstört. Er dachte daran, wie sie im Traum unter ihm gelegen hatte. Er schlich sich wie ein Schuldiger aus dem Krankenhaus.
27. Juni 1983
Höchstpersönlich
Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Kirche der Nacht mit einem blutigen Ritual in einem Pfarrbezirk des New Yorker Stadtteils Queens öffentlich aufgetreten ist. Ort: Pfarrbezirk Heiliger Geist, gegründet 1892, Kircheneinweihung im September 1894. Momentaner Bevölkerungsstand: 16231. Uns ist zwar seit einiger Zeit bekannt, dass in der besagten Kirche Rituale durchgeführt werden, aber in Übereinstimmung mit Ihrer Direktive Nr. 1516 vom 28. Oktober 1971 haben wir In Causa Clandestina nicht mehr getan, als aktive Beobachter in die Gemeinde einzuschleusen. Ein Gesamtbericht der Liturgie von Bruder Alexander Parker Qudas-Ordens ist beigefügt. Dies hier sind die Höhepunkte: 1. Das Ritual wurde von Prinz Franklin Titus persönlich durchgeführt, was seine kanonische Wichtigkeit beweist. 2. Prinzessin Mary Titus war bei der Zeremonie anwesend. 3. Das Ritual war wahrscheinlich das Rituale Pudibunda Coitus, die schändliche Paarung (s. h. Grimoire Titus, Off. XIV, Bd. 11, S. 2112-2177). 4. Die Hauptakteure waren dem Anschein nach die beiden Erben, die während des letzten Oppugnatio erfolgreich vor uns verborgen wurden. Laut unserer Statistik sind die beiden die einzigen noch lebensfähigen Erben: a) Patricia Murray (von Pantera zu Roland zu Sheil zu Murray, s. Stammbaum Pantera, Abschn.42, Familie 58, irischer Zweie, Jahre 1718-1952, in geradliniger Abstammung zu Murray, Jean Patricia Roisin Margaret; Eltern Samuel und Rebecca). b) Jonathan Banion (höchstwahrscheinlich Jonathan Titus, Prinz, s. Stammbaum Titus, Abschn. 113, Familie 71, angloamerikanischer Zweig, Jahre 1691-1951, in geradliniger Abstammung zu Titus, Jonathan Martin Flavius; Eltern Martin und Mary). 5. Da die beiden lebensfähigen Erben mitgewirkt haben, müssen wir das Ritual als extrem gefährlich einstufen. 6. Wegen der Dringlichkeit der Situation schlage ich vor, die Direktive 801 vom 14. Juni 1831, Contra Poenam Ultimam, zu widerrufen, und dass seine Heiligkeit sich dazu durchringen möge,
ultimate Maßnahmen gegen diese beiden Individuen zu autorisieren. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.) Dokumentklassifikation: Dringend A, höchstpersönlich, durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
11. Julius 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Praefectus Congregationis Defensioni Fidei
Sie werden durch diesen Befehl angewiesen, unter keinen Umständen Schritte zu unternehmen, die im Widerspruch zu Poenam Ultimam stehen. Seine Heiligkeit hat nicht die geringste Absicht, Exzesse zu billigen, die die Vergangenheit des Geheimen Kollegiums beeinträchtigt haben. Jedoch autorisieren wir Sie, beide Erben einer passiven Befragung zu unterziehen, wenn Sie eine Möglichkeit finden sollten, sie durchzuführen, ohne die Zivilgesetze der Jurisdiktion, unter der Sie leben, zu verletzen. Sie verfahren unter folgenden Befugnissen des Heiligen Offiziums der Kongregation zur Verteidigung des Glaubens: 1. In Defensione Fidei, Kap. V, Pkt.C, Abs.5: >Das Heilige Offizium der Inquisition soll seine volle Macht und Autorität behalten, wie es injustinian Lex. 1.0231325, ^n haeretici, garantiert wird und nachfolgend mehrmals bestätigt wurde.< 2. Canon Lex. 221.04 (Privatus): >Die Verteidiger sind in Fällen extremer Notwendigkeit, wo die Existenz des Glaubens bedroht oder die Gesamtexistenz der Kirche in Frage gestellt wird, autorisiert, zur Verteidigung unseres heiligen Glaubens Waffen einzusetzen^ Da die Möglichkeit besteht, dass im Zuge Ihrer Bemühungen Sünden begangen werden und dass Sie eventuell nicht in der Lage
sein werden, selbige vor dem Tod zu beichten, spreche ich nun die übliche Absolution infuturo über Sie und Ihre Untergebenen aus: Auctoritate a Summis Pontificibus mihi concessa plenariam omnium peccatorum tuorum indulgentiatn tibi impertior; in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Mea Auctoritate Paolo Cardinalis Impelliteri Dokumentklassifikation: Dringend A, in Gegenwart des Kuriers zu vernichten Bestimmungsort: Monsignore Brian Conlon, Kanzler der Ermittlung, Nordamerika, 1217 Füller Brush Building, 221 East 57th Street, New York, N.Y., 10022
12. Juli 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, natürlich verstehen und respektieren wir die Position Seiner Heiligkeit und des Geheimen Kollegiums. Unser Offizium wird in keiner Weise gegen die Bestimmungen der Exekution und der Folter verstoßen, die in Contra Poenam Ultimam verkündet wurden. Doch wir begreifen auch das, was zwischen den Zeilen Ihres Memorandums verborgen ist dass wir genau nach den von Ihnen zitierten Statuten handeln, die dem Heiligen Offizium seine ursprünglichen Befugnisse verliehen haben. Seien Sie versichert, dass wir mit allem Nachdruck so verfahren werden. Möge Gottes Gnade sich unseren Seelen gnädig erweisen. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.)
Dokumentklassifizierung: Außerordentlich; nach dem Lesen vernichten; durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
5. Kapitel Mike sah, wie Terry Quist einen Schokoriegel auspackte, ihn in den Mund schob und die Hülle auf den Boden warf. Der arme Bursche. Er fraß ständig, wenn er aufgeregt war. Oder Angst hatte. Mike forderte seinen Freund auf, ihm zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte. »Du schreibst immer noch den Polizeibericht, was?« »Ja, und über die Busunfälle am unteren Rand der Seite. Du weißt doch: >158 Tote bei Busunglück in Suriname So'n Zeug halt. Bei der Times werde ich nie was anderes unterbringen. Für die bin ich doch nicht mehr als das fünfte Rad am Wagen.« »Und was machst du dann hier? Du solltest lieber 'n Bus die Böschung runterkippen lassen.« »Ich habe 'ne ernsthafte Sache für dich. Willst du meine Story nun hören oder nicht? Ich weiß vielleicht was über das vergewaltigte Mädchen.« »Ich möchte alles hören, was Patricia Murray anbetrifft. Rechnest du damit, dass ich was dafür bleche?« »Na, hör mal! Eigentlich müsste ich schon längst im Laden sein und den ermittelnden Journalisten spielen. Aber ich bin hier, weil ich ein Feigling bin. Ich möchte gern am Leben bleiben. Aber bevor ich auspacke, muss ich dir noch was sagen. Die Geschichte ist bizarr. Lass deinen Unglauben also bitte außen vor.« »Nein.« »Bitte, vergiss nicht, dass wir Freunde sind, seit ich dir in der fünften Klasse das Rauchen beigebracht habe.« »In der vierten.« »Habe ich vergessen. Jedenfalls musst du mir versprechen, dass du die Sache nachprüfst, so irre sie auch klingt.« »Nun stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel. Bist du in 'nem UFO oder so was geflogen?« »Ich wollte, es wäre so. Ich hätte lieber die kleinen grünen Männchen am Hals als die Kirche der Nacht.« Terry Quist verfiel in Schweigen. Mike fiel auf, dass seine Hände den Tischrand so fest packten, dass es unter seinen Fingernägeln
rot wurde. »Lass hören, Kumpel.« »Es ist nur so, dass ich aufgrund der Art des Verbrechens vermute, dass deine Lady bei einer religiösen Zeremonie verletzt wurde.« »Der Pfarrer der Gemeinde ist ein guter Freund von mir.« »Wir haben es hier mit etwas zu tun, das viel größer ist als ein einzelner Pfarrer oder eine Gemeinde. So wie ich es sehe, ist das Ding gigantisch. Weltweit. Ein schwärmender, tödlicher Krebs, der sich in der katholischen Kirche versteckt und sie von innen her verrotten lässt. Und bösartig, Mike, der Herr ist mein Zeuge. Unglaublich bösartig.« »Etwas so Großes, dass es sich mit Vergewaltigungen abgibt? Hier geht's doch höchstens um einen perversen Einzeltäter.« »Ich hab' doch gesagt, du würdest mir nicht glauben.« »Ich habe noch kein Urteil abgegeben. Überzeuge mich doch. Bis jetzt hast du wunderbare Arbeit geleistet.« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Tu ich auch. Ich nehme dich ernst.« »Es gibt eine Gemeinde, die sich in der Heiligen-Geist-Kirche trifft. Na bitte, Mike ich seh' dich schon grinsen. Ich erzähle dir wirklich was Großes!« Mike hatte nur ganz kurz gelächelt, um den Grad von Terrys Auflösung zu prüfen. Seine Reaktion bedeutete, dass er die Story, die er erzählte, zumindest glaubte. »Gib mir einen Beweis.« »Was willst du bewiesen haben?« »Alles. Jeden einzelnen Teil.« »Das beständige Winseln des Cops an den Reporter: Tu meine Arbeit, selbst krieg' ich sie nicht hin. Okay, ich bin durch einen Burschen namens Alexander Parker darauf gekommen. Er wohnt der Heiligen-Geist-Kirche gegenüber. Der Bursche hat nichts mit der Presse zu tun. Er kam ungefähr vor 'ner Woche in meine Stammkneipe rein. Als er mitkriegte, dass ich 'n Reporter bin, hat er mir 'ne Geschichte erzählt.« Mike nickte. »Er sagt, er kommt oft spät nach Hause. Er ist 'n Nachtmensch, sagt er. Und sonntags und donnerstags nachts sei ihm was Komisches aufgefallen. Keine besonders große Sache, bloß, dass dann immer mehr Leute in der Gegend sind als üblich. Eines Nachts ist er in seiner Wohnung. Und weil es ruhig ist, hört er ein ziemlich leises Geräusch. Wie Musik, aber so leise, dass man sie mehr spürt
als hört. Er denkt, es kommt vielleicht aus der Kirche. Also geht er mal rüber.« »Hört sich an, als war's einer von uns.« »Er versucht's an der Tür, aber die ist abgeschlossen. Also lauscht er. Er hört, wie sich in der Kirche Leute bewegen, eine Menge Leute, und ihm ist so, als würden sie herumgehen. Hin und wieder weint ein Baby und wird zum Verstummen gebracht. Das verängstigt ihn ein bisschen, und er geht nach Hause. Er passt auf. Gegen halb fünf etwa schläft er ein, und dann sieht er die Leute plötzlich gehen.« »Er schläft und sieht dabei Leute?« »Unterbrich mich nicht! Er wacht auf und sieht die Leute. Sie gehen in Zweier und Dreiergruppen. Er zählt dreihundert Menschen, die die Kirche im Zeitraum einer halben Stunde verlassen. Kurz vor Morgengrauen. Er kann's kaum glauben.« »Dann rennt er raus und erzählt es dem cleversten Reporter von New York.« »Es ist ihm mehr oder weniger rausgerutscht. Als wolle er mich auf eine Spur bringen. Er sagt, die Leute seien gefährliche Verrückte, und redet von einer Krankheit, die sie verbreiten wollen. Er hat auch was über eine neue Spezies gesagt den Anti-Menschen. Er hat mich gebeten... Er hat mich beinahe angefleht, etwas darüber zu schreiben. >Sagen Sie's der Welt<, hat er gesagt. >Warnen Sie die Menschheit.«« »Und?« »Klingt das nicht verdammt gefährlich?« »Teufel, wenn's doch nur so wäre! Ob Anti-Mensch oder sonst was, eine neue Spezies würde die Welt bestimmt besser in den Griff kriegen als wir.« »Du verstehst kein Wort, du Depp, oder? Du sitzt die ganze Zeit hier rum und tust ernst, und dabei lachst du über mich! Es geht um das, was sie planen, wenn die neue Rasse da ist. Wir anderen... Sie werden uns umbringen. Ohne Ausnahme.« »Das ist 'ne Menge Arbeit.« »Nicht für Leute, die diese Waffen haben. Sie haben eine Krankheit entwickelt. Wird sie losgelassen, sterben alle.« »Auch die neue Rasse und die Kirche der Nacht?« »Nein, zum Teufel. Alle außer ihnen. Sie werden natürlich dagegen geimpft.« »Dein Freund hat 'ne Menge herausgefunden. Ich meine, angesichts der Tatsache, dass er nur zugeschaut hat, wie die Leute
über die Straße gingen. Findest du nicht auch?« »Daran habe ich auch schon gedacht. Ich glaube, dass Alex mehr ist, als er zu sein scheint. Er hat gesagt: >Sie sind der Reporter; nehmen Sie die Geschichte, und bringen Sie sie.<« »Und deswegen bist du hier.« »Ich habe Angst um mein Leben! Die Sache ist zu groß für mich. Ich kann die Story nicht bringen und trotzdem am Leben bleiben.« »Wie kann ich die Leute erkennen?« »Nun, die meisten halten sich mitten in der Nacht in der Heiligen-Geist-Kirche auf. Geh hin und schnapp sie dir.« »Soll ich ihnen vielleicht 'ne Anzeige wegen unbefugten Eindringens verpassen? Das würde sie doch nur noch vorsichtiger machen.« »Dann krieg raus, wo ihre Labors sind, oder was sie betreiben. Sie müssen doch Lagerräume für ihre Krankheitsviren haben, ganz zu schweigen von Verteilungssystemen. So einfach kann es doch nicht sein, die ganze Welt zu infizieren. Es muss doch einen Haufen Anhaltspunkte für das geben, was sie vorhaben.« »Es klingt eher nach 'ner Art irren Wissenschaft als nach einer Kirche.« »Nun, vielleicht stimmt auch das. Wenn man Religion und Wissenschaft vermischt, kommt ein Ungeheuer dabei raus.« »Du hast mir immer noch nichts gegeben, woran ich mich halten kann.« »Zum Teufel, Mike...« »Du schleppst mir nur einen Haufen Unfug an! Du hättest mir lieber einen Haufen Anhaltspunkte bringen sollen. Irgend etwas, was ich in meine verdammten Hände nehmen kann. Jetzt reicht's mir aber, Terry. Ich bin ein beschäftigter Mann!« »Dann rede doch mit Alex Parker! Tu deine verdammte Arbeit und folge dieser Spur!« Terrys Tonfall reizte Mike so, dass er ihm am liebsten eine gelangt hätte, aber er widerstand der Verlockung. »Wir werden die ganze Umgebung verhören, darauf kannst du dich verlassen.« »Ach, hör doch auf! Du solltest deinen Arsch aus dem Sessel hieven und persönlich mit Alex Parker reden. Tu es für mich. Der alten Zeiten wegen.« Mike musterte seinen Freund. Zu viele Enttäuschungen, zuviel Fusel, zu viele Hoffnungen, die durch den Abfluss gegangen waren. »Okay, Alter, ich rufe ihn sofort an.« Terry hatte die Nummer. Mike wählte und wartete drei, dann fünf, dann sieben
Klingelzeichen ab. Dann zuckte er die Achseln und legte wieder auf. »Was soll ich sagen? Er geht nicht ran. Wir versuchen es später noch mal.« Terry Quists Gesicht war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Mike konnte den Geruch seiner Angst förmlich riechen. Es war ebenso seiner Übelkeit wie dem Tumult des Vogelgekreisches zuzuschreiben, dass Bruder Alexander erwachte. Er öffnete die Augen und schaute in den blauen Morgenhimmel. Der sich ankündigende Schwindelanfall machte ihm klar, dass man ihn unter Drogen gesetzt hatte. Er konnte die dicken Ätherdünste in der Nase noch immer riechen und in seinem trockenen Mund schmecken. Sein Magen hob und senkte sich. Über ihm wanderten aufgebauschte weiße Wolken durch klares Blau. Man hatte ihn an Armen und Beinen gebunden und an ein eisernes Bettgestell gefesselt. Er befand sich auf einer Waldlichtung. Er konnte den Kopf zwar nicht weit genug bewegen, um sie zu sehen, doch er spürte, dass jemand in seiner Nähe war. Als er den Kopf nach rechts drehte, erhaschte er einen Ausblick auf ein bekanntes Gesicht. Sein Herz fing an zu klopfen. Es war der berüchtigte Jerry Cochran, und er hatte etwas in der Hand, das einer Lötlampe sehr ähnlich sah. »Guten Morgen, Bruder.« Tränen sprangen in Alex Parkers Augen, Er hatte Geschichten über diesen Mann gehört, schreckliche Geschichten. Über das Abziehen der Haut bei lebendigem Leib und über Verbrennung und Folterung, die jenseits aller Vorstellungen lagen. Dann hörte er ein Wamm! und ein Aufbrüllen. Jerry Cochran kam voll in sein Blickfeld, hochgewachsen, grimmig, mit einem irren Blick in den Augen und einem Gesicht, das so starr war, als bestünde es aus Stein. In seiner Hand befand sich eine schwarze Lötlampe, die Feuer spuckte. Alex drehte und wendete sich auf dem vibrierenden Bettgestell. In seinem Geist machte sich Entsetzen breit. In späten Nächten, wenn er ganz allein gewesen war, hatte er über der Möglichkeit dieses Märtyrertums geschwitzt dem Tod durch das Feuer. »Wenn du meine Fragen beantwortest, werde ich dich vorher erdrosseln«, sagte Jerry Cochran ruhig. Alex konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Er wusste schon jetzt, was er tun würde; er hatte sehr sorgfältig über alles nachgedacht.
Inquisitoren mussten sich selbst gut genug kennen, damit sie wussten, was sie unter der Folter alles tun würden. »Tut mir leid, Jerry«, sagte er schluchzend. Dann konzentrierte er sich auf das Jesusgebet, seine einzige Waffe gegen die Qual der Flammen: »Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist bei mir; Jesus oh! O GOTT! AAAHHH!« Jerry hatte die Flamme an Alex' Brust gehalten. Man roch den Geruch verbrannten Haars. »Du bist sehr empfindlich, Alex. Ich habe dich doch kaum berührt.« Alex spürte, wie sich seine Blase entleerte. Aber man hatte sich darauf vorbereitet. Er spürte, wie jemand ein Handtuch zwischen seine Beine legte. »Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist...« Die Flammen schickten rasiermesserscharfe Schmerzwellen über Alex' Schenkel, als Jerry die Flamme an seinen Beinen lecken ließ. Haut platzte und riss. Öliger Rauch stieg auf. »Wir wissen, dass dein Saufkumpan Journalist ist, Alex. Wie heißt er?« »Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist bei mir...« Alex hielt verwirrt inne, als der nächste Angriff ausblieb. Zu seinem äußersten Entsetzen spürte er, wie Jerry das Handtuch wegnahm, das ihn beschützt hatte. »Ich glaube, die Angehörigen deines Ordens leben im Zölibat«, sagte er. »Aber ich glaube, es spielt ohnehin keine Rolle, nicht wahr, mein Freund? So brauchst du dir wenigstens keine Sorgen mehr darüber zu machen, ob du dein Gelöbnis einhalten kannst.« Als Alex das Feuer diesmal spürte, war es, als würde sein Innerstes nach außen gerissen, als wären alle Flammen der Sterne des Himmels auf ihn gefallen. Wild vor Qual schrie er auf. Er brüllte, bis seine Stimme brach, und ruckte und zuckte auf dem eisernen Bettgestell. Niemand konnte ihn hören. Nicht hier draußen auf dem riesigen Landsitz der Kirche der Nacht. »Seinen Namen!« »Qui-i-st! QUIST! QUIST!« »Aha.« »Aufhören! Jerry, ich hab's gesagt! Aufhören! Aufhören!« Jerry ließ die Flammenzunge mit trägen Streichen über Alex auf und nieder wandern vom Zwickel bis zu den versengten, platzenden Sohlen seiner Füße. »QUIST! QUIST! O GOTT!« Jerry sah ihn mit dem finsteren Blick großer Leidenschaft an. Sein Gesicht war gerötet. »Jetzt fangen wir mit dem Bauch an, Alex,
okay?« Er lächelte kurz. »Vielleicht hilft es dir, wenn du noch mal das Jesusgebet sprichst. Oder wenn du mir die Namen der anderen Lumpen sagst, die zu deinem Kader gehören.« »Ich hab's doch gesagt QUIST!« »Mit dem hattest du kürzlich Kontakt. Ein Reporter, sieh mal an. Welch amateurhafter Versuch, uns zu schaden das Interesse eines Reporters zu suchen. Ich möchte auch die anderen Namen wissen, Alex, und zwar alle!« Der Verrat seines Kaders bedeutete das ultimate Versagen eines Inquisitors. Verzweifelt, da er seine Schwäche kannte, versuchte Alex, sich selbst bewusstlos zu schlagen, indem er seinen Kopf gegen die Eisenstangen warf, auf denen er ruhte. Aber Jerry hatte auch daran gedacht. Ein Lederkragen hielt Alex' Hals im Zaum. »Hör zu, Alex, du hast so viel zu erleiden, dass ich dir noch ein Angebot mache. Ich fürchte, du bist zu widerspenstig, um die Garotte zu verdienen, aber wenn du mir die Namen sagst, nehme ich mir dein Gesicht mit der Fackel vor. Dann ist es schnell vorbei.« »Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist bei mir; Jesus...« Als die Flamme diesmal kam, stach sie in seinen Bauch und brachte seinen Magen zum Kochen. Seine Gedärme explodierten in seinem Inneren, und ihre Qual mischte sich mit dem Versengen seines Leibes. Heißer Dampf stieg in seiner Kehle auf, ließ Mund und Nase verschmoren. Jerry hörte auf. »Vielleicht fragst du dich, wieso der Schmerz dich nicht ohnmächtig macht. Wir haben dich mit Amphetaminen gefüttert, Bruder Alex. Du kannst nicht in die Besinnungslosigkeit entwischen.« Das reichte. Alex hatte darauf gehofft, ohnmächtig zu werden; er hatte sogar damit gerechnet, der Schmerz und die Verletzungen würden ihn ins Koma sinken lassen. Doch das war zuviel. Nicht mal in seinen schrecklichsten Fantasien hatte er sich ausgemalt, dass die Folter so schlimm war. Es war kaum zu glauben, dass der menschliche Körper eine solche Pein ertragen konnte. Schweren Herzens wegen seines jämmerlichen Versagens listete Alex die Namen der Mitglieder seines Kaders auf. »Gott, vergib mir. Bruder Julius Timothy ist der eine, Bruder George Yates der andere.« »Das sind alle? Warum ist euer Kader so klein?« »Wir haben die Heiligen-Geist-Kirche für eine Hinterwäldlergemeinde gehalten.« Jerry nickte. »Das haben wir auch gedacht. Deswegen haben wir sie auch so oft benutzt.«
»Ihr seid sehr gerissen.« »Das weiß ich, Alex.« Einen Moment lang herrschte zwischen ihnen Stille. Alex suchte den Blick seines Folterers. Dann gab es einen Kontakt zwischen den beiden Männern, dem gequälten Opfer und seinem Peiniger. Alex sah in Jerry Cochrans Augen viele Dinge: Hass, Genuss, Selbstekel, und tief unten in den Funken und den Schatten einen verängstigten kleinen Jungen, der sich vor langer Zeit verlaufen hatte. »Gott wird dir vergeben, mein Sohn; auch ich vergebe dir.« Jerry lachte. Es war das traurigste Geräusch, das Alex je gehört hatte. »Dafür müsste ich dir die Vollbehandlung geben.« Jerry hob die Lötlampe, bis sie einen großen Flammenstoß hinausbrüllte. Er zögerte einen Moment, als sei er unentschieden. Dann richtete er die Fackel auf Alex' Brustkorb. »Jesus, du bist bei mir; Jesus...« Doch irgend etwas hatte den harten Mann gerührt, und plötzlich änderte sich die Richtung der Flamme. Alex sah einen Augenblick lang Feuer, dann spürte er einen glühendheißen Stich, der durch seine Kehle fuhr. Und dann war alles kühl. Er versank in zeitloser Seligkeit. Jerry wies die Arbeitsmannschaft an, die Kremation zu vollenden und die Leiche in einen Sack zu stecken. Dann kehrte er nach Queens zurück und ging mit den Überresten in Alex' Wohnung. Sie legten sie in Alex' Bett und zündeten es an. Zwanzig Minuten später war die Feuerwehr da. Zehn Minuten danach quoll Dampf aus den Fenstern von Alex Parkers Wohnung. Mike erschien mit Terry Quist, der wie ein Baby an ihm hing, am Ort des Geschehens. Als er sah, wie die geschwärzten, nassen Überreste Alex Parkers aus dem Haus getragen wurden, riss Terry sich büschelweise Haare aus. Die Todesursache wurde mit Verbrennungen und Ersticken angegeben. Ursache war ein Matratzenbrand. Man ging davon aus, dass das Feuer durch eine Zigarette entstanden war. Offiziell stand der Märtyrer auf der Liste derjenigen, die gestorben waren, weil er im Bett geraucht hatte. Terry Quist verließ die Szenerie als ruheloser, ängstlicher Mann. Mike Banion schaute hinter ihm her, als er ging. und stellte sich Fragen.
6. Kapitel
Die beständige Düsternis der Rayne Street hüllte Jonathan in dem Moment ein, als er aus der stark befahrenen McDougall abbog. Die Rayne Street war eine enge, gepflasterte Straße zwischen der McDoughall und der Sullivan und gehörte wie die Gay Street und Aldorf Mews zu den verborgenen Straßen von Greenwich Village. Hier hatte die Universität von New York in dem gewaltigen schwarzen Klotz eines Gebäudes, das den kurzen Häuserblock beherrschte, ihr Datenlager untergebracht. Im Keller hatte sich Platz für Jonathans Labor gefunden. Er konnte die Räume nicht ausstehen, weil er ihre Klammheit nicht mochte und weil sie so weit vom Campus entfernt waren, aber hauptsächlich lag es an der finsteren Hässlichkeit, die das Gebäude selbst ausstrahlte. Die Sonne schien nie in die Rayne Street hinein, nicht mal zur Mittagsstunde. Sie gehörte zu jenen New Yorker Straßen, die noch immer mit Kopfstein bepflastert waren und noch Hufgetrappel, Kutschen und Karren gekannt hatten. Jonathans Schritte waren das einzige Geräusch, das man momentan auf der Rayne Street hören konnte. Er schaute zur Fassade des Hauses hinauf. Immerhin war das Gebäude in einem ordentlichen Zustand. Auf einem kleinen Messingschild an der Tür stand DIGITALES DATENLAGER DER UNIVERSITÄT NEW YORK. Unter der Treppe befand sich noch eine Tür, diesmal mit einem Kunststoffschild: PHYSIOPSYCHOLOGISCHE ABTEILUNG, LABOR B. Jonathan rechnete damit, dass das Schloss klemmte, doch obwohl er es seit drei Wochen nicht mehr benutzt hatte, ließ es sich leicht aufschließen. Die Eisentür öffnete sich, ohne zu knarren. Der dahinterliegende Korridor war kohlschwarz. Jonathan tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn und schaltete die Beleuchtung ein.
Nichts passierte. Er fluchte. Da stand er nun draußen herrschte ein sonniger Morgen, und er musste sich den Weg durch einen finsteren Korridor tasten, weil eine gleichgültige Universitätsverwaltung sein Labor in diesem Loch untergebracht hatte. Hinter ihm schloss sich die Tür. Jonathan betätigte mehrmals den Lichtschalter, doch es war sinnlos. Dann ging er langsam durch den Korridor und tastete nach der Labortür. Zum Glück war sie die einzige auf diesem Gang. Er führte dorthin, wo sich einst die Weinkeller und Kellerlagerräume des alten Gebäudes befunden hatten.
Jonathan wurde sich eines eigenartigen Klangeffekts im Inneren des Korridors bewusst. Wenn er Luft holte, hörte es sich so an, als atme jemand neben ihm in der Dunkelheit. Der Effekt war so realistisch, dass er unweigerlich in die Mitte des Ganges griff. Aber natürlich war dort nichts. Jonathan machte sich daran, die Wand schneller abzutasten; er schob die Hand von oben nach unten und suchte nach dem Türrahmen. Er sehnte sich wirklich nach etwas Licht. Vielleicht war es wieder eine Sinnestäuschung, aber er vernahm ein Rascheln. Ratten. Wie ekelhaft. Er klatschte in die Hände und rief >Hey!<. Dann hörte er etwas, das ihn zum Schweigen brachte. Er wurde äußerst still und lauschte. Die Schritte eines Menschen kamen am anderen Ende des Korridors die Treppe herunter. Jonathan zuckte zurück. Er hielt sich in einer geschlossenen Anlage auf. Oben arbeitete niemand. Sein erster Gedanke war, dass ein Penner hier eingedrungen war. Ein starker weißer Lichtstrahl blendete ihn. Jonathan schirmte seine Augen mit dem Unterarm ab. Ängstliche Gedanken trieben durch seinen Kopf sie handelten vom Tod, der aus den Händen eines Wahnsinnigen kam. »Wer sind Sie?« Die Stimme war alt und barsch. Sie hörte sich nicht eindeutig geistig gesund an. »Banion. Mein Labor ist hier.« »Sie können hier nicht rein. Die Anlage ist geschlossen.« Jetzt wurde es ihm klar. Er stand einem Wachmann gegenüber. »Hören Sie, mein Labor ist hier. Ich bin kein Student, ich bin Professor. Leuchten Sie mir also nicht in die Augen; leuchten Sie auf die Tür, damit ich das Schlüsselloch sehen kann.« Der Lichtstrahl bewegte sich nicht. Er kam vielmehr näher, bis er in Jonathans Augen brannte. »Gehen Sie nach Hause, junger Mann. Sie dürfen hier nicht rein.« Die Stimme war zwar alt, aber sie hatte einen eisigen Tonfall. Jonathan wusste, wann er bedroht wurde. Und es versetzte ihn in Wut. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung nahm er die Hand hoch und entriss dem Alten die Lampe. Einen Augenblick lang verspürte er einen überraschend kräftigen Widerstand, dann seufzte der Alte und ließ sich die Lampe abnehmen. Im gleichen Moment kam Jonathan mit seiner Hand in Berührung. Es war eine schockierende Empfindung. Er hatte noch nie eine dermaßen harte und kalte Haut berührt. Sie war mehr Stein als Haut. Jonathan stellte sich vor, dass
sich so die Hand einer Mumie anfühlte. Eine trockene Klaue. »Sind Sie verrückt, hier herzukommen? Sie bringen sich selbst in große Gefahr!« Jonathan wendete das Licht um und erhaschte einen Blick auf den Mann, bevor er ihm den Rücken zuwandte. Was er sah, ließ ihn aufkeuchen: Hellgrüne Augen, die in einem Labyrinth von Runzeln begraben waren, den winzigen Schlitz eines Mundes, der sich zu einem wütenden Fauchen öffnete. Dann war der Alte verschwunden; seine Schritte polterten die Treppenstufen hinauf. Eine Tür fiel ins Schloss. Heiliger Bimbam. Die Universität hatte vielleicht Nerven! Wie konnte man nur senile alte Narren anheuern, um die Anlage zu bewachen. Aber wahrscheinlich lag es am Budget. Jonathan nahm den Schlüssel von seinem Ring. Jetzt, wo er die Taschenlampe hatte, war es kein Problem mehr, hineinzukommen. Er betrat sein Labor und machte sich die geistige Notiz, die Instandhaltungsabteilung der Universität anzurufen und sich über den Wachmann zu beschweren. Der Mann war doch geistig gestört, ganz zu schweigen davon, dass er für diesen Job viel zu alt war. Jonathan war in der Stille eines Sommermorgens in sein Labor gekommen, um sich zu bemühen, ein für allemal klarzustellen, ob er Patricia wirklich etwas Schreckliches angetan hatte. Er konnte es nicht ertragen, die Sache so zu sehen. Er konnte die Vorstellung einfach nicht akzeptieren, dass ihr Leid und sein Traum Zufall waren. Er akzeptierte nicht einmal die Aussage des Polizei-Polygraphen. Er musste seine eigenen Instrumente einsetzen, um zu erfahren, ob in seiner Seele eine geheime Verderbtheit war. War er ein unbewusster Psychopath? Er stellte sich vor, wie der Schatten des Dämons sein Leben ungeduldig klickend Streifen für Streifen zerfetzte. Seit geraumer Zeit sah er in Satan ein Art neurologischen Schatten, einen Fleck finsteren Potentials in dem elektrochemischen Bad, in dem die Seele trieb. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob der Schatten nicht doch eine Kraft war, die von außen kam. Das Böse an sich kam ihm zunehmend so vor, als hätte es wirkliche Macht in der Welt. Besonders wenn es im Freien war, wenn die Eulen und Schakale bekannt gaben, dass Lilith sich auf Wanderschaft befand, konnten jene, die sie streichelte, sich ihrer Schönheit nicht widersetzen oder ihre Krallen abwehren. Jonathan bewegte sich zwischen den abgedeckten Instrumenten.
Während des Semesters hatte er die erste wirklich detaillierte Karte der Mikrovolts des menschlichen Gehirns erstellt. Seine Arbeit war zwar hochtechnisch, aber unter all den Statistiken gab es das Mysterium und die Romantik der reinen Wissenschaft: Er und andere waren dabei, den Kode des Geistes zu knacken. Der Raum war voll mit galvanischen Sensoren unterschiedlicher Art, doch er war hauptsächlich voller Computer: Apples und kleine IBMs für die statistische Arbeit. Doch die Terminals, die mit dem großen Cray 2000 am MIT verbunden waren, stellten sein Hauptwerkzeug dar. Er setzte den Cray zum Erkennen schwankender Hochgeschwindigkeitssignale ein. Dies war nötig, um die verschiedenen Hirnwellen in ihre vielen hundert Einzelkomponenten zu zerlegen und dann isoliert von den anderen zu analysieren. Es versorgte ihn mit dem eigentlichen elektronischen Fenster zum menschlichen Geist, das weitaus feinfühliger war als jedes andere, das man bisher entwickelt hatte. Er sah auch Reihen von Petri-Schalen für die Aufzucht von Mikroorganismen, sie waren an der Wand aufgereiht. Jonathan blieb stehen. Er fuhr mit den Fingern über die Regalreihen. Komisch. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemandem erlaubt hatte, Ausrüstung dieser Art hier abzustellen. In der Mitte der Wand befand sich eine Schranktür, auf der nun in Blockbuchstaben BAKTERIENÜBERTRÄGERLAGER stand. Sie war verschlossen. Er arbeitete doch gar nicht mit Bakterien. Was hatte das zu bedeuten? Als er sich umsah, fiel ihm auf, dass kürzlich jemand hier gewesen war. Da lag ein Labordiagramm mit Anmerkungen; es trug das Datum von gestern. Auf dem Boden lag die Hülle eines Kaffeebehälters. Irgend jemand hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden hier gearbeitet. Die Universität musste einem anderen Projekt momentan nicht benutzten Raum zugeteilt haben. Wie komisch. Es entsprach nicht der Art der Universität von New York, derlei zu tun, ohne ihn zu benachrichtigen, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, dass so etwas schon einmal vorgekommen war. Er stand in der Mitte des düsteren, warmen Raumes und dachte nach. Das beständige, ferne Klicken, das er hörte, waren die Schritte auf dem Gehweg über dieser Kellerzone. Dämonische Schatten. Er hatte groteske Gedanken. Das Klicken erstarb. Vielleicht hatte man ihn doch über die biologischen Instrumente informiert. Dass er sich nicht daran
erinnerte, passte zu seiner Amnesie-Theorie. Wenn er nicht mehr wusste, dass hier jemand ein Bakterienexperiment durchführte, erinnerte er sich vielleicht auch nicht mehr an andere Dinge. Irgendwie musste er genug vom Mechanismus seines Geistes enthüllen, um die Wahrheit herauszufinden. Jonathan hatte erkannt, dass Grauen und Abscheu nicht seine einzigen Reaktionen bezüglich der Vergewaltigung waren. Sein Körper vibrierte vor Verlangen, wenn er daran dachte. Es war grässlich und ekelhaft. Aber dennoch, als er sich daran erinnerte, wie sie im Krankenhaus gelegen hatte, überkam ihn eine höhnische, hassenswerte Verachtung, die im Widerspruch zu allem stand, was er bisher geglaubt und an sich gemocht hatte. Irgendwo in den Winkeln seines Bewusstseins gab es brutale Erinnerungsfetzen, die noch über die Vergewaltigung hinauszureichen schienen ein schreiendes Gesicht, ein sich schließender Sarg, Klopfen und Geheul... Lange Marmortreppen, Reihen Choräle singender Nonnen, das Würgeeisen, die Wippe, die Streckbank... War es ein anderes Leben, irgendeine grauenhafte Vergangenheit? Im Gegensatz zu Patricia hielt Jonathan die Reinkarnation nicht nur deswegen für unmöglich, weil sie der Doktrin der katholischen Kirche widersprach. War er irgendwann in der Vergangenheit der Inquisition zum Opfer gefallen, hatte er im Kerker eines eleganten spanischen Palastes geschmachtet? Nein, das war kaum wahrscheinlich. »Inquisitor.« Er flüsterte das Wort, wie er vielleicht den Namen einer präsenten Gefahr geflüstert hätte. »Inquisitor.« Seine Mutter hatte das Wort heute morgen ausgesprochen. Und seine diesbezügliche Frage abgewehrt. Inquisitor. Jonathans Hände zitterten, seine Beine schienen einzuknicken. Die verrückte Warnung des Alten warf in seinem Kopf ein erneutes Echo. Er ging zur Tür und schaltete sämtliche Neonröhren ein. Ihm fiel etwas ein. Ein Priester. Er ging forsch durch die Halle eines Flughafens; sein Haar war sauber auf der rechten Seite gescheitelt, sein wohlgenährtes Gesicht zeigte eine Mischung aus Selbstsicherheit und Zufriedenheit; seine Schuhe klickten über den Boden. Dann dreht sich das Gesicht, sieht Jonathan an und verändert sich. Hass ersetzt Zufriedenheit, das Gesicht wird schrecklich, skrupellos und grausam. Doch diesmal hat die Inquisition keinen
Erfolg. Ein hochgewachsener junger Mann, ein Mann, den Jonathan verehrt, packt den Priester und drängt ihn zu einem Wagen. Nächste Erinnerung: Der Priester ist nackt an eine Kellerwand gekettet. Fragen werden gestellt, eine nach der anderen: Wer ist Ihr General-Inquisitor? Wie haben Sie uns gefunden? Und so weiter, und so weiter, während der hochgewachsene junge Mann dem nackten Geistlichen die Haut in Streifen vom Leib zieht. Jonathan verbirgt sich in einer Ecke, hinter einigen Regalen, die voller leerer Petri-Schalen sind. Aus dem Mund des Priesters ein unaufhörliches Gebet: Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist bei mir; Jesus, du bist bei mir. Helft dem Priester! Ich bin auf seiner Seite! Endlich hört die Folter auf. Der Peiniger geht nach oben und trinkt eine Cola. Jonathan wird allein gelassen. Er ist verblüfft, von Grauen erfasst, weil sein Freund, sein Idol, einem menschlichen Wesen derartiges antun kann. Der Priester seine Augen sind wässrig und blutunterlaufen scheint zu wissen, dass das Ende nicht mehr allzu fern ist. Er richtet den Blick auf den Jungen, der nach vorn gekrochen ist, und dessen Augen vor Mitleid tränen. Worte strömen wie ein Sturzbach aus dem ausgedörrten Mund des Priesters. »Junger Mann, sie werden deinetwegen die Menschheit auslöschen, deinet- und des Mädchens wegen. Wende dich gegen sie! Akzeptiere Christus! Bitte, hör mir zu. Dein Freund Jerry ist schlecht, dein Onkel ist schlecht, sie bringen den... Tod hervor.. . sie sind Satans... oh... Satans Freunde.« Dann rollt er mit den Augen, sein Kopf sinkt nach vorn, sein Kinn berührt seinen sickernden, gehäuteten Brustkorb. Nein, das ist keine Erinnerung. Es ist deine Fantasie. Du spinnst dir was über die biologischen Experimente zusammen, die es hier gar nicht hätte geben dürfen. Du bist hysterisch. Jonathan verdrängte die verrückten Vorstellungen mit aller Macht aus seinem Geist. Erneut musterte er die hochentwickelten Instrumente jene, die ihm vertraut waren. Sie konnten Hirnwellen empfangen und aufzeichnen; dazu waren sie da. Wenn er herausfinden konnte, aus welcher Ecke seines Gehirns Gedanken wie die, die er gerade gehabt hatte, kamen, konnte er auch sagen, ob es sich um Erinnerungen handelte oder nicht. Jonathan ging zur Kabine hinüber und nahm den komplizierten, kabelübersäten Sensorhelm in die Hand.
Wie sollte er die Kontrollen betätigen, wenn er das Ding trug? Das Kabel war nicht lang genug. Jonathan fluchte stumm. Ohne einen Assistenten hatte er keine Möglichkeit, die Anlage in Betrieb zu nehmen. Und die Alternative war ganz und gar nicht nach seinem Sinn. Im CalTech experimentierte man mit einer gewissen Droge. Man konnte sie wie Kokain inhalieren, aber sie wies keinen euphorischen Effekt auf. Sie stimulierte jedoch die untersten Erinnerungszentren des Gehirns und riefen einen fast unglaublichen Strom lebhafter Rückerinnerungen hervor. Das Zeug hieß N Alpha doporinol 6-6-6 und war ein gewaltiger Triumph der Kunstfertigkeit der Biochemie. Es wurde aus natürlicher Hirnchemie synthetisiert. Bis jetzt kostete eine Unze achttausend Dollar. Ein paar Gramm davon lagen im Kühlschrank. Man hatte Jonathan gebeten, einige der CalTechExperimentergebnisse zu wiederholen, doch bevor er die Arbeit aufgenommen hatte, hatte das Labor für den Sommer geschlossen. Er ging zum Kühlschrank. Es war kein gewöhnlicher. Der Schrank war mit Bolzen am Boden befestigt und hatte ein Kombinationsschloss. Einige der hier aufbewahrten Drogen, Aufputschmittel und dergleichen, waren auf dem Campus sehr gefragt. Andere, wie 6-6-6, waren wertvoll. Hinter den Valiumund Quaaludflaschen lagen Folienpäckchen mit handgeschriebenen Etiketten. Jonathan nahm ein Päckchen mit 6-6-6 heraus. Die Kristalle, die sich darin befanden, knirschten wie Zucker, als er die Folie öffnete. Im Idealzustand sollte die Droge in einer Salzlösung treiben und mittels eines Saugapparats durch die Nasalmembran verabreicht werden. Aber dafür hatte er keine Zeit. Jonathan maß auf der empfindlichen Laborwaage eine geringe Dosis ab vier Körner -, dann zerrieb er sie fein mit Stößel und Mörser. Er schüttete sie aus dem Mörser auf die Fläche eines Spatels und hob ihn an die Nase. Er inhalierte. Er roch ein sanftes, freundliches Aroma. Jonathan spürte keine Veränderung. Er ging in eine Testkabine und streckte sich auf der Liege aus. Immer noch nichts. Warum müssen eigentlich Gitter an meinem Fenster sein, Mutter?
Die Jungenstimme war so deutlich hörbar, dass Jonathan aufsprang. Es war es gewesen Jonathan Titus Banion, als Kind. Gitter? Waren die Fenster ihrer alten Wohnung vergittert
gewesen? Er erinnerte sich gar nicht daran... und dann tat er es doch. Wir müssen sie draußen halten, von dir fernhalten. Die Gitter sind ihretwegen da.
Das war aber unheimlich. Es hatte ihre Stimme gehört, aber sie war doch gar nicht da. Jonathan konnte die Wände des Schlafzimmers sehen, in dem seine Mutter diese Worte gesprochen hatte. Aber an die Tapeten, auf denen Monde, Planeten und Raketen zu sehen waren, erinnerte er sich nicht. Woher also stammte die Erinnerung? Der Alte aus dem Korridor umrundete eine Laborwerkbank. Seine Smaragdaugen blitzten. Im fluoreszierenden Licht wirkte seine Haut pulvergrau. Er sah tot aus. Natürlich war es ein halluzinatorisches Phänomen. Jonathans Lider flatterten, aber er konnte die Illusion nicht verschwinden lassen. Der Alte sagte: »Du darfst nicht an der Tür zur Vergangenheit rütteln, Jonathan. Es ist gefährlich für dich. Schrecklich gefährlich.« »Wer, zum Teufel, sind Sie? Wie können Sie es wagen, mein Labor zu betreten!« Der Mann verschob sich und flackerte, war halb Fata Morgana und halb real. Jonathan blinzelte erneut, doch sein Bild blieb schwach erhalten. Der Alte schien auf eine eigenartige Weise zu seinen Erinnerungen zu passen. »Gefahr!« sagte er. »In diesen Erinnerungen liegt Gefahr!« Dann schwang er eine rote Laterne, und Jonathan wurde klar, dass es sich wirklich um eine Halluzination handelte. Das Instandhaltungspersonal der Uni verwendete solche Lampen nicht. Der echte Wachmann schlief wahrscheinlich irgendwo unter der Treppe. Der Falsche symbolisierte eine starke Barriere in Jonathans Geist gegen den Akt des Sich-erinnerns. Aber wie? Eine solche Barriere kam doch nicht aus dem Nichts. Sie musste erzeugt werden. So unglaublich es klang, die einzige Erklärung war im Grunde die, dass ein hochtalentierter Hypnotiseur ihn manipulierte. Denn was war mit den anderen Fantasien, die er soeben gehabt hatte der Inquisition, dem gefolterten Priester? >Sie werden deinetwegen die menschliche Rasse vernichten, deinet- und des Mädchens wegen.< Hatte der Priester nicht etwas in dieser Art gesagt? Aber es gibt doch keinen Grund, irgend etwas unseretwegen zu vernichten.
Jonathan saß auf dem Rand der Liege und rieb sein verschwitztes Gesicht. Noch immer brachen kleine und kleinste Erinnerungsfetzen durch den hypnotischen Wall; daran war die starke Wirkung der Droge schuld, die sie an die Oberfläche schoben, ohne sie jedoch ganz zu erreichen. Wie eine aus Lava gebildete Kruste verschob sich sein Geist und brach auf, doch wo er aufbrach, trieb die darunterliegende verdorrte Hässlichkeit Jonathan zurück. Es lag nicht an ihm. Er litt nicht an Gedächtnisschwund; jemand hatte bewusste Schritte eingeleitet, um seine Vergangenheit vor ihm zu verbergen. Und dieser Jemand verfügte über starke Fähigkeiten. Die Hypnose war eine ungeheuerliche Kunst. Sie mit dieser Feinfühligkeit zu praktizieren, führte geradewegs an die Grenzen modernen Wissens, vielleicht sogar ein Stück darüber hinaus. Jonathan spürte, dass sich in ihm ein titanischer Kampf abspielte, und zwar zwischen der Droge und der Barriere. Panisch, schwitzend, schwindlig taumelte er aus der Kabine heraus. Es gab kein Gegenmittel für das 6-6-6; er hätte es nie einnehmen sollen, ohne unter Aufsicht zu stehen. Der Raum war heiß, entsetzlich heiß. Er musste einen Schluck Wasser trinken. Doch die geringste Bewegung machte ihn schwindlig und ließ ihn gegen die Regale laufen. Sein Kopf vibrierte, Übelkeitswellen ließen ihn taumeln. Du willst also wissen, warum wir dich beschützen? Dann, mein Junge, sieh dir an, was die Inquisition tut, die hinter dir her ist!
Er war von einer Flammenwand umgeben, die hoch aufstieg. Die Flammen berührten ihn; ihre Berührung war entsetzlich schmerzhaft. Ein eiserner Kragen band ihn an einen Pfahl. Seine Hände waren frei; er zerrte an dem Eisen. Er trat gegen die Holzscheite, bis Funken um ihn herum in die Luft stoben. Hinter den Flammen konnte er eine große, aufgeputzte Menge sehen, Männer, Frauen und Kinder. An den Rändern des Scheiterhaufens rösteten kleine Jungen Kartoffeln, die sie an den Mob verkauften. Und die Menge skandierte: »Bösartiges Kind des Satans, rette dich doch!« Aber ich bin kein Kind des Satans! Ich bin... Ich bin... etwas anderes. Er blickte hinauf zur königlichen Loge, schaute in ein blasses Gesicht. Ihre Haut war wie Milch, ihre Augen kristallgrün, ihr Haar so blond wie eine sonnenbeschienene Wolke. Aus ihrem Blick floss kühlende Liebe. Sie war gefasst, aber er wusste genau, wie traurig
sie sich fühlte. Als die Flammen sich rings um ihn erhoben und er in all seiner Qual starb, konzentrierte er sich auf ihre Augen und sah darin das triumphierende Geheimnis: Unsere Nächte waren nicht vergebens, Senor, denn ich trage ein Kind. Es wird eine •weitere Generation geben. Jonathan taumelte gegen die Werkbank und warf krachend eine Kaskade elektronischer Chips und einen Computer zu Boden. Als er sich zusammenriss, erkannte er, dass das Feuer ebenso wenig ein Traum gewesen war wie der gefolterte Geistliche. Beides waren Erinnerungen. Aber was für Erinnerungen? Und welches Ungeheuer hatte solche Erinnerungen? Die Sache mit dem Geistlichen war erst kürzlich passiert, doch das Feuer hatte vor langer Zeit gebrannt. Im Feuer ist Erhöhung; der Schmerz ist dein Triumph. Wie kannst du es wagen, mir eine Predigt zu halten, Lucinda, wenn ich den Scheiterhaufen erleiden muss!. Mein zum Märtyrer gewordener Gatte. O Lucinda, Pantera, du bist das Bild meiner Träume; du bist die Frau, die stets neben mir gewesen ist. Engel Lucinda. Engel Patricia. Du bist auch Patricia, und du bist alle anderen Frauen, die meine Ahnen und ich geliebt haben. Auf der Suche nach der Grenzlinie der Zukunft schreiten wir voran. Indem wir die beiden Linien immer wieder miteinander kreuzen, Ära für Ära, Jahrtausend für Jahrtausend, erschaffen wir ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk des Bösen. Etwas, das viel finsterer ist als die Menschheit. Etwas, das unbelastet ist von Impulsen zum Guten hin. Etwas unaussprechlich Monströses! Jonathan lag auf dem Boden. »Nein!« Sein Mund war trocken, sein Gesicht tränenverschmiert. »Nein, das darf nicht sein!« Er konnte es fast sehen, fast riechen; es war abscheulich und stank nach verwestem Fleisch. Und es befand sich in diesem Raum. Gefahr, hatte der Alte geheult. Gefahr! Die zerbrochenen Einzelteile des zerstörten Computers hatten Jonathan bösartig geschnitten. Er berührte eine Schramme auf seiner Handfläche und schmeckte das Blut. Irgend etwas kauerte hinter der Werkbank des Labors und holte leise Luft. Jonathan hatte solche Angst, dass er sich buchstäblich nicht bewegen konnte. Es war das Ding, das die Menschheit mit ihrer Inquisition und
ihrer Verfolgung durch die Jahrtausende hatte verhindern wollen. Der Anti-Mensch; der dort hässlich war, wo der Mensch schön ist, der dort bösartig war, wo der Mensch gut ist. Er war der Kern des Bösen. Aber natürlich hielt er sich im Grunde nicht hinter der Werkbank auf. Es war nur seine Fantasie. Es musste seine Fantasie sein. Ja, aber auch deine Fantasie ist gefährlich! Sie versucht, dich dazu zu bewegen, mit diesen Gedanken aufzuhören.
»Ich werde nicht damit aufhören. Ich erinnere mich an den AntiMenschen. Man hat ihn über die Jahrtausende hinweg gezüchtet. Und er ist...« Jonathan musterte seine Hände und drehte sie im gnadenlos fluoreszierenden Licht fortwährend langsam herum. Der Cro-Magnon erwuchs aus dem Neandertaler und vernichtete ihn. Der Homo sapiens erwuchs aus dem Cro-Magnon und vernichtete ihn. Auf die gleiche Weise wird der Anti-Mensch das vernichten, was du Menschheit nennst. Er folgt nur den Naturgesetzen. Daran ist nichts Schlimmes.
»Es ist teuflisch! Die Antwort der Hölle auf Gottes Schöpfung!« Der Homo sapiens ist eine fehlerhafte Spezies, und wie alle Irrtümer der Natur wird er aussterben. Gerade du müsstest den Anti-Menschen lieben. Denn du wirst sein Vater sein.
Jonathan spürte die Haut unter seinen Jeans und die leichte Klammheit seines Zwickels, so eng saß sein Slip. In ihm war eine neue Spezies? Du hast schon mehr erfahren, als du dürftest. Jetzt musst du es wieder vergessen. Du wirst dich dem Ding hinter der Werkbank stellen, und es wird die letzten Minuten aus deinem Gedächtnis streichen.
»Nein!« Ich glaube doch. Ich glaube doch-ch-ch.
Die Stimme in Jonathans Bewusstsein vereinigte sich mit dem Atmen hinter der Werkbank. Sie verschmolz mit dem lauten, grauenhaften Zischen eines Dings, das groß und ursprünglich war. Dann vernahm er einen gleitenden, schlängelnden Laut. Etwas Gewichtiges rieb sich am Boden, und der schwarz glänzende Kopf einer gewaltigen Schlange tauchte an der Tischecke auf. Sie hatte kupferne Schuppen und Augen wie gelbgrüne Steine. In ihrem Blick war nicht die wilde Leere der Spezies der Reptilien. Vielmehr war in ihm etwas viel Schlimmeres brennende, unstillbare Rage, gepaart mit der eigenspöttischen Ironie hoher Intelligenz.
Sie kam elegant näher; ihr gewaltiger Leib bewegte sich schwungvoll in großen Schleifen. Jonathan empfand entsetzlichen Ekel, aber er war ebenso fasziniert. Nichts, nicht mal der drohende Tod, konnte ihn von den starrenden grünen Augen losreißen. Aber das 6-6-6 soll doch gar kein Halluzinogen sein. Ihr habt es schlampig getestet, in Kalifornien. Dieser Effekt wird in euren Protokollen nicht erwähnt. Die Schlange hatte sich vor Jonathan zu einer großen, glänzenden Schuppenmasse zusammengerollt. Sie hob den Kopf, bis er sich mit dem Jonathans auf einer Höhe befand. Wie real sie war, sogar in den Runzeln, die um den Rand ihres Mauls verliefen. Jonathan zog sich aus seiner liegenden Position hoch. Die Schlange richtete sich fast wie durch Zauberei auf. Sie sah ihn an, starrte über eine Entfernung von wenigen Zentimetern in seine Augen. Jonathan hatte sich voll aufgerichtet. Es war unmöglich, aber die Schlange hatte sich auf ihren Windungen erhoben und starrte ihn immer noch an. »Was bist du?« Ich hüte deine Erinnerungen. Ich lebe in dir.
»Mein Gott!« Die Schlange schwang vor und zurück, vor und zurück. Ihre Augen musterten Jonathan sanft. Trotz aller Angst, die sie in ihm erzeugte, wurde ihm klar, welch große Schönheit sie verkörperte. Er streckte die Hand aus, mit der Fläche nach oben. Der gewaltige Kopf der Schlange legte sich auf seine Handfläche. Die Membranen ihrer Augen schlössen sich und verliehen ihnen ein milchiggrünes Aussehen. Eine unsichtbare Pranke schien Jonathans Arm zu ergreifen, damit er ihren Kopf näher und näher an sein verschwitztes Gesicht heranzog. Aus dieser Nähe war der Anblick schrecklich. Das Gesicht der Schlange zeigte solch extreme Intelligenz, dass sie ihm schon übermenschlich erschien. Und noch viel mehr. Der Satan würde ein solches Gesicht erschaffen. Mit einem Schnappen ihres Körpers warf die Schlange ihren Kopf zwischen Jonathans Lippen und zwang sich in seinen Mund hinein. Er spürte ihre harte, kalte Schuppigkeit und musste würgen, als ihre Zunge seinen Gaumen kitzelte. Sein hilfloses Würgen versetzte sie in die Lage, sich noch weiter nach unten zu drücken und seinen Schlund zu füllen. Nun dehnte ihr dicker Körper seine Lippen, drückte die Zunge herab und brachte seine Kiefer zum Klicken.
Furcht und Abscheu durchzuckten ihn. Jonathan warf sich nach hinten und packte die schweren, wogenden Windungen. Während die Schlange in ihn vordrang, verkrallten sich seine Hände panisch in ihr glattes Fleisch. Er bekam keine Luft, er konnte kaum einen Laut von sich geben. Jonathan spürte, wie der Kopf gegen einen Schließmuskel drückte, als er sich tief in ihn hineinbohrte, und durch die Speiseröhre in seinen Magen glitt. Je tiefer sie kam, desto schneller wurde sie. Die gewaltigen Massen ihrer Windungen rutschten an seinen zupackenden, schlagenden Händen vorbei. Dann war sie weg, nur ihr Schwanz kitzelte noch seine Kehle. Jonathan kam sich vor wie eine dicke Paste, entsetzlich voll. Sein Magen war aufgebläht, sein Gürtel zerrissen, seine Hosen aufgeplatzt. Man konnte die Windungen unter der Haut seines Bauches wogen und schwellen sehen. Jonathan sank schwer zu Boden. Ihm war entsetzlich übel. Als Teenager hatte er LSD ausprobiert. Verglichen mit dem hier war die Lysergillusion ein bloßer Tagtraum. Urplötzlich ließ ein Krampf ihn nach vorn fallen. Er musste aufstoßen und bespuckte die ihn umgebenden Bodenplatten mit blutigen Flecken. Jonathan lag lange Zeit nur da und ächzte. Er wollte sich der Übelkeit hingeben, aber dazu war er nicht fähig. Als das Gefühl endlich verschwand und er sich aufrichten konnte, war sein Bauch nicht mehr gebläht. Er hatte die Dämonenschlange nicht nur verschluckt, sondern irgendwie auch absorbiert. Jetzt war sie ein Teil seines Körpers und seiner Seele. Da war doch noch etwas gewesen; eine Erinnerung. »Ich muss mich erinnern!« Aber an was? Es war weg. Er blieb mit dem grauenhaften Gefühl zurück, irgendein lebenswichtiges Stück Information durch die Risse seines Geistes verloren zu haben. Auch das: Eine nicht erfasste Nebenwirkung des 6-6-6. Er würde den Idioten am CalTech einen Brief schreiben, der sich gewaschen hatte. Vielleicht sollte er diese Wichser sogar verklagen. Jonathan zog die Hosen hoch, knallte die Kühlschranktür zu, schloss sie ab, schob die Einzelteile des kaputten Computers mit den Füssen unter einen Tisch und wankte aus dem Labor. Als er durch den Korridor ging und ins Sonnenlicht eintauchte, fühlte er sich allmählich etwas besser, auch wenn der Duft eines Hot-Dog-Standes an der Ecke dazu führte, dass ihm erneut übel
wurde. Natürlich hatte er eine Halluzination gehabt. Daran gab es nichts zu deuteln. Die Schlange war offensichtlich ein Symbol des Unterbewusstseins; sie entsprach dem, was man auf einem schlechten Trip zu sehen bekam. Das 6-6-6 war nicht ordentlich getestet worden, das stand fest. Er konnte alles unberücksichtigt lassen, was von dem Augenblick an passiert war, als er die Droge genommen hatte. Er wollte einen trinken gehen und einen Nachmittag fröhlich die Sonne genießen, um das wahnsinnige Grauen, das er gerade erlebt hatte, irgendwie zu vergessen. Schade, dass der Himmel sich gerade bewölkte. Das beste Gegenmittel wäre die Freude eines sonnigen Tages. Eines sehr sonnigen Tages.
7. Kapitel Jonathan lag zu Hause in seinem Bett; sein Geist war ein Durcheinander konfuser und abstoßender Bilder. Die Erfahrung mit dem 6-6-6 hatte ihm gereicht. Er war auf einem Kotztrip-Express gereist, der ihn der Lösung der ihn quälenden Frage nicht nähergebracht hatte. Er schüttelte sich und schloss die Augen. Trotz seiner Bemühungen warnte der Alte ihn immer noch, und auch die Schlange schickte noch Anflüge der Übelkeit durch die Tiefen seines Magens. Dazu kam ein großes Gedanken-Wirrwarr... Scheiterhaufen, Feuer, teuflische Pläne... Aber er hatte den Faden verloren. Wenigstens hatte er die Tatsache akzeptiert, dass er wachbleiben musste; sein gegenwärtiger Zustand ließ ihm keine Chance, im Schlaf Erleichterung zu finden. Gerade als er den Beschluss gefasst hatte aufzustehen, trat seine Mutter ein. Jonathan öffnete die Augen nicht. Sie nahm lautlos neben ihm Platz und legte seinen Kopf auf ihren Schoss, wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Damals hatte sie von Zeit zu Zeit seinen Namen gesagt und mit ihrer kühlen Hand fortwährend seine Stirn gestreichelt. Er beobachtete sie durch die Schlitze seiner Augen. Wie traurig sie wirkte, wie zärtlich ihr Blick auf ihn gerichtet war. Sie war ihm noch nie zuvor so rätselhaft erschienen, so schön, so voller Liebe. Ihre Augen waren grün. Wie die des Alten. Wie die Patricias. Und
seine eigenen. Eine Spezies weiter... Es war eine Überraschung für ihn, als ihm klar wurde, dass sie ihn tatsächlich getröstet hatte, aber er war nur kurz eingenickt. Jonathan setzte sich hin; er war überrascht von der Rückkehr in ein Bewusstsein, von dem er nicht wusste, dass er es verlassen hatte. Dort, wo sein Geist Erinnerungen aufgewiesen hatte, waren jetzt Finsternis... und eine wachsame Schlange. »Wie spät ist es?« »Halb zwölf.« Ihre Finger strichen durch sein Haar. »Ich hätte dich schon geweckt, wenn eine Veränderung eingetreten wäre. Sie ist immer noch im Koma.« Das Wort Koma erzeugte einen Seufzer in ihm. »Ist sie...« »Sie müsste irgendwann heute nachmittag zu sich kommen. Sie ist schwer verletzt, Liebling, aber sie kommt wieder in Ordnung.« »Mutter, ich habe mich in sie verliebt. Ich habe mich gestern abend verliebt.« »Sie ist eine wunderbare Person.« »Sie ist ein Engel.« Das Bild ihres stillen, in das eintönige Oliv der Intensivstation-Decken gehüllten Körpers drang in sein Bewusstsein vor. Jonathan wollte nicht weinen, aber in seinem Inneren wusste er, dass er den Tränen nahe war. Und tiefer, dort, wo die Schlange in ihrem Nest hockte, welche Gefühle verspürte er da? Er wagte es nicht, dies herauszufinden, deswegen konzentrierte er sich auf andere Dinge. Es war besser, sich an der Oberfläche festzuhalten. »Du weißt doch, wie man sich fühlt, wenn man jemandem begegnet, der einfach zu einem passt, nicht wahr? Es ist, als hätte man ihn schon immer gekannt. Als ich sie in den Armen hielt, Mutter...« Jonathan konnte nicht weiterreden. Die Vorstellung ihres lebendigen, warmen Körpers war so bewegend, und sein Leid so groß, dass er gezwungen war, in Schweigen zu verfallen. Martin Titus hatte seinen Sohn zwar gelehrt, nicht zu weinen, doch Jonathan wusste, dass seine Mutter Verständnis für das hatte, was in ihm vorging. Sie war erst achtzehn gewesen, als er zur Welt gekommen war; dadurch, dass sie so jung war, war sie für ihn oft auch wie ein Freund. Sie war eine schöne Frau. Trotz ihrer einundvierzig Jahre sah sie noch wie dreißig aus. »Hat Mike es dir schwergemacht?« »Du beurteilst ihn falsch, Mutter. Mike ist gut zu mir.«
»Ich nehme an, ich müsste ihn dafür lieben. Aber ich kann es nicht. Der arme Mann.« Sie sagte ständig solche Dinge, und sie rechtfertigte ihre Ehe mit Gründen, die einem höheren Ziel dienten. »Du hättest ihn doch nicht zu heiraten brauchen.« »Ach, Jonathan, lass uns nicht schon wieder damit anfangen. Ich bemühe mich, das Beste daraus zu machen. Lassen wir es doch dabei.« »Na schön, Mutter. Aber es wäre mir lieber, wenn du glücklicher wärst. Ich bin nicht gerade stolz darauf, der Grund deines Märtyrertums zu sein, besonders deswegen nicht, weil du mir das Eigentliche verschweigst. Ich kann Mike gut leiden; er ist ein guter Mensch. Aber hättest du ihn nicht in mein Leben gebracht, wüsste ich nicht mal von seiner Existenz.« Jonathan stand auf und stellte den Sender WNEW-FM ein. Clash ließ gerade die Fetzen fliegen. Er drehte die Lautstärke herunter, bis die Musik zu einem trüben, murmelnden Hintergrundgeräusch wurde. »Ich würde es dir wirklich gern nennen, Liebling. Vielleicht kann ich es eines Tages. Aber jetzt sollten wir das Thema ruhen lassen.« »Du verheimlichst mir zuviel, Mutter. Ich habe allmählich die Vorstellung, dass das, was du wirklich vor mir verbirgst, meine Vergangenheit ist.« »Was gibt es denn da zu verbergen?« »Alles, was mich betrifft. Was hast du gemacht? Hast du mich zu irgendeinem Hypnose-Quacksalber geschickt? Ich möchte dir eine offene Frage stellen: Sind wir hier in Queens begraben, weil ich früher etwas angestellt habe? Habe ich vielleicht ein Mädchen vergewaltigt oder gar umgebracht?« Jonathans Stimme war lauter geworden. »Wer waren unsere Freunde in Manhattan, bevor Dad starb? Ich weiß überhaupt nichts. Ich kann mich nicht daran erinnern.« »Jonathan, hab Geduld mit mir. Warte nur noch eine kleine Weile...« Noch ehe es ihm richtig bewusst wurde, zuckte seine Hand vor und traf sie an der Wange. »Hör auf, mich mit diesem Scheißdreck zu füttern! Ich will es jetzt wissen!« Seine Mutter wandte sich um, ihre Wange rötete sich. Lange Zeit herrschte Schweigen. Sie drehte sich nicht wieder um. »Vielleicht können wir zusammen zum Krankenhaus gehen«, sagte sie etwas zu lebhaft. »Ich glaube, es täte uns beiden ganz gut, wenn sie zu
sich kommt und wir da sind.« »Tut mir leid, Mutter. Bitte, verzeih mir.« »Schon gut, mein Sohn. Du bist aufgeregt. Überarbeitet. Es gibt nichts zu vergeben, in Ordnung? Nur zu vergessen.« Sie lächelte, hob die Hand und legte sie an ihre Schläfe. »Zieh dich an, dann gehen wir.« Jonathan ging ins Badezimmer und rasierte seine Stoppeln. Dann nahm er sein Rasierwasser, tupfte sich etwas ins Gesicht und kämmte sich das Haar. Er ging in sein Zimmer zurück und zog einen Slip an. Seine Mutter stoppte ihn mit einer Geste, und schaute dann auf seinen nackten Körper. »Es gibt doch nichts, was du mir verschweigst, oder? Es ist doch alles gut bei Mike verlaufen, nicht wahr?« »Wonach suchst du? Etwa nach Peitschenstriemen? Er hat mich entlastet, wenigstens oberflächlich. Mutter, ich glaube, du hast nicht die geringste Ahnung von Mike und mir. Wir mögen uns. Irgendwie verstehen wir uns sehr gut. Er ist mein Freund, und er ist ein Vater für mich.« Er stieg in die Kleider, die seine Mutter ihm aus dem Schrank holte. Sie nahm eine Bürste und ging ihm noch einmal übers Haar. »Du siehst so gut aus, Jonathan.« Sie drückte ihn an sich, legte die Arme um seinen Rücken und presste die Wange an seine Brust. »Ich kann's gar nicht glauben, dass ich einen so großen Burschen habe. Die Familie deines Vaters ist klein.« Sie verfiel für einen Augenblick in Schweigen. »Wumm-bumm, wumm-bumm; ich höre deinen Herzschlag.« Jonathan küsste sie auf die Stirn, dann gingen sie zusammen zu ihrem Wagen hinunter. Sie hatte Mike den blauen Audi aus der Nase gezogen, indem sie einfach zu Bavaria Motors hinübergegangen war und ihn mit einem Scheck gekauft hatte. Mike hatte seine Konten wie verrückt manipuliert, aber als der Scheck in der Bank eingetroffen war, war auch das Geld dagewesen. »In dem Schlitten sieht sie aus, als wenn sie 'ne Million hätte«, sagte Mike oft. So war ihre ganze Beziehung zu Mike: Sie kam ihm selten mit Forderungen statt dessen stellte sie ihn meist vor vollendete Tatsachen. »Läuft der Wagen gut, Mutter?« »Ich liebe ihn.« Um zur Poliklinik zu kommen, mussten sie in der Metropolitan Avenue an dem Haus vorbei, in dem Patricia wohnte. Statt hinauszusehen, schaute Jonathan auf den Tachometer.
Als er die Poliklinik von Queens erneut im Licht des sommerlichen Nachmittags sah, wusste er, dass er sie für den Rest seines Lebens hassen würde. Doch dann, als sie um die Kurve bogen, zählte er aufwärts fünf und seitlich sechs Fensterreihen ab. Dort war Patricias Zimmer. Und irgendwie wirkte gerade dieses Fenster besonders hübsch. »Lass uns noch ein paar Blumen kaufen«, sagte er. »In der Empfangshalle ist ein Geschäft.« Er kaufte für sechzehn Dollar Gardenien auf der Grundlage von Marys Theorie, dass Patricia sie dann zumindest riechen konnte, wenn die Schläuche sie daran hinderten, den Kopf so weit zu drehen, um sie anzusehen. »Bist du nervös, Jonathan?« »Ich glaube schon.« »Ich bin's auch. Aber ich weiß, dass es nichts ist, verglichen mit dem, was du durchmachen musst. Es tut mir sehr, sehr leid um euch beide. Ich möchte, dass du das weißt.« »Es ist zwar verrückt, dass man an jemandem hängt, den man gerade erst kennengelernt hat, aber...« »Sie ist etwas Besonderes. Das ist auch der Grund, weshalb ich euch überhaupt zusammengebracht habe.« »Ich nehme an, es ist unausweichlich, dass ich mich in jemanden verliebe, den du für mich ausgesucht hast.« Sie nahmen den Aufzug nach oben. Er war noch voller als der, den Jonathan heute morgen benutzt hatte. Im fünften Stock wimmelte es von Leben. Eine Lautsprecherstimme meldete laufend, als sei sie Stimme des Untergangs: »Luftwegteam, Luftwegteam, Luftwegteam, Eingang 22-8. Luftwegteam, Luftwegteam, Luftwegteam...« Allem Anschein nach war jemand am Eingang 226, wo immer der sich auch befand, am Ersticken. Diesmal war es möglich, Patricias Zimmer zu betreten. Sie gingen nebeneinander durch einen weißen Korridor, an einem Fenster vorbei, an dem ein Mann lag, aus dessen Bauch Schläuche ragten, an einem anderen vorbei, wo ein Stöhnen hinter einem vorgezogenen Vorhang ertönte, bis sie Patricia schließlich erreichten. Sie lag immer noch so still unter ihrer Kunststoffhülle wie Schneewittchen. Andere Blumen, langstielige rote Rosen, standen in einem Wasserkrug auf dem Schränkchen, das zu ihrem Bett gehörte. Die Karte war von Mike. »Kennt er sie auch, Mutter?« »Nein. Er wird sie deinetwegen geschickt haben.« Jonathan hörte sie kaum. Patricia lag still und rein da, wie eine Madonna. Drei Schläuche kamen aus ihrer Nase, kreuzten sich über ihren elfenbeinfarbenen Wangen und wanden sich bis zu drei
summenden Instrumenten. Die Nadeln intravenöser Injektionen durchstachen ihre Handgelenke. Ihre Hände ruhten an den Seiten. Jonathan kniete sich in einem Zustand des Leides, der ebenso ein Zustand der Liebe war, neben ihr Bett. Er nahm ihre rechte Hand in die seine und küsste sie zärtlich. Die Instrumente summten. Die Klimaanlage zischte. Auf dem Gang ertönte Glockengeläut. Eine Krankenschwester rollte klappernd ein Utensilienwägelchen vorbei. Irgendwo in der Ferne stieß jemand einen hellen Schrei aus und verstummte. Jonathan schob eine Hand unter das Sauerstoffzelt und berührte Patricias Haar. Es war schweißbedeckt, und ihr Kopf war sehr heiß. »Meine Geliebte«, flüsterte er. »Bitte, lieber Gott, hilf ihr.« Ihm fiel auf, dass der Duft von Mikes Rosen sehr gut zu dem der Gardenien passte. Aus Patricias Kehle kam ein Laut. Mary beugte sich dicht zu Jonathan herunter. »Deine Hand. Sie spürt deine Berührung. Ich glaube, sie kommt zu sich.« »Patricia, ich bin's, Jonathan.« Sie gab einen gutturalen, unmenschlichen Ton von sich, der mit ihrer melodischen Stimme nichts gemeinsam hatte. Dann öffnete sie die Augen. Sie schaute lange Zeit geradeaus. Sie bewegte sich nicht im geringsten. »Patricia?« Mary legte einen Arm um Jonathans Schulter. »Wir sind es, Liebling, Mary und Jonathan Banion.« »John... Jonathan?« »Hallo, Liebling. Ich liebe dich.« Patricia bewegte ganz leicht den Kopf. »Was mache ich hier?« »Es ist etwas passiert«, sagte Mary. »Es war ein Unfall, aber du bist in Ordnung. Bald geht es dir wieder besser.« »Oh, ich h-h-habe Schmerzen! Es tut so weh!« Patricias Stimme war schrill. Nun runzelte sie die Stirn. Dann zuckte ihr Blick wild hin und her. »Wieso spüre ich meine Beine nicht? Habe ich...« »Nein, nein, Liebling; nichts in dieser Art. Du hast dich nur verletzt, aber du bist bald wieder gesund. Es war nicht so schlimm.« Sie schloss die Augen. Tränen drangen durch ihre Lider. »Bin ich vergewaltigt worden?« »Ja, Schatz. Das war es.« Sie nickte. Und schwieg wieder. »Hallo, Leute, wie geht's unserer Patientin?« Mary wirbelte herum. »Mike!« Da stand er in seinem zerknitterten braunen Anzug. Neben ihm stand ein eleganter Mann von etwa
fünfunddreißig. »Das ist Lieutenant Maxwell von der Abteilung für Sexualverbrechen. Er wird Patricia verhören.« Mary funkelte die beiden Männer an. »Sollen wir gehen, Dad?« »Es wäre vielleicht besser. Bei solchen Fällen konzentriert man sich besser, wenn man allein ist.« Jonathan zog seine Hand aus der Patricias zurück. »Jonathan!« Ihre Stimme war scharf, beinahe befehlend. Als sie die Finger hob, verstand er und nahm ihre Hand wieder in die seine. »Ich bin hier, Schatz.« »Bleib!« »Ich gehe nur, wenn du es willst.« Mike beugte sich vor, damit sie ihn sehen konnte. »Wir müssen Ihnen ein paar dienstliche Fragen stellen, Kleine. Es wäre besser, wenn Sie Jonathan für ein paar Minuten gehen ließen...« »Nein!« Mary sagte: »Was macht es schon aus, Mike? Jonathan hat mir die Sache mit dem Polygraphen erzählt.« »Polizeiverhöre sind vertraulich, Ma'am«, sagte der Lieutenant. Patricias Hand hielt Jonathan fest. »Bleib lieber hier, Johnny«, sagte Mike. »Sie möchte dich hier haben, das ist das Wichtigste.« »Danke, Dad.« Der Lieutenant begab sich auf die andere Seite des Bettes, schaltete einen großen, altmodischen Kassettenrecorder ein und befestigte das Mikrofon an seinem Revers. »Miss Murray«, sagte er mit überraschend sanfter Stimme, »es tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich Sie jetzt damit belästigen muss, aber wir sind der Meinung, dass wir es so früh wie möglich tun sollten, damit Sie schnellstens wieder gesund werden, ohne dass wir Sie noch einmal stören müssen.« »Wer sind Sie?« »Mein Name ist Tom Maxwell. Ich bin Polizeibeamter.« »Es schmerzt, Officer Maxwell.« Jonathan bekam mit, dass seine Mutter noch jemanden in das Zimmer geholt hatte: einen Mann, der über seinem Anzug einen Chirurgenkittel trug. Er hatte eine Brille mit Halbgläsern auf der Nase und war offenbar Patricias Arzt. »Die Patientin hat zu viele Besucher«, sagte er. »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie gingen, Inspektor Banion.« »Mein Kollege möchte ihr ein paar Fragen stellen.«
»Er kann auch bleiben.« »Miss Murray, erinnern Sie sich überhaupt an den Mann, der Sie vergewaltigt hat?« Maxwell stellte diese Frage in einem sanften, freundlichen Ton. Ein feinfühliger Mensch. Patricia sah geradeaus, ihre Augen waren wie Glas, als sie rief nach innen schaute. »Ich saß mit Jonathan auf dem Bett«, sagte sie. Sie sah Jonathan in die Augen. »Ich hielt dich in den Armen...« Hinter ihm beugte Mike sich vor und legte eine Hand auf die Schulter seines Stiefsohnes. Der Arzt ergriff wieder das Wort; er wandte sich an Mike. »Bitte, Sie müssen jetzt wirklich gehen.« »Und was ist dann passiert? Ist Jonathan geblieben?« »Er...« Jonathans Geist ließ eine brutale, verwirrende Erinnerung aufblitzen. Es war wie eine Tür, die sich öffnete und rasend schnell wieder schloss, wie bei einer Explosion. Sie hatten auf dem Bett gesessen und auf erotische Weise miteinander gespielt. Ihm fiel ein, wie erregt er gewesen war... Dann der Lichtblitz, ein böser Traum. Dann hatte Mike ihn wachgerüttelt. »Er ist gegangen. Ich habe ihn nach Hause geschickt.« Sie lächelte ihn an. »Du solltest mich heiraten. Möchtest du's? Ich bin ein anständiges Mädchen.« In ihren Augen zeigten sich Tränen. Vielleicht hatte sie Angst, dass sie nach der Vergewaltigung niemand mehr haben wollte. »Ich würde dich auf der Stelle heiraten.« Sie zeigte ein schmales Lächeln. Jonathans Bemerkung folgte eine Stille, die der Arzt unterbrach. »Inspektor Banion, ich habe gesagt, Sie sollen das Zimmer verlassen. Hier halten sich zu viele Leute auf.« »Hören Sie, Doktor, es geht hier um einen Fall von eminenter Wichtigkeit.« »Sie stellen doch keine Fragen.« »Dies ist ein Sonderfall. Er beschäftigt mich sehr.« Jonathan spürte, wie sich Mary neben ihm versteifte. Mike fuhr fort: »Es ist nicht auszuschließen, dass an diesem Fall mehr dran ist als nur eine gewöhnliche Vergewaltigung. Viel mehr Bei der Kripo von Queens steht der Fall momentan an erster Stelle.« Das brachte den Arzt zum Schweigen. Selbst er sah ein, dass es unklug war, einen Inspektor bei einem Fall zu behindern, den er für besonders wichtig hielt. Dann ergriff der Lieutenant wieder das Wort. »Was ist passiert, nachdem er weg war?«
»Ich bin zu Bett gegangen.« Patricia schluchzte und schloss die Augen. »Und?« »Oh! So viele Stimmen! Dann... oh...« »Was ist denn?« »Dunkel! Mein Gott, ist es dunkel!« Der Lieutenant blickte über das Sauerstoffzelt zu Dr. Gottlieb hinüber, der den Kopf schüttelte. »Soll ich weitermachen?« Der Arzt sah Mike vorsichtig an, dann nickte er. »Miss Murray, erinnern Sie sich an irgend etwas, was den Mann betrifft, der sie angegriffen hat?« Jonathan spürte, wie ihr Griff schwächer wurde, und er sah, wie sich ihr Mund hinter dem verwirrenden Durcheinander der Schläuche öffnete. »Sie ist eingeschlafen«, sagte der Arzt. »Es ist alles in Ordnung.« Mike schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte er. »Es handelt sich eindeutig um eine traumatische Amnesie«, fauchte der Arzt. »Sie kann im Moment noch nicht mit der Erinnerung fertig werden.« »So sehe ich es nicht. Sie...« »Es ist doch völlig unmaßgeblich, wie Sie es sehen! Wenn sie kräftiger ist, können Sie zurückkommen. Vielleicht haben Sie dann mehr Glück mit ihrer Piesackerei.« Mike lächelte. »Maxwell stellt die Fragen, aber mich fauchen Sie an. Woran liegt das? Habe ich Mundgeruch?« Er ging mit dem Lieutenant aus dem Zimmer. Hinter dem Fenster konnte Jonathan noch einen Besucher ausmachen. Pater Goodwin. Er sah noch blasser und leichenhafter aus als üblich. »Ich muss die Wunde untersuchen und den Verband wechseln«, gab der Arzt bekannt. »Sie können später wiederkommen, Jonathan.« Jonathan machte Anstalten aufzustehen, doch in diesem Moment bewegte sich Patricias Hand und wurde wieder zu Stahl. »He, Liebling, ich dachte, du wärst eingeschlafen.« Sie antwortete nicht. Sie krallte sich sogar im Schlaf an ihn. Jonathan war zutiefst gerührt. »Jennifer«, sagte der Arzt zu einer Schwester, »besorgen Sie ihm bitte einen Atemschutz und einen Kittel, ja?« Als die Schwester gegangen war, sprach er Jonathan erstmals direkt
an. »Wenn wir fertig sind, kommen Sie bitte in den Konferenzraum. Ich möchte Sie gern instruieren, da Sie ihr offenbar am nächsten stehen, zumal wir von ihrer nächsten Verwandtschaft niemanden zu Gesicht bekommen werden.« Mary und die Schwester brachten es fertig, Jonathan mehr oder weniger zu bekleiden, ohne dass sein so lebenswichtiger Kontakt mit Patricia abbrach. Der Atemschutz roch schwach nach Jod. »Ich bin Paul Gottlieb«, sagte der Arzt, als er zur Aktion schritt. »Ich bin der Gynäkologe Ihrer Mutter. Sie hat mich zu diesem Fall gerufen. Ich habe eine chirurgische Spezialausbildung«, fügte er hinzu, als müsse er sich rechtfertigen. Jonathan konnte zwar nicht sehen, was er unter den Laken machte, aber kurz darauf brachte er einen blutgetränkten Verband zum Vorschein. »Ah, es sieht gut aus. Es verläuft alles richtig. Sie hat eine ausgezeichnete Vorbehandlung gehabt.« Dann murmelte er der Schwester zu: »Ich möchte einen Nadeltest machen, Jenny. Die Beine zeigen noch immer eine eindeutige Zyanose.« Die Schwester verschwand im Korridor und kam kurz darauf mit einem Instrumententablett zurück. Jonathan sah zwar nicht genau, welches Instrument der Arzt benutzte, aber an der Länge der Zeit, die er brauchte, war ersichtlich, dass der Test nicht sofort erfolgreich verlief. »Okay«, sagte Dr. Gottlieb endlich. »Sehr gut. Wenn Sie jetzt mit mir rauskommen wollen, Jonathan, werde ich Ihnen ein paar Dinge erzählen. Sie werden nämlich die Hauptrolle bei Patricias Genesung spielen.« Gutes Zureden ließ Patricia Jonathans Hand schließlich freigeben. Er versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen. Als sie den Raum verließen, sah er, dass Pater Goodwin hineinging. Er hielt einen Hostienbehälter in der Hand. Patricia würde ohne Zweifel Dankbarkeit empfinden, wenn sie voll erwacht war und die Kommunion bekam. Der Konferenzraum wies, wie alle Räume des Krankenhauses, viel Kunststoff auf blaue Wände und eine lärmschutzgeflieste Decke, die jemand als Ziel für fliegende Federhalter missbraucht hatte, denn zwei oder drei davon ragten aus dem weichen Material. Jonathan sah auf einem von Zigaretten angeschmorten Konferenztisch halbleere Kaffeebecher. Hier und da lagen bekritzelte Schreibunterlagen. Auf einer Unterlage bemerkte er die Skizze eines weiblichen Fußes in einem hochhackigen Schuh mit dünnem Absatz.
»Das ist also Jonathan.« Die Augen des Arztes leuchteten. »Dr. Gottlieb hat dich zur Welt gebracht«, sagte Mary leise. Jonathan war gerührt. Er hatte den Mann noch nie im Leben gesehen; er hatte auch noch nie gehört, dass man über ihn gesprochen hatte. Seine Identität war freilich kein Geheimnis; es war halt so, dass seine Mutter in >weiblichen< Angelegenheiten sehr verschwiegen war. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Doktor. Und ich bin schrecklich froh, dass Sie hier sind.« Jonathan hatte noch nie wahrere Worte ausgesprochen. Er empfand dem Mediziner gegenüber ein starkes Gefühl der Dankbarkeit. »Ich möchte Ihnen als erstes sagen, dass Patricia auf normale Weise Kinder gebären kann. Es wird auch nicht zu einem Verlust ihrer sexuellen Funktionen kommen. Eine vertikale Narbe wird jedoch bleiben. Sie ist etwa zwanzig Zentimeter lang, aber die plastische Chirurgie wird damit fertig, wenn die Patientin es wünscht.« Jonathan fiel ein, dass er Patricias perfekte Haut genau über dem Nabel geküsst hatte. Wie süß es geschmeckt hatte. »Unsere Hauptsorge ist, dass die Vernarbung der Vagina den sexuellen Genuss der Patientin und ihrer Partner schmälern wird. Aber wir arbeiten hart daran, dies einzudämmen.« »Wie schwer ist sie verletzt, Doktor?« Jonathan musste es fragen. Er hatte das Gefühl, dass es sehr, sehr wichtig für ihn war. »Sie hat beträchtliche Vaginalverletzungen. Sie hat schlimme Frakturen im Becken, und eine Hüfte war ausgerenkt. Sie ist im Genitalbereich so schwer verletzt, wie keine andere junge Frau, die ich je gesehen habe. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie schnell wieder gesund zu werden scheint.« »Sie klingen so, als wäre das noch nicht alles.« »Tja, dazu wollte ich noch kommen. Wir wissen es zwar noch nicht genau, aber die bisherigen Hinweise deuten an, dass ihre Beine gelähmt sind.« Jonathan zuckte zusammen. »Sie kann nicht mehr gehen?« »Jedenfalls nicht im Moment. Aber wir haben bisher noch keine Verletzung erkennen können, die dafür verantwortlich ist. Deswegen nehmen wir an, dass es wahrscheinlich kein bleibender Schaden ist.« »Was bedeutet das? Tage? Jahre?« »Wir sind nicht in der Lage, uns dazu zu äußern. Es tut mir leid, dass ich das sagen muss. Es wäre allerdings voreilig, einen völlig
pessimistischen Standpunkt einzunehmen.« Jonathan verließ den öden kleinen Konferenzraum und kehrte zu Patricia zurück. Er fand den Pfarrer kniend neben ihrem Bett. Sein Gesicht lag auf seinen gefalteten Händen; allem Anschein nach betete er. Jonathan nahm es Pater Goodwin nicht übel. Er beneidete ihn sogar um seinen Glauben. Als Jonathan in ihr Blickfeld trat, brachte Patricia eine Art schwaches Lächeln zustande. Ihre Finger bewegten sich leicht. Jonathan verschränkte seine Finger mit den ihren. Und so verharrten sie, schweigend in der Gesellschaft des anderen Nach einer Weile beendete Pater Goodwin das Gebet, das er gesprochen hatte, und ließ sie allein.
18. Juli 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, hiermit setzen wir Sie davon in Kenntnis, dass Bruder Alexander Thomas Parker (geb. am 12. Okt. 1942, 117. Okt. 1942, ord. 22. Juni 1964, Angehöriger des Judas-Ordens, Soldat Christi, Hauptmann der Inquisition) in Erfüllung seiner Pflicht zum Märtyrer geworden ist. Da er gefoltert wurde, müssen wir davon ausgehen, dass auch sein Kader kompromittiert worden ist. Als Ergebnis habe ich den Kader aus der Nachtkirchengemeinde Heiliger Geist zurückgezogen und befinde mich derzeit im Begriff, selbige um einen neuen Gruppenleiter zu reformieren. Aus diesen Gründen wird es zu einer Periode kommen, in der wir geheimdienstlich blind sind. Folgende Personalveränderungen haben stattgefunden: 1. Bruder Alexander Thomas Parker, ums Leben gekommen durch Einwirkung von Feuer, das seinem Körper von feindseligen Personen zugefügt wurde. Märtyrer. 2. Bruder Julius Timothy, überstellt an die Präfektur West, leistet Dienst in Kalifornien. 3. Bruder George Robert Yates, überstellt wie oben.
Schwester Marie-Louise D'Aubusson, eingesetzt als Hauptmann der Inquisition, wurde angewiesen, einen neuen Kader zu bilden, um die Nachtkirchengemeinde Heiliger Geist zu infiltrieren. Mit getrennter Post übersende ich Ihnen die Bitte um $ 2.114/28 zur Deckung der Reisekosten, die aus diesen Veränderungen resultieren. Ein Laie (Terence Quist, geb. 22. Nov. 1933, + 25. Dez. 1933' Bekenner seit 5. April 1945, ledig, K. von C, CCD), der im Begriff war, von Bruder Alexander rekrutiert zu werden, ist aufgegeben worden. Rekrutierung ist nicht weit genug erfolgt, um einen Wechsel zu einem anderen Agenten zu rechtfertigen. Außerdem sehe ich es lieber, wenn der neue Hauptmann der Inquisition seine eigenen Leute einbringt. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.) Dokumentklassifikation: Dringend A; höchstpersönlich; durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
20. Julius 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Prefedus Congregationis Defensioni Fidei
Wir sind schockiert und voll der Trauer über den Verlust, den Sie erfahren haben. Besonders verhängnisvoll ist, dass Bruder Alexander ein solch schreckliches Martyrium erleiden musste. Doch kann ein jeder von uns Trost in dem Frieden finden, der nun über den Bruder gekommen ist. Ich möchte erneut dem Wunsch Seiner Heiligkeit Ausdruck verleihen, dass Contra Poenam Ultimam peinlich genau beachtet wird. Auch wenn die Kirche der Nacht barbarisch ist, wir sind es nicht. Ich reiche Ihren anerkannten Kostenbericht mit der Ermahnung zurück, dass Geistliche unter der Position eines Monsignore nicht hätten Erster Klasse reisen dürfen.
Des weiteren ist ein höchst bedrückender Bericht der Historischen Abteilung beigefügt, der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde. Er erschien in der Liste relevanter Documentum, als wir Rituale Pudibunda Coitus durch die Datenbank der Bibliothek laufen ließen. Mea Auctoritate Paolo Cardinalis Impelliteri Dokumentklassifikation: Dringend A, in Gegenwart des Kuriers zu vernichten Bestimmungsort: Monsignore Brian Conlon, Kanzler der Ermittlung, Nordamerika, 1217 Füller Brush Building, 221 East 57th Street, New York, N.Y., 10022
Der Einsatz von Bakterienüberträgern durch die Kirche der Nacht in der Geschichte von Anthony S. Gardner, O.S. 4. März 1871 (Synopse) i. Aktuelle Forschungen im Salisbury Documentum, den Annales Emiliani und der Marque de la Tempiars erwecken den Eindruck, dass die europäische Pest, bekannt unter dem Namen Schwarzer Tod (13341360), sich neben der bekannten Quelle in Konstantinopel von drei Ausgangspunkten auf dem Kontinent und einem in Großbritannien ausbreitete (Vat. Dok. CMXX-XIV). 2. Diese Punkte waren: Das Festung Colchester in Britannien Der Palazzo Emiliani in Venedig Das Ordenshaus des Geheimen Tempels in Paris Rennes-leChateau in den Pyrenäen 3. Drei dieser Örtlichkeiten lagen in den berühmten 14. Jahrhundert-Hochburgen der sogenannten >Cathar-Irrlehre, die zu den bekanntesten Tarnorganisationen der Kirche der Nacht zählt. Die vierte Örtlichkeit, das Haus der Templer, war zu dieser Zeit das bestätigte Weltzentrum der Kirche der Nacht und erfüllte die gleiche Funktion wie ihr heutiges Hauptquartier in Lourdes. 4. Der Schwarze Tod verbreitete sich innerhalb weniger Wochen nach dem berüchtigten Rituale Pudibunda Coitus, das zwischen
Margaret de Pantera und Carolus Titus in der Kathedrale von Salisbury abgehalten wurde. Während des Rituals kam Carolus ums Leben, doch erst nach der Plünderung der unfertigen Kathedrale und dem Tod einer beträchtlichen Anzahl von Hexenmeistern, die der Angelegenheit beiwohnten. 5. Die nachfolgende Periode ist in den Annalen der Kirche der Nacht als die >Dolorosa< bekannt, wahrscheinlich deswegen, weil der erste >Anti-Mensch<, der bei diesem Ritus erfolgreich gezeugt wurde, mit einem Schaden zur Welt kam und vernichtet werden musste. Es bedurfte vieler Jahre der Zucht zwischen den Familien Pantera und Titus, bevor man einen wirklichen Erfolg herbeiführen konnte. 6. Die Kirche der Nacht, die den Schwarzen Tod losließ, um Raum für ihre >Anti-Menschheit< zu gewinnen, war sodann genötigt, ihr Bestes zu geben, um die Vernichtung der gesamten menschlichen Rasse aufzuschieben, da sonst die beiden fraglichen Familien selbst betroffen gewesen wären. Angesichts der primitiven Medizin jener Zeit, benötigten sie zwanzig Jahre, um die Seuche, die sie hervorgerufen hatten, wieder einzudämmen. 7. Sieben von zehn Menschen auf diesem Planeten starben am Schwarzen Tod. Er war die vernichtendste Angelegenheit, die je die Menschheit getroffen hat. Ganze Städte und Nationen verwilderten und verschwanden. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Seuche um eine künstlich erzeugte Variante der Beulenpest handelt. Ihre exakte Natur ist bis heute unbekannt geblieben. 9. Wegen des Ansteckungstempos (von den ersten Symptomen bis zum Tod vergehen etwa drei Stunden) und der Schnelligkeit der Ausbreitung würde sich, bräche sie erneut aus, sogar die heutige Medizin an ihr zu messen haben.
8. Kapitel Als Terry Quist mitten in der Nacht aufwachte und in seiner Umgebung Parfümduft wahrnahm, wusste er, dass er in Schwierigkeiten war. Wie immer lag er allein in seinem Bett. Frauen waren etwas für ihn, das der Vergangenheit angehörte ... Und er hatte keine besonders tolle Vergangenheit gehabt. Er war hässlich und arm, und er hatte eine Menge schlechter Angewohnheiten. Er hatte kein Glück bei den Damen gehabt. Er blieb liegen, starrte in die Dunkelheit hinein, holte Luft und
lauschte. Aus dem Wohnzimmer seiner winzigen Wohnung kam ein fortwährendes Rascheln. Ob Frau oder nicht; die Vorstellung, dass jemand die Papiere auf seinem Schreibtisch durchwühlte, ließ ihn vor Angst erbeben. Raschel. Raschel. Raschel. Sie blätterte eine Seite nach der anderen um. Seine sämtlichen Story-Ideen lagen, so wie er sie hingeschrieben hatte, auf dem Schreibtisch. Terry Quist arbeitete nämlich unter Pseudonym für eine Reihe vulgärer Wochenblätter schwarz; für den Nationalen Morgenklatsch, den MitternachtsExpress und ein paar andere. Natürlich lagen seine Notizen auch dabei. Im Büro konnte er sie ja nicht lassen. Wenn die Times je von seinen Sünden erfuhr, würde man ihn achtkantig feuern; das nahm er jedenfalls an. Aber seine Notizen waren für niemanden interessant sie waren nur ein Haufen Wichsereinfälle. >Die sexuelle Kraft von Sellerie< gehörte dazu. >Krebsheilung per Telepathie< war eine andere. O Gott, die Aufzeichnungen über die Kirche der Nacht lagen auch da zwei sauber getippte Seiten, die er erst heute morgen geschrieben hatte! Er bemerkte, dass das Rascheln aufgehört hatte. Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, dass sie in sein Zimmer gekommen war und neben seinem Bett stand. Sie stand da und sah zu ihm hinunter. Als sie sich vorbeugte, sah er ihre grellen Augen. Sie war so schön, wie man eine Schlange schön nennen würde. Man kann sie zwar nicht ansehen, aber wegschauen kann man schon gar nicht. Und sie war ihm vertraut. Obwohl seine Augen zu Schlitzen geschlossen waren, erkannte Terry das Gesicht, das im Dunkeln über ihm schwebte. Es war Mary, Mike Banions Frau. Scheinbar zufrieden, weil er schlief, zog sie sich aus dem Zimmer zurück und zog die Tür zu, bis sie fast ins Schloss fiel. Ein blendender Blitz füllte den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Dann das Rascheln von Papier. Dann wieder ein Blitz. Kurz darauf hörte er, wie sich die Wohnungstür klickend schloss. Terry blieb bewegungslos liegen und wartete darauf, dass sein Herz zu rasen aufhörte. Wirre Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Mary Banion? Zwei Blitze. Aufnahmen der beiden Seiten. Aber Mary Banion?
Herr im Himmel! Wenn sie unter einer Decke steckten! Als er mit Mike gesprochen hatte, hatte er vielleicht mit der Kirche der Nacht persönlich geredet. Das Bild von Alex' verkohltem Körper fiel ihm ein. Der Tod war zwar schon schlimm genug, aber wenn einem ein solcher Tod drohte, konnte man nur noch auf Gottes Hilfe hoffen. Er war in allergrößten Schwierigkeiten. Jetzt musste er für sich selbst sorgen, sonst war er ein toter Mann. Ob er sich der Gnade der Kirche der Nacht ausliefern sollte? Vielleicht bürgten die Banions für ihn. Bestimmt würden sie es tun. Gott, sie mussten es einfach tun, sonst endete er ebenso wie Alex. Was, zum Teufel, war die Kirche der Nacht, wenn sie sich der Treue einer feinen Dame wie Mary Banion versichern konnte? Oder der Treue Mikes, falls er auch dazu gehörte. Er musste es, verdammt noch mal, herauskriegen. Terry duschte und rasierte sich und zog seinen besten Zweireiher an. Jetzt sah er eher aus wie ein unterbezahlter Vertreter statt wie ein unterbezahltes Nachrichtenschwein. Etwa wie ein Werkzeugvertreter oder Schuhverkäufer, oder wie ein Typ, der zwei oder drei Kioske betrieb. Mit anderen Worten, kaum akzeptabel. Aber es war sein bester Anzug, und das musste reichen. Die Straßen waren leer und still, die hohen Bäume ließen den Schein der Straßenlaternen durch. Blumendüfte kamen aus den Gärten der pompösen alten Häuser von Richmond Hill. Die Leute höhnten zwar über Queens, aber nachts war Queens eine zauberhafte Gegend, zumindest in den Seitenstraßen, wo sich die Geheimnisse verbargen. Er wollte auf dem schnellsten Weg zur Heiligen-Geist-Kirche gehen. Er wollte ein angesehenes Mitglied der Gemeinde werden. Teufel auch, er wollte nicht den Weg gehen, den Alex Parker gegangen war; dafür war er zu gerissen. Die Kirche lag am anderen Ende der Morris Street; ein großer schwarzer Klotz, der über die Gipfel der Ahorn und Kastanienbäume aufragte. Die Morris war kurz, hier gab es nur eine Laterne, die ungleichmäßig die Front der vom Alter düsteren Kirche erhellte. Terrys Schritte klangen laut auf dem Bürgersteig. Er erreichte die Kirche. Absolute Stille. Er ging die Stufen hinauf und legte eine Hand auf den großen Messinggriff. Die Tür ging lautlos auf. Jemand war darauf bedacht, dass sie immer geölt war. Drinnen herrschte totale Finsternis. Mehrere
Augenblicke lang glaubte Terry, dass er zu früh gekommen war, oder zu spät, oder dass sie sich heute abend gar nicht hier versammelten. Dann spürte er, dass die Dunkelheit voller Menschen war. Tief aus dem Inneren der Kirche kam ein dumpfer, eigenartiger musikalischer Ton. Als Reaktion zündeten einige Leute auf den Kirchenbänken kleine Kerzen an und hüllten sie in papierene Kegel. Jetzt konnte Terry Gesichter sehen. Es waren alltägliche Gesichter, alt und jung, gewöhnlich und schön. Er sah ganze Familien: Mütter, Väter und Kinder, einzelne Männer und Frauen; Menschen aller Art. Terry hielt es für besser, sich auf der Stelle vorzustellen. Sie durften nicht auf den Gedanken kommen, dass er sie etwa bespitzelte. »Entschuldigen Sie«, sagte er mit einem Flüstern, das es irgendwie schaffte, ein Echo durch die ganze Kirche zu werfen. »Ich möchte gern mitmachen... wenn niemand etwas dagegen hat.« Die Menge reagierte einstimmig, und zwar mit einem Laut, den Terry anfangs nicht ganz verstand. Dann begriff er, dass es sich um einen Laut amüsierter Überraschung handelte. Er fühlte sich schrecklich allein. Doch als er sich zum Gehen wandte, stellte et fest, dass direkt hinter ihm jemand stand. Ein Mann in den mittleren Jahren. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug und eine Vereinskrawatte. Er hatte das feinfühlige Gesicht eines anständigen und gebildeten Menschen. Bestimmt ein Saaldiener. Warum auch nicht? Ob am Tag oder in der Nacht die Kirche brauchte Saaldiener. Der Mann zog ein langes, funkelndes Stilett unter seinem Jackett hervor und schob es wieder zurück. »Seien Sie bitte still«, flüsterte er. Von oben herab, wie Saaldiener es so an sich hatten. Terry fasste den Entschluss, so still zu sein, wie es nur ging. Von der Chor-Empore kam ein tiefes, widerhallendes Summen, als stiegen dort eine Million Heuschrecken auf. Der Ruf, welchem Höllenhund er auch gelten mochte, führte dazu, dass die Gemeinde wie ein Mann auf die Knie fiel. Der Gottesdienst hatte angefangen. Alte Altarglocken, von der Kirche des Tages längst abgeschafft, bimmelten leise. Die Gemeinde schaute auf. Vor ihr stand ein Mann mit flammendgrünen Augen. Das prächtigste Ornat, das Terry je gesehen hatte, bedeckte seine Schultern. Es schien wie nichts anderes für die Jahrhunderte geschaffen zu sein. Seit der Dekadenz des Mittelalters hatte es dergleichen bestimmt nicht mehr gegeben. Es wies Diamanten, Rubine, Smaragde und Saphire auf und Tausende von kleinen Edelsteinen, die in verschlungene Symbole
und Zeichen eingearbeitet waren. In der rechten Hand hielt der Mann einen Kristallstab. Sein Kopf war mit einem hohen, konischen Hut bedeckt. Sein Gewand schimmerte in dem fahlen Licht mit Bildern und Andeutungen von Bildern, mit Szenen des Grauens: Leichen, aus winzigen schwarzen Perlen zusammengesetzt, verliefen über den Endsaum, waren in jede mögliche Pose der Qual gestickt. Über ihnen stiegen Hammen aus Rubin und orangerotem Speckstein auf, und darüber waren Obsidian-Splitter in die Umrisse von Ruinenstädten eingelegt. Der Mann wieselte vor der Gemeinde hin und her. Er schritt wie ein Löwe aus und deutete mit seinem Stab um sich. Und dann setzte das Kauderwelsch ein. Einen Moment lang glaubte Terry tatsächlich, die Sache würde humoristisch weitergehen, doch dann wandte sich der Mann dem Altar zu, und Terry sah das Gesicht, das auf dem Rücken seines Gewandes eingewebt war. Die Stickerei, die er erblickte, war mehr als nur das Gesicht eines Ungeheuers; es war auf verabscheuungswürdige Weise entfernt menschenähnlich. Seine Gesichtszüge waren roh, mit dicken Lippen und übertriebenen Brauen, und ein Übermaß an Zähnen wölbte sich aus dem Maul. Der Anti-Mensch. Terry fragte sich, aus welchem Grund sie ein solches Ding hervorbringen wollten. Was hatten sie davon, wenn sie dem Bösen dienten? Macht? Reichtum? Oder war es das gleiche, was die romantisch veranlagten jungen Deutschen zur SS gebracht hatte: Die Verlockung des Todes? Zwei Mitglieder der Gemeinde sollten also zusammengeführt werden, um den ersten Anti-Menschen zu zeugen. Klar. Schau dir die Bande nur an: Sie sind sauber geschrubbt und stinknormal. Sie waren alle verrückt. Sie mussten es sein. Etwas dermaßen Hässliches konnte doch keiner menschlichen Verbindung entspringen, mochten die Eltern auch noch so grauenhaft sein. Aber von diesen Leuten war keiner auch nur im entferntesten grauenhaft. Der Oberzauberer, oder was er auch war, wandte sich wieder um und räusperte sich. Er warf einen Blick auf die Gemeinde. Sein Gesichtsausdruck war kaum netter als der des Porträts auf seinem Gewand. »Wir haben uns hier versammelt, um dafür zu beten, dass unsere Prinzessin das große Leid übersteht, das wir ihr in unserer Ungeduld
und Dummheit zugefügt haben.« Jetzt kam ein anderer Stilett-Typ durch das Kirchenschiff und flüsterte mit dem finsteren Priester oder Hexenmeister. Dann schauten seine Augen direkt durch den Mittelgang zu Terry Quist. »Kommen Sie«, sagte der Hexenmeister leise. Als Terry durch den Gang schritt, wandten die Gesichter sich ihm zu. Es waren ganz normale, gewöhnliche Alltagsgesichter. Ein Haufen Familien hatte ihre Kinder mitgebracht. Der leise, pulsierende Ton, der die Zeremonie eingeleitet hatte, war jetzt wieder zu hören; diesmal entwickelte er klimpernde Akkorde, die offenbar dazu fähig waren, in die Tiefen des Geistes einzutauchen und in Terry Gefühle überwältigender Brutalität heraufzubeschwören. An der Unruhe in den Kirchenbänken erkannte er, dass er dieses Gefühl nicht allein hatte. Hier und da bedeckten kleinere Kinder ihre Ohren mit den Händen. Und doch war es kein Laut, der durchdringend war. Außerhalb der Kirchenmauern musste er kaum zu hören sein, es sei denn, man hatte äußerst empfindliche Ohren. Alexander Parker schien ein solcher Mensch gewesen zu sein. Die Musik transportierte eine starke emotionale Dynamik. Eine negative. Terry stellte sich in seiner Hand ein leichtes Maschinengewehr vor. Er betätigte den Abzug und sah, wie Blut und Hirnmasse um ihn herum verspritzte. »Bleiben Sie dort stehen, junger Mann.« Terry hielt an. Er war etwa dreieinhalb Meter von dem Hexenmeister entfernt. Aus der Nähe sah das Gesicht des Mannes ganz einfach grässlich aus. Es war alt, hatte die Farbe von Zeitungspapier und sah so vertrocknet aus wie ein altes Blatt. Seine grünen Augen flackerten dermaßen, dass Terrys Reporternase spürte, dass er es mit einer fortgeschrittenen Psychose oder großer Wut zu tun hatte. »Sie sagen, Sie möchten sich uns anschließen, junger Mann. Wie haben Sie von uns erfahren?« Terrys momentanes Gefühl sagte ihm, dass es nicht viele richtige Antworten auf die Frage des Mannes gab. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass man ihm mit Misstrauen begegnete. Er war davon ausgegangen, dass man Neulinge mit offenen Armen aufnahm. Schon wieder falsch, Terry. Sein Leben war ein Gewebe aus Irrtümern, und so war es von Anfang an gewesen. Allem Anschein nach hatte er schon wieder einen Irrtum begangen. Oder nicht? Hier einzusteigen war das einzige
Ticket, um lebend wieder rauszukommen. »Ich kannte mal einen Burschen namens Alex Parker...« Jemand packte Terry von hinten an den Schultern und warf ihn auf die Knie. »Sprechen Sie Seine Eminenz bitte niemals im Stehen an!« »He, einen Moment.« Terry spürte, wie sich ein Arm hob, um ihn zu schlagen. »Verzeihung, Eure Eminenz. Bitte, beruhigen Sie sich. Ich werde absolut respektvoll sein.« Der Hexenmeister maß Terry mit dem kältesten Blick, den er sich vorstellen konnte. »Das müssen Sie auch sein, Mr. Quist«, sagte er leise. »Ja. Ich verstehe die Logik Ihres Hierseins. Sie hatten recht mit der Annahme, dass Parker über Sie gesprochen hat. Und jetzt wollen Sie einer der unseren werden, weil Sie das Risiko scheuen, sein Schicksal zu teilen. Wie gerissen. Und wie günstig für uns.« Das war eigentlich nicht die richtige Antwort. Irgend etwas gefiel Terry nicht daran, dass man es für günstig hielt, dass er zu ihnen gekommen war. »Uns ist heute abend eine besondere Möglichkeit gegeben«, sagte der Hexenmeister. »Bereitet euch auf das Rituale Cruciatus Nexis vor.« Er klatschte in die Hände. »Mr. Quist wird unseren verbesserten Virus testen.« »Was ist das für ein Virus?« Terry wurde erneut geschubst. »Stellen Sie niemals eine Frage an Seine Eminenz.« »Verzeihung! Würden Sie mir sagen, was dieser Test...« »Er wird sehr kurz sein, Mr. Quist«, sagte Seine Eminenz. »Der Virus ist so schnell, dass Sie kaum mitkriegen, was passiert.« »Wunderbar, Eure Eminenz. Sehr beruhigend. Ich glaube, ich möchte nach Hause gehen.« Seine Eminenz lächelte nicht mal. Irgend etwas ging im hinteren Teil der Kirche vor sich. Mehrere Leute schienen miteinander zu reden. Dann trennte sich einer von ihnen und trottete einen Seitengang hinauf. Er beriet sich kurz mit Seiner Eminenz. Der alte Mann schien gereizt zu sein. »Und macht schnell«, rasselte er seinem abmarschierenden Lakaien zu. Er sah zur Chor-Empore hinauf. »Die Prozessionshymne, Bob.« »Auf der Orgel?« kam voller Zweifel die Antwort. »Natürlich nicht; sie ist zu laut. Das Hörn.« Der Musiker war ein Meister seines Faches, was immer auch sein Fach war. Die Musik wogte, wirbelte und pulsierte. Terry vergaß sogar seine schmerzenden Knie. Er hatte noch nie zuvor ein
Musikinstrument gehört, das solche Töne erzeugte. Es bearbeitete seine Gefühle zu einem fast unheimlichen Grad. Einmal war sein Ton so friedlich und beruhigend wie der, den man vielleicht in einem uralten Kloster zu hören bekam, wenn die Mönche ihre morgendlichen Choräle sangen. Etwa fünfzehn Minuten vergingen, bevor Seine Eminenz ins Zentrum der Sakristei zurückkehrte. Im gleichen Moment tauchten der Stilett-Mann und einer seiner Assistenten auf. Sie nahmen Terry zwischen sich. Ich schätze, ich hab' es hinter mir, dachte Terry. Das Hörn ließ einen einzelnen, langen Ton erschallen. Terry drehte den Kopf nach hinten und sah einen Jungen und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren mit dem selbstbewusst langsamen Schritt noch nicht ganz ausgebildeter Kinder durch den Gang marschieren. Ihre ernsten, weichen Gesichter waren im flackernden Licht der dicken roten Kerzen, die sie in den Händen hielten, gelb. Sie waren ganz in Weiß gekleidet, und ihre Schritte erzeugten kein Geräusch. Jetzt ging die Sache richtig los. Der Hexenmeister hoppla, Seine Eminenz hob die Arme und sprach: »Bei der Macht des Königs der Unterwelt, o Geister der Hölle, empfangt unsere Gabe und gedenket unser!« Er verfiel in einen langsamen, wirbelnden Tanz, sein Gesicht versank in tiefe Konzentration, sein Stab beschrieb schnelle Kreuze. »Kommt, und holt euch unsere Gabe, o Tiefen!« Die Gemeinde antwortete: »Kommt aus dem Osten, aus dem Süden, aus dem Westen, aus dem Norden. Kommt in dieses Haus.« Das allgemeine Geraschel umgeblätterter Seiten war zu hören. Die Kinder erreichten Terry. Seine Eminenz stellte den Tanz ein. Er fiel auf die Knie und musterte die Gemeinde. »Wer soll das Medium des Experiments sein?« Das Mädchen erwiderte: »Pater, Terence Michael Aloysius Quist soll es sein.« Wie hübsch. Sie kannten sogar den Aloysius. Zuletzt war er auf Terrys Geburtsurkunde in Erscheinung getreten. Die Kirche der Nacht hatte ihre Hausaufgaben wirklich gemacht. »Gebt ihr ihn bereitwillig auf?« »Das tun wir, Eure Eminenz.« Die Kinder sprachen ihren Text sorgfältig und einstimmig, als hätten sie ihn auswendig gelernt. Ihre Kerzen tropften und schwankten. »Was soll die Tore der Zukunft öffnen?« »Der Tod der Menschheit.« Seine Eminenz stand auf, er war in den schimmernden Gewändern und der hohen Bischofsmütze etwas Bedrohliches. »Ich rufe euch, o
Bewohner der Tiefen des Herzens, kommt in unsere Mitte und empfangt unsere Dankesgabe.« Die Gemeinde antwortete: »Möge Er unser Experiment segnen.« Da war schon wieder dieses Wort. Experiment. Die Kirche der Nacht war halb Religion, halb Wissenschaft der irre Aberglaube des Mittelalters hatte sich mit einer Wissenschaft vermischt, die sich weit über die Anbetung hinaus entwickelt hatte, die sie begleitete. Die Musik verstummte. Das war das Stichwort für die Kinder, die vor Terry stehengeblieben waren. »Bitte, kommen Sie mit uns, Sir«, sagte das Mädchen. Es streckte seine freie Hand aus. Terry nahm sie und richtete sich auf. Die beiden Kinder drehten ihn herum. Sein Herzschlag setzte beinahe aus. Im Mittelgang lag ein offener schwarzer Sarg. Der Junge nahm Terrys andere Hand. »Es ist nur unsere Einführungszeremonie«, flüsterte er. »Sie müssen sich hineinlegen.« »Na, hör mal, das ist doch lächerlich.« Etwas Spitzes presste sich gegen Terrys Hals. Er fröstelte; er wusste, dass es das Stilett war. Seine Beine schlotterten, aber er schaffte es bis zum Sarg. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht einen Fluchtversuch unternommen, aber zwischen ihm und der Tür hielten sich Hunderte von Menschen auf. Terry wurde das starke Gefühl nicht los, dass er entweder in den Sarg stieg oder mit aufgeschlitzter Kehle endete. Innen sah es zwar weich aus, aber das verdammte Ding war hart. Unter dem weißen Satinpolster befand sich nur Holz. »Dass mir bloß keiner das Ding zumacht«, sagte Terry. Er flüsterte nun nicht mehr, denn er wollte, dass man ihn hörte. Das Mädchen lächelte. »Selbst wenn wir's tun, es dauert nicht lange. Es ist sogar ganz schön. Wirklich.« Die Intensität der Musik nahm zu, das emotionale Timbre wurde aufgeregt und heimtückisch. Es gab kein richtiges Kissen, deswegen musste Terry den Kopf heben, um zu sehen, was um ihn herum vor sich ging. Er hob ihn hoch und behielt ihn oben: Er hatte keine Möglichkeit, die Irren dazu zu bewegen, den Deckel oben zu lassen. Ihm fiel auf, dass die Deckelränder mit Gummi ausgeschlagen waren wie die Tür eines Kühlschranks. Seine Eminenz näherte sich dem Altar. Er fing an zu beben und rief den Eindruck hervor, in seinem Inneren fände eine ungeheure
Schlacht statt. Der Stab, den er hielt, schien ihm aus der Hand zu fallen. Ein Akoluth erschien und hielt einen goldenen Tiegel, der mit einem seidenen Deckchen bedeckt war, unter den vibrierenden Stab. »Ich rufe dich, o Herr der Fliegen und Krankheiten, durch das Medium seiner Schrecken bringe die Infektion in diesen Leib!« Eine erwartungsvolle Spannung erfüllte die Kirche. Die Menschen flüsterten. Terry sah, wie eine Mutter ihrer Sechsjährigen einen Atemschutz anlegte. Die Musik war jetzt bösartig, sie brüstete sich tatsächlich mit Frohlocken. Seine Eminenz richtete sich auf. Er hob die Hände, und die Musik verstummte. Mit raschelndem Gewand drehte er sich um und breitete die Arme aus. »Die Zeit ist gekommen.« Die Gesichter sahen Terry nun erwartungsvoll an. Die beiden Kinder hatten am Fuß und am Kopf des Sarges Aufstellung genommen. Der Hexenmeister sagte leise zu ihnen: »Jetzt.« Mit einer Bewegung, die zu plötzlich kam, um ihr zu entgehen, streckte der Junge einen Arm aus und sprühte eine winzige Prise Aerosol in Terrys Gesicht. Es war keine große Prise. Sie roch nicht mal. Dann fingen sie an, den Sarg zu schließen. Terry hatte damit gerechnet. »Nichts da!« Er sprang hoch und auf den Boden. »Ich lasse mich nicht da einschließen.« In der Finsternis schrie eine Frau auf, es war ein klagender Laut. »Versiegelt ihn«, sagte jemand mit einem erregten Flüstern. Die Menschen schoben sich durch die Bankreihen und entfernten sich von ihm. Seine Eminenz zeigte ein Lächeln. Und dann kamen die Stilett-Typen. Sie lächelten nicht. Was Terry anbetraf, so hatte er das Gefühl, niesen zu müssen. »Amanda«, sagte der Hexenmeister gelassen, »erzähle Terry ein bisschen über das Ritual.« Das Mädchen zögerte. »Hab keine Angst, Amanda. Es gibt noch ein paar Minuten der Gnade.« Beim Klang dieses Wortes bemerkte Terry, dass er sich ganz schön daneben fühlte. Seine Knochen schmerzten, seine Haut war trocken und empfindlich. Das Mädchen nahm erneut seine Hand. Zum ersten Mal fiel Terry auf, dass diesen Leuten ausnahmslos etwas Kindliches anhaftete. Die geschmacklosen Riten, die späte Stunde, die Geheimnistuerei, all das zeugte von der fernen Vergangenheit und ihren Schrecken. Aber auch von ihrem Charme.
»Terry, wir müssen den Deckel für kurze Zeit schließen, weil unser Ritual vom Tod der Vergangenheit, der Wiedergeburt und dem Dienst am Bösen handelt. Er bleibt nur etwa zwei Minuten zu. Es ist nur symbolisch.« Sie drückte seine Hand und bedachte ihn mit einem lieben Lächeln. »Das wollen Sie doch, oder nicht? Ich meine, deswegen sind Sie doch hergekommen?« »Ja.« Terrys Stimme war heiser vor Angst. »Wir alle möchten, dass Sie es tun; jeder von uns.« Aus den ihn umgebenden Kirchenbänken kam ein zustimmendes Gemurmel, das von ermutigendem Nicken und Lächeln begleitet war. Und außerdem waren da noch die Stiletts. »Entschuldige, ich bin so empfindlich«, murmelte Terry. »Klaustrophobie.« Er stieg wieder in den Sarg, und die Kinder schlössen mit einem warmen Lächeln den Deckel. Es gab ein leises Klicken, und dann herrschte absolute Dunkelheit. Jemand hatte den Deckel mit einem Sargschlüssel abgeschlossen. O Gott, das würde aber hart werden. Fast auf der Stelle wurde die Luft schlechter. Terry fühlte sich absolut grässlich. Die Musik setzte wieder ein, ihre leisen Töne erfüllten die dicke Luft. Gedämpft, doch hörbar, stieß die Gemeinde einen tiefen Seufzer aus. Ihm folgte ein Ausbruch leiser Worte, die wie Latein klangen. Obwohl Terry mit aller Kraft lauschte, konnte er nicht viel hören. Er tastete den Sargdeckel ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Griff oder eine Klinke für den Fall, dass ein Verstorbener wieder zu sich kam. Aber nein, da war nichts. Draußen geschah etwas; er konnte in der Nähe des Sarges Bewegungen hören. Es war heiß hier drin. Außerdem wurde ihm so übel, dass sein Brustkorb anfing zu röcheln. Er nieste laut. Einmal. Noch einmal. Dreimal. Vier. Fünf. Allmählich erkannte er die wahre Natur des Experiments, das hier durchgeführt wurde. Es hatte etwas mit dem Aerosol zu tun. Sie hatten ihn mit der Krankheit infiziert!
Der Deckel schien gegen sein Gesicht zu drücken. Einen Moment lang verstand Terry nicht, dass er bei einem Versuch, ins Freie zu gelangen, mit der Stirn gegen ihn gestoßen war. Als er es dann kapierte, erfasste ihn blanke Panik. Er war weiter gegangen, als er geglaubt hatte. Er hatte die Kontrolle verloren. Wahrscheinlich hatte er Fieber. Man würde ihn hier nicht rauslassen. Sie wollten sehen, wie
wirkungsvoll ihre Krankheit war. Sie wollten wissen, wie lange es dauerte, bis ein erwachsener Mann tot war. Terry wand sich und tastete mit verzweifelt suchenden Fingern den Satinbeschlag des Sarges ab. Er war ein Idiot gewesen, als er geglaubt hatte, man würde ihn wieder herauslassen. »Bitte!« Nichts. »Bitte! Oh, biiitte!« »Mr. Quist?« »Oh! O ja! Oh, danke! Danke, dass Sie mir antworten! Ich kriege keine Luft mehr. Ich muss Luft haben! Mir ist schlecht. Ich bin krank! Sie müssen das Ding wieder aufmachen.« »Zuerst haben wir ein paar Fragen, Mr. Quist.« Die Stimme des Hexenmeisters erschien ihm so nahe, dass er direkt neben dem Kopfende des Sarges knien musste. Er war ein Narr gewesen, hier aufzukreuzen; sie hatten den Vorteil einfach genutzt. Terry fiel nichts anderes mehr ein, als zu allem ja und amen zu sagen. Wenn er mitmachte, gab es vielleicht noch Hoffnung. Wenn er nicht vorher tot war. »Fragen? Aber ja, nur schnell!« Er hatte schon als Kind beim Miller-WalkinSchwimm-Wettbewerb im Corona Park die Luft nie lange genug anhalten können. Nie lange genug. Meist war er schon als erster oder zweiter durch den Wasserspiegel gebrochen. Seine Lungen lechzten nach Luft, sein ganzer Körper war erfüllt von dem schmerzhaft dringenden Bedürfnis zu atmen. »Bitte, beeilen Sie sich!« »Was haben Sie Inspektor Banion über uns erzählt?« Heiliger Gott! Mike gehörte nicht dazu; nur seine Frau! Sein Herz war draußen bei dem armen Kerl. Er musste hier raus und Mike irgendwie warnen! Sie waren seit ewigen Zeiten Freunde, Mike und er. Der arme Kerl. Seine Frau! Seine Frau! Diese mistige Schlampe. Terrys Kehle schmerzte, als werde sie mit einer stumpfen Klinge zerhackt. Er hob die Hände und stellte entsetzt fest, dass sich an beiden Seiten seines Halses dicke Geschwüre befanden. Dann konnte er die Arme nicht mehr senken. Denn nun waren auf seinen Unterarmen weitere Geschwüre aufgetaucht. Je schlechter die ihn umgebende Luft wurde, desto tiefer musste er mit seiner verengten Luftröhre Luft holen. »Helft mir! Ich habe doch gesagt, ich bin krank! Sehr krank!« »Inspektor Banion...« Vielleicht konnte er Mike doch noch etwas helfen. »Ich habe ihm
nichts erzählt!« »Sie lügen.« »Lassen Sie mich hier raus! Lassen Sie mich raus! Sie müssen mich ins Krankenhaus bringen! Ich bin krank. Ich ersticke, um Gottes willen!« »Sind Sie ein Inquisitor? Ist Banion ein Inquisitor?« »Was zum Kuckuck, ist ein Inquisitor? Ich weiß nichts von einem Inquisitor! Um Gottes willen, machen Sie das Ding auf!« Terry trat, Terry hämmerte, Terry zerrte an der Polsterung. Die Schwellung unter seinem rechten Arm platzte mit einem hörbaren Floppen auf. Sie setzte eine dicke, stinkende Flüssigkeit und einen marternden Schmerz frei. Terry wusste plötzlich, dass er tot sein würde, bevor das Verhör zu Ende war. »Machen Sie auf, lassen Sie mich Luft holen! Ich sage Ihnen alles! Bitte, ich bitte Sie. Ich flehe Sie an!« »Haben Sie Namen genannt?« »Nein, zum Teufel!« »Sagen Sie die Wahrheit, dann öffnen wir den Deckel.« Jetzt war nicht die Zeit, zimperlich zu sein. »Ich habe Mike nichts erzählt, weil er mir gar nicht zuhören wollte. Er fing schon an zu lachen, als ich die Kirche der Nacht erwähnte. Er gehört nicht zu Bullen, die einem so was abkaufen. Typen wie ihm muss man so was mit Gewalt einbläuen! Und jetzt lassen Sie mich raus!« Draußen fand eine geflüsterte Konversation statt, die bald wieder versiegte. Terry spürte, wie er dahintrieb. Dann spürte er gar nichts mehr. Plötzlich kam er wieder zu sich. Er war nur bewusstlos geworden! »Machen Sie das Ding auf!« Die Luft, die durch seine verschwollene Kehle kam, bewegte sich mit einem pfeifenden Geräusch. Das war das Ende von Terence Michael Aloysius Quist, Beruf: Reporter. Ein würdiges Ende? Kaum. Es gab keinen Pulitzer-Preis für diesen Schussel. Terry registrierte ein aufgeregt gleitendes Geräusch an der Außenseite des Sarges, als hätte sich jemand auf ihn gelegt. Nur wenige Zentimeter Holz trennten sein Gesicht von einem Menschen, der aufgeregt atmete. »Ihr perversen Schweinehunde!« Die Antwort war eine Art Geheul, das kaum menschlich klang. Der Sarg fing an zu wackeln, weil irgend jemand auf ihm die Position wechselte. »Horch mit dem Stethoskop«, flüsterte jemand. »Vier Minuten; er kann kaum noch atmen, wegen der Beulen!«
Beulen? Die Schweinehunde hatten ihn mit irgendeiner Superpest infiziert. Sie hatten ihn eingeschlossen, weil sie sehen wollten, wie schnell sie wirkte. Terry empfand beinahe Dankbarkeit, als sein Herz anfing, unregelmäßig zu schlagen. Bald ist der Tod da, Junge. Auch das geht vorbei. Wer weiß, vielleicht gibt es sogar 'ne Art Sonderhimmel für geborene Pechvögel. »Herzrhythmusstörungen bei fünf Minuten«, sagte eine gelassene Stimme. »Ausgezeichnete Arbeit«, erwiderte Seine Eminenz. Gefühllose Schweinehunde. Beim Klang der sachlichen, gebildet klingenden Stimmen löste Terrys Angst sich auf. Jetzt empfand er nur noch Wut. Zu schade, dass er nichts hatte, womit er diese Leute in letzter Sekunde noch ein bisschen enttäuschen konnte. Er wollte mit Würde sterben, nicht wie ein röchelnder, vergifteter Hund. Eine Woge roher Zerstörungswut ließ ihn wütend mit den Füssen um sich treten. Von draußen kamen aufgeregte Schreie. »Delirium bei fünf Minuten zwanzig Sekunden!« Einen Moment lang verlor Terry wieder die Besinnung, dann kam er erneut zu sich inmitten einer Serie weißer Blitze. Er wusste es, jetzt war es aus mit ihm. Ein Entkommen stand nicht mehr zur Debatte. Er trauerte um die Zeiten in seinem Leben, die er geliebt hatte: Die schneegedämpften Nächte auf den alten, gepflasterten Straßen; den beißenden Geruch von Kohlenqualm; die Orte, an denen Verbrechen begangen worden waren; die Einsatzwagen der Polizei, die Delikatessgeschäfte, die rund um die Uhr geöffnet hatten. Und um die Mädchen. Um alle Mädchen, die er nie gehabt hatte. Draußen wurde ein aufgeregtes Scharren hörbar; wahrscheinlich versammelten sich noch mehr von diesen Bestien um den Sarg. Terry konnte sich vorstellen, wie sie dastanden, wie sie ihn umringten und ein gedämpftes Lachen hören ließen, weil sie über den Erfolg ihres Experiments frohlockten. Es gab eine Krankheit, die in wenigen Minuten tötete, und sie war in den Händen dieser Wahnsinnigen. Er wollte ihnen wenigstens eine Prise menschlichen Edelmuts demonstrieren, ein bisschen Tapferkeit. Terry nahm jedes Bisschen der Selbstbeherrschung zusammen, zu der er noch fähig war. Dann räusperte er sich, so gut es noch ging. Wenn er schon sterben musste, dann mit Stil. »I'm singin' in the rain«, keuchte er, »singin' and dancin'...«
Er musste wieder Luft holen, um weiterzumachen. Draußen war es still geworden. Vielleicht waren sie schockiert, vielleicht empfanden sie aber auch Ehrfurcht. Gut. Er wollte, dass sie zur Kenntnis nahmen, dass er ein menschliches Wesen war, und dass das menschliche Wesen, auch wenn der Schmerz und der Terror es angesichts eines höllischen Todes zerbrochen hatte, ein Lied sang. »Singin' in the rain...« Dann kam das Murmeln einer Konversation. Sie hörten ihn. Er wusste es. »Glory hallelujah, I'm happy again!« Jemand brachte das Murmeln zum Schweigen. »Singin' in the rain, ihr Schweinehunde! Singin' in the goddam rain!« Terry warf den Kopf zurück und erzeugte ein pfeifendes Lachen. In seinen Ohren donnerte es, in seiner Kehle war Säure. Er starb langsam unter großen Schmerzen, aber er schrie nicht. Dann brach überall um ihn herum ein Singen aus; es war der hellste und triumphierendste Gesang, den er je gehört hatte. Und er kam aus Hunderten von Kehlen: »... just singin' in the rain. Wharf glorious feelin', I'm happy again...« Sie gaben es ihm zurück. Er hatte es ihnen doch nicht gezeigt. Sie hatten keine Gefühle; sie waren mehr als wahnsinnig; sie waren seelenlos. Ganz am Ende übernahm ihn dann das Tier. Er zerrte wie irre an dem Sarg und grub sich ein, wie eine gefangene Bestie sich eingraben würde. Seine Fingernägel versenkten sich in den hölzernen Deckel. Und er starb.
Mary: Der Terror der Inquisition Mein liebster Jonathan, ich schreibe diese Zeilen in einer finsteren Zeit, weil ich hoffe, dass es Dir eines Tages möglich ist, sie zu lesen. Ich muss Dir sagen, dass Patricias Verletzungen nicht Deine Schuld sind. Die Verantwortung dafür liegt bei mir und Deinem Onkel Franklin. Ich kann nicht mehr zu unserer Verteidigung sagen als das: Was passiert ist, war mehr oder weniger ein Unfall. Wir haben ihn zwar verursacht, aber mit bester Absicht. Denn wir haben versucht, Euch vor dem Terror der Inquisition zu bewahren. Es besteht die Möglichkeit, dass wir Patricia heilen können mit
einer Methode, die Dich überraschen wird. Wenn die Kur anschlägt, wirst Du diesen Brief eines Tages in den Händen halten, mein Sohn. Ich schreibe dies, weil ich darauf vertraue, dass jene, denen wir dienen, uns durch die momentanen Schwierigkeiten bringen. Ich bin, so wie Du, mein Leben lang eine der ihren gewesen. Ich habe ihre Strenge lieben gelernt, und ich liebe ihre Gefahr. Ich kann sie ebenso wenig bösartig nennen, wie ich Dich etwas anderes als mein geliebtes Kind nennen kann. Ich hoffe, dass meine Worte Dir in Deiner Verwirrung und Furcht eine Hilfe sein werden. Erinnere Dich an das, was Du vor der Hypnose warst und wieder sein wirst. Vergiss nicht, Du sollst der Vater des Anti-Menschen sein. Er wird ein Geschöpf dessen sein, was die Menschen als Finsternis bezeichnen. Aber nicht für sich selbst. Der Menschen Finsternis wird sein Licht sein, der Menschen Böses sein Gutes. Dein Sohn wird Kräfte und Fähigkeiten aufweisen, die die Menschheit niemals hatte; er wird die Fähigkeiten der Dämonen haben. Der Anti-Mensch wird die Intelligenz Asmodeus' und die Kraft Belials haben. Er wird dazu fähig sein, wie Satan zu predigen und in Luzifers Flammen erstrahlen. Weißt Du noch, dass Du all dies aus dem Katechismus erfahren hast? Erinnerst Du Dich an die Geschichten über die Dämonen? Alle hoffen nun auf Dich, Jonathan. Kannst Du sie in Deinem Herzen fühlen? Hörst Du, wie sie Dir zuflüstern, wenn der Wind durch die Blätter rauscht? Erinnerst Du Dich an die Vision von Belial, die Du hattest, als Du neun warst? »Ich werde mit der Stimme trockener Blätter zu Dir sprechen«, hat er gesagt. Es war eine außergewöhnliche Vision, und sie erfüllte Dich mit großer Entschlusskraft. Ich weiß, was Du fühlst, welche Konflikte in Deinem Herzen toben. Jetzt, wo Du der Welt der Menschen enthüllt worden bist, hast Du sie lieben gelernt. Doch vergiss nicht, Jonathan, dass Gott die Erde seit Millionen und Abermillionen Jahren besessen hat. Es ist an der Zeit, dass der Teufel seinen Anteil an der Herrschaft hat. Das ist Gerechtigkeit. Die Anti-Menschheit wird stärker sein als die Menschheit, und viel großartiger. Das Leben auf der Erde hat sich ständig einer höheren Intelligenz entgegen entwickelt. Also ist unsere Schöpfung nur der nächste logische Schritt. Satan hat dem Menschen erst das Wissen gegeben. Jetzt wird er der Erde eine
Menschheit geben, die nach seinem Ebenbild gestaltet ist. Mit uns gewöhnlichen Menschen verglichen wird Dein Sohn im wahrsten Sinne des Wortes ein Gott sein der so weit über uns steht, wie wir über den Affen stehen, die vor uns waren. Als unsere Spezies geboren wurde, haben wir unsere Vorfahren ausgerottet. Und das war gerecht. Doch der moderne Homo sapiens wird sich gegen seine Ausrottung wehren. Eine ängstliche und eifersüchtige Menschheit wird die neue Spezies vernichten, bevor sie einen gebührenden Anfang machen kann. Die Bestimmung der Erde liegt darin, Deinen Sohn und seine Rasse hervorzubringen. Als Kirche beten wir um diese Bestimmung. Als Wissenschaftler helfen wir dabei, sie zu verwirklichen. Jonathan, ich kann mir kaum vorstellen, wie schockierend es für Dich sein muss, diese Wahrheit zu erfahren, nachdem Du Dich für einen normalen Menschen gehalten hast. Aber Du bist nicht normal. Du bist das Produkt einer jahrhundertelangen Zucht. Patricia und Du ihr seid keine echten Menschen. Eure Körper sind normal. Sie sind die Vergangenheit. Doch eure Seelen enthalten die Saat der Zukunft. Schrecke nicht vor der Verpflichtung zurück, mein Sohn: Du bist bloß ein Instrument der Natur. Das Gesetz der Evolution artikuliert sich durch Dich. Ich muss Dir jetzt mitteilen, warum Du durch all diese Schwierigkeiten und Wirrnisse gehen und Deine eigene Vergangenheit vergessen musstest. Als die Inquisition Deinen wirklichen Vater und Patricias Eltern umbrachte, haben wir Euch versteckt. Wir taten es, indem wir Euch hypnotisierten und unter falschen Namen verbargen. Nicht einmal unter der Folter hättet ihr Eure wahre Identität preisgegeben. Es tut mir leid, dass ihr dies erleiden musstet, und dass es aufgrund unserer Unwissenheit zu dem Unfall in der HeiligenGeist-Kirche kam. Ich kann nur erflehen, dass wir Euch in Zukunft besser beschützen können. Ihr seid so wertvoll! Wenn ich daran denke, dass ausgerechnet unsere Schutzmaßnahmen Euch beinahe vernichtet hätten, könnte ich den Verstand verlieren! Aber wir haben trotzdem keinen falschen Schritt getan. Die Inquisitoren sind Meistersaboteure. Ihre Morde sehen in der Regel wie Unfälle aus. Sie sind so heimtückisch, dass ich fast glaube, sie
könnten ein ungeborenes Kind aus dem Mutterleib entführen. Ich persönlich traue niemandem. Wenn die Grillen bei Mondaufgang verstummten, vermute ich, dass sich heimlich ein Inquisitor an mich heranschleicht und das Zunder bereithält, das mein Bett in Brand stecken soll. Und wenn die Dunkelheit seufzt, lausche ich seiner Stimme, die das Wort unserer Niederlage murmelt. Ich sitze stundenlang hier herum und warte, lausche und sorge mich. Wie kann ich Dir bei der Selbsterkenntnis helfen? Ratschläge erscheinen mir so hohl, Liebe so oberflächlich. Ich kann Dir nur sagen, dass die Erde die Evolution will. Es ist Dein Privileg, sie durchzuführen. Wenn Du diese fundamentale Realität akzeptierst, wird sich jegliche Verwirrung auflösen. Dann wirst Du die geistige Bestimmung wiedererlangen, die Dich stets unterstützt hat. Du wirst wissen, dass Du im Recht bist. Es ist mitten in der Nacht, heiß und ruhig. Ich hocke im Schein des Lichts oben im Salon an meinen Schreibtisch. Ich kann Mike auf der gegenüberliegenden Korridorseite schnarchen hören. Am anderen Ende, in Deinem Zimmer, hast Du gerade geseufzt. Ich werde jetzt gehen und Dich küssen, mein geliebter Sohn. Fünf Minuten sind vergangen. Ich bin von Deinem Bett zurück. Du hast gestöhnt, als meine Lippen Deine Wange berührten. Dein Schlaf ist heute nacht wieder unruhig, Liebling. Ich wünschte, ich wäre ein Dämon und könnte Dich mit dessen Scharfblick segnen. Franklin meint zwar, das Leben der Kirche sei immer so hart gewesen, aber ich bin nicht dieser Meinung. Es war zwar schlimm während des Albigensier-Kreuzzuges, und noch schlimmer während der Zeit der spanischen Inquisition, aber wenigstens lagen die Karten der Katholiken damals offen auf dem Tisch. Heute ist die Inquisition ein Geheimunternehmen, deswegen ist sie schlimmer als je zuvor. Mein Liebling, möge Dir das volle Maß der Courage gewährt sein. Mögest Du Deine Last mit Tapferkeit tragen. Mit Dir ist die Hoffnung einer Mutter. Mary Titus
9. Kapitel
Ihr Gefühl, dass eine gewaltige, unsichtbare Macht sie langsam umzingelte, schrieb Patricia dem Trauma des Überfalls zu. Seit der Vergewaltigung sah sie sich in ihren Träumen stets einer Bedrohung ausgesetzt. Sie wurde ständig von irgendeinem gnadenlosen Ding verfolgt, dass sie nie richtig zu sehen bekam. Tagsüber versuchte sie zu vermeiden, dass jemand sie berührte. Man konnte nie wissen, ob jemand, der mit ihr in Kontakt kam, nicht auch zu den Traumwesen gehörte. Und dann kamen sie unter Umständen nachts zurück, mit schmalen, langgezogenen Gesichtern, mit Knochen von übertriebener furchteinflössender Größe. In einem ihrer letzten Träume hatten sich ihre gesamten Freunde aus dem Asphalt der Straße erhoben und mit Klauen nach ihren Beinen gegriffen. Böse Träume dieser Art können Menschen verrückt werden lassen. Sie können sogar töten. Um des Überlebens willen hatte Patricia sich gezwungen gesehen, die Behandlung von Albträumen zu ihrer Spezialität zu machen. Nur Jonathan wusste, wie man sie beruhigte. Ihn ließ sie nahe an sich heran. Gelegentlich raffte sie sogar den Mut zusammen, seine Hand zu drücken. »Am Anfang wolltest du sie gar nicht mehr loslassen«, hatte er zu ihr gesagt. Patricia erinnerte sich nur noch an das Gefühl der Auflösung in diesen Stunden. Sie hatte sie so empfunden, als wäre ihr Ich durch das verletzte Geschlecht aus ihr herausgeflossen. Um dies zu verhindern, hatte sie das verzweifelte, überwältigende Verlangen verspürt, sich an ihm festzuhalten. Sie empfand Dankbarkeit, als sie spürte, dass die Sonne ihr Gesicht berührte. Sie hatte bei offenem Fenster geschlafen, und nun atmete sie tief die Luft des Sommermorgens ein. Auch heute spürte sie unten kein Gefühl der Vollständigkeit. Der stumpfe, unaufhörliche Schmerz war verschwunden; sie empfand kaum mehr als ein Gefühl der Enge. Trotz Mikes Bitte, sie solle umziehen, war sie in ihre Wohnung zurückgekehrt. Schließlich war es ihr Zuhause, ihr erstes eigenes Zuhause, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Und sie war etwas Besonderes geworden, da sie Jonathan hier kennengelernt hatte. In der offenen Schublade ihres Nachtschränkchens lag eine kleine schwarze Pistole, ein Geschenk von Mike Banion. Auf der Wand gegenüber befand sich eine Tastenkonsole. Über ihr leuchtete ein einzelnes rotes Licht. Das rote Licht würde anbleiben, bis Patricia den richtigen Kode eingab, und bis dahin blieb die Wohnung eine elektronische Festung. Noch ein Geschenk von Mike Banion.
Neben ihrer Hand war ein Schalter. Wenn sie ihn betätigte, klingelte unten eine Glocke, und dann kam ihr sofort ein Hauswächter zu Hilfe; rund um die Uhr. Noch mal danke, Mike Banion. Und danke für die Alarmanlage an meinem Rollstuhl. Und die für jeden Krüppel erreichbaren Feuerlöscher in allen Zimmern. Und für den Waffenschein, der mir erlaubt, mich mit einem Sechsschüsser an der Hüfte durchs Leben zu rollen. Danke, Mike. Du armer, guter Mann, dir ist es gelungen, dass ich mich so bedroht fühle, dass ich es kaum noch aushalten kann. Es war neun Uhr. Zeit, Jonathan anzurufen. Patricia begab sich ans Telefon und wählte die Nummer der Banions. Wie er es versprochen hatte er erwartete ihren Anruf und hob den Hörer beim ersten Klingeln ab. »Hey«, sagte er, »bist du fertig für mich?« »Ich werde fertig sein, wenn du da bist.« »Schon unterwegs.« »Ich liebe dich.« Er hängte ein. Patricia musterte den Hörer eine Sekunde lang, dann legte sie auf. Heute morgen musste sie sich ihren schlimmsten Ängsten stellen. Sie würde an den Ort gehen, an dem ihre meisten Albträume spielten, und dort, von ihrem Entsetzen umgeben, beten. Jonathan wollte sie zur Messe in die HeiligenGeist-Kirche mitnehmen. Als Belohnung für ihre mutige Tat wollte er sie anschließend zum Cafe Trianon im Queens Center fahren zu einem zweiten Frühstück mit Croissants und Cafe au lait. Im Verlauf des Morgens würden sie sich nicht küssen, wahrscheinlich würden sie sich nicht einmal berühren. Und Jonathan würde nicht tölpelhaft grinsen oder wortgewandte Konversationsanstrengungen unternehmen, um Themen wie Vergewaltigung, Lähmung oder Albtraum zu vermeiden. Seine Rede würde auch nicht voller unbeabsichtigter Anspielungen bezüglich dieser Themen sein. Kurz gesagt, es würde ein netter Morgen werden, nachdem sie sich der Kirche gestellt hatte. Aber in den nächsten zwanzig Minuten brauchte sie damit nicht zu rechnen. Denn sie musste sich selbst ankleiden. Schwierige und ärgerliche Arbeit. Ihre Beine baumelten wie weiche Gummischläuche. Das Schlimmste an der grässlichen Unbeweglichkeit war, dass sie keinen erkennbaren Grund hatte. Patricia hatte gar keinen körperlichen Schaden. Man hatte sogar ihr Gehirn untersucht. Sie war gesund und völlig in Ordnung, sie hatte nichts gebrochen, nichts war durchstochen oder abgetrennt. Sie konnte nur nicht gehen. Hysterische Lähmung hatte Dr. Gottlieb es genannt. Marys guter
Freund. Patricia hatte seinen wachsamen Blick hassen gelernt, wenn er sie durch die Halbgläser anpeilte. Auch seine Hände, die so groß waren und so geschickt mit Sonden und Untersuchungsgeräten umgehen konnten. Bei der Messe würde sie auch Mary Banion sehen, die stets unter schrecklichen Schmerzen zu leiden schien, wenn sie einander begegneten. War es ihr peinlich, sich in der Gesellschaft einer Vergewaltigten aufzuhalten? Verstärkte es ihr persönliches Gefühl der Hilflosigkeit? Mike und seine Günstlinge hatten zwar an allen Wänden der Wohnung Haltegriffe angebracht, aber Patricias hauptsächlicher Aufenthaltsort war der große, verchromte Rollstuhl neben ihrem Bett. Sie prüfte die Bremsen, dann drehte sie sich um, damit sie ihm den Rücken zuwandte. Sie schob sich auf den Armen voran, bis ihr Kopf auf dem Sitz lag. Als nächstes packte sie die Armlehnen und hievte sich in eine sitzende Position. Dies war eins der >Stuhlmanöver<, die man ihr in der körperlichen Therapie beigebracht hatte. Sie freute sich; sie hatte es gut hingekriegt. Der Rest des Ankleidens verlief so schauderhaft wie immer. Patricia wusch ihr Gesicht im neuinstallierten NiedrigWaschbecken und kämmte sich das Haar. Der Kamm rutschte ihr aus der Hand, dann rollte sie, bei dem Versuch, ihn zu finden, über ihn hinweg und fuhr ihn kaputt. Sie zog den Schlafanzug aus und kleidete sich in einen hellblauen Rock und eine weiße Bluse und dann platzte der rückwärtige Reißverschluss bei ihrem Versuch, den Rock unter ihren Hintern zu schieben. Dann etwas Lippenstift und ein bisschen Lidschatten. Sie sah ganz ordentlich aus. Als hätte ein Besoffener sie angezogen. Ob sie Jonathan gefiel? Ob sie ihm je wirklich wieder so gefiel wie früher? Vielleicht war es schon selbstsüchtig, sich so was nur zu wünschen. Verdammt noch mal, aber sie wünschte es sich trotzdem. Er klingelte pünktlich auf die Minute. Urplötzlich kam ihr der Besuch in der Heiligen-Geist-Kirche sie hatte sich sorgfältig bemüht, nicht daran zu denken wieder entsetzlich vor. Ein Besuch im Herzen ihrer neuesten inneren Hölle. »Du musst es tun«, hatte Jonathan bestimmt. »Du musst dich deinen Ängsten stellen. Wir gehen zusammen hin.« Schließlich war er der Gehirnspezialist; er musste es ja wissen. Eine Sekunde lang fühlte sich die Rückenlehne ihres Rollstuhls so kalt an wie der marmorne Altar. Es ließ sie nach vorn zucken. Die unfreiwillige Reaktion eines
Menschen, der vergessen hat, dass er nicht aufstehen kann. Wurde sie in ihren Träumen einmal nicht verfolgt, bemühte sie sich stets, Jonathan zu finden. In solchen Fällen sah sie ihn ins Meer oder über eine Waldlichtung gehen, oder durch einen Gang mit dunklen Spiegeln. Dann rief sie ihn. Jonathan benutzte seinen eigenen Schlüssel, um hereinzukommen. »Du siehst großartig aus.« »Danke.« »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, du würdest mit dem Kopf nach unten auf den Badezimmerfliesen liegen und hättest Lippenstift am Ohr.« »Welch goldiger Humor.« Er nahm die Griffe des Rollstuhls und schob Patricia zur Tür hinaus. Ein paar Leute im Aufzug begrüßten sie. Schon wieder diese Lächler, die sie zu hassen gelernt hatte. Es war grässlich gewesen, zu erkennen, dass normale Menschen überhaupt keine Vorstellung mehr davon hatten, wie sie sich einem gegenüber verhalten sollten und dass sie es gar nicht mehr taten, es sei denn, sie waren mit einem zusammen eingesperrt. Jonathan hatte ein Checker-Taxi mitgebracht. Patricia hätte Mr. Checker küssen können, weil er diese wunderbaren rollenden Kisten erfunden hatte. Es war allerdings eine Tortur, Patricia in den Wagen hineinzukriegen. Aber es war immer noch besser als der unmenschliche Kampf, den noch kleinere Taxen mit sich brachten. »Wie war die letzte Nacht?« fragte Jonathan, sobald sie abfuhren. Armer Bursche, er hatte immer großes Interesse an ihrer letzten Nacht. Die letzte Nacht setzte im allgemeinen fest, wie ihre Stimmung auf der Skala von schlecht bis abgrundtief schlecht für den kommenden Tag ausfallen würde. »Zumindest war's keine Albtraumgasse. Aber auch kein Nirwana.« »Das ist doch immerhin etwas. Hast du was eingeworfen?« »Nö. Ich hab' absolut drogenfrei geschlafen, deswegen habe ich auch den wilden Blick und kann es kaum erwarten, mich dem Tag zu stellen!« »Den wilden Blick? Du meinst >offene Augen<.« »Nicht in meinem Fall.« Die Heiligen-Geist-Kirche ragte am anderen Ende der Morris Street auf. Sie war so groß wie ein paar der kleineren gotischen Kathedralen, doch den Architekten, die sich zweifellos Mühe gegeben hatten, genügend Massivität zu erzeugen, um die
blühende Gemeinde der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zufriedenzustellen, war es nicht gelungen, das Gestein in die Höhe zu bringen. Eine plumpere, mehr mit Wasserspeiern und Zinnen versehene Konstruktion konnte man sich kaum vorstellen. Die bunten Kirchenfenster erweckten den Eindruck argwöhnischer Augen; sie waren kleine Risse in der Granitfassade. »Oh, verdammt, Jonathan, da ist Mikes Wagen.« »Er ist natürlich auch da. Offen gesagt, dein ganzes Gefolge ist da.« »Und all die Polizeiwagen.« Patricia zählte vier Fahrzeuge auf dem Parkplatz zwischen Kirche und Pfarrei. »Ich weiß nicht, ob ich das aushalte.« »Mike arbeitet wie ein Irrer an dem Fall. Und zwar rund um die Uhr. Er ist dir wirklich zugetan, Liebling. Er will den Burschen, der dir das angetan hat, unter allen Umständen schnappen. Es bedeutet ihm eine Menge, den Fall zu lösen.« »Ich möchte nichts mehr von dem Fall hören!« Das Taxi hielt an, und sie arbeiteten sich hinaus. Patricia wünschte sich, Jonathan hätte das Wort Fall nicht ausgesprochen, aber jetzt war es geschehen, und es hatte keinen Sinn mehr, das Reden darüber zu vermeiden. Sie kam jetzt nicht mehr drumherum. »Verdammt noch mal! Ich will doch von dem Fall hören.« Er hörte damit auf, sie den hölzernen Rollstuhlweg hinaufzuschieben, mit dem man die Kirchentreppe kürzlich versehen hatte. Rechts und links vom Haupteingang standen Bänke. Jonathan rollte Patricia auf eine Bank zu und nahm vor ihr Platz. »Ganz bestimmt?« Nun ja... Aber sie nickte. »Man hat versucht, deine Vergangenheit Stunde für Stunde zu rekonstruieren, und zwar die beiden Wochen vor dem Überfall. Doch alles, was man an Ungewöhnlichem zusammengetragen hat, ist die Tatsache, dass du dich bei einem Rentneressen der Gemeinde mit einem alten Herrn namens Mr. Apple unterhalten hast. Außer unserem Rendezvous, meine ich.« »Wie haben sie bloß von ihm erfahren?« »Eine alte Dame, die ebenfalls bei diesem Essen anwesend war, hat sich daran erinnert, dass du mit ihm gesprochen hast.« »Er war doch nur ein alter Mann. Das ist doch reine Zeitverschwendung. « »Mike hat beschlossen, sich den Burschen mal anzusehen. Die
Sache ist zwar weit hergeholt, aber es war die einzige Spur, die sie hatten. Doch in der Nacht, bevor er verhört werden sollte, ist Apple gestorben. Er ist auf dem Allerseelen-Friedhof beigesetzt worden.« »Es hätte sowieso zu nichts geführt. Erstens war der Mann steinalt. Zweitens hätte er mir gar nicht weh tun können. Man hätte ihn umpusten können. Außerdem war er senil. Wenn die Polizei mich danach gefragt hätte, hätte sie sich eine Menge Arbeit ersparen können.« »Keine Fragen mehr, sagt Doktor Gottlieb. Erst wenn du wieder laufen kannst.« »Was hat das denn damit zu tun? Ich kann mich doch sowieso an nichts Wichtiges erinnern.« »Erzähl das Mike. Vielleicht hebt das seine Stimmung. Sein zweites Problem ist: Er hat etwas von einem Journalisten erfahren, doch der ist nun verschwunden. Mike ist davon überzeugt, dass es sich dabei um den gleichen Kult handelt, mit dem auch du zu tun hattest. Es sieht so aus, als hätte er etwas über ihn gewusst.« Patricia ersehnte sich in diesem Moment wirklich die Kraft, ihm zu sagen, er solle sie schnellstens in die Kirche fahren. Die Zeitungen hatten von einem Ritualopfer, von einer kultischen Vergewaltigung gesprochen, und sie hatten es ihrer Fantasie überlassen, sich Kultisten vorzustellen, die mit leerem Blick in allen dunklen Ecken lauerten. Kult. Ein widerliches, dummes Wort. Patricia wäre lieber das Opfer eines verwirrten Einzeltäters gewesen, eines Mannes, der allein gehandelt hatte. Doch ein Kult beschrieb gleich mehrere wahrscheinlich viele Dutzend Leute, die ständig auf der Lauer lagen und darauf warteten, dass sie allein war. Daran wollte sie sich nicht gewöhnen; es war einfach zuviel für sie. Und doch, dachte sie, träume ich, dass irgend etwas sich mir nähert, dass es immer näher kommt, und die Finger um meinen Hals legt; kalte, trockene, würgende Finger. Der Mann, der sie verletzt hatte, hatte auch etwas unternommen, damit sie es vergaß. Irgend etwas Unglaubliches: Der PolizeiHypnotiseur hatte stundenlang an ihr herumgedoktert. >Wenn der körperliche Anschein nicht dafür spräche<, hatte in seinem Bericht gestanden, den Mike ihr gezeigt hatte, >würde ich den Schluss ziehen, dass der Frau nichts passiert ist. < Der Hypnotiseur der Polizei war ein freudloser alter Mann mit einer gedämpften Stimme. Vielleicht sollte sie ihrem Vergewaltiger danken; vielleicht hatte er ihr einen Gefallen getan. Schließlich wollte sie die Sache ja vergessen. Nein, sie wollte sich erinnern an sein Gesicht, an seinen Namen,
an alles, was ihn betraf damit sie Mike helfen konnte, ihn hinter Gitter zu bringen. Aber wenn es ein Kult war, würde Mike nie genug von diesen Leuten schnappen, sosehr er sich auch bemühte. Deswegen fürchtete Patricia sich vor einem Kult Leute dieser Art konnte man nicht stoppen. Sie wollte ein sicheres Leben führen. Ein sicheres, normales und glückliches Leben. Und das war das Traurige. Was wollte sie denn schon? Und dann kamen ihr wieder die Tränen. Sie weinte neuerdings wirklich schnell. Sie rang mit ihren Gefühlen. Jonathan streckte eine Hand aus und berührte ihre Wange. Sie konnte es jetzt nicht ertragen. Sie drehte den Kopf zur Seite. »Ich bin jetzt soweit«, sagte sie und bemühte sich, den Schmerz in seinem Gesicht zu ignorieren. Jonathan schob sie hinein. Als sie näher kamen, wurden die großen Tore geöffnet. Natürlich hatte man sie im Auge behalten. Ungeduldige Leute umringten sie. Jemand brachte ein St.-Josephs-Gebetbuch und hielt es ihr hin. Patricia lächelte in das grinsende Gesicht. »Ich habe ein eigenes«, sagte sie. Das Grinsen wurde breiter, der Mann nickte aufgeregt. Andere Freiwillige fuhren sie weiter. Jonathan ging neben ihr her. O Gott, da ist der Altar, auf dem das meiste von mir gestorben ist. Ich habe solche Angst. Welch ein schwarzer, hässlicher Altar. Warum ist er überhaupt schwarz? Andere Kirchen haben doch auch keine schwarzen Altare. Aber da ist ja auch das Ewige Licht, das rote Licht, das uns sagt, warum dieser Ort wichtig ist; weil er das legendäre Rätsel des heiligen Sakraments enthält. Na komm, Mädchen, unterdrück den wahnsinnigen Drang, aus dem Rollstuhl zu springen und wie ein Soldat wegzurobben, der vom Schlachtfeld fliehen will. Du hast doch gewusst, dass es hart wird hier herzukommen; ja, du hast es gewusst. Jetzt sehnte sie sich nach seiner Berührung und hob die Hand. Jonathan war stets zur Stelle. Ihr Geliebter. Seine warmen, schlanken Finger hielten kurz darauf die ihren. In der Kirche hielten sich eine Menge Cops auf. Sechs oder sieben in Uniform, und fünf weitere drängten sich um Mike Banion und Mary. Patricia erkannte Lieutenant Maxwell, den Experten der Abteilung für Sexualverbrechen, der mit Kranken umgehen konnte wie ein freundlicher alter Arzt. Pater Goodwin stolperte plötzlich aus der Sakristei; ihm folgte ein korpulenter, etwa elfjähriger Junge in einem Chorrock, der ihm mindestens drei Nummern zu klein war. Der Pater hatte
abgenommen; das Messgewand hing an ihm wie eine Hülle. Und dann die Messe. Pater Goodwin war gespenstisch, seine Stimme ein einziges Gezitter. Patricia fragte sich, ob sie das Ritual würde ertragen können. Schon das Wort ließ sie im Rollstuhl zusammenzucken. Ritual. Rituale. Am liebsten hätte sie aufgeschrieen. Sie kämpfte panisch um Selbstbeherrschung. Der Pater fing mit einem Wortgeleier an. Patricias Geist kämpfte gegen das Chaos des Entsetzens, denn der Ort hatte sie erleuchtet. Warum war sie nur so dumm gewesen hier herzukommen? Wir wissen nichts von unseren Gemütsbewegungen, und schon gar nichts von den finsteren, von Terror und Panik. Sie hatte den Eindruck, dass die Heiligen, die über ihr im Dom lauerten, nicht bei Sinnen waren. Sie schaute zu ihren verdrehten, frommen Gesichtern hinauf und sah plötzlich eine weiträumige Kälte, die in ihnen niedergeschrieben war. Heilige sind nicht wegen ihrer Liebe zu Gott heilig. Sie sind heilig, weil sie das Entsetzen des Unbekannten geschaut haben. Das der Hölle. Die Hölle ist kein Feuer; sie ist die Leere; die Leere zwischen den Sternen. Sie konnte sie in ihrer eigenen Seele pfeifen hören. Komm her, Mädchen! Reiß dich zusammen! Du musst dran arbeiten! Sie zwang ihren Verstand zu verbindlichen und ordentlichen Gedanken. Schwester Desperada: »Die heilige Messe ist in vierunddreißig Abschnitte eingeteilt, vom Eingangs-Wechselgesang bis zur Entlassung.« Nein! Ich halte es nicht aus. Ich werde es niemals schaffen, so lange hier zubleiben! »Der Herr sei mit euch.« Eine holperige Reihe von Stimmen: »Und mit deinem Geist.« Patricia wollte weglaufen, sich verstecken, sich in die Tiefen der Erde vergraben und den Boden über sich zuziehen. Sie wollte sich so gut verstecken, bis die einzelnen Atome ihres Körpers sich für alle Zeiten mit der anonymen braunen Erde vermischten. »Brüder und Schwestern, bevor wir die heilige Wandlung abhalten, wollen wir unserer Sünden gedenken.« O ja, meine Sünden. Meine Sünden sind wirklich grauenhaft. Ich sehne mich nach einem lieben Mann, und das ist eine Sünde des zügellosen Verlangens. Ich hätte gern ein hübsches kleines Haus, o Gott, möglichst irgendwo in Riverdale, und ein paar Kinder, die mich brauchen, und einen Ehemann, o Gott, mit dem ich alt werde.
Und auch das sind für mich Sünden des zügellosen Verlangens! Sie spürte kaum, dass sie gegen ihre Brust schlug, und hörte, dass ihre Worte durch das lähmende Schweigen der Kirche ein Echo warfen. »Durch mein Verschulden, durch mein Verschulden, durch mein schlimmstes Verschulden, in Worten und Gedanken, in allem, was ich getan und unterlassen habe ach, das Confiteor ist eine Lüge! Eine Lüge, Gott! Ich habe niemandem etwas getan. Gott, die Hölle hat sich einfach unter meinen Füssen auf getan. Ich bin hineingefallen, und jetzt willst du mich nicht mehr herausziehen!« Die Stille vertiefte sich. »Herr, erweise uns deine Gnade«, sagte der Pater endlich. Seine Hände pausierten über dem Rituale, und Patricia sah, dass er einen endlosen Moment lang die Augen schloss. Jonathans Arm legte sich um sie. Mike Banion schenkte ihr einen fragenden Blick. Seine Stirn war vor Kummer gerunzelt. Mary verbarg das Gesicht in den Händen. Der arme Pater fing an, sich durch die Kyrie zu stottern. »Tut mir leid«, murmelte Patricia. Sie schaute zu Boden. Sie wollte bloß nicht den grauenhaften Altar ansehen. Wie dumm, ihn schwarz zu machen! »Soll ich dich rausbringen?« flüsterte Jonathan. Patricia schüttelte den Kopf. Der Pater sprach das Gloria in einem völlig neuen Tonfall. Er hob den Kopf, hob die Arme und wirkte, als schaue er vom Boden einer Grube auf irgendein über ihm schwebendes Versprechen. »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden den Menschen. Himmlischer König, allmächtiger Gott und Vater, wir beten zu dir, wir danken dir, wir preisen deinen Ruhm.« Sie war ihm nicht gleichgültig. Das galt auch für die anderen. Am liebsten hätte sie geweint. Aber andererseits wollte sie, der Leute wegen, die sie liebten, auch stark sein. Weiter. Die Liturgie des Wortes, heute vom Propheten Daniel. Das Fest der Verklärung. »Ich sah in dieses Gesicht der Nacht, und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten und ward vor ihn gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten.« O Herr, du kommst in himmlischen Wolken, doch ich komme auf quietschenden Rädern und habe das Entsetzen im Herzen. Wie groß ihre Verbitterung war. Es war erbärmlich, sogar Gott gegenüber verbittert zu sein.
Aber Gott hat mir nicht geholfen! Er hat mich auf seinem eigenen Altar vergewaltigen lassen! Als nächstes in der endlosen Litanei der Messe kam die Liturgie der Eucharistie. Mike und Mary brachten die Gaben. Sie wirkten von hinten fast komisch, die elegante Frau mit dem kastanienbraunen Haar und ihr ungelenker Ehemann. Pater Goodwin nahm den Kelch in seine Hände, die so nervös waren, dass der Wein in seinem Inneren schwappte wie das Rote Meer. »Herr, durch die Verklärung deines Sohnes, mache unsere Gaben heilig.« Ob es möglich ist, fragte sie sich, als er Anstalten machte, die Kommunion zu erteilen, dass Gott uns nicht hasst, sondern uns ganz einfach verloren hat? Vielleicht ist die Erde in einen so finsteren Teil des Universums abgetrieben, dass selbst Gott ihre Spur verloren hat. Menschliche Gebete werden hauptsächlich durch das Schweigen Gottes charakterisiert. »Heilig, heilig, heilig, ist der Herr Zebaoth. Alle Lande sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe.« Der Pater schwebte über seinem Kelch und musterte seine winzige Herde in einer Umgebung, die ihm wie ein Meer leerer Bankreihen erscheinen musste. Die Leere des Weltraums. Die Kälte. Ausgenommen, o Gott, für uns. Wir Menschen, wir sind hier. Es ist dein Schweigen, das uns in den Irrsinn treibt! Gott, wie kannst du es wagen, uns das anzutun! Wie kannst du es wagen! Wir verdienen deine Beteiligung. Wir verdienen deinen Respekt. Ja, sogar deine Verehrung! Oder wenigstens deine Hilfe. Bitte. Nur zwei Worte, nur zwei winzige, kleine, heilige Worte. O Gott, sag sie doch. >Ich bin.< Komm, sprich sie aus. >Ich bin.< »Sag es! Sag es, verdammt noch mal!« Der Pater warf ihr einen erschreckten Blick zu und haspelte das nächste Gebet herunter. »Denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit.« »Verzeihung«, murmelte Patricia erneut. Jonathans Arm tat ihrer Schulter allmählich weh. Sie schüttelte ihn ab. »Entbieten wir uns das Zeichen des Friedens.« Hört, hört. Es erfordert wahren Glauben, so etwas mit echter Überzeugung auszusprechen. Als Patricia zusah, wie die Messe weiterging, bildete sie sich ein, in der Brise, die an den alten
Kirchenfenstern rüttelte, eine Stimme zu hören. Du gehörst mir! Mir! Mir! Dann verlor sich die Brise zwischen den saftigen Sommerbäumen. Der Pater nahm eine Hostie und verzehrte sie. Patricia spürte, dass ihr Rollstuhl leicht vibrierte. »Willst du bestimmt nicht gehen?« flüsterte Jonathan. »Nein! Lass uns mit der Kommunion weitermachen.« »Okay.« Er schob sie dem Altar entgegen. Sie würde die Parade anführen, die aus Mike und seinem Gefolge und den üblichen sieben alten Damen bestand, die Pater Goodwins Morgenmesse regelmäßig besuchten. Nimm das Blut. Nimm den Leib. Lasst uns das Mysterium des Glaubens verkünden. Als der Pater auf sie zukam, richtete Patricia den Blick zu Boden und hielt die Hände wie eine Schale hoch. Sie kaute die Weizenhostie, die er ihr gab. Das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war, hatte geglaubt, die Eucharistie sei das große Zentrum des menschlichen Lebens. Die Brise kehrte zurück, viel stärker diesmal; sie schlug gegen die Fenster, ächzte an den Dachrinnen vorbei. »Gott sei gedankt.« Weit oben in der Kirche zerbrach Glas. Die Altarkerzen wurden von einem kräftigen Wind ausgeblasen. Gesichter fuhren herum, schauten nach oben. Doch mehr passierte nicht, wenn man davon absah, dass die Kommunizierten in die drei besetzten Bankreihen zurückschlurften. Dann folgte der Abschluss-Lobgesang. Als der Pater sich wieder umdrehte, wirkte er todtraurig. Patricia fühlte sich bedrückt; sie wollte keine Trauer mehr sehen. Die Welt war schon traurig genug. Auch das hatte sie erkannt. Es war eine traurige Welt. Vielleicht war der Pater ihretwegen traurig, aber der Blick, mit dem er die Bankreihen maß, ließ sie vermuten, dass er in erster Linie um seinen sterbenden Pfarrbezirk trauerte. Diese Messe war möglicherweise die bestbesuchteste seit Monaten. Wie traurig. Vielleicht sollte er es wieder mit Bingo versuchen. Beim letzten Mal hatte es zwar geklappt, aber die Preise waren ein Witz gewesen. Wer wollte schon Preise aus zweiter Hand? Der Tisch mit den Preisen hatte ausgesehen wie ein Wühltisch. Sie hätte beinahe aufgelacht, als ihr einfiel, wie sie die Matrize für die Handzettel des letzten Bingoabends beschriftet hatte. Sie lag so weit zurück, die ahnungslose Mainacht, in der der Rufer in das Meer der leeren Tische hineingerufen hatte. Nur vierzehn
Mitspieler. Jeder hatte mindestens ein Spiel gewonnen. Und drei Leute hatten die Sachen gewonnen, die sie selbst gespendet hatten. Mike stand plötzlich auf und ging zum Altargeländer. Statt in die Sakristei abzubiegen, um sich umzukleiden, gesellte sich der Pater zu ihm. Mike zog einen Umschlag aus der Tasche. »Patricia«, sagte er in die Stille hinein, »ich bin kein Redner.« Er drehte den Umschlag hin und her. »Das hier ist von der Gesellschaft Jesu Christi. Wir haben uns getroffen und den Hut rumgereicht, weil wir dir ein wirklich gutes Geschenk machen wollten. Tja, mach es auf.« Er ließ den Umschlag auf ihren Schoss fallen. Patricia sah ihn an und fragte sich stumpf, was diesmal auf sie zukam. Ich muss dankbar sein. »Nun mach schon, öffne ihn.« Flugzeugtickets. Und ein Brief. Gütiger Gott, man hatte ihr eine Pilgerreise nach Lourdes spendiert. Jetzt wusste sie wirklich nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie saß wie gelähmt da. »Ich bin der Leiter der Pilgerreise«, sagte der Pater. In den Gesichtern, die sie umgaben, war soviel Wärme und Erwartung, dass sie nur noch lächeln konnte. Nur Jonathan sah so niedergeschmettert aus, wie Patricia sich insgeheim fühlte. Lourdes. Gott, bewahre mich davor. Sie schicken ihr Krüppelchen zur Kur. Es war lächerlich, aber auch rührend. »Danke«, sagte sie, so lieb wie sie nur konnte. »Es bedeutet eine Menge für uns beide«, sagte Jonathan in die dichte, nachfolgende Stille hinein. Dann nahm er die Rollstuhlgriffe fest in die Hand und schob sie hinaus. Erst als sie geschützt in einem Taxi saßen und weit genug von der Kirche entfernt waren, tat Patricia das, was sie schon den ganzen Morgen hätte tun sollen, um die Ironie hinter der Traurigkeit und die Bitterkeit hinter dem Entsetzen irgendwie auszudrücken. Sie brach in ein Gelächter aus. Sie hielt die lächerlichen Tickets in der Hand, die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie lachte und lachte. Jonathan bekam es mit der Angst. Er schrie, sie solle damit aufhören, aber das ließ sie nur noch heftiger lachen. Er packte ihre Schultern und zog sie an sich. Doch selbst dann dauerte es noch sehr lange, bis das Lachen, das ihr so weh tat, dass es kaum auszuhalten war, endlich erstarb.
10. Kapitel Patricias Gelächter führte dazu, dass es Jonathan kälter über den Rücken lief als je zuvor. Es war eine heisere, keuchende Qual. Dass ihr Lachen ohne jeden Humor war, machte die Sache nur noch schlimmer. Jonathan konnte es nicht aushalten, ihr zuzuhören; am liebsten hätte er sie mit einem Schrei zum Verstummen gebracht. Aber dazu war er nicht fähig. Statt dessen umarmte er sie, bis ihr Lachen zu einem Ächzen und schließlich zu leisem Atmen wurde. Sie mussten zu Tommy Farrells Backroom fahren, wegen des Frühstücks mit der Gesellschaft Jesu Christi. Das Cafe Trianon konnten sie vergessen. »Ich fahre nicht nach Lourdes«, sagte Patricia. Sie wedelte mit dem Einladungsschreiben, das sie zusammen mit den Flugtickets bekommen hatte. Plötzlich drückte sie ihre Lippen auf die seinen und gab ihm einen festen, überraschend heftigen Kuss. Etwas Liebreizendes war an ihm, denn er war voller plötzlicher, unschuldiger Leidenschaft. »Lass uns einen Umweg machen«, sagte Patricia. »Fahren wir zu meiner Wohnung.« »Wir sind doch eingeladen.« »Dann sollen sie eine halbe Stunde warten! Fahrer, wir wollen zur Metropolitan Avenue 1200!« Jonathan protestierte nicht. Nicht nur deswegen, weil er sie liebte, er wollte mit ihr allein sein, wenn sie sich dann wohler fühlte. Sie war in der Kirche der Hysterie nahe gewesen. Patricia küsste ihn erneut, und als er die Sanftheit des Kusses spürte, breitete sich in ihm große Freude aus. Was auch passiert, wir haben uns. Nichts kann unsere Liebe je vernichten. »Wir haben uns, Liebling.« »Ja, Jonathan.« Er hatte das Wort auch schon anders ausgesprochen gehört. Jaaa. Er sah ihr tief in die Augen. Dort flackerte das Entsetzen, das Leid, und etwas höchst Eigenartiges und Kaltes. Die bitterliche Angst in der Kirche. Der erste feste Kuss. Wie gesund war ihre Psyche noch? Ihre wachsende Gemütsruhe war ihm jetzt nicht ganz geheuer. Er vermutete, dass er ihr in seinem Labor sehr wahrscheinlich helfen konnte. Wenn er an den
Kontrollen der Instrumente saß, gab es keinen Grund mehr, das uneinschätzbare 6-6-6 einzusetzen. Wenn er herausfand, was er am damaligen Abend vergessen hatte, war sie vielleicht zugänglicher. Zumindest brauchte sie dann nicht mehr das Unbekannte zu fürchten. Jonathan sah sie an, sein Herz schlug voller Liebe. Wenn ich es doch war. Wenn ich es doch war! Er brachte das Thema Labor nicht sofort zur Sprache. Vielmehr wartete er, bis sie in der Wohnung waren. Sie lagen, immer noch voll angezogen, friedlich zusammen auf ihrem Bett. »Ich könnte herauskriegen, was du vor dir verheimlichst«, murmelte er. »Ach.« »In meinem Labor. Ich glaube, ich könnte es wirklich.« »Red jetzt nicht davon. Wenn der Polizei-Hypnotiseur schon nichts...« »Das war doch ein Primitiv-Verfahren.« »Ich dachte, du hättest im Sommer nichts an der Uni zu tun.« »Ich kann das Labor immer benutzen. Die Ausrüstung steht doch da rum.« »Wenn ich einverstanden bin.« »Und da gibt's keine große Chance, was?« »Ach, komm, Jonathan! Ich bin mehr als einverstanden. Ich werde beim Frühstück auch quietschvergnügt lächeln. Ich gehe auch demütig nach Lourdes. Aber glaub nicht, ich lasse dich meinen Kopf untersuchen. Vielleicht tu ich's aber doch.« »Gut. Wir können heute nachmittag hinfahren.« »Nein, Liebling, bitte. Ich glaube nicht, dass ich die Kraft dazu habe.« »Okay, das kann ich verstehen.« »Aber du bist enttäuscht.« »Ich glaube, wenn ich dich dazu bringen könnte, dass du dich an das erinnerst, was passiert ist, brauchtest du vielleicht nicht mehr so zu leiden. Die Angst vor dem Unbekannten ist das allerschlimmste.« »Kann sein.« »Was meinst du damit, kann sein? Was könnte schlimmer sein?« Sie nahm seine Hände. »Das Bekannte«, flüsterte sie. »Das Bekannte ist stets schlimmer.« Sie rollte sich über das Bett und streichelte sein Gesicht. »Ein Teil des Problems besteht darin, dass die Leute sich zuviel Mühe machen, mir zu helfen. Schon im
Krankenhaus haben sie mich so mit Röntgenstrahlen beschossen, dass ich fast die Laken versengt hätte, wenn sie mich wieder zu Bett brachten. Deine Maschine ist jedenfalls irrelevant. Man hat auch einen CATScanner auf mich angesetzt, und das ist nun mal der definitive Hirntest.« »Ich röntge nicht. Ich erzeuge ein Modell elektrischer Hirnfunktionen. Mich interessiert nicht die Frage, ob es auf irgendeine unterschwellige Weise beschädigt ist, sondern aus welchem Teil welche Gedanken kommen. Ich kann unterscheiden, ob das, woran du dich erinnerst, ein Traum, die Wirklichkeit oder gar eine Lüge ist. Glaub mir, dazu ist kein Krankenhaus imstande. Und die Methode ist sicher, solange man nicht mit Drogen herumkaspert. Ich kann besser zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden als jeder Lügendetektor. Viel besser.« »Ich lüge nicht. Ich kann mich nur nicht erinnern.« »Aber da sind Bruchstücke. Kleine Erinnerungsfetzen.« »Ich erinnere mich an Leute, die rufen. Ich erinnere mich daran, dass ich hochgehoben wurde. Und an Dunkelheit. An eine absolute, schwarze Dunkelheit.« »Ich wette, wir könnten aus diesen wenigen Eindrücken eine Menge rekonstruieren.« »Weißt du genau, dass du das willst?« »Guter Gott, natürlich weiß ich es genau!« Sie lachte wieder ihr messerscharfes Lachen. »Ihr verrückten Wissenschaftler schreckt wirklich vor nichts zurück, wenn ihr ein Versuchskaninchen überzeugen wollt. Gleich wirst du mir bestimmt erzählen, du kannst auch meine Beine wieder gesundmachen.« »Das werde ich nicht sagen. Aber ich kann sagen, dass es nicht unmöglich ist. Wenn ich herauskriegen könnte, was mit dir nicht stimmt...« »Nichts stimmt nicht! Ach, Teufel, Jonathan, Mike und die Gesellschaft Jesu Christi haben recht. Ich muss die Sache jetzt mit der Jungfrau Maria ausmachen. Lourdes ist möglicherweise der Ort, an den ich hingehöre.« »Dann beanspruche ich die gleiche Zeit für die Wissenschaft. Lass mich eine Kartei deiner Gedanken anlegen.« Patricia runzelte die Stirn. Dann lächelte sie. »Ich hab' doch gesagt, dass ich nachgebe. Irgendeines Tages. Aber vor dir in der Reihe stehen noch eine Menge anderer guter Samariter.« Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen. »Frühstück bei der Gesellschaft Jesu Christi! Ich bin gleich da! Wunderbar! Gummieier? Ich bin ganz wild darauf!«
Es tat ihm schrecklich weh, ihre Pein zu hören. Jonathan nahm sie in die Arme, und für eine Weile weinten sie. Schließlich sagte er: »Es ist ein schöner Morgen, Liebling. Lass uns das Beste daraus machen.« »Ich glaube, das ist eine wunderbare Idee, Jonathan.« Patricia klammerte sich an ihn. Er küsste sie. »Ich liebe dich, Patricia. Ich möchte mit dir schlafen.« Beim Klang seiner Worte fing sein Herz an, lauter zu schlagen. Jonathan staunte über sich selbst und über die verblüffende Intensität des Triebes, der sich in ihm regte, sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren. »Möchtest du nicht pünktlich beim Frühstück sein?« Ihre Augen glitzerten tatsächlich. »Zum Teufel mit dem Frühstück.« Jonathan machte einen weiteren Versuch, ihre Lippen zu küssen, doch diesmal erwischte er ihre Wange. »Mike wird's dir übel nehmen, wenn ich nicht aufkreuze.« »Mit Mike werde ich schon fertig.« »Bestimmt?« »Liebling, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich meine, kannst du schon wieder, ohne dass...« »Es müsste eigentlich gehen«, flüsterte Patricia, »wenn du es sanft machst.« Einen solchen Moment hatte es schon einmal gegeben, in diesem Schlafzimmer. Sie hatten sich gerade auf der gleichen gelben Tagesdecke umarmt, als... Die Angst fuhr in seine Kehle, schnürte sie ein, ließ sie so trocken werden wie Asche. Aber Patricia nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn an. »Eines Tages müssen wir es ja doch, Jonathan.« Er wagte es nicht, seine Angst zu artikulieren, wenn die ihre sie so quälte. Er umarmte sie. Vielleicht hatte sie seine Angst aber auch gespürt, denn nun sprach sie in einem beruhigenden Tonfall. »Es wird herrlich sein, Liebling. Genieße es. Mach dir keine Sorgen. Der Arzt hat gesagt, ich könnte alles machen, was ich will.« Sie machte seinen Gürtel auf und öffnete seinen Reißverschluss. Durch den herrlichen Film seiner Erregung spürte er etwas Finsteres und Glattes, das für sie beide gefährlich war. Die Schlange war solchen Dingen gegenüber empfänglich; die Schlange konnte Leidenschaft riechen.
Patricia ließ ihre Hand über seinem Penisschaft schweben und fing an, ihn zu streicheln. »Oh, er fühlt sich fast wie Seide an.« Sie berührte seine glänzende Spitze. »Ich dachte, es wäre wie ein Knochen oder so was.« Die Schlange in Jonathan rollte sich auseinander. War Liebe auch Tod? Bin ich der Tod? Nein. Und wessen Ängste rannten dann mit ihm weg? Du bist ein ganz normaler Mensch. Deine ganz normale Liebe ist nicht tödlich. Er hätte ihr die Kehle mit den Zähnen aufreißen können. Patricia sah ihn an. »Du bist wie ein Engel mit den Genitalien eines Gorillas.« Sie kicherte. Jonathan musterte sie durch einen Nebel aus Lust und zunehmendem Grauen. Mit zitternden Händen langte er um ihren Hals und knöpfte ihre Bluse auf. Dann kam der Büstenhalter, dann der Rock und das Höschen. Ihr Leib war perfekt, so üppig und jung, dass es ihm fast den Atem verschlug; er leuchtete im weichen Licht des Schlafzimmers. Sie hatte nur eine kleine, hellrote Narbe, die vom Venushügel halb zum Nabel hinaufreichte. »Jetzt hast du den Defekt gesehen.« »Ich glaube, du bist das schönste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe.« Er berührte ihre vollen, schönen Brüste. Er empfand die reinste Ehrfurcht. »Macht dir die Narbe nichts aus? Oh, sag, dass sie dir nichts ausmacht!« Statt einer Antwort zog er sich ganz aus, spreizte ihre Beine, beugte sich vor und küsste abwechselnd ihre Brüste. Er schmeckte ihre leicht salzige Haut und berührte ihre Brustwarzen mit der Zunge, bis sie voll erigiert waren. In seinem Inneren glitt die Schlange schnell weiter; sie schlängelte die Windungen ihres Hasses auf seinen Geist zu und übernahm ihn Schritt für Schritt. Jonathan langte nach unten, und Patricia nahm seinen Penis erneut und führte ihn ein. Das Gefühl war überwältigend. Einen Moment lang sank er einfach auf sie nieder und war unfähig, sich zu rühren. Es war, als wäre seine ganze untere Körperhälfte ein flammender Komet aus purer Erregung. Dann öffnete die Schlange in seinem Geist eine Tür. Jonathan schaute sich mit anderen Augen um. Er sah die sich bauschenden Vorhänge, den leicht geöffneten Einbauschrank, das strahlende, lüsterne Gesicht unter seinem eigenen. Er stieß zu. »Autsch. Zu stürmisch.« »Verzeihung.« Seine Stimme war ein Knurren. Er hatte Angst. Er
hatte sogar noch fester zustoßen wollen. Er sah, wie die Narbe sich wieder öffnete, aber diesmal weiter. Er wollte lachen, wollte ein brüllendes, höhnisches Gelächter ausstoßen. »Ah. Oh. Jonathan, so geht es nicht.« Er stieß erneut zu. »He, ich bin empfindlich. Sachte, sachte.« Die Lust aus Patricias Gesicht war verschwunden. Besorgnis hatte sie ersetzt. Sie hatte Tränen in den Augen. Jonathan rang mit sich selbst, wehrte den nächsten, noch wüsteren Stoss mit aller Kraft ab, die er hatte. Schließlich, seine wilden Instinkte zitternd bekämpfend, machte er sich frei. Schweigen senkte sich zwischen ihnen herab. Dann lächelte Patricia, langsam und tapfer. »Es ist wohl noch etwas zu früh für die schwierigen Sachen, Liebling. Aber wenn du willst, würde ich gern etwas tun, das ich mir immer in der Fantasie ausgemalt habe. In Ordnung?« Jonathan schaffte es, zu reden. »Vielleicht blasen wir es besser ab. Und warten noch etwas damit.« »Es gibt noch etwas, was ich tun könnte... Ach, ich bin sogar so blöd, dass ich mich nicht mal traue, es zu sagen!« Patricia schluckte. »Pass auf, jetzt sag ich's.« Sie wandte sich zu ihm um und drückte die Lippen auf sein Ohr. »Soixanteneuf.« »Was?« »Kennst du doch. Neunundsechzig.« Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ohne ein weiteres Wort und darum betend, dass sein Dämon kleinere Schlafzimmervergehen ignorierte, kniete Jonathan sich über sie und beugte sich nach unten. Als seine Lippen über ihre ziemlich feuchte und herb duftende Vagina fuhren, spürte er, wie Patricia seinen Penis nahm. Er stieß leicht zu und hörte sie keuchen. Er wusste, selbst darin lag eine schreckliche Gefahr. Die Schlange war nun voll erwacht, sie kroch in seinem Bewusstsein umher und suchte Zugang zu seinem äußeren Wesen. Sie schmeckte wunderbar. Er hatte nicht gewusst, dass ein solcher Duft existierte. Seine bisherigen sexuellen Kontakte hatten sich auf die hektischen Paarungen von Heranwachsenden beschränkt. Patricia lutschte und leckte ihn und brachte ihn rasch zum Abschluss. Doch die Schlange war schnell. Sie würde herauskommen, er wusste es. Welche Wut er spürte, welches Frohlocken. Plötzlich bog sich ihr Rücken, und der Rhythmus ihrer Anstrengungen wurde unterbrochen. Dann packten ihre Finger seine Hinterbacken,
suchten instinktiv die dortige intime Zone. Das reichte ihm. Er explodierte einfach in ihren Mund. Ihr Kopf zuckte hin und her, und dann, eine Sekunde später, trennte sie sich von ihm. Sie lachte laut. »Tut mir leid. Ich hoffe, ich habe dich nicht...« »Du warst herrlich.« Ja. Ich war herrlich. Noch eine Sekunde, und ich wäre unglaublich widerwärtig geworden. Du armes, irregeführtes Mädchen. Pass auf, wen du liebst.
11. Kapitel Farrells Backroom erzeugte mit den roten Vinylkojen, der FormicaBar und dem Geruch von sonntäglichen Eiern mit Speck in Jonathan das Gefühl, sich an einem friedlichen Ort aufzuhalten. Im letzten Augenblick seiner Lust hatte er etwas in seinem Inneren gesehen, das so finster und fremd gewesen war, dass es ihm kaum menschlich erschien. Er konnte nur hoffen, dass die Schlange eine Nachwirkung der Droge war, die er genommen hatte, und dass sie mit der Zeit verschwinden würde. Er hatte wild zustoßen wollen. Und genau das, auf die Ebene beinahe übermenschlicher Brutalität erhoben, war es gewesen, was Patricias schlimmste Verletzungen hervorgerufen hatte. Übermenschliche Brutalität. Tommy öffnete ihnen persönlich die Tür zu seinem berühmten Hinterzimmer. Jonathan schob Patricia hinein. Innerlich war er verzweifelt. Wie konnte er es wagen, sie zu lieben? Wie konnte er sich dagegen wehren? Jetzt, wo er das wahre Wunder ihrer Schönheit gesehen und ihr geheimes Aroma geschmeckt hatte, erschien sie ihm wie eine Göttin, als sei sie von magischem Licht umgeben. Würde er eine Göttin töten? Er hatte sich unlängst in die Fantasie eines anderen Lebens zurückgezogen, das sich sehr von dem hier unterschied. Sie teilten es in Frieden, Privatsphäre und Liebe. Ich möchte sie haben. Sogar der Rollstuhl ist mir egal. Ich möchte sie so gern haben. Das Abbild der Schlange: Der Schatten in der Tiefe stieg auf, um sich nach oben zu bewegen. Seine Fantasie bestand aus einem Haus an der mexikanischen
Pazifikküste nicht in Puerto Vallarta oder einer der anderen Touristenfallen, sondern es lag in einem exotischen, verborgenen Dorf, in dem man eine alte Villa mieten konnte. Dann hätten sie einen Pool, von dem aus man den Pazifik sah, und vom Rand des Pools konnte man im nahen Wasser Jachten und Segelboote sehen, vielleicht auch einen Kreuzer, der am Horizont funkelte. Jonathans Traum kehrte stets wieder. Er wusste, was sie dort tun würden. Patricia würde sich an der Sonne und er sich am Sex erfreuen. Er stellte sich vor, dass sie wenigstens drei oder viermal am Tag miteinander schlafen konnten. Patricia würde ihn lachend fragen, ob er denn überhaupt nicht müde wurde. Sie würden sich eine Weile von der Sonne braten lassen und dann in den klimatisierten Schlafraum gehen, um sich zu lieben, und ihre Haut würde nach Sonne und Kokosöl schmecken, und hinterher gingen sie vielleicht am Pool einen trinken... Keine besonders ausgefallene Fantasie. So was erträumte sich jeder Durchschnittsbürger. Schlangen nicht. Die Realität des Raumes, den sie gerade betreten hatten, ließ Jonathans Fantasie platzen. Farrells Backroom war dagegen ein hell erleuchtetes Tollhaus. An einer Wand befand sich die mit nach Holzmaser aussehenden Schrankpapier bedeckte Theke. Hinter ihr hing ein gewaltiger Spiegel, den die blau fluoreszierenden Röhren voll ausleuchteten, in seiner Mitte war das rote Farrell-Signum. Die Decke wurde von weiteren blauen Röhren beleuchtet, und auch die Spiegel an den Wänden, die sie umgaben. Jonathan sah runde Tische mit schwarzen Decken, auf denen rote Servietten lagen, und ein Podium, das dem Heiligen, der zur Unterdrückung schlechter Musik zuständig war, sei Dank völlig leer war, sah man von dem großen roten fluoreszierenden F an der Wand dahinter ab. Der Raum machte Sssst! Sssst! Sssst!, und die graugrünen Gespenster, die Mike und Mary und ihre Freunde waren, sahen aus, als hätte Schleim ihr Blut ersetzt. Mike wandte sich um, maß Jonathan mit einem Blick, der >Na schön, ich weiß, dass es Schwachsinn ist< sagte, und wandte sich dann wieder dem Gespräch zu, das er mit Mary und Lieutenant Maxwell führte. »Du hast wohl noch nie das Vergnügen gehabt, hier zu sein«, sagte Patricia ätzend. »Ist es nicht schön, was die Beleuchtung aus dem Make-up macht?« Die Frauen sahen aus, als trügen sie Wachsmasken. Ihre Augen waren glitzernde Löcher. »Wann warst du denn hier?«
»Die Bank hatte Freitag eine Feier. Als ich wieder zur Arbeit gegangen bin, weiß du noch?« Ihre Stimme war trocken. »Eine Feier? Wie rührend.« »Wirklich.« Ein Kellner machte Anstalten, Tabletts mit Wärmplatten-Eiern und Würstchen auszulegen. Mike kam nach vorn, beugte sich über Patricia und küsste ihre Stirn. »Schatz, ich hoffe, die Lourdes-Geschichte hat dich nicht allzu sehr verärgert. Ich weiß ja, dass es... wie heißt es doch gleich...« Jonathan half ihm aus. »Kitschig.« »Na, das ist es bestimmt nicht. Na ja, jedenfalls ist es wohl Krampf, aber Mary hat mir den Vorschlag gemacht. Sie und Maxwell haben die Sache dann irgendwie ins Rollen gebracht, und plötzlich... Tja, dann lief sie einfach vor sich hin. Ich habe zwar mal Miami Beach vorgeschlagen, aber da hat mir schon keiner mehr zugehört.« »He, Pater«, rief Lieutenant Maxwell der schweigenden, beobachtenden Gestalt Harry Goodwins zu, »wie war's, wenn Sie uns den Segen erteilen, damit wir anfangen können zu spachteln?« Der Pater machte das Kreuzzeichen. »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Der katholische Anstand war wenigstens schnell. »Bleibt da, wo ihr seid«, sagte Mike zu Patricia und Jonathan. »Ich hole eure Teller. Ich nehme an, dass ihr nach der harten Arbeit von heute morgen fast verhungert seid. Ich werde euch ordentlich was auflegen.« »Er hat gemerkt, dass wir uns verspätet haben«, sagte Patricia. »Nun, in einem hat er zumindest recht: Ich habe wirklich Hunger.« Patricia drückte seine Hand. Mike kam zurück und stellte die Teller auf ihrem Tisch ab. Sie drei schienen innerhalb der kleinen Gruppe eine eigene Einheit zu bilden. Mary verbrachte die Zeit mit Pater Goodwin; Lieutenant Maxwell und Dr. Gottlieb saßen zusammen in der Nähe des leeren Podiums. Jonathan fühlte sich wohl in der Gesellschaft von Patricia und Mike. Zu dritt waren sie ausgeglichen. Jonathan musterte Mike. Er war zwar nur ein gewöhnlicher, zerknitterte Cop, aber er wirkte nur so lange zäh, bis man in seine Augen sah. Dann war man schockiert. Denn sein Blick zeigte ein äußerst sensibles menschliches Wesen, wie man ihm wahrscheinlich
nicht oft begegnete. Natürlich war er kein Heiliger. Tatsächlich konnte er manchmal auch ein Schwein sein. Mike mangelte es völlig an Zwischenstufen. Für ihn war man entweder ein Mensch, der nichts Böses tun konnte, oder eine Kreuzung zwischen einer Kanalratte und einem Zigarrenstummel. Doch wenn er jemanden gut leiden konnte, brachte er sich für ihn um. So wie für Jonathan, und nun auch für Patricia. Jonathans Blick wanderte zu ihr hinüber; sie saß steif in ihrem Rollstuhl und hatte ein Partylächeln auf dem Gesicht. Niemand hätte erraten können, was sie noch vor einer halben Stunde getan hatte. Ein oder zweimal, gleich nachdem er von der Lähmung erfahren hatte, war Jonathan mitten in der Nacht aufgewacht und hatte sich gefragt, wie es wohl mit ihr werden würde. Er hatte sich gefragt, ob sie unter Umständen völlig zerstört war. »Ich möchte gern, dass ihr nach dem Frühstück abhaut und zu mir ins Büro kommt«, sagte Mike. »Ich muss euch etwas erzählen.« Er flüsterte es Jonathan zu, als sei er der Vater eines empfindlichen Kindes. »Geht es um den Fall?« erwiderte Jonathan. »Yeah.« »Sie ist noch nicht dazu bereit.« »Das haben deine Mutter und Gottlieb auch gesagt. Und Max auch.« »Was flüstert ihr da?« fragte Patricia. »Ich habe eine Spur. Ich muss mit euch darüber reden. In meinem Büro.« Patricia verzehrte vornehm ihren Toast; sie hielt die Beine gespreizt und hatte wegen der Krümel eine Serviette auf dem Schoss. »Sieh es so, Mike«, sagte sie. »Mich kann nichts mehr umwerfen, weil es mich schon umgeworfen hat. Du kannst mir also unbesorgt alles erzählen.« Mike streckte die Hände nach ihr aus, als sei sie im Begriff, aus dem Rollstuhl zu fallen. Dann hielten sie inne und schwebten über dem Tisch. »Wir haben etwas, das unter Umständen eine heiße Spur sein kann. Und ein Problem. Ich möchte, dass du von Anfang an weißt, dass es dich aus der Fassung bringen wird.« Mary Banion schaute zu ihnen hinüber. Sie trennte sich von Pater Goodwin und kam an ihren Tisch. »Der Pater möchte unsere Pilgerin jetzt segnen, Mike«, sagte sie so laut, dass jeder im Raum es hören konnte. Pater Goodwin errötete und taumelte hoch. Er fiel fast immer über die eigenen Beine, wenn Jonathans Mutter ihm ihre
Aufmerksamkeit schenkte. Es amüsierte Jonathan, wenn er sah, wie der Mann rot wurde. Wenn sie beiläufig sein Handgelenk berührte was sie oft tat, wenn sie mit jemandem sprach -, folgte sein Blick ihren Fingern mit offener Begierde. In seinen Tagträumen war es bestimmt nicht sein Handgelenk, das sie berührte. Pater Goodwin trat in den Mittelpunkt des Raumes und sah Patricia an. Seine Wangen waren gerötet. Die Beleuchtung ließ seine Haut malvenfarben wirken. »Ich segne dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Geh in Frieden. Und möge deine Reise an den heiligen Ort der Gottes und Heilkraft durch die Fürbitte des gesegneten heiligen Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden, leicht für dich werden.« »Patricia, ich möchte dir auch meinen persönlichen Segen geben«, sagte Mike. »Und damit du dort drüben Hilfe hast, dachte ich, du brauchst vielleicht jemanden, der Französisch spricht. Deswegen fahre ich auch mit.« »Die ganze Familie fährt mit«, fügte Mary schnell hinzu. »Wir reisen am 14. August ab«, sagte der Pater. »Bis jetzt sind wir fünfundfünfzig Pilger; gesegnet seien ihre Seelen.« Die Kranken, die Frommen, die Verrückten. »Vielleicht interessieren Sie sich für die Geschichte der Pilgerreisen«, fuhr der Pater fort. »Ich habe dieses Material gestern von der Kanzlei bekommen.« Er verteilte eine Broschüre mit dem Titel Pilgerfahrten aus Queens County zum Schrein Unserer Lieben Frau von Lourdes<. Siebenundfünfzig aufeinanderfolgende Jahre, die Kriegszeit ausgenommen. Ältester Pilger: Miss Mae Ptzskowski, vierundneunzig; sie reiste seit achtzehn Jahren. Gesponsert von der Diözese. Organisiert vom Katholischen Reisebüro, gegründet 1947. Bequeme SkySaver Airlines-Maschinen mit Einrichtungen für DIE KRANKEN (Hervorhebung von den Herausgebern der Broschüre). Gesamtpreis inklusive Gepäck, einschließlich aller Transfers, Unterkünfte und Gott, steh uns bei Mahlzeiten. Sonderverpflegung nach Vereinbarung. Fünf Tage und vier Nächte in der idyllischen, heiligen Stadt Lourdes, einer der malerischsten des Pyrenäengebiets. Unterbringung im Erster-Klasse-Hotel Gethsemane (kurzer Fußweg zur Grotte).
Preis: $ 999,95. Als Jonathan die überraschende Begierde sah, mit der Patricia die Broschüre in Augenschein nahm, empfand er unwillkommenes stechendes Mitleid für sie. Sobald der Pater fertig war, fand das allgemeine Verabschiedungsgerede statt. Mike blieb bei Patricia und Jonathan. Maxwell gesellte sich zu ihnen. Jonathans letzter Eindruck des Raumes bestand aus dem Gesicht seiner Mutter, die besorgt zusah, wie die kleine Gruppierung sich davonmachte. Nach Farrells Backroom wirkte das Sonnenlicht unnatürlich intensiv. »Diesmal geht's ohne Taxi, Kinder. Wir nehmen meinen Wagen.« »Eine Fahrt in dem Ding kommt ungefähr auf das gleiche raus wie das Rauchen von zwei Zigarren, Dad. Glaubst du, dass sie es aushaken kann?« »Verliebe dich nie in eine Frau, die keine Zigarren leiden kann. Ratschlag eines Drangsalierten.« Patricia manövrierte sich mit einer deutlich neuen Gewandtheit selbst aus dem Stuhl und auf den Rücksitz. »Ich habe auf dem Weg zur Arbeit geübt«, sagte sie. »Es dauert nicht mehr lange, dann kann ich auch die Tür aufmachen, den Stuhl zusammenklappen und ihn hinter mir reinziehen.« »Und dann dem Taxifahrer noch ein Trinkgeld geben, was? Die Burschen könnten ruhig etwas hilfreicher sein.« »Man lernt es, jedem Fahrer ein Trinkgeld zu geben, der einen mitnimmt. Taxifahrer halten sowohl bei besoffenen Killern, die das rauchende Schießeisen noch in der Hand halten, als auch bei Gelähmten. Allerdings in dieser Reihenfolge.« Mike schlug mit den Handballen auf das Lenkrad ein. »Besorge mir nur die Nummer dieser abgewichsten Typen, und ich schwöre dir, keiner von denen ich wiederhole: keiner wird auch nur einen weiteren Tag in dieser Stadt Taxi fahren! Ich lass den Säcken so schnell die Lizenz entziehen, dass...« »Ich mag dich auch, Mike«, sagte Patricia schnell. Sie schob den Arm, soweit sie konnte, nach vorn und berührte seine Schulter. »Aber den Säcken geht es eh schon schlecht genug.« Jonathan hätte seinen Stiefvater küssen können. Er war wirklich ein treuer Kerl. Unterwegs zum Gebäude des 112. Reviers wurden keine weiteren Worte mehr gewechselt. Mike klemmte sich zwar eine Zigarre ins Gesicht, aber er zündete sie erst an, als sie in seiner Lieblings-
Parkverbotszone angekommen waren. Jonathan holte Patricia aus dem Wagen, während Mike unsicher danebenstand, da er nicht wusste, wie er helfen sollte. Als Jonathan Patricia vor sich herschob, fielen ihm die hässlichen Plattenkorridore mit den grellen Deckenleuchten auf, die hinter Drahtkäfigen verborgen waren. Er fragte sich, ob er je so schuldig sein könnte, um als offizieller Besucher hier zu landen. Im Revier herrschte ziemlicher Lärm. Die nachmitternächtliche Stille der Polygraphensitzung schien tausend Jahre zurückzuliegen. Doch Jonathan erinnerte sich an das bedrohlich knirschende Geräusch des Aufzugs. Irgendeine Art Realität erwartete ihn in den Mysterien dieses Ortes. Vielleicht würde ihn irgendeines Tages ein niedergeschmetterter Mike Banion hier einbuchten. Lieutenant Maxwell und seine Assistentin hielten sich bereits in Mikes Büro auf. Sie zogen gerade Papiere aus ihren Aktentaschen, als Mary Banion aufkreuzte. Mikes Augen weiteten sich; er kaute an seinem Stummel. »Hallo, Schatz«, sagte er. »Du brauchst nicht dabei zu sein.« »Lieutenant?« »Ich habe sie gebeten, Mike. Ich dachte, Sie...« »Macht nichts. Schön, dass du da bist, Liebling. Lasst uns alle Platz nehmen. Wir haben jetzt, dank Max und Sarge, eine wirklich offizielle Schilderung.« Sarge? Sergeant. So nannte er offenbar Maxwells feingliedrige Assistentin. Doch irgendwie passte der Name zu ihr. Sie wirkte zwar feminin, sah aber nicht so aus, als ließe sie mit sich Spaßen. »Wir wollen's schnell machen, Kinder«, sagte Maxwell mit seiner volltönenden Stimme. Allem Anschein nach hatte man ihn als Redner ausersehen er war Mikes neuer Musterpolizist, genau die Art Cop, den er Jonathan gern vorführte. Man wünschte sich, etwas Vernunft in Mike hineinzurütteln. Man wünschte sich, ihn zu umarmen. Jonathan hätte gern gewusst, wie man ihn bat, die Schilderung selbst vorzunehmen. Aber wie konnte man es ausdrücken, dass sie es lieber von ihm gehört hätten, weil sie ihm vertrauten und ihn mehr respektierten als jeden seiner Unterlinge von Rang? Patricias Hand glitt in die Jonathans. Die Geste hätte auch aus gesprochenen Worten bestehen können, so klar war ihre Bedeutung: Was sie uns auch erzählen, wir sind jetzt eins. Wir sind eins. In diesem Moment entschloss sich Jonathan, sie um ihre Hand zu bitten. Er pfiff auf die Konsequenzen. Wenn er eine Psychotherapie
brauchte, würde er sie machen. Sie würden zusammen leben. Dazu hatten sie ein Recht. »Wir glauben, dass wir den Mann identifiziert haben, der für das verantwortlich ist, was am Abend des 16. Juni passierte.« Der Lieutenant händigte Patricia die zusammengesetzte Zeichnung eines lächerlich alten Mannes aus. »Erkennen Sie ihn wieder?» »Er war beim Gemeindeessen dabei.« Also das war es wieder. Nichts Neues, nichts Neues. »Er war der Mann, der Sie beim Rentneressen eine Woche vor dem Zwischenfall ansprach. Sein Name scheint Franklin Apple zu sein. Wir wissen es nicht genau.« Jonathans Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte so stark das Gefühl, dass sich jemand hinter seinem Rücken an ihn heranschlich, dass er mit Gewalt den Drang unterdrücken musste, sich umzudrehen. Dann wurde ihm klar, warum: Der komische Alte, den er gestern im Labor gesehen hatte, sah ihm ähnlich. »Er ist an dem Tag gestorben, an dem wir ihn verhören wollten.« Jonathan war erleichtert. »Wir nehmen an, dass er der örtliche Leiter einer großen religiösen Organisation war wir nennen sie so, weil wir noch keine bessere Bezeichnung gefunden haben -, die seit mehreren Jahren im geheimen aktiv ist.« Jonathan legte eine Hand auf Patricias Schulter. Er spürte, wie sie zitterte. Aber er hatte auch das Gefühl, dass es richtig war, dass sie hier saß; ebenso wie es richtig gewesen war, in die Kirche zu gehen. Patricia musste sich diesen Dingen stellen. Weil dies das einzige Mittel zur Rückkehr in eine geistige Stabilität war und die Chance, dass sie miteinander glücklich wurden. Mike stellte Jonathan eine Frage mit den Augen. Jonathan nickte. »Machen Sie weiter, Max«, sagte Mike. »Wir haben uns bemüht, eine Art Muster hinter allen Fällen von Vergewaltigungen in Kirchen zu suchen im Bezirk, in der Stadt, im Staat, im ganzen Land. Nichts. Ihr Fall ist alles andere als einmalig. Doch was wir herausgefunden haben, ist das: Es werden mehr katholische Geistliche vermisst oder sind gewaltsam ums Leben gekommen, als wir vermutet haben. Vierzehn in den letzten zwölf Jahren.« »Ich sehe da keine Verbindung.« Patricias Stimme war zwar leise, aber Jonathan hörte die Angst, die in ihr mitschwang. »Zugegeben, sie ist gering. Aber ein aktueller Fall trägt zu dem Muster bei. Ein Bruder Alexander Parker vom Judas-Orden ist tot
aufgefunden worden. Äußerlich sieht alles nach einem Unfalltod aus. Er hatte eine Wohnung gegenüber der Heiligen-Geist-Kirche und starb an dem Morgen, nachdem die Sache mit Ihnen passierte. Zwei Dinge daran sind eigenartig. Erstens: Er lebte inkognito. Wir haben erst erfahren, dass er ein Geistlicher war, als wir seine Mutter verhörten. Zweitens: Er hatte einen Journalisten in sein Vertrauen gezogen.« »Der Journalist hat mir von einem Kult erzählt«, fügte Mike hinzu. »Dein Mr. Apple passt zu der Beschreibung des Mannes, der ihn leitet.« »Und jetzt wird der Journalist ebenfalls vermisst«, sagte Maxwells Assistentin. »Ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet. Und ich möchte auch nichts mehr davon hören«, sagte Patricia. Ihre Stimme klang abgehackt. Dann sagte Mike ruhig, fast traurig, als wäre es eine elende Pflicht: »Das ist auch fast alles. Es gibt nur noch Fetzen hier und da. Aber wenn man die Punkte verbindet, kommt mehr als ein Einzeltäter dabei heraus.« »Also los, Mike, raus damit! Was soll ich hier? Was soll ich eurer Meinung nach tun?« »Wir nehmen an, dass die restlichen Mitglieder dieser Gruppe in der Lage sind zurückzukehren, um das zu vollenden, was unvollendet geblieben ist.« Patricia zuckte im Rollstuhl zusammen. Sie sah verzweifelt aus. Jonathan ging näher an sie heran und kniete sich neben sie. »Das reicht«, sagte sie verärgert. »Glaubt ihr denn, das wüsste ich nicht? Ich meine... all die Alarmanlagen, das schreckliche kleine Schießeisen und so weiter, wieso sollte ich es nicht wissen? Ich kann nichts dagegen tun. Wenn sie mich umbringen, bringen sie mich um.« Sie umklammerte ihre Knie. Ihre Knöchel wurden weiß von dem Druck, den sie ausübte. »Ich erfülle doch absolut das Klischee der hilflosen Weiblichkeit.« «Schatz«, sagte Mike, »ich habe dich hergeholt, um dir zu sagen, was wir zu deinem Schutz unternehmen. Du wirst rund um die Uhr bewacht.« »O nein! So will ich nicht leben! So nicht!« »Max, sagen Sie es ihr.« »Sie werden nicht mal merken, dass wir da sind. Und es ist ja auch nur so lange, bis wir die Sache aufgerollt haben.« »Aufgerollt? Sie haben doch selbst gesagt, dass sie kaum etwas
wissen! Und jetzt wollen Sie den Fall aufrollen?« »Wir arbeiten daran. Wir machen Fortschritte.« »Welche denn?« fragte Mary. »Ich glaube, es könnte Patricia helfen, wenn wir alle es wüssten.« »Wir haben die Heiligen-Geist-Kirche beobachtet.« »Was bedeutet, dass Sie der Sache keinen Deut nähergekommen sind. Und ich soll hinter Schloss und Riegel sitzen unter ständiger Bewachung -, bis Sie irgendwas rausfinden? Ich wette, dass noch Jahre der Arbeit vor Ihnen liegen.« Patricia schüttelte den Kopf. »Die Vorstellung, mich über eine Klippe zu rollen, lässt mich nicht los.« Mike nickte Maxwell zu, der hartnäckig weitermachte. Er erklärte in allen Einzelheiten, wie man Patricia überwachen wollte. Die Einzelheiten waren erschütternd: In jedem Augenblick eines jeden Tages würde jemand sie beobachten. Hauptsächlich würden es Zivilisten sein, aber an Orten wie in der Bank, wo sie der Öffentlichkeit ausgesetzt war, uniformierte Beamte. Oh, Mexiko, Land der Fantasie! Ein Pool, ein Strand, ein Schlafzimmer. Patricias einziger Kommentar nach dem Ende der Zusammenkunft war, dass Lourdes ihr plötzlich sehr viel verlockender erschien. »In der Broschüre steht, es liegt in den Pyrenäen«, sagte sie auf dem Heimweg im Taxi. »Und?« »Nun, dann kannst du mich zum Bergsteigen mitnehmen.« Diesmal lachte sie nicht. Und er auch nicht.
12. Kapitel Jonathan hatte gehofft, dass die Reise ihnen ein Maß an Ruhe bescheren würde. Doch statt dessen zog sie sie nur tiefer in ihre Ängste hinein. Der Flug selbst war äußerst vergnüglich. Jonathan war erstaunt, als er entdeckte, dass SkySaver Airlines für die Reise eine wunderschöne L-1001 bereitgestellt hatte. In der Maschine befanden sich mehrere unterschiedliche Pilgertrupps, doch die Gruppe der Heiligen-Geist-Kirche war die am meisten privilegierte. Sie belegte die Erste Klasse, und man hatte sie verwöhnt, als flögen sie mit der besten Linien-Fluggesellschaft. Hinter ihnen, in der Touristenklasse, hatte Jonathan Sitze gesehen, auf denen die Leute zu neunt in einer Reihe saßen und aus Tüten aßen, die sie von zu
Hause mitgebracht hatten. Doch die Vorhänge blieben geschlossen, so dass es keine Notwendigkeit gab, Kontakt mit ihrer Not aufzunehmen. Die Heiligen-Geist-Gruppe war jung und gut gekleidet. Woher die Leute kamen, wusste Jonathan nicht. Die normalen Gemeindeglieder des Paters waren alte Leute, meist Witwen. Obwohl der rückwärtige Teil der Maschine mit Tragen vollgepackt war und sich sogar ein Arzt an Bord befand, gab es in der HeiligenGeist-Gruppe keinen Kranken. Patricia war die einzige, die eine Behinderung hatte. Sie saßen während der gesamten Stunden, in denen sie über den Atlantik flogen, Hand in Hand nebeneinander. Jonathan beobachtete die endlos unter ihnen dahinziehenden Wellen und ließ sich vom Klang der Motoren einlullen. Er spielte mit der Karte, auf der die NotfallInstruktionen standen und blätterte sich durch den Prospekt der zollfreien Waren. Vor dem Essen es gab Hummerschwänze gab es einen Aperitif, und hinterher einen Cognac. Dann schlief er ein. In seiner Bewusstlosigkeit kam ihm ein neuer und schrecklicher Traum, der schlimmer war als alle bisherigen: Er wehrte sich gegen ihn wie ein Mann, der gegen eine starke Strömung kämpfte, aber wie eben dieser Mann wusste er, dass seine Bemühungen völlig fruchtlos waren. Die Schlange würde das tun, was sie wollte. Jonathan musste den Traum träumen. Er saß mit gespreizten Beinen auf einem wogenden Frauenkörper. Jedes fröstelnd-süße Pulsieren seiner Härte verletzte sie mehr. Wenn er seine Schenkel zucken ließ, schrie sie auf, und wenn sie schrie, explodierte sein ganzer Leib vor Lust. Er stieß härter und härter zu, bis sie mit blutigen Lippen kreischte, und er spürte, wie sie unter der Kraft seiner Leidenschaft in Ohnmacht fiel. Jonathan schrie ebenfalls. Er konnte es nicht ertragen, in die schmerzerfüllten Augen zu sehen. Und doch erregten sie ihn, und er machte weiter. Als er aufschrie, erstarb ihre Stimme im lärmenden Wind. Ihm wurde kälter. Der Wind klagte und pfiff, und aus dem Klagen wurde ein Winseln. Jonathan erkannte, dass er wach war. Das Heulen der Triebwerke hatte sich verändert. Sie näherten sich dem Flughafen von Tarbes-Ossun-Lourdes. Er machte die Augen auf und sah Patricia an. »Du hast gestöhnt«, sagte sie. »Hast du einen Albtraum gehabt?« Er wollte nicht darüber nachdenken. Er nahm ihre Hand und
lehnte sich in den Sitz zurück. Pater Goodwin unternahm einen Versuch mit seiner Gitarre, und das lenkte Jonathan ab. Der Geistliche stand im Gang, und seine nadeldünnen Finger quälten die Saiten des abgewetzten Instruments. »Heil der Königin des Himmels, dem Stern des Meeres, der Führerin des Wanderers auf Erden ...« Yeah, yeah, yeah. Der Pater nickte und lächelte seinen modisch gekleideten Pilgern ermutigend zu, als die Maschine durch den sanft flackernden französischen Abend schwebte. Er hob die Brauen, bemühte sich, sie zum Mitmachen zu bewegen. Jonathan konnte ihn fast denken hören: Singt. Bitte, singt doch. »O sanfte, reine, unbefleckte Jungfrau, wir Sünder beten durch dich.« Singt, ihr netten Zombies. Aber sie sangen nicht. Pater Goodwin zog sich lächelnd und nickend zurück. Die Leuten hatten kaum von ihrem Cognac aufgeschaut. In der Touristenklasse brach wieder mal Gesang aus. Der Pater rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Während der gesamten Reise hatten die restlichen Pilger entweder gesungen oder den Rosenkranz gebetet. Mike schlief tief auf der anderen Seite des Ganges; sein Mund war schlaff, ein kräftiger Arm baumelte neben ihm nach unten. Mary war neben ihm in Marnhams Lourdes Eine moderne Pilgerreise vertieft. Sie nahm begierig an der Familien-Absurdität teil. Und warum auch nicht? Schließlich war sie für diese Absurdität verantwortlich. Jonathan hielt sie zwar für viel zu intellektuell, um diese verrückte Reise vorgeschlagen zu haben, aber sie hatte darauf bestanden, sie sei gut für Patricia. Vielleicht hatte sie recht. Zumindest war sie ein Tapetenwechsel. »Wovon hast du geträumt, Liebling?« fragte Patricia. In den letzten Tagen war sie mehr und mehr zu einer Ehefrau herangewachsen. Normalerweise schwelgte er darin; auf intime Weise mit jemandem zusammen zu sein, war eine wunderbare neue Erfahrung für ihn. Doch er wollte ihr die Brutalität seines Traums ersparen. »Jonathan, du hast mir nicht geantwortet.« »Ich habe gehofft, ich müsste es nicht.« »Du kannst es mir sagen, Liebling.« »Ich weiß nicht mehr.« Patricia setzte ihn zwar keinem weiteren Druck aus, aber Jonathan
wünschte sich trotzdem, sie hätte ihn nicht gefragt. Wenn er darüber nachdachte, war er dazu gezwungen, sich der Tatsache zu stellen, dass es etwas gab, das er ihr nicht anvertrauen konnte. Er konnte es nicht mal erklären. »Du zitterst ja.« Patricia legte einen Arm um seine Schulter. Die Geste wirkte beinahe verschwörerisch. Sie legte die andere Hand auf seine Brust und führte die Lippen so nahe an sein Ohr, dass sie ihn berührte und zärtlich kitzelte. »Ich bin doch bei dir, Jonathan. Wir sind sicher. Wir sind Tausende von Meilen von jeder Gefahr entfernt.« Das Schnurren der Triebwerke fiel um ein paar Oktaven. Sie landeten. Ein spitzer Abhang enthüllte Lichter, die in runzeligen Tälern funkelten, und im Osten einen Farbfleck, der Lourdes sein musste. Bald fegten sie rumpelnd über die Landebahn und hielten in der Nähe eines Ausgangs. Der nächste Haltepunkt, wenn Gott wollte, war das Hotel Gethsemane, wo sie die Nacht verbringen würden. Jonathan wusste immer noch nicht genau, wie Patricia auf ihr Hiersein reagieren würde. Trotz allem, was sie gesagt hatte, schien sie irgendwie immer noch an ein Wunder zu glauben. Wenn es so war, würde sie enttäuscht werden. Mutter war für diesen Aspekt der Reise nicht empfänglich gewesen, und Jonathan hatte ihr das gleiche erzählt. Patricia war eine ideale Brutstätte für verlorene Hoffnungen. Sie hatte sich, egal wie sie sich auch verhielt, nicht mit dem Rollstuhl abgefunden. »Lourdes«, sagte Patricia, als die Maschine bei dem Ausgang stehen blieb. »Mein erster Schritt auf fremdem Boden.« Jonathan zeigte ein schwaches Lächeln, als er die prächtige Schönheit des Gesichts seiner Geliebten sah. Sie sah ihn lange an. Patricia mit den grünen Augen. Patricia mit dem Madonnenlächeln. Ihre herrlichen Brüste waren unter der Bluse schwer zu bestimmen. Die Falten ihres Kleides deuteten ihre Kurven nur an. Bislang waren sie nur einmal intim gewesen. Spätere Versuche, genügend Privatsphäre zu kriegen, waren an einer Freundin Patricias gescheitert, einer Ex-Nonne aus dem Marienheim, die eine Unterkunft brauchte, bis sie eine eigene Wohnung fand. Sie war in Patricias Wohnzimmer eingezogen. Wenn Gott wollte, verschwand die alte Letty Cochran (ehedem Schwester Saint John), bis sie wieder zu Hause waren. Um die Angelegenheit noch zu verschlimmern, hatten seine
Mutter und Mike offenbar einen neuen Höhepunkt der Sexualität erreicht. Mutter verführte ihn wie nie zuvor. Sie war fast ungestüm. Und sie wusste ganz bestimmt, wie man Mike glücklich machte. Es verging keine Nacht, in der Jonathan sie nicht im Schlafzimmer vor Wonne schreien hörte. Diese Laute riefen in ihm die schmerzhafteste Kombination von Einsamkeit und Erregung hervor. Und er lag ihnen auch noch genau gegenüber, fiebrig, schwitzend, in die leere Luft aufgerichtet. »Glaubst du, dass das alles wirklich passiert ist?« »Was?« »Lourdes natürlich. Die Heilungen.« »Vielleicht. Ich weiß nicht. Soweit man weiß, ist an der Glaubensheilung wirklich was dran. Geistheilung, auf der Basis starken Glaubens.« »Dann könnte also etwas passieren. Das sagst du doch auch, seit die Ärzte festgestellt haben, dass meine Lähmung psychische Gründe hat.« Au weia, jetzt ging es los. Wie hatten sie es nur wagen können, sie hier herzubringen, um ihr dann so weh zu tun! Mutter war unverantwortlich gewesen. »Aber die Chancen sind gering, Liebes.« »Aber nicht hundertprozentig gleich null.« »Ich dachte, du wärst diejenige gewesen, die so was für eine Beleidigung deiner Intelligenz hält.« »Ach, Jonathan, jetzt, wo ich hier bin... Glaubst du nicht auch, dass eine winzige Chance besteht, die eins zu eine Million beträgt?« Jonathan hätte heulen können. »Ich glaube, ich bin zu sehr Wissenschaftler, um so was zu berechnen. Man weiß zwar von psychosomatischen Heilungen, aber sie kommen äußerst selten vor.« »Aber angenommen, ich würde daran glauben ich würde wirklich daran glauben -, wäre das vielleicht genug?« Er hätte am liebsten nein gesagt, aber das stimmte nun auch wieder nicht. »Es gibt eine klitzekleine Möglichkeit. Aber bitte, klammere dich nicht daran.« Patricia saß aufrecht da und blickte in die mittlere Ferne. Ohne das Geräusch der Triebwerke war das Flugzeug vom Gestöhn und Gehuste der Kranken in der Touristenklasse erfüllt. Während des Fluges hatte Jonathan sich ein wenig Sorgen wegen der Möglichkeit einer Ansteckung gemacht. Ob man sich eine der bizarren Krankheiten holen konnte, die es dort hinten gab? Kranke, die Pilgerfahrten machten, waren in der Regel Menschen, die die
Medizin schon aufgegeben hatte. Sie hatten kaum gewöhnliche Krankheiten abgesehen natürlich von den Krebskranken, Diabetikern und Infarktopfern. Einer der bizarrsten Fälle war ein Mann mit Dystonia musculorum deformans. Er war fünfundzwanzig, zu einer gordischen Komplexität verdreht, und blickte durch seine Brillengläser auf ein abgegriffenes Buch von Marcel Proust. Aber die Kranken saßen ganz am anderen Ende. Die HeiligenGeist-Pilger brauchten sich keine Sorgen zu machen. »Alle Tragbahren zu den Sammelpunkten, bitte«, rief die Stimme eines Geistlichen durch die Bordsprechanlage. Bei den Passagieren der Touristenklasse kam es zu einem allgemeinen Schlurfen. Kurz darauf kamen Tragbahren an ihnen vorbei, die von Verwandten und Freiwilligen geschleppt wurden. Der schlimmste Krankheitsfall, eine von Kopf bis Fuß in Weiß gehüllte Gestalt, wurde zuerst durch den Gang geschoben. Man hatte keinerlei Information über die Krankheit dieses Menschen erhalten. »Da geht die Leiche«, murmelte Jonathan Patricia zu. »Unsere Liebe Frau weckt doch keine Toten auf, Dummi.« In diesem Moment stieß die Leiche ein lautes Stöhnen aus. »Ein Wunder!« »Pssst!« Patricias blasse Wangen röteten sich. Wie schmerzlich zart und schön sie war. Die gesamte Tragbahren-Prozession brauchte zehn Minuten, um an ihnen vorbeizukommen. Endlich konnten auch jene, die nicht unter ständiger ärztlicher Aufsicht standen, die Maschine verlassen. Jonathan holte Patricias Rollstuhl. Bald darauf waren sie unterwegs. Der Hauptteil des Flughafens zeigte ein Mischmasch aus Kranken und ihrem Gefolge. Es erforderte eine erstaunliche Menge an Anstrengung und Geschick, die wirklich Kranken von der Stelle zu bewegen, denn niemand kam wegen Ausschlag oder einer Erkältung nach Lourdes. Hierher kamen nur die Aufgegebenen... und ihre Verwandten, Seelsorger, Partner und Freunde. Auf dem Flughafen herrschte ein leises, stets gleichbleibendes Gemurmel. Obwohl Jonathan allgemein ein negatives Gefühl hatte, erkannte er sofort, dass hier ein starker Glaube herrschte, und das rührte ihn trotz alledem. Ihre Gruppe wurde von einer Frau mit einer Schreibunterlage in einen Zoll-Sonderbereich geführt. Hier gab es weder Andrang noch Kranke. Die Heiligen-Geist-Pilger wurden mit anderen, die ihnen
ähnlich waren, zusammengefasst, gesunden, gut gekleideten Leuten, die keine Beziehung zu den kämpfenden Gläubigen auf der anderen Seite der Absperrung hatten. Kurz darauf traf Jonathans Blick den der netten kleinen Führerin. Sie errötete und senkte den Kopf; sie schien sich tatsächlich zu verbeugen. Dann eilte sie davon. »Wer war das?« fragte Patricia. »Ein Fan von dir?« »Ich hab' sie zum ersten Mal gesehen.« »Sie hat sich benommen, als wärst du ein Filmstar.« »Na komm, werd bloß nicht eifersüchtig.« Hinter der Absperrung schrieen heisere Beamte: »Zoll! Douane!« Sie durchsuchten jeden Beutel und schauten sogar unter die Decken der Kranken. Auf dieser Seite der Absperrung wurden die Leute sofort abgefertigt. Man bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln und klopfte flüchtig auf ihr Bordgepäck. Man versah ihre Koffer nicht mal mit Kreidestrichen. Ihre Pässe wurden nicht gestempelt. Als die Familie Banion vorbeikam, senkten die Zollbeamten den Blick. Sie wirkten eher wie Lakaien, statt wie Beamte des Gesetzes. »Das ist doch nichts Besonderes«, sagte Mike fröhlich. »Die wissen bestimmt, dass ich ein Cop bin.« Jonathan vergeudete keine Zeit; er schob Patricia sofort zum Taxenstand hinaus. Er wollte auf dem Weg zum Hotel auch mal mit ihr allein sein. Es gelang ihm, eins der plump aussehenden Peugeot-Taxis zu kriegen, das speziell für Rollstuhlfahrer ausgerüstet war. Im Inneren des Wagens senkte sich Stille auf sie hinab. Jonathan hatte einen wichtigen Grund, warum er allein mit ihr sein wollte. Tatsächlich war er so wichtig, dass es ihm schwerfiel, ihn auszusprechen. Er fragte sich, wie Patricia wohl reagierte, wenn er sie bat, seine Frau zu werden. Er wurde den Gedanken nicht los, und er hatte beschlossen, sie hier, in Lourdes, darum zu bitten. Vielleicht konnte die gute Nachricht den Schmerz lindern, den sie erleben würde, wenn die Grotte sich als nutzlos erwies. »Hotel Gethsemane«, sagte er zu dem Fahrer. Ob sie dort eine Möglichkeit fanden, allein zu sein, oder war dies hier seine einzige Chance? Er wusste nicht genau, ob er jetzt die Nerven dazu hatte. Jonathan hatte den Entschluss gefasst, eine Ehe zu wagen, weil er davon überzeugt war, dass die Schlange nur eine Nebenwirkung der jämmerlich getesteten Droge war. Und er hatte vor, sich wegen seiner Träume in eine psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Vielleicht konnte er genau das werden, was er sein wollte
ein guter Ehemann der Frau, die er liebte. Es sah doch so einfach aus. Warum hatte er dann Angst, sie zu fragen? Er dachte an den Traum, den er vor einer Stunde gehabt hatte, an den herrlichen, sterbenden Leib. Der Fahrer fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Jonathan schaute zu, wie Patricia auf ihrem flachen, leblosen Schoss die Hände faltete. »Schau mal«, sagte sie, »die Kreuze.« Also das waren die berühmten Kreuze von Lourdes auf dem Calvary-Hügel, direkt über der Grotte. Dahinter lag die große Rosenkranz-Basilika und noch weiter hinten der Ort selbst. Er funkelte im Abendlicht. Er sah Andeutungen von Neonlicht, das im Sommerdunst schimmerte. Patricia lächelte, und Jonathan hätte beinahe geschluchzt. Das Mitleid, das er für sie empfand, nahm zu. Aber das durfte nicht sein. Sie hatte die sanftesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie zeigten nicht die geringste Verärgerung. »Ich wünschte, wir könnten Mike und Mary auf irgendeine Art danken. Ich möchte ihnen ein Geschenk machen.« »Werde gesund.« Sie sah ihn an; Überraschung und Verwirrung folgten einander auf ihrem Gesicht. Wie hatte er nur so brüsk sein können? Wollte er sie etwa wütend auf sich machen... oder war es in Wirklichkeit irgendein tief in seiner Seele verborgenes sadistisches Ding, das sie verhöhnte? Mit einer Stimme, die vor Schmerz stumpf war, sagte sie, sie sei nur hergekommen, um zu beten. »Ich weiß, Liebling. Verzeih mir. Es kam ganz anders aus mir raus, als ich es sagen wollte. Ich schätze, es liegt daran, dass ich frustriert bin. Ich will nur dein Bestes, Patricia. Ich liebe dich so!« Ihre Augen musterten ihn prüfend. Aus ihrem goldenen Haar stieg Parfümduft auf. Jonathan bemerkte die Sauberkeit ihrer Fingernägel, und die Pflege, die sie offenbar ihrem Make-up hatte angedeihen lassen. Selbst nach dem langen Flug sah Patricia noch frisch aus. Er fühlte sich schwach und grob und bemitleidete sie. Sie musste in diesem Augenblick unglaublich leiden. Aber nein, sie lächelte. Sie wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. »Ich müsste wenigstens etwas für Mary kaufen, es war doch ihre Idee.« »Vielleicht eine Madonna aus Kunststoff? Einen Rosenkranz?
Oder wie wäre es mit einer Madonna-Rosenkranz-Combo? Das wäre echt großzügig.« Sie brachte es fertig, kurz darüber zu lachen. »Sei nicht so sarkastisch, du Bösling! Wir müssen irgend etwas finden, das zu ihr passtl« Die Basilika ragte nun auf der anderen Seite der schnell dahinfließenden Gave auf. Das Taxi wendete und fuhr unter einer Eisenbahnunterführung daher, dann waren sie plötzlich in Lourdes. Jonathan fiel auf, dass der Fahrer einer kleinen Gruppe dunkel gekleideter Männer an der Ecke mit dem Scheinwerfer Zeichen gab. Die Männer nahmen die Hüte ab. Der Verkehr keuchte in den Straßen Rundfahrtbusse, Taxen, Privatwagen, Laster. Die Einkaufszentren von Lourdes kamen völlig unerwartet. Jeder Zentimeter Bürgersteig war gerammelt voll von Schaufenstern, hinter denen sich der religiöse Kitsch türmte. Es gab Unmengen von Rosenkränzen braune, rote, gelbe, grüne, rosafarbene und weiße. Schulterbinden und Wunderamulette lagen in Haufen gestapelt und auf Karten gesteckt zu Hunderten herum. Ganze Armeen von Kunststoff-Grottenmadonnen lagerten in den grellen Innenräumen der Geschäfte. Die Jungfrau Maria tanzte und bibberte im Neonlicht, betende Hände flackerten auf Bildern heiliger Herzen hin und her, und überall waren Kruzifixe. Jeder gegossene Zinn-Jesus sah so aus wie der andere. Das Neonlicht vertrieb die Nacht. Sie waren in einem KirchenVegas, in dem sich Pietät und Gier verbunden hatten wie die Chromosomen von Mutanten. Als das Taxi langsam durch die Straßen fuhr, drang das endlose, schrille Geseire von Lobpreisungen aus Fassaden-Lautsprechern neben den Fenstern. Und dazu kamen noch die erstickenden Dieselabgase und der Geruch von gebratenem Billigfraß. Patricia war blass geworden. Sie drückte die Hände fest zusammen. Sie rührte sich nicht und starrte geradeaus vor sich hin. In ihren Augenwinkeln glitzerten wieder Tränen. Nichts von dem, was Jonathan gelesen hatte, hatte ihn auf den skrupellosen Zynismus vorbereitet, der über diese Stadt gekommen war. Es war fast so, als hätten die Kaufleute dieses Ortes nichts anderes im Sinn, als ihre katholische Kundschaft zu verhöhnen. Und was war mit Patricia, die ihren zerschundenen Leib in der Hoffnung auf Heilung hier herbrachte? Die Zurschaustellung musste niederschmetternd für sie sein. Jonathan hätte alles getan, um ihr diesen grauenhaften Anblick zu ersparen.
Wenn er davon gewusst hätte, hätte er sich gegen die Reise zur Wehr gesetzt und ihr Zustandekommen verhindert. Der Kunststoff und das Glitzern würden sie für ewig an den Rollstuhl fesseln, und Jonathan empfand ihre Katastrophe so stark wie nie zuvor. Der Fahrer riss die Wagentür auf und zog Patricia mit einer übertriebenen Höflichkeit ins Freie, die für Jonathan nur noch mehr Zynismus war. Er gab ihm sein Geld, fügte die kleinste Münze aus seiner Tasche als Trinkgeld hinzu, und der Fahrer nahm sie ehrerbietig an. Er stand auf dem Gehweg, hielt seine Mütze in der Hand und lächelte hinter ihnen her. jetzt wurde Jonathan sich seiner Umgebung bewusst. Tragbahren, Rollstühle, Rüstzeug, medizinische Utensilien und Gepäck lagen auf dem Gehweg herum. Die Heiligen-Geist-Pilger waren nirgendwo zu sehen. Nur Pater Goodwin war noch da. Er eilte mit verschwitztem Gesicht zwischen dem Hotel und den Pilgern hin und her und half anderen Geistlichen, ihre Truppen zu organisieren. Das Gethsemane wirkte wie ein typisches Mittelklasse-Hotel. Es bestand aus sechs Stockwerken mit kleinen Fenstern und einer grauen Steinfassade. Nur die beiden obersten Etagen versprachen die Andeutung anständiger Unterkünfte. In den Etagen sieben und acht waren die Fenster groß und abgerundet. Hinter wunderschönen Gardinen war Licht. In den dahinter befindlichen Räumen konnte man gutgekleidete Menschen kommen und gehen sehen. Mary stieg aus ihrem Taxi. Sie blieb bei Jonathan und schaute nach oben. Sie sahen die Silhouette eines ordentlichen kleinen Mannes, der an einem Fenster auftauchte. Dann ging hinter ihm das Licht aus. »Immer mit der Ruhe, Harry«, rief Mike dem aufgelösten Geistlichen zu. »Sonst kriegst du noch einen Herzanfall.« Jonathan nahm Pater Goodwin seit der Landung zum ersten Mal wahr. Er hatte mit dem gitarrespielenden Gottesmann aus dem Flugzeug nichts mehr gemein. Der neue Pater Goodwin verhielt sich wie jemand, den man in der gefährlichsten Straße des schlimmsten Viertels von Los Angeles ausgesetzt hatte. Er war nicht nur über alle Massen erregt, er war in Panik. Auch er schaute verstohlen nach oben, als erwarte er, jemand würde ihn von dort aus steinigen. Jonathan folgte seinen Blicken und sah, dass die Etagen sieben und acht nun völlig dunkel waren. Auch Mary fiel die Bestürzung des Paters auf. Sie ging zu ihm
hinüber, und sie unterhielten sich leise. Der Patersein Gesicht war grau und zeigte den reinen Schock wandte den versammelten Pilgern seinen leiderfüllten Blick zu. »Wir müssen hier bleiben«, sagte er mit belegter Stimme. »Es ist kein anderes Hotel frei. Lasst uns hineingehen.« »Ihm gefällt das Hotel nicht«, sagte Mary, als sie zu den anderen Banions zurückkehrte. »War er schon drin?« fragte Mike. »Keine Ahnung. Ich nehme an, die Zeitverschiebung macht ihm schwer zu schaffen.« Sie gingen in die grau geflieste Halle und stießen hinter einem alten Empfangstisch auf eine strahlende junge Concierge. Sie trug ein schmuddeliges braunes Kleid und begrüßte sie mit der gleichen Hochachtung, die bisher jeder gezeigt hatte. »Hier sind Ihre Schlüssel. Der Aufzug liegt dem Restaurant gegenüber. Wie Sie erbeten haben, Madame, sind ihre Zimmer im zweiten Stock; zwei-null-zwei bis zwei-null-zwölf.« Jonathan war enttäuscht. Er hatte damit gerechnet, dass amerikanische Pilger routinemäßig die Unterkünfte in der Ersten Klasse bekamen, die allem Anschein nach auf den Stockwerken sieben und acht lagen. »Ich möchte gern oben wohnen, Mutter.« »Das ist unsicher für den Stuhl. Die Hotels hier sind die reinsten Feuerfallen.« Jonathan wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr über solche Dinge zu streiten. Mutter hatte schreckliche Angst vor Bränden. Eigenartigerweise zeigte der Aufzug nur sechs Hoteletagen an. Es gab nicht einmal Tasten für die beiden zusätzlichen Etagen. Als sie erst einmal oben waren, wurde ihm klar, dass die Vorahnung des Paters berechtigt gewesen war. Die >Zimmer< waren Schlafsäle. Sie waren mit Kojen ausgestattet und offenbar dafür vorgesehen, dass man wenigstens zu viert in ihnen schlief. Es gab weder Einzel noch Doppelzimmer; das Gethsemane war einfach nicht dafür konstruiert worden. Mike ging mit seiner Familie, Patricia und Pater Goodwin in Zimmer 202. Das Arrangement war das niederschmetterndste, das Jonathan sich vorstellen konnte. Ihre Chancen, allein zu sein, schrumpften auf Null. Das Fenster war kaum mehr als ein Riss in der Wand und lag über dem Abzugsschacht der Hotelküche. Hinter einem abgewetzten Schirm gab es ein uraltes Waschbecken und Toilette. Auf dem Bidet klebte ein handgeschriebenes Schild: NUR FÜR DIE FÜSSE, NICHT ZUM URINIEREN! »Wie hübsch«, brummte Mike und ließ das Gepäck fallen. »Gott
sei Dank sind die Kranken nicht hier.« Für Pilger, die ständiger medizinischer Überwachung bedurften, hatte die Kirche das Krankenhaus Unserer Lieben Besorgten Frau errichtet, das ein paar Häuserblocks entfernt lag. Und da sie weder Pflege noch Medikamente brauchte, war Patricia hier statt im Krankenhaus. Als Jonathan sie durch das Zimmer schob und über die Fragen nachdachte, die ihn bedrängten, sehnte er sich danach, mit ihr allein zu sein. Patricia packte die Räder und fuhr zu Mike und Mary hinüber. »Ich habe gar nichts gegen das Zimmer«, sagte sie. »Ich bin froh, in Lourdes zu sein.« »Die ganzen Kunststoff-Jesusse«, sagte Mike. »Ich wäre auch ohne sie ausgekommen.« »In der Grotte wird es anders sein«, versicherte ihr Mary. Sie berührte Patricias Gesicht, viel zärtlicher als je zuvor. »Wart's nur ab.« Mike beugte sich vor und küsste Patricias Stirn. »Du bist zu gut, das ist dein Problem.« Pater Goodwin, der derweil im Korridor in einem Wirbel von Bekanntmachungen und Fahrplanänderungen auf und nieder gehüpft war, schob den Kopf durch die Tür. »In fünfzehn Minuten geht die Soubirous-Tour ab! Wer Interesse hat, versammelt sich bitte in der Halle. Der Bus fährt exactement um acht Uhr ab.« »Er scheint etwas von seinem savoir-faire zurückgewonnen zu haben«, sagte Mary ätzend. Sie befand sich hinter dem Schirm; Mike hatte eine Flasche Chivas aus seinem Koffer gezogen und unternahm den Versuch, sich einen Drink in einen der rissigen Hotel-Plastikbecher zu schütten. »Keine Chance«, sagte er, als der Whisky aus mindestens sechs Löchern spritzte. »Jonathan«, sagte Patricia, »ich würde gern mitfahren.« »Tu's nicht«, rief Mary. »Wir können morgen eine private Rundfahrt organisieren.« »Ich würde die Rundfahrt wirklich sehr gern mitmachen.« Welch ein Pech, Jonathan hatte nur einen Wunsch: Er wollte sich auf die fünf Zentimeter dicke Schaumgummimatratze knallen, die für ihn bereitlag, und seine Enttäuschung vergessen. »Es wird kaum spaßig werden«, sagte Mary. »Es wird mir gut tun, mit den anderen Pilgern zusammen zu sein. Ich meine, mit den Kranken.« »Ich würde ja gern mitkommen, Liebling«, sagte Jonathan, »aber ich habe vor, die Bernadette-Show zu verschlafen.«
Mary lachte. »Fahrt doch mit, ihr beiden. Aber wenn ihr müde werdet und früher zurückkommen wollt, haltet eins von den Peugeot-Taxis an. Nehmt nur Peugeots. Es sind die besten.« Der Bus war riesig, aber erstaunlich klapprig, als sei er aus Pappdeckel gebaut. Am Heck war eine große Doppeltür und ein pneumatischer Rollstuhllift. Jonathan schob Patricia auf den komischen Apparat. Als nichts passierte, bemerkte er, dass er dem Fahrer zuerst einen US-Dollar zahlen musste, bevor er ihn in Bewegung setzte. Er gab dem jungen Burschen das Geld in die Hand. Als sie im Inneren des Busses waren, musste er Patricia zu einem Sitz tragen. Dies war ein überaus anstrengendes Unternehmen, das es mit einschloss, dass er sie auf die Arme nahm und durch den engen Gang von der Rollstuhl-Ladezone forttrug. Patricia war kein kleines Kind, ihre leblose untere Körperhälfte machte die Sache schwierig. Als er sie auf einen leeren Platz setzte, zuckte sie zusammen. »Tut mir leid, Jonathan.« »Ich liebe dich.« Zur Antwort küsste sie ihn sanft auf die Wange. Hinter ihnen winselte der Lift wieder und wieder, bis sich dreißig Leute im Bus befanden. Zehn davon gehörten zu den Kranken. Pater Goodwin, der nun keine Pilger aus seiner Gruppe mehr bei sich hatte, stimmte seine Gitarre. »Oje«, sagte Patricia. »Schon wieder Lobpreisungen.« Bald navigierten sie unter den Klängen von >Dominique< durch den Verkehr. Gesichter drückten sich an die Scheiben. Immerhin war dies der berühmteste Wallfahrtsort der Welt. Trotz des Kitsches war dies Lourdes. Schließlich hielt der ruckelnde und fehlzündende Bus auf einem Hügel an. »Maison Paternelle!« brüllte der Fahrer. Dann setzten das Geratter und der Wirrwarr des Aussteigens ein. Diesmal ging die Sache glatter über die Bühne. Offenbar galt der erste Dollar für die ganze Fahrt. Das Haus der Bernadette klebte an der Rückwand eines großen Andenkenladens. Hier gab es sogar Baseballmützen, wo Aquero wie Unsere Liebe Frau von der Grotte genannt wurde auf den Abzeichen prangte. Aquero-Statuen rotierten auf kleinen Piedestalen. >Ava Maria<, die >Lourdes-Hymne<, >Lara's Theme< und sogar der >Indian Love Call< klimperten aus Spieldosen von unten herauf. Es gab auch Holzschuhe mit Aquero-Statuetten; sie waren an die Zehen geklebt.
Als Jonathan sie durch den Gang zum Schrein am Ende schob, schaute Patricia langsam nach rechts und links. Der Schrein glich eher einer Gefängniszelle als einem Einzimmer-Häuschen, und er war verrammelt, um zu verhindern, dass Andenkensjäger ihn plünderten. Sie langte nach hinten und nahm seine Hand. »Bring mich hier raus«, sagte sie. Er drehte sie um und schob sie zum Bus zurück. »Jonathan, es ist schrecklich. Es ist widerlich!« »Obszön ist das passende Wort. Die Statuen...« »Nicht die Andenken die Leute hinter den Ladentheken. Sind sie dir nicht aufgefallen?« »Wenn ich die Wahrheit sagen soll nein.« »Jonathan, wir werden ständig überwacht. Man überwacht uns, seit wir hier angekommen sind.« Patricia packte seine Hände und sah ihn an. »Bitte, lass uns auf der Stelle nach Hause gehen.« »Wer überwacht uns?« »Das Mädchen am Flughafen, ein paar Leute auf der Straße, alle Leute in den Geschäften, selbst die Concierge im Hotel.« »Liebling, ich glaube, du bist ein bisschen überreizt. Mutter hat recht. Wir brauchen Ruhe.« »Ich bin nicht müde, und ich bin auch nicht verrückt! Alle in dieser Stadt die Leute, die in den Läden arbeiten, im Hotel, die Taxifahrer überwachen dich und mich.« »Also wirklich, Patricia...« »Komm mir nicht mit >wirklich^ Sie überwachen uns. Sie starren uns an. Nur uns!« Jonathan hatte sich über den Rollstuhl gebeugt. Als er sich aufrichtete, schaute er genau in das Gesicht eines Verkäufers, der im Laden hinter der Theke stand. Der Mann senkte den Blick und ging weg. Jonathan entdeckte einen Peugeot. »Wir bleiben in Hotelnähe«, sagte er. Was hätte er sonst sagen sollen? Sie war nicht paranoid. Sie hatte vollkommen recht. Aber warum? Es konnte doch keinen Kult geben, der so groß war, dass er die Bevölkerung einer ganzen Stadt umfasste, die zudem noch Tausende von Meilen von zu Hause entfernt war. Und doch beobachtete man sie, selbst in diesem Moment, von den Gehsteigen aus. Aus den Ladenfenstern heraus. Als das Taxi sich durch die vollen Straßen quälte, enthüllte Patricias Gesicht, wie sehr sie glaubte, in der Falle zu sitzen.
Von Zeit zu Zeit sah Jonathan, wie sie einen Blick aus dem Fenster warf. Und die Massen, die herumwirbelnden Augenmassen, schauten zurück.
Mary: Der Schatten der Inquisition Nun ist die Nacht der größten Gefahr gekommen. Wir werden sie umbringen oder heilen. In ihrem jetzigen Zustand ist sie nutzlos für uns. Die Stadt gehört uns die Geschäfte, die Hotels, selbst die Quelle, die die Grotte speist. Doch der große unterirdische Fluss unter der Grotte ist niemandes Eigentum. Alpheus, der Fluss des Lebens und des Todes. Er ist ganz anders als das oberirdisch fließende Rinnsal, in das die katholischen Pilger ihre gebrechlichen Glieder tauchen. Alpheus ist wild, finster und gefährlich. Wenn er einen da von treibt, ist man auf ewig verloren. Ich glaube, er ist mehr als nur Wasser, mehr als eine einfache Laune der Erde. Wenn ein Dämon einen Körper hätte, wäre er Alpheus sehr ähnlich eine eiskalte Flut, die gegen das irdische Gestein wütet. In dieser Lourdes-Woche sind viele Pilger unsere Leute. Wir haben die besten Zimmer und die besten Charterfahrten gebucht. Manche unserer katholischen Kunden werden bis zur nächsten Woche warten müssen, bis sie damit fortfahren können, ihren Kitsch zu kaufen und in ihrem gegenseitigen Schweiß zu baden. Doch unser geliebtes Kind ist hier ebenso in Gefahr wie zu Hause. Als würfe die Inquisition so etwas wie einen Schatten... Unsere Leute haben uns willkommen geheißen. Es ist die größte Ehre für sie, wenn der Prinz und die Prinzessin bei ihnen sind. Noch nie sind zwei Menschen so gut behütet worden. Als Gottlieb mir erzählte, dass ihre Lähmung die Geburt eines Kindes verhindert, habe ich gesagt, ich möchte sterben. Das weiß ich noch. Er ist ein kluger Mann. »Konzentriere dich auf deine Arbeit. Halte den Plan ein.« Und wie ich mich in die Arbeit gestürzt habe! Ich habe das weltweite Impfprogramm organisiert; die Nahrungsdepots; alles was wir brauchen, um während der kommenden Ausrottung zusammenzubleiben. Ich habe sogar Mike die ihm zugeteilte Rolle spielen lassen. Ich bestehe darauf, dass er ein Vetiver-Rasierwasser nimmt, das ich
bei Keils in Manhattan exklusiv für ihn habe herstellen lassen. Doch es ist mehr als nur ein Wohlgeruch. Jerry Cochran hat seinen Impfstoff hineingemischt. Jedesmal, wenn Mike sich damit bespritzt, trägt er zu der Immunität bei, die er eines Tages brauchen wird, um seinen Platz in unserem Plan zu erfüllen. Wenn alles nach unseren Plänen geht, ist es erforderlich, dass er nach dem Tod der anderen noch eine Zeit lebt. Ein väterlicher Mann wie er kann einem sehr gut nützlich sein. Kürzlich habe ich tatsächlich versucht, Mike zu verführen, damit er mich liebt wie nie zuvor. Offen gesagt, ich hege die Hoffnung, dass wir ihn bekehren können. Trotzdem konnte ich es heute nacht nicht bei ihm aushalten. Ich habe auf der elenden Pritsche im katholischen Teil des Hotels gelegen und geschwitzt und mir Sorgen gemacht, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Jetzt bin ich hier, auch wenn es ein Risiko für mich ist in der Suite, in die eine Prinzessin der Kirche der Nacht gehört, und ich schreibe und schreibe und tue so, als sei ich nicht erschöpft, als zittere ich nicht, als sei meine Hand so fest wie immer. Dummes Weib. Du beruhigst dich, indem du dein Tagebuch führst. Dann reißt du die Seiten heraus und verbrennst sie. Draußen reihen sich schweigende Massen an den Hilfsstationen auf, wegen der Impfungen. Dort, wo Jerry persönlich die Nadel angesetzt hat, sticht mein Arm furchtbar. Lourdes ist das Hauptimpfzentrum für Südeuropa. Bis wir fertig sind, werden wir dreißigtausend Gläubige in den Nebenstraßen dieser Stadt impfen. Wenn der Rest der Welt die Kraft verliert und stirbt in der Zeit dieses unvorstellbaren Chaos muss unsere Kirche stärker sein als je zuvor. Während ich diese Worte schreibe, spüre ich die Größe und Schwierigkeit unserer Aufgabe. Trotz Jerrys Intelligenz und Franklins großer Kraft komme ich mir beinahe allein vor. Die Franzosen haben das Zimmer mit Blumen gefüllt und mir ein spätes Lachsforellen und Champagnermahl gebracht. Sie sind von der Anwesenheit des TitusBlutes in ihren Reihen so von Ehrfurcht erfüllt, dass sie sich nicht mal trauen, mir in die Augen zu sehen. Es muss ihnen ganz schön zu schaffen machen, Mike anzuerkennen, der so offensichtlich nicht von königlichem Geblüt ist. Ein Prinzgemahl? Unmöglich! Ach, Mike, Mike, ich fahre unter deinem schwitzenden Körper auf. Ich hasse dich! Ich werde zwar das Gegenteil nicht sagen, aber
ich spüre es doch: Liebe, verdammt noch mal. Du machst mich aus einem ganz simplen Grund besessen: Ich kann nicht unterscheiden, was ich für dich fühle, und ich habe gute Gründe für all diese widersprüchlichen Impulse. Zwei Uhr fünfzehn in der Frühe. In unserer uralten Hauptstadt ist man gerade dabei, von den geheimen Impfstationen zur Basilika zu gehen, zur großen rituellen Reinigung. Wir werden unseren Liebling an die Ufer des geheimen Flusses unter der Grotte bringen. Sie wird die Lähmung überwinden oder darin ertrinken. Sind wir im Begriff, die Hoffnung zweier Jahrtausende zu töten? Ich gehe jetzt, wie immer, getreu meiner Pflicht. Und ich weine, schwaches Weib, das ich bin. Ich rufe meine dämonischen Väter. Hört mich.
13. Kapitel Patricia lag da und beobachtete die vage sichtbaren Bewegungen der Schatten an der Decke. Das Zimmer war laut, selbst um drei Uhr morgens. Pater Goodwin war ein halbes dutzendmal aufgestanden. Er war überreizt was zu erwarten gewesen war, nahm sie an. Nun schnarchte er, und der Ausdruck seines Schlafes zeugte von tiefer Traurigkeit. In der Koje neben ihm erklang dumpf und regelmäßig das Atmen Mikes. Er hörte sich an wie ein versorgter Jagdhund. Mary hatte sich aus ihrer Koje erhoben; bestimmt wollte sie wegen der Hitze und Stickigkeit eine Runde drehen. Auf der anderen Seite des Raumes lag Jonathan. Patricia fragte sich, ob er vielleicht auch wach war. Ihr Gedanke führte zu tiefen inneren Regungen. Seit sie die halbe Stunde im Bett verbracht hatten, war Jonathan immer inniger geworden. Und sie auch. In ihren Tagträumen küsste sie sein steifes, seidiges Glied... und verscheuchte dann ihre Fantasie. Woraufhin sie prompt zurückkehrte. Patricia wusste freilich, dass Jonathan von ihnen beiden der Hingerissenere war. Warum auch nicht war es nicht ein Bestandteil der männlichen Natur, explosive Leidenschaften zu haben? Aber wie konnte er unter diesen Umständen klar über das Leben an der Seite einer Gelähmten nachdenken? Was war, wenn sie noch mehr medizinische Versorgung brauchte? Würde er die Last akzeptieren, nur weil er sie liebte? Ich möchte, dass er so frei ist wie der Weizen auf dem Feld.
Ach? Das Feld, von dem ich träume, dass der Tod in ihm haust? Die Sense seufzt, und der Sensenmann schwitzt. Er ist ein tollwütiges Pünktchen inmitten der wachsenden, heranreifenden, aufplatzenden menschlichen Fruchtbarkeit. Ist es Liebe, nach der ich mich sehne, oder ist es der Tod? Vielleicht sollte ich mich ihm wieder hingeben und den Rest vergessen. Vielleicht ist die körperliche Berührung das einzig Wahre, und das ewige Nachdenken nur Zeitverschwendung, die man besser mit Lust ausfüllt. Ich möchte durch das Zimmer gehen und meinen Mund auf den seinen drücken, ich möchte meine Zunge zwischen seine Lippen schieben und ihn lieben, bis ich mit ihm verschmelze. Es steht mir frei, in Jonathan zu sterben, es steht mir frei, mich von seinem lebendigen Stahl in Stücke reißen zu lassen. Gott, steh mir bei, ich habe Angst. Nun schienen die Schatten sich zu bewegen sie verfolgen offenbar eigene Ziele. Patricia nahm wahr, dass Jonathan sich auf seinem Lager gerührt hatte. Finger schienen ihr Gesicht zu betasten; sie war plötzlich starr vor Entsetzen. Auch dies musste ein Albtraum sein. Sie war gar nicht wach, sie konnte es nicht sein; nicht wenn sie sich wegen solcher Kleinigkeiten ängstigte. Aber er bewegte sich sie wusste, dass er sich bewegte. Die Schatten an der Decke änderten sehr langsam ihre Form, als Jonathan sich Zentimeter für Zentimeter von seinem Bett entfernte. Du wirst mit ihm gehen.
»Bist du's?« Ihre Stimme klang in der Stille wie das Rascheln von Blättern. Mike zog die Nase hoch, der Pater seufzte. Flüstere nicht so laut, du kleine Närrin!
Ich weiß jetzt, dass er auf dem Boden ist. Ich höre seinen Atem, zisch, zisch, zischschsch; er kommt immer näher. Ich sehe seinen kriechenden Schatten. Du wirst mit ihm gehen!
»Ich werde mit ihm gehen.« Irgendwo in der Ferne sang jemand, es waren immer wieder die gleichen paar Worte. Und der Wind erzeugte eine tiefe Melodie, als er wogend durch die alten Straßen der Stadt zog. »Patricia?« sagte Jonathan leise. Oh, verführerischer Flüsterer, woher bist du gekommen? Und warum funkeln deine Augen so? »Bist du wach?«
»Mmmm...« »Ich... Bitte...« Patricia wusste, was sie zu tun hatte. Aus dem Bett schlüpfen, ihr Kleid anziehen, sich von ihm tragen lassen. Dann gingen sie durch die schwarzen Korridore des Hotels und im Nachtwind durch gepflasterte Straßen; ihr Kleid schützte sie kaum. Sie dachte nur daran, wie wohl seine Haut schmeckte. Sie konnte es kaum noch erwarten, vor ihm auf die Knie zu sinken, seinen eingeschnürten violetten Pfeil zu befreien und sich damit zu durchbohren, wie sie es in ihrer herrlichen Erinnerung getan hatte. Sie schritten durch die Nacht, unter Sternen und nickenden Bäumen her. Wir sind nicht mehr in der Stadt. Wo sind wir? Er war furchtsam. Sein Gesicht war zu spitz, seine Augen zu hell. In ihm war ein Feuer, und sie wusste, es würde sie umbringen, wenn sie es zu sehr reizte. »Willkommen im Reich der Mutter Gottes«, sagte eine vom Alter trockene Stimme. Ein kleiner, flinker Mann bewegte sich in der Finsternis. Du kommst mir bekannt vor, Alter. Der Alte lächelte. Hinter ihm öffneten sich die massiven Tore der Basilika einen kleinen Spalt. »Kommt mit«, sagte er. Ist das Wirklichkeit? »Mach dir keine Sorgen; natürlich träumst du. Was glaubst du denn? Du musst träumen!« Er sprach mit leiser Intensität. »Ich träume nicht!« Ihre eigene Stimme bestürzte sie. Patricia berührte Jonathans Gesicht. »Ich auch nicht, meine Liebe«, sagte er. Doch dann spürte sie, dass sie doch träumte. Natürlich träumte sie; es konnte gar nicht anders sein. Der steinalte Mann winkte wild vom Eingang her. Dann waren sie drinnen, und Patricia erstarrte angesichts des Spektakels, das sie vor sich sah. Sie sah einen gewaltigen Raum voller Kerzen. Es waren Tausende von Kerzen; Lichtpunkte, dichte Gruppen, ganze Wände und flammende Kaskaden. Überdimensionale Vorhänge bedeckten die Fenster. Das Lichtermeer in den von Kerzen erhellten Bankreihen wirkte so leer wie ein Ort, an dem eine Prozession begann und endete. Die Luft roch nach heißem Wachs und Menschen. Am anderen Ende der Basilika befand sich eine Treppe. Unter ihr
musste die Grotte liegen. Der Eingang war pechschwarz. Hinter den flammenden Kerzen war er unmöglich zu erkennen. Vom Fuße der Treppe kam das Geräusch von Wasser. Als sie hinunterstiegen, wurde das Murmeln zu einem Echo erzeugenden Brüllen. In den Höhlen unter dem Flüsschen der Bernadette befand sich ein wüst schäumender Wasserfall. »Das Quellgebiet des heiligen Flusses Alpheus, wo Parsifal den Tod getrunken hat. Nun geh, und gebe dich Alpheus hin.« Sie sollte sich dem Tod hingeben? Patricia klammerte sich an Jonathan fest. Das einzige Licht kam aus dem phosphoreszierenden Schaum. Patricia wurde von unsichtbaren Händen übernommen und nach vorn getragen. Näher und näher kamen sie an das wogende Wasser, während Jonathan neben ihr hereilte. Das Wasser lief über das Gestein, floss durch eine Kammer und lief dann gurgelnd und widerwillig durch eine dahinterliegende Felsspalte. »Der Fluss will dich«, flüsterte der Alte, und über die Stimme des Wassers erhob sich eine noch tiefere und schrecklichere Melodie. Sie war wie das Dröhnen eines gewaltigen Horns, und mit jedem weiteren Dröhnen kam der Alte einen Schritt näher auf Patricia und Jonathan zu. »Nimm sie, Junge. Und dann ins Wasser mit ihr.« »Sie wird ertrinken!« Der Mund des Alten bewegte sich zwar, aber Patricia konnte nichts hören. Und plötzlich ging mit Jonathan eine Veränderung vor. Er warf seine Kleider ab. Dann war er nackt, und seine Haut glänzte in dem blauen Schillern. Er lächelte wie ein Irrlicht. Dann war sie in seinen Armen, lag hilflos an seinem nackten Leib, und das Wasser türmte sich um sie auf. Es strömte, zerrte und leckte, bedeckte ihre Magengrube, ihren Brustkorb und ihre Arme. Und dann ihr Gesicht. Jetzt hielt er sie nicht mehr fest; vielmehr drückten seine Hände sie nach unten. Patricia tauchte tiefer und tiefer und tiefer in das kalte, packende Dunkel hinein. Dann waren seine starken Arme weg. Sie stürzte, schlug wieder und wieder gegen die Felsen. Die Strömung zog sie zum Boden hinab. Ihre Arme waren nicht stark genug, um sich der Kraft des Wassers zu widersetzen. Nur ihre Beine konnten ihr helfen, doch sie waren nutzlos. Wenn man eine halbe Tasse Wasser inhaliert, reicht dies aus, um einen zu ertränken. Aber sie musste atmen, sie musste Luft holen!
Eine Welle der Qual schwemmte durch ihren Körper. Sie versuchte, die Hände vors Gesicht zu schlagen, doch es nützte nichts. Patricia wirbelte um ihre eigene Achse; sie war gefangen in einer Ecke zwischen dem Ufer und dem Boden des Flusses. Der Albtraum sollte aufhören. Aber wie konnte er es, wenn das Wasser so kalt und der Boden so hart war und ihre Lungen vor verzweifelter Gier beinahe platzten? Gott. Gott. Gott. Ihr linker Fuß ratschte über Stein. Patricia stieß sich ab, und einen Moment lang hörte das Stürzen auf. Doch dann ging es wieder los, schlimmer als vorher. Sie wusste, dass sich ihr Mund in einer Sekunde öffnen würde; dass sie Luft holen würde; dass die Luft aus Wasser bestehen würde. Ihr Fuß verband sich fest mit dem rauen Boden, und diesmal hörte sie auf zu stürzen. Patricia zog die Beine unter sich an und stieß sich aber wieso nur? mit aller Macht von der schmetternden Macht der Strömung ab, die sie festhielt. Sie kam frei. Die Luft war nasskalte Höhlenluft, aber es war Luft, und sie tröstete ihre brennenden Lungen. Sie hörte ein Klatsch-patsch! Klatsch-patsch!, und sah etwas, das wie ein watschelnder Frosch aussah, der sich ihr in dem Schaum näherte. Dann nahm er die Gesichtsmaske ab. Es war ein Mann in einem Taucheranzug. »Sie hat es geschafft!« rief er über das Wasser hinweg. Und die durch und durch gehende Melodie, die sie schon zuvor gehört hatte, dröhnte triumphierend auf. Jonathan, noch immer nackt, kam zu ihr. Sie verließen das Wasser Hand in Hand. In einem sehr kurzen Moment hatte sie den großen, steinharten Schenkel berührt. Sie hatte ihn keuchen gehört und gespürt, wie er gestrauchelt war. Nun sehnte sie sich danach, ihn anderswo zu berühren, ihn sanft zwischen den Fingern zu halten und lange Minuten nur damit zu verbringen, sein geheimes Teil zu streicheln. Mary Banion gab ihnen ihre Kleider. Patricia bewegte sich in der Dunkelheit zwischen den Klippen neuer Klänge. Zuerst erkannte sie sie nicht, doch dann verstand sie. Da waren Menschenmengen, die leise klatschten. Jonathan zog sie weiter. »Ich sehe überhaupt nichts«, sagte er leise. »Da drüben leuchtet was. Es kommt wahrscheinlich von den Kerzen oben.«
Hand in Hand näherten sie sich dem Licht. Als Patricias Schlaf tiefer wurde, nahm sie wahr, dass die Glocken läuteten. Doch sie träumte nicht zu Ehren der Glocken; sie schlief dem Morgengrauen des Vergessens entgegen.
14. Kapitel Als der Küchenabzugs-Ventilator unter ihrem Fenster eingeschaltet wurde, erwachte Patricia sofort. Ihr Schlaf war unruhig gewesen; sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb sieben. Die anderen schliefen noch. Ach, hätte sie doch nicht geträumt, sie könne wieder gehen. Es war grausam, sich derlei selbst anzutun. Die Patricia in ihrem Inneren war aufgrund ihrer Behinderung wütend auf sich, und das machte es der normalen Alltags-Patricia schwer, sich an sie zu gewöhnen. »Guten Morgen.« Jonathan flüsterte es ihr von seiner Koje an der Wand zu. Mike Banion neben ihm schnarchte leise. Pater Goodwin lag verdreht da. Mary, sehr still, war im Schlaf so blass wie eine schöne Statue. Auf ihrem rechten Arm, direkt unter der Schulter, befand sich ein rundes Pflästerchen. Patricia musterte es und dachte träge, dass es die einzige Unvollkommenheit war, die sie je ihren perfekten Leib hatte beeinträchtigen sehen. Auch Mary war nicht gegen Schrammen und Schnitte gefeit. Patricia hob die Arme, breitete sie aus, schloss die Augen und wartete eintausend Ewigkeiten darauf, dass Jonathan durch den Raum kam und sich über sie beugte. »Hallo«, sagte er. »Du bist ja ganz kalt. Hat das Bett dich nicht gewärmt?« Du hast dich in die wilden Wasser gewagt und gewonnen.
»Jonathan, bring mich raus. Ich möchte mit dir allein sein.« »Liebling, Liebling.« Sie tauschten einen langen Kuss. Dann zogen sie sich an, Jonathan streifte seine Jeans über, und Patricia mühte sich mit Rock und Bluse ab, schob die Füße in ein Latschenpaar und fuhr sich mehrmals mit der Bürste übers Haar. Er trug sie zum Rollstuhl. Als sie saß, zuckte sie zusammen. Das Ding hatte Klauen, es griff nach ihr; der Stuhl hungerte nach ihrem Leib. Jonathan schob sie durch den düsteren, muffigen Korridor. Sie kamen an endlosen Reihen kleiner schwarzer Türen mit Gucklöchern vorbei und gingen unter summenden, grellen Leuchten her, bis sie
einen breiten, krankenhausähnlichen Lift erreichten. Die Halle war noch dunkel, um diese Zeit war noch keiner da. Vor dem Hotel lagen ein gebündelter Stapel französischer Zeitungen und ein paar Exemplare des International Herald Tribüne. Jonathan schob sie schnell weiter. Er rannte fast über die Rue Reine Ciaire. »Wohin gehen wir?« »Am Ende der Straße ist ein Tor. Es führt ins Reich der Mutter Gottes. Dort wird es ruhig sein. Auf der Karte sieht es aus wie ein Park.« Patricia hatte ihn im Flugzeug in seinem Michelin blättern sehen. »Du hast den Stadtplan auswendig gelernt, weil du die Hoffnung hattest, den anderen zu entwischen, stimmt's?« »Yeah. Ich kenne alle Ausgänge.« »Ich liebe dich so.« Jonathan streichelte von hinten ihre Wange. Sie kamen an ein kleines, gusseisernes Tor, das zwischen zwei uralten Gebäuden lag. Dahinter war eine erdige Gasse, und hinter ihr eine ausgedehnte Grasfläche. Sie gingen eine ganze Weile über diese Wiese, dann standen sie abrupt an einem hohen Hügel. Das musste der Calvary sein. Hinter dem Hügel musste die Rosenkranz-Basilika aufragen. In entgegengesetzter Richtung fiel das Land zum Fluss hin in einem Wirrwarr aus Felsen, Farnen und verkrüppelten Bäumen ab. Jonathan hielt auf den Hügel zu; er schaffte es, den Stuhl durch das dichte Gras zu schieben. Er war so still und zielgerichtet. Es sah ihm gar nicht ähnlich. Dann verstand Patricia, was er vorhatte. Die Erwartung erregte sie, ließ sie beben und feucht werden. Gleich würde er sie lieben, ihr herrlicher Jonathan, und zwar mitten im Wald. Hundert Meter entfernt vom katholischsten Platz der Welt. War es nicht lustig, war es nicht traurig oder beides? Ach, Teufel, es war überhaupt nicht traurig! Sie hob ihre Hand nach hinten. Jonathan drückte sie sofort. Dann schob er sie weiter. »Du gerätst ja ins Schwitzen«, sagte sie. »Macht nichts.« Sie erreichten eine Baumreihe und fuhren ein kurzes Stück in den Wald. Es war eine ganz andere Welt. Fremdartig. Hier mischte sich das leise Summen der Insekten mit dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel. Das Licht war satt und grün. Wälder waren wunderbare Orte; doch nun verstand Patricia auch, warum die Bauern sie in
alten Zeiten mit Nymphen, Geistern und grollenden, rachsüchtigen Göttern bevölkert hatten. Sie hielten an. Schweigen. Die Insekten fingen wieder an, dann die Vögel. Doch soweit es die Menschheit anbetraf, waren die beiden herrlich allein. Er wird mich aus dem Stuhl heben. Und ich lasse ihn alles mit mir machen, was er will. Doch er zögerte. Hatte er Angst? War er verwirrt? »Ich habe geträumt, ich hätte dich in die Grotte getragen und ins Wasser geworfen, und dann konntest du wieder gehen.« »Das habe ich auch geträumt. Ich träume es oft.« Jonathan neigte den Kopf und küsste ihre Hände. »Ich hebe dich jetzt aus dem Stuhl.« »Wenn wir um acht nicht an der Basilika sind, wird man uns vermissen.« Wie kannst du nur so was sagen, Mädchen. Halt doch die Klappe; du willst den wunderbaren Augenblick doch nicht zerstören. »Macht nichts. Ich möchte dich nämlich bitten, mich zu heiraten. Bitte, sobald wir wieder in New York sind.« Er hob sie aus dem Stuhl und setzte sie auf den Waldboden. »Willst du es wirklich? Wirklich? Mich heiraten?« Er legte sich auf sie. Sie spürte die starre Krümmung seines Leibes und legte die Hände auf seinen Hintern, der sich unter den Jeans kräuselte. »Ich möchte ein Kind«, flüsterte er. »Falls du auch eins möchtest.« Sie war voller Lachen, Tränen und Dankbarkeit. »Oh, aber natürlich! Sicher will ich welche! Einen ganzen Haufen!« »Ich habe schon immer ein Kind gewollt. Ich möchte ihn Martin nennen, nach meinem Vater.« Typisch Mann. Ihm kam nicht mal der Gedanke, dass es vielleicht ein Mädchen werden würde. Aber es war ihr gleich jedenfalls im Moment. Keine Einzelheiten. Patricia zog ihn an sich. »Ich werde dich heiraten, Jonathan. O ja, ich will es auch.« »Ich sehne mich so sehr danach, Liebling. Bald. Wie schnell können wir es tun?« »Nächste Woche, falls wir das Aufgebot durchkriegen. Wir können den Pater fragen.« Aus schierer Freude aneinander lachten sie leise im Zwielicht des Waldes. Als Jonathan Anstalten machte, ihren Rock hochzuziehen, stoppte sie ihn. »Warte. Ich muss dir noch etwas
sagen.« »Keine Verzögerungen mehr. Ich halt es nicht mehr aus.« Er machte weiter. »Aber ich muss doch erst noch ja sagen! Ja! Ja! Ja!« Sekunden später war sie nackt; die Kleider lagen unter ihr. Er lag neben ihr und ließ seine Hände über ihren Leib wandern. »Du hast eine Gänsehaut.« »Es ist kalt.« »Bin ich kalt?« Seine Hände waren dort, wo sie sie berührten, wie Feuer. Er schien stark erregt zu sein. »Der Boden ist kalt. Du bist warm.« Sie reckte sich ihm entgegen. »Fass mich an«, flüsterte sie und spürte, wie ihre Wangen sich verfärbten. Sie hielt ihm ihre Brüste hin, und als sie die Beine spreizte, wisperte das Gras. »Fass mich überall an, wo du willst.« Er legte die Hand so fest auf ihre Magengrube, dass sie nach Luft schnappte. »Ach, hätte ich doch bloß nicht geträumt, du könntest gehen.« O Gott, hoffentlich macht er sich jetzt bloß keine Gedanken über die Sekunde, in der er mich gebeten hat, ihn zu heiraten. »Macht doch nichts. Ich habe das gleiche geträumt.« Das Wasser hatte gebrüllt, geschäumt und war vom Boden aufgestiegen; ein fantastischer, lebendiger Organismus so weit von normalem Wasser entfernt wie ein Dämon von einer milden menschlichen Seele. Ich töte oder heile, hatte das Wasser gesagt. Für mich ist das kein Unterschied. »Im Traum habe ich den Fluss...« »...Alpheus genannt. Den Fluss des Todes.« Seine Hand erstarrte auf ihrem Schenkel, packte zu. Sie sahen einander in die Augen. Patricia bewegte sich leicht. Er tat ihr ein bisschen weh. »Und als ich wieder gehen konnte, haben die Glocken geläutet.« »Das weiß ich auch noch.« Er verfiel in Schweigen. Als er wieder etwas sagte, war seine Stimme beinahe düster. »Was, in Gottes Namen, geht hier vor? Wir haben genau denselben Traum gehabt.« Worte, Gedanken, Fragen himmelten sich in ihrem Geist. »Aber Jonathan, ich kann doch gar nicht gehen! Also ist nichts anderes passiert, als dass wir beide uns sehr, sehr nahe gekommen sind.« »Du hast es doch noch gar nicht versucht.« Er zwickte sie fest in den Oberschenkel. Es tat weh; sie zuckte zusammen. »Du spürst etwas!« Jonathan stand auf, hielt ihr die Hände entgegen. Sie packte
seine kräftigen Finger und zog sich hoch. Einen Moment lang waren ihre Beine steif, und sie glaubte schon, sie würde straucheln. Jonathans Gesicht zeigte Ehrfurcht und höchstens Erstaunen. »So verrückt es auch klingt, wir haben es beide geträumt. Und du kannst wirklich gehen. Du kannst es!« »Lass mich nicht los!« Patricia hob den linken Fuß an und tat einen Schritt. Er blieb hinter ihr, ließ ihre Hände frei. »Tu's nicht!« Aber er blieb immer weiter zurück, bis sich am Ende nur noch ihre Fingerspitzen berührten. Dann holte sie keuchend Luft. Und ging. Sie hatte zwar die zaudernde, unsichere Gangart eines kleinen Fohlens, aber sie ging. Sie konnte alles spüren, von den Zehen bis zu den Oberschenkeln. Es war so wie früher, vor dem Zwischenfall. Jonathan eilte hinter Patricia her und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Patricia, Liebling, Gott segne das, was letzte Nacht passiert ist! Gott segne es!« Er hielt sie auf Armeslänge von sich. »Du bist so unglaublich schön! Oh, du bist so schön, so schön!« Er zog sie in seine Arme; er lachte und weinte in einem fort. Seine Hände strichen über ihren Rücken, er küsste sie pausenlos. Schließlich ging er in die Knie und umschlang ihre Taille. Patricia streichelte seinen Kopf, dann ging sie ebenfalls in die Knie. Ihre Leiber bildeten in der Kühle des Waldes ein kleines warmes Zelt. Jonathan zog sein T-Shirt aus und öffnete seinen Gürtel. »Soll ich?« Statt einer Antwort öffnete Patricia seinen Reißverschluss und zog seine Hose über seine Knie. Sie berührte ihn mit den Händen. Jonathan schloss die Augen und setzte sich auf seine Unterschenkel. Um sie herum seufzte der Wald im Morgenwind. Sonnenlicht fiel durch die Wipfel. Aus der Ferne kam der Gesang einer Menschenmenge. Sie lobpriesen Lourdes; die Gläubigen versammelten sich in der Basilika. Jonathan war warm und fühlte sich fest an; seine Haut wies das samtweiche Gefühl auf, an das sie sich erinnerte. Er hob die Hände an ihre Brüste, umfasste sie zärtlich und rieb die Handflächen an ihnen. Das Gefühl war so intensiv und schön, dass Patricia Stolz über ihre Fähigkeit empfand, Lust zu empfinden. Sie lächelte, und er beugte sich vor und küsste ihr Lächeln. Sie legten sich zusammen ins Gras. Sie spreizte für ihn die Beine, und er versuchte, in sie einzudringen. Er hatte auch nicht mehr Übung als sie. Schließlich musste sie ihn führen. Aber sie war zu eng. Das machte ihr angst. Würden sie versagen? Jonathan legte sich ganz auf sie. »Wenn du ihn wieder küssen
würdest, wie beim letzten Mal«, flüsterte er, »kriegen wir es vielleicht hin.« Ja, er musste feuchter werden. Menschen waren so feinfühlig konstruiert. Sie hatte nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, der Gedanke an das, was sie gleich tun würde, faszinierte sie. Sie erkannte in sich das Verlangen, sich ihm zu unterwerfen, und es war sehr, sehr stark. Wäre er ein roherer oder verschlagenerer Mann gewesen, hätte er unter Umständen einen Weg gefunden, sie zu seiner Sklavin zu machen. Patricia kniete sich zwischen seine Beine und nahm seinen Penis; die Spitze glänzte, als sei sie eingewachst. Sie nahm sie in den Mund. Er zuckte einmal, dann stieß er fest zu. Es tat weh. Sie behielt ihn eine volle Minute lang dort. Das Gefühl, dass er sie ausfüllte, war nicht schrecklich, im Gegenteil: Schon beim ersten Mal, als sie es getan hatte, hatte sie Lust verspürt. Wie ein weißglühendes Messer hat er sich in dich gebohrt. Es hat dich mit brennender, geschmolzener Lava erfüllt und aufgeschlitzt, bis du gedacht hast, der Schmerz bringt dich um.
Jonathan zog sich zurück. Er zitterte. In ihm sahen Leidenschaft und Zorn überraschend ähnlich aus. »Das reicht! Ich muss mich erst abregen.« Er holte kurz und wild Luft und sah sie an. Dann seufzte er und schloss die Augen. Nach einer kurzen Pause bat er sie, es noch einmal zu versuchen. Daraufhin legte sie sich neben ihn und spreizte die Beine. Diesmal drang er viel leichter in sie ein. Er stöhnte einmal, dann waren sie verbunden. Eintausend einsame Marienheim-Nächte: Wie fühlt es sich an? Es heißt, beim ersten Mal tut's weh, aber das darfst du ihn nicht merken lassen. Es heißt, man erlebt innerlich eine echte Explosion. Es soll millionen-, billionenmal schöner sein als das Herumgezappel mit einem Kissenzipfel. Millionen-, billionenmal schöner. Sie glaubte fast, dass das gesamte Universum sich um sie und ihre Liebe herum neu ordnete. Schon die geringste Bewegung erzeugte Wogen der Lust. Sie umschwärmten einander, schneller und schneller, zuckten aus der Mitte ihres Bauches hoch, bis sie ihren gesamten Leib durchströmten und bis in die Tiefen ihrer Seele vorzudringen schienen. Patricia konnte es kaum aushalten. Sie presste die Hände gegen ihre Schläfen, sie schrie, sie küsste sein Gesicht, seinen Hals, seine Schultern, sie leckte wild seine Haut und schaute in seine
hungrigen, gierigen, erregten Augen. Sie empfand gleichzeitig Freude und Trauer, das Spiel und die Tragik verknoteten sich und platzten in einer gewaltigen, schier unvorstellbaren Ekstase auseinander, die schrecklich und herrlich war und sie laut aufschreien ließ. Und dann bemerkte sie eine Hummel, die sich in der Nähe ihrer Köpfe an einer kleinen blauen Blume zu schaffen machte. Jonathan glitt aus ihr heraus. »Bleib drin.« »Ach, Liebling.« In seiner Stimme waren Liebe und Freude... und so etwas wie Erleichterung. Er presste seinen offenen Mund auf den ihren. Sie dachte, vielleicht ist etwas Besonderes aus uns geworden. Waren sie immer noch zwei normale Menschen? Bestand eine solche Möglichkeit? Die Hummel beendete ihre Arbeit an der Blume und flog weiter. Von der Basilika her kam das dumpfe Gemurmel Tausender Stimmen, die den Rosenkranz beteten. Plötzlich wich Jonathan zurück. Sein Gesicht platzte beinahe vor Glück. »Dies ist der schönste Augenblick meines Lebens!« »Meiner auch. Und wie schön er ist!« Er warf sich erneut auf Patricia und küsste sie. Es war schon nach neun, als ihnen zum ersten Mal der Gedanke kam, sich wieder anzuziehen. Jonathan machte ihr klar, dass er sie noch einmal lieben würde, wenn sie es wollte. »Wir müssen zurück. Sonst vermissen sie uns wirklich.« Er lachte leise. »Du kannst gehen! Verstehst du eigentlich die Ironie dieser Sache? Du fährst nach Lourdes und wirst geheilt. Es ist fast wie ein komischer Witz. Sieh mal, du wolltest nicht hier herfahren, ich wollte nicht, dass du hier herfährst. Nicht mal der alte Mike hat gewollt, dass du es tust. Und dann fährst du doch, und wirst durch irgendeinen verrückten Traum gesund.« »Glaubst du, es ist letzte Nacht passiert?« Jonathan sah sie an. Schüttelte langsam den Kopf. »Wir haben den gleichen Traum gehabt. Ich habe dich ins Wasser geworfen, und du hast es geheilt verlassen.« »Es hat mich verängstigt. Ich dachte, ich würde ertrinken.« Er zog sie eng an sich. »Dir weh zu tun wäre das allerletzte, was mir einfiele.« »Das Wasser war so laut. Es war wie ein Wasserfall oder so was, nur kam es buchstäblich aus dem Boden geschossen.« »Sie hat gesagt, es sei der Fluss des Todes.«
»Sie?« »Meine Mutter. Als du im Wasser warst.« »Dann war es doch kein Traum?« »Frag mich nicht, was es war, Liebling, weil ich die Antwort selbst nicht kenne. Ich weiß nur eins: Was es auch war, es hat die geistige Barriere gebrochen, die dich gezwungen hat, Abhängigkeit zu suchen.« »Ich war wirklich gelähmt, Jonathan! Sag nicht, ich habe es mir nur eingebildet.« Er drückte sie an sich. »Lass uns zur Basilika rübergehen. Ich glaube, du wirst unter einigen Menschen eine ziemliche Sensation hervorrufen. Und außerdem machst du Mike zu einem sehr glücklichen Mann.« Sie zogen sich an, strichen von ihren Kleidern die Lehm und Grasreste und gingen in die beruhigende, warme Sonne hinaus. Welch schönes Gefühl es war, wenn man sich wieder aus eigener Kraft bewegen konnte! Es tat aber auch weh; sie hatte ihre Beine jetzt mehr angestrengt als in den letzten drei Monaten. Sie legten die Arme gegenseitig um ihre Hüften und gingen über die grünen Graskuppen, die zur Basilika hinaufführten. Als sie näher kamen und den niedrigen Hügel erklommen, rauschte die Stimme der Menge auf dem Vorhof der Kirche über sie hinweg. Besingt Maria, rein und demütig, die Jungfrau und unbefleckte Mutter. Besingt Gottes allerheiligsten Sohn der ihr Kindlein ward. i Dann hob Jonathan sie auf die niedrige Mauer, die den Hof von dem dahinterliegenden Grünstreifen trennte. Auf dem Kirchhof hatten sich zahlreiche Kranke und Gesunde versammelt auf Krücken, Tragbahren und in Rollstühlen. Es waren alte und junge Leute; Geistliche, die in kleinen schwarzen Gruppen herumstanden, und Nonnen mit und ohne Tracht. Die Massen aus aller Welt kamen, um an dem schmutzigen, rieselnden Wasser des Lebens zu bitten. Patricia setzte sich auf die Mauer und weinte für sie, auch wenn ihr Körper nun von wiedererlangter Kraft sang. Ihr Geliebter zog sie an sich, und sie hörte sein abgehacktes Atmen. Weder Mekka noch der vergewaltigte Ganges kamen Lourdes in
schieren Pilgerzahlen nach. Patricia spürte das aufgebrachte, wilde, lebendige Ding unter dem Boden. Der sich dahin windende Fluss Alpheus schrie durch das Gestein. »Da ist meine Mutter. Sie hat uns gesehen. Mein lieber Mann, das wird was geben!« Mary Banion löste sich von der Menge. Als sie sich umdrehte, wurde sie von der Sonne geblendet und schirmte ihre Augen ab. Dann, in ihrem marineblauen Kleid prächtig anzusehen, den weißen Strohhut nach unten ziehend, kam sie schnell auf sie zu. Trotz der drückenden Augusthitze trug sie ein Herbstkleid mit langen Ärmeln. Patricia sah, dass die meisten Pilger ebenfalls lange Ärmel trugen. Nur Mike war dem Wetter gemäss gekleidet; er trug ein kurzärmeliges Sporthemd. »Komm von der Mauer runter, Pat. Ach, ich wünschte, sie würden mit diesem Gezeter aufhören!« Als stünde sie unter ihrem Kommando, verfiel die Menge in Schweigen. Patricia taten die Beine vom weiten Weg ziemlich weh. Mary und Jonathan halfen ihr herunter. Sie stand da und lehnte sich an die niedrige Mauer. »Mutter«, sagte Jonathan, »sie ist gesund.« Mary nahm sie in die Arme. »Ich wusste es, Pat! Ich habe es in meinem Herzen gefühlt!« Mike kam näher, sein Gesicht war ein einziges Staunen. »Schau jetzt nicht hin, da kommt Dad.« Er kam eilig auf sie zu. In seinem Schlepptau war Pater Goodwin. Er warf die Arme wie ein alter Bussard, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß und den Tränen der Aufregung. »Manchmal passiert es bei der Erteilung des heiligen Sakraments! Ist es dabei passiert?« Mary erwiderte: »Dabei ist es passiert. Erst vor ein paar Minuten.« Patricia fiel ein, dass das heilige Sakrament nach der Morgen und Abendmesse erteilt wurde. Der Gesang hatte also dem morgendlichen Sakrament gegolten. Doch das Wunder war in der Nacht geschehen. »Mary...« Marys Hand drückte die ihre. Patricia sah, dass sie vom Rand der Menge aus von einem sehr alten Mann beobachtet wurde. Inmitten der Menge befanden sich mindestens ebenso viele der eigenartig aufmerksamen Gesichter, wie sie sie schon bei der Bernadette-Rundfahrt gesehen hatte. Sie waren sogar mehr. Sie waren praktisch alle da.
Als Patricia den alten Mann direkt ansah, war ihr, als ginge das Sonnenlicht aus und verschwände die Wärme aus der Luft. Er drehte sich schnell um und verlor sich in der Menge. Ist Mr. Apple etwa doch nicht tot? Mike Banions muskulöse Arme umschlangen sie, und sie schmiegte sich an sein feuchtes Hemd. »Dem Himmel sei Dank!« »Vielen Dank, Mike; ich danke auch deinem Verein.« Patricia spielte jetzt eine Rolle, sie wusste es, aber irgendwie hielt es sie nicht auf. »Gott sei Dank«, fügte Mary hinzu. Pater Goodwin senkte den Kopf. Die großen Bronzetore öffneten sich, und die Menge, darauf bedacht, ihre Wunden und ihren Schmerz ans Wasser zu bringen, strömte in die Basilika. Patricia lehnte den Kopf an Mikes Schulter. Jonathan gesellte sich zu ihnen, und so blieben sie zu dritt so stehen drei gewöhnliche, normale Menschen, die sich gegen das Dunkel, das Unbekannte und gegen die Mysterien der Nacht wehrten. Patricia wünschte sich, sie hätte das Gefühl der Bedrohung abschütteln können, das sie in all den Wochen nicht verlassen hatte. Aber es gelang ihr nicht. Es wurde sogar Tag für Tag und Stunde für Stunde schlimmer. Um Himmels willen, sie war jetzt geheilt! Musste sie nicht jubeln?
8. August 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, mit tiefstem Bedauern muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Schwester Marie-Louise ihren Auftrag verweigert hat. Als der Tod Terence Quists zum Tod von Bruder Alexander Parker hinzukam, und da ich nicht einmal die Loyalität des Pfarrbezirks-Geistlichen garantieren konnte, hat die Schwester entschieden, das Risiko der Infiltration seiner Gemeinde sei zu groß. Theoretisch hat sie damit zwar recht, aber die Wichtigkeit unserer momentanen Mission ist zu hoch, dass ich Sie bitten muss, das
Offizium der Gesamtkörperschaft einzusetzen, um einen KriegerGeistlichen der alten Schule zu finden, der bereit ist, aus Gottesliebe das Letzte zu wagen. Falls Sie die Schwester erreichen wollen: Sie hält sich in den nächsten zwei Wochen im Esalen-Institut in Kalifornien auf, >um wieder zu klarem Verstand zu kommen<, wie sie es treffend ausdrückte. Des weiteren hat die Schwester verlangt, dass wir unsere Unterlagen über den Seuchenvirus an die weltlichen Behörden weitergeben, damit diese die geeigneten Schritte einleiten. Ich bin jedoch im Moment noch dagegen. Solange wir noch nicht völlig geschlagen sind, dürfen wir die Schädigung des heiligen Glaubens nicht riskieren; und genau das würde die Enthüllung unserer Existenz hervorrufen. Euer Gnaden, unsere einzige und letzte Alternative besteht darin, die Träger des Blutes zu neutralisieren. Bitte schicken Sie mir einen guten Mann! Möge Gott sich uns allen gnädig erweisen. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.) Dokumentklassifikation: Dringend A, höchstpersönlich, durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
12. Augustus 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Prefektus Congregationis Defensioni Fidei
Wir sind verärgert, Monsignore. Wenn Sie nicht mal die Loyalität Ihrer eigenen Geistlichen befehlen können, vermag ich keinen Grund mehr zu sehen, dass Sie Ihren Posten weiterhin ausfüllen. Kader aufgelöst, Märtyrertode, Inquisitoren, die ins Esalen-Institut fliehen? Was ist bei Ihnen eigentlich los? Sie weisen in Ihrem Schreiben sowohl auf Ihre persönliche Hilflosigkeit hin, wie auf die Dringlichkeit der Situation. Ich müsste Sie zwar Ihrer Amtes entheben, aber ich kann es mir nicht leisten, die Zeit aufzubringen, in einer solch gespannten Lage einen
anderen in die Materie einzuarbeiten. Monsignore, ich befehle Ihnen, sich selbst um den Fall zu kümmern. Bearbeiten Sie Goodwin, den Geistlichen des Pfarrbezirks. Versichern Sie sich, wenn Sie es können, seiner Hilfe. Das Monstrum und seine Gefährtin müssen um jeden Preis unfruchtbar gemacht werden. Wir können es uns einfach nicht erlauben, die Möglichkeit zu erwägen, dass sie den sogenannten Anti-Menschen in die Welt setzen. Tun Sie alles in dieser Hinsicht Nötige, und vergessen Sie jedoch nicht unsere bisherige Korrespondenz. Es hat zweitausend Jahre der Zucht gedauert, um die beiden hervorzubringen. Man kann die Bedrohung in zwei kurzen Sekunden zunichte machen. Deswegen trage ich Ihnen auf: Für Christus und den heiligen Glauben fassen Sie Mut. Sie haben früher tapfere Dinge getan, Brian. Sie haben stets gewusst, dass Ihre Tätigkeit eines Tages einen Märtyrer aus Ihnen machen kann. Nehmen Sie den Kelch, den der Herr Ihnen in die Hand gibt. Erinnern Sie sich an seinen Zorn im Garten von Gethsemane. Brian, ich kann Sie nicht zwingen. Aber ich entbiete Ihnen in dieser schweren Stunde mein Gebet. Ich segne Sie, mein Sohn. Sie selbst müssen unser persönlichstes Oppugnatio sein. Mea Auctoritate Paolo Cardinalis Impelliteri Dokumentklassifikation: Dringend A, in Gegenwart des Kuriers zu vernichten Bestimmungsort: Monsignore Brian Conlon, Kanzler der Ermittlung, Nordamerika, 1217 Füller Brush Building, 221 Hast 57th Street, New York, N. Y, 10022
15. Kapitel Das Abendlicht hob sich von den heißen Straßen in Queens. Tief unter den Fenstern der Wohnung dröhnte ein Bus und beschleunigte die Metropolitan Avenue hinunter. Jonathan wünschte sich, er könnte mit Patricia in ihm sitzen. Sie hatten einige Zeit damit verbracht, die Träume, die sie in der Nacht der Heilung gehabt hatten, sehr sorgfältig miteinander zu vergleichen. Die Träume ergänzten sich in jeder Einzelheit, und das so sehr,
dass Jonathan keinen anderen Schluss als den ziehen konnte, dass sie nicht geträumt hatten. Sie hatten tatsächlich irgendeine Art Erlebnis gehabt. Sie hielten sich beide am Rand des Unbekannten auf. Jonathan war bereit, alles an die Oberfläche zu ziehen, die Geheimnisse zu entschlüsseln und auf die Konsequenzen zu pfeifen. Aber wie nahm man eine Sache in Angriff, die man nicht verstand; eine Sache, die obwohl sie einem wie ein Albtraum vorkam dennoch fantastische Auswirkungen auf das wirkliche Leben hatte? Die Heilung zum Beispiel. »Ach, was«, hatte Mike gesagt, als Jonathan ihm von ihren übereinstimmenden Träumen erzählt hatte. »Das ist Zufall. Selbst wenn der Kult groß genug wäre, um ganz Lourdes mit zu umfassen, dann müssten eine Unmenge Leute daran beteiligt gewesen sein. Es hätte eine undichte Stelle geben müssen; aber es gab keine. Ich halte nach einer Gruppierung Ausschau, die mitten in Queens Anfang und Ende hat. Sie ist sicher groß genug, dass sie so heimtückisch sein kann wie die Hölle was sie offenbar auch ist -, aber auch klein genug, um sich gut zu verstecken. Was Patricias Heilung angeht nimm sie einfach hin. Danke Gott, dass es so gekommen ist.« Albträume. Reinigungsriten. Heilungen. Jonathan konnte nichts davon einfach hinnehmen. Er akzeptierte nicht mal die Art und Weise, wie man sie auf den Straßen von Lourdes beobachtet hatte. Mike hatte auch das abgeschmettert. »Die Stadt ist halt voll mit Franzosen«, schien ihm als Erklärung völlig auszureichen. Nachdem er sich Jonathans Geschichte während des Heimflugs angehört hatte, war Mike in Schweigen verfallen. Er hatte lange Zeit in die Ferne gestarrt, ihnen beiden schließlich beruhigend die Schulter getätschelt und gesagt, sie sollten sich entspannen. Nun stellte er beinahe eine Heimsuchung für sie dar; er war entweder persönlich bei ihnen, oder einige seiner Leute hielten sich in der Gegend auf. Das beschützende Netz, das sie umgab, wurde enger gezogen. »Patricia«, sagte Mike mit einer kalten Zigarre zwischen den Zähnen, »ist dir nicht heiß?« Sie saß auf dem Sofa, hatte die Arme auf die Rückenlehne gelegt, und das blonde Haar klebte an ihrer Stirn. »Wenn du die Klimaanlage einschaltest, könnten wir die Fenster zumachen.« Er fuhr sich mit einem Taschentuch über den Hals. »Wenn sie an ist, ist es noch schlimmer«, erwiderte Patricia. »Zu feucht. Die Wicklungen frieren ein.«
»Hat dir der Hausmeister das erzählt? Scheißdreck. Jemand hat an dem Ding rumgebastelt, weil er die Rechnung nicht bezahlen will. Scheiß-Hausbesitzer. 'tschuldigung.« Aus einem vorbeifahrenden Wagen plärrte Musik. Jonathan ging ans Fenster. Er sah, wie ein weißes Lincoln-Coupe an der Ampel hielt. Das Verdeck war unten, auf den Sitzen hockte eine Meute teuer gekleideter, lärmender Schwarzer. Heiliger Bimbam. Sie trugen Hemden aus China-Seide und verteilten weißen Staub in kleinen Zellophantütchen. Hinter ihm atmete Mike schwer, fast sogar schmerzhaft. Er musterte sie mit gequälten Blicken. »Hast du deine Meinung geändert, Dad? Glaubst du jetzt doch, dass die Sache über Queen hinausreicht? Hängst du deswegen die ganze Zeit hier rum?« »Na, komm, Johnnyboy; lassen wir das.« Jonathan hörte, wie er auf seiner Zigarre kaute. Patricia rührte sich auf dem Sofa. Sie holte eine Schale mit Eiswasser und fing an, ihr Gesicht mit einem Handtuch abzutupfen. »Ich möchte es wissen. Du bist hergekommen und siehst dich um. Aus welchem Grund, zum Teufel?« Mike gab keine Antwort. Patricia ging ans Fenster. »Er weiß selbst nicht, warum er hier ist; stimmt's, Mike?« Endlich schnitt Mike seine Zigarre ab und steckte sie an. »Ich werd's euch sagen«, sagte er, ohne das Ding aus dem Mund zu nehmen. »Ich bin hier, weil ich hier bin. Es kostet doch nichts, wenn man neugierig ist.« »Wir sind alle von der Reise und der Hitze übermüdet, Dad. Vielleicht kann eine Mütze Schlaf...« »Vergiss das, Johnny. Ich habe versucht, euch wegen der Sache in Frankreich abzuwiegeln. Aber es hat keinen Sinn. Ihr glaubt mir doch sowieso nicht. Also kann ich ruhig zugeben, dass ich glaube, dass wir es mit einer größeren Sache zu tun haben. Mit einer sehr großen. Da drüben ist irgend etwas vor sich gegangen. Ihr seid ebenso wenig verrückt wie ich. Stimmt's? Es stimmt doch, oder?« »Natürlich stimmt es«, erwiderte Jonathan. Patricia streckte den Arm aus, um Mikes Schulter zu berühren. Er wich ihr aus und schaute dann auf ihre Hand. »Ich meine, du warst wirklich gelähmt, oder nicht? War es nun eine Art Scherz, oder was, zum Teufel, sonst?« »Mike, ich war gelähmt! Oh, ich war es bestimmt!« »Okay. Verzeihung.« Mike schüttelte den Kopf, dann kramte er
in der obersten Tasche seines Jacketts und zog ein Blatt Papier hervor. Jonathan sah, dass es sich um den dritten Durchschlag eines Polizeiberichts handelte. »Das ist ein Bericht über die Observierung der Heiligen-Geist-Kirche der letzten drei Wochen.« Mike öffnete ihn. »Das gottverdammte Ding ist sauber.« »Dann sind sie zu einer anderen Kirche umgezogen.« Mike lächelte dünn. »Warum sollten sie das tun? Allmählich glaube ich, wir drei sind die einzigen, von denen wir wissen, dass sie nicht in dieser Sache drinstecken. Eure Bewacher kommen jetzt vom hundertsiebenten Revier, nicht mehr vom hundertzwölften«, fügte er mit galliger Stimme hinzu. »Vielleicht ist es so sicherer.« Jonathan hörte die Wut, die in ihm war. Kein Wunder, dass Mike Angst hatte. Er hatte gerade gesagt, dass er nicht mal mehr seinen eigenen Leuten traute. »Möchtest du einen Gin, Dad?« Mike sah wortlos vor sich hin; die Papiere lagen auf seinem Schoss. Patricia ging in die Küche und brachte eisgekühlte Gläser mit. Sie machte drei große Gin-Tonic. Mike lächelte. »Dich gehen zu sehen, Liebling, o Gott, ich werde sentimental. Was bin ich doch für ein sentimentaler alter Furz geworden.« Er nippte an dem Drink, den sie ihm reichte. »Als ihr beide am Abend vor der Heilung rausgegangen seid, wo seid ihr da gewesen?« Patricias Augen weiteten sich. »Bist du ganz sicher, dass wir hinausgegangen sind?« »Nicht nur ihr. Mary war auch nicht mehr da, als ihr mich beim Rausgehen geweckt habt. Offen gesagt, ich dachte, ihr hättet etwas Persönliches vor; etwas, das mich nichts angeht. Deswegen bin ich im Bett geblieben. Wohin seid ihr gegangen?« »Ich habe dir in der Maschine erzählt, dass ich geglaubt habe zu träumen.« Jonathans Kehle war so trocken, dass er an seinem Glas nippen musste, bevor er sprechen konnte. »Ihr habt nicht geträumt. Ihr seid wirklich rausgegangen, alle beide. Du weißt doch wohl noch, dass du sie getragen hast.« »Das ist ein eindeutiger Beweis«, sagte Jonathan, der es kaum fassen konnte, diese Worte zu hören. »Warum hast du es nicht eher gesagt? Warum hast du es in der Maschine angezweifelt?« »Es ist ein Trick. Manchmal sickern so ein paar Fakten mehr durch. Aber wenn du rausgegangen bist, musst du doch wissen, wohin du gegangen bist, und was du gemacht hast. Sollte man jedenfalls annehmen.«
»Mike«, sagte Jonathan, »ich glaube, du verstehst es immer noch nicht. Ich habe mehrere Wochen lang geglaubt, ich stünde unter irgendeiner Art Hypnose. Jetzt habe ich den Eindruck, dass es Patricia ebenso geht. Die Geschichte, die ich dir in der Maschine erzählt habe, stimmt. Wir sind möglicherweise wirklich in die wahrhaftige Welt rausgegangen, aber wir erinnern uns nur noch wie an einen Traum daran.« Er musste auf Gedeih und Verderb einen Versuch unternehmen, Patricia an seine Geräte zu kriegen. Sonst würde das Rätsel immer größer und größer werden, bis es sie beide auffraß. Aus dem Abend war Nacht geworden. Jetzt wurde das Zimmer von unten her durch grelle Natriumdampf-Straßenlaternen erhellt. Ein paar Kinder hatten einen Hydranten geöffnet und kreischten schrill unter der unerlaubten Dusche. Jonathan beneidete sie. Das Gefühl einer beinahe unvorstellbaren Bedrohung schien die Luft in der Wohnung zu erfüllen. Mit der heimlichen Übereinstimmung, die Liebende verbindet, berührte Patricia Jonathans Schulter. Das feuchte, warme Fleisch ihres Armes kam mit dem seinen in Kontakt. Er wusste, woran sie jetzt dachte. Die Heirat. Sie war darauf aus, Mike über ihre Heiratspläne zu informieren. »Lasst die Alarmanlagen eingeschaltet, und zwar in jeder Minute, die ihr hier verbringt. Wenn ihr rausgeht, sind wir in eurer Nähe.« »Wir haben Pater Goodwin gebeten, uns zu trauen«, sagte Patricia leise, doch fest. »Am Samstagabend. Das Aufgebot ist schon bestellt.« Sie lächelte. »Es liegt an unserer Ungeduld und an den ungewöhnlichen Umständen unserer Situation.« Mike nahm die Zigarre aus dem Mund. Sein finsteres Gesicht wurde schlagartig freundlich. »Heee! Das ist gut! Und wie gut es ist! Wie nett, dass ich es auch erfahre!« »Sie war's, Dad. Sie wollte es in der Maschine nicht sagen.« »Die Leute haben schon meine Heilung gefeiert. Da wollte ich nicht noch mehr Aufsehen erregen.« »Die Leute haben sie in der Maschine am laufenden Band geküsst. Ich glaube, es war ihr peinlich.« »Ihr seid ja flott.« Mike setzte einen gemütlichen Blick auf. »Ihr wollt doch nicht etwa ein Sieben-Monats-Wunder auf die Beine stellen, was?« Patricia errötete. »Nicht doch, Dad; nicht im geringsten. Wir sind nur zwei ungeduldige junge Leute.«
»Oh, sicher! Ihr könnt es kaum erwarten, euch den ersten Kuss zu geben. Schade, dass ihr euch so schnell entschlossen habt; da kann man ja gar nichts mehr planen. Aber ich bin einverstanden, wenn es euch glücklich macht.« »Wir wollen es im kleinen Kreis feiern.« »So wie jetzt. Jetzt wollt ihr doch auch einen kleinen Kreis, oder?« Mike hatte an Selbstbewusstsein gewonnen. Jonathan hätte ihn am liebsten in die Arme genommen. »Wir haben dich gern bei uns, Dad.« Mike hievte sich aus dem Sessel und trank seinen Gin. Als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme scharf. »Ich spiele zwar nicht gern den Miesmacher, aber ich muss es sagen: Nehmt euch in acht. Ihr zwei seid schwer in Ordnung.« Er streckte die Hände aus und schien sie umarmen zu wollen. »Ich will es, verdammt noch mal, wirklich erleben, wie man sich als Großvater fühlt.« Er drehte sich um und ging mit schweren Schritten zur Tür hinaus. Jonathan und Patricia tauschten einen Blick. »Legen wir uns hin«, war alles, was sie sagte. Sie waren erst einen Tag zu Hause und litten noch immer unter der Zeitverschiebung. Zu müde, um sich zu lieben, gaben sie sich mit einer gemeinsamen Dusche zufrieden und kuschelten sich im Bett aneinander. Als Jonathan erwachte, hatte er zwar das Gefühl, dass es spät war, aber es war erst zehn. Er küsste seine zukünftige Frau und berührte sie mit seiner unausweichlichen Erektion. Sie stöhnte. Er drang in sie ein, und sie seufzte halbwach. Diesmal war es leichter. Ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Jonathan legte los; er gab sich alle Mühe, es lange währen zu lassen. Er war völlig gefangen von der erstaunlichen Erfahrung des zweiten Mals mit dieser sehr schönen Frau. Er hatte es einmal geschafft, ohne die Schlange freizulassen. Bestimmt war es beim zweiten Mal noch leichter. Das Telefon läutete. »Lass es klingeln.« Es läutete wieder. Und wieder. Jonathan bemühte sich, es zu ignorieren, aber es hörte einfach nicht auf. Schließlich löste er sich von ihr, und da er der wachste von ihnen war, schlenderte er ins Wohnzimmer und hob ab. »O hallo, Mutter.« Was hatte sie doch für ein tolles Zeitgespür. Als sie das Wort ergriff, spürte Jonathan, dass seine Erektion nachließ. »Ihr müsst vorsichtig miteinander sein«, sagte sie mit nervöser Stimme. »Ich hatte nicht erwartet, dass du so schnell zu ihr ziehen würdest. Du solltest bis nach der Hochzeit damit warten. Ich glaube,
du hast deinen Vater in Verlegenheit gebracht.« Das sah ihm aber nun gar nicht ähnlich. »Und mich bringst du auch in Verlegenheit.« Das entsprach wahrscheinlich der Wahrheit. »Ist Dad da?« »Er ist gerade reingekommen.« »Nun, ich kann nicht mehr dazu sagen, als dass wir beide erwachsen sind, und dass wir es wirklich zu schätzen wüssten, wenn du dich nicht einmischst.« Sie hängte ein. Jonathan starrte das Telefon einen Moment an. Dass Mary Banion einfach den Hörer auflegte, war auch nicht typisch für sie. Es war auch nicht ihre Art, sich in sein Privatleben einzumischen. Welche Rolle spielte sie überhaupt in diesem Spiel? Laut Mike war sie zu der Zeit, als die Heilung stattgefunden hatte, nicht in ihrem Hotelzimmer gewesen. Welche Rolle spielst du, Mutter? Vielleicht war es nur ein Zufall. Teufel, vielleicht ging es hier überhaupt nur um Zufälle und um Hysterie. Jonathan musste es herauskriegen. Neben diesem dringenden Bedürfnis kam ihm die Zeit des Liebens fast verantwortungslos vor. Er ging ins Schlafzimmer zurück. Patricia hatte die Arme gehoben und lud ihn ein, sich zwischen sie fallenzulassen. Aber er blieb, wo er war. »Patricia, wir müssen zum Labor. Wir müssen rauskriegen, welche Rolle wir in dieser Angelegenheit spielen.« »Warum? Wir sind doch zusammen.« Er wollte durch die Stränge ihres Geistes gehen und das Wahre vom Eingebildeten trennen. »Wir haben keine Ahnung, was hier wirklich vor sich geht. Das ist das ganze Problem. Es ist verrückt, dass wir hier so rumliegen. Auf uns wartet Arbeit.« »Was können wir tun? Wir können uns doch an nichts deutlich erinnern. Keiner von uns.« »Mein Labor kann uns helfen. Die Instrumente erkennen den Unterschied zwischen Träumen und Erinnerungen. Wenn wir hypnotisiert sind, glaube ich, dass wir den Bann lösen können.« Er erzählte ihr nichts von seinem Selbstversuch. Es hatte keinen Sinn. Die Geschichte würde sie nur ängstigen, und er wollte sie dem 6-66 nicht aussetzen. Er würde die Instrumente persönlich steuern. Patricia zog ihn auf sich und küsste ihn mit Zärtlichkeit und Geschick. Ihre frühen Küsse waren stürmische Klatscher gewesen, doch nun war sie seine Geisha geworden. Hure konnte man nicht sagen, nein, weil sie diejenige war, die bestimmte. Er kam sich
versklavt vor, so geschickt umgarnt, dass er es selbst kaum merkte. »Bitte, Patricia, komm mit. Bitte.« »Wir könnten uns weh tun. Was ist, wenn es Dinge gibt, die wir nicht wissen möchten?« »Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier ein schreckliches Drama aufgeführt wird. Und dass wir die Hauptrollen spielen.« Eine leichte Spannung legte sich auf ihr Gesicht; man erkannte es an der vorsichtigen Stellung ihrer Lippen und dem Blick ihrer Augen. Vielleicht war sie auch ein bisschen wütend oder ängstlich. »Erzähl mir deine Träume, Jonathan.« »Ich habe dir meinen Lourdes-Traum erzählt.« »Aber du hattest noch andere.« »Sie stoßen mich ab.« »Du warst nicht dabei, als ich verletzt wurde. Du warst nicht dabei!« »Ich weiß es nicht mehr.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter. »Wir haben uns beide entschieden, davon auszugehen, dass du nicht verantwortlich warst. Und wir haben nicht den kleinsten Beweis, der das Gegenteil sagt. Sollten wir es nicht lieber so belassen?« »Wenn ich dir je weh getan hätte, würde ich mich umbringen!« Sie schaute ihn an. »Du bist so anständig, Jonathan. Deswegen liebe ich dich so sehr. Verstehst du dich eigentlich selbst? Du bist der sanfteste Mann, der mir je begegnet ist. Du könntest weder mir noch sonst jemanden weh tun!« Er hatte noch nie in einem so weichen Gesicht eine so feurige Überzeugung gesehen. »Was ist, wenn ich es war? Was ist, wenn ich es war? Ich habe es mehr als einmal geträumt.« »Ich will nur dich, den Jonathan, den ich kenne und liebe, und dem ich vertraue. Das ist der Jonathan, den ich kennen möchte.« Er konnte das, was er hörte, kaum glauben. Sie übersah ganz einfach das, was er ihr über seine Träume sagte. »Glaubst du nicht, ich könnte es getan haben ich meine, wenn ich schon davon träume?« »Als du ins Krankenhaus gekommen und mich durch das Fenster angesehen hast, wusste ich sofort, dass du es nicht warst.« Sie senkte den Blick. »Du hast so sehr gelitten.« »Und was ist mit Lourdes? Mein Gott, du musst mir doch zustimmen, dass wir herauskriegen müssen, was dort passiert ist!« Sie nahm seine Hände. Als sie sprach, hatte er Mühe, zu
lauschen, so leise war ihre Stimme. Sie ignorierte Lourdes. »Wenn du es warst, kann ich es mir, glaube ich, erst recht nicht leisten, es zu wissen.« Sie kuschelte sich enger an ihn. Er zog sich zurück. Die Sache entwickelte sich absolut falsch. »Wir müssen es herauskriegen. Wir sind es uns doch schuldig, und den anderen vielleicht auch.« Er fasste ihr Handgelenk. »Wir fahren jetzt sofort zum Labor.« »Nein!« Jonathan wollte sie nicht zwingen. Er konnte es nicht. »Bitte. Du musst jetzt auch an die anderen denken, nicht nur an uns. Was ist, wenn ich gefährlich bin? Was ist, wenn wir beide ein Teil von etwas Schrecklichem sind?« »Jonathan, ich möchte es nicht wissen! Ich möchte nur, dass wir zusammen sind, dass wir uns lieben und eine Familie haben.« »Mein Gott Liebling, wir sind hypnotisiert. Willst du denn gar nicht wissen, warum jemand so in unser Leben eingreift?« Sie berührte sein Gesicht. »Du bist ein Narr.« »Ich muss es wissen!« Patricia schloss die Augen und nickte. »Es gefällt mir nicht, das zu hören. Aber du musst es wirklich, nicht wahr? Du kannst nicht mit dir leben, wenn du es nicht weißt.« »Lass uns gehen. Jetzt sofort.« Er hatte kein Geld für ein Taxi nach Manhattan; sie mussten sich mit der U-Bahn begnügen. Sie saßen in einem fast leeren Wagen auf orangenen Kunststoffsitzen. Jonathan verstand sie einfach nicht. Einerseits war sie eine so empfindsame und moralische Person, und andererseits beinahe gleichgültig, wenn es um die Frage ging, ob sie nicht alle beide in irgendeiner gefährlichen Geisteskrankheit gefangen waren. Sie wollte nicht mal in Betracht ziehen, ob der Mann vielleicht nicht bei Sinnen war, der wollte, dass sie ihn heiratete. Er fühlte sich wie begraben und holte tief Luft. Das war die Anspannung. Jonathan schloss die Augen, lauschte dem Rattern der Bahn und ließ seine Gedanken umherschweifen. Wir haben einen Dämon zwischen uns, sie und ich. »Hier ist die Haltestelle, Schatz.« Sie stiegen an der West Fourth Street aus und gingen die Treppe hinauf, in den wimmelnden Sommerabend von Greenwich Village hinein. In der West Fourth Street kamen sie an den unverwüstlichen Bumslokalen und Billigfraßbuden, die den New Yorker Studenten und den endlosen Touristenströmen zu Diensten waren, und an dem
schiefen Reihenhaus vorbei, das die Epsilon Rho-Verbindung beherbergte. Dann gingen sie durch die Sullivan Street. Als sie so dahingingen, trat eine dunkle Gestalt nach der anderen an sie heran, und sagte »Paff, Paff«, und gelegentlich hielt ihnen auch jemand eine offene Tüte mit Pillen entgegen. Irgendwo spielte jemand einen beklemmenden, himmlischen Ragtime auf Steeldrums. Das Einbiegen in die Rayne Street brachte sie schlagartig in eine andere Welt. Die Straße war dunkel und still. Touristen und Studenten kamen hier nicht her. Es war zu gefährlich in der Nacht. Die Straßenlaternen an beiden Enden des Blocks durchdrangen kaum die Finsternis. Jonathan hätte es lieber gesehen, wenn Patricia wie ein unabhängiges menschliches Wesen gegangen wäre statt mit gebeugtem Kopf an seiner Hand. So wirkte sie, als müsse sie, ungeachtet ihrer eigenen Gefühle, dorthin gehen, wohin er sie führte. »Tut mir leid, wenn ich dich zu sehr in Anspruch nehme.« »Ist schon in Ordnung.« »Es geht doch um unser persönliches Bestes.« »Ich möchte nur nicht riskieren, dass sich etwas zwischen uns schiebt. Ich liebe dich so sehr.« Er führte sie über die Außentreppe zum Keller hinunter. Als er vor der Tür vor Raum oi4A anhielt, blieb sie still neben ihm stehen. Als er sie losließ, um nach dem Schlüssel zu suchen, faltete sie die Hände und schaute zu Boden. »Du machst es mir sehr schwer.« »Ich weiß.« Als sie ihn ansah, war ihr Blick voller Unheil. »Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, du bist ein Idiot.« »Na, immerhin ist ein Teil deines alten Geistes wieder da. Sieh es doch einfach als Abenteuer an.« Er fand den Schlüssel und öffnete das Labor. Drinnen schaltete er die sechs Lichtschalter ein, die den höhlenartigen Raum in gleißende Neonhelligkeit tauchten. »Vielleicht ist es sogar eins. Man kann es nie wissen.« Das Labor war gereinigt worden. Man hatte den kaputten Mikrocomputer ersetzt, und die Bakterien waren nicht mehr da. Sogar die Tür, die zum Kulturen-Labor geführt hatte, endete jetzt nur noch in einem Abstellraum für Computerpapier. Jemand hatte etwas unternommen, um alle Hinweise auf die Bakterienkultur, die er hier gesehen hatte, zu vernichten. Und das kam Jonathan in der Tat äußerst unheimlich vor. Er musste sich
zwingen, jetzt nicht darüber zu spekulieren. Momentan war nicht die richtige Zeit, sich deswegen Sorgen zu machen. »Ich kenne überhaupt keine Bakteriologen!« »Jonathan?« »Entschuldige. Ich habe laut gedacht.« Jetzt, wo das andere Zeug nicht mehr da war, war der Raum wieder sein altvertrauter Arbeitsplatz. Es machte Spaß, in einem guten Labor zu arbeiten, und wenn es wieder intakt war, bildete es keine Ausnahme. »Mag sein, dass ich aufschneide, aber bitte, lass mich mal machen und bewundere den Raum.« Er machte eine Geste. »Sieh dich ruhig um.« »Ich verstehe nicht im geringsten, wozu er dient.« »Meine Liebe, hier siehst du etwas, das einer Gedankenlesemaschine am nächsten kommt.« Er ging zu der Werkbank hinüber, auf der das meiste des digitalen EEGAnalysators unter einer Kunststoffplane lag. »Sie braucht nur ein bisschen Saft, ein bisschen Software und ein bisschen Liebe, und dann sagt sie uns genau aber wirklich genau -, was in den tiefen Vertiefungen des Geistes verborgen liegt.« »Hör zu, ich sage es jetzt zum letzten Mal. Du machst einen Fehler, Jonathan. Was wir tun sollten, ist vergessen.« »Tu es meinetwegen, Schatz. Es dauert nur eine Viertelstunde.« »Es betrübt mich, dass ich mich an etwas erinnern soll, dem ich mich einfach nicht stellen möchte. Soll Mike diese Leute doch finden, wenn er es kann. Ich möchte nur vergessen. Und du solltest es auch tun. Außerdem lügt deine Maschine vielleicht.« »Tu's mir zuliebe. Lass mich rausfinden, was sie sagt. Ich werde nie Frieden finden, wenn ich es nicht tue.« »Könntest du doch nur verstehen, wie sehr ich dich liebe, Jonathan Banion. Du bist ein Teil meiner Seele.« Er nahm sie in die Arme und spürte, dass sie zitterte. »Verzeih mir.« »Was ist, wenn uns das, was wir entdecken, nicht gefällt?« »Wir müssen das Risiko eingehen. Kann es etwas Gutes bringen, mit einer Lüge zu leben? Das möchte ich nicht, und ich glaube, du ebenso wenig. Wenn wir uns wirklich lieben, müssen wir die Wahrheit kennen.« »Selbst dann, wenn sie alles zerstört?« Er drückte sie fest an sich. »Wenn es nicht anders geht, müssen wir uns ihr stellen. Es geht darum, die Wahrheit zu finden, erst dann
können wir uns mit ihr auseinandersetzen.« »Du hast mich nicht vergewaltigt. Du nicht.« »Das werden wir unter anderem herauskriegen müssen.« Sie schrie ihn an: »Ich will es aber nicht!« Patricia musterte die Instrumente, die er aufgedeckt hatte, wie einen Haufen sich windender Schlangen. Ihr Lippen zuckten. Einen Moment lang sah es so aus, als verlöre sie die Besinnung. »Ich traue mich nicht mal, darüber nachzudenken. Ich weiß nur, dass es tief in meinem Innern eine schmutzige Erinnerung gibt, in der es um... um... Ach, ich weiß es selbst nicht geht.« Um mich?
»Liebling, ich muss dich bitten, dass du dich in die Kabine legst. Und entschuldige bitte den Schimmel.« Wird dein Verstand uns sagen, was meiner mir nicht sagen will? Er wischte die Liege ab. »Ich tue es nur deinetwegen, Jonathan. Nur deinetwegen. Und ich möchte, dass du zu den Akten nimmst, dass es ein Fehler ist.« Sie legte sich hin. Jonathan wurde von einer Erinnerung an Mike heimgesucht: Mike, wie er auf dem Sessel saß, an der Zigarre kaute. Sein kahler Schädel glänzend vor Schweiß. Wir haben alle Angst.
Bestimmt würde eine Befragung durch die Instrumente sanfter mit ihrem Geist umgehen, als das 6-6-6 mit dem seinen umgegangen war. Er hoffte es wenigstens; wenn sie auch nur ein Zehntel der Qual ertragen musste, die er ertragen hatte, würde er sich niemals vergeben. Jonathan stellte die Modem-Verbindung zum Cray 2000Computer her, der seine Software kontrollierte, und gab sein persönliches Passwort ein. Der interne Prompt erschien auf seinem Bildschirm. Der Computer war bereit. Dann gab er den Befehl zum Laden der Software aus der Corvus-Festplatte neben seinem Terminal an. Das Laufwerklämpchen ging an. Als es erlosch, wusste Jonathan, dass das schnelle und wendige Programm auf den Cray überspielt worden war. Der Cray zeigte einen diamantförmigen Prompt; er zeigte an, dass die Software geladen war. »Wir sind jetzt im Programm«, sagte er zu seiner wartenden Testperson. Oder Patientin. Oder war sie sein Opfer? Patricia lag still auf der Liege und beobachtete ihn. »Bringt bloß meine grauen Zellen nicht durcheinander, Ritter Lancelot.« »Ich fürchte, du wirst gleich wie Ritter Lancelot aussehen.« Jonathan nahm den Helm. Er enthielt einhundertachtundzwanzig
druckempfindliche Elektroden und stellte eine große Verbesserung gegenüber der alten Methode dar. Aber mit den Kabelmassen, die aus ihm hervorkamen, sah er aus wie ein Teil, das zum Kopf eines Roboters gehörte. Patricia lachte, als sie das Ding sah. »Wir brauchen einen Fotoapparat. Ich möchte, dass du nie vergisst, wann ich am schönsten war.« Er sah sie lange an. »Ich würde es nicht tun, wenn es nicht sein müsste.« »Lass mich nie allein, Jonathan. Egal, was auch passiert.« Jonathan passte den Helm ihrem Kopf an, und sie lachten zusammen. »Ich möchte wirklich ein Foto davon haben«, sagte Patricia. Jonathan wandte sich wieder den Geräten zu. Patricias Hirnwellenmuster zuckten über den Bildschirm des Oszillographen. »Erinnerst du dich an den Abend? Wir waren zusammen. Wir haben etwas getrunken. Und dann?« »Jonathan, frag doch lieber etwas über Lourdes.« Er musterte seine Instrumente. »Erinnerst du dich? Wir waren zusammen; wir hatten gerade etwas getrunken...« »Du bist gegangen!« Die PV 22o-Welle zeigte einen Höhepunkt, dann beruhigte sie sich. Der Gedanke entstammte nicht ihrer Erinnerung; er war aber auch keine Lüge. Er war ein Implantat, eine künstliche Erinnerung. Um einen hypnotischen Block zu brechen, musste man Implantate dieser Art ansprechen. Es war ein schicksalsträchtiger Augenblick. Wenn er zerbrechen wollte, was in ihrem Gedächtnis eingepflanzt worden war, um es zu löschen, mussten seine nächsten Worte dies tun. »Du erinnerst dich nicht daran.« »Es war aber so.« »Versuch es noch mal. Wir haben etwas getrunken. Angenommen, ich bin gegangen. Was ist nun eigentlich wirklich passiert?« Der Laut, den sie ausstieß, war kein Aufschrei. Es war eine Eruption. Jonathan eilte zu ihr. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Patricia eine gespenstisch fahle Farbe angenommen. Die Augen quollen ihr fast aus den Höhlen. Ihr Schrei wurde plötzlich von einem Gläser zerspringen lassenden Kreischen zu einem vibrierenden Stöhnen. Dann fing der Computer an zu piepsen. Jonathan reagierte automatisch auf das Signal und drückte die Löschtaste. Der Bildschirm flackerte und wurde leer. Im gleichen
Augenblick eilte er ihr auch schon zu Hilfe. Er vermutete, dass irgendein Kurzschluss Strom in den Helm übertrug, doch als er das Ding von ihrem Kopf riss, trat keinerlei Veränderung ein. Sie zuckte. Sie streckte starr die Arme neben sich aus und hämmerte mit den Beinen. Der Kopf flog von einer Seite zur anderen. Jonathan schüttelte sie, schrie auf sie ein. Schließlich riss er sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Was habe ich getan? Aufhören, aufhören! Oh, Gott, bitte lass es aufhören!«
16. Kapitel In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, ihre Ohren klingelten, der ganze Raum erbebte. Jonathan zuckte hin und her und flackerte, als werde er von einer Art Stroboskoplampe angestrahlt. Dann schlugen seine Hände mit einem gewaltigen Klatschen gegen den Helm, und er riss ihn ihr vom Kopf. Patricia verlor die Besinnung. Sie wusste, dass irgend etwas Schreckliches mit ihr passierte. Sie spürte, wie ihr Leib sich in Zuckungen wand und ihre Zunge hinten am Gaumen ihre Kehle zu füllen begann. Und sie drehte sich um die eigene Achse, völlig außer Kontrolle. Sie fiel. Irgendwo dröhnte eine gewaltige Glocke. Und dann war es keine Glocke mehr, sondern Jonathans Stimme. Er weinte, schrie, wiegte sie in seinen Armen. Und dann war plötzlich alles still. »Patricia?« Sein Gesicht wurde vom Schein der grellen Deckenleuchten beschattet. »Jonathan...« »Liebling, Liebling, Liebling. Ich bin so dumm, so verdammt dumm.« Er umarmte sie, und sie ließ sich von seinen Armen wiegen. Sie waren stark und gut, und das machte sie glücklich. »Ich fühle mich besser. Ich glaube, ich komme wieder in Ordnung.« Ein gehetzter Ausdruck trat in seine Augen. Das alarmierte sie; es war der Ausdruck eines Menschen, der ein Geheimnis hatte und sich deswegen schuldig fühlte. »Hast du mir nun weh getan, Schatz? Gibt es etwas, wovon ich nichts weiß?« »Ich glaube nicht.« Dann kam ihr ein anderer Gedanke. »Hast du es
herausgekriegt?« Ihre Stimme hörte sich so leise an. Sie drehte den Kopf, um nicht auf die grellen Deckenleuchten sehen zu müssen. Er sah zu ihr hinunter. Liebe mich heut nacht... Sie wurde sich düster eines schnellen gleißenden Dings bewusst, das nach Fliegendreck stank und sie durch das Land ihrer Träume jagte. Und sie einfing. O Gott, wie entsetzlich! Sie hörte sich selbst nach Luft schnappen. Sie spürte, dass der nächste Aufschrei kam. Das Ding, das sie erspäht hatte, war so widerwärtig und so schrecklich kalt, dass es das genaue Gegenteil von allem war, was sie an Menschen und am Leben liebte. Es war der Tod, er kam durch das hohe Gras; der Tod, der aus seinem Versteck in der Seele kam. »Oh! Oh! Nein, Jonathan!« »Patricia! Psst! Psst! Es ist doch vorbei. Ich habe es abgeschaltet. Du hattest recht. Ich werde keine Fragen mehr stellen. Es tut mir so leid.« »O Liebling, es war grauenhaft!« Gab es auf dieser Welt Menschen, die gar keine Menschen waren? Was war das für ein Ding gewesen, das sie bestiegen und mit den leeren Augen einer Schlange angestarrt hatte? Ihr wurde schlecht. »Jonathan...« Sie öffnete den Mund. Er griff nach einem Papierkorb, schob ihn unter ihren Kopf und hielt sie fest. Ihr Magen schien sich von seinem festen Platz zu lösen. Einen Augenblick lang kam es ihr so vor, als rase sie mit einem schnellen Aufzug in die Tiefe. Dann waren die Lichter über ihr wieder da, gleißende, summende Röhren der Helligkeit, und darunter Jonathans Gesicht, seine Lippen schmal vor Angst, und seine Augen immer noch in der Dunkelheit der Brauen verborgen. Er beugte sich über sie, hob sie in seine Arme und drückte sie an sich. »Ich dachte, es würde anders ausgehen.« Die Welt hatte sich für sie einfach verändert. Die Erinnerung an den schrecklichen Augenblick war nun klar. Sie konnte sich daran erinnern, was sie vergewaltigt hatte; es war kein Mensch gewesen. Welch schreckliches Ding hat man im Dunkel dieser Welt gezeugt? »Zuerst habe ich Musik gehört, eine Art Summen, sehr leise, wie ein Fliegenschwarm.« »Psst, Schatz, psst.« »Nicht doch!« Patricia streckte die Arme aus und schnappte
sich den ausgestoßenen Packen Computerpapier. »Was erkennst du darauf?« »Ich habe dir doch den Helm abgenommen.« »Bevor du es getan hast, hast du mich gefragt, was wirklich passiert ist. Und ich hatte eine lebhafte Vorstellung. War es eine Erinnerung oder nicht?« »Ich weiß nicht. Das Ding ist nicht verlässlich.« Patricia glaubte ihm nicht. »Jonathan, du hast etwas in mir geöffnet, und es fühlt sich an wie eine Erinnerung. Jetzt bin ich diejenige, die es wissen will.« »Was diese Zuckungen auch verursacht hat, ich glaube, wir sollten nicht damit herumpfuschen.« Sie konnte es nicht akzeptieren. »Sag es mir war es ein Traum oder eine Erinnerung!« Jonathan nahm ihre Hände und drückte sie an seine Lippen. »Ich bin mir nicht sicher. Mit dem Ausdruck stimmt etwas nicht.« Sie konnte es riechen, sie konnte die schmutzigen, verwesenden Küsse des Dings fühlen. »Jonathan, Jonathan, schau dich an. Du armer Mann, du bist so ahnungslos. Glaubst du immer noch, du hättest es getan?« Er kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf. Er war glatt vor Schweiß. »Ich weiß es.« Seine Worte waren nicht mal ein Murmeln. »Sei kein Esel. Du warst es nicht. Du konntest es gar nicht sein.« Er sank neben ihr auf die Liege. Seine Hände hielten die ihren; sie waren kalt und feucht. Patricia schüttelte den Kopf und wünschte sich, das Bild des Dings aus ihrem Kopf schütteln zu können, um es irgendwie durch Jonathans Schönheit zu ersetzen. Doch das Ding existierte. »Liebling, wir müssen es auch mit mir versuchen.« »Was? Hast du den Verstand verloren, Jonathan Banion?« »Nur eine kurze Überprüfung. Du musst den Computer steuern.« »Ich kann keinen Computer steuern. Außerdem würde ich es nicht mal tun, wenn ich es könnte!« Jonathan warf einen erneuten Blick auf den Ausdruck und ließ einen traurig klingenden Seufzer hören. Plötzlich packte er ihre Schultern. Sein Gesicht näherte sich dicht dem ihren, und sie sah ihn deutlich und ohne Schatten. Seine Augen waren starr, fixiert, seine Lippen trocken. Er bebte unentwegt im wilden Rhythmus eines
kleinen Tieres. »Du gehst rüber und bedienst ihn!« Er hob den Ausdruck hoch und zeigte ihn ihr. »Ist dir klar, was das... nein, wahrscheinlich nicht.« Er sprang auf, ging mit einem einzigen Schritt zur Computertastatur und betätigte sie. Das Gerät piepste, auf dem Bildschirm erschienen grüne Zeichen, dann packte er ihr Handgelenk und zog sie hinüber. »Wenn der Helm richtig sitzt, passt sich der Computer an die exakten Frequenzen meiner Gehirnwellenmuster an. Dann siehst du Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm. Jedesmal, wenn er eine Pause macht, drückst du die Taste, auf der >Return< steht. Kapiert?« »Liebling...« »Kapiert? Kapiert?« »Okay! Kapiert.« »Dann stellt er dir eine Frage welches Messverfahren? Du gibst die Antwort ein: >Harmonischer Wellentyp<. Dann drückst du wieder >Return<.« »Ich hab's kapiert. >Harmonischer Wellentyp<.« »Dann drückst du >Return<. Siehst du die Return-Taste?« Sie legte den Finger darauf. »Jonathan, was ist, wenn dir was passiert?« »Dann machst du dasselbe, was ich auch getan habe du drückst die orangene Taste, auf der >Reset< steht, und nimmst mir den Helm vom Kopf. Aber es wird nichts passieren, weil es ein passiver Test ist. Wir pfuschen nicht an meiner hypnotischen Barriere herum.« »Dann sind wir also doch hypnotisiert. Weißt du es genau?« »O ja. Und die Barrieren sind stark. Stärker als ich mir vorgestellt habe. Noch eine Frage, Baby, und Peng! Der nächste Schritt wäre der Hirntod gewesen.« »Tod durch Hypnose? Hätte ich nicht gedacht...« »Frag mich nicht, wie man so etwas macht, ich weiß es nämlich auch nicht. Aber jetzt komm, wir bringen es hinter uns.« Er nahm den silbernen kabelbesetzten Helm auf seinen Kopf und streckte sich auf der Liege aus. Kurz darauf zuckte eine Zahlenkolonne über den Bildschirm, und Patricia folgte den Instruktionen. Bald waren die Zahlen zu Ende, und die Maschine stellte ihre Frage. Patricia gab die Antwort ein und ließ einen Finger über der >Reset<-Taste und einen anderen über >Return< schweben. Sie sah Jonathan an. Er lag mit geschlossenen Augen da. Es schien ihm gutzugehen. Sie drückte >Return<. Stille. Jonathan bewegte sich nicht. Sie behielt den Finger über der
orangefarbenen Taste und warf einen Blick auf seinen Brustkorb. Er atmete regelmäßig. Bald darauf schob sich das Papier aus dem Drucker. Dann ließ die Maschine eine Klingel ertönen und stoppte. »Jonathan, habe ich etwas falsch gemacht?« Er setzte sich hin und nahm den Helm ab. »Es war bestens«, murmelte er. »Und damit sind wir auch schon fertig.« Er griff nach dem Ausdruck, riss ihn von der Rolle und musterte ihn, fast wie in Panik. Als er sie dann wieder ansah, war sein Gesicht starr vor Schreck. Das Papier fiel aus seiner Hand. »Jonathan, was ist denn?« Er schüttelte den Kopf. Dann kam er, fast ehrerbietig, zu ihr und nahm ihren Kopf in seine Hände. »Liebling, unsere Gehirne weisen eine unglaublich drastische Abweichung vom normalen Wellenmuster auf.« War das alles? »Aber sonst sind wir in Ordnung?« Eine andere Frage fiel ihr nicht ein. Jonathan lachte, leise und freudlos. »Es geht uns bestens, Liebste. Aber verstehst du nicht, was das bedeutet? Wir haben achtzehn unterschiedliche Wellen. Normale Menschen haben sieben.« »Soll das heißen... dass wir eine Krankheit haben?« »Auf irgendeine komische Weise schon. Unsere Krankheit ist die, dass wir keine Menschen sind.« »Wir... was?« Sie war verblüfft. »Natürlich sind wir das!« »Nein. Wir sind zu weit von der Norm entfernt. Na schön, wir mögen menschlicher Abstammung sein. Ich meine, das Grundmuster Alpha, Beta, Delta ist da. Aber wir sind keine Menschen. Wir haben eine Alpha-Höhenharmonie, eine DeltaParallele und eine ganze Ansammlung kleiner Wellen in den unteren Niedrigfrequenzen.« »Es muss an der Hypnose liegen. Es muss an ihr liegen!« »Auf keinen Fall. Ich rede über Gehirnstrukturen, nicht über vorübergehende Effekte solcher Art. Es bedeutet, wir sind Missgeburten ersten Ranges!« Das Wort raubte Patricia die Fassung und ließ sie kreischen. Sie konnte nichts dagegen tun; Missgeburt ist ein schreckliches Wort. »Nein, ich bin keine Missgeburt! Ich will keine sein! Ich bin keine Missgeburt!« Ich bin von einer Missgeburt mit der Haut einer Schlange und
gelbgrünen Reptilaugen vergewaltigt worden.
»Ich bitte dich, Schatz, bleib ruhig.« »Ich will nicht ruhig sein! Ich bin nicht abnorm! Nenn uns nie, nie, nie wieder so; wir sind normal. Ich sage dir, wir sind normal, und wir können ein normales Leben führen! Du wirst sehen, Jonathan Banion, ich werde dir ein hübsches Zuhause bereiten, du wirst es sehen!« »Also bitte, Patricia! Reiß dich zusammen. Wir müssen darüber nachdenken.« Sie hörte auf, aber das ging nur, weil sie ihre persönlichen Gefühle tief in ihre Eingeweide verbannte und dort festhielt mit einer wilden Anstrengung, von der sie annahm, sie nicht lange aufrechterhalten zu können. »Wir sind Mutanten. Das andere Wort war unglücklich gewählt.« Jonathan klang gelassen, das half ihr ein bisschen. »Genetisch müssen wir uns sehr von anderen Menschen unterscheiden.« Er schüttelte den Kopf. »Gott weiß, was wir sind. Wir stehen auf halbem Weg zwischen dem Homo sapiens und nun ja, irgend etwas anderem. Ich kann mir nicht vorstellen, wie unsere Kinder sein werden. Eine praktisch neue Spezies.« »Aber wir sind Menschen!« »Nicht ganz. Wir sind ihnen zwar nahe, aber Menschen sind wir nicht.« Sie würde ihr Zuhause, ihre Familie, ihr glückliches Leben verlieren. Patricia wusste es sie spürte, wie das abscheuliche Wort all dies zerstörte. Missgeburt. »Aber wir sehen doch wie Menschen aus, und wir handeln auch wie Menschen!« Jonathan nickte zustimmend. »Wir sind eine ihnen nahestehende Mutation.« Er musterte seine Hände und betastete seine Wangen. »Erstaunlich. Ich. Du. Dass wir das sind... was wir sind.« »Und du weißt genau, dass es nicht an der Hypnose liegt?« Er nahm ihre Hände. »Ich weiß, wie man Ausdrucke liest. Wir stehen wahrscheinlich unter Hypnose. Ich bin mir dessen sogar ziemlich sicher. Aber die Hauptentdeckung ist der hohe Anomalitätsgrad in den elektrischen Funktionen unserer Hirne. Das bedeutet...« »Sag es nicht noch mal! Sag es bloß nicht noch mal!« Patricia ließ sich in die Arme nehmen. Dankbar vergrub sie das Gesicht an seiner Brust. Dann fiel ihr wieder das Ungeheuer ein, und sie spürte schlagartig die totale Kälte des Unbekannten. Wie wenig sie doch wirklich wusste, sogar über sich selbst. »Wir sehen doch
wie Menschen aus!« »Yeah. Und wir können uns möglicherweise auch mit Menschen paaren. Wir können menschenähnliche Kinder haben. Aber wenn wir zwei uns paaren, werden unsere Kinder nicht mal entfernt menschlich sein.« Sie konnte nicht ertragen, das zu hören. »Hör auf damit! Red nicht so. Hör mal, wir können doch woanders hingehen. Keiner wird es je erfahren; keiner braucht es zu erfahren. Was wir innerlich auch sind, wir können es geheim halten! Wir können es verbergen! Wir können heiraten, und dann wird alles gut. Ich weiß es!« Er hielt sie noch fester. »Baby«, sagte er mit brechender Stimme, »es gibt schon jemanden, der alles über uns weiß.« Damit konnte er nur die Kirche der Nacht meinen. In Patricias Geist blitzte erneut das Bild des abstoßenden Dings auf dem Altar auf. Sie weinte sich an Jonathans Schulter aus und dachte: Wir befinden uns inmitten von Gott-weiß-was und verlieren uns mit jeder Sekunde mehr. Sie hielt ihn und er hielt sie, und einen kostbaren Moment lang war das alles, was sie hatten. Sie hatten nur sich.
17. Kapitel Furcht war normalerweise kein Bestandteil von Mikes Nervenkostüm. Doch heute abend schmeckte er sie in seinem Mund eine saure Trockenheit, die ihm das Schlucken erschwerte. Es ist zwar kein Ton, aber man hört es im Wind; es ist zwar keine Präsenz, aber man spürt, dass es einen beobachtet. Furcht. Er machte sich keine Illusionen, dass die Untersuchung von Mr. Apples Haus etwas brachte. Das Haus gehörte einem mächtigen und bislang unbekannten Kult: der Kirche der Nacht. Möglicherweise erwartete ihn die gefährlichste Sache, die er je getan hatte. Wahrscheinlich war er ein Narr, weil er es tut besonders, weil er es auf diese Weise tat; allein und ohne Rückendeckung. Er hatte keinen Durchsuchungsbefehl. Soweit es um das Gesetz ging, war er ein gewöhnlicher Einbrecher. Aber zum Glück ahnte das Gesetz nicht, dass er hier war. Er hatte nicht einmal genug Vertrauen in seine eigenen Leute, um das Risiko einzugehen, für sie
auf die Bibel zu schwören. Er wartete, bis Mitternacht vorbei war, dann fuhr er durch die Straßen von Kew Gardens zu dem leeren Haus. Er parkte den Wagen um die Ecke und ging, die Hände in die Taschen seines Regenmantels geschoben, zurück. Ein Hut beschattete sein Gesicht, als er unter den Straßenlaternen herging. Er bewegte sich mit der Präzision eines Tänzers; seine Schuhe erzeugten auf dem Gehsteig keinen Laut. Sein Eintreten war professionell und so schnell, dass ein zufälliger Beobachter davon ausgegangen wäre, er hätte einen Schlüssel. Als Mike den Vorraum betrat, schob er die Kunststoffkarte, die er benutzt hatte, um das Schloss zu öffnen, wieder in die Innentasche des Mantels zurück. Fast automatisch langten seine Finger nach innen und berührten den Knauf seiner Dienstwaffe, die in ihrem Schulterhalfter steckte. Der Boden ächzte unter seinem Gewicht. Gut das bedeutete, dass seit einiger Zeit niemand hier gewesen war. Mike durchquerte den Vorraum und ging ins Wohnzimmer. Die Luft war abgestanden und roch leicht nach dem Mief von Schimmel. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, konnte er erkennen, dass aus diesem Zimmer nichts entfernt worden war. Das hatte er erwartet. Mr. Apple hatte nämlich weder Verwandte noch ein Testament hinterlassen. Es würde Monate dauern, bis das Nachlassgericht dazu kam, für den Staat New York über die Wohnung zu entscheiden. Mike nahm eine Kristallkugel aus einer Sammlung in einem Korb im Wohnzimmer. Die kleine Quarzkugel reflektierte düster die dicken Samtvorhänge, den verworrenen chinesischen Teppich, die flämischen Landschaften an der Wand und das dunkle Mahagoni der viktorianischen Möbel. Es sah fast so aus, als bewegten sich schattenhafte Gestalten im komplexen Dunkel des Kristalls. Neben der Kugel lag ein kleiner silberner Schlüssel, dessen Ende auf einmalige und vertraute Weise abgerundet war. Es war ein Sargschlüssel. Mike hatte sie oft genug in der Leichenhalle gesehen. Komisch, so was in einer Wohnung zu finden. War es der Schlüssel zu Mr. Apples Sarg, den ein sorgloser Leichenbestatter hatte liegen lassen, als der alte Mann so mir nichts, dir nichts gestorben war? Er legte den Kristall wieder hin und nahm den Schlüssel. Es war ein typischer, stummeliger Sargschlüssel aus Stahl. Er sah wie ein Schließfachschlüssel aus, aber auf seinem Flansch war das Wort
Aurora eingraviert. Die größte Sargfirma der Welt. Mike hatte Schlüssel dieser Art schon bei Exhumierungen verwendet. Vorsichtig und geduldig ging er wieder durch das Wohnzimmer, bürstete mit der behandschuhten Rechten über die Rückseite eines Sessels und streichelte die Oberfläche eines Mahagonitisches. Der alte Mr. Apple. Der Name war noch nicht überprüft worden. Im oberen New York hatte man um die Jahrhundertwende Findelkinder auf ihrer Geburtsurkunde stets Johnny Apple genannt. >Mr. Apple< war eine Identität, die auf die Geburtsurkunde eines Findelkindes zurückging, das im Oneonta County-Heim für mittellose Kinder gestorben war zwei Wochen, nachdem man es in einem Karton hinter einem Lebensmittelgeschäft gefunden hatte. Der Geburtstag von >Franklin Apple< war der n. Dezember 1893. Der gleiche Tag, an dem man Johnny Apple in seinem Karton gefunden hatte. Sich auf diese Weise einen neuen Namen zu beschaffen, war eine clevere Technik: Man sucht sich jemanden, der etwa um die Zeit, in der man selbst geboren wurde, jung gestorben ist, und lässt sich seine Geburtsurkunde schicken. Die verwendet man dann dazu, um sich einen Sozialversicherungsausweis und einen Pass zu besorgen. Mit dem Pass kam man dann an einen Führerschein und an alle anderen Scheine, die man brauchte. Man verwendet ein Pseudonym, bis es heiß wird. Dann bringt man es um. Pater Goodwin hatte Mr. Apple während des Verhörs zwar nicht erwähnt, aber eine der Damen, die bei dem Rentneressen dabei gewesen war. Mike war so verzweifelt auf Spuren aus, dass er Harry gebeten hatte, sein Gedächtnis zu durchforschen. »Der Zwischenfall war mehr als kurz«, hatte er gesagt. »Der Mann hat sie nervös gemacht, und sie wollte sich nicht mit ihm unterhalten. Ich habe sie gebeten, über ihren Schatten zu springen. Dann hat sie eine Viertelstunde lang mit ihm geredet. Sie hat gesagt, er wäre ihr unheimlich. Es war keine weltbewegende Sache, da bin ich mir ganz sicher. Er war sehr alt.« Mike hatte Harry nicht erzählt, wie wichtig Mr. Apple unter Umständen war. Es war in Fällen wie diesen stets das beste, wenn man dichter hielt, als man glaubte, dichthalten zu müssen. Wenn man die winzig kleinen Motive aufdecken wollte, die die meisten Verbrechen stets auszulösen schienen, war es das beste, man drang in die private Welt eines Menschen ein und schaute sich seine Sockenschublade, sein Arzneischränkchen und die Rückwand
seines Kleiderschranks an. Kristallkugeln? Sargschlüssel? Das war nicht gerade typisch für die Besitztümer eines alten Mannes. Aber ein alter Mann, der sich mit Zauberei beschäftigte, besaß solche Dinge vielleicht. Doch selbst eigenartige Andenken waren als Beweis von geringem Wert. Aber solche Dinge machten einen immerhin nachdenklich, oder? Mike kehrte in den Hauptkorridor des Hauses zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite lag das Arbeitszimmer. Dahinter würden das Schlafzimmer des Hausherrn und der Ankleideraum sein. Mike kannte die Pläne des Hauses; er hatte mit Beth, seiner ersten Frau, in einem ähnlichen gewohnt. Rego Park, von 1964 bis 1975. Die Firma Butler & Horowitz hatte es in den zwanziger Jahren errichtet sie hatten Hunderte dieser Häuser im ganzen Bezirk gebaut. ButlerKästen wurden sie genannt. Inzwischen waren die meisten abgerissen oder so verändert, dass sie mit dem ursprünglichen Entwurf nichts mehr zu tun hatten. Nicht so Mr. Apples Bungalow. Er wies sogar noch die altmodische Sprungfeder-Türklingel auf. Hinter der Tür des Arbeitszimmers konnte Mike einen großen Schreibtisch sehen. Und Bücherregale. In einem der Regale stand ein Fernsehapparat. Er ging hinein, dicht an der Wand entlang. Als er an dem Fernseher vorbeikam, hielt er inne. Er legte die Hand auf das Gerät. Spürte er ein bisschen Wärme, oder war es nur die heiße Nacht? Er ging weiter, umkreiste den Schreibtisch. Hier war nichts verändert worden. Er würde für ein paar Minuten im Arbeitszimmer bleiben. So unfähig das Nachlassgericht auch war, man hatte wahrscheinlich alle wichtigen Papiere mit dem Toten zusammen entfernt und in der Gruft unten im Gerichtsgebäude von Queens County gelagert. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, welche Wäsche der Mann gehabt hatte so was enthüllte am meisten -, wollte Mike das Schlafzimmer untersuchen. Er trat vorsichtig über den persischen Gebetsteppich, der als Korridorläufer diente. Seine KugelschreiberLeuchte sagte ihm, dass der Teppich von erlesener Qualität war, ebenso wie alles andere in diesem Haus. Mr. Apple hatte ganz bestimmt nicht in Armut gelebt. Was eine interessante Frage aufwarf. Warum war ein reicher Mann wie er zu einem Rentneressen gegangen, um sich an Pater Goodwins magerem Angebot gutzuhalten? Der Lumpenhund war deswegen gegangen, weil er Patricia hatte beobachten wollen. Selbst dabei hatte er sie bewacht. Das
Schlafzimmer war Mike ein Rätsel. Es deutete nicht im geringsten auf einen alten Mann hin nicht, wenn man es sich genauer ansah. Wenn sein Instinkt richtig funktionierte, war der Raum von einer jungen Frau eingerichtet worden. Es gab sogar eine Vase mit frischen Rosen. Vielleicht waren sie nur einen Tag alt, ihren Blättern nach zu urteilen. Frische Blumen, ein leicht erwärmter Fernseher jemand wohnte hier. Mike wurde sich des Gewichts seiner Pistole bewusst, und er wünschte sich, er hätte in letzter Zeit ein paar Stunden mehr auf dem Schießstand verbracht. Er wurde noch viel vorsichtiger, aber auch immer neugieriger. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Viertel nach drei. Um diese Zeit musste man Nachtmenschen, die gerade nicht zu Hause waren, entweder in jeder Minute zurückerwarten oder gar nicht. Gut, dass sein Wagen um die Ecke stand und nicht vor dem Haus. Er leuchtete mit dem Kuli-Lämpchen um sich und schirmte es mit der Hand ab. Reflexionen an der Decke würden von draußen so aussehen wie das Flackern eines Streichholzes. Und dann erstarrte er. Er hatte ein Geräusch gehört, ein Scharren, als würde ein Fenster nach oben geschoben. Da war es wieder. Danach war Stille. Vielleicht war Wind aufgekommen und rieb einen Ast gegen eine Fensterscheibe. Unter dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch. Auf ihm lag ein kleiner Füllfederhalter. Mike berührte die Schreibfeder. Voll mit Tinte. Es war gespenstisch, in das Haus eines Toten zu kommen, der vielleicht gar nicht tot war. Er öffnete die einzige Schreibtischschublade. Drinnen lag eine schwarze Lederhülle. Sie enthielt etwa zehn Blatt leeren Diagrammpapiers, das so aussah wie etwas, das ein Wissenschaftler vielleicht brauchte, um Statistiken zu erstellen. Er tastete die Oberfläche nach selbstredenden Einprägungen ab. Ganz klar: Jemand hatte etwas auf das oberste Blatt geschrieben und es abgerissen, doch die Schrift hatte sich auf das zweite Blatt durchgedrückt. Mike trennte das eingeprägte Blatt ab, legte es auf die Tischplatte und beleuchtete es von der Seite her mit seinem Lämpchen. In einer Ecke waren klare Worte eingetragen. So etikettierte ein Wissenschaftler vielleicht das Diagramm eines Experiments. Aber die Worte waren nicht wissenschaftlich. R-i-t-u, und noch etwas. Dann C-r-u-c-i-a-t-u-s, dann ein Wort, das mit N anfing und das ein x enthielt. Dann ein Name, den Mike mit plötzlichem Schreck
erkannte. Quist! Na komm schon, Junge, hör auf zu zittern. Du bist ein Bulle; du bist stinkwütend; du hast kein Problem. Cruciatus. Mikes Messdiener-Latein war zwar den Umständen entsprechend eingerostet, aber das Wort hatte einen grässlichen Klang. Es bedeutete aber nicht Kreuzigung das hieß Crucifixus. Das hier hörte sich schlimmer an. Es sieht so aus, als hätten sie Terry weh getan. Überrascht dich das etwa? Schau doch mal, was sie Patricia angetan haben. Neben Terrys Namen waren zwei Bruchstriche ein Datum, das dort gestanden hatte; doch die Zahlen waren zu schwach, um sie erkennen zu können. Unter dem Namen, in das Papier eingedrückt, als hätte der Schreiber etwas mit besonderem Nachdruck niederlegen wollen, stand >Titus-Abstammung 334, CochranGruppe, B. Positiv-3<. Hier und da deuteten schwache Linien an, dass man in der Tat ein Diagramm gezeichnet hatte. Ganz unten, in regelmäßigen Intervallen, waren Zahlen, aber Mike konnte nur ein paar ausmachen: 3:54.22 war die erste. Weiter unten kam 3:57.44. Die anderen waren unentzifferbar. Titus-Abstammung. Marys erster Ehemann hatte Martin Titus geheißen. Gruppe? Mike spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Was, zum Teufel, hatte Terry noch mal über eine Krankheit gesagt? Und was, zum Teufel, suchte Marys früherer Ehename auf diesem Diagramm? Sei bloß vorsichtig, Junge. Heute abend gehst du nicht nach Hause. Mary war nun eine Verdächtige. In Lourdes war sie schon vor den Kindern hinausgegangen er hatte es selbst gesehen. Und jetzt taucht der Name ihres ersten Mannes hier auf. Ich muss sie als gefährlich einstufen und mich entsprechend verhalten. Verdammt. Verdammt. Was, zum Teufel, war hier los? Hatte Mary etwas damit zu tun? Seine wunderschöne, anständige Frau? Er liebte sie, verflucht noch mal, und jetzt verdächtigte er sie, dass sie im Begriff war, sich für ihn als Riesenenttäuschung zu entpuppen. Cruciatus. Was, zum Teufel, Cruciatus auch bedeutete, es klang bösartig. Mike sah sich das Papier an. Töten per Krankheit, und das Resultat in einem Diagramm erfassen. Experimentieren. War Mary verrückt, oder was? Ihm kam allmählich die Galle hoch. Er liebte diese Frau. Verdammt sollte sie sein. Alles sollte verdammt sein. Die Leute fielen zwar immer wieder auf irgendwelche Kulte rein Reverend Moon und dergleichen -, aber das hier... Gott, wenn Mary von Patricia wusste. Wenn sie es wirklich wusste!
Cruciatus. Vielleicht bedeutete es Excruciation, Folter. Der arme Kerl. Welch ein schändliches Ende für einen unschuldigen Menschen. Dann ging Mike zu dem hohen, wunderbar geschnitzten antiken Himmelbett. Er nahm die Handschuhe ab und hob den Rand der Zierdecke an. Er schob einen Arm unter die Decken und betastete die geeignete Stelle, an der ein Benutzer schlafen würde. Die Decken waren klamm; jemand hatte kürzlich hier geschlafen. Also, Mr. Apple, Sie sind gar nicht tot. Sie haben sich nur einen neuen Namen zugelegt. Soweit es das wunderschöne Stück Mahagoni anbetrifft, das sechs Fuß tief unter der Erde liegt, sollen die Archäologen der Zukunft herauskriegen, warum es Briketts enthält. Kurze Notiz: Wir werden das verdammte Ding so schnell wie möglich exhumieren,
Das Haus war plötzlich von Stimmen erfüllt. »Bitte, lass mich gehen, lass mich gehen!« schrie eine Frau. Mike zückte seine Pistole und wich in die Dunkelheit zurück. »Ich kann mich nicht dagegen wehren!« schrie ein Mann, die Stimme voller Pein. Dann sah Mike ein flackerndes Leuchten im Korridor. Und die Stimmen wurden von Musik begleitet. Der gottverdammte Fernseher war eingeschaltet worden. Mikes Herz fing an zu hämmern. Jemand musste nach Hause gekommen sein. Und schaute sich jetzt einen alten Film an. Gott, diese Leute waren heimtückisch. Sie schlichen sich sogar in ihre eigenen Häuser. Kälte breitete sich in seinem Körper aus. Er glaubte nicht, dass Menschen so leise sein konnten, wie der hier es gewesen war. Keine normalen Menschen. Er ging durch den Korridor. Um aus dem Haus zu kommen, musste er am Arbeitszimmer vorbei, und dessen Tür stand weit offen. Wenigstens würde der Ton des Fernsehers seine Schritte dämpfen. Mike hatte gerade drei Viertel seines Weges zurückgelegt, als er einen Blick riskierte. Das Arbeitszimmer war leer. Ein Fernseher, der sich von allein einschaltete? Mike schluckte, nahm die Pistole in beide Hände und ging in den Raum hinein. Der Fernseher zeigte jetzt nur noch Schnee. Der Sender hatte wahrscheinlich sein Programm beendet. Einen Moment lang beobachtete er das pulsierende, hypnotische Leuchten des Schirms. Dann geschah etwas anderes das Zischen
wurde zu einem tiefen, bebenden Geräusch, das Mike nach vorn springen ließ, um das Gerät abzuschalten. Tu's nicht! Du bist verrückt wer immer es eingeschaltet hat, er wird es bemerken! Er stand wie gebannt da, starrte in das tanzende, pulsierende Leuchten und lauschte dem tiefen Gedröhn. Hörte er nicht eine Stimme? Nein. Sein Blick fiel auf eine kleine Box, die direkt unter dem Fernseher an einer Wandsteckdose befestigt war. Er hätte beinahe vor Erleichterung gelacht. Ein Timer! Der Fernseher war so programmiert, damit er den Eindruck erweckte, dass das Haus bewohnt war. Um vier Uhr in der Frühe? Verflixt, vielleicht war der Timer kaputt. Mike trennte ihn von der Steckdose. Der Fernseher ging aus. Mike nahm seine Suche wieder auf. Er fühlte sich mehr als nur leicht verärgert, weil er zugelassen hatte, dass ein problemlos erklärbarer Zwischenfall ihn so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Nun erschien es ihm, als würde sich das Haus als reichhaltige Informationsquelle erweisen. Die Beamten des Nachlassgerichts hatten deswegen keine Bestandsaufnahme des Hauses vorgenommen, weil Mr. Apple in Wirklichkeit gar nicht gestorben war. Mike sah sich die Regale, die Bücherregale und den großen Schreibtisch an. Er hatte vor, nur einen kurzen Blick auf die Bücher zu werfen. Er sah ein paar moderne Titel, die, vom Rücken aus gesehen, hauptsächlich Privatdrucke zu sein schienen. Biogenetischer Atlas: Zukünftige Manöver. Die Verbreitung ansteckender Viren. Stammbuch Pantera. Die Familie des Flavius Sabinus Titus. Wer? Konzentrier dich auf die Namen. Namen sind Informationen, die etwas taugen. Mike nahm den Titus-Band heraus. Er entdeckte, dass es um einen römischen Kaiser ging. Eine lange Geschichte über das Thema, wie er sich Jerusalem eingesackt hatte, bildete den Anfang des Buches. Mike blätterte es durch. Ein Kapitel trug die Überschrift >Salomons Schatz<. Es handelte von ritueller Magie, Hypnose und dem >Rufen des Weltenschöpfers<. >Aus der Vereinigung der perfekt Gezüchteten entsteht die Antithese des Menschen, die die Hülle der Spezies und die Gunst der Dämonen erben wird.< Und so weiter. Nächstes Kapitel: >Das kommende Gute: der Anti-Mensch<. Mike las: >Er wird zwar das Äußere eines Dämonen haben, aber
auch ein lebendiges Herz. Wie Gott den Menschen nach seinem jämmerlichen Ebenbild erschuf, wird Satan den Anti-Menschen nach seinem prächtigen Ebenbild erschaffen. Er wird wie die finstere Wut sein, in der Nacht umgehen und am Tage schlafen. Größer, stärker und intelligenter als ein Mensch, wird er schwere Knochen haben und wie das niedrige Tier sofort nach der Geburt gehen. Er wird gewaltige Kiefer haben und rohes Fleisch durch Verschlingen verzehren. Seine Kraft wird so sein, dass er weder Haus noch Feuer braucht, sondern bequem auf den Feldern und in den Wäldern leben kann. Die gesamte Landplünderei, die der Mensch begangen hat, wird enden, wenn der Anti-Mensch die Erde mit seiner eigenen Art neu bevölkerte Mike starrte wie vom Donner gerührt auf die Worte. Hier wurde über nichts Geringeres geredet als darüber, die Welt mit einer satanischen Spezies zu beglücken. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn. Weiter hinten gab es eine komplizierte Abstammungstabelle, wie man beim Hervorbringen der Anti-Menschheit vor sich ging. Generation für Generation züchtete man dem Ungeheuer entgegen. Die Abstammungstabelle war eine Chronik ihrer Fortschritte. Sie war mit den Worten >Das geheime Königreich von ioai-i952< überschrieben und verlief über zwanzig Seiten voller Namen und Namen, die alle mit Linien verbunden waren. Mike las mit zunehmend finsterer Vorahnung die Liste der Titusse, bis er es aufgab, die mittleren Jahrhunderte zusammenzupusseln, und zum Ende weiterblätterte. Na klar, da stand auch Martin Titus. Gattin: Mary Derwent Titus; Sohn: Jonathan. Mike suchte sich einen Sessel. Seine kleine Leuchte wurde schwächer, aber er musste mehr lesen, denn er konnte es nicht riskieren, irgendwelche Bücher mitzunehmen. Er hatte die ganze Zeit über mitten in der Sache dringesteckt. Die Titusse waren nicht einfach nur Angehörige des Kults sie waren der Kult. Und der wunderbare Junge war der Erbe der ganzen verdammten Angelegenheit. Biogenetischer Atlas: Zukünftige Manöver erwies sich als komplizierte wissenschaftliche Abhandlung relativ neueren Datums. Der Rücken knackte, als Mike das Buch aufschlug. Es war 1981 gedruckt worden und enthielt Grafiken und detaillierte Diagramme über etwas, das nach genetischen Spiralen aussah. Die einzelnen Kapitelüberschriften waren gepenstisch: Strukturelle Physiologie der Titus-Pantera-Nachfahren<. >Biogenetische Bezugstabellen
der Familien 121/166<.(Hierauf folgten dreißig Seiten Zahlentabellen, die sich offensichtlich auf Veränderungen im genetischen Aufbau der einzelnen Generationen bezogen. Etwa alle zwanzig Kolumnen hatte jemand mit roter Tinte neben einer größeren Zahlenveränderung ein Prüfzeichen hinterlassen.) Als Mike sich die Zahlen ansah, bekam er eine Vorstellung des kontinuierlichen Fortschritts, den die Kirche der Nacht gemacht hatte. Sie hatte geduldig zwei Familien zusammengeführt, über Hunderte und Aberhunderte von Generationen hinweg. Sie hatte sie wie Fliegen in einem Laboratorium gezüchtet. Doch die Kirche der Nacht arbeitete nicht unter Laborbedingungen. Sie hatte es durch den Tumult der Geschichte bewerkstelligt. Dieser Abschnitt des Buches war mit Illustrationen versehen. Die frühesten waren römische Wachsgemälde, die Mike von seinen nachmittäglichen Besuchen mit Mary im Metropolitan Museum vertraut waren. Er hatte sie für Satyre oder etwas ähnliches gehalten. Ihm wäre nie eingefallen, dass die altrömischen Ungeheuer echte, lebendige Geschöpfe gewesen waren. Laut Text konnten vorsichtig herangezüchtete Menschen mit der passenden genetischen Struktur zeitweilig zu solchen Ungeheuern werden bei einer Zeremonie namens Rituale Pudibunda Coitus. Wenn sie so verwandelt waren, nannte man sie Monstrum. Wenn ein Mann im Zustand des Monstrums eine korrekt gezüchtete Frau befruchtete, war der daraus hervorgehende Anti-Mensch männlichen Geschlechts. War die Frau das Monstrum, würde das Kind weiblich sein. Generationenlang hatten sie versucht, einen lebendigen AntiMenschen auf die Welt zu bringen. Sie brauchten nur einen Mann dazu: Er war fähig, sich mit gewöhnlichen Menschen zu paaren und monströse Nachfahren zu zeugen. Doch sie hatten keinen Erfolg gehabt. Einer war mit einem Herzfehler geboren worden, ein anderer mit einem unausgebildeten Hirn, ein dritter mit irgendeiner rätselhaften Krankheit. Es war, als würde die Natur gegen diese Zerrbilder rebellieren. Erstaunlicherweise hatten sie alle Fehlschläge öffentlich publiziert. Sie waren für jeden einsehbar, wie die altrömischen Gemälde. Im Laufe der Zeit waren die Kreaturen immer scheußlicher und scheußlicher geworden. Jedermann konnte sie sogar studieren: Ihre Porträts befanden sich auf allen gotischen Kathedralen der Welt. Sie waren die Wasserspeier. Generationen von Fehlschlägen hatten die Kirche der Nacht nur
noch mehr angespornt, ihre Zuchtversuche fortzuführen. Mike kam beim Lesen der Gedanke, dass es hier eine Gruppe von Menschen gab, die den Tod liebte. Ihre Bücher waren mit den Bildern Thoths versehen, des allessehenden ägyptischen Gottes der Unterwelt. Mit Thoth und den Waffen des Schwarzen Prinzen des Mittelalters und mit dem funkelnden Totenkopf Symbol der SS. Die Kirche der Nacht war eine Religion des Todes, so wie das Christentum eine des Lebens war. Wie die Christenheit danach strebte, den Menschen in Christus wiederzuerwecken, versuchte die Kirche der Nacht, ihn in Satan zu vernichten. Dann kam ein technischer Anhang, der den neuesten Fortschritt im Erzeugen des Monstrum-Status zeigte. Mike war davon noch mehr abgestoßen als von jedem anderen Schrecken, den er in seiner Dienstzeit als Cop gesehen hatte. Die Kirche der Nacht züchtete menschliche Wesen wie Laborratten und zwar der Widerwärtigkeit und Deformiertheit entgegen. Sie ließ sie in Kirchen obszöne Riten ausführen, ließ sie zu Ungeheuern werden, um ekelhaften Dingen das Leben zu schenken. Doch es war Genie darin. Es funkelte wie ein schwarzer, böser Diamant durch die sorgfältig gesetzten Worte. Wie eine kalte Berührung wurde Mike klar, dass er auf die Tat Satans schaute. Dies war das wirklich Böse in all seiner abscheulichen Hässlichkeit nicht etwa die armselige Gemeinheit menschlicher Wesen. Die Kirche der Nacht war ein finsteres, schwärendes Wunder, ein satanisches Meisterstück. Mike hätte das Buch, das er in der Hand hielt, am liebsten zu Boden geworfen, um sich irgendwie von der Fäulnis, das es enthielt, zu entledigen. Doch er zwang sich zum Weiterlesen. Jetzt kam der Jargon der hohen Wissenschaft: > Abweichende Formen bei verstorbenen Titus-Nachfahren<. Als wolle er die geringe Hoffnung seines noch vorhandenen Unglaubens zermalmen, enthielt der Abschnitt das Foto einer Übelkeit erzeugenden Widerwärtigkeit. Das Foto war deswegen undeutlich, weil es unterbelichtet war, und sich das abgebildete Ding in Ketten wand. Aber Mike konnte die abscheulichen, schleimigglatten Schuppen sehen, die halb aus dem menschlichen Leib wuchsen, die hervorstehenden Geieraugen, die noch die Brauen eines Menschen aufwiesen, den vom plötzlichen Hervorbrechen der gelben Fänge blutverkrusteten Mund und die sich erweiternde, rosafarbene Schnauze, die immer noch leicht der Nase glich, die sie einst gewesen war. Das grauenhafte Bild eines Menschen, der zur Hälfte in etwas anderes verwandelt war, wurde von einer trockenen
Unterschrift in wissenschaftlichem Jargon begleitet: Einleitung in Seitenlinien-Titus-Mann 22, Ungar, Robert Tirus Martin, Typ o-, genetische Unterklasse AR, gestoppt 22.66 PKO; Rückfall zum Menschen in 52 Sek. Resultat: Monstrum verstorben, bevor weibliche Befruchtung vollzogen werden konnte.< Mike konnte sich nicht mehr beherrschen. Er weinte offen und laut wie ein Kind, das sich in einem Geisterwald verlaufen hat. Die Kirche der Nacht war eine andere, dunklere Welt, die sich in der unseren versteckte, ein Ort des Terrors und der Qual, die in den Schatten des alltäglichen Lebens lauerte. Mit beinahe rasender Verzweiflung wollte er aus diesem verderbten Haus heraus. Doch er zwang seine zitternde Hand, den Atlas wieder wegzustellen, und nahm ein anderes Buch, das Stammbaum Pantera hieß. Dies war die Familie, mit der die Titusse seit vielen Generationen gekreuzt wurden. Die weibliche Linie. Er ging direkt zu den letzten Seiten, um zu sehen, ob er einen der neueren Namen kannte. Er war von dem, was er fand, wie vom Donner gerührt. Patricia war dort aufgelistet, als Tochter von Samuel und Rebecca Murray, die durch eine lange Reihe irischer Familien bis ins römische Britannien zurückreichte, und dann zu jemandem namens Josua, der zu Salomons Zeiten Zauberer gewesen war. Mike war am Ende seiner Kräfte. Es war mehr als er ertragen konnte. Er warf das Buch gegen die Wand und schrie seine Wut und seinen Abscheu laut heraus. Jeder Mensch, den er liebte, hatte mit diesem monströsen, verderblichen Kult zu tun! Jeder einzelne! Ohne auf den Lärm zu achten, den er machte, lief er in die dunkle Nacht hinaus. Die Rosen am Verandageländer erfüllten die Dunkelheit mit ihrem Duft. Während Mike rannte, erfasste ihn die Angst. Es war, als sei irgendeine gewaltige Kreatur hinter ihm her, die nach ihm griff. Er schwang sich über eine Hecke und rutschte ins taubedeckte Gras. Er fiel und rollte. Er lag auf dem Rücken und schnappte nach Luft. Und sah zwischen den Sternen zwei große Geieraugen, die zu ihm hinunterblickten. Sein Aufschrei war so dünn und hoch wie der eines Säuglings. Seine wild pumpenden Beine wirbelten einen Moment in der Luft, dann gelang es ihm, auf die Füße zu kommen und sich die dreißig Schritte zu seinem Wagen zu schleppen. Er schob den Schlüssel panisch in die Zündung und schaltete das Licht erst ein, als er die Ecke des Lefferts Boulevard erreicht hatte.
Das Revier war nur drei Minuten entfernt, aber Farrells Lokal war das, was er jetzt sehen wollte. Lichter, Menschen und normale Dinge, wie Kaffee und Tee. Nachtschicht-Cops würden auch da sein. Er brauchte jetzt die beruhigende Gegenwart von Polizisten. In dieser Nacht hatte er Dinge gesehen, die einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnten. In einer Stunde hatte sich für ihn die ganze Welt verändert. Satan war jetzt nicht mehr ein Symbol emotionaler Verwirrung. Satan war ein existierendes Ding, so vital und lebendig wie jedes menschliche Wesen. Mike zweifelte nicht daran, dass die Augen, die er am Himmel gesehen hatte, die Augen Satans gewesen waren. Bösartig, hässlich und gewaltig, und sie hatten ihn direkt angestarrt. Er fuhr an seinem Haus vorbei. In ihrem Schlafzimmer schien ein mattes Licht. Was ging dort vor? Was mochte ihn erwarten? Er hatte dieser Frau seine Liebe gegeben. Damit war jetzt Feierabend. Und die Kinder? In dieser Hinsicht musste er sich ein Urteil vorbehalten; er hatte einfach nicht das Herz, Jonathan und Patricia von jetzt an zu hassen. Der Junge hatte doch selbst nach dem Lügendetektor verlangt das hieß, dass er sich der Vergewaltigung zwar verdächtigte, aber es nicht genau wusste. Konnte es sein, dass man die beiden hereingelegt hatte, dass sie sich ihres eigenen Ichs gar nicht bewusst waren? Mike dachte daran, zum Allerseelen-Friedhof zu fahren und Beth zu besuchen, bloß um jemandem nahe zu sein, der einst warm und gut gewesen war und ihn geliebt hatte. Er wollte mit der Erinnerung an ihre Güte das Böse abwaschen, das an ihm klebte. »Schatz«, würde er sagen, »ich habe in Mary zwar nie einen Ersatz für dich gesehen, aber sie war nett und anständig, und schön war sie auch. Ich habe gar nicht zu ihr gepasst. Ich schätze, mir hätte auffallen müssen, dass es nicht gut gehen kann, aber sie war so verdammt schön. Das zählt. Auch wenn sie nicht so hübsch ist wie du, ganz sicher nicht. Gott, Schatz, ich hätte dich jetzt so gern in den Armen. Ich würde gern deinen Hals küssen, wie ich es früher immer getan habe, wenn wir uns liebten.« Sein Brustkorb verengte sich, seine Kehle schmerzte vor Leid. »Du hattest einen hübschen Namen, Beth, einen wunderbaren Namen.« Ach, hör mit dem Geflenne auf, du sentimentales irisches Arschloch. Du musst dich jetzt zusammenreißen. Auf Gedeih und Verderb, man hat dir den härtesten Job aufgehalst, den je ein Cop
hatte. Er spürte erneut die grauenhafte Kälte. Er spürte, dass die Augen wieder da waren und ihn durch das Wagendach anstarrten. Ein plötzlicher Wind ließ den alten Dodge auf seinen Stossdämpfern hüpfen und die Bäume im Scheinwerferlicht wild wanken. Um Gesellschaft zu haben, schaltete er den Polizeifunk ein. Er näherte sich Farrells Lokal, obwohl ihm inzwischen klar geworden war, dass die Pause der Nachtschicht jetzt zu Ende und es sehr unwahrscheinlich war, dass sich viele Cops dort aufhielten. Es waren überhaupt keine da. Mike war versucht, den Boulevard nach einer Hure abzufahren, aber das konnte er wohl kaum, in einem offensichtlich neutralen Wagen wie diesem. Sie würden vor einem Dodge mit einem PolizeiNummernschild der Stadt natürlich wegrennen. Natürlich. Schließlich fuhr er doch zu Farrell, setzte den Hut auf und ging hinein. Die Theke war leer, die Nischen ebenfalls. Ein schwarzer Geistlicher und seine Familie saßen an einem Tisch und aßen Truthahn. Um diese Zeit? Okay. GUS, der alte Süffel, hatte Dienst, und Reynaldo bediente den Grill. »Gimmir 'n Kaffee, GUS.« »Mach' ich, Inspektor.« Nenn mich Mike. Ich bin nur Mike. Herr im Himmel, ich bin so allein.
Mary: Die Netze der Inquisition Es ist vier Uhr früh. Ich sitze hier im Licht der kleinen Lampe und schreibe, allein in einem leeren, feindseligen Haus. Ich bin eine Betrügerin. Ich habe in diesem Haus mit einem verliebten Mann zusammengelebt und ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in eine Grube gezerrt, aus der er sich allein nicht retten kann. Ich sehe mir die glatten Hände Liliths an, meine Hände, Hexenhände. Vor langer Zeit hat man andere meiner Art bei Herbstfeuern verbrannt, in Walddörfern, wenn der Wind die Blätter fallen ließ und der Himmel grau wurde. Ich bin schnell in der Nacht, die krallenbewehrte Jungfrau. Schau meine roten spitzen Krallen an. Mike würde sie Finger nennen und sagen, dass sie schön sind. Ich kenne sie anders. Wenn er glaubt, dass sie ihn streicheln, schneiden sie am tiefsten ein. Ich kann die
Seele eines Mannes durch seine Haut strömen lassen. In der Ferne läutet die Glocke der Heiligen-Geist-Kirche viermal. Alles ist gut, alles ist gut, alles ist gut, alles ist gut. Nicht weit von hier durchsucht Mike das Einfamilienhaus, in dem Franklin unter seinem Pseudonym gewohnt hat. Alles ist gut. Mike wird genau das finden, war er finden soll; nur so viele unserer Geheimnisse, um Furcht in ihm zu erzeugen. Er wird nichts Wichtiges mitnehmen; das wagt er nicht. Ein paar Sekunden nach seinem Aufbruch werden unsere im Keller wartenden Leute nach oben gehen und das Haus von jedem einzelnen Beweisfetzen befreien. Mike ist jetzt ein Akteur im schrecklichen Theater Liliths. Er wird stolzieren und posieren, bis zum Ende des Stücks. Er wird mir nicht entgehen. Ich sehe mir die Worte an, die ich gerade geschrieben habe. Er wird mir nicht entgehen. Ich bin mir dessen sicher, ich glaube daran. Indem er dorthin gegangen ist, hat Mike Banion sich unserer Kontrolle ausgeliefert. Wir sind weitaus besser für dieses Spiel gerüstet als er. Wir verfügen über Menschen, Material und Ausrüstung, und außerdem über den Scharfblick der Dämonen, die uns leiten. Was Mike anbetrifft, so fürchtet er sich sogar davor, seine eigenen Leute mit einzubeziehen, weil er Angst hat, sie könnten Mitglieder unserer Kirche sein. Die Menschheit treibt dahin, geplagt von plappernden Geistern und nutzlosen Göttern. Auf dem Grund jeder menschlichen Seele sitzt der böse alte Affe, aus dem wir gekommen sind. Wir, die Spezies des Übergangs, halb Tier, halb Gott, sind voller Tragödien und Verwüstungen. Ich bin beinahe überwältigt von dem verehrenden Verlangen, mit unserer großen Arbeit fortzufahren. Welch eine Gnade das BeulenPositiv 3 sein wird. Der Homo sapiens hat sich seit hunderttausend Jahren selbst erlitten. Es ist längst überfällig, dass diese widerliche Tragödie endet. Die Akteure auf der Bühne lösen sich endlich in der Finsternis auf. Nur die Inquisition kann uns jetzt noch aufhalten. Aber wird sie es? Wir stehen kurz vor dem Erfolg. Und doch... gibt es immer noch die Möglichkeit, dass wir etwas übersehen haben. Die Inquisition webt subtile Netze. Ich mache mir Sorgen, wälze die gleichen wenigen Fakten wieder und wieder in meinem Geist. Ich stelle mir Priester vor schweigend, vorsichtig, fanatisch -, die durch die Dunkelheit schleichen, sich in
jede übersehene Ecke drängen und besessen sind von der Mission, die Religion und eine Menschheit zu retten, die beide schon tot sind. Die meisten menschlichen Geschöpfe hungern klammheimlich nach der Zerstörung. Freuds >Todessehnsucht< ist der Instinkt, den eine fehlerhafte Spezies ihrer eigenen Ausrottung entgegenbringt. Als Kirche zur Vernichtung des Menschen verwenden wir die großen Symbole des Todes: die starren Augen Thoths, den stählernen Helm des Schwarzen Prinzen, und den funkelnden, silbernen Totenschädel der SS. Die Menschheit sehnt ihr eigenes Ende so sehr herbei, dass sie sogar das Mittel des Massenselbstmords ersonnen hat. Warum sonst gibt es so gewaltige Atomwaffenarsenale auf der Erde? Wenn der Mensch es mit seinen Atombomben selbst vollbringt, wird die Todesqual der Rasse Jahre dauern. Die wenigen, die bei der Explosion umkommen, werden die Glücklichen sein. Doch was den Rest betrifft Strahlung, Verbrennungen, Infektionen, Gewalt und Hunger werden sich ihrer annehmen... und das sehr, sehr langsam. Dr. Cochrans neues Beulen-Positiv 3 tötet schnell in weniger als zehn Minuten, laut unserem Versuch an Terence Quist. Wir kennen wenigstens Erbarmen.
18. Kapitel Die unglaubliche Wirklichkeit, die Jonathans Instrumente geöffnet hatte, zerrte an Patricias Verstand und bedrohte ihr seelisches Gleichgewicht. Von dem Augenblick an, als sie verstanden hatte, was er meinte, hatte sie nur noch ein Gedanke beherrscht: Flucht. Wäre sie in der Lage gewesen, den Körper auf magische Weise mit einem anderen zu tauschen, sie hätte es getan. Aber das war unmöglich. Sie war in sich selbst und konnte nicht hinaus. Er war ebenso gefangen. Zwei Mutanten. Die sich so fühlten, so sein wollten, in ihren Herzen so waren wie zwei gewöhnliche Menschen. Sie würden dorthin gehen, wo sie das Leben leben konnten, das sie sich ersehnten. Ihre Wünsche waren geringfügig: ein Heim und Kinder. So wie jeder andere hatten auch sie ein Recht auf ein ruhiges Leben.
Wir können im Sonnenschein leben. Die Schatten, die uns gestreift haben, kann man fortbrennen. Sie schlichen durch die gefährliche Stille von Kew Gardens, unter schwarzen, verschlungenen Bäumen her, die die Straße umsäumten. Ihre Füße berührten leise den kurzgeschnittenen Rasen und die fleckenlosen Gehwege. Es war so still, dass ihr Atem die Luft aufzuwirbeln schien. Jede Bewegung, die Patricia machte, jedes Rascheln ihres Rockes oder die Berührung eines nackten Armes mit einem Busch ließ ihr Herz fast stehen bleiben. Langsam näherten sie sich dem Haus der Banions und dem, was sie vielleicht dort erwartete. Hätten sie die Wahl gehabt, wären sie vom Labor aus direkt zum Port Authority-Busbahnhof gegangen, aber diese Alternative stand ihnen nicht frei. Sie brauchten unbedingt Geld, es sei denn, sie wollten ihre Flucht schon vor Philadelphia abbrechen. Jonathan besaß keine Kreditkarten. Das beste, was Patricia aufzuweisen hatte, war eine Hamil Master Card mit einem Dreihundert-Dollar-Kredit, der fast aufgebraucht war. Alles was sie bei sich hatten, waren sechsunddreißig Dollar und die Kreditkarte. Die Nacht, durch die sie sich bewegten, war genauso wie jede andere wohlriechende Augustnacht, sie war üppig vom rätselhaften Wesen der Natur. Doch unter der Schönheit lauerte eine bösartige Realität, die sie zwar fühlen, aber nicht benennen konnten. Sie spürten sie in der Reflexion des Mondlichts auf den überraschten Augen der Katzen und in der schleppenden Stimme des Windes, der stets bei ihnen zu sein schien. Der Mond stand jetzt niedrig. Bald würden die grauen Schatten der Bäume und Häuser, die hinter den Wiesen wogten, weggeschwärzt sein. Nur das Funkeln Manhattans am Himmel würde dann noch für Beleuchtung sorgen. Patricia fasste Jonathans Hand, als sie sich dem Haus der Banions näherten. Sie hätte gern »Hab keine Angst« gesagt, aber sie wagte nicht einmal zu flüstern, ehe sie nicht besser verborgen waren. Sie waren zuerst in ihre Wohnung gegangen, um ihren jämmerlich kleinen Vorrat an Fünfdollarnoten zu holen. Vier Stück welch ein Haufen Geld. Aber was hatten sie zu erwarten? Im Augenblick brachte sie wöchentlich genau $ 168,42 nach Hause. Die Pistole, die Mike ihr gegeben hatte, war auch dabei. Sie bewachte ihr Vermögen; Patricia hatte sie ebenfalls in ihre Handtasche gesteckt. Am sichersten war es, man ging davon aus, dass die Kirche der
Nacht überall war und sie abwartend beobachtete. Sie zeigte auch keine Ungeduld. Patricia erinnerte sich an die Gier des Dings, das sie vergewaltigt hatte. Bei jedem Schritt, den sie machte, sprach sie ein Gebet. Aber es war nicht das übliche katholische Halt-die-andereWange-hin, sondern ein wütendes, aufgebrachtes Gebet, das der totalen Vernichtung der Kirche der Nacht und ihren gesamten Anhängern galt. Patricia hatte darauf bestanden, dass sie, statt den Bus zu nehmen, zu Fuß von ihrer Wohnung hierher gingen, und zwar aus einem praktischen Grund: So konnten sie besser ermitteln, ob ihnen jemand folgte. Die Straßen der stillen, exklusiven Enklave, die mitten in Queens verborgen war, waren einfach zu leer um diese Stunde 4.30 Uhr -, als dass man einen Verfolger nicht hätte sehen oder hören können. Die Verfolger der Kirche der Nacht wollten sie nicht, und Mikes Wächter brauchten sie nicht. Dies mussten sie allein hinkriegen. Patricia hatte die Absicht, um fünf Uhr die Long Island-Eisenbahn von Kew Gardens zu nehmen. Von der Penn Station aus würden sie zu Fuß zum Busbahnhof gehen und den ersten Fernexpress nehmen, den sie fanden und dorthin fahren, wo sein Ziel lag. Jetzt, wo ihr Plan ausgeführt wurde, konnte sie die Freiheit des neuen Lebens, die er versprach, beinahe schmecken. Sie nahm Jonathans Hand. Keiner würde das normale, alltägliche Glück, das sie mit ihm teilen wollte, zerstören. Als sie weitergingen, griff sie mit der anderen Hand in ihre Handtasche und berührte den stählernen Leib der Pistole. »Ich glaube nicht, dass ich töten kann«, hatte Jonathan gesagt, als sie die Waffe an sich genommen hatte. »Kannst du's?« Ja, um uns zu beschützen.
Sie erreichten den Gehweg, der zum Haus hinaufführte. Selbst mit dem Geld, das sie dort finden würden, würde es nicht leicht sein. Patricia legte den Arm um Jonathans Taille, zog ihn am Haus vorbei und wiegelte seinen Impuls, durch die Vordertür einzutreten, mit einem leisen Flüstern ab. Vorsichtsmassnahmen und Strategien waren nicht Jonathans Stil. Wenn sie es richtig machen wollten, musste sie die Sache in die Hand nehmen. Sie kannte das gut von früher, von den Schlafsaalexpeditionen her, dem Herausschleichen bei Mitternacht als Mutprobe. Das Wichtigste war, dass man mit dem Schlimmsten rechnete.
Auf diese Weise wurde man nicht überrascht. Sie huschten von Strauch zu Strauch, bis sie Ausblick auf das Banion-Haus und den davorliegenden Gehsteig hatten. Sie zupfte an Jonathans Hand, gestikulierte und duckte sich. Er legte sich neben sie. Sie befanden sich hinter einem Busch, möglicherweise einem Götterbaum, der sie gut verbarg. Patricia riskierte ein gehauchtes Flüstern. »Wir geben ihnen fünf Minuten, dann gehen wir durch die Garage rein.« »Wem geben wir fünf Minuten?« »Unseren Beschattern, Dummi. Wenn uns jemand gefolgt ist, müssen wir ihn in fünf Minuten auf dem Gehsteig sehen.« »Du bist wunderschön.« Mr. Romantik. Nicht mal jetzt verstand er die Gefahr, in der sie schwebten. Jedenfalls nicht richtig. Die Augen ihres Traumdings waren gelb, groß und unverändert. »Was ist denn mit dir los? Bist du in Ordnung?« »Pssst! Leiser.« »Verzeihung.« Sie zwickte in sein Handgelenk. »Ich bete, dass wir lebend aus dieser Sache rauskommen.« Herr im Himmel, lass ihn doch endlich einsehen, wie ernst unser Problem ist. Er tätschelte ihre Wange; eine absurde Geste der Beruhigung. Trotz seiner Kraft und Intelligenz konnte Jonathan wahnsinnig naiv sein. Die fünf Minuten verstrichen ohne ein Zeichen von Ärger. Patricia gestattete sich eine winzige Hoffnung. Sie würde sie hier schon rausbringen. Irgendeines Tages, und zwar bald, würde sie irgendwo ein kleines Zimmer haben und einen anständigen kleinen Job, und den exotischen Luxus dieses Mannes als ihren Gatten. Oder war es mehr, als eine absolut durchschnittliche Querdurchden-Garten-Mutation verlangen konnte? Sie zog ihn eng an sich; sie konnte seinen goldenen Körper im Dunkeln riechen. Er roch so süß, so ganz anders als ein normales menschliches Wesen in einer heißen Nacht. Sie spürte, wie ihr eigener Körper vor Verlangen sang. Seine Hand legte sich unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht ihm zu. Daran war nichts falsch; Küsse waren stumm. Mutanten finden einander eben attraktiv. Klar. Seine Küsse radierten so viele einsame Jahre aus, eine ganze Jugend von öden Tanztees mit den Jungs von St. Dominik. Aber wir Waisen wollen keine anderen Waisen, wir wollen Prinzen. Wie wir
davon geträumt haben; wir von Zauberern in Frösche verwandelte Prinzessinnen. Irgendwo heulte ein Hund. Sie wandten den Kopf beide dem fernen Lärm zu. Aber er war weit weg, mehrere Häuserblocks. Ein Vogel murmelte eine Antwort. Die Luft bewegte sich ein wenig, und ein paar Blätter raschelten. Patricia gab seiner Schulter zwei schnelle Stupser und nickte. Sie erhoben sich hinter ihrem Strauch und schlenderten zum Banionschen Seitengarten. Obwohl Patricia das Grundstück nicht so gut kannte wie er, ließ sie Jonathan auch hier nicht die Führung übernehmen. Sie nahm die Pistole heraus und bediente den ziemlich starren Abzugshebel. Aus irgendeinem Grund war es ihr leicht peinlich, das Ding in der Hand zu halten; sie hielt es nach unten, damit Jonathan es nicht sah. Die Waffe deutete irgendwie das an, was sie tun wollten, und Patricia war sich nicht ganz sicher, ob sie wollte, dass Jonathan es wahrnahm. Es hätte ihn ängstigen können. Sie hob das Schießeisen ein Stück und bereitete sich darauf vor, das Haus zu betreten. Sie erreichten die Hintertür, die zur Garage führte. Jonathan nahm den Schlüssel heraus und öffnete sie. Es gab ein betäubendes Quietschen, dann waren sie drin und wischten sich Spinnweben aus dem Gesicht. Die Garage war schwarz; wie schade, dass sie keine Taschenlampe hatten. Jonathans Hand fasste die ihre. »Ehrlich gesagt, Schatz, ich habe Angst.« »Uns wird schon nichts passieren. Bleib nur am Ball.« »Wenn man uns erwischt...« »Wir helfen uns gegenseitig. Wenn wir überhaupt erwischt werden, dann lieber von Mike und deiner Mutter.« Ein fester Händedruck teilte ihr billigend etwas mit, das von Herzen kam. Nach ein paar Schritten quer durch die Garage bemerkte Patricia, dass Mikes Wagen nicht da war. Na prima! Einer weniger, den man aufwecken konnte. Sie gingen durch die finstere Küche, an den Hängepflanzen und den glänzenden Haushaltsgeräten vorbei, die Patricia einst so bewundert hatte. Dann durch das Speisezimmer mit dem wundervollen antiken Tisch und den Stühlen. Dann kamen sie in Mikes Reich. Hier gab es Sitzkissen und ein Dartbrett an der Wand und eine Kiste voller Bücher über den Polizeiberuf. Hier gab es auch einen großen Fernseher für die Spiele am Wochenende und die durchgearbeiteten Nächte. Der Raum war Mike Banion und machte
Patricia wegen der Freundschaft, die nun sterben musste, traurig. Ohne Jonathan und sie würde Mike ein sehr einsamer Mensch sein. »Vielleicht finden wir etwas im Schreibtisch.« Jonathan hob das Berichtsbuch hoch und zog einen Schlüssel aus einem kleinen Lederschlitz an seiner Seite. Ein cleveres Versteck; ein Glück, dass Jonathan es kannte. In der obersten Schublade war ein Geldhalter mit Zwanzigern. Sechs insgesamt. Jonathan steckte sie ein. »Schwarzgeld«, flüsterte er. Er versuchte ein Lächeln, aber es war offenkundig, dass er sich bei seinem Tun nicht wohl fühlte. Patricia holte tief beruhigt Luft und rechnete. Jetzt hatten sie hundertsechsundfünfzig Dollar. Das war nicht genug. Sie mussten nach oben gehen. Da Jonathan das Haus viel besser kannte als sie, hatte sie keine andere Wahl, als ihn die Führung übernehmen zu lassen. Sie hatte kein Vertrauen in sein Geschick als Einbrecher, weil sie es nicht kannte. Am Fuß der Treppe hielt sie an. »Weißt du, was du tust, wenn sie wach wird?« »Dann nehme ich die Beine unter den Arm.« »Nein! Dann kriegen sie dich. Du bleibst absolut still stehen und machst kein Geräusch. Dann schläft sie wieder ein.« »Ach so.« Obwohl das Haus mit einer zentralen Klimaanlage ausgestattet war, roch die Luft oben reichlich nach Ausdünstungen des Schlafes. Patricia schickte Jonathan zuerst in sein eigenes Zimmer, um dort die elf Dollar und die sechs U-Bahn-Münzen mitzunehmen, die auf seiner Garderobe lagen. Als er zurückkam, gingen sie zusammen in Mikes und Marys Schlafzimmer. Mary lag auf der ihnen zugewandten Bettseite, auch ihr Körper war der Tür zugewandt. Ihr Gesicht war fast unsichtbar. Patricia sah sie lange vom dunklen Korridor aus an. Einige atemlose Augenblicke lang schien es, dass ihre Augen offen waren. Ich bringe sie um, wenn ich muss, redete sie sich ein. Ich werde nicht zögern. Doch sie belog sich. Die Frau war Jonathans Mutter. Seine Schulter berührte die Patricias. Sie konnte nichts anderes tun als hoffen, dass Mary nicht wach wurde und sie zum Handeln zwang. Jetzt, wo sie dem Ende so nahe waren, konnte Patricia Jonathan allein lassen und er im Korridor darauf warten, dass sie den Rest des Unternehmens erledigte. Die anderen Mädchen hatten sie stets gewählt, wenn es darum ging, sich in Schwester Saint Johns
Zimmer zu schleichen, um ihre Nonnenschleier mit dem Filzhut des Gärtners zu vertauschen, die Gläser aus ihrer Brille zu mopsen oder andere Dinge dieser Art. Doch Mary Banion war nicht die herzensgute Seele, die die Schwester gewesen war, und das hier war gar nicht Spaßig. Vorsichtig, damit es so wenig raschelte wie möglich, bewegte Patricia sich an ihrem Bett vorbei. Mary atmete unregelmäßig. Ein sehr schlechtes Zeichen. Gerade als sie sich entschlossen hatte, den Rückzug anzutreten, sah sie Marys Handtasche auf der Garderobe liegen. Ihre Geldbörse musste darin sein. Wie viel? Wenn sie Glück hatte, ein paar hundert. Kalifornien, Florida, Texas, Montana. Die Freiheit lag in einer Handtasche. Als Patricia hineinlangte, hörte sie ein entfernt klimperndes Geräusch. Sie erstarrte. Vom Bett her keine Bewegung. Sie zog die Börse hervor. Bevor sie es wagte, den Raum zu verlassen, blieb sie lange stehen und lauschte. Mary war sehr still. Patricia bewegte sich langsam auf die Tür zu. Als sie neben dem Bett war, warf sie einen erneuten Blick auf Mary. und sah, dass ihre Augen offen waren. Mary stieß einen langen zischenden Ton aus, als zerrisse irgendwo ein Laken. Sie richtete sich im Bett auf. Patricia stand wie vom Donner gerührt, verwirrt von der Plötzlichkeit ihrer Bewegungen. »Stehen bleiben! Alle beide!« Mary sprang aus dem Bett. Patricia erreichte die Tür, bevor Mary sie mit dem Körper blockieren konnte. »Ihr könnt nicht weglaufen! Es ist unmöglich!« »Lass uns in Ruhe, Mary. Versuch nicht, uns aufzuhalten.« Das Geräusch, das ihre Antwort war, war in seiner Rage beinahe unmenschlich. »Ich habe eine Waffe, Mary!« »Ihr könnt nicht entkommen, ihr kleinen Narren^ ihr gehört der Kirche!« »Komm, Jonathan«, sagte Patricia, als sie an ihm vorbeifegte. Als sie die Treppe hinunterlief, lauschte sie dem Klappern seiner Schritte und war erleichtert, als sie sie hörte. Ob sie seinetwegen zurückgegangen wäre, um sich dieser Frau zu stellen? Als sie draußen waren, warf Patricia die Arme um ihn. Dann sah sie Mary durch das Garagentor kommen; sie trug einen Regenmantel über dem Nachthemd. Sie bewegte sich lautlos und
schnell. Patricias Schießeisen schien sie nicht zu kümmern. Als sie durch die Gasse rannten, die zur 84th Avenue führte, kam Wind auf. Dicke Regentropfen klatschten auf die Blätter. Die Luft war schwül. Der nördliche Himmel zeigte ein tiefes Schwarz; ein Sturm war im Anmarsch. Patricia zog den Kragen ihrer Bluse hoch. Auf eine gewisse Weise würde der Sturm ihnen helfen, weil er die Geräusche ihrer Flucht übertönte, aber im Zug würden sie auffallen, wenn sie nass dort ankamen. »Wir kürzen durch Forest Park ab«, sagte sie zu Jonathan. »Das ist der schnellste Weg.« Ob man den Bahnhof von Kew Gardens beobachten würde? Sie konnten nur hoffen, dass es nicht so war. Als sie die Park Lane erreichten, ratterte ein Müllwagen an ihnen vorbei, und vor seinem geschlossenen Schlund hingen, wie eine Fahne, die Überreste eines roten Kleides. Sie erklommen den niedrigen Wall, der den Forest Park umgab, und tauchten zwischen den Bäumen unter. Der Park war von absoluter Dunkelheit und Stille erfüllt. Der Forest Park trug seinen Namen deswegen, weil er den größten Anteil an unberührten Bäumen in New York City aufwies. Man hatte sie seit der Gründung der Vereinigten Staaten nicht geschnitten. Zwanzig Meter hohe Eichen und Ahornbäume ragten aus einem nebeldunstigen Farnbett in das Dunkel hinauf. Patricia und Jonathan blieben auf den vertrauten Pfaden, die Generationen von Abkürzern getreten hatten. Patricia stapfte weiter, obwohl sie wusste, dass die Feuchtigkeit aus ihren Schuhen sie bald zum Gespött machen würde. Als sie unter der Interboro Parkway-Brücke hergingen, blieb ihnen das tröpfelnde Regenwasser auf dem Hals kurz erspart. Der Wald war auf der anderen Seite dichter, aber nun konnten sie einen Parkweg benutzen, eine sich dahinschlängelnde Asphaltstraße. Sie war mit Schlaglöchern übersät. Einst waren hier Kutschen gerollt, und Liebende waren geschlendert. Der Wind ließ die Farne flüstern, und die Baumwipfel stießen langgezogene Seufzer aus. Als Patricia das Leuchten von Wasser auf Metall vor sich sah, wurde ihr der große strategische Fehler klar, den sie gerade gemacht hatte. Der Forest Park war nicht dasselbe wie eine von Unkraut überwucherte Gasse. Hier konnte die Kirche der Nacht ein paar Risiken eingehen. In dieser Wildnis spielten Schreie keine Rolle, und es gab auch keine Hintertüren, an die man klopfen konnte. Die Kirche der Nacht hatte sehr schnell gearbeitet. Mary konnte
sie erst vor mehr als ein paar Minuten gewarnt haben. »Moment.« Sie packte Jonathans Schulter. »Da steht ein Lieferwagen.« »Wo?« Sie hob seine Hand, drückte sie gegen das kalte Metall. Sein ganzer Körper zuckte, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag versetzt. »Nimm die Beine in die Hand«, hauchte sie. »Vielleicht haben sie uns nicht gesehen.« Sie ließen die Straße hinter sich und nahmen einen Pfad. Patricia war sich zwar nicht sicher, aber sie nahm an, dass er auf den Park Place führte. Wenn es so war, waren sie in ein paar Minuten in Sicherheit. Als sie sich einen Weg durch die feuchten, klatschenden Farne bahnten, hörte sie deutlich Schritte auf dem Weg, den sie gerade verlassen hatten. Dann kam ein Krachen aus dem Gebüsch kaum zwanzig Meter hinter ihnen. »O Gott, Jonathan lauf!« Als sie durch die klatschenden Farne rannten, fingerte sie wieder und wieder an der Sicherung der Pistole. Sie würde sie benutzen, sagte sie sich, sie würde sie ganz bestimmt benutzen. Der Gedanke kehrte so oft zurück, dass sie allmählich fürchtete, sie würde die Courage dazu gar nicht aufbringen. Die Farne schlugen gegen ihre Beine, und sie stieß fortwährend gegen Baumstümpfe. Neben ihr strauchelte Jonathan und fiel hin. Ein fortwährendes Gebüscherascheln folgte ihnen. Eine Weile ging es so weiter, wobei die Kirche der Nacht zwanzig Meter hinter ihnen war. Die Erinnerung an das Ding, dem sie in der Heiligen-Geist-Kirche begegnet war, ließ Patricia rennen wie eine Irre. Sie kämpften sich durch das feuchte, klamme Wurzelwerk, ihre Füße rutschten durch Schlamm, und eine Regenwand behinderte ihre Sicht. War das Ding hinter ihnen? Jonathan schrie auf und fiel gegen sie. Sie packte ihn, riss ihn auf die Beine. »Weiter, Schatz!« Finger peitschten wie Schlangen um ihren Hals, und sie griff nach ihnen, versuchte zu kämpfen statt zu schreien, versuchte das Entsetzen davon abzuhalten, in ihr aufzusteigen und ihre Fähigkeit zum Widerstand zu lahmen. Mit dem Grollen nackter Wut überwand Jonathan den Meter, der ihn von dem trennte, was sich auf sie gestürzt hatte, und packte zu. Sofort war der Arm weg, und Patricia sah sich einer zuckenden,
rollenden Masse um sich schlagender Glieder gegenüber. Sie hörte, wie Schlag auf Schlag sein Ziel fand. Sie hörte, wie Luft zischend aus Lungen entwich und Knochen brachen. »Um Himmels willen, du bringst ihn um!« »Genau das!« sagte Jonathan. Wieder und wieder hob sich sein Arm. Er schlug zu, bis die Gestalt unter ihm keine Bewegung mehr machte. Jonathan stand auf. Patricia war von Ehrfurcht erfüllt. Sie hatte dergleichen noch nie gesehen. Er hatte einen Menschen in ein paar Sekunden bewusstlos geschlagen vielleicht sogar getötet. Sie umarmte ihn. »Hast du dir weh getan, Liebling?« »Mir geht's gut. Lass uns abhauen.« Vor ihnen raschelten Farne. Ein deutliches Klicken. »Wirf bitte die Waffe weg«, sagte eine ruhige, kalte Stimme. Statt dessen zielte Patricia in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und drückte ab. Ein Gefühl von Bösartigkeit und triumphierender Stärke durchspülte sie. Die Pistole machte Klick. Klick. Klick-klick. Etwas piekte in ihren Nacken. »Keine Bewegung, ihr beiden. « Noch eine dunkle Gestalt kam neben Jonathan aus den Büschen. Patricia konnte in ihrer Hand die gleiche Waffe sehen, die sich kalt an ihren Nacken drückte. Ein Stilett. Ihr Magen hob sich. »Pistole fallen lassen.« Die rasiermesserscharfe Schneide streichelte ihren Hals. »Sie ist sowieso nutzlos. Das Pulver war schon an dem Abend nicht mehr in den Patronen, als du sie bekommen hast.« Patricia warf die Waffe zu Boden und fühlte sich absolut hilflos. Man konnte ihnen nicht entkommen, auf keine Weise. Schon der Versuch war blödsinnig gewesen. Ein Funkgerät rülpste in der Dunkelheit. Patricia bemerkte, dass sie von einer großen Menschenmenge umringt waren. Sie hatten sich die ganze Zeit über im Zentrum eines bestens organisierten Netzwerks aufgehalten. Der Druck des Stahls an ihrem Hals nahm ab. »Kommt bitte mit.« Jonathan machte den Anfang. Er wurde brutal gestoßen. Hinter ihnen flammten Taschenlampen auf. Die Stimmen wurde lauter. Man versuchte, demjenigen zu helfen, den Jonathan zusammengeschlagen hatte. Patricia erlaubte es sich, einen Moment lang stolz auf ihn zu sein. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben. Es bedeutete ihr eine Menge. Bald stießen noch mehr aus der Gruppe zu ihnen. Es waren gut
zwanzig Menschen in der Nähe, alle trugen schwarze Rollkragenpullover und Jeans. Gelegentlich enthüllte das aufblitzende Licht, dass es sich um ganz normal aussehende junge Männer und Frauen handelte. Kurzes Haar, gepflegtes Äußeres. Keiner hatte Schuppen, keiner hatte Reptilaugen. Patricia hatte sich die Kirche der Nacht in Begriffen wie Fledermausaugen und verschrumpelten alten Magiern vorgestellt. Diese Männer arbeiteten tagsüber womöglich in Anwaltskanzleien und Versicherungsbüros, und die Frauen zogen die Kinder in hübschen Einfamilienhäusern in Kew Gardens auf. Als die Hecktür des Lieferwagens ein Stück geöffnet wurde, drang ein Strahl gelben Lichtes hinaus. Dann öffnete sich die Tür ganz. »Kommt«, sagte eine freundlich modulierte Stimme. Obwohl die Hecktür hinter ihnen verschlossen wurde, sah das luxuriöse Innere des Fahrzeugs kaum wie ein Gefängnis aus. Jonathan nahm auf einem niedrigen Ledersitz Platz. »Ich pack' es einfach nicht.« Seine Stimme klang gebrochen. »Ich weiß.« Der Wagen hatte keine Fenster, die Wände waren mit Polstern bedeckt. Es gab eine bestens ausgestattete Bar mit Eis, Gläsern, Kartoffelchips und Salzbrezeln. »Iss und trink nichts von dem Zeug, Jonathan.« »Natürlich nicht.« Er sackte nach vorn und legte den Kopf in die Hände. Sie nahm auf dem Sitz daneben Platz und schlang die Arme um ihn. Der Wagen fuhr los. Patricia erlebte etwas, das beinahe wie ein urtümlicher Fluchttrieb war, als sei sie in einer Grube gefangen oder in einem Sarg eingeschlossen. Der Wagen fuhr schneller und tauchte in die dunkle Nacht ein.
19. Kapitel Mike musste den Sarg Franklin Apples exhumieren. So, wie die Kirche der Nacht vorging, konnte er alles mögliche enthalten oder jedermann. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er musste den gesamten Dienstweg einhalten, um die Sache hinzukriegen. Es wurde später Nachmittag, ehe er alle Bürokraten endlich soweit hatte, dass sie ihre Zustimmung erteilten. Schließlich lagen die Akten komplett vor, und Mike saß schwitzend in seinem alten Dodge am Eingang des Allerseelen-Friedhofs. Der Abend brach an, und er
war müde und beunruhigt und wäre am liebsten nach Hause gegangen. Er rieb die Handflächen über seine Wangen; sie brannten wie Feuer. Entweder hatte er sich im Büro schlampig rasiert, oder er war allergisch gegen das Rasierwasser, das Mary ihm geschenkt hatte. Ihm juckte das ganze Gesicht. So ein Pech. Wo er doch das Rasierwasser so sehr mochte. Wahrscheinlich sollte er auf ein anderes umsteigen. Je älter man wurde, desto empfindlicher wurde man. Am Ende sogar gegen das Leben. Bis man es dann einpackte. Es war ein beschissener Tag gewesen, schon von Anfang an. Als er um acht auf der Bürocouch erwacht war, hatte er das Gefühl gehabt, ein Lastwagen hätte ihn angefahren. Und dann war es gleich so weitergegangen: Er hatte sich mit dem öligen Stellvertreter des Bezirksstaatsanwalts unterhalten, der nicht kapieren wollte, warum Apple exhumiert werden sollte eines Winzdelikts wie eines Tarnnamens wegen. Und dann der ganze Scheiß mit dem Gesundheitsamt und dem Friedhofsamt. Jeder zuständige Abteilungsleiter hatte dann noch sein Kreuzchen auf die Urkunden setzen müssen. Vor Morgengrauen hatte es angefangen zu regnen, und es hatte den ganzen Tag nicht wieder aufgehört. Der Friedhof würde ein Meer aus Schlamm sein. Mike sah sich persönlich als vorsichtigen und geduldigen Kriminalbeamten. Er hatte gelernt, dass man Fälle entweder mit Hartnäckigkeit oder Glück löste, doch zu den Glückspilzen zählte er nicht. Er glaubte nicht im Traum daran, dass >Mr. Apple< tot war. Ein Zufall dieser Art war einfach zu unwahrscheinlich. So was gab es nicht. Schon deswegen nicht, weil Apples wirklicher Name wahrscheinlich Titus war. Mike war sich ziemlich sicher, dass eine Ladung Briketts oder Ziegelsteine ausgraben würden, vielleicht auch einen Sarg voll Sand. Es war nicht schwierig, Beerdigungen dieser Art in Auftrag zu geben. Die Firma Dexter-Bestattungen auf der Metro Avenue erledigte solche Fälle für die Mafia alle naselang. Für zweitausend Mäuse konnte man bei ihr einen Sack voll Ziegelsteine beerdigen lassen; und darin war auch das Honorar des Geistlichen enthalten. Der Exhumierungsbefehl steckte hinter Mikes Zigarren in der Brusttasche. Da der Allerseelen-Friedhof eine Erster-Klasse-Kippe war, war man hier auf Bullen und Exhumierungen nicht gerade scharf. Um zu vermeiden, dass man des Geländes verwiesen wurde, musste man dafür Sorge tragen, dass über jedem i der vorschriftsmäßige Punkt zu sehen war und jedes t an der richtigen Stelle einen
Querstrich hatte. Während Mike wartete, nahm er sich die Zeit, um an seinem privaten Gefühlszustand zu arbeiten. Nach der letzten Nacht in Apples Haus war er ausgeklinkt. Vor Angst. Nach ein paar Stunden auf der Bürocouch war ihm aufgegangen, was er tun musste, um den Fall zu lösen. Wenn er ihn lösen wollte, musste "er unter Umständen zwar dem Teufel persönlich entgegentreten, aber bei Gott, er war bereit, alles zu tun, um die Kirche der Nacht zu entlarven. Das änderte seine Angst freilich nicht. Von kaltem Grauen geschüttelt hatte er Mary um neun Uhr angerufen und ihr vorgelogen, ein Notfall hätte ihn die ganze Nacht auf den Beinen gehalten. Dann hatte er gesagt, sie solle ihn zum Mittagessen zurückerwarten. So nervenaufreibend es auch werden würde, zu ihr zu gehen tat er es nicht, gab er ihr einen allzu deutlichen rechtzeitigen Wink. Und er wagte es nicht, Kollegen auf der Straße warten zu lassen. Vielleicht traf er in diesem Fall ein direktes Abkommen mit der Kirche der Nacht. Mike sehnte sich nicht mehr nach der kommenden Nacht. Er würde bestimmt kein Auge zutun. Er schlug mit den Händen gegen das Steuer. Der Fall war so verdammt kompliziert. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, die einfach einzuknacken. Doch unter welcher Anklage und welche Leute? Gott, ist das ein Scheiß. Gab es eine bessere Tarnung für eine Frau wie Mary, als mit einem Polizeibeamten verheiratet zu sein? Welch nette Frau. Gab vor, ihn geliebt zu haben. Vielleicht stimmte es sogar, wer wusste das schon? Es war ihm Scheißegal. Ein ekliger Geschmack war in seinem Mund, wenn er an die vergangene Nacht dachte. Er schüttelte den Kopf, bekämpfte die Bilder. Mike hatte die Absicht, bei dem Fall außerordentlich genau vorzugehen. Ein weiterer Wagen traf ein. Der Gutachter des Gesundheitsamtes und der amtliche Leichenbeschauer von Queens County beziehungsweise, wie er durch das Fenster seines verbeulten grünen Stadtausgaben-Dodge sehen konnte: die Leichenbeschauerin. Ein ansehnliches, robustes Exemplar der weiblichen Gattung, auch das noch, und jetzt schon sichtlich sauer wegen der Graberei im Regen. Die beiden stiegen aus ihrer alten Kiste und kamen zu Mikes Wagen herüber. Wenigstens kannten sie das Protokoll. Wenn man mit einem Kripo-Inspektor zusammenarbeitet, der so närrisch ist, hier
hinauszufahren, um Schlamm zu treten, dann geht man besser zu ihm, weil er besessen ist. Von Inspektoren nahm man nicht an, dass sie Fälle selbst bearbeiteten. Ihr Job bestand darin, andere KripoBeamte herumzuscheuchen. »Inspektor Banion?« »In Person.« Der Typ vom Gesundheitsamt lehnte sich gegen den Wagen. Seine Glubschaugen waren feucht von Erschöpfung, sein Atem eine Mischung aus C&C-Cola und Hot-dog von der Straßenecke. Diese Burschen hatten einen harten Job; sie jagten Ratten und kranke Köter, kratzten Scheiße vom Boden und untersuchten Leichen nach Anzeichen von Ansteckungsgefahr. »Ich bin Inspektor Ryan«, sagte er. »Dies ist Dr. Phillips.« Mike öffnete die Türen. »Kommen Sie rein. Die Schaufler haben sich verspätet.« Die beiden klemmten sich in den Polizeiwagen. »Tut mir leid wegen des Regens«, sagte Mike. »Solange man dabei noch graben kann...« Die Leichenbeschauerin war jünger, als er zunächst dachte. »Ihre erste Exhumierung?« »Meine erste bei einem Wolkenbruch.« »Vielleicht haben Sie Glück. Die Feuchtigkeit hält den Gestank unten.« Nach dieser Bemerkung folgte Stille. Die Bürokraten waren gekommen, weil das Gesetz ihre Anwesenheit erforderlich machte. Aber sie waren auch menschliche Wesen, deswegen mussten sie sich fragen, warum jemand von seinem hohen Rang an einem regnerischen Nachmittag eine Not-Exhumierung beaufsichtigte. Sollten sie sich doch weiter fragen. Mike hatte nicht die Absicht, ein Wort über den Fall an Leute weiterzugeben, die nichts damit zu tun hatten. Vielleicht unterhielt er sich dann mit der Kirche der Nacht. Er warf einen Blick auf ein einsames Pappschild, das am Eisentor befestigt war. Wachstumsperiode i. Juni i. November. Nur frische Blumen. Künstliche werden entfernt. Ein Friedhof mit Prinzipien. Um seinem Image gerecht zu werden, war der Friedhof voll mit den erstaunlichsten Monumenten. Seit fünfzig Jahren beerdigte hier die Mafia. Je mörderischer der Schweinehund, desto aufwendiger der Grabstein. Auf Buddy DiMaestros Grab stand ein gottverdammter, drei Meter hoher Engel mit einem Schwert in der Hand. Wen sollte er wohl abschrecken Gott etwa? Beth lag auch hier, drüben auf dem irischen Abschnitt des
Friedhofs. Kein großer Stein, aber Mike hielt ihn sauber. Sonntags kam er vorbei, um mit ihr zu reden. Sein Platz neben ihr war reserviert. Ein Rumpeln hinter dem Wagen kündigte die Ankunft des Grabkommandos und der Grabmaschine an. Gut, dass sie die Maschine hatten; die Männer hätten ihren Job sofort hingeworfen, wenn sie nur mit Spitzhacken und Schaufeln hätten arbeiten müssen. Sie sahen grimmig aus, die drei Angestellten der Sanitärabteilung. Die Männer verbrachten die meiste Zeit auf dem städtischen Armenfriedhof auf Hart's Island. Mike war hin und wieder dort gewesen und hatte sich die Mühe gemacht, die Überreste der einen oder anderen unglücklichen Seele ausfindig zu machen. Der Armenfriedhof war ein öder Ort. Er bot eine höhnische Aussicht auf die Wasser des Long Island-Sundes, wo es in der Sonne von bunten Segelbooten nur so wimmelte. Die Männer, die dort arbeiteten, sahen wie Maulwürfe aus. Mike steckte seine Zigarre an und führte die Prozession zum Friedhof an. Er hielt am Büro an und zeigte einem Verwalter mit einem verkniffenen Gesicht den Exhumierungsbefehl. »Dann mal los«, war das einzige, was der Mann sagte. Er hielt Mike eine Kladde entgegen, in der er sich eintrug. Dann kamen das Verzichtsformular und die Zertifikate der Bürokraten. Sie lasen die Formulare sorgfältig und versahen sie mit präzisen bürokratischen Signaturen. Die kleine Prozession fuhr weiter. Sie bewegte sich über einen schmalen, leeren Weg voran, der kaum mehr als ein Pfad war. Zu beiden Seiten ragten gewaltige Monumente auf, wie Wächter aus den Seiten irgendeines gefährlichen alten Ritterromans. Mike hielt seinen Wagen kurz darauf an. Die Grabmaschine zog die Bremse, und die drei Männer stiegen ab. »Fangt an zu graben«, sagte Mike. Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich hab' einen Liter Chivas für euch im Kofferraum, Jungs, also habt ihr mit diesem Job doch nicht das kürzeste Streichholz gezogen.« Die Stimmung der Männer verbesserte sich schlagartig. Einer von ihnen lächelte, ein anderer stieß ein zufriedenes Grunzen aus. »Nicht übel, Mann«, sagte der dritte und redegewandteste. Sie nahmen die Arbeit in Angriff, als mache sie ihnen Spaß. Aus dem Inneren des Wagens sahen die beiden Bürokraten mit langen Gesichtern zu. Sie hatten den größten Teil ihrer Arbeit getan; wahrscheinlich hatten sie Angst, sie würden zu kurz kommen.
Aber Mike war schon zu lange in dieser Branche, um städtischen Angestellten derartiges anzutun. »Hören Sie«, sagte er, als er wieder in den Wagen stieg, »wollen Sie das Honorar in bar oder in Naturalien? Ich hab' Scotch im Kofferraum, oder pro Nase dreißig Cent in der Tasche. Treffen Sie die Wahl.« »Wir kriegen unser Honorar immer in bar«, sagte die Leichenbeschauerin. »Und Naturalien dürfen wir nicht annehmen.« Mike zählte ihr drei Fünfer ab. Der Inspektor vom Gesundheitsamt nahm Schnaps. Draußen fing die Grabmaschine an zu röhren und begann die Erde wegzuschieben. Und so waren sie alle glücklich, und jeder tat willig seinen Job. Meist gab Mike den Leuten gar nichts. Sie erwarteten auch nichts, aber in der Feuchtigkeit dieses elenden Nachmittags war es nur fair. Er saß mit den beiden Beamten im Wagen, während die Totengräber ihrer Arbeit nachgingen. Sie fluchten, setzten ihr Werkzeug wie eine Waffe ein und verspritzten Schlamm über den Grabstein ein einfaches, aber teures Stück aus Carrara-Marmor, in den FRANKLIN APPLE, n. DEZEMBER 1894 12. JULI 1983 eingraviert war. Ohne ein R.I.P. Die Grabmaschine, ein kleiner Traktor mit einem Apparat, der wie eine große Kettensäge aussah, ratterte und schwankte, und seine Zähne bohrten sich tief in die Erde. Nach fünfzehn Minuten türmte sich neben ihr ein ansehnlicher Erdhügel auf. Endlich machten die Männer mit Schaufeln weiter. Bei normalen Exhumierungen war das der Augenblick, in dem man aus dem Wagen schoss und ins Grab hinunterblickte. Diesmal nicht. Mike erwies der Kirche der Nacht seinen erlernten Respekt. Es war am besten, wenn man davon ausging, dass sie stets neben einem saß. Die Leichenbeschauerin zum Beispiel. Oder einer der Totengräber. Oder der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der es ihm so schwer gemacht hatte. »Yo!« rief einer der Männer aus dem Inneren des Grabes. »Na, dann gehen wir mal, Leute; deswegen sind wir ja hier.« Sie stiegen in den treibenden Nebel hinaus. Der Schlamm blubberte unter Mikes Füssen und saugte an seinen Überschuhen. Er kuschelte sich tief in seinen Regenmantel. Der alte Hut verbarg seine kahle Stelle gnädig vor den Elementen. Am Boden des Grabes befand sich ein eiserner Sargdeckel. Wenigstens hatte die Bestattungsfirma gute Arbeit geleistet und das
begraben, was sie zu begraben versprochen hatte. Sehr oft wurden die Lieben, für die man angesichts von Eisen und Mahagoni gebetet hatte, in Pinienholz beerdigt; das war der übliche Beschiss. Der Wind ächzte in den Bäumen. Regen dampfte auf den Wagenscheinwerfern, die die Szenerie beleuchteten. In den Tiefen des Grabes funkelte das Eisen im Schein der Taschenlampen. »Zieht das verdammte Ding rauf, Jungs«, sagte Mike. Die Männer schoben ein Seil durch die Haken an den Seiten des schweren Sargdeckels und hoben ihn mit ihrer Winde. Jetzt lag der Sarg offen vor ihnen, sauber und waffenmetallgrau. Regentropfen perlten auf seiner polierten Oberfläche. »Macht weiter«, sagte Mike. Seine Zeugen standen unter ihren Regenschirmen auf der anderen Grabseite, in die der Wind wehte. Wenn in dem Sarg eine verwesende Leiche lag, würden sie sich bald wünschen, sich zusammen mit Mike eilig im Gegenwind zu bewegen. Der Sarg war verschlossen. Keiner hatten den Schlüssel. Mike nahm an, dass er in Apples Wohnzimmer lag. Die Schrauben, die den Verschlussmechanismus hielten, wurden nacheinander entfernt. Als die letzte draußen war, ertönte ein hermetisches Zischen. Ein gut versiegelter Sarg. »Verwest«, rief die Leichenbeschauerin. »Kommen Sie hierher. Da riecht es nicht so schlimm.« Die Regenschirme wogten im Nebel, und kurz darauf standen die beiden Beamten neben Mike. »Okay, macht ihn auf.« Die Totengräber setzten dazu an, den Deckel zu heben. Sie zögerten, dann gruben sie die Füße ein, als wäre er schwerer als er sein durfte. Dann hievten sie ihn zurück. Die Leichenbeschauerin kreischte. Der Inspektor des Gesundheitsamtes stieß einen scharfen Ton zwischen den Zähnen hervor. Mike wusste, dass dieser Augenblick ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde. Er stand gerade vor seinem schlimmsten Mord. Er war mehr als nur leicht überrascht; er hatte entweder Briketts oder Mr. Titus alias Apple erwartet. Doch das Spektakel vor ihm entsprach exakt dem, vor dem sich jeder Beamte der Mordkommission insgeheim fürchtete. Die Sache war so schlimm, dass sie an jeder Abwehr vorbeiging. Mike wusste, dass man von nun an jede Nacht mit ihr verbringen würde; er würde den erstarrten Aufschrei immer wieder hören, und ebenso das abscheuliche Ratschen der Fingernägel, als sie sich vom Sargdeckel lösten. »Tut mir leid«, sagte Mike in die Stille hinein. Unten im Grab
bedeckte einer der Totengräber sein Gesicht mit schlammbedeckten Handschuhen. Ein anderer schaute zu Mike hinauf, oder vielleicht an ihm vorbei, zu Gott. Vielleicht wollte er auch nur ein Stückchen Himmel sehen. »Festhalten, Jungs, ich komme runter.« Mike stieg die Leiter hinunter, er rutschte einmal an einer schlammigen Stufe ab. Das Grab wies den gleichen süßen Geruch auf, der auch aus den Schützengräben der Toten in Korea gekommen war. Faulig-süß. »Das arme Schwein. Hätten ihn zumindest bewusstlos schlagen können.« Mike bemühte sich, in das Gesicht zu sehen, aber soweit reichten die Wagenscheinwerfer nicht. Er tastete nach seiner KuliLeuchte. »Verdammte Scheiße«, sagte einer der Totengräber. »Das hätte ich lieber nicht gesehen.« Seine Stimme war sehr leise geworden. Es gab eine Menge Leute, die mit Toten zu tun hatten und trotzdem nicht die allgemeine Mythologie erfüllen: Sie wurden nicht härter. Sie wurden sehr gütig. Die Leidenden respektierten sich. Die Finger des Opfers hatten sich so fest in den Sargdeckel verkrallt, dass sich die Leiche erst gehoben und dann, beim Lösen der Nägel, nach hinten gefallen war. Schwarze Flecken bedeckten die zerfetzte Kunstseidenpolsterung. Blut von kratzenden, krallenden Fingern. Die kleine Leuchte erlaubte es Mike nicht, die Gesichtszüge zu erkennen. »Holen Sie die große Taschenlampe hinten aus meinem Wagen«, rief Mike zu den Bürokraten hinauf. Bis dahin ließ er den Strahl durch den Sarg wandern. Der Schrecken, den das Licht enthüllte, sagte ihm genau, wie es war, wenn man erst nach seiner persönlichen Beerdigung starb. Es war kaum zu fassen. Die Augen des Toten, hervorgequollen und offen, waren in schwarzen Löchern versunken; der Mund, in einem letzten, gequälten Keuchen aufgerissen, bestand nur aus Zähnen und zerbissenen, zerfetzten Lippen. Die Leiche war so frisch, dass man ihr Leiden in der Beredsamkeit und Menschlichkeit des erstarrten Aufschreis noch sah. Polizisten werden zu Experten, wenn es darum geht, so zu tun, als seien sie hart, aber im Inneren verwandeln sie sich mit den Jahren, bis die menschliche Grausamkeit ihnen allmählich wie ein monströser Defekt der Spezies erscheint, der eher mitleiderregend ist als schlimm. Dann fangen sie an, Kriminelle und Opfer gleich zu sehen, wie Zahnräder im großen Rad menschlichen Versagens. Bedrängnis und Gier zermalmen alle zu Matsch; Schwache und
Starke, Gute und Schlechte. »Bullen und Clowns sind traurige Menschen«, hatte Harry Goodwin mal gesagt, als sie dem Grund seiner Flasche Chivas entgegengesehen hatten, »und Geistliche sind besser dran, wenn sie tot sind.« Mike erinnerte sich an sein eigenes Gelächter. Aber jetzt spürte er nichts von der Ironie oder der Traurigkeit dieser Bemerkung. Nach der letzten Nacht konnte er nur noch eine starke Emotion fühlen: Furcht. Und das neue Grauen hier trug noch auf besonders hässliche Weise dazu bei. Mike konnte sich vorstellen, langsam am Boden eines Grabes zu sterben. Der Mann vom Gesundheitsamt kletterte mit der Taschenlampe nach unten, aber Mike hatte jetzt genug gesehen. Sollten die Burschen von der Mordkommission den armen Teufel identifizieren, dafür wurden sie ja bezahlt. »Ich werde die gottverdammte Scheiße jetzt melden«, sagte Mike zu den Leuten, die um ihn herumstanden. »Wenn sich jemand übergeben möchte, soll er's draußen tun, damit keiner drin rumlatschen muss. In ein paar Minuten ist hier nämlich der Teufel los.« Mike kannte keinen Funkkode für einen lebendig Begrabenen, also sprach er Klartext. »Hier ist Inspektor Banion. Ich bin auf dem Allerseelen-Friedhof, Weg W-3, Grab £-144. Ich habe einen Toten; lebendig begraben. Bitte verständigen Sie die Mordkommission.« Das Funkgerät knisterte zustimmend. Mike saß da und starrte die Hand an, die das Mikrofon hielt. Eine alte Hand. Mit Altersflecken, besonders auf dem Handrücken. Ein abgebrochener Daumennagel. Das Resultat seines Versuchs, Marys Fön zu reparieren. Die Tränen, deren Kommen er gespürt hatte, liefen fast planmäßig über seine Wangen. Er wischte sie schnell ab und versuchte, das große, namenlose Gefühl durch etwas zu ersetzen, das er verstehen und mit dem er fertig werden konnte. Ein Wutanfall, eine Gewalttat. Wer der arme Teufel auch war, er hatte es nicht verdient, so zu sterben. Sirenen näherten sich. Flotte Arbeit. Wenn es darauf ankam, durch den dicksten Verkehr zu kommen, waren die Cops von New York die besten auf der Welt. Besonders mit der neuen TatütataSirene, die das genaue Gegenteil der altmodischen Heuler war, die noch ein paar Ambulanz-Fleischwagen benutzten. Mike konnte die Fahrzeuge anhand der Sirenen zählen. Sechs Streifenwagen. Ein Großteil des Reviers war auf den Beinen. Wenigstens galt die Banion-Legende noch etwas. Und sein außerplanmäßiger Fund würde ihr auch keinen Schaden zufügen.
Mike stieg aus dem Wagen. Er stand im Regen, als Max und seine Sergeantin sich näherten. Ihre Gesichter waren so grau wie das nachmittägliche Licht. »Hallo, Inspektor. Wissen Sie genau, dass es nicht Apple ist?« »Der Tote sieht viel jünger aus.« »Irgendwelche Merkmale?« »Trägt einen billigen Zweireiher. Ich habe nicht in seine Taschen geschaut.« Mike hielt einen Moment inne, er war zu fertig, um zu reden. Sein Herz explodierte beinahe in seiner Brust. »Gott im Himmel! Ich glaube, ich werde alt! Den Anzug kenn' ich doch!« Max wollte gerade etwas sagen, aber Mike rannte zum Grab zurück, an die Stelle, wo der arme Kerl beerdigt worden war. Er stieg hinab und nahm dem Inspektor vom Gesundheitsamt die Lampe aus der Hand. Er überließ sie ihm dankbar. Er sah krank aus. Die Totengräber saßen am Rand der Grube und zitterten. Die Leichenbeschauerin war draußen und übergab sich. Terry. Du armer, unschuldiger Mann. Terry. »Max«, schrie er wütend und kläglich, »legen Sie eine neue Akte über Terry Quist an. Ändern Sie das verdammte Ding von Vermisst in Ermordet.« Max drehte sich um und verschwand vom Grabesrand. Mike sah auf seinen Freund hinab, lange und konzentriert. Und schwor Rache. Ein anderer Mensch wäre in dieser Situation vielleicht lieber allein gewesen oder hätte wenigstens angemessene Zeit an einer Bar verbracht, aber aus Mike Banions totaler Angst wurde nun totale Wut. Er würde die Schweinehunde kriegen, die das getan hatten, und wenn er dabei draufging. Egal, wer auf ihrer Seite stand. Und wenn er Satan persönlich gegenübertreten musste; er würde es, verdammt noch mal, tun. Auch wenn die Kirche der Nacht monströs und furchteinflössend war dieser grausige Mord zeigte, dass sie die gleiche gemeine Heimtücke aufwies wie jede andere verbrecherische Organisation. Das wurde Mike klar. Er verspürte Verachtung für sie. Er hätte gern einen Cop ausfindig gemacht, der zu dieser Bande gehörte, um ihm den Befehl zu geben, in das Grab hinabzusteigen und die Leiche des armen Terry in einen Sack zu stecken. Noch immer trafen Polizeifahrzeuge ein. Ein Dutzend war schon da, die Männer eilten mit der Ausrüstung den Kameras, den Absperrleinen und sämtlichen anderen Hilfsmitteln, die die moderne Technik ihnen aufhalste an die nun von Scheinwerfern beleuchtete
Grabstelle. Mike ging zu seinem Wagen zurück und warf unterwegs den schon erkalteten Zigarrenstummel weg. Als er in seinem Fahrzeug saß, steckte er sich eine neue Zigarre an und genoss den warmen, aromatischen Rauch. Eine frische Zigarre ist was Schönes, wenn man innerlich völlig verdreht ist. Sie kann einen, wie nichts anderes auf dieser Erde, wieder normalisieren. Max gesellte sich zu ihm. Mike musste reden. »Sie haben Quist lebendig begraben. Gott, sie haben ihn lebendig begraben!« Jetzt strömte alles aus ihm heraus. »Ich habe so was in meiner ganzen Laufbahn noch nicht gesehen. Er war doch nur ein kleiner Wichsblatt-Reporter, sonst nichts! Warum haben sie das getan? Aus Spaß?« »Es ist entsetzlich, Mike. Wirklich entsetzlich. Aber jetzt kriegen wir sie. Deswegen.« »Seien Sie sich nicht zu sicher, Lieutenant. Wir haben noch einen langen und harten Weg vor uns.« »Ich habe den Eindruck«, sagte Max' Assistentin, »dass wir unbedingt seinen wirklichen Namen finden müssen. Apple ist der Schlüssel.« »Sein Name ist möglicherweise Franklin Titus.« »Wie sind Sie darauf gekommen, Mike?« »Unwichtig, Max. Ich hab' 'ne Menge Hirnschmalz verbraucht.« »Tja, wenn wir einen Namen haben, müssten wir unseren Mann doch leicht finden.« »Okay, Sarge, das machen Sie! Fangen Sie an!« »Beruhigen Sie sich, Mike. Sie ist ebenso fertig wie Sie.« »Ach, Teufel, tut mir leid. Geben Sie sich Mühe. Titus wäre allem Anschein nach das beste, was wir kriegen könnten. Aber er ist der letzte, den wir kriegen werden. Darauf können Sie wetten. Er ist der König der Berge. Wir werden ihn erst dann finden, wenn wir alle Leute weggeräumt haben, die vor ihm stehen.« Seiner Bemerkung folgte Schweigen. Mike saß in seinem Wagen, lauschte dem Regen auf dem Dach und erkannte, was er tun musste. Es war ganz einfach. Er stieg aus, verabschiedete sich von seinen Leuten, verteilte den versprochenen Scotch und kehrte allein zum Wagen zurück. Von jetzt an würde er ganz gemütlich bei Mary bleiben. Sie war die Eintrittskarte zum Haupteingang. Seine eigene, reizende Frau. Geschieht dir recht; hast sie ja auch nur wegen ihres Aussehens geheiratet. Verdammt, Mary, ich werde dich in die Pfanne hauen!
Okay, Spürnase, hau sie heiß in die Pfanne aber mit kühlem Kopf. Verhalte dich ganz gelassen. Sie ist eine gefährliche Frau, diese Mary Titus Banion. Er fuhr über den alten Boulevard, bei Farrell und an der Rollschuhbahn vorbei, die mal eine Disco gewesen war. Davor war sie ein Ballsaal gewesen und vorher ein Kino. Ganz am Anfang, in der undeutlichen Erinnerung an seine Jugend, war dort eine Wiese gewesen; ein Platz jener Art, den die Halbstarken aus der Umgebung aufgesucht hatten, um zu rauchen, zu trinken und in Sommernächten den Körper des anderen Geschlechts zu erforschen. »Der Tod belauert einen ständig«, hatte Pater Goodwin gesagt. »Der Tod ist die größte aller Überraschungen.« Mike fühlte sich erschöpft. Sein alter Leib lechzte nach dem Abendessen. Mary hatte sicher etwas vorbereitet. Zuerst würde es einen feinen, kalten Martini geben, das Getränk, das ihn wieder auf Trab brachte. Mary würde in der Küchentür stehen, eine Benson & Hedges rauchen und sich leise mit ihm unterhalten. Mary war so außergewöhnlich sexy. Mike dachte an die Stellen, an denen sie gerundet war. Und wie erstaunlich glatt ihre Haut war. Wenn seine Hände über ihre Schenkel strichen, klang es wie fallender Schnee. Es gefiel ihm, wie sie am Ende des Tages roch, nach LanvinGesichtspuder und einer Spur Schweiß. Waren die Frauen wirklich so ahnungslos, wie sie immer taten, obwohl sie die Welt auf dem Rücken schleppten? Das galt sogar für die Schlampen und die Falschen. Als er zu Hause angekommen war, hatte sich der Regen in eine Sintflut verwandelt. Mike betätigte den Garagentüröffner und stellte den Wagen neben Marys Audi ab. Die Frau hatte Stil; sie sah in diesem Automobil großartig aus. »Mike?« »Yeah, ich bin's.« Die Tür quietschte. Schritte klapperten auf dem gepflasterten Garagenboden. Sie erschien, ihr Kleid hatte kleine, rosafarbene Punkte, das kastanienbraune Haar floss über ihre Schultern. Mike stieg aus dem Wagen. Er legte seine große, heiße Pranke in ihre kühlen Finger. Sie schloss einen Moment lang die Augen, als sei ein Hieb knapp an ihr vorbeigegangen. Als er ihr ins Haus folgte, bemerkte er, dass sie ihn nicht fragen würde, wie es ihm ging; sie würde ihn nicht mal küssen. Sie hatte Angst vor ihrem Ehemann. Hinter dem Sex und den Gewohnheiten
des Zusammenlebens musste sie einen absolut Fremden in ihm sehen, der ihr nicht näher stand, als einem die Leute im Bus nahestanden. »Jonathan ist noch nicht da. Ich habe ihn vor einer Stunde angerufen.« »Warum?« »Du wolltest ihn doch heute abend sehen, um über die Hochzeit mit ihm zu reden.« »Kaum zu glauben.« Er fühlte sich schwerer, ließ einen müden Seufzer erklingen. Eine Hochzeit wurde geplant. Und er hatte einst vorgehabt, Jonathan ein paar Tipps zu geben, wie man Ehefrauen behandelte. Wie komisch. »Na, dann nicht. Er braucht doch keinen Rat von mir. Entspann mich, Mädchen.« Sie reichte Mike einen Martini. Er war genau richtig, wie immer. Danke, Gott, für den Alkohol. »Ich bin mit dem Fall weitergekommen«, hörte er sich selbst sagen. Er machte sich kaum die Mühe, sie anzusehen. Drinnen roch es nach einem brutzelnden Steak mit Zwiebeln. Trotz allem empfand Mike eine Leidenschaft für sie, die es ihm sehr schwer machte, seine Gefühle zu unterdrücken. Es war eine Tragödie. »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich brauche dich.« Mary kam zu ihm und schmiegte sich an seine Brust. Sie küsste seine Wange und suchte seine Lippen. »Glaubst du, du könntest den Fall für eine Weile vergessen?« Niemals, du Hexe. Du wunderschöne Hexe. »Wartet unten etwa jemand auf dich, Michael Banion?« »Sieh doch selbst nach.« Sie fuhr mit der Hand über seine Hose. »Soll ich mich für dich zurechtmachen?« Mike küsste ihren Hals. Er duftete so, wie er es erwartet hatte, nach Lanvin und Schweiß. Süß-sauer. Sie streichelte ihn. »Ich schalte lieber den Ofen aus. Ich komm' dann rauf.« Während sie in der Küche war, ging er die schmale Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf und zog mit tastenden, bebenden Fingern seine Kleider aus. Er legte sie so hin, dass die Pistole unter einer Falte seines Jacketts lag, damit er sie sofort packen konnte. Er musterte seinen nackten Leib im Spiegel; seine kräftigen Schultern und seinen Hals; eine Andeutung von Würde, die seine grauen Schläfen verbreiteten; die aufgeblähte Wampe seines
Bauches. Mary öffnete plötzlich die Tür. Licht floss hinter ihr herein. Es umspielte zart ihre Nacktheit; ihr Vlies schwamm im Schatten zwischen gespenstischen Schenkeln, ihre Arme umschlangen ihn und drückten ihn aufs Bett zurück; ihr Haar kitzelte seinen Brustkorb. Doch als er die Augen schloss, sah er Särge und die Male blutiger Krallen und hörte einen Menschen in seinem Grab aufheulen. Er wäre beinahe durchgedreht. Er öffnete schnell die Augen. Mary bearbeitete ihn ehrerbietig, das musste er ihr lassen. Sie liebkoste, küsste und rieb. Mike schloss erneut die Augen und dachte an alle Mädchen, die er gekannt und die ihn gereizt hatten. Beth war die Beste gewesen, so süß und unschuldig außer im Schlafzimmer, da war sie immer wild gewesen. Mary sah auf ihn hinunter, sie bebte in einem sanften, inneren Rhythmus. Doch davon, dass alles in Ordnung war, konnte keine Rede sein: Diesmal wartete Mike auf etwas, und er sah es. Der vertraute weltentrückte Blick, den sie in Momenten scheinbarer Leidenschaft aufsetzte, war keine Ekstase, sondern Berechnung. Sie zog ihre Schau ab, sie biss sich auf die Lippen und stöhnte leise. Ihr Tempo nahm zu. Dann, sich immer mehr steigernd, warf sie sich auf ihn und küsste sein Gesicht. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultern. Vor einer Woche hätte er es als höchste Erregung empfunden, aber diesmal verstand er die Wahrheit: Sie wollte ihn so schnell wie möglich zum Höhepunkt bringen. Keine Frage: Das war der Grund, warum sie immer auf ihm sitzen wollte. So konnte sie das Tempo kontrollieren, um die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Aber Gott sie wusste wirklich, wie man es machte. Er sah sie allmählich durch den Schleier der höheren Stufe der Lust; sie war so schön wie ein Gemälde. »Mike«, keuchte sie. »Mike, o Mike!« Er kam. Sie bebte und zitterte, sie warf sich auf ihn und flüsterte: »Danke, danke, du herrlicher Mann.« Und dann wurde sie still. Er wusste, dass ihre Worte ernst gemeint waren. Er war sehr schnell gewesen. Hinterher lagen sie nebeneinander, wie üblich. Dann setzte Mary sich hin, steckte sich eine Zigarette an und zog die Knie bis ans Kinn. In ihrem Gesicht war etwas Furchterregendes, das er nicht sehen wollte; etwas, das wie ein unterdrücktes Frohlocken aussah. »Jonathan muss bei Patricia sein«, sagte sie. »Ich nehme an, er wird
die Nacht über dort bleiben.« Mike antwortete nicht. Heute abend hatte sie nicht versagt. Sie war eine äußerst geschickte Betrügerin sie war so gut, dass ihr Geschick sie verriet. Sie hatte ihm nicht mal den geringsten Anhaltspunkt gegeben, nicht mal ein Lichtpünktchen auf dem Weg zur Wahrheit. Als sie wieder nach unten ging, um sein Essen zuzubereiten, schoben sich in Mikes Geist die Elemente des Falles hin und her. Terry Quist. Franklin Titus. Die schrecklichen, irren Bücher in Titus' Haus. Der Anti-Mensch, auf den sie warteten... und sein Vater, das Monstrum. Und die wunderschöne, sinnliche Mary. Irgendwo dazwischen lag seine Antwort, das ganze Bild, die Wahrheit. Irgendwo zwischen der Frau, dem Grab und der Hölle.
20. Kapitel Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Jonathan ihnen mit den Fingernägeln einen Weg aus dem Lieferwagen gebahnt. »Es ist ein verdammter Käfig! Sie haben uns eingesperrt, wie ein paar Schimpansen.« Er marschierte durch das luxuriöse Innere des Fahrzeugs, prüfte die Hecktür und die Wände und tastete nach einer Öffnung, nach irgendeiner Schwachstelle. Sie beschleunigten, verlangsamten, bogen ab, bis er jeden Richtungssinn verlor. »Setz dich hin, Jonathan.« »Wenn ich die Hecktür aufkriegen kann, könnten wir vielleicht abspringen, wenn der Wagen langsamer wird.« »Es fährt bestimmt noch einer hinter uns her. Diese Leute sind gut organisiert.« Er kam zu ihr. »Wir müssen es versuchen.« »Wir müssen darüber nachdenken, was mit uns passiert; was vielleicht mit uns passiert, wenn sie die Tür aufmachen.« Eine plötzliche Veränderung der Reifengeräusche machte Jonathan etwas klar. »Wir sind auf der Straßenbrücke der Neunundfünfzigsten, die nach Manhattan führt.« »Jonathan, wir sind verletzlich. Wir kommen uns wie normale Menschen vor, und ich bezweifle, dass wir die Mittel haben, um mit dem, was uns bevorsteht, fertig zu werden. Man könnte uns sogar eine Gehirnwäsche verpassen.«
»Für eine Gehirnwäsche haben sie sich den Falschen ausgesucht. Mit mir können sie das nicht machen; ich weiß zuviel über das Gehirn.« Der Wagen verlangsamte und bog um eine weitere Ecke. »Wir halten bestimmt gleich an, Jonathan. Ob man dir eine Gehirnwäsche verpassen kann oder nicht, ich möchte, dass du...« Er konnte den Gedanken nicht ertragen. »Das schaffen sie nicht!« »Hör mir doch zu. Ich möchte, dass du dich um jeden Preis an etwas erinnerst: Wir sind zwar vielleicht auf tausend unterschiedliche Arten mutiert, aber wenn wir uns bemühen, können wir auch ein normales Leben führen. Wir lieben uns, und wir wollen ein normales und menschliches Leben, wie es uns zusteht.« Patricia legte die Arme um ihn. »Wenn wir das vergessen, gewinnen sie!« »Um was geht's denn überhaupt? Was gewinnen sie?« Patricia schluchzte. »Vergiss nicht, was wir uns wünschen.« Der Wagen hielt an. Sie küssten sich. Ein vergnügter junger Mann öffnete die Hecktür mit festen, sanften Händen und trennte sie voneinander. »Wir sind jetzt zu Hause«, sagte er. »Bitte, kommt rein.« »Den Teufel werde ich tun«, erwidert Jonathan. Er riss sich los, sprang aus dem Wagen und schaffte es, drei Meter über den Gehsteig zu kommen, ehe er von weiteren Männern umkreist wurde. Es waren zu viele, um sich gegen sie zu wehren. Der Netteste von ihnen, ein lächelnder, gepflegter Mann in einem frischen Leinenanzug, zeigte Jonathan ein bösartiges kleines Messer. »Es könnte wehtun«, sagte er leutselig und schob ihn zwischen zwei seiner Freunde. »Es wäre am besten, wenn du kooperierst.« Das Haus kam ihm erschreckend vertraut vor. Jonathan stand da und sah an dem alten braunen Sandsteinbau hinauf, der mit vielen grellen Wasserspeiern verziert war. Er hatte bisher angenommen, dass es Datenlager der Universität enthielt. Aber soweit er wusste, war er nie über die Kellerlabors hinausgekommen. Im Osten schwebten kleine, goldene Wolken über die Skyline. Gleich würde der Morgen grauen. Das Haus war kaum merklich verändert. Die breiten Erkerfenster, hinter denen dunkle Vorhänge gehangen hatten, standen nun offen. Eine Klingel ertönte. Schläfrige Kinderstimmen waren zu hören.
Es war die Titus-Schule, das geheime Trainingslager der Kirche der Nacht. Jonathan und Patricia waren hier aufgewachsen. Jonathan wurde in einen Vorraum geschoben, wo Patricia von einem der fantastischsten Geschöpfe beiseitegeführt wurde, das Jonathan je gesehen hatte. Statt der üblichen schwarzen Nonnentracht trug die Nonne ein kastanienbraunes Seidengewand. Ihr Schleier war gestärkt und strahlte schwarz statt weiß. Sie war wunderbar mit Lidschatten und Lippenstift zurechtgemacht. Der kleine Vorraum war erfüllt vom Duft eines moschusartigen Parfüms. Sie stützte Patricia, die sich über den Boden schleppte, als verlöre sie das Bewusstsein. Als sie Jonathan sah, machte Patricia einen sichtbaren Versuch, sich zusammenzureißen. Sie sah ihn gehetzt an und hatte Tränen in den Augen. »Erinnerst du dich nicht an sie, Jonathan?« rief sie. Die Nonne eilte mit ihr zum hinteren Teil des Vorraums. »Sie ist Schwester Saint John, die Frau, die bei mir gewohnt hat, die Frau, die mich seit meinem dreizehnten Lebensjahr erzogen hat!« Ihre Stimme warf ein verzweifeltes Echo. »Patricia!« Kräftige Hände packten Jonathans Arme. Er trat um sich. Er musste zu ihr. »Lasst mich los!« »Jetzt fällt es mir wieder ein! Sie war auch in der Kirche! Sie war mit Mary dort! O Gott, hilf mir! Hilf mir!« Jonathans Ohren dröhnten, das Blut donnerte in seinen Adern. »Patricia!« Ein lautes Scheppern. Eine eiserne Tür schloss sich hinter ihr. Jonathan hatte nicht damit gerechnet, dass man sie trennen würde. Die plötzliche, unwiderrufliche Tatsache führte zu einer neuen Welle der Anstrengung. Er wehrte sich gegen die Männer, die ihn festhielten, und schrie in die Stille hinein, die dem Scheppern der Tür folgte: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Der gruftartige Vorraum verschluckte seine Schreie. »Jonathan«, sagte eine Stimme, als er aufhörte, »wir bringen dich jetzt nach oben, in dein Zimmer.« Ihr Griff löste sich auch dann nicht, als sie mit ihm über den Marmorboden schritten. Jonathan konnte sehen, dass der Raum kreisförmig war. Geriffelte Säulen stützten einen kleinen Innendom. Düsteres Licht schien durch die runden Domfenster. Am Ende befand sich eine steile, hufeisenförmige Treppe, die einen winzigen, drahtumhüllten Aufzug umarmte. Die Kabine wartete hinter dem Drahtnetz. Zwei Männer schoben Jonathan hinein. Es war ziemlich eng in der Kabine.
Sie fuhren in gleichbleibender Stille nach oben. Der Käfig hob sich, bis der Boden der Halle fünfundzwanzig Meter unter ihm zu sein schien. Dann klickte es. Sie hielten an. Die Männer öffneten die Tür auf der Gegenseite. Dahinter war ein Korridor, sanft beleuchtet von Lampen in Wandhaltern. Die Wände waren cremefarben; der Boden war von einem dicken braunen Teppich bedeckt. »Du wirst dich an die Senioren-Etage erinnern«, sagte einer der Männer, als sie den Aufzug zu dritt verließen. »Werde ich nicht«, murmelte Jonathan. Er wollte sich den Scheiß gar nicht erst anhören. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn mit Desorientierungstechniken verwirrten. Da mussten sie viel früher aufstehen. Er dachte wieder an Patricia. »Wann kann ich sie wiedersehen?« »Bei der Hochzeit.« »Die wird garantiert abgesagt.« »Nein, sie wird genau so stattfinden, wie ihr sie geplant habt.« Was jetzt auch passierte, zumindest wusste Jonathan, dass er Patricia wiedersehen würde. »Hier ist dein Zimmer, Jonathan. Dein Onkel wird gleich kommen.« Bevor er sich widersetzen oder ein Wort sagen konnte, schoben sie ihn durch eine Tür und schlössen sie hinter ihm ab. »Nein!« Jonathan rüttelte an der Klinke und hämmerte gegen das unnachgiebige Metall. Er trat mit solcher Wut gegen die Tür, dass der Schmerz durch sein ganzes Bein zog und ihn rückwärts zu Boden stürzen ließ, wo er mit einem schmerzhaften Plumps aufkam. Eine Weile lag er still. Dann ging er ans Fenster, aber er stellte schnell fest, dass er nicht mal den Schieber heben konnte, um mit den Händen das dahinterliegende Gitter zu berühren. Als er sich nach etwas umsah, womit er die Scheibe einschlagen konnte, erstarrte er vor Erstaunen. Er kannte dieses Zimmer. Er kannte es durch und durch. Es war sein Zimmer; der Raum, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Auf dem Schreibtisch stand der Detektor, und auf ihm das Modell der Gemini-Kapsel. Und sein Bücherregal enthielt all seine wunderbaren alten Freunde: Tom Saun/er, Der König auf Camelot, Shakespeares gesammelte Werke, die Mary Renault-Romane, und Life's Bildgeschichte der Erde. Die Tagesdecke auf dem Bett war die, die seine Mutter genäht hatte: sein Name in Rot, vor dem Hintergrund des Sternbildes Orion. Sein Teleskop stand am Fußende des Bettes unter einer
Staubhülle; es stand genau da, wo er es gelassen hatte, als er... Als er...? Es war lange her. Jonathan kniete sich hin und entfernte behutsam die Hülle. Da war es, sein geliebtes Teleskop, der Schatz seiner Jugend. Es war sehr lange her, seit er zum letzten Mal an Astronomie gedacht hatte. Und an die wunderbaren Herbstnächte in den Wäldern von Connecticut mit Jerry Cochran, wo sie einen Hügel bestiegen hatten, um sich Wolf 457 oder den Crab-Nebel anzusehen. Jerry. Das Idol seiner Jugendjahre. Groß, gelassen, ein kluger wissenschaftlicher Geist. Dass Jerry sieben Jahre älter war als er, hatte ihn beinahe zu einem Halbgott gemacht. Wenn Jonathan sich nach einem anderen modelliert hatte, dann nach Jerry Cochran. Wir sind über den Sternenpfad gegangen, er und ich. Er wurde zunehmend stiller, als die furchteinflössende Macht der Erinnerung seine wahre Vergangenheit aus den Tiefen an die Oberfläche schob. Er erinnerte sich mit beinahe hingebungsvoller Lebhaftigkeit an seinen alten Freund, an seine braunen Augen, sein breites Lächeln und die Messerschärfe seines Verstandes. »Jerry.« Jonathan berührte das Teleskop, seine Finger strichen über die Knöpfe. Welche Wunder wir mit diesem Ding entdeckt haben, du und ich. »Die Erde ist nur eine grüne Murmel in der Leere, Jonathan. Kaum mehr als ein Staubkorn. Sie hängt mitten im Nichts und fällt dem Unbekannten entgegen.« Du warst sehr klug für dein Alter, Jerry, sehr klug. Der Raum war ein Museum seiner eigenen Vergangenheit. Dort, am Ende des Bücherregals, standen Mama Miezemau und ihre Kinder, Das Feuerwehrbuch und alle anderen Bücher seiner Kinderzeit: Das hässliche Entlein, Die Enzyklopädie der Dinge, Hiawatha und Yogi Bär und seine Freunde. Und in der großen Lade unter dem Bett zieh sie raus ja, da waren seine Modelle, die wunderbaren, komplizierten Flugzeuge aus Balsaholz und Papier. Man schoss sie im Sommer spätabends mit Gummibändern ab, wenn der Wind nicht mehr wehte. Sein Rascal i8-Jäger,.seine P-5i, sie war nie geflogen, denn sie war zu schwer geschmiert; sogar die Überreste von Jerrys Cessna 182, deren Schicksal besiegelt worden war... bei einem Zusammenstoss mit den Rosenstängeln in. .. in... Onkels Vorgarten? Wer war dieser Onkel, und wo befand sich sein mit Möbeln vollgestopftes Haus, in der kleine Jungen nichts anrühren durften?
Das war jetzt unwichtig. Er ging zum Detektor und schaltete ihn ein. Das überlagernde Kurzwellenheulen traf seine Ohren, als er den Kopf hin und her bewegte. Ja, da war die BBC, und da war Kuba. Und hier war Radio Moskau, und da unten waren die Afrikaner und Araber, und in der Mitte die Europäer; die Holländer mit ihren Konzerten, die Deutschen mit ihren Sprachkursen, und Frankreich, Italien und Spanien. O ja, in tausend tiefen Nächten haben Jerry und ich an diesem Radio gesessen und den Schalter langsam von einem Wunder zum anderen gedreht. Mal sehen, was Chruschtschow über die Wahl zu sagen hat. Das Royal Shakespeare-Theater führt heute abend in der BBC Maß für Maß auf. Wir dürfen die kubanischen Nachrichten in englischer Sprache nicht verpassen. Wir waren Abenteurer des Geistes. Und wie schön die Zeit doch war... als es noch normal war. Als ich noch ich selbst war. Aber die Zeiten änderten sich. »Lasst mich hier raus! Ich halte es nicht aus!« »Ich sehe, du findest allmählich zu uns zurück.« »Wer...« Da stand ein vertrockneter, unglaublich alter Mann. Nur seine hellgrünen Augen strahlten Leben aus. Sein Gesicht war eine wüstenähnliche Landschaft aus Runzeln und altersgegerbter Haut, die spitze, alte Knochen bedeckte. Er trug einen wunderbar geschnittenen schwarzen Anzug und ein silbergraues Seidenhemd. Sein Kopf wurde von einem weißen Haarkranz umrahmt. An seinen Fingern steckten komplizierte Ringe. Jonathan sah Schädel und feine kabbalistische Symbole in goldenen und rubinroten Augen und offenen Mäulern. Nur seine Daumen waren ohne Juwelen. »Mein lieber Neffe.« Der Alte breitete die Arme aus. Hinter ihm, im Türrahmen, stand ein junger Mann, der fast einsneunzig groß war. Er hielt die Arme verschränkt und beobachtete sie aus dem Dunkel heraus. Jonathan ging dem kleinen Wasserspeier mit den ausgebreiteten Armen nicht entgegen. Er hatte gar keinen Onkel. Patricias Worte fielen ihm wieder ein: Wir sind zwar vielleicht auf tausend unterschiedliche Arten mutiert, aber wenn wir uns bemühen, können wir auch ein normales Leben führen. Darin lag sehr viel Weisheit. »Du führst dich auf wie eine in die Enge getriebene Ratte,
Jonathan. Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht bin. Ich habe vom Prinzen mehr erwartet.« Er war verrückt. Aber hinter ihm stand ein kräftiger Wächter. Und die Fenster hinter Jonathan waren vergittert. »Hast Angst vor mir. Wie unangenehm. Bin ich dir zu hässlich?« Der Alte hob beide Hände, die Arthritis hatte sie in Eichenknollen verwandelt. In diesem Mann war die Dichte der Bedrohung. »Ausgerechnet du musst mich hässlich finden. Du magst ja ein ansehnliches Äußeres haben, aber innerlich bist du viel hässlicher als ich.« »Bleiben Sie mir vom Leib.« »Du bist das Monstrum.« »Sie brauchen einen Psychiater. Sie sind ein paranoider Schizophrener. Ich kann Ihnen helfen. Ich möchte Ihnen helfen.« Die Augen des Alten blitzten. »Ganz im Gegenteil, Jonathan. Ich bin derjenige, der dir helfen kann. Du musst dich nämlich vorbereiten. Das Hochzeitsritual ist heute abend.« Jonathan wich vor dem unheimlichen Alten zurück. »Ich möchte dich berühren, Neffe.« Seine zitternden Hände streckten sich nach ihm aus. Jonathan warf einen Blick um sich, packte das Radio und hob es über seinen Kopf. »Halt! Kommen Sie bloß nicht näher!« Der Alte trat zur Seite, und sein Begleiter kam ins Zimmer. Jonathan warf den Detektor mit aller Macht doch der Mann fing ihn auf, wippte auf den Fersen und rang keuchend nach Luft. Er stand mit dem gewaltigen Apparat in den Händen da und sah Jonathan an. Dann lächelte er langsam. »Jerry!« Der Mann setzte das Radio ab und umarmte Jonathan mit festem Griff. »Sei vorsichtig«, sagte der Alte. »Vergiss nicht, dass Es erst vor ein paar Stunden einen Mann totgeschlagen hat.« Was für eine Lüge. Der Mann war nicht mal besinnungslos gewesen. »Ich bin ein Mensch also nennen Sie mich nicht Es/ Ich »Du hast seinen Brustkorb zertrümmert und ihm dreimal das Rückgrat gebrochen. Du hast alles getan, außer ihm den Kopf abzureißen und ihm den Schädel einzuschlagen.« habe den Mann kaum berührt, das wissen Sie doch genau!«
»Ich...« »Und du bist auch kein Mensch, sondern das Monstrum, v »Halten Sie die Klappe! Hören Sie auf, mich bei diesem idiotischen Namen zu nennen.« Er dachte an die Hirntests, die er an sich und Patricia vorgenommen hatte, und an die unglaublichen Resultate. Monstrum. Also so nannte man es. Und Patricia war auch eins. Sie hatte das gleiche Hirnwellenmuster. Monstrum. Jonathan sah Jerry an, so, wie er es als Junge getan hatte, wenn er Hilfe brauchte. Jerry, sein Freund und Lehrer, war auch sein Leibwächter gewesen. Ein wirres Durcheinander von Erinnerungen durchflutete ihn, als er seinen Freund anschaute. Kurz darauf zerstörte der Alte den Augenblick. »Komm mit, Jerry, überlassen wir ihn jetzt seinen Erinnerungen.« Er deutete auf einen Umschlag, der auf dem Schreibtisch lag. »Da liegt ein Brief, der eine Menge erklärt. Ich schlage vor, du liest ihn.« Sie machten Anstalten, den Raum zu verlassen. »Moment!« schrie Jonathan, doch bevor er sie aufhalten konnte, war die Tür zu und abgeschlossen. Jonathan war außer sich. Diesmal sprang er ans Fenster, schlug die Scheibe mit den Händen ein, scherte sich einen Dreck um die Schnitte und rüttelte an den Gitterstäben. Er riss an ihnen, trat dagegen und versuchte, sie auseinander zubiegen. Doch sie waren stärker. Er nahm den Detektor, den Jerry wieder ordentlich auf den Tisch gestellt hatte, und warf ihn gegen die Tür. Er zerbrach in tausend Teilchen, doch die Tür bewegte sich nicht. Was, zum Teufel, würde als nächstes passieren? Ihm wurde klar, dass das Spiel mit seinen Gefühlen und seine Entmenschlichung durch die Verwendung des Wortes Es andeutete, dass er über sein eigenes Selbstverständnis hinaus brutal war. All das war ein Versuch, ihn zu zerbrechen. Ein geschickterer Versuch, als er erwartet hatte. Aber er redete sich ein, dass er durchschaute, was man ihm antat, und dass dieses Verständnis ihn behüten würde. Wir lieben uns, wir wollen ein normales und menschliches Leben, wie es uns zusteht. Das hatte Patricia gesagt. Er wiederholte es für sich wie ein Gebet. Jonathan sehnte sich nach ihrer Kraft. Wenn er doch nur eine Minute in ihren Armen verbringen könnte. Dann hätte er die Energie, um noch ein weiteres Jahr mit den bizarren emotionalen Spielen des Alten fertig zu werden.
»Was habt ihr mit Patricia gemacht?« Die Wände saugten seine Stimme auf. Wild und in dem Bewusstsein, wie Raubtiere sich fühlten, wenn sie gefangen waren, überprüfte er sie. Hinter der vertrauten Tapete mit den aufsteigenden Raketen, Monden, Saturnen und schwebenden Weltraumfahrern war Gips. Und das solide Klunk, wenn er an die Wand klopfte, war der Gips, der auf dem Beton lag. Der Raum war dichter als jede Gefängniszelle. Es war sein altes Zimmer, na schön. Die Wohnung, an die er sich erinnerte, war nur eine hypnotische Suggestion. Er war hier aufgewachsen, im Knast. Als ihm dies klar wurde, ging eine Veränderung mit ihm vor. Die Vorhänge, die seine Vergangenheit bedeckten, teilten sich aufgrund der Fülle der vertrauten Assoziationen. Die Titus-Schule lag in der Rayne Street 19, wo er ein privilegierter Schüler gewesen war. Man hatte ihn den Prinzen genannt. Mit einem kalten Frösteln erinnerte er sich an seine eigene Tragödie: Er war der König der Saison, dazu verdammt, im Augenblick der Zeugung zu sterben. Die allerquälendste Sorge erfüllte ihn. Wenn es stimmte, waren all ihre Träume vom Glück und vom Entkommen in die Welt der normalen Menschen hoffnungslos. Er hatte es auf den Knien seiner Mutter gelernt es wird ein Tag kommen, ein herrlicher Tag... Jonathan sah sich den Brief an, auf den der Alte hingewiesen hatte. Sollte er ihn lesen, oder enthielt er nur wieder einen verwirrenden Trick? Er nahm ihn in die Hand. Auf dem Umschlag standen drei Worte: >Für meinen Sohn.< Er war von Mutter! Jonathan öffnete ihn. Die Worte sprangen ihn an wie feurige Bestien und rissen die letzten Überreste der Hypnose hinfort, die ihn in ihrem Griff festhielten. Als der Brief sagte >Erinnere dich<, tat er genau das. Er erinnerte sich an seinen Stolz, das Monstrum zu sein, und an seine Liebe zu den Dämonen. »Ich werde mit der Stimme trockener Blätter zu dir sprechen«, hatte Belial gesagt. Als Jonathan von seiner Vision las, kam es zu ihm zurück: Belial, so abscheulich, dass er schön war; seine niemals blinzelnden Augen erfüllt von soviel Intelligenz, dass es niederschmetternd war, in sie hineinzublicken. Belial war der kalte Wind in einer Winternacht, das Mondlicht, das auf leerem Schnee spielte, der freie Raum, der die Sterne durchstach. Belial war ein Schädel, braun und rissig, platzend vor Würmern.
»Mutter! Was hast du mir angetan? Mutter! Mutter!« Er eilte durch den Rest des Briefes und kniff dabei die Augen zusammen, als könnten die Worte vom Papier springen und seine Augen durchbohren. Am Ende warf er ihn zu Boden und drehte ihm den Rücken zu. Erinnerungen flammten durch seinen Geist: Er und Patricia gehörten zur Kirche der Nacht; sie waren in ihr geboren und aufgezogen worden. Ihm fiel ein, dass er sie geliebt hatte. Ja, aber damals war er verrückt gewesen. Er konnte nicht an etwas glauben, das so offenkundig bösartig war... und so gefährlich verrückt. Die Technik hatte die Kirche der Nacht in eine gewaltige Machtposition gebracht. Mit ihren Viren konnte sie bestimmt die ganze Welt vernichten. Und sie sind verrückt, so wie ich es war, bevor ich mich unter den normalen Menschen bewegte. Wie schlecht ein Mensch auch ist, in jedem Menschen auf Erden ist etwas Hingebungsvolles, zutiefst Rechtschaffenes, das ihm und seinen Mitmenschen das Leben garantiert und suggeriert, sich zu vermehren und die Erde mit seiner Art zu füllen. In den alten Zeiten hatte Jonathan die Menschen für etwas gehalten, das weniger Lebensrecht hatte als das niedrigste Tier, weil die Menschheit von allen Spezies die fehlerhafteste war. Jetzt dachte er nicht mehr so. Indem seine Mutter ihn zwischen den normalen Menschen versteckt hatte, hatte sie ihm seine eigene Normalität klargemacht, hatte ihn erkennen lassen, dass er bloß, schlussendlich und äußerst menschlich war und dass es etwas Schönes war, so zu sein. Als diese Gedanken durch seinen Geist fuhren, spürte er, wie sich in seinem Inneren das Monstrum in unruhigem Schlaf rührte. Das Strömen der schwarzen Windungen seiner Bösartigkeit verlagerte sich wachsam in seine Seele. Es konnte zwar nicht von allein erwachsen, aber sie konnten es wecken Mutter, Jerry und Onkel Franklin. Sie konnten es und sie würden es tun. Er musste hier raus! Wenn er wirklich so intelligent war, musste er auch einen Fluchtweg finden. Jonathan erinnerte sich an das eigentümliche Flackern seiner Hirnwellenmuster, als sie über den Oszillographen gerast waren. Wie alle Bestien wirst du das tun, was deine Natur von dir verlangt. Er hatte seine Andersartigkeit in den Instrumenten gesehen, die
er selbst entworfen hatte. Er und Jerry hatten Seite an Seite in den Labors gearbeitet. »Du kümmerst dich um die Zukunft«, hatte sein Onkel gesagt. »Du erschaffst eine Lernmaschine für deinen Sohn.« Er hatte einen Arm auf Jerrys Schulter gelegt. »Er wird sich um die Vergangenheit kümmern.« Das kälteste, abscheulichste Gefühl überkam Jonathan, als er sich daran erinnerte, was in Jerrys Labor genau vor sich ging. Seuchenviren. Verteilersysteme. Ansteckungsgrade. Ein Absolvent der Titus-Schule war 1975 in die US-Army eingetreten und hatte ihnen während der folgenden fünf Jahre gewaltige Mengen an geheimen Daten über biologische Waffen zugänglich gemacht. Anthrax-4-Median; es tötete in zwölf Stunden. Papageienfieber-Mutation 202; Tod in vier Stunden. Beulen-Positiv i; Tod in dreißig Minuten. Jonathan hatte plötzlich den quälendsten Eindruck von seinem Leben in Queens die simple Freude, bei Farrell einen Hamburger zu essen. Unten an der Theke saßen ein paar Schulkinder, tranken Coke und kicherten. Ein paar Busfahrer hatten sich in eine Nische gezwängt. Und jemand ließ vielleicht >Lay, Lady, Lay< auf der Musikbox laufen. »Jerry, ihr dürft sie nicht umbringen! Dazu habt ihr kein Recht!« Jonathan hatte eine neue Aufgabe und nicht mehr viel Zeit, sie durchzuführen. »Wir sind im Irrtum! Wir sind nicht das Gesetz!« »Du wirst die moralische Präzision zurückgewinnen, die Dich stets unterstützt hat«, hatte Mutter in ihrem Brief geschrieben. »Du wirst wissen, dass Du im Recht bist.« Und sie hatte geschrieben: »Die Erde besteht auf Evolution. Es ist Dein Privileg, sie durchzuführen.« »Nein! Wir wissen nicht das geringste darüber, was dieser Planet will! Wir haben uns geirrt, wir tun etwas Schreckliches!« Das Beulen-Positiv 2 hatte in dreißig Sekunden getötet, aber es war außerhalb eines menschlichen Wirtskörpers nicht lebensfähig gewesen. Es konnte nur durch körperlichen Kontakt übertragen werden. »O Gott! Jerry lass mich hier raus! Jerry, wirkt Beulen-3? Wirkt es?« Sein Gedächtnis war nun so klar, dass er die Bakterienkolonien im Mikroskop fast dabei sehen konnte, wie sie aus ihren Medien schwärmten und sich fortpflanzten.
Er konnte die Räume der Versuchstiere riechen, den scharfen Geruch der Angst, den dichten Geruch der Krankheit. Vor seinem geistigen Auge sah er die Ratten, die beinahe explodierten, sobald man sie dem Beulen-Positiv 3 aussetzte. Sie starben in Sekunden. Schafe starben in Minuten Bäh! Bäh! Bäääh! -, während die dicken Geschwüre weiterwuchsen, sich unter ihrem Fell violett färbten und dann, wenn die Tiere sich kotzend und keuchend hinhockten, zuckend platzten. Und die Rhesusäffchen, die paarweise in den Käfigen hockten, kreischten panisch. Sie rissen sich die Kehle auf. Beulen wuchsen auf ihren Armen. Sie drehten sich wild im Kreis, husteten Blut und Eiter und starben inmitten ihrer eigenen Abfälle, den Blick auf die unirdischen Gestalten gerichtet, die sie folterten: Jerry und seine Assistenten, in grünen Isolationsanzügen und -helmen. »O nein! Nein!« Jonathan rannte im Zimmer auf und ab, warf Sachen zu Boden, rang mit der Matratze, suchte den Schreibtisch ziellos nach einem Telefon ab. Es gab kein Telefon. Sie hatten doch geplant, mit dem Beulen-3 einen Test an einem Menschen vorzunehmen jemanden zu ermorden, nur um zu prüfen... Guter Gott, was haben wir getan? fragte sich Jonathan. Aber er wusste es nur zu gut. Jerry hatte aus dem Bazillus Yersinia pestis eine Mutation erzeugt, eine hyperaktive Seuche, die sich im Bruchteil einer Sekunde reproduzierte. Man atmete ihn ein, wenn man ihn in die Luft sprühte. Man konnte ihn ganz einfach von einem kleinen Flugzeug aus verbreiten. Die Bakterienüberträger-Analyse hatte erkennen lassen, dass 21,235 Stunden von der Fortpflanzung bis zur völligen Ansteckung einer vorgegebenen Bevölkerungszahl vergingen. Nach der ersten Million Individuen würde sich die Verbreitungsrate schnell steigern, mit einem Potential von siebenhundertfünfzig Millionen weiteren Infektionen innerhalb von dreiundfünfzig Stunden. Jonathan musste eingreifen, musste die Menschheit irgendwie warnen. Aber er war der König der Saison, und er näherte sich dem Ende seiner Herrschaft. Er hörte die donnernde Musik, die das Monstrum wecken würde, und ihm fiel ein, wie es war, wenn man sich veränderte. »O Gott, du musst mir helfen! Du musst mich hier rausbringen! Bitte, irgendwie, bitte!« Die Seuche würde in 98,237 Prozent tödlich enden und den Rest der
Menschheit dermaßen schädigen, dass sie an anderen Krankheiten einging, speziell unter den gegebenen Bedingungen der chaotischen sozialen Infrastruktur, in der sie sich dann wiederfinden würde. Erinnerungen schossen wie feurige, wirbelnde Meteore durch Jonathans Geist. Damit verglichen waren seine Albträume geradezu eine Freude. Jerry hatte der versammelten wissenschaftlichen Abteilung der Kirche ein Papier vorgelesen: »Der auslösende Organismus ist ein kleiner Bazillus, der oft bipolare Verfärbung mit Giemsa-Flecken zeigt. Die Positiv-3-Form zeigt stets Verfärbung, aber die Pole enthüllen unter Licht Flagella. Das Positiv-3 ist frei beweglich.« »Sei still! Halt den Mund!« »Die Inkubationszeit variiert bei neugeborenen menschlichen Kindern und gesunden Erwachsenen von kräftiger Statur in einem Bereich von Sekunden bis zu drei bis fünf Minuten. Der Ausbruch der Krankheit ist abrupt und mit hohem Fieber verbunden. Die Temperatur steigt von 41 Grad bis 42,5 Grad Celsius. Der Puls ist rasch und schwach, Beulen erscheinen bei erhöhter Temperatur. In der Regel werden die Oberschenkel oder Leisten-Lymphknötchen betroffen. Die Knötchen sind anfangs weich, doch fest, aber sie werden schnell verhärten und sich mit Eiter füllen. Das Platzen der Knötchen zeigt an, dass das Ende eingesetzt hat.« »Hilfe! Holt mich hier raus! Ich muss es erzählen! Ich muss sie warnen!« Mike! Ich muss Mike informieren. Jonathan nahm einen besser durchdachten Befreiungsversuch in Angriff. Wieder und wieder rannte er gegen die Tür, setzte seinen Körper als Rammbock ein. Es tat weh, als seine Schulter gegen das Metall knallte, aber es war ihm egal. Er hatte überwältigende menschliche Gründe dafür, hier rauszukommen. Die Tatsache, dass er sich dabei vielleicht einen Knochen brach, interessierte ihn nicht, solange es ihn nicht davon abhielt, sein Ziel zu erreichen. Die Tür klickte. Er rannte mit aller Macht los, als sie sich öffnete. Er taumelte auf den Gang hinaus und prallte gegen die Wand. Starke Arme umschlangen ihn. »Beruhige dich, Jonathan. Es ist alles in Ordnung. Du bist zu Hause, in Sicherheit.« »Lass mich los! Du bist verrückt, Jerry, wie all die anderen.« Der Griff verengte sich um ihn. »Bitte, hör mir zu. Das ist doch alles wahnsinnig.« Jerry drückte etwas gegen seine Schulter, etwas, das stach.
»Jerry, du bist ein guter Mensch. Ein lieber Kerl. Mein bester Freund...« Das Reden fiel ihm schwerer. »Der beste Freund, den ich je... o Jerry, es ist obszön... Es ist...« Jonathan wurde klar, dass man ihm ein Sedativ verabreicht hatte. Das Mittel, das Jerry verwendet hatte, lag auf dem Teppich und funkelte im weichen Licht. Jonathan sah es an, sein Geist schien in den Reflexionen zu versinken. »Nicht die Pest... nicht...« »Psst, beruhige dich doch, Junge. Leg dich schlafen.« Jonathans Geist versuchte einen letzten Kampf. Ich habe mich von ihm unter Drogen setzen lassen! Ich darf nicht einschlafen, ich habe keine Zeit mehr! Dann hob Jerry ihn auf und trug ihn zum Bett. »Jetzt entspannst du dich, Junge, und löst deine Muskeln. Dein Onkel sagt, du brauchst etwas Ruhe, bevor du mehr erfährst, und ich glaube, dass er recht hat. Meinst du nicht auch?« »N-n-mmm...« »Klar hat er recht. Klar.« Widerstand war nicht drin. Kohlschwarze, feindliche Wellen trugen Jonathan fort. An den Ort, an dem die Schlange lebte. Lachende, leblose Augen, so listig, so sinnlich, so gefährlich... Du bist der Schuldige, Jonathan, du, du, du... »Bitte...« Du wirst ihr weh tun! »Nein!« Du wirst sie zerstoßen, zermalmen und zerreißen!
»Nein, nein, NEIN!« Er setzte sich aufrecht hin, schwitzend, sein Mund ausgedörrt, seine Hände zuckten unkontrolliert. Hinter der Gartenmauer ging die Sonne auf und warf warmes Licht in das Zimmer. Unten konnte er den Rhythmus der frischen Stimmen der Titus-Schülerinnen hören, die Abzählverse sangen. Es war die Stunde zwischen dem Dinner und dem Abendunterricht, man nannte sie >die Bummelei<. Jetzt hatten die Schüler die Freiheit des Schulhofes. Aus der Ferne kamen Verkehrsgeräusche, der Klang einer Hupe, ein Ruf. Normale Kinder, die miteinander auf der Sullivan Street lachten. Die Klänge normaler Menschen. In diesem Moment hätte Jonathan mit Freuden mit dem kleinsten, allerniedrigsten Ding auf der Welt getauscht. Der Geschmack, den er und Patricia am Leben
draußen gefunden hatten, war so süß gewesen. Wenn sie die nichtsahnende Welt da draußen doch nur warnen könnten, in welcher Gefahr sie schwebte. Irgendwie. Jonathan musterte seine perfekten Hände. Die Brutalität, von der er wusste, dass sie in ihm war, bestand im wahrsten Sinne des Wortes aus einer anderen Kreatur, die sich unter seiner weichen Haut zusammenrollte. Und sie hatte nicht den Wunsch, der Kirche der Nacht den Rücken zu kehren. Nein, keineswegs. Sie wollte verehelicht werden! Wenn sie die Bestie ist, das Monstrum bin ich es auch. Ich wäre am liebsten tot.
21. Kapitel Patricia lag in der Dunkelheit und lauschte den Schritten, die sich ihrer Tür näherten. Andere waren gekommen und gegangen. Diese hier hielten an. Sie biss in ihre geballte Faust, um nicht aufzuschreien. Das Biest sucht nach mir. Es weiß, dass ich hier bin. Es dauert nicht mehr lange, dann kommt es.
Jemand prüfte die Tür, ratterte an der Klinke. Dann zogen sich die Schritte wieder durch den Gang zurück. Langsam, vorsichtig, holte Patricia wieder Luft. Als man sie in den Raum gezerrt hatte, hatte sie hinter einer Tür, auf der LABORATORIUM stand, den deutlichen Geruch tierischer Ausdünstungen gerochen. Und sie hatte ein Schreien wie von Tieren vernommen. War es das Ding gewesen, das hinter ihr her war? Patricia lag zwischen seidenen Decken und schwitzte vor Entsetzen. Ihr Gesicht wurde von einer wohlriechenden Brise gekühlt. Windglöckchen klingelten. Sie erinnerte sich an den Ton. Die Glöckchen waren alte Freunde. Sie hingen in der Ulme im Hofgarten. Die Ulme hatte durch ihre ganze Kindheit geklingelt, geächzt und geraschelt. Patricia setzte sich im Bett hin. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Schwester Saint John hatte sie hier heruntergebracht und ihr eine Spritze verpasst... Hatte sie dazu gezwungen. »Jonathan!«
Sie sprang auf und hastete zur Tür. Dort verharrte sie. Sie konnte nicht dort hinausgehen! Aber es gab eine Alternative. Eine Wand ihres Zimmers ging zum Hofgarten hin. Sie riss die Balkontür auf. Der Hof war voller Kinder kleinen Mädchen in schwarzen Trägerröcken und Jungen in kohlschwarzen Blazern und grauen Hosen. Es waren mindestens drei Dutzend, die sich im Licht des Abends vergnügten. Sie waren nicht die lärmenden Straßenkinder von Queens. Diese Kinder hier saßen in Gruppen zusammen oder schlenderten umher. Eine Gruppe jüngerer Mädchen sprang Seilchen. Auf der niedrigen Mauer, die ihr Zimmer vom Hof trennte, saß eine Schwester in roter Tracht und führte ein Gruppe im Choralgesang: »Aeterne rerum conditor noctem diemquequi regis et temporum, das tempora ut alleves fasidium... hoc excitatus lucifer solvit polum.« Der Gesang erhellte finstere Gänge in Patricias Gedächtnis. Aeterne rerum conditor! »Ewiger Schöpfer der Welt, der den Tag und die Nacht regiert und jeder Zeit ihre Zeit gibt, unsere Qual zu lindern... durch ihn erwacht der Morgenstern.« Das große Loblied der Kirche; das Lied Luzifers, des Morgensterns. Sie war gar keine Waise. Sie war auch nicht im Marienheim aufgewachsen, falls es ein Heim dieses Namens überhaupt gab. Sie war hier aufgewachsen, in der Titus-Schule, und sie war die höchste Prinzessin des Blutes. Welche Erinnerungen die jungen Stimmen in ihr wachriefen! Sie hatte auf der gleichen Mauer gesessen, und am Abend mit Schwester Saint John, Schwester Mary und ihren Klassenkameraden gesungen... Mit Jonathan und seinem Freund Jerry Cochran, mit Kathleen, Kevin und Susan... »Wir haben dich in den SeniorinnenFlügel gebracht«, hatte die Schwester gesagt, nachdem sie Patricia die Spritze verpasst hatte. »Dein Zimmer sieht noch so aus, wie du es verlassen hast.« Wie wahr, Patricia fiel auf, dass sie für ihre Wohnung in Queens das gleiche Gardinenmuster gekauft hatte hellgrüne Seide. Nur in Queens hatte sie diese Kunstseide gefunden. Sie hatte sie unbedingt haben wollen! Die Sonne verschwand hinter der Mauer. Eine Glocke erklang, und die Kinder reihten sich an den für sie bestimmten Türen auf. Welch liebe, nette Kinder. Sie erinnerte sich an ihren Unterricht, an die dünne Schwester Saint Julian, die in einem rauen Tonfall über die Boshaftigkeit der
Menschheit schnarrte die Inquisition, den Holocaust, den Kommunismus. »Im Menschen spielt das Tier die vorherrschende Rolle. Und in der Welt dominiert der Mensch. Dieser Planet gehört nicht den Tieren. Er hat eine viel größere Bestimmung.« Mit einer Wucht, die so groß war, dass sie beinahe aufschreien musste, lehnte Patricia diesen Glauben ab. Sie hatte so viel in der äußeren Welt gesehen. Sie hatte auch schlimme Dinge gesehen, aber auch viel mehr Güte und Anstand, als man sie hatte wissen lassen. »Der Anti-Mensch wird in jeder Beziehung das Gegenteil des Menschen sein. Wo der Mensch erniedrigt ist, wird die neue Spezies erhöht sein. Er wird selbstlos sein, wo der Mensch gierig ist. Und wo der Mensch schwach ist, wird er stark sein. Wir Gläubigen sind die Besten aus der elenden Masse«, hatte Schwester Saint Julian geendet. »Außerhalb dieser Mauern leben die Ungeheuer.« Nein, Schwester. Wir sind die Schlimmsten einer guten Masse. Als Patricia auf dem Bett lag, kehrte eine Erinnerung nach der anderen zurück. In der gesamten Flut dominierte ein einzige Rückerinnerung: Es war das ziemlich schreckliche Bild eines wüsten Rituals. Man hatte es während ihrer Kindheit abgehalten. Sie war Zeugin der Umwandlung von Robert Titus Ungar geworden, des schlaksigen, witzigen Robbie; er war zu irgend etwas anderem geworden... Sie erinnerte sich an Musik, einen eigenartigen Tanz und hypnotische Worte, und der arme Robbie, achtzehn Jahre alt und sehr selbstbewusst, hatte sich allmählich verändert. Vor ihrer aller Augen hatte sich sein Körper tatsächlich einer Veränderung unterzogen. Zuerst war ihm Schleim aus Nase und Mund gekommen, dann auch aus seinen Augen. Er hatte gewürgt und sich erbrochen, und dann, als sein Schädel unter dem Haar die Form veränderte, hatte er gekreischt. Blut hatte seinen Schweiß ersetzt, und abscheuliche Schuppen waren knisternd aus seiner Haut hervorgetreten. Patricia schlug die Fäuste gegen ihre Augen und versuchte, die Widerwärtigkeit, an die sie sich erinnerte, zu vergessen. Hätte er weitergelebt, wäre er der Vater des Anti-Menschen geworden. Das Ritual diente dazu, die Kreatur im Inneren des menschlichen Körpers zu befreien... denn ein menschlicher Körper konnte nichts anderes sein als eine Verkleidung, eine Art Verpackung für etwas... etwas...
Sie keuchte. Dann schrie sie laut auf und lief im Zimmer auf und ab. Das Monstrum! Sie musste zu Jonathan, und dann hier raus. Aber als sie auf und ab ging, fing der Raum an sich zu drehen. »Ich bin immer noch so verflucht schwindelig!« Glocken läuteten, der vielfältige Duft zahlreicher Blumen erfüllte die Luft. Eine Stimme sagte: »Komm jetzt, Patricia. Du darfst noch nicht aufstehen.« »Wo ist Jonathan? Ich möchte zu Jonathan!« Schwester Saint John hatte auch noch einen anderen Namen. Sie hieß Letty Cochran. Ihr Mann George war vor Jahren der Hauptbuchhalter der Amerikanischen Kirche gewesen. Und ihr Sohn Jerry betrieb die muffigen Laboratorien im Keller. »Die Cochrans sind meine besten Schüler«, hatte Onkel Franklin oft gesagt. »Erinnere dich«, sagte Letty Cochran. »Patricia, erinnere dich daran, wer du bist.« »Ich bin ich!« »Du bist mehr als das. Du...« »Ich weiß, wer ich sein möchte. Ich möchte Jonathans Frau sein und eine Familie haben, und ich möchte, dass wir den Rest unseres Lebens zusammen sind.« Der Blick, mit dem Letty Cochran sie ansah eine Mischung aus Schock und Traurigkeit erfüllte Patricia mit einer dunklen Vorahnung. Die Vorahnung wurde zu einer ziemlich präzisen Erinnerung. Sie kniete am Altargeländer. Sie versuchte, den Rosenkranz zu beten. Die Perlen trennten sich in ihrer Hand voneinander und rollten über den Boden des Allerheiligsten. »Mein Rosenkranz!« Dann war Schwester Saint John da, in ihrer Erinnerung, und beugte sich vor, genau wie jetzt. Patricia schrie auf. Sie fuhr herum, krallte sich einen Weg durch die nachgebenden Decken ihres Bettes und sprang zur Tür. Und in die Arme einer anderen Schwester. Schwester Mary. Mary Banion. »Lass mich los!« »Ach, mein armer Liebling!« Hinter ihr betrat ein Mann das Zimmer, ein Mann mit Schnauzbart und dichten, buschigen Augenbrauen. Er biss sich auf die Unterlippe und nagte an seinem Schnauzbart. »Keine Angst, Patricia, wir werden dir nicht wehtun.«
»Sie sind wahnsinnig, Dr. Gottlieb! Sie gehören auch dazu!« »Sollten wir ihr nicht noch ein Beruhigungsmittel geben, Doktor?« »Wir können es uns nicht leisten, ihr Gedächtnis zu dämpfen. Sie muss sich an ihre Rolle im Ritual erinnern.« Gottlieb nahm ihr Handgelenk und konzentrierte sich kurz. »Puls ist gut. Und die gynäkologische Untersuchung war sehr erfolgreich, Mary.« »Wagen Sie es bloß nicht, mich anzufassen!« »Ich habe es getan, als du schliefst, Schatz. Ich bin doch nicht dumm.« »Ihr seid bösartig! Ihr alle! Ich will, dass ihr von hier verschwindet!« »Moment mal. Was, in aller Welt, ist mit dir los? Erinnerst du dich denn an nichts?« »Ihr Lügner! Ihr seid alle heimtückische, bösartige Lügner! Und die Kirche ist verdorben und schmutzig!« »Du bist schlimm durcheinander, Liebling.« »Ich möchte zu Jonathan. Und zwar sofort!« »Bald. Sehr bald.« »Ihr seid monströs, ohne Ausnahme...« »Patricia, ich weiß nicht genau, ob ich dein Problem verstehe. Was hast du gegen die Heimkehr nach all der Zeit im Versteck?« Mary war wirklich gerissen. Sehr gerissen. Patricia durfte nicht vergessen, was sie selbst zu Jonathan gesagt hatte: Wir sind zwar vielleicht auf tausend unterschiedliche Arten mutiert, aber wenn wir uns bemühen, können wir auch ein normales Leben führen. »Auf dich wartet eine große Aufgabe, Patricia. Die größte überhaupt. Du darfst es nicht vergessen, damit du sie auch gut ausführen kannst.« Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, dass Mary versucht hatte, ein mit Äther getränktes Tuch über ihr Gesicht zu pressen, als sie auf dem Altar der Heiligen-Geist-Kirche gelegen hatte. Jetzt, wo die letzten Wirkungen der Spritze verflogen waren, war Patricia besser in der Lage, ihre Situation einzuschätzen. Sie hörte auf, sich mit ihren Häschern zu streiten. Es hatte sowieso keinen Sinn. Statt dessen tat sie so, als sei sie etwas bereitwilliger geworden. Eine Chance zur Flucht würde sich ihr nur bieten, wenn sie das Vertrauen der anderen gewann. »Was denkst du, Patricia?« Allzu entgegenkommend konnte sie freilich auch nicht sein. Es würde sie verraten. Sie nahm die Haltung ein, von der sie annahm,
dass man sie erwartete. »Du warst dabei, als Es mich vergewaltigt hat! Du hast es zugelassen!« Es hatte große, schwere Windungen und Augen wie gelbe Murmeln. »Du bist einem schrecklichen Irrtum zum Opfer gefallen. Ich kann nur sagen, dass es mir leid tut. Es tut uns allen leid.« Es tat ihnen leid. So einfach war das. Patricia schaute erneut auf den Hof hinaus. Am anderen Ende ragte eine drei Meter hohe Mauer auf. Die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden, bestand darin, auf einen niedrigen Ast der Ulme zu klettern und über sie hinwegzuspringen. Die Mauer führte zur Sullivan Street. Dahinter wimmelte es wahrscheinlich von Autos, Studenten, Joggern, alten Damen, Pennern, Halbwüchsigen und dem Rest der Welt. Dort draußen nicht mehr als ein Ladenmädchen zu sein, kam ihr, verglichen mit dem erstickenden Grauen des Lebens an diesem Ort, wie ein Privileg vor. Patricia war die Allerhöchste gewesen, wenn man von Jonathan absah. Du bist unsere Hoffnung. Dein Kind wird ein Gott sein.
Diese Lobpreisung hatte sie verführt. Sie gab es zu. Wenn sie gerissen war, konnte sie die Verführer vielleicht auch überzeugen, dass sie sich ihnen wieder unterwarf. Dann gab man ihr vielleicht die paar unbeobachteten Minuten, die sie brauchte. »Unser Glaube ist doch, dass die Menschheit eine Fehlkonstruktion ist, nicht wahr, Mary?« »Schau dir doch die Bedingungen an, die du draußen vorgefunden hast.« Mary berührte ihr Handgelenk. Patricia ließ einen weichen und ehrerbietigen Ausdruck in ihren Blick treten. Aber sie dachte nur an Flucht. Nichts würde sie je dazu bewegen können, der Propaganda der Kirche erneuten Glauben zu schenken. Sie erinnerte sich an die Riten. Es gab Hunderte: Jährliche Riten, quartalsweise und monatliche. Riten für den Aufstieg und den Untergang der Hauptsterne, Riten für die Körperrhythmen und die Mondphasen, Riten zur Markierung der wichtigen Erdpassagen, und Gebete, die ihn priesen, den perlengrünen Planeten der Schönheit, dessen Begierden die Kirche der Nacht diente. Und dann gab es noch die Opferungen, die blutigen Riten zu Ehren der Kirchenheiligen. Der heilige Gilles de Rais, beschuldigt der Folterung und
Ermordung von Kindern. Er war Jeanne d'Arcs Lehrer gewesen, der Lehrer einer anderen großen Heiligen der Kirche der Nacht. Wie sie, war er verbrannt worden. Die heilige Elisabeth Bathory, die zu den größten genetischen Experimentatoren des Mittelalters gehört hatte. Man hatte sie in ihrem eigenen Schlafzimmer eingemauert für Taten, die die normale Bevölkerung als Massenmord bezeichnet hatte. Der heilige Apollonius von Tyana, von den Christen getötet, weil er über Zauberei geschrieben hatte. Der heilige lamblichus, den die Heiden gekreuzigt hatten. Weiter und weiter ging die Liste der geehrten Toten. Zauberer hatte man sie genannt, oder Alchimisten, Magier und Hexenmeister. Doch die ganze Zeit über war ihre Kirche der wahre Wächter der Zukunft gewesen und hatte Salomons Schatz durch das Jahrtausend transportiert. Bis zum Ende der Zeit. »Du musst bereit sein, deine Pflicht zu tun.« »Ja«, war alles, was Patricia sagte. Aber sie dachte: Meine Pflicht! Meine Pflicht besteht darin, vernichtet zu werden. Es war über sie hergefallen, schlimmer stinkend als ein Tier; seine Augen hatten zwar unmenschlich geglitzert, aber dennoch hohe Intelligenz ausgestrahlt. Es hatte sie mit dem Gewicht eines Ambosses bestiegen. Patricias Geist drehte und wendete sich zwischen Gedanken an Gefangennahme und Freiheit. Innerlich fühlte sie sich so verzweifelt wie ein Kätzchen, das an seinen Schmerzen dermaßen litt, dass es sich allmählich selbst tot biss. Aber sie zwang sich, auf der Bettkante Platz zu nehmen, mit Mary zu reden, und so zu tun, als sei sie wieder die liebe, gute Prinzessin. Sie gehörte nur zu Jonathan dem Jonathan aus der normalen Welt. Das finstere Ding in ihm war kein wirklicher Teil von ihm. Es gehörte zu ihnen. »Die Trauungsvorbereitungen haben schon begonnen. Du solltest dein Hochzeitskleid sehen! Es wird das wunderbarste Ritual unserer gesamten Geschichte werden.« Mary lächelte, berührte Patricias Wange und ihre Hand. »Natürlich ist es der Höhepunkt der Kirche. Es muss ein großes Ereignis werden.« »Tut mir leid, dass ich so in Rage war. Ich muss dir ein Geständnis machen. Nach dem, was im Juni passiert ist habe ich Angst, es noch einmal zu tun.« Mary umarmte sie. »Mein armer Liebling, ich nehme es dir nicht
übel, keine Sekunde. Aber vergiss nicht, dass Es unter normalen Bedingungen auch sanft sein kann. Diesmal werden die Bedingungen normal sein. Es wird für keinen von euch Überraschungen geben. Oh, es wird ein großes Erlebnis sein, du wirst es sehen!« Patricia erwiderte Marys Umarmung. »Das ist sehr beruhigend.« Mary lächelte, erfreut von dem, was sie für ein Kompliment hielt. »Ich bin ein gläubiges Mitglied der Kirche. Und deine Freundin, meine Liebe.« Am liebsten möchte ich dich niederschlagen, durch die Tür verschwinden, über die Terrasse laufen, mir einen Ast schnappen und mich sofort auf die Sullivan Street schwingen. Ich möchte frei sein! Aber sie wollte auch Jonathan. Irgendwie musste sie in den Senioren-Flügel kommen, um ihn zu finden und zu befreien, damit sie zusammen verschwinden konnten. Leid nagte an ihrem Herzen, wenn sie daran dachte, wie schwer es werden würde. Sie saßen nebeneinander in der zunehmenden Dunkelheit. Gerade als Patricia zu dem Schluss kam, dass sie nie verschwinden würde, küsste Mary sie auf die Wange und stand auf. »Ich freue mich, dass du so schnell wieder zu dir gekommen bist. Wir brauchen* die Mitwirkung von euch beiden, wenn die Sache funktionieren soll.« In der Ferne ertönte ein Gong. Mary ging zur Tür. »Abendessen. Aber ich glaube, es ist am besten, wenn du dich jetzt nicht zu den Gewöhnlichen setzt. Ich bringe dir selbst einen Teller.« Patricia warf einen Blick auf das Balkonfenster; ihr Herz fing bei dem Gedanken an die Flucht sofort an zu rasen. »Danke, Mary, ich habe wirklich Hunger.« Sie brach beinahe in Tränen aus, als Schwester Saint John im gleichen Augenblick zurückkam, in dem Mary ging. Sie strahlte und war voller Bewunderung. »Dir geht es immer besser«, flötete sie. Patricia hätte sie erwürgen können. »Ich fühle mich auch besser.« »Du musst ziemlich erregt sein«, hauchte sie. Das erschien Patricia kaum das rechte Wort. »Warum?« »Ich meine, wenn die Hochzeit in ein paar Stunden...« Die Worte, so unerwartet und schockierend, ließen Patricia buchstäblich taumeln. Die Schwester fing sie auf, bevor sie fallen konnte, und wiegte sie sanft. In ein paar Stunden!
Ihr Verstand raste. »Aber was ist mit Jonathan? Werde ich ihn vorher nicht mehr sehen?« Die Schwester lachte. »Nicht vor der Hochzeit.« Aber dann würde sie ihn sehen bevor er zum Monstrum wurde. Sie mussten der Kirche vor dem Ritual entwischen. O Gott, beschütze und behüte uns! Patricia schaute an den Türen vorbei auf den dunklen Himmel. Da war nur ein Fleckchen Himmel zu sehen, und der Mond bewegte sich zwischen verdrehten Wolken. Der Mond war so frei, der Mond war so weit entfernt.
22. Kapitel Die Heiligen-Geist-Pfarrei stand versteckt in einem Wald dunkler Bäume, und nur ihre hohen, schweigenden Giebel ragten darüber ins Mondlicht hinauf. Ein von Unkraut überwucherter Pfad führte zum Haupteingang. Mike hatte nicht die Absicht anzuklopfen. Nach dem Verschwinden von Patricia und Jonathan und den Verdacht, den er Mary gegenüber hatte, traute er keinem Freund mehr, nicht einmal dem alten Harry Goodwin. Er hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, seinen Männern zu vertrauen. Nach der Vergewaltigung hatte er die Überwachung der Heiligen-Geist-Kirche angeordnet und Max hatte sie stillschweigend abgeblasen, als er in Lourdes gewesen war. Keine Ergebnisse, hatte Max gesagt. Der Teufel sollte Max und die Abteilung für Sexualverbrechen holen aus guten Gründen. Und Gott weiß wie viele sonstige Cops. An der Kirche der Nacht musste etwas verdammt Anziehendes sein, dass sie es schaffte, anständige Menschen auf diese Weise zu verbiegen. Mike hatte die Absicht, den Rest der Ermittlungen allein durchzuführen. So brauchte er sich wenigstens keine Gedanken zum Thema Loyalität zu machen. Er stand auf der Seite der Kleinen, auf der Seite derjenigen, die ständig in den Arsch getreten wurden Mr. Niemand und seine Freunde. Institutionen wie die Kirche der Nacht waren dem organisierten Verbrechen ähnlich, und vielleicht noch schlimmer. Sie waren der Feind. Er war nicht hier, um Beweise zu finden. Davon gab es eine Menge in Titus' Haus. Doch im Lauf der Zeit war jeder, den Mike mochte, in den Fall verwickelt worden.
Harry war ein guter alter Freund. Und mehr als das. Er war als Pfarrer Mikes Beichtvater. Doch die Vergewaltigung war in Harrys Kirche passiert. Mike hatte seine Weisheiten, Sünden und tiefsten Sorgen mit diesem Mann geteilt. Es gefiel ihm nicht, ihn jetzt auf die Probe stellen zu müssen. Welch ein Luxus wäre es doch gewesen, Harry am Küchentisch gegenüberzusitzen und mit jemandem über die Sache zu reden, dem man vertrauen konnte. Bestimmt hatte Harry eine reine Weste. Er gehörte zu den allerbesten Menschen, die Mike je getroffen hatte. Er schaute zum zweiten Stock hinauf. Harrys Schlafzimmerfenster war dunkel. Es war viertel nach zehn, und Harry Goodwin lag, wie immer um diese Zeit, im Schlaf. Daran waren die Sechs-UhrFrühmessen schuld. Statt den Versuch zu machen, das schwierige Schloss zu knacken, umrundete Mike das Haus und suchte nach einem Fenster, durch das er einsteigen konnte. Es war nicht schwierig. Harry schloss sich nie ein. Mike brauchte nur ein bisschen Fingerkraft, und das BüroSchiebefenster ging mit einem trockenen Schaben nach oben. Mike gestand sich dreißig Sekunden Stille zu, dann begann der schmerzhafte und schwierige Prozess des Sich-selbst-Hievens. Er war seit über fünfzehn Jahren nicht mehr durch ein Fenster geklettert. Er legte die Hände auf das Fensterbrett und kämpfte. Seine Beine spielten Windmühle und schrappten gegen die Hauswand. Dann bekam er die Knie über die Fensterbank und zog sich hoch. Der Mittelteil seines Körpers schwang nach innen, und er landete mit einem unterdrückten Bumsen auf Harrys Schreibtisch. Er musste einen Moment dort liegen bleiben, bis sich sein Herz wieder beruhigt hatte. Das Haus war still. Im schwachen Licht des Fensters konnte Mike sehen, dass die Tür zum Korridor offenstand. Er ging zu ihr hinüber. Das einzige Geräusch kam von draußen, wo eine ruhelose Brise an der Dachrinne zerrte und die Fenster klappern ließ. Harry würde oben sein und schlafen falls er überhaupt schlief. Er sah neuerdings grässlich aus, nervös, dünn und krank. Er sah aus, als mache ihm das Gewissen schwer zu schaffen. Mike kehrte ins Büro zurück. Hier traf sich manchmal der Gemeinderat. Dann saßen die Männer in den schwarzen Holzstühlen, und manche pafften die muffigen Zigaretten, die Harry stets in einer Schachtel auf dem Kaffeetisch verwahrte. Harry saß dann mit funkelnden Brillengläsern hinter seinem Schreibtisch und hatte den
dankbaren Blick eines Hundes. Er war bemitleidenswert, der arme Kerl tat einem einfach leid. Mike zog das Rollo herunter, dann schloss er die Bürotür. Er riskierte Licht. Wenn es hier einen Hinweis auf die Kirche der Nacht gab, musste er irgendwo in diesen Unterlagen sein. Mike nahm hinter dem Schreibtisch Platz und durchkämmte den Aktenschrank. Die Abschnitte waren markiert: CCD, Gesellschaft Jesu Christi, PC, Bruderschaft, Altargemeinschaft, Öl, Versicherung, Div. Rechnungen, und so weiter und so weiter. In allen Einzelheiten der Pfarreiverwaltung. Es gab nichts Verdächtiges, nicht mal einen Hinweis auf etwas Außergewöhnliches. Mike öffnete eine Akte nach der anderen, überflog ihren Inhalt: Namenslisten, PredigtIdeen, Pfarrei-Bekanntmachungen, Anweisungen der Diözese, Rechnungen und noch mehr Rechnungen. Durch die ganze Hoffnungslosigkeit konnte man einen kurzen Eindruck von Harry Goodwin erhaschen. Trotz der immer weniger werdenden Gläubigen hielt er seinen Pfarrbezirk am Laufen. Er plünderte ein Konto aus, um ein anderes zu füllen, und praktizierte jede erdenkliche Sparmaßnahme bis zum Reinigen seiner Amtstrachten im Keller. Und so wie die Rechnungen aussahen, blechte er sogar privat für das Waschmittel. Er hielt den Laden am Laufen für den Fall, dass die Leute zurückkehrten. Oder auch nicht. Harry war möglicherweise noch nie der Gedanken gekommen, dass sie es nicht tun würden. Er bekam keine Unterstützung von der Kirche der Nacht, zumindest keine solche, die einem ins Auge sprang. Mike suchte das Regal neben dem Schreibtisch ab, bis er das grünlederne Journal fand, von dem er wusste, dass es die Finanzlage des Pfarrbezirks dokumentierte. Es war ein simples Konto-Gegenbuch. Die Buchhaltung war für Harry kein Zuckerlecken. Er konnte sich nicht mehr auf die freiwillige Hilfe katholischer Buchhalter des Bezirks verlassen. Die Einträge stammten von seiner eigenen mageren Hand... Bleistift, mit Tinte überschrieben. Mike sah sich die endlosen, peinlich genauen Einträge der Kollekten an, Summen, die immer kleiner wurden, sobald der Sommer nahte und die Klimaanlagen-Rechnungen den Leuten mehr und mehr Geld abverlangten. Am letzten Sonntag hatte Harry $ 171,29 eingenommen. Als Mike das Journal zurückblätterte, konnte er an keinem Sonntag einen vergleichbar niedrigen Betrag finden. Es war der Pfarrbezirks-Tiefstrekord, die Summe lag vierzig Dollar unter dem niedrigsten Betrag. Aber dann, vor ein paar Tagen, hatte
es eine erstaunliche Einzahlung gegeben: fünfzehnhundert Dollar von der Hamil-Stiftung, bestimmt zum Streichen und Reinigen des Kircheninneren. Was, zum Teufel...? Das war doch der philanthropische Zweig der Hamil-Bank. Betrieb Laurent Hamil ein Programm, das darbende Pfarrbezirke unterstützte? Natürlich war er ein bekannter Katholik. In Notfällen konnte man sich auf seine Stiftung verlassen. Es war nicht allzu verdächtig. Aber Patricia arbeitete in seiner Bank. Gab es eine Verbindung zwischen Hamil und der Kirche der Nacht? Mike sah sich den Eintrag an. Die Schrift war etwas krakeliger, und darunter lag kein von einem Bleistift ausgeführter Versuchseintrag. Harry hatte die Höhe dieser Sonderspende genau gekannt. Mike schloss den Ordner. Jetzt war es Zeit, die älteren Unterlagen der Pfarrei zu prüfen, die im Keller lagen. Vielleicht kam etwas dabei heraus, wenn er sich die letzten paar Jahre ansah. Vielleicht ergab sich ein Muster. Der Eintrag erweckte zwar den Anschein, dass die Kirche der Nacht den Pfarrbezirk unterstützte, aber er sagte Mike nicht, was ihn am meisten interessierte ob Harry nur ein Gimpel oder ein bereitwilliger Partner war. Mike ging durch den Korridor am Esszimmer mit dem verzierten Tisch und den holzgetäfelten Wänden vorbei und öffnete die Tür, die zum Keller führte. Er hatte nicht die Absicht, in irgendwelchen dunklen Löchern herumzustochern, und als er die hölzerne Treppe hinuntersah, wurde er mehr als nervös. Als er sah, wie das dortige Dunkel den Strahl seiner Kugelschreiber-Leuchte verschluckte, wünschte er sich, es wagen zu können, Hilfe zu holen. Aber das ging nicht. Er konnte sich nicht mal diesen Teil seiner Ermittlungen ersparen er war zu wichtig. Wenn man nach Beweisen für Bestechungen oder Schmiergelder suchte, hieß die Regel, sich in dem Zeitraum umzusehen, wo noch alles funktioniert hatte... in diesem Zeitraum nämlich wurde in der Regel noch alles säuberlich notiert. Menschen verwahrten die Unterlagen ihrer sonnigen Tage sorgfältig. Mike war mehr als einmal hier gewesen, als Junge und als Mann. Es gab hier einen alten Weinkeller, und Harry bewahrte immer noch ein paar Flaschen Sandemans '37 Portwein auf. Harry hatte ein oder zweimal eine Flasche für eine Feier der Gesellschaft Jesu Christi mitgebracht. Wie er sich dem Verkauf des Portweins widersetzt hatte. Mike verstand seine Gründe. Harry brauchte die Abende mit Portwein, Zigarren und guter Gesellschaft, damit er nicht vergaß,
welcher Wichtigkeit sich seine Kirche einst bei Männern von Einfluss erfreut hatte. Mike ging schnell die Treppe hinunter. Sein Licht hüpfte über die Stufen. Er ging über den Boden... und stellte interessiert fest, dass hier eine Menge Staub war. Gut. Also machte sich noch keiner Gedanken wegen der alten Unterlagen. Vielleicht war er ihnen doch einen Schritt voraus. Das Licht tanzte, als er es herumschwingen ließ, und enthüllte Heizungsrohre, rostige Stromleitungen, finstere alte Balken, Spinnweben und Schatten hinter Schatten. Die Journale lagen in einem Bücherschrank, der an der hinteren Wand zusammensackte. Als Mike auf ihn zuging, bemerkte er neben dem Schrank einen großen Riss. Nasskalte, erdige Luft strömte aus. Dumpfe Klänge schienen aus dem Riss zu dringen, es klang nach pulsierenden Maschinen. Wahrscheinlich führte er zu einem alten Abflussrohr, das mit der U-Bahn unten am Queens Boulevard verbunden war. Mike lugte in das Loch hinein und richtete die Leuchte auf das Dunkel. Als das Licht über die Wände glitt, ertönte ein Geräusch raschelnder Bewegung. Ein Schatten ließ ihn zurückzucken. Etwas von der Größe eines Hundes schien auf ihn zuzuspringen. Aber es war absurd; es war eine Ratte, der Schatten ließ sie so groß erscheinen. Mike schüttelte den Kopf. Harrys Pfarrei war buchstäblich mit der Unterwelt verbunden. Er streckte den Arm aus, wollte die letzten drei, vier Journale packen, damit er so schnell wie möglich wieder hier herauskam. Seine Bewegung war zu schnell; als er einen verfilzten Pelz berührte, zuckte er wieder zurück. Er sah Sterne, denn er war mit dem Kopf gegen ein altes Heizungsrohr geknallt. Mike sank schwer zu Boden, fluchte, hielt sich den Kopf, und seine Leuchte rollte schnell davon. Das Licht bot ihm die nötige geistige Stabilität und Schutz. Trotz seines pulsierenden Schädels robbte Mike hinter der Leuchte her, packte sie und hielt sie wie eine Kerze hinter gewölbten Händen. Gott sei Dank, das Ding funktionierte noch. Er musste sich zusammenreißen. Was er sich hier leistete, war genau der schwerfällige Mangel an Professionalität, den man von einem Anfänger erwartete, der noch grün hinter den Ohren war. Er rappelte sich auf und untersuchte das Regal mit seiner Lampe. Die Journale gingen Jahr für Jahr bis zur Jahrhundertwende zurück. Sie waren alle sauber nummeriert, in Gold geprägt. Mike
nahm die Jahre 1963, 1971 und 1975 heraus. Das musste reichen und war lange genug her, um jedwede Verbindung zwischen der Kirche des Tages und der der Nacht säuberlich voneinander zu trennen. Mike setzte sich auf die unterste Treppenstufe und fing im Schein seines Lämpchens an zu lesen. Im Journal von 1963 fand er nichts von Interesse. 1971 endete jeder dritte oder vierte Monat mit roter Tinte. Die Unterlagen für 1975 sprachen eine noch trübere Sprache. Jetzt war die rote Tinte konstant. Im April 1975 hatte die Hamil-Stiftung der Gemeinde zwölftausend Dollar zugeschossen, bestimmt für die Restauration der Apostelbildnisse im Dom. Mike erinnerte sich an das Aufstellen des Gerüstes. Harry hatte gesagt, die Apostel würden überarbeitet, damit sie zu den Entdeckungen der Gelehrten der Neuzeit passten. Hinterher hatten sie nicht mehr so glanzvoll ausgesehen. Jetzt, als er darüber nachdachte, sahen sie sogar hässlich aus. Im Juli hatte die Stiftung neue Bänke gespendet, um mehr Sitzfläche an den Seiten zu schaffen. Zusätzliche Bänke für einen sterbenden Pfarrbezirk? Mike sah sich die Journale von 1977 und 1978 an. Januar 1977: $ 9712 von der Hamil-Stiftung für schalldichte Fenster. Im Juli des Jahres: $ 1270 für dreihundert Klappstühle. Schalldichte Fenster und Klappstühle? Es war gespenstisch, die Aufzeichnungen über das Anwachsen der Kirche der Nacht auf diese Weise zu finden so versteckt, und doch so offensichtlich, wenn man die grundlegende Wahrheit kannte, dass sie existierte. Mike trug die Journale zurück. Sein Raubzug bestätigte alles, was er oben entdeckt hatte. Die Gemeinde erhielt regelmäßige Zuschüsse von der Kirche der Nacht. Aber was war mit Harry? Die Antwort auf diese Frage hatte er immer noch nicht. Vielleicht lag sie irgendwo zwischen den Aufzeichnungen der Hamil-Stiftung und war unter Umständen sogar lokalisierbar nach ein paar Jahren der Ermittlung. Aber der schnellere Weg zur Wahrheit lag in der direkten Konfrontation mit Harry Goodwin. »Alter Freund«, flüsterte Mike in die Stille hinein, »gesell dich nicht zu den Schuldigen. Hab eine reine Weste.« Mit Hilfe seiner misshandelten Leuchte arbeitete Mike sich wieder nach oben. Im Vorraum blieb er stehen. Er konnte es zwar nicht ausstehen, aber er würde Harry verdammt hart rannehmen müssen. »He, Harry!« brüllte er. »Wach auf und komm runter, aber dalli! Na, komm schon, Harry, beweg dich!« Seine Worte würden ihm
unter die Haut gehen, ihm Angst einjagen und ihn für unverhoffte Fragen verletzlich machen. Mike löste den Riemen seiner Pistole. Aus der Ferne kam das Trampeln eiliger Füße. Dann wurde der Korridor von gelbem Licht überflutet, und die hohe Gestalt von Pater Harry Goodwin kam schlaksig die Treppe hinunter. Er trug unter einem Regenmantel einen ergrauten Schlafanzug. »Wenigstens ist dir die Pistole eingefallen, die ich dir gegeben habe«, sagte Mike von seiner Position im Türrahmen aus. Und wie er es geahnt hatte, brachte seine Stimme Harry dazu, die Arme hochzuheben. Als er es tat, berührte seine kleine 22er beinahe die Decke. »Mike Banion!« »Guten Morgen, Harry.« Mike steckte seine eigene Waffe nicht weg. Jetzt noch nicht. »Wir müssen etwas besprechen.« »Ja, Mike, gewiss. Unter allen Umständen.« Er starrte die Pistole an. »Mike?« »Lass uns ins Büro gehen, Harry. Da ist es ein paar Grad kühler.« »Die Klimaanlage ist nicht in Betrieb. Das ist nicht drin.« »Ach so.« Mike folgte dem gebeugten, zitternden Mann. »Mike, zu zielst mit der Waffe auf mich.« »Ja.« Harrys Blick wirkte im gnadenlosen Licht des Büros gequält. Mit unglaublich schwerfälligen Händen setzte er seine Brille auf. »Und jetzt«, sagte er, »sag mir bitte, was das soll.« Am besten kam er gleich zur Sache. Dann glaubt er, dass ich mehr weiß, als in Wirklichkeit. »Wie gut kennst du Franklin Titus Apple?« »Oh!« Harry blinzelte nervös. »So gut wie gar nicht, Mike. Und du solltest in der Vergangenheit von ihm reden. Er ist tot. Ich habe ihn im Juli beerdigt.« Er sah erneut auf die Waffe. Seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen. »Um was geht es?« »Um dich und um Apple. Oder Titus. Apple ist ein Deckname. Du wirst dich freuen, wenn du erfährst, dass er gar nicht tot ist. Du hast einen anderen Mann begraben. Einen sehr alten und guten Freund von mir.« Mike maß den Pfarrer mit festem Blick. »Ich möchte alles über deine finanziellen Verbindungen zu Titus wissen.« »Ich verstehe nicht, Mike.« Harrys Stimme klang verletzt. »Dann lass es mich anders versuchen. Wie viel zahlt dir Mr. Titus, damit du seine Gemeinde nachts deine Kirche benutzen lässt?« »Was meinst du damit, Mike?« Sein Tonfall wurde bittend. »Die Kirche der Nacht. Du kennst sie doch bestimmt?« Harry schüttelte den Kopf. Sein Blick war ängstlich, seine Lippen
schlaff. Mike steckte die Waffe weg. Harry blinzelte, als er es tat. »Du bist ahnungslos, du verdammter Narr! Oder nicht?« »Tja... muss ich wohl sein, nehme ich an. Welche Kirche meinst du?« »Allmächtiger Gott! Harry, wir machen uns lieber einen Kaffee.« Der alte Pfarrer stand auf. Seine Augen waren immer noch geweitet, sein Mund arbeitete. Mike klopfte ihm auf die Schulter. »Los, komm, Harry. Ich fürchte, ich habe ein paar schlechte Nachrichten für dich.« Mike fand den altmodischen Drehschalter zur Bedienung der Küchenlampen und schaltete ihn ein. »Unsere zweite Nacht mit ziemlich schlechten Nachrichten«, sagte Harry. »Wir sollten es nicht zur Gewohnheit werden lassen.« Mike antwortete nicht. Er setzte den Kessel auf, holte die Büchse mit Folgers-Instantkaffee und zog ein paar angeschlagene Tassen von den Nägeln. »Harry, ich nehme an, du bist einer der wenigen Geistlichen, die je davon erfahren werden.. .« Der Kessel pfiff. »Entschuldige.« Mike machte den Kaffee und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. All seine Verzögerungen waren Absicht. Er wollte Harry beobachten. Den Ausdruck aufrechterhalten, dass er noch nicht zu einem Schluss gekommen war, war für einen Menschen das schwierigste überhaupt. Aber Harry krümmte sich. Er würde nicht die geringsten Schwierigkeiten mit ihm haben. Der arme Hund. »Mein Wort drauf, Mike, das ist stark. Was willst du mir erzählen? Dass meine Kirche als unbetretbar für Katholiken eingestuft worden ist? Das weiß ich, glaub es mir.« »Was ich dir zu sagen habe, ist das: Dein Pfarrbezirk wird von einer Gruppe missbraucht, die Kirche der Nacht genannt wird. Mr. Titus, den du unter seinem lächerlich harmlosen Pseudonym Mr. Apple kennst, ist ihr Anführer. Sie treffen sich frühmorgens in deiner Kirche. Es handelt sich möglicherweise um die niederträchtigste menschliche Gruppierung, von der du und ich je gehört haben.« »In meiner Kirche?« »Es sind Hunderte. Sie müssen die Kirche füllen, wenn sie kommen, und das tun sie oft. Während einem ihrer Rituale wurde Patricia Murray vergewaltigt.« »Aber ich werde nachts oft wach. Wenn ich die Kirche überprüfe, ist sie immer leer.« »Ach?« »Und diese Leute benutzen meine Kirche?« Harrys Stimme
klang hohl. »Mike, entweihen sie wirklich meinen Altar?« »Was, zum Teufel, glaubst du denn, Harry? Sie haben Patricia auf deinem Altar praktisch in Stücke gerissen!« Harry reagierte auf Mikes Worte wie auf Hiebe. Mike wusste, dass es den armen alten Burschen am Ende vernichten würde, egal was nun auch passierte. Der ganze Sinn von Harry Goodwins Leben wurde nun ausgelöscht. »Du sagst, die Leute nehmen an Ritualen teil? Meine katholischen Gläubigen die, die schon lange nicht mehr kommen?« Warum sollte er den Mann belügen? Tat er es, dann geringschätzte er ihn, und weniger als respektvoll behandelte Mike seine Freunde nie. »Ich nehme an, dass sie deine Kirche füllen.« Harry schloss die Augen. Sein Gesicht verzog sich in einem solchen Schmerz, dass Mike einen Moment lang glaubte, er habe einen Herzanfall. Endlich stieß er ein langes, abgehacktes Keuchen aus. Er sah Mike mit einem niedergeschmetterten Blick an. Seine Hände zitterten so schlimm, dass er die Kaffeetasse kaum an die Lippen führen konnte. »Wir müssen sie uns vom Hals schaffen, Harry.« Harry Goodwin starrte weiter vor sich hin. »Harry?« Vielleicht hatte er etwas gesagt, aber er konnte seine Worte nicht verstehen. »Heute nacht wird es anders sein. Sie werden wahrscheinlich herkommen. Ich nehme an, Patricia wird dabei sein, und Jonathan auch. Es ist mir den ganzen Tag über nicht gelungen, mit den Kindern Kontakt aufzunehmen. Das sagt mir, dass die Kirche der Nacht sie hat und mit ihnen zur Tat schreitet. Aber Mike Banion wird die Kirche der Nacht erwarten. Und dann wird er sie in kleine Stückchen zerbrechen.« In der absoluten Stille, die seinen Worten folgte, konnte Mike die Tränen des Pfarrers auf den Wachstuchbelag des Tisches tropfen hören. Es war das niederschmetterndste Geräusch, das er je gehört hatte. Und das in einem Leben, das Zeuge jeglichen Leidens gewesen war, das es gab. Harry Goodwin neigte den Kopf. In dem gnadenlosen Licht sah Mike, dass Sprüche ihm nicht helfen würden. Es war zuviel. Der Pfarrer atmete zwar noch und dachte und lebte, doch in seinem
Inneren zerfiel alles Wichtige zu Staub. Die Worte der Totenmesse fielen ihm ein: Des Menschen Tage sind wie Gras; Er blüht wie eine Blume auf dem Feld; Der Wind verweht ihn, und er geht heim, Und niemand kennt ihn mehr.
Dann betete Mike ein wortloses, verzweifeltes Gebet nicht um Gottes Liebe oder seinen Schutz, sondern für seine Rache, damit sie wie ein Feuer durch die Kirche der Nacht brüllte.»Ich gehe jetzt zur Kirche rüber, Harry.« »Ich komme mit.« »Ich weiß.« Sie gingen über den grasbewachsenen Parkplatz auf das schwarze, schweigende Gebäude zu.
23. Kapitel Obwohl er die Kirche zu allen Zeiten seines Lebens tausendmal betreten hatte, hatte Mike Banion sich ihr noch nie so genähert wie diesmal mit der Vorsicht des professionellen Eindringlings. Er war hier, um zu ermitteln, nicht um zu beten. Er machte sich keine Illusionen über das, was er tat: Das Betreten dieses Gebäudes war ebenso gefährlich wie sein Einbruch in Titus' Haus. Einem Bullen verging das Glück, wenn er so was des öfteren tat. Vom Ende des Häuserblocks her warf eine Straßenlaterne einen sich verflüchtigenden, silbernen Schein. Ein Rest von Feuchtigkeit hing noch in der Luft. Vielleicht würde es gegen Morgen wieder regnen, wie gestern, und die erstickende Hitze abtöten. Der Himmel war grün und zugezogen. Der New Yorker Sommer endete oft auf diese Weise mit dicken, nassen Wolken und murmelnden Stürmen. Der Wind umspielte zwar den Glockenturm und die Dachrinnen, aber hier, am Boden, war er schwül. Mike langte nach unten und hob einen unverhofften Gegenstand vom Gras auf ein Stück zerknülltes Papier. Es war jedoch kein segensreicher Hinweis, sondern nur eine Junior-Pfefferminzbox. Wahrscheinlich hatten Kinder sie auf dem Heimweg vom Cinemart
auf der Metro Avenue weggeworfen. Mike hielt sie einen Moment fest, unwillig, einen beruhigenden Gegenstand aus der Welt des Bekannten wegzuwerfen. Sie gingen die ausgetretenen Granitstufen zur Kirche hinauf. Es schien hundert Jahre her zu sein, seit er als kleiner Junge in Weiß die Stufen hinaufgegangen war, um die erste heilige Kommunion zu empfangen. Der Junge, der er gewesen war, winkte und rief: »Vergiss mich nicht!« Und der Wind blies, und der Regen fiel, und der alternde Bulle konnte nicht bestreiten, dass einst ein Poet in ihm gewesen war. Doch das verdammte Ding war gestorben. Mike legte die Hand auf den Knauf der großen Eichentür. Natürlich war sie unverschlossen. Egal, was man ihm auch sagte oder wer es ihm sagte -, Harry würde seine Kirche niemals abschließen. Mike drehte sehr, sehr langsam den großen, kalten Knauf. Die Tür war gut geölt, das half ihm, kein Geräusch zu machen. Er zog die Tür ein paar Millimeter auf. Er vernahm ein einzelnes, deutliches Klicken, dessen Echo man im Kirchenschiff hörte. »Sind sie da?« »Sei still, um Himmels willen. Bleib dicht bei mir und sag kein Wort.« Der Pfarrer war eine unglaubliche Verpflichtung, aber er spielte eine so große Rolle, dass er ihn nicht draußen lassen konnte. Egal, wie die Konsequenzen auch aussahen, es war Harrys Kirche, und er hatte das Recht dazu. Wenn man Terrys schrecklichen Tod herbeigeführt hatte, um jemanden abzuschrecken, der klug genug war, das Grab zu öffnen und ihn von einer weiteren Suche nach Franklin Titus abzuhalten, dann funktionierte es bestimmt. Mike gestand seine Angst ein. Er sah in diesen Leuten nur noch unmenschliche Kreaturen. Der arme Terry. Was hatten sie ihm nur angetan? Der amtliche Leichenbeschauer hatte deutliche Anzeichen einer ernsten Infektion an ihm festgestellt. Er war wegen bevorstehender virologischer und bakteriologischer Studien unter Quarantäne gestellt worden. Einer der Leichenhaus-Typen hatte etwas von der Pest gesagt. Mike dachte an das Diagramm, das er in Titus' Haus gefunden hatte. Sie hatten Terry mit einer Krankheit infiziert, bevor sie ihn in den Sarg gesteckt hatten. Jetzt, wo man das Diagramm im Labor entschlüsselt hatte, stand eindeutig fest, dass es den Verlauf einer Krankheit aufzeichnete, die so bösartig war, dass sie in Minuten töten konnte.
Das Kirchentor schwang in die absolute Dunkelheit hinein. Die Heiligen-Geist-Kirche wirkte zwar leer, aber Mike wollte noch nicht hineingehen. So wie er es sah, gehörte die Kirche ebenso Mr. Titus wie Harry. Vielleicht sogar noch mehr. Die Luft, die aus dem dunklen Inneren kam, war trocken und hatte einen unerwartet vertrauten Geruch. »Habt ihr gestrichen?« »Nein. Hier ist seit Jahren nichts gestrichen worden.« Der Geruch sagte etwas anderes. Sie mussten die Kirche heute am frühen Abend herausgeputzt haben. Wie konnte man das vor Harry verheimlichen? War hier alles so, wie es schien? Harry, alter Kumpel, hast du mir einen Bären aufgebunden? Wenn sie sich die Freiheit nehmen, etwas anzustreichen, dann kann es ihnen auch egal sein, ob du von ihnen weißt oder nicht. Mike fühlte sich sehr allein, als er neben seinem alten Freund in dem dunklen Vorraum stand. Dein Glaube ist mir wichtig, Harry. Du bist, verdammt noch mal, mein Pfarrer! Er wartete ab, bis sich seine Augen an das matte Leuchten gewöhnt hatten, das von der Straße durch die bunten Kirchenfenster hereinfiel. Es kam nicht viel dabei heraus, aber sie konnten den Gang wenigstens so deutlich sehen, dass sie nirgendwo anstießen. Mike begann seine lange Reise zum Altargeländer. Er hatte vor, sich in dem engen, dunklen Raum hinter dem Hochaltar zu verstecken, obwohl es nicht danach aussah, dass sich die Kirche der Nacht heute hier versammeln würde. Vor sich sah er den finsteren Umriss des Altars, auf dem man Patricia Murray vergewaltigt hatte nicht irgendein armer irrer Spinner, sondern intelligente Menschen, bei einem brutalen Ritual. Patricia. Ein hübsches Mädchen. Gäbe eine großartige Frau für Jonathan ab. Die beiden an diesem Altar stehen zu sehen, sie in Weiß, er in einen blauen Anzug gezwängt und mit linkischem Grinsen die Vorstellung reichte aus, um einen Mann zum Weinen zu bringen. Wortlos, da Worte nicht seinem Charakter entsprachen, betete Mike für die Kinder. Er sah die Votivkerze an und war sich etwas Realem und Echtem bewusst, das er kaum verstehen konnte. Doch irgend etwas an ihr war ihm lieb. Wahrscheinlich das Geheimnis, das sie umgab. Er ging zum Altar hinauf, kniete vor dem aufragenden dunklen Klotz und schlug das Kreuzzeichen. Er war eigentlich gar kein
echter Katholik mehr. Sein Glaube war wahrscheinlich wie die Liebe eines alten, geschiedenen Mannes, der längst wusste, dass die Trennungsgründe gar keine Rolle gespielt hatten und sich mit argwöhnischer Zuneigung an seine Partnerin erinnerte. Ihm wurde kalt. Das Gefühl warnte ihn davor, wie gefährlich altvertraute Orte sein konnten, wenn das Dunkel und die Angst sie veränderten. Cops wurden mehr als üblich auf friedlichem Grund und Boden getötet. Er konnte sich ebenso leicht vorstellen, wie Patricia auf dem Altar geschrien hatte, wie Harry hier die Messe las, oder Messdiener Messkännchen ausgossen, aus denen Blut lief. Sein Weiterkommen wurde in diesem Moment von einem ungewöhnlich starken Wind unterbrochen. Heute nacht würde der Sturm nicht aufs Morgengrauen warten. So groß das alte Gebäude auch war, es erbebte unter der Gewalt des Windstosses. Mike packte den Arm des Pfarrers. Er blieb eine Weile stehen, bis der Lärm erstorben war, und lauschte den kleinen Nebengeräuschen, die vielleicht jemand hervorrief, der das Brüllen als Tarnung benutzt hatte, um näher an sie heranzukommen. Aber da war kein Geraschel und Geschlurfe, wie Menschen es erzeugen, wenn sie beispielsweise plötzlich zu rennen aufhören. Harry hatte sich jedoch die Störung und die Finsternis zunutze gemacht. Es wurde Mike erst klar, als er ein deutliches Ziehen an seinem Schulterhalfter bemerkte. Er zuckte nach hinten und sein 38er Special blieb in Harrys bebenden Händen zurück. »Ich hab' sie! Keine Bewegung. Ich hab' die Waffe!« »Zum Teufel, Harry. Gib sie mir zurück. Du könntest mich sowieso nicht erschießen.« »Zwing mich nicht dazu, Mike! Bleib stehen, wo du bist.« Harry glitt am Altargeländer entlang und brachte ein paar Schritte Distanz zwischen sie. »Komm nicht näher. Ich bin nicht sehr gut mit diesen Dingern. Wenn du mich erschreckst, geht sie bestimmt los.« Mike war eher traurig als überrascht. Jetzt, wo er Harry verloren hatte, gab es nur noch eins, das es wert war, den Hals zu riskieren. »Was ist mit Patricia und Jonathan? Was soll mit ihnen geschehen?« »Das geht dich nichts an.« Die Kirche der Nacht war einfach zu stark. Von dem Moment an, als Mike die frische Farbe gerochen hatte, hatte er damit gerechnet, dass irgend etwas in dieser Art passieren würde. Harry geleitete ihn in die Sakristei. »Tut mir leid, Mike. Ich kann nicht das geringste tun. Wenn du mitmachst, verschonen sie dich vielleicht. Bitte, Mike, spiel mit. Ich spiele schon seit Jahren mit.« Seine
Stimme wurde schrill und wild. »Sie halten meine Kirche am Leben.« »Du armer Hund.« Selbst jetzt hatte er vielleicht noch eine Chance. Er hatte sich immer mit Harry Goodwin verstanden. »Lass uns reden.« »Es geht nicht. Ich habe schon zuviel gesagt. Titus hat gewusst, dass du herkommen würdest. Er hat mir sogar die Zeit gesagt.« »Dann hast du also auf mich gewartet.« »Und zu Gott gebetet, dass du nicht kommen würdest.« »Du bist immer noch auf Seiten der Guten. Ich hör's an deiner Stimme. Gib mir die Kanone, Harry.« »Mike, bitte, sei still!« »Ich bin dein Gewissen. Ich kann nicht schweigen.« »Versuch es nicht auf die sentimentale Tour. Das zieht bei mir nicht mehr. Es kümmert mich nicht, welch guter Freund du bist. Ich stecke schon seit langer Zeit in dieser Scheiße, und du kannst mich auch nicht mehr da rausholen.« Bei diesen Worten fand eine Veränderung in Harry statt. Wenn man ihn so sah, so spitz und hinterhältig, dann wurde einem klar, um was es bei dieser Tragödie ging. »Wie lange?« »Sie benutzen meine Kirche seit Jahren. Wenn sie nicht gewesen wären, hätte man den Pfarrbezirk schon in den siebziger Jahren aufgegeben.« Die Verbitterung in Harrys Stimme war erschreckend. Er war ein erstaunlich wütender Mann. »Welch ein Witz, sein kostbares Leben mit einer Berufung zu vergeuden!« »Ich möchte, dass du mir die Pistole gibst. Ich möchte vergessen, dass ich je gesehen habe, dass du auf mich zielst. Egal, wie verbittert du auch bist, Harry, du bist nicht verbittert genug, um einem Freund etwas so Bösartiges anzutun. Wenn du der Kirche der Nacht erlaubst, mich festzunehmen... Mein Gott, du weißt doch, dass sie Terry Quist bei lebendigem Leib begraben haben, oder?« Die Waffe schwankte. Harry sah so aus, als wollte er sie ihm geben. »Und der Mann von gegenüber, der bei dem Brand umkam er hieß Parker. Es war kein Unfall. Ich bin jetzt davon überzeugt, dass sie ihn lebendig verbrannt haben, weil er zuviel wusste. Und Patricia vergiss nicht, was sie ihr angetan haben.« Harry ächzte, kam einen Schritt näher. Mike streckte die Hand aus. Genau in diesem Moment klickte die Sakristeitür und ging
knirschend auf. Ein kleiner, elegant gekleideter alter Mann mit Regenmantel und Hut eilte herein. Er nahm den Hut ab und enthüllte einen Kranz aus wuschelig weißem Haar. Titus. Er lächelte. »Dann hat sich unser letztes Problem also von allein gelöst. Guten Abend, Mike. Ich nehme an, Sie sind gekommen, um die Braut zum Altar zu führen.« »Gib mir die Kanone, Harry! Schnell!« Titus nahm die Waffe mit einem Knurren an sich und zielte wie ein Experte auf Mikes Brustkorb. »Soll ich schießen?« fragte er mit sanfter, freundlicher Stimme. »Oder wollen Sie endlich Ihre verdammte Klappe halten?« Mike verfiel in Schweigen.
15. August 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, ich habe wegen der Bitte, die ich in meinem letzten Schreiben an Sie richtete, Tag und Nacht gebetet. Ist es für mich moralisch rechtens, mich in eine Situation zu begeben, in der mein eigener Tod eine, faktische Gewissheit ist? Diese Frage stelle ich mir. Oder ist diese Moralfrage geheuchelt eine Methode, um meine Angst zu rechtfertigen? Und, Eminenz, ich kann Ihnen versichern, dass ich Angst habe. Ich denke ständig an Alexander Parker und die Lötlampe. Ich weiß, dass ich es nicht tun sollte; aber ich kann nichts dagegen tun. Die wahre Frage ist die, ob ich Christus so sehr liebe, dass ich dieses Risiko auf mich nehmen kann. Eminenz, ich habe solche Angst. Helfen Sie mir. Hochachtungsvoll Brian Conlon Dokumentklassifizierung: Dringend A, höchstpersönlich, durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium,
Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
18. Augustus 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Prefectus Congregationis Defensioni Fidei
Mein lieber junger Mann, wäre ich doch nur nicht so alt und gebrechlich und meinem Ende so nahe. Es wäre mir eine Ehre, an Ihrer Seite zu leiden. Erinnern Sie sich an das Evangelium: »Und in seiner Qual betete er noch heftiger, und seine Schweißtropfen fielen wie Blut zu Boden.« Und erinnern Sie sich an Ihre Weihe im Heiligen Offizium, mein Junge. Sie lagen ausgestreckt vor dem Altar der Kapelle des heiligen Apostels Paulus, hier im Geheimen Kollegium, vor erst achtzehn Jahren. Erinnern Sie sich an die Worte: »Oh, ruhmreicher heiliger Paulus, Schwert und Schild der Kirche, weihe mich zum Dienst unserer allerheiligsten katholischen Kirche und zum apostolischen Glauben. Sei mein Fürsprecher in schwierigen Zeiten, damit ich vor dem Märtyrertum nicht zurückschrecke, sondern vielmehr mein Leben frohen Herzens geben darf, so wie du das deine gabst für ihn.« Lassen Sie mich offen sein: Als Sie mich um einen kämpfenden Geistlichen baten einen Mann, der bereit ist, für seine Liebe zu sterben -, war der einzige Name, der mir im ganzen Heiligen Offizium einfiel, der Ihre. Der Ihre, Brian. Sie sind der letzte kämpfende Geistliche, der jung und stark genug ist, um diese schwierige Mission zu erfüllen. Hier gibt es nur noch mich (ich liege nach einem verdammten Schlaganfall im Bett) und eine Bande vertrockneter alter Historiker. Brian, es ist nicht meine Art, zu betteln, aber jetzt bettle ich, weil ich glaube, dass Christus mich darum bittet. Bitte, Brian, trinken Sie aus dem Kelch, den Christus Ihnen reicht. Mein lieber Junge, beten Sie um Mut! Die Heilige Mutter Kirche braucht Sie jetzt, und auch der Herr braucht Sie. Ich vertraue auf Sie. Ich wünschte, ich könnte dem
Herrn ein Heer von Brians schenken! Doch alles, was ich ihm anbieten kann, ist mein Letzter und Wertvollster. Gehen Sie in Gnade, tun Sie Ihre Pflicht. Die Menschheit wird zwar kein Erbarmen mit Ihnen haben, mein Sohn, aber Gott. Sie werden Erbarmen und Liebe in endlosem Überfluss erfahren, und alle Wunder des Himmels nebenher. Ich beneide Sie Paolo
24. Kapitel Harry stand wie gebannt da und lauschte dem Echo der Schritte, als Titus mit Mike in der Dunkelheit verschwand. Dann quietschten Scharniere. Die Geräusche nahmen ab, als die beiden Männer unten in der Krypta verschwanden. »Bitte, Mr. Titus«, sagte er. Seine Stimme war so leise, dass sie nicht mal in der leeren Kirche ein Echo warf. Er schluckte. »Bitte, Mr. Titus, tun Sie ihm nicht weh.« Er gab keine Antwort. Aus den Tiefen der Krypta kam ein lauter, wütender Schrei. Mike setzte sich gegen irgendeine Schmach zur Wehr, die ihn dort erwartet hatte. Mike, Mike. Worin besteht der Sinn einer Freundschaft? In unserem Alter aus einem Klagetanz... und Erinnerungen. »Mike, weißt du noch... o Gott, waren das noch Zeiten!« Wie der Tag, an dem er Mike mit der kleinen Beth Herlihy getraut hatte. Jenny Trask war damals die Organistin gewesen, jung, verliebt in die Musik, und fähig, von Bach bis zum Tantum ergo alles zu spielen. Sie brachte einen Hochzeitsmarsch von mitreißender Pracht. Aus der Krypta kam ein Sturm von Auseinandersetzungen, dann das gedämpfte Klopfen von Holz auf Holz. Harry hielt sich die Ohren zu und kniff fest die Augen zusammen. Die Kirche ging ihm auf den Geist wie nie zuvor, die gespenstischen Bildnisse im Dom verhöhnten seinen Glauben, das Ewige Licht brannte wie ein anklagendes Auge. Er rannte aus dem Allerheiligsten und über den schlammigen Parkplatz. Er kam in seine Küche und erinnerte sich daran, wie Beth ihnen etwas zu essen gemacht hatte, als er und Mike am Tisch gesessen, Bier getrunken und geredet hatten. Harry schaltete das Licht aus, sank über dem Tisch zusammen und weinte wegen seines Verrats. Damit er es nicht laut tat, biss er sich auf die Lippen. Sein Mund
schmeckte nach salzigem Blut. Ja, und wofür all die theatralischen Mätzchen? Für den Herrn? Dem Verräter gebührt der Verrätertod. Ischariot, schick dich selbst zur Hölle. Sein Geist konzentrierte sich auf den .22er. Er musste noch oben auf der Treppe liegen, wo er ihn fallengelassen hatte. Wenn er die Pistole nahm, sie auf seinen Magen hielt und abdrückte, würde er in dem Schmerz sterben, den er verdiente. Ohne Beichte würde er für alle Ewigkeit in der Hölle versinken. Ein würdiges Ende für einen Feigling. Er ging zur Treppe. Aber die Pistole war nicht da. Harry seufzte. Nicht mal einen Selbstmord gestand man ihm zu. »Suchen Sie das hier?« Im Türrahmen seines Büros stand ein kleiner, mausgrauer Mann. Harry hatte ihn zwar noch nie zuvor gesehen, aber das bedeutete nichts. Die Kirche der Nacht hatte viele Mitglieder. Der Mann hielt Harrys Pistole in der Hand. Der Lauf zitterte. »Ich bin Geistlicher«, sagte der Mann mit einem hastigen Flüstern. »Mein Name ist Brian Conlon.« Ein gehetzter Ausdruck huschte über sein Gesicht, doch er blinzelte ihn fort. »Ich bin hier, um an Sie zu appellieren, zu unserem Herrn zurückzukehren und mir bei seinem Kampf gegen die Kirche der Nacht beizustehen.« Conlon trat in den Korridor, um sich deutlicher zu zeigen. Seine Hosen waren zerrissen und staubig, seine goldumrandete Brille verbogen. Mit der freien Hand bürstete er sich Staub vom Anzug. Er trug einen römischen Kragen. »Pater Goodwin, ich bin Geheimagent Seiner Heiligkeit.« Schweißperlen, die sich auf seiner Glatze gesammelt hatten, rollten nun über seine hohe Stirn und zogen Spuren durch den Staub. Er lächelte schwach. »Ich fürchte, ich sehe schrecklich aus. Ich hätte nicht durch das Fenster klettern sollen.« Harry war vom bloßen Erscheinen eines weiteren Geistlichen zu überrascht, um sich Gedanken über den Zustand dessen Äußeren zu machen. »Soll das heißen, Seine Heiligkeit weiß Bescheid? Rom weiß von der Kirche der Nacht?« »Rom weiß davon. Und Rom hat mich geschickt, um Ihnen zu helfen.« »Pater... Pater...« Harry konnte nicht weitersprechen. Hoffnungen, die er längst aufgegeben hatte, kehrten wieder zu ihm zurück. Er stand einfach da, wortlos, und versuchte zu verhindern, dass er völlig zusammenbrach. Pater Conlon kam und umarmte ihn. Er war klein; Harry stellte
fest, dass er auf seinen haarlosen Kopf hinunterschaute. Dann sah Pater Conlon ihm in die Augen. »Rom weiß alles, Harry.« »Sogar... dass ich ein...« Harry konnte es nicht aussprechen. Ein Verräter an unserem Herrn. »Sie sind ein aktives Mitglied der Kirche der Nacht.« »Nein das ist doch entlastend, nicht wahr? Ich gehe nie dort hinüber. Ich lasse Sie nur die Kirche benutzen.« »Ich weiß. Und man bezahlt Sie dafür.« »Das Geld hält die Kirche und den Bezirk am Leben! Ohne das Geld...« »Ja, ich verstehe. Jetzt weiß ich genau, wo Sie stehen, Pater.« Conlon schob die Waffe in seine Tasche. »Heute nacht wartet Arbeit auf uns.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Das Ritual beginnt um Mitternacht. Also haben wir weniger als eine Stunde. Wir müssen schnell arbeiten. Sagen Sie, sind sie schon da?« Harry dachte an Titus und Mike in der Krypta. »Einer von ihnen ist da, und er hält einen Freund von mir, einen Polizisten, in der Krypta gefangen. Ich glaube, er will ihn umbringen.« Während Harry diese Worte aussprach, wurde ihm schmerzhaft die totale moralische Verderbtheit seiner Seele bewusst. Er ließ Mike sterben! »Und Sie sind gekommen, um nach einer Waffe zu suchen? Um wem zu helfen?« Harry bekam die Antwort kaum über die Lippen. »Mir«, brachte er schließlich leise hervor. Conlon lächelte müde. »Ach so. Ihrer Meinung nach haben Sie keine Absolution mehr zu erwarten.« »Ich möchte keine! Absolution ist das letzte, was ich verdient habe!« »Aber Sie bereuen Ihre Sünden Ihr Renegatentum, Ihre Lügen, Ihr Sakrileg, Ihre Feigheit?« Kein Mensch, der frei von ihnen war, konnte sich vorstellen, wie es war, wenn man solche Sünden begangen hatte. »Ich bereue sie«, sagte Harry. Wie winzig, wie hohl waren diese Worte! »Möge Jesus Christus, unser Herr, Ihnen vergeben. Kraft seiner Autorität erlöse ich Sie von allen Banden der Exkommunikation und des Interdikts, soweit es in meiner Macht steht. Ich spreche Sie von Ihren Sünden frei; im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Einen Augenblick lang war sich Harry nicht ganz sicher. Dann breitete sich eine gewaltige Erleichterung in ihm aus. Er spürte
Conlons Worte wahrhaftig wie ein Tonikum in seinem Blut. Sie erfüllten ihn, sie revitalisierten ihn, gaben ihm sofortige Hilfe. Und er sagte: »Amen.« Pater Conlon schaute zu ihm auf. »Sie sind immer noch der Pfarrer. Sie waren bis jetzt nur sehr verängstigt.« »Ich kann nichts dafür. Ich bin leicht in Furcht zu versetzen.« »Nun, jetzt haben Sie noch eine Chance, sie zu bekämpfen. Das ist besser, als sich von einer kleinen Furcht in die Hölle schicken zu lassen.« »Man hat mir mit Folter gedroht.« »Ich glaube, dem müssen wir uns beide stellen, Pater. Diese Leute foltern Geistliche.« Wieder huschte der gehetzte Ausdruck über Conlons Gesicht. Harry dachte erneut an Mike. »Wir können meinen Freund retten. Wir müssen es! Sie foltern ihn jetzt!« »Wer genau hat Ihren Freund geschnappt?« »Ein Mann namens Titus. Franklin Titus.« Sofort wurde aus der gelassenen Entschlossenheit auf Pater Colons Gesicht entsetzlicher Schecken. Titus! Er ist hier? In der Krypta. Colon lächelte wehmütig. „Sehr gut, Pater Goodwin. Vielleicht habe ich meinen Teil der Schlacht schon verloren.“ Er hielt Harry die Pistole hin. „Werden sie bei der Eheschließung dabei sein ?“ „Man hat mich gezwungen, die Trauung vorzunehmen.“ "Titus und sein sarkastischer Humor. Wenn der richtige Moment gekommen ist, haben wir, glaube ich, keine andere Alternative, als den Bräutigam zu töten. Wenn man mich daran hindert, müssen sie es tun.“ Harry war erschreckt. Ein Priester, der einen Mord Plante? „Ich weiß, wie abscheulich es für sie klingen muss. Aber sie kennen die Alternative nicht. Glauben sie mir, die Exekution wird nicht nur für den Bräutigam eine große Gnade sein, sondern auch für die gesamte Menschheit.“ „Und seine Heiligkeit vergibt sie? “Das heilige Offizium ist ermächtigt, zur Verteidigung des Glaubens zu handeln. Glauben sie mir, es ist schrecklich, wenn man zu einem solchen Mittelgezwungen ist. Aber wir entziehen uns unsere Verantwortung nicht.“ Aus den Augenwinkel nahm Harry plötzlich eine Bewegung auf der Treppe wahr. Als er herumfuhr, drückte Pater Colon ihm die kleine Pistole in die Hand. „Verstecken sie sie , Harry! Es ist vielleicht unsere einzige Chance!“ Colon wich ins Arbeitszimmer zurück und zog unter seinem Anzug eine zweite Schusswaffe hervor.
„Nichts da, Colon! Fallenlassen!“ Pater Colon warf seine große schwarze Pistole auf den Boden. Im gleichen Augenblick schob Harry die kleine Waffe in die Tasche. Ein Trupp bewaffneter Männer kam die Treppe heruntergerannt. „ da hat ihr Pfarrer aber noch mal Glück gehabt, Laurent“, sagte Colon zu dem Anführer. Zuerst verstand Harry nicht; dann wurde ihm klar, dass Colon nur erfahren wollte, ob man sie belauscht hatte. „Gott sei Dank, dass sie gekommen sind“, stieß Harry hervor. Er wollte mich umbringen.“ Pater Colon wurde gegen das Fenster gedrückt. „Nicht so schnell“, schnarrte der Mann namens Laurent. Kurz darauf packten sie Colon an den Armen. Er täuschte einen milden und sinnlosen Widerstand vor. Die Männer umzingelten ihn, dann hoben sie ihn hoch und trugen ihn hinaus. Sein kahler Schädel baumelte zwischen den Schultern seiner Häscher, und seine Füße schrappten über den Boden. Seine Brille war weg. Er hatte eine Schramme unter dem linken Auge. „Kommen sie mit, Harry“, sagte eine Stimme aus dem Dunkeln. Harry erkannte sie sofort: Titus; er hatte seine Arbeit an Mike beendet. „Ja, ich komme.“ Die Pistole fühlte sich gewaltig in seiner Tasche an. Bestimmt würde Titus die Ausbuchtung sehen. Titus führte ihn durch die dunkle Pfarrei. „ Der Mann wird den Feuertod sterben, Harry. „Sie gingen durch das staubige Wohnzimmer in den überwucherten Garten. Harry folgte ihm wie in einem Bann. Das Wort warf Echos In seinem Geist: Feuertod.Feuertod. Feuertod. Er sah, dass die jungen Leute Pater Colon in einen Wagen verfrachteten.. Trotz der geschlossenen Fenster konnte man seine Schreie deutlich hören. „Hört sich an, als hätte man ihm eine schlechte Nachricht überbracht“, kommentierte Titus gelassen. Wieder und wieder mit panischer, brechender Stimme, schrie Colon: „O Gott! O Gott!“ Dann fuhr der große Mercedes los. „Colon weiß, wie schwer der Tod ist, Harry. Sie auch?“ „Ja, Mr. Titus, ich auch.“ „Für einen Menschen, der gerade von der Inquisition bekehrt worden ist, stimmen sie sehr schnell zu. Ich sage Ihnen was, Harry: Sie gehen in die Krypta runter. Schauen sie mal nach, was sie für ihren Freund tun können.“ Er lächelte geistesabwesend. „Wenn Sie nicht auf einen harten Tod aus sind, sollten Sie uns lieber treu ergeben sein.« Sein Lächeln wurde breiter. »Gehen Sie. Mike kann
jetzt einen Freund brauchen.« Mit einem Zurückwerfen seines Kopfes verschwand Titus in der Sakristei. Harry hätte lieber alles andere getan, statt mit dieser grauenhaften Mission fortzufahren. Behutsam, weil er sich davor fürchtete, aber noch ängstlicher wegen Titus, hob Harry die Sturmklappe, die in die Krypta hinunterführte.
25. Kapitel Der gleiche Hieb, der Mike bewusstlos geschlagen hatte, hatte ihm auch einen stechenden Kopfschmerz verpasst, von dem er aufwachte. Er hörte Musik. Kirchenmusik. »Aeterne rerum conditor noctem diemque qui...« Es war sehr schön und wurde von einem Kinderchor gesungen. Aber so weit weg. Er konnte sie kaum hören. »... regis et temporum das tempora...« Er wollte mehr hören. Als er aufstehen wollte, wurde er von einem brennenden Hieb in der Mitte seiner Stirn getroffen. Er schlug mit den Fäusten um sich und traf auf Seiten und einen Deckel. Was, zum Teufel, war das? Sie hatten ihn in eine Kiste gepackt. Die Kiste war mit Satinpolstern ausgelegt. Ein Sarg. Genau wie Terry! Mike schnappte wild nach Luft. Er schlug gegen die Decke, er krümmte sich, trat um sich. Dann hörte er auf. Er fing an, kontrolliert Luft zu holen, versuchte, jegliche Panik zu vermeiden. Wenn er je hier rauskommen wollte, musste er einen kühlen Kopf bewahren. Bevor sie Terry in den Sarg gepackt hatten, hatten sie ihn mit einer Krankheit infiziert. War er ebenfalls krank? Er holte tief Luft. Die Lungen waren sauber. Und er spürte kein Fieber. Das einzige, das ihm wehtat, war sein Kopf. Mike fiel ein, dass Titus ihn mit der Pistole niedergeschlagen hatte. Ein einziger heftiger Schlag gegen die Schläfe. Der Mann verstand sein Fach. Sonst schien alles mit ihm in Ordnung zu sein. Dann kam ihm der Gedanke, warum sie ihn nicht infiziert hatten. Sie wussten schon, dass ihre Krankheit funktionierte, weil sie sie an Terry getestet
hatten. Dann wollten sie also, dass er so langsam wie möglich starb. Es fiel ihm jetzt schon entsetzlich schwer, Luft zu holen. Wie lange war er besinnungslos gewesen? Wie lange hatte er ahnungslos sein bisschen Luft verbraucht? Nicht zu lange, sonst wäre er schon tot gewesen. Aber viel Luft hatte er nicht mehr. Okay, Junge, dann wollen wir mal einen gewaltigen Versuch machen. Er presste die Hände gegen das Kopfteil des Sarges. Dann trat er mit aller Macht gegen den Fußteil. Das ganze Ding knarrte, aber es dachte nicht daran, sich aufzulösen. Gottverdammt! Er verbrachte eine halbe Minute mit der einsamen Anstrengung, Luft zu schnappen. Doch je tiefer er auch inhalierte, es half jedesmal weniger. Die Luft hier drinnen stank. Gott, und wie sie stank. Sein eigener Atem würde ihn ersticken. »Hilfe!« Stille. Gott sei Dank, dass er das Singen gehört hatte. Zumindest wusste er jetzt, dass er nicht unter der Erde lag. »Na los, ihr da draußen, habt ein Herz!« Er nahm einen verzweifelten Schluck Luft nach dem anderen. Dies war das Ende. In ein paar Minuten würde Michael Banion aufhören zu existieren. Er machte keinen Versuch mehr, sich zu befreien. Es würde nichts nützen. Und er rief auch nicht mehr. Niemand würde ihm helfen. Jetzt musste er über andere Dinge nachdenken. Dies hier war der Tod. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was man in einer solchen Situation von einem erwartete. Die Hauptsache war ein Akt der Reue. Aber er konnte sich nicht an das verfluchte Reuegebet erinnern! Es war ein langes Gebet, und er hatte es seit Jahren nicht mehr gesprochen. Wieder kam die Panik. Er hatte Angst, dass nicht mal Gott ihm helfen würde. Die entsetzlichen körperlichen Qualen des Sauerstoffmangels überfielen ihn, und er trommelte mit den Füssen und schlug mit den Händen gegen den Deckel. Dann öffnete er den Mund. Er fing an zu würgen und zu keuchen. Irgendwo in seinem Geist blätterte sich eine Seite um. Er konnte sich nicht an das Reuegebet erinnern, aber Schwester Louise
hatte ihm das Confiteor eingebläut. Mike fing, heiser von der schlechten Luft, mit lauter Stimme an zu beten. »Ich beichte zum allmächtigen Gott, zur gesegneten Jungfrau Maria, zum gesegneten Erzengel Michael, zum gesegneten Täufer Johannes, zum gesegneten Petrus und zu Paulus. . . zu allen Heiligen!« Hol Luft, noch mal, noch mal. Puh, ich fliege! Es tut höllisch weh, aber ich fliege! »Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Taten ... Und wie, zum Teufel, geht es weiter? Ach, ja durch mein Verschulden, durch mein Verschulden, durch mein schlimmstes Verschulden... O Gott, beeil dich, es tut weh!« Na los, verdammt noch mal, stirb schon. Ich werde aussehen wie... wie... Eingefallene Augen, Lippen, von den Zähnen weggezogen, stinkend wie die Hölle, die Fingernägel in den Deckel gegraben. Der arme alte Terry. Armer alter Mike! Und dann war schließlich alles weg, die ganze Disziplin und der lebenslange Kampf als Polizist. Nur noch das kratzende, kreischende Tier blieb übrig. Er trat und trat und trat, und das Blut hämmerte in seinem Gehirn, und er keuchte, bis seine Kehle wund von seinen eigenen ausgestoßenen Gasen war. Als man sie im Brautgemach allein ließ, machte Patricias Herz einen hoffnungsvollen Sprung. Vorher hatte man sie keinen Moment aus den Augen gelassen, und jetzt war sie mit Mary, Letty und Jerry hier in einer Limousine angekommen. Vielleicht war das ihre Chance. Doch als sie sich umschaute, die vergitterten Fenster sah und hörte, wie sich hinter ihr klickend die Tür schloss, spürte sie nur noch, wie die Frustration ihre Kehle verengte. Obwohl der Raum so sicher war wie eine Gefängniszelle, war er hübsch. Der Boden war mit einem üppigen Perser ausgelegt, auf dem eine Hochzeit dargestellt war. Uralte Bodenlampen aus Kupfer gaben warmes, gelbes Licht ab. Ein Rosenzweiglein verzierte den feingliedrigen antiken Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Es gab auch einen Schminktisch für die Braut, der von Make-up und Parfüms aller Duftrichtungen nur so wimmelte. Patricia ging zu einem der bunten Glasfenster und fragte sich, ob sie sich durch die Gitterstäbe zwängen könnte. Sie waren neu installiert worden; man erkannte es daran, wie sie glänzten. Und sie waren direkt in der Mauer befestigt, nicht am Fensterrahmen. Sie standen auch hoffnungslos dicht beieinander.
Trotz all ihrer Bemühungen, gelassen zu bleiben und vor Mary und den anderen freudig zu wirken, hatte man die Bewachung nicht zurückgenommen. Dies war die längste Zeit, die sie seit ihrer Gefangennahme allein gewesen war. Man war nett zu ihr gewesen. Aber man war auch sehr vorsichtig. »Du bist die Prinzessin«, hatte es geheißen. Patricia hatte gelächelt und Huldigungen entgegengenommen. Doch innerlich klammerte sie sich an den Gedanken, dass sie noch viel mehr sein konnte als ein Spielzeug. Sie konnte eine echte Ehefrau sein und Jonathan ein wirkliches Zuhause bieten. Verbittert dachte sie: Ich kann ein menschliches Wesen sein! Sie trat gegen den Tisch aber nicht fest genug, um die Rosen ins Wanken zu bringen. Dann nahm sie vor dem Schminktisch Platz. Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel ansah, war trotz des Schmerzes so schön, dass sie ziemlich überrascht war. Hübsche Mutantin. »Hallo, Schatz. Wir müssen dich jetzt anziehen. Wir haben kaum noch eine halbe Stunde!« Es war geradezu unglaublich, dass die fröhlichen Worte, die die liebreizende Mary Banion aussprach, soviel Schrecken enthalten konnten. Zuerst hatte man Jonathan den Gürtel und die Schuhbänder abgenommen. Dann hatte man ihn in eine Zwangsjacke gesteckt. Als ihm klargeworden war, dass sein Selbstmord ihre Pläne völlig über den Haufen werfen würde, hatte er ihn mit aller Kraft in Angriff genommen. Sie bewachten ihn jede Sekunde. Von einer Stunde hatten ihn zehn Mann in einen wartenden Lieferwagen getragen. Sie hatten ihn an den Sitz gebunden und fortgebracht. Fünf Bewacher waren mitgekommen. Jetzt lag er in einer Zwangsjacke an der Wand der Sakristei und versuchte, sich einen neuen Trick auszudenken, mit dem er sich umbringen konnte. Er hatte Jerry Cochran und Onkel Franklin flehentlich gebeten. »Wisst ihr, was ich bin? Ein Ungeheuer! Und ich werde ein Volk von Ungeheuern in die Welt setzen!« Sie stimmten zu. Denn in der Tat, das war genau die Sache, um die es ihnen ging. »Sie werden das Ebenbild Satans sein.« »Sie werden das Grauen sein! Sie werden alles Schöne und Gute auf der Welt vernichten!« Dann hatte Onkel Franklin etwas getan, das Jonathan bis in die
Tiefen seines Seins erschreckte. Er hatte sich sehr bewusst zu ihm hinuntergebeugt und Jonathan glückselig angelächelt. Und er hatte geflüstert: »Ich weiß.« Jonathan hatte die anderen angeschrien, sie sollten ihm zuhören. Franklin war bösartig! Er war etwas, das aus der Hölle kam er musste es sein! Etwas Übelriechendes, etwas Übernatürliches. Bitte, bitte, hört doch zu. Er will die Welt an die Dämonen übergeben! Jonathan fing wieder an zu schreien. »Bitte, hört auf mich! Bitte, bitte, hört doch auf mich!« Aber sie hörten nicht. Sie fuhren fort, die Vorbereitungen der Begegnung ihrer Göttin und ihres Gottes zu treffen. Auf den Steinplatten waren Schritte zu hören. Jemand näherte sich dem Sarg. Von draußen war ein niedergeschmetterter Seufzer zu hören. Das Holz knarrte. Jemand hatte sich hingekniet und lehnte sich dagegen. »Da der allmächtige Gott dich gerufen...« »Harry! O Gott, du bist es! Ich wusste, dass du kommen würdest, wenn du es kannst! Hör zu, ich sterbe. Ich muss Luft haben.« »Mike, du lebst!« »Luft, Harry. Ich brauche Luft, Luft!« Mike betastete verzweifelt die Abdichtung. Sein Geist erinnerte sich blitzartig wieder an den Schlüssel in Titus' Wohnzimmer. »Ist da ein Schlüssel?« »Ein Schlüssel?« Was dachte er für ein wirres Zeug. Harry konnte keinen Schlüssel zu diesem Ding haben. »Harry! Harry!« »Ja, Mike.« Etwas polterte laut. »Beeil dich!« »Ich kann nicht, er sitzt zu fest.« »Was... wo...« »Ich trete mit dem Schuh dagegen!« Wieder ertönte Lärm. »Nein. Nein.« Mike verlor die Besinnung, fiel durch einen Brunnenschacht. Ein leises, zischendes Geräusch holte ihn wieder aus den Tiefen hervor. »Mike! Sag etwas!« »Richte das verdammte Ding auf und lass es fallen! Dann bricht es auf!« Ein knarrender, schabender Laut war zu hören. Und viel angestrengtes Atmen. Langsam veränderte sich Mikes Position. Kurz darauf kämpfte er mit der Tatsache, dass Harry ihn mit den Beinen zuerst nach oben stemmte.
Dann ließ er ihn fallen. Es gab einen gewaltigen Krach, der Mike durch und durch ging. Gott, steh dem alten Pfarrer bei. War der Deckel wirklich lose? Die Leute kamen und gingen in das Brautgemach: Brautjungfern mit Kleidern und Make-up-Täschchen. Schwestern mit Plättbrettern und Nadel und Faden, die noch in letzter Sekunde Veränderungen vornahmen. Letty und Mary machten viel Aufhebens um die Prinzessin, die lächelte, so gut sie konnte, obwohl in ihrem Herzen nur Asche war. Ihr Geist hatte sich in seiner Verzweiflung auf die Vorstellung eingerichtet, dass Jonathan sie retten würde. Er war so schlau, bestimmt war er dort, wo sie versagt hatte, erfolgreich. Er würde einen Weg finden, auf dem sie beide hier herauskamen. »Und jetzt, meine Liebe«, sagte Letty sehr selbstzufrieden, »müssen wir dir etwas zeigen!« Sie legte eine große weiße Schachtel auf den Blumentisch und öffnete sie. Darin lag das außergewöhnlichste Gewand, das Patricia je gesehen hatte. Es bestand ganz aus Spinnwebspitze und Perlen. Winzige Diamanten ließen Kragen und Ärmel funkeln. Ein grüner Smaragdgürtel, passend zu ihren Augen, lag eingerollt obenauf. Mary nahm das Kleid aus der Schachtel und hielt es hoch. Es war aus reinster weißer Seide mit feinen Litzen. Dann sah Patricia das Muster. Sie würgte einen Aufschrei nieder. Auf dem Kleid, in Spitze dargestellt, waren Körper zu sehen, die in Feuern kämpften; Knochen und Schädel und grinsende Teufel. »Fühl mal, wie leicht es ist! Das ganze Ding wiegt nicht mal ein Pfund.« Patricia streckte die Hand aus und berührte das dünne Gewebe. »Es ist sehr leicht.« »Das Kleid ist über sechshundert Jahre alt. Es wurde im Mittelalter hergestellt. Es ist seit dieser Zeit im Familienbesitz gewesen und hat auf dich gewartet. Es ist erst einmal getragen worden, 1334, beim Rituale in der Kathedrale von Salisbury.« Aus dem Wahnsinn und der Hoffnungslosigkeit der Welt des Mittelalters hatten sie das schreckliche Artefakt mitgebracht. Es war, als griffen die verwesten Finger der menschlichen Vergangenheit nach ihr, um sie zu umarmen. Man lächelte sie an. Alle Brautjungfern schauten zu. Patricia bemühte sich um eine feste Stimme. »Es ist eine Erleuchtung.« Ihr Geist war absolut auf Jonathan konzentriert. Erinnerungen an ihn, das Verlangen, ihn zu sehen, die Hoffnung auf ein Entkommen.
Aber sie wagte nicht einmal nach ihm zu fragen, weil sie fürchtete, dass ihre Stimme sie verriet. Ein paar Sekunden lang mussten sie doch einmal unvorsichtig werden. Sie mussten einfach! Wenn sie es nicht waren, musste er zu ihr kommen und sie holen. Sonst würde gar nichts mehr passieren. Denn wenn das Ritual losging, wurde er zum Monstrum. Das durfte nicht sein! Mary zwickte Patricia aufgeregt in die Wange. »Aber zuerst legst du dein Make-up an. Wegen des Glücks.« Patricia schaute auf das abscheuliche Gewand, das sie in den Händen hielt. Ein Schädel aus Spitze lächelte sie an. Das hier war nie im Leben als Hochzeitskleid gemacht worden. Es war ein Leichenhemd. »Jonathan, du kannst deine Lage ebenso gut akzeptieren. Du kommst doch nicht hier raus«, sagte Franklin Titus. »Vielleicht nicht.« »Und wir geben dir auch keine Chance zu einem Selbstmord.« Jonathan gab keine Antwort. Das war seine einzige Hoffnung. »Ich komme mir deswegen wirklich schrecklich vor. Wenn ich gewusst hätte, was dabei herauskommt, hätte ich die Hypnose nie versucht. Du bist so erbärmlich, mein Sohn. Ich finde es äußerst unangenehm, dich so zu sehen.« »Ihr seid bösartig. Ich werde nie aufhören, euch zu bekämpfen.« »Wenn du heute abend nicht mitmachst, werden sich die Dinge noch schlimmer entwickeln als im Juni. Wenn die Befruchtung ein Fehlschlag wird, weil du dich weigerst, werde ich dich nicht wie damals aufhalten. Diesmal lasse ich dich Patricia töten.« Jonathan kämpfte gegen die Zwangsjacke; er spuckte Onkel Franklin an und verfluchte ihn. »Ich will ihr nicht weh tun! Man darf nicht zulassen, dass ich es tue!« »Ganz meine Meinung. Deswegen musst du kooperieren.« »Verschwinde!« »Die Trauung beginnt in zehn Minuten, mein Sohn. Du solltest dich schon mal an die Tatsache gewöhnen.« Franklin wandte sich um und ging davon. »Tut mir das nicht an! Tut es nicht, im Namen der Menschlichkeit!« Sein Onkel sagte etwas zu Jerry Cochran. Jerry kam zu ihm hinüber. »Du störst die Gemeinde, Jonathan«, sagte er in einem aufgebrachten Tonfall. »Wenn du nicht still sein kannst, müssen wir dich knebeln.«
Jonathan schwieg. Wenn er geknebelt war, konnte er Patricia nicht mal mehr warnen. Ihm dämmerte allmählich, dass die schreckliche Zeremonie genau so stattfinden würde, wie Onkel Franklin sie geplant hatte. Er hoffte, er betete, dass es ihm irgendwie gelang, sanft mit ihr umzugehen. Eine laute, dröhnende Melodie kam von der Chor-Empore. Das Ritual hatte begonnen. Als Mike den Mund gegen den kleinen Spalt drückte, den Harry zustande gebracht hatte, gelang es ihm, ein bisschen Luft zu kriegen. Als er sie trank, schien sein ganzer Körper mit einer kitzelnden Erleichterung zu neuem Leben zu erwachen. Das nächste, was er erkannte, waren Finger in seinem Mund. Harry steckte sie in den Spalt und versuchte, ihn zu vergrößern. Mike zwang sich, Platz zu machen und sich der verbrauchten Luft im Inneren des Sarges zu stellen. Harry gab sich alle Mühe. Plötzlich ertönte ein lautes Schnappen. Es brachte eine Flut kühler, herrlicher Luft mit sich. Mike fand den feuchten Betongeruch der Krypta ergötzlich. Dann umgaben ihn Harry s Arme und zogen ihn hoch. »Mike, Mike!« »Ich habe es geschafft. Ich lebe noch.« Harry umarmte ihn. »Danke, himmlischer Vater!« Mike sah ein langes Stück Rohr aus dem zerbrochenen Sargdeckel ragen. Er nahm es in die Hand. Es hatte während der ganzen Zeit ein Sauerstoffrinnsal in den Sarg geleitet. »Teufel noch mal sieh dir das an, Harry.« »Was hat das zu bedeuten?« »Sie haben mir gerade soviel Luft zugeführt, wie ich zum Leben brauche!« Mike stand auf und untersuchte den Foltermechanismus. Ein Sauerstofftank. Sein Ventil war gerade soweit geöffnet, dass man nicht krepierte. Das war vielleicht die abscheulichste Folter, von der er je gehört hatte. Sie hätten ihn sehr, sehr lange Zeit am Rande des Todes halten können. »Kein Wunder, dass ich nicht gestorben bin. Sie hatten es nicht vor.« »Aber das müssen sie doch! Du bist gefährlich für sie!« »Oh, sie hätten mich schon noch umgebracht. Aber nicht so bald. Es geht darum, dass sie mich hier drin hätten liegen und langsam ersticken lassen, bis sie sich entschieden hätten, den Sauerstoff abzudrehen.«
»Stunden?« »Vielleicht Tage.« Harry umarmte ihn erneut. »Lass uns von hier verschwinden! Wir können rennen! Dein Wagen steht draußen, wir können zum Revier fahren! Dort sind wir sicher.« »Wer weiß schon, wo wir sicher sind. Was ist mit den Kindern?« Harry schloss für einen langen Moment die Augen. »In ein paar Minuten muss ich oben sein. Ich soll sie trauen.« »Und ich muss sie retten. Irgendwie.« Harry griff in seine Tasche und entnahm ihr etwas, das für Mike nach einem faustgroßen Goldklumpen aussah. »Die hast du mir gegeben, Mike. Vielleicht kannst du mehr damit anfangen als ich.« Mike nahm die kleine Pistole. »Danke, Pater.« Er hielt die Waffe mit festem Griff. Gut für Kopfschüsse. Er ging zusammen mit Harry durch die Krypta zur Wendeltreppe, die in die Sakristei hinaufführte. Von oben drang Licht zu ihnen herunter. Man hörte erregte Stimmen. »Ich möchte es nicht tun, Mike.« »Du gehst da rauf. Wenn sie dich vermissen, werden sie uns beide schnappen.« Um Harry zu beruhigen, lächelte er. »Und schieb es nicht mir in die Schuhe, wenn die Hochzeit nicht ganz so ausfällt wie geplant.« »Ich hoffe, du schaffst es, Mike. Ich hoffe bei Gott, dass du es schaffst.« »Verlass dich drauf.«
26. Kapitel Das Altargeländer wirkte, als wäre es weit weg, eine mattweiße Linie am Ende des langen Steingangs. Dahinter befand sich der dunkle, hässliche Klotz des Altars. Der Opferstein. »Siehst du ihn?« flüsterte eine der Brautjungfern. Patricias Herz fing an zu flattern. Ob sie ihn sah? »Schau da ist er; rechts, direkt zwischen den Akoluthen.« Sie sah seinen edlen Kopf, seine feinen Züge. »Jonathan!« Sein Blick traf den ihren, und zwischen ihnen zuckten Blitze auf. Durch allen Schmerz und das Grauen des Augenblicks leuchtete deutlich ihre Liebe. Dann eilte sie durch den Gang. Schritte ertönten hinter ihr. Sie hatte den halben Weg hinter sich, bevor es den Brautjungfern gelang, sie
anzuhalten. »Nicht zu schnell«, sagte eine. »Wir müssen auf die Musik warten. Es soll doch eine Prozession werden.« Als Patricia dort stand, in ihr feines Leichenhemd gehüllt, erneut gefangen, fing sie an zu weinen. Das Blumenmädchen in dem weißen Taftkleid glitt um sie herum. Die Prozession wurde neu gestaltet. Mary, die hinter den Brautjungfern bei den Nonnen stand, rief zur Chor-Empore hinauf: »Sehr schön, Mrs. Trask; ich glaube, wir sind jetzt soweit.« Die allerschönste himmlische Musik setzte ein. Patricia erkannte Bachs > Schlaf er, erwacht<, aus einer der Kantaten. Schläfer erwacht, in der Tat. Ihre Chance hatten sie verspielt. Sie waren beide dazu verdammt, den leibhaftigen Albtraum des Rituals über sich ergehen zu lassen, und nichts konnte es verhindern. Das Blumenmädchen schritt nach vorn und verstreute Rosen und Gardenixenblätter. Patricia folgte ihr, ihr Herz war voll von schlimmster Qual. Sie spürte das Gewicht der Prozession hinter sich; die sechs Brautjungfern; die Diakoninnen in ihren dunkelroten, festlichen Seidentrachten und die gewöhnlichen Schwestern in den weißen. Dahinter kamen die Kinder der Titus-Schule, die Mädchen in blauen Kleidern, die Jungen in Smokings. Und die Bankreihen waren gefüllt mit der Gemeinde der Kirche der Nacht, strahlend im matten Kerzenschein, mit Juwelen und feinen Kleidern, mit Smokings und glänzenden Manschettenknöpfen. »Patricia!« Sie hörte seinen Aufschrei sehr deutlich. Die Musik wurde lauter. Um Jonathan herum rührte sich etwas. Er war völlig von Akoluthen umgeben. Sie konnte ihn nicht mehr sehen. »Lauf!« Die Brautjungfern fingen von hinten an zu drücken. »Ich kann nicht, Jonathan!« Dann schrie er, es war ein abscheulicher, wilder, gefangener Laut, der sie ebenfalls aufschreien ließ. Er erinnerte sie an ein sterbendes Kaninchen in der Nacht auf dem Land, das von den Windungen einer Riesenschlange zermalmt wurde. »Bitte, tut es nicht«, weinte sie. »Bitte, hört mir doch zu! Es ist bösartig, es ist absolut falsch! Versteht denn keiner von euch? Erkennt ihr es denn nicht? Ihr müsst es doch erkennen!« Die Musik fuhr fort, so sanft, so eindringlich lieblich. Dann erreichten sie den Altar. Die Musik setzte aus. Mike war mit äußerster Vorsicht über die Wendeltreppe aus der
Krypta zur Sakristei hinaufgestiegen. Er hielt in den Schatten hinter der halb geschlossenen Tür an. Von hier aus konnte er den Hauptteil der Sakristei und einen Teil des dahinter liegenden Allerheiligsten überblicken. Er hatte Harry sich ankleiden und hinter seinem Messdiener-Gefolge ins Allerheiligste hinausgehen sehen. Titus und sein eigenes Gefolge sechs der stillsten, vorbildlichsten Akoluthen, die Mike je gesehen hatte schienen im Hintergrund zu bleiben. Dennoch hatten zwei der Jungen ihren Spaß, als sie ihre Weihrauchfässchen aufeinander zuschwangen. Von Zeit zu Zeit herrschte Titus sie an. Warum, zum Teufel, setzte Titus sich nicht in Bewegung? Solange er dort blieb, wo er war, saß Mike hier fest. Einer der Jungen zog einen etwa fünfundzwanzig Zentimeter langen Quarzstab aus einem kleinen schwarzen Koffer. Er reichte ihn Titus, der ihn sorgfältig untersuchte und dann mit einem Filzläppchen abwischte. Draußen begann die Trauung. Mike konnte Pater Goodwin und Patricia deutlich sehen. Aber wo war Jonathan? Er musste zwischen den Männern an der Seite sein. Das war vielleicht eine Hochzeit, wo man den Bräutigam mit Gewalt festhalten musste. »Zu Anfang der Schöpfung erschuf Gott den Mann und die Frau; deswegen soll der Mann Vater und Mutter verlassen und einem Weibe treu sein, und sie sollen werden wie ein Mensch. Sie sind keine zwei Leiber mehr, sondern einer. Deswegen soll der Mensch nicht trennen, was Gott zusammengefügt hat.« . Harrys Stimme war schnell und gespannt. Auch Titus war es aufgefallen; er wurde so ruhig wie eine gespannte Schlange. »Nun erhöht und stärkt er euch durch ein besonderes Sakrament, damit ihr die Pflichten der Ehe in beiderseitiger und bleibender Treue auf euch nehmen dürft. Somit, im Angesicht der Kirche, bitte ich euch, euer Einverständnis zu erklären.« Ein Grauen packte Mike, das dazu führte, dass er eine Gänsehaut bekam und sein Herz unregelmäßig schlug. Ihm fiel das Bild des sterbenden Ungeheuers ein, das er in Titus' Bibliothek gesehen hatte. Um den Anti-Menschen hervorzubringen, musste ein Mensch so werden wie das arme, vernichtete Ding. Er würde sich schütteln, sich verdrehen und sich aufblähen, aufgrund irgendeiner Wahnsinnsdroge oder einer Trance, bis er... Guter Gott, der arme Jonathan! Der arme Junge! Kein Wunder, dass sie ihn wie ein Schlachtvieh festgeschnürt hatten. Er ist ihr
verdammtes Ungeheuer! Sein Traum! Der arme Junge, er war schuldig, wie er es angenommen hatte. Er hatte um Hilfe gefleht, und alles, was er bekommen hatte, war ein Schulterklopfen gewesen. Wie konnte ich nur so gottverdammt dickköpfig sein! Tränen trübten seinen Blick. Der arme Junge hatte um Hilfe geschrien, und sein eigener Vater hatte ihm nicht glauben wollen. O Gott, hilf ihm! Und ihr auch. Hilf uns allen dreien! Mike wünschte sich nichts sehnlicher, als hinauszustürmen und die Heirat zu verhindern. Aber das konnte er nicht; nicht, solange Titus zwischen ihm und dem Altar stand. Unter so vielen Menschen war seine einzige Chance die und auch sie war nur gering -, dass er sie vollkommen überraschte. Und der alte Hexenmeister wartete hinter den Kulissen. Und die Trauung wurde fortgesetzt. Jonathan hatte so hart darum gekämpft, sich zu befreien, dass er nun erschöpft war. Nachdem er Patricia gerufen hatte, hatte man ihn geknebelt. Trotz der hoffnungslosen Situation wehrte er sich gegen die Zwangsjacke und kaute wild auf dem Knebel herum. »Patricia und Jonathan, seid ihr aus freiem Willen und ohne Vorbehalte hier erschienen, um euch einander in der Ehe zu schenken?« Jonathan wollte ihr verzweifelt sagen, dass er sie liebte und dass er ihr niemals wehtun würde, solange noch ein Funken Menschlichkeit in ihm vorhanden war. Doch der Knebel war von Meisterhand gemacht. Er reichte bis in seine Kehle. Er konnte kaum noch stöhnen. »Sie sind es«, sagte seine Mutter mit fester, deutlicher Stimme. Pater Goodwin sah aus, als wolle er am liebsten im Boden versinken. »Patricia, willst du deinen Nachwuchs in der Liebe zu Gott akzeptieren und nach seinen Gesetzen erziehen?« »Nein! Erst wenn ich höre, dass Jonathan mich heiraten will. Und man will ihn nicht einmal reden lassen!« »Sie will«, sagte Mary. Jonathan bat Gott, sein Herz anzuhalten, um Patricia irgendwie vor dem zu bewahren, was in ihm war. Wie er sich danach sehnte, es ihr zu ersparen! Wie er sich bohrend in sie hineinstieß, ihre Knochen und ihren Leib zerbrach und der durchdringenden Ekstase ihrer Schreie lauschte.
»Da ihr die Absicht habt, die Ehe zu schließen, gebt euch die linke Hand und erklärt eure Einwilligung vor Gott und seiner Kirche.«
»Ihre Hände sind im Geiste geeint«, sagte Mary. Von der Stelle aus, wo die Diakone ihn gezwungen hatten, zwischen ihnen zu kauern, konnte Jonathan nur einen kleinen Teil des Gesichts seiner Mutter sehen. Er maß es mit äußerstem Abscheu. Das war nicht seine Mutter. Für ihn war Mary Titus Banion gestorben. Ihr Körper ging und redete vielleicht noch, als wäre sie lebendig, doch das menschliche Wesen in ihrem Inneren war tot. Indem Mutter Satan geliebt hatte, hatte sie Selbstmord begangen. Ich möchte auch tot sein. Ich möchte tot sein!
Aber er war weit davon entfernt, tot zu sein. Um es genau zu nehmen: In seinem Inneren rührte sich ein neues Leben. Und während die Zeremonie weiterging, ertönte unter der schwellenden Orgelmusik ein eigenartiges, tiefes Summen. Das Summen wurde lauter, und je lauter es wurde, desto mehr verspürte Jonathan eine GEWALTIGE WUT. Patricia konnte den durch und durch gehenden Klang, der die Orgelmusik ersetzte, kaum ertragen. Er folterte ihre Ohren und erweckte ihre tiefste Abscheu. Die Brautjungfern nahmen ihre Arme. Als Patricia die starken Hände auf sich spürte, erfasste sie eine Welle von Panik. Keine drei Meter von hier entfernt hatte sie gekniet, als Es sie durch das Allerheiligste geschleift hatte. Sie hatte ihren Rosenkranz zerrissen und zugehört, wie die Perlen über den Boden gekullert waren. Messdiener fingen an, die wenigen Kerzen zu löschen. Sie ließen nur die Ewigen Lichter in ihren Schalen und die nicht flackernde Votivkerze an. Herr, gib uns Licht!
Altarglocken bimmelten, Dutzende und Aberdutzende in der Dunkelheit. Die Musik dröhnte zu einem Crescendo. Die Schwestern und die Schulkinder waren zwischen den Bänken verschwunden. Patricia war jetzt nur noch von den Brautjungfern und den Diakoninnen umgeben. Alle Köpfe wandten sich dem Rückteil der Kirche zu. Eine geschmacklose, furchtbare Prozession, die sich sehr deutlich vom Hochzeitszug unterschied, setzte sich dort in Bewegung. Akoluthen trugen blutrote juwelenbesetzte Kreuze. Sie waren umgedreht. Hinter ihnen hielten Diakone Flaggen aus reichbestickter Seide hoch, auf denen sich magische Symbole, Pentagramme, sechseckige Sterne und ineinander verschlungene Ringe befanden. Hinter ihnen kam Onkel Franklin. Er trug Gewänder aus einem Stoff, der zu dunkel war, um sie in der Düsternis sehen zu können.
Auf seiner Bischofsmitra tollte eine Schlange, die in Patricia so eigenartige Gefühle hervorrief, dass sie sie nicht benennen konnte. Sie hatte den Eindruck, dass Milbenschwärme unter ihren Körper krabbelten. Ihre Haut wurde so empfindlich, dass sie den Eindruck hatte, ihr Kleid sei aus Feuer gemacht. »Nein! Bitte nicht!« Die Brautjungfern umzingelten sie und hielten sie mit kräftigen Händen fest. Die Akoluthen verteilten sich rechts und links am Altargeländer, bis Onkel Franklin Patricia schließlich gegenüberstand. »Endlich«, murmelte er. Seine trockene alte Hand hob sich und berührte ihre Wange. Sie biss zu. »Ah! Welcher Geist, du kleine Viper!« Er wischte den blutigen Finger vorn an ihrem Kleid ab. »Bitte, Schwestern, bereitet sie vor.« Jonathan quälte sich auf dem Boden wie ein Tier. Aber er sträubte sich jetzt nicht mehr, um zu entkommen oder um sein Leben zu beenden. Er kämpfte gegen die Wildheit, die aus seinen Tiefen emporstieg, seit er das infernalische Hörn zum ersten Mal hatte dröhnen hören. Jetzt geschah etwas. Seine Bewacher bewegten ihn. Öffneten sie seine Zwangsjacke gab es doch noch einen Hoffnungsschimmer? Ja! Er war geistig gesünder, als ihnen offenbar klar war. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, sich umzubringen. Aber dann wusste er, dass es nicht so war. Sie hatten nur ein paar Riemen gelöst, um Ketten durch die Schlaufen zu ziehen. Er stand jetzt direkt an den Toren zum Allerheiligsten, eng an das Altargeländer gekettet. Er konnte nicht mal die Stirn gegen eine Geländerecke schlagen; die Ketten waren zu stramm. Onkel Franklin trat ins Zentrum des Allerheiligsten. Jungen nahmen seine Mitra und den Bischofsstab. Im matten Kerzenschein hielt er den Quarzstab hoch. Patricia wurde an eine Stelle geschleppt, die kurz vor dem Altar lag. Wie schön sie war in ihrem schneeweißen Kleid. Ihr Gesicht schwebte in der wundervollen blonden Gischt ihres Haars. »Ich liebe dich, Jonathan!« »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Alles, was hinter dem Knebel hervordrang, war eine matte Reihe dumpfer Grunzlaute. »Ich möchte sanft zu dir sein!« Ich möchte dich mit meiner Kraft in Stücke reißen! Und es wird dir auch noch gefallen, du Luder!
Die Brautjungfern legten Patricia auf den Sakristeiboden. Sie
wurde mit seidenen Tauen an vier dort befindliche Ringe gefesselt. Für mich. Sie wird für mich angebunden.
Er rasselte mit den Ketten, kämpfte wild und verzweifelt. »Entspann dich«, murmelte Onkel Franklin. »In einer Minute hast du alle Kraft, die du brauchst.« Die madonnenhafte Reinheit von Patricias Haut, die Art, wie sie sich auf die Unterlippe biss, als sie den Kopf so hoch
zu heben versuchte, um ihn zu sehen, fing an ihn zu erregen. Nein! Ich muss sanft mit ihr umgehen. Es ist alles, was uns noch geblieben ist! Um sich die Lüsternheit auszutreiben, die aus ihrer Hilflosigkeit erwuchs, schloss er die Augen. Sein Körper, sein ganzes Blut, wurde zu einem Gebet. Die Schlange in ihm glitt immer schneller an die Oberfläche seines Seins. Das Kirchenschiff füllte sich mit einem Duft, das seltene Parfüms mit dem Geruch verwesten Fleisches zu mischen schien. So mussten in uralten Zeiten Gräber gerochen haben. »Also gut, Jonathan. Ich werde nun deinen Dämon für dich zum Tanzen bringen.« Ich bin der Geist des Todes. Franklin Titus begann, indem er die Spitze seines Stabes über das Altargeländer streichen ließ. Er hielt vor Jonathan an. »Sieh hin!« Jonathan schloss die Augen. Doch der Befehl war nur ein Trick, um ihn die Augen schließen zu lassen. Das Nächste, was er wusste, war, dass der Stab gegen die Mitte seiner Stirn gepresst wurde. Wie eine Stimmgabel schwang sie mit vollen Vibrationen. Sie drangen tief in Jonathans Schädel ein und erfüllten ihn mit den furchtbarsten Qualen. Er konnte den Kopf nicht drehen. Und als Onkel Franklin ihm befahl, die Augen zu öffnen, hoben sich seine Lider trotz aller Anstrengungen, sie unten zu halten. Er konnte die sich drehende, funkelnde Spitze des Stabes nicht mehr ignorieren. Franklin Titus schritt graziös hin und her. Jonathans Konzentration darauf war so groß, dass ihm schien, alles andere sei einfach verschwunden alles, außer dem tanzenden, sich drehenden Körper seines Onkels und dem glitzernden Stab. Jonathans Magen zuckte und grollte und hätte sich beinahe entleert. Er fing an zu würgen. »Achtung!« rief sein Onkel. »Jetzt ist er da!« Jonathans Eingeweide fühlten sich warm an, dann heiß. Eine Sekunde später fühlte er sich, als würde er innerlich kochen. Von der krallenden Pein fast zum Wahnsinn getrieben, schrie und kreischte er. Er wusste, dass er die Zwangsjacke zerreißen würde. Aber nicht er würde dies tun, sondern Es, das Ding in seinem Inneren, das die Herrschaft über seine Muskeln übernahm. Jonathan spürte, dass er die Zwangsjacke abschüttelte, als sei sie aus Seidenpapier. Er riss an den Handschellen, bis seine Handgelenke blutig waren. Die Qual des inneren Kochens hatte
seine Kraft hundertfach verstärkt. Dann teilten sich die Handschellen so leicht, als wären sie aus Wachs. Als er den Knebel abreißen wollte, verfing er sich an seinen Zähnen. Er riss den dünnen Fetzen ab. Wie schön sie war!
Schwerfällig, mit der neu entdeckten Gangart eines Körpers, dessen Form und Größe ihm unvertraut war, näherte er sich Patricia. Nachdem seine Rolle bei der Zeremonie beendet war, war Harry wieder aus der Sakristei gekommen und hatte sich mit Mike hinter den Hochaltar geschlichen. Sie versteckten sich inmitten der Orchideen und Schwertlilien, direkt rechts vom Tabernakel. Als Harry das Grauen vor sich sah, sprang er durch die Blumen und hechtete über den Altar. Er kämpfte mit dem Tabernakel und versuchte, seine Hostien vor der unglaublichen Blasphemie zu bewahren, die man vor ihnen aufführte. Akoluthen warfen ihn sofort zu Boden. Die letzte Geste eines schuldigen Priesters. Mike wartete ab und schaute zu. Er hoffte auf die Chance, etwas tun zu können, das etwas bewirkte. Er wusste nur zweierlei Patricia musste gerettet werden; und der arme, bemitleidenswerte Jonathan musste die beste Pflege erhalten, die man für Geld kriegen konnte. Jonathan stand da, starrte auf Patricia hinunter wie ein Golem und brüllte wie in Agonie. Er kam Mike aufgequollen vor. Dann bemerkte Mike etwas Außergewöhnliches an dem armen, bemitleidenswerten Jungen; etwas, das seine Brust vor Leid schmerzen ließ. Jonathan stand vor dem Mädchen und schwitzte im wahrsten Sinne des Wortes Blut. Echtes, rotes Blut. Mehr und mehr quoll aus ihm hervor. Es bedeckte seinen Körper mit einer roten Schicht. Und dann geschah mit dem einzigen Menschen, den er seinen Sohn hatte nennen dürfen, das Abscheulichste, das Mike je gesehen hatte. Ein Mensch, den er liebte, fing an zu trocknen und platzte auf. Er wellte sich wie eine Schlange, die ihre Haut abstreift. Während er dies tat, löste sich seine blutige Haut von dunklem, schuppigem Fleisch, das darunter lag. Plötzlich fing er an, große Fetzen von sich abzureißen. Jonathan riss seinen Brustkorb auf und warf die durchscheinende Haut zu Boden. Dann rieb er seinen Rücken mit einem Grunzen am Altargeländer und hinterließ dort eine Fleischmasse. Risse bildeten sich an seinen Beinen, und er riss sie
auf. Die plötzlich hohle Haut seiner Füße fiel wie ein durchstochener Ballon ab. Sie erzeugte ein Geräusch wie das zerreißende Zellophan einer Schallplattenhülle. Im gleichen Augenblick quollen seine Augen aus ihren Höhlen. Sie fielen wie trockene Muscheln zu Boden. Was dahinter zu sehen war, war hellgelb und so groß wie die Augen eines Geiers. Mike fiel ein, dass die gleichen Augen ihn am Himmel über Titus' Haus angestarrt hatten. Jonathan riss den Rest seines Gesichts mit zitternden Händen ab. Dann erschien ein Schlangengesicht, wild funkelnd vor Intelligenz und wahnsinnigem Hass. In der Totenstille der Kirche konnte Mike das feuchte >Plopp< hören, als Es den letzten Rest Jonathans abwarf; Hand und Haut des linken Armes. Es warf sie weg wie einen leeren Handschuh und spannte die seltsam schimmernde Klaue, die darin gewesen war. Als Mike dieses abscheuliche übernatürliche Ereignis sah, fühlte er sich auf der Stelle niedrig und von schleichendem Entsetzen erfüllt. Gott war nicht die einzige Macht im Universum. Jonathan fing wieder an zu kreischen, doch diesmal war es ein widerwärtiger, reibender Klang, der irgendwo zwischen dem Zischen eines Reptils und dem Jammern einer Krähe lagMike konnte es nicht mehr ertragen. Wenn er je einen Menschen hatte leiden sehen, dann in diesem Moment. Jonathans Herz und Geist waren in diesem Ding und erlitten die Qual, zu diesem... Etwas zu werden. Mike hob die Pistole, um ihn von seinem Elend zu erlösen. Aber er kam nicht zum Schuss. Um das Ding herum brach nun fieberhafte Aktivität aus. Zwei Diakone ergriffen Pater Goodwin und schubsten ihn auf Es zu. Es wich zurück. Sie schubsten den Pater erneut in seine Arme. Das Ding wich aus, schrie, aber sie gaben nicht auf. Und kurz darauf, als sei Es nicht fähig, sich zurückzuhalten, schlug es seine Krallen in Goodwins Leib. Harry keuchte, hämmerte gegen die quellenden, gnadenlosen Muskeln und trat gegen den schuppigen Panzer, der den Körper bedeckte. Die Klauen rissen ihm das Fleisch von den Knochen. Dann stieß Es den Höllenqualen leidenden, halb gehäuteten Pfarrer beiseite und ging auf Patricia zu. Der Pater lag auf dem Boden seines Allerheiligsten. Gott, Gott, warum hast du so etwas lebendig werden lassen? Patricia fing so hoch und verzweifelt an zu schreien wie ein Säugling. Mike hielt nach einer guten Schussmöglichkeit Ausschau,
doch das Kerzenlicht und die sich rasch bewegenden Diakone und Akoluthen machten sie unmöglich. Es kniete sich neben Patricia auf den Boden und streichelte sie mit langen Fingernägeln. Dann legte Es sich auf sie. Sie konnte nichts tun, um zu verhindern, dass der bebende, krustige Leib auf sie losging. »Jonathan«, rief sie. »Jonathan, erinnere dich an dich! Du bist nicht dieses Ding, du bist ein Mensch und liebst mich!« Irgendwo in den Tiefen dessen, was er geworden war, konnte sie sehen, wie er sich erinnerte. Es war nur ein Schimmer in seiner Wildheit, aber es war menschlich und gut. Ein gurgelndes Geräusch ertönte, und etwas, das nach Leid aussah, fing an, den Hass in seinen Augen zu bekämpfen. »O Jonathan, ich weiß, dass du noch da bist! Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben!« »I-i-i-ooaaahh!« Es funkelte mit den übernatürlich großen gelbgrünen Augen in ihr Gesicht. Patricia konnte es nicht ertragen, noch länger hinzusehen. Sie wandte das Gesicht zur Seite. Es fing wieder mit seinem abscheulichen Krächzen an. Sie spürte, wie Es anfing, sich zu bewegen, wie Es sich gierig an ihr rieb und den dünnen Stoff ihres Kleides zerfetzte. »Jonathan, Liebling, wenn du mich noch hören kannst, tu mir nicht weh! Bitte, Liebling!« Es wurde zunehmend erregter. Patricia versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. Sie spürte, wie Es schwer gegen sie krachte, so dass ihr Atem in abgehackten Stößen kam. Und dann stieß Es wild zu. Aber Es tat ihr nicht weh. Es versuchte, sanft zu sein! Als sie die Augen öffnete, sah sie in dem abscheulichen Gesicht den Ausdruck eines intensiven Konflikts. Es wollte ihr weh tun, aber Es widerstand dem Trieb, so gut es möglich war. »O Jonathan, Jonathan!« Über dem Altarrand oberhalb ihres Kopfes erschien der Lauf einer Pistole. Das Ding, das Jonathan gewesen war, hörte auf, sich auf ihr zu bewegen. Es hob den Kopf und musterte das Schießeisen. »B-bitte, schiiiiess. B-bitte!« Eine Sekunde lang bewegte sich niemand. Dann machte es Krack! Krack! Krack! Das Ding fiel auf die Altarstufen zurück, zuckte noch einmal und rührte sich nicht mehr. Pandämonium. Marys Stimme, spitz und gesammelt, erhob sich
über den allgemeinen Tumult. »Franklin ist es zur Befruchtung gekommen?« Patricia sah Franklin Titus glücklich lächeln. Aber wer hatte sie befruchtet das Ding? Oder der kleine Funke Jonathans, der noch in ihm gewesen war? Oh, Jonathan, ich weiß, dass du es warst! Und es ist dein Baby, das in mir ist, ich spüre es! Nicht das des Dings! Nein, das nicht! Die Leute schrien, spritzten vom Altar und von der rauchenden Mündung des Schießeisens weg. Mary und Franklin bewegten sich dicht zusammen. Die Waffe, die nur wenige Schritte von ihren Köpfen entfernt war, schien ihnen keine Kopfschmerzen zu bereiten. Sie hielten sich an den Händen, der alte Mann und seine gläubige Helferin. »In Ordnung, hört mir zu! Haltet die Klappe und hört zu, ihr alle!« Es war Mike. Er trat hinter dem Altar hervor. Patricias Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sich noch nie im Leben so gefreut, jemanden zu sehen. Mike durchdrang die Stille, die seinem Schrei gefolgt war, und richtete die Pistole direkt auf Patricias Bauch. »Schneidet sie los und bringt uns einen Regenmantel.« Die Menge stieß ein entsetztes Keuchen aus. Mike senkte die Pistole. Sein Blick traf den ihren. »Also los. Oder sie stirbt.« Stille. Weit hinten in der Kirche erklang ein einzelner panischer Aufschrei. »Schneidet sie los«, sagte Franklin. Patricia stand auf wackligen Beinen. Mike half ihr in den Regenmantel. Er trug sie halb aus dem Allerheiligsten, durch die Sakristei und auf den Parkplatz hinaus. Dort stand sein Wagen. Er setzte sie hinein und stieg selbst ein. Sie war so dankbar, traurig und ängstlich, dass sie kaum einen Gedanken fassen konnte. Sie saß so still wie ein Stein, als er den Wagen anließ und wegfuhr. Sie war entkommen! Sie hätte sich freuen sollen. Aber sie weinte bittere Tränen. »Wir wollen versuchen, uns an den Jonathan zu erinnern, den wir gekannt haben.« »O Mike, er ist tot. Tot! Und ich habe ihn so geliebt.« Mike fuhr im Licht der gelben Straßenlaternen weiter. Auf dem Grand Central Speedway wurde er schneller. Sie hielten nach Westen zu. -»Brauchst du einen Arzt?« »Er hat mich nicht verletzt. Er wollte es, aber er hat dagegen
angekämpft. Du hättest ihn sehen sollen, Mike, er hat sich gegen sich selbst gewehrt!« Mike legte seine große Pranke auf ihre Hand. Sie erreichten die Außenbezirke der Stadt und tauchten in das große Dunkel ein, das sich dahinter ausbreitete, und weiter und weiter ging es, irgendwohin, solange es nur weit weg war. Patricia erlaubte sich, wieder an ein normales Leben zu denken, und an Orte, die weit von dem entfernt waren, an dem die Kirche der Nacht das Sagen hatte. Es musste einen solchen Ort geben, sie spürte es; ganz sicher, einen Ort, wo sie Frieden und Sicherheit fand, um das Kind aufzuziehen. Denn ein Kind würde sie haben. Doch es würde nicht das Kind des Ungeheuers sein. Bestimmt hatte Jonathan sich selbst soweit erhalten, um die Pläne der Kirche der Nacht zu durchkreuzen sie wusste es einfach, sie spürte, wie es in ihrem Blut sang. Ein kleines Baby, das kostbare Letzte Jonathans. In seinem Namen würde sie sein Kind tragen. Als die aufgelöste Gemeinde die Kirche verlassen hatte, blieben nur Maiy und Franklin zurück. »Wir werden es ihnen sagen müssen«, sagte Mary. »Sie haben die Hoffnung verloren.« »Lass es eine Prüfung ihres Glaubens sein. Sie werden es rechtzeitig genug erfahren.« Es war alles bestens verlaufen. Perfekt sozusagen. Das heißt, fast. »Banion hat die Pistole vor der Befruchtung gezogen.« »Es wäre fast ins Auge gegangen. Ich habe ihm die Autosuggestion wohl im falschen Augenblick gegeben. Aber es ist einwandfrei zu einer vollständigen Befruchtung gekommen. Sie ist schwanger. Und der Vater war nicht Jonathan, sondern das Monstrum.« »Aber sie glaubt das Gegenteil.« »Natürlich. Sie wird das Kind als Jonathans Baby austragen.« legte einen Arm um den Alten. Er war gebeugt und unter dem Gewicht seiner Jahre. Der nächste große Ritus der Kirche, vermutete sie, würde seine Beerdigung sein. In irgendeiner mondlosen Nacht und nicht mehr fern von heute. Er hat die ganze Strecke zurückgelegt, und jetzt ist er müde. »Ich wünsche ihnen, dass alles gut geht«, sagte er mit seiner altersschwachen Stimme. »Mike wird ausgezeichnete Arbeit leisten, um sie zu schützen.
Darauf kannst du dich verlassen.« Er hustete. »Ich bin erschöpft.« Sie würde ihn bestimmt auf den Kopf stellen, bevor er ihr nicht das letzte kritische Stück Information gegeben hatte. ,,Wohin gehen Sie, Franklin? Du solltest es mir lieber sagen. « »Ich habe Madison in Wisconsin suggeriert.« Namen werden sie verwenden?« Ihr Gynäkologe wird ein junger Arzt namens Jonas sein. Er hat vor einer Woche seine Praxis aufgemacht. Ein guter Junge, aus der Gemeinde Saint John-Märtyrer in Milwaukee schloss die Kirche hinter ihnen ab. Die Luft war kühl und klar. Im Osten hing der Morgenstern tief. »Schau mal, Franklin Luzifer.« in Hand betrachteten sie den Stern ihrer Kirche. Die Menschen nannten ihn Venus, aber Luzifer war sein richtiger Name. Und er war auch kein Stern der Liebe. Als sich das Vormorgengrauen über die stille Umgebung legte, fiel Mary eine erstaunliche Veränderung in der Umgebung der Kirche auf. »Schau mal, Franklin es waren Dämonen bei uns.« Woher weißt du das?« Seine alten Augen waren wohl nicht fähig, die Bäume zu sehen »Die Blätter sie haben in der letzten Nacht die Farbe des Herbstes angenommen.« »Tatsächlich. Das ist schon ein Wunder.« »Ja, ein Wunder.« Mary beobachtete, wie die toten Blätter von einer wütenden kleinen Brise über den Gehsteig getrieben wurden. Wie schön die Welt doch in der Stille war. Leise zuerst in ihrem Herzen vernahm Mary den Choral der Kirche der Nacht, und dann hörte sie, wie er triumphierend aus dem Dunkel und dem Verborgenen aufstieg, um die Welt zu erfüllen. Aeterne rerum conditor.