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Buch: In der Stadt Carradoon erwirbt Cadderly neue Kenntnisse im Umgang mit der Magie: zudem entwickelt er hellseherische Fähigkeiten. Doch Aballister Bonaduce, der machtgierige Magier aus dem rauen Norden, hat eine Bande Assassinen auf Cadderlys Fährte gesetzt. Und so muss der junge Kleriker zusammen mit der schönen Danica einer furchtbaren Gefahr ins Auge sehen. Denn der Meuchelmörder Geist hat die besondere Gabe, mit anderen Wesen den Körper tauschen zu können. Und Cadderlys Tod ist für ihn bereits beschlossene Sache…
R.A.Salvatore
Die Masken der Nacht
DAS LIED VON DENEIR 3
Prolog Der Krieger sah sich nervös in der fast leeren Taverne um. »Nicht viel los heute abend«, stellte der schlanke, etwas schläfrig aussehende Mann fest, der ihm gegenübersaß. Er lehnte sich faul zurück, schlug die Beine übereinander und stützte den mageren Arm darauf. Der größere Mann betrachtete ihn misstrauisch, während es ihm langsam dämmerte. »Und du kennst alle Gäste«, erwiderte er. »Natürlich.« Der Krieger sah sich gerade rechtzeitig um, um zu bemerken, dass der letzte der übrigen Gäste aus der Tür schlüpfte. »Sie sind auf deine Veranlassung hin gegangen?« fragte er. »Natürlich.« »Mako hat dich geschickt.« Der schlanke Mann verzog die Lippen zu einem verschlagenen Grinsen, das noch breiter wurde, als der bullige Kämpfer mit offensichtlicher Verachtung die mageren Arme seines Gegenübers betrachtete. »Um mich zu töten«, endete der Krieger mit mühsam beherrschtem Zorn. Er knetete seine Finger, als ob er etwas bräuchte, um sie beschäftigt zu halten, und verriet dadurch, wie nervös er war. Er leckte sich die trockenen Lippen und blickte sich rasch um, ohne die dunklen Augen dabei länger als einen Moment von dem Assassinen abzuwenden. Ihm fiel auf, dass der Mann Handschuhe trug, einen weißen und einen schwarzen, und er machte sich insgeheim Vorwürfe, nicht aufmerksamer gewesen zu sein. Schließlich antwortete der dünne Mann: »Du wusstest, dass Mako
dir den Tod seines Cousins heimzahlen würde.« »Er hatte selber schuld!« schimpfte der Krieger. »Er war es, der zuerst zugeschlagen hat. Ich hatte keine Wa‐« »Ich bin weder Richter noch Geschworener«, erinnerte ihn der andere. »Nur ein Mörder«, gab der Kämpfer zurück, »der dem dient, der ihm den größten Sack Gold dafür gibt.« Der Assassine nickte. Die Beschreibung beleidigte ihn nicht im geringsten. Er bemerkte, dass sein Opfer verstohlen die Hand in die versteckte Tasche schob, den V‐förmigen Schlitz in seiner Tunika über der rechten Hüfte. »Bitte nicht«, sagte er. Er hatte diesen Mann wochenlang überaus sorgfältig beobachtet und wusste von dem Messer, das dort verborgen war. Der Kämpfer hielt inne und sah ihn ungläubig an. »Natürlich kenne ich den Trick«, erklärte der Assassine. »Verstehst du nicht, lieber, toter Vaclav? Du kannst mich durch nichts überraschen.« Der Mann überlegte, dann protestierte er. »Warum jetzt?« Je frustrierter er wurde, desto zorniger wurde er auch. »Jetzt ist es Zeit«, erwiderte der Assassine. »Ein jedes Ding hat seine Zeit. Sollte es mit dem Töten anders sein? Außerdem habe ich dringend etwas im Westen zu erledigen und kann das Spielchen nicht mehr länger fortführen.« »Du hattest bereits reichlich Gelegenheit, diese Angelegenheit zu erledigen«, wandte Vaclav ein. Tatsächlich war der kleine Kerl seit Wochen immer wieder aufgetaucht, hatte irgendwie sein Vertrauen erlangt, ohne auch nur seinen Namen preiszugeben. Vaclavs Zorn wurde noch größer, als ihm dieser Gedanke kam und er erkannte, dass die schwächliche Gestalt des Mannes – zu schwächlich, um als Bedrohung angesehen zu werden – diesem Vertrauen Vorschub
geleistet hatte. Wenn dieser Mann, der sich jetzt als Feind zeigte, bedrohlicher gewirkt hätte, hätte er ihn nie so nahe an sich herangelassen. »Mehr Chancen, als du denkst«, antwortete der Assassine mit höhnischem Kichern. Der große Mann hatte ihn oft gesehen, aber nicht annähernd so häufig, wie er seinerseits – in unterschiedlichen perfekten Verkleidungen – Vaclav gesehen hatte. »Ich bin stolz auf meinen Beruf«, fuhr der Assassine fort, »anders als viele der simplen Killer, die durch die Welt ziehen. Die halten lieber Abstand, bis sich die Gelegenheit zum Zuschlagen von selbst ergibt, aber ich«, seine Knopfaugen flackerten vor Stolz, »ziehe es vor, die Sache persönlicher zu gestalten. Ich war die ganze Zeit in deiner Nähe. Mehrere deiner Freunde sind tot, und jetzt kenne ich dich so gut, dass ich jede deiner Bewegungen vorhersehen kann.« Vaclavs Atem ging schneller. Mehrere seiner Freunde tot? Und dieser Schwächling bedrohte ihn so offen? Er hatte zahllose Monster besiegt, die zehnmal so schwer waren wie der hier, hatte in drei Kriegen ehrenvoll gedient, hatte sogar einen Drachen geschlagen! Dennoch bekam er es jetzt mit der Angst zu tun, das musste er zugeben. Etwas an dieser ganzen Szene mochte nicht so recht passen, was sie um so schauerlicher machte. »Ich bin ein Künstler«, schwatzte der schmächtige Mann weiter. »Deshalb irre ich mich nie, deshalb überlebe ich, obwohl so viele andere gedungene Mörder ein vorzeitiges Ende finden.« »Du bist ein einfacher Killer, weiter nichts!« schrie der große Mann, dessen Frustration nicht mehr zu bändigen war. Er sprang auf und zog ein riesiges Schwert. Ein scharfer Schmerz hielt ihn auf, und irgendwie sackte er auf die Bank zurück. Er zwinkerte, um das alles irgendwie zu begreifen, denn er sah sich selbst in der leeren Gaststube sitzen, starrte tatsächlich in sein eigenes Gesicht! Er riss den Mund auf, als er – sein eigener Körper! – das schwere Schwert wieder in die Scheide steckte.
»So plump«, hörte Vaclav seinen eigenen Körper sagen. Er sah an sich hinab, sah die Gestalt an, in der er nun steckte, die schwache Gestalt des Mörders. »Und so schmutzig«, fuhr der Assassine fort. »Wie…?« »Ich fürchte, ich habe keine Zeit für Erklärungen«, erwiderte der Assassine. »Wie heißt du?« schrie Vaclav, dem jede Ablenkung recht war. »Geist«, antwortete der Assassine. Er gab sich einen Ruck, denn er war sicher, dass die scheinbar androgyne Gestalt, die er so gut kannte, nicht schnell genug sein würde, um ihm zu entkommen, und nicht stark genug, um ihn abzuwehren. Vaclav spürte, wie er selbst vom Boden gehoben wurde, spürte, wie sich die riesigen Hände um seinen Hals legten. »Wessen Geist?« brachte der verzweifelte Mann noch heraus. Er trat so fest zu, wie sein neuer Körper es gestattete, ein armseliger Angriff gegen die breite, kräftige Gestalt, die sein Feind jetzt besaß. Dann ging ihm die Luft aus. Vaclav hörte seine Knochen knacken, und das war das letzte Geräusch, das er jemals hören würde. »Niemandes Geist«, antwortete der siegreiche Mörder. »Einfach ›Geist‹.« Dann setzte er sich hin, um auszutrinken. Was für eine perfekte Arbeit; wie leicht es gewesen war, Vaclav in eine so verwundbare Lage zu locken! »Ein Künstler«, sagte Geist und hob den Krug, um sich selbst zuzuprosten. Sein gewohnter Körper würde bis Sonnenaufgang magisch wiederhergestellt sein, dann konnte er ihn wieder übernehmen und die leere Hülle von Vaclavs Leiche zurücklassen. Geist hatte nicht gelogen, als er von dringenden Geschäften im Westen gesprochen hatte. Ein Zauberer hatte mit der Gilde der Assassinen Kontakt aufgenommen und schwindelerregende
Summen für eine einfache Hinrichtung geboten. Es musste ein wirklicher hoher Preis gewesen sein, soviel wusste Geist, denn seine Oberen hatten ihn gebeten, sich persönlich der Aufgabe anzunehmen. Der Zauberer wollte anscheinend den Besten. Der Zauberer wollte einen Künstler.
Friedliche Felder Cadderly schlenderte langsam von dem einsamen Steinturm jenseits der Felder nach Carradoon, in die Stadt am See, zurück. Der Herbst hatte Einzug gehalten; die wenigen Bäume an Cadderlys Weg, vornehmlich roter Ahorn, leuchteten prächtig in ihrem herbstlichen Gewand. Die Sonne strahlte heute hell und warm, doch die kühlen Böen aus den nahen Schneeflockenbergen waren stark genug, Cadderlys blauen Seidenumhang beim Gehen hinter ihm aufzubauschen, stark genug, die breite Krempe seines ebenfalls blauen Hutes umzuknicken. Der junge Gelehrte merkte nichts davon. Abwesend strich sich Cadderly die dunkelblonden Locken aus der Stirn, um dann frustriert festzustellen, dass seine ungekämmten Haare, die viel länger waren, als er sie gewöhnlich trug, trotzig wieder zurückfielen. Er strich sie wieder weg und noch einmal, bis er sie schließlich fest unter den Hutrand stopfte. Kurze Zeit später kam Carradoon in Sicht. Die Stadt lag am Ufer des weiten Impresksees und war von heckengesäumten Weiden voller Schafe und Rinder und von erntereifen Feldern umgeben. Die Stadt selbst lag – wie die meisten Städte der Welt – hinter Mauern. Hinter diesem Schutzwall drängten sich zahlreiche mehrstöckige Gebäude gegen ständig gewärtige Gefahren aneinander. Eine lange Brücke verband Carradoon mit einer nahen Insel, dem Stadtteil, der den wohlhabenderen Kaufleuten und Verwaltungsbeamten vorbehalten war. Wie immer, wenn er diesen Weg entlangkam, betrachtete Cadderly die Stadt mit gemischten Gefühlen. Er war in Carradoon geboren, aber an jenen frühen Teil seines Lebens konnte er sich nicht mehr erinnern. Cadderlys Blick schweifte von der Stadt mit ihren
Mauern nach Westen zu den hoch aufragenden Schneeflockenbergen, zu den Pässen, die in die Berge führten, wo die Erhebende Bibliothek lag, eine abgeschirmte, sichere Bastion der Gelehrsamkeit. Dort war Cadderlys Zuhause gewesen, doch inzwischen war ihm klar, dass es jetzt nicht mehr dort lag. Deshalb fand er auch, dass er nicht zurückkehren durfte. Er war kein armer Mann – der Zauberer in dem Turm, den er gerade verlassen hatte, hatte ihm einst eine enorme Summe für die Neuschrift eines verlorenen Zauberbuchs gezahlt. Er hatte ausreichende Mittel, um sich ein relativ behagliches Leben leisten zu können. Aber alles Gold der Welt konnte Cadderly weder ein Zuhause verschaffen noch den Aufruhr in seinem Geist mildern. Cadderly war erwachsen geworden. Zu plötzlich hatte er die Wahrheit über die gewalttätige, ganz und gar nicht perfekte Welt erfahren. Der junge Gelehrte war Situationen ausgesetzt gewesen, die seine Erfahrungen überstiegen, er war in die Rolle eines heldenhaften Kriegers gedrängt worden, während er doch in Wahrheit nur Abenteuer in alten Legendenbüchern lesen wollte. Cadderly hatte vor kurzem einen Menschen getötet und in einem Krieg gekämpft, der einen einst jungfräulich unberührten Wald verbrannt, zerfetzt und auf Dauer gezeichnet hatte. Jetzt hatte er keine Antworten mehr, nur noch Fragen. Cadderly dachte an sein Zimmer in der »Drachenbörse«, wo das Buch der Universellen Harmonie, das kostbarste Buch des Gottes Deneir, aufgeschlagen auf dem kleinen Schreibtisch lag. Cadderly hatte es von Pertelope erhalten, einer hochrangigen Priesterin seines Ordens, die ihm versprochen hatte, dass Cadderly zwischen diesen dicken Buchdeckeln seine Antworten finden würde. Der junge Gelehrte wusste nicht recht, ob er daran glaubte. Er saß auf einer grasbewachsenen Anhöhe über der Stadt, kratzte sich die Bartstoppeln und fragte sich wieder, welchen Sinn und Zweck er in
diesem verwirrenden Leben hatte. Er setzte seinen breitkrempigen Hut ab und starrte auf die Porzellaninsignien, die an das rote Hutband gesteckt waren: ein Auge und eine einzelne Kerze, das heilige Symbol des Deneir, des Gottes der Literatur und der Künste. Cadderly hatte Deneir gedient, solange er denken konnte, obwohl er sich nie wirklich sicher gewesen war, woraus dieser Dienst bestand und welchen echten Zweck es haben könnte, sein Leben überhaupt einem Gott zu verschreiben. Er war ein Gelehrter und ein Erfinder und glaubte von ganzem Herzen an die Macht des Wissens und des Schöpfens, zwei sehr wichtige Grundsätze im Orden des Deneir. Erst kürzlich hatte Cadderly die Erfahrung gemacht, dass der Gott mehr war als ein Symbol, mehr als ein vorgegebenes Ideal, dem sich die Gelehrten anpassen sollten. Im Elfenwald hatte Cadderly das Aufkeimen von Kräften gespürt, die er noch nicht einmal ansatzweise verstand. Er hatte auf magische Weise die Wunde eines Freundes geheilt, die sich sonst als tödlich erwiesen hätte. Er hatte übernatürliche Einsicht in die Geschichte der Elfen erlangt – nicht nur die aufgeschriebenen Ereignisse, sondern die Gefühle, die zauberhafte Aura, die dieser alten Rasse ihre Identität verlieh. Er hatte erstaunt zugesehen, wie der Geist eines edlen Pferdes sich aus seinem gefällten Körper erhob und feierlich davonschritt. Er hatte eine Dryade in einem Baum verschwinden sehen und dem Baum befohlen, das flüchtende Geschöpf wieder herauszugeben – und der Baum hatte seinen Befehl befolgt! Für den jungen Cadderly bestand kein Zweifel: Mächtige Magie umgab ihn, gewährte ihm diese erschreckenden Kräfte. Seine Glaubensbrüder nannten diese Magie Deneir und hielten sie für etwas Gutes, doch angesichts seiner Taten, angesichts dessen, was aus ihm geworden war, und der Schrecken, die er miterlebt hatte, war Cadderly nicht so sicher, ob er Deneir an seiner Seite wissen wollte. Er stand auf und setzte seinen Weg zu der ummauerten Stadt fort, ins Gasthaus »Zur Drachenbörse«, zum Buch der Universellen
Harmonie, wo er vielleicht Antworten und Frieden finden würde. Er konnte nur darum beten. Er blätterte die Seite um, während seine Augen verzweifelt versuchten, in dem Bruchteil einer Sekunde, den er zum neuerlichen Umblättern brauchte, die neuen Informationen zu überfliegen. Es war unmöglich. Cadderly konnte seinem Bedürfnis, seinem unersättlichen Hunger weiterzublättern, nicht standhalten. In Minutenschnelle war er mit dem Buch der Universellen Harmonie fertig, einem Werk von fast zweitausend Seiten. Frustriert und voller Furcht knallte er das Buch zu und wollte von seinem kleinen Tisch aufstehen. Vielleicht sollte er einen Spaziergang machen oder Brennan suchen, den Sohn des Wirts, mit dem er sich angefreundet hatte. Das Buch langte nach ihm, bevor er sich erheben konnte. Mit trotzigem Fauchen drehte der junge Gelehrte es wieder um und begann von neuem mit der hektischen Leserei. Die Seiten blätterten sich wie von selbst; Cadderly konnte auf jeder Seite allerhöchstens ein oder zwei Worte lesen, und doch erklang das Lied des Buches, erschienen die besonderen Bedeutungen hinter den einfachen Worten deutlich in seinem Kopf. Es kam ihm vor, als lägen alle Mysterien des Universums in dieser süßen und melancholischen Melodie verborgen, einem Lied von Leben und Sterben, von Erlösung und Verdammnis, von ewiger Energie und eindeutigem Ende. Er hörte auch Stimmen – uralte Dialekte und ehrfürchtige Töne – in den tiefsten Winkeln seines Geistes singen, aber er konnte keines der Worte verstehen, wie bei den geschriebenen Worten auf den Seiten des Buches. Cadderly konnte sie als Ganzes sehen, sah nicht die Buchstaben an sich, sondern deren Färbung. Er merkte, wie seine Kräfte rasch nachließen, als er sich weiter bemühte. Seine Augen schmerzten, aber er konnte sie nicht
schließen. Sein Geist raste in zu viele Richtungen, erschloss Geheimnisse und verwahrte diese dann in besser geordneter Form wieder in Cadderlys Unterbewusstsein. Während der kurzen Übergänge von einer Seite zur anderen konnte Cadderly sich nur noch wundern, ob er wohl verrückt werden oder ob das Werk ihn emotional verschlingen würde. In diesem Augenblick wurde ihm etwas anderes klar, und dieser Gedanke gab ihm endlich die Kraft, das Buch zuzuschlagen. Mehrere hochrangige Priester des Deneir in der Erhebenden Bibliothek waren tot aufgefunden worden. Sie hatten genau über diesem Buch gebrütet. Es hatte immer so ausgesehen, als seien sie eines natürlichen Todes gestorben – alle diese Priester waren viel älter gewesen als Cadderly –, aber Cadderlys Einsicht verriet ihm etwas anderes. Sie hatten versucht, das Lied des Deneir zu hören, das Lied der universellen Mysterien, aber sie waren nicht stark genug gewesen, die Wirkung dieser seltsamen, schönen Musik zu kontrollieren. Es hatte sie verschlungen. Stirnrunzelnd sah Cadderly den schwarzen Einband des geschlossenen Buches an, als wäre es etwas Dämonisches. Das war es nicht, erinnerte er sich, und bevor seine Ängste noch widersprechen konnten, öffnete er das Buch noch einmal am Anfang und begann sein verzweifeltes Blättern. Melancholie überkam ihn. Die Türen vor den Geheimnissen schwangen weit auf, und ihr Inhalt suchte sich einen Platz in Cadderlys aufnahmefähigem Geist. Irgendwann fielen dem jungen Gelehrten vor Erschöpfung die Augen zu, aber noch immer ertönte das Lied, die Musik der himmlischen Sphären, und erzählte von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang und all den Kleinigkeiten, die sich bis in alle Ewigkeit dazwischen abspielten. Es ging weiter und weiter, ein Lied ohne Ende, und Cadderly merkte, wie er auf es zustürzte, wie er zu einer einzelnen Note
zwischen unendlich vielen einzelnen Noten wurde. Tiefer und tiefer… »Cadderly?« Der Ruf kam von weit weg, wie aus einer anderen Welt vielleicht. Cadderly fühlte, wie ihm eine kühle, sehr materielle Hand an die Schulter fasste und ihn langsam umdrehte. Schläfrig schlug er ein Auge auf und sah den schwarzen Lockenschopf und das strahlende Gesicht des jungen Brennan. »Alles in Ordnung?« Cadderly brachte ein schwaches Nicken zustande und rieb sich die müden Augen. Er setzte sich richtig hin. Sein steifer Körper schmerzte an allen möglichen Stellen. Wie lange hatte er geschlafen? Es war kein Schlaf gewesen, stellte der junge Gelehrte da zu seinem wachsenden Schrecken fest. Die Müdigkeit, die ihn übermannt hatte, war zu tief, um durch einfaches Schlafen kuriert zu werden. Was dann? Es war eine Reise, spürte er. Er kam sich vor, als wäre er auf einer Reise gewesen. Aber wohin? »Was hast du gelesen?« fragte Brennan und reckte den Hals, um in das offene Buch zu starren. Seine Worte rüttelten Cadderly aus seinen Gedanken. In plötzlichem Entsetzen schubste er Brennan weg und schlug das Buch zu. »Nicht hinsehen!« antwortete er schroff. Brennan wirkte verblüfft. »Ich… tut mir leid«, entschuldigte er sich verwirrt. »Ich wollte nicht –« »Nein«, unterbrach Cadderly und zwang sich zu einem entwaffnenden Lächeln. Er hatte den jungen Burschen nicht verletzen wollen, der in den letzten paar Wochen so freundlich zu ihm gewesen war. »Du hast nichts Falsches getan. Aber versprich mir, dass du nie wieder in dieses Buch siehst – außer wenn ich dabei bin und dich anleite.« Brennan rückte einen Schritt vom Tisch ab und beäugte das
geschlossene Buch mit echter Furcht. »Es ist magisch«, gab Cadderly zu, »und demjenigen, der nicht weiß, wie es richtig zu lesen ist, kann es Schaden zufügen. Ich bin nicht wütend auf dich – wirklich nicht. Du hast mich nur erschreckt.« Brennan nickte, schien aber nicht überzeugt. »Ich habe dein Essen gebracht«, erklärte er, während er auf ein Tablett zeigte, das er auf dem Nachttisch neben Cadderlys schmalem Bett abgestellt hatte. Cadderly lächelte bei diesem Anblick. Der zuverlässige Brennan. Als Cadderly in die »Drachenbörse« gekommen war, hatte er allein sein wollen und deshalb mit Fredegar Harriman, dem Wirt, verabredet, dass ihm seine Mahlzeiten vor die Tür gestellt werden sollten. Diese Übereinkunft war allerdings bald geändert worden, nachdem Cadderly den freundlichen Brennan kennengelernt hatte. Inzwischen durfte der junge Mann Cadderlys Raum betreten und die Essensteller – stets voller, als vom Preis her zu erwarten gewesen wäre – persönlich abliefern. Obwohl Cadderly sich nach all den Schrecken des Kriegs in Shilmista mürrisch und kühl gab, hatte er bald festgestellt, dass er dieser wenig bedrohlichen Kameradschaft nicht widerstehen konnte. Cadderly sah den Teller mit seinem Abendessen lange an. Er bemerkte ein paar Krümel auf dem Boden, einige von Kuchen, einige auch dunkler – die Kruste des Mittagsbrots, wie er erkannte. Die Vorhänge an seinem kleinen Fenster waren zugezogen und die Lampe heruntergedreht und dann wieder hochgedreht worden. »Du konntest mich die letzten drei Male, als du hier warst, nicht aufwecken?« fragte er. Brennan stotterte, denn er fragte sich, woher Cadderly wusste, dass er schon dreimal im Zimmer gewesen war. »Drei Male?« fragte er zurück.
»Um das Frühstück und das Mittagessen abzuliefern«, meinte Cadderly. Dann hielt er inne, denn er erkannte, dass er nicht wissen dürfte, was er wusste. »Dann noch einmal, um nach mir zu sehen, als du die Lampe wieder hochgedreht und die Vorhänge zugezogen hast.« Als er Brennan wieder ansah, war er überrascht. Fast hätte er einen Warnschrei ausgestoßen, doch schnell wurde ihm klar, dass die Bilder, die er auf den Schultern des jungen Mannes tanzen sah – Schattengestalten spärlich bekleideter Tanzmädchen und körperloser Brüste –, von Brennan selber stammten. Sie waren die Auslegung seines eigenen Geistes. Cadderly wandte sich ab und schloss die Augen. Auslegung wovon? Wieder hörte er von fern das Lied. Diesmal war es ein besonderer Gesang, der unaufhörlich dieselben Silben wiederholte, obwohl Cadderly die Worte immer noch nicht verstand. Bis auf eines: Aurora. »Alles in Ordnung?« fragte Brennan abermals. Cadderly nickte. Als er den Jungen wieder ansah, erschreckten ihn die tanzenden Schatten nicht mehr so. »Ja«, erwiderte er mit fester Stimme. »Und ich habe dich länger aufgehalten, als du dir wünschst.« Brennans Gesicht war ein lebendes Fragezeichen. »Sei bloß vorsichtig bei den Nachtfaltern«, warnte Cadderly, der auf den schäbigen Privatklub am Ende der Promenade am Ostrand von Carradoon anspielte, nahe der Stelle, wo der Impresksee in den Shalane überging. »Wie kommt ein Junge deines Alters da überhaupt rein?« »Wie…«, stotterte Brennan, und sein pickliges Gesicht lief knallrot an. Cadderly entließ ihn mit einer Geste und einem breiten Grinsen. Die tanzenden Schattenbrüste auf Brennans Schulter zerbarsten in
einen Haufen schwarzer Kleckse. Offenbar hatte Cadderlys Vermutung die drängenden Hormone des jungen Burschen schachmatt gesetzt. Kurzfristig, wie der Gelehrte erkannte, als Brennan auf die Tür zulief, denn die Schatten bildeten sich bereits von neuem. Cadderlys Lachen ließ Brennan herumfahren. »Du sagst doch nichts zu meinem Vater?« bettelte er. Cadderly winkte ab und musste sich anstrengen, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Brennan zögerte verwirrt, aber dann fiel ihm ein, dass Cadderly sein Freund war, und er entspannte sich wieder. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und ein Tanzmädchen hockte sich auf seine Schulter. Er schnipste mit den Fingern und verließ eilig das Zimmer. Cadderly starrte lange auf die geschlossene Tür und die verräterischen Krümel auf dem Boden neben seinem Nachttisch. Es war alles so offensichtlich gewesen: sowohl was sich in dem Raum abgespielt hatte, während er geschlafen hatte, als auch Brennans Absichten auf eine Nacht voller verbotener Freuden. So offensichtlich, und doch wusste Cadderly, dass es so nicht hätte sein dürfen. »Aurora?« flüsterte er fragend. »Die Morgenröte?« Verwirrt schüttelte er den Kopf. Was hatte die Morgenröte wohl mit den Schatten tanzender Mädchen auf Brennans Schultern zu tun? Der junge Priester warf einen Blick auf sein Buch. Würde er dort eine Antwort finden? Er musste sich zum Essen zwingen, aber er wusste, dass er für die nächsten Stunden all seine Kräfte brauchen würde. Bald danach war der körperliche Hunger gestillt, aber ein anderer begann wieder an ihm zu nagen, und Cadderly vertiefte sich erneut in das Buch der Universellen Harmonie. Die Seiten blätterten sich wie von selbst, und das Lied erklang von neuem.
Aufräumen Danica pustete sich eine Locke ihres rötlichblonden Haars aus den Augen und spähte den Waldpfad hinunter, um nach dem Feind Ausschau zu halten. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Sind die Zwerge an ihrem Platz?« fragte Elbereth, der neue König der Elfen von Shilmista, der seine Aufmerksamkeit mehr auf die Bäume am Rande des Pfads als auf den Weg selbst konzentrierte. Zwei andere Elfen, eine goldhaarige Kriegerin und einer mit ebenso auffällig schwarzem Haar wie Elbereth, traten zu den Freunden. »Ich gehe davon aus, dass die Zwerge rechtzeitig fertig sind«, versicherte Danica dem Elfenkönig. »Ivan und Pikel haben uns noch nie im Stich gelassen.« Die drei Elfen nickten. Elbereth musste unwillkürlich lächeln. Er dachte an seine erste Begegnung mit den grantigen Zwergen, als Ivan, der starrköpfigere der beiden, ihn hilflos gefesselt als Gefangenen ihrer Feinde vorgefunden hatte. Niemals hätte der Elf geglaubt, dass er den bärtigen Brüdern bald so bedingungslos vertrauen würde. »Die Dryade ist zurück«, sagte der schwarzhaarige Elfenzauberer Tintagel zu Elbereth. Er lenkte den Blick des Elfenkönigs zu einem nahen Baum, wo jetzt die braunhäutige, grünhaarige Hammadeen hinter dem Stamm hervorlugte. »Sie berichtet, dass der Feind bald hier sein wird«, bemerkte Shayleigh, die Elfenkriegerin. Der drängende Klang ihrer Stimme und das plötzliche Funkeln, das in ihre Veilchenaugen trat, erinnerte Danica an die Kampflust der feurigen Elfin. Danica hatte Shayleigh mit Schwert und Bogen »spielen« sehen, und sie stimmte mit Ivan Felsenschulters Aussage überein, dass er froh sei, Shayleigh auf seiner Seite zu wissen. Zusammen kehrten sie zum Rest ihrer Truppe
zurück, etwa vierzig von Elbereths Leuten, fast die Hälfte der verbliebenen Elfen aus Shilmista. Tintagel musterte die Umgebung einen Augenblick, dann begann er, die Elfen an beiden Seiten des Pfades aufzustellen. Dabei berücksichtigte er, wer besser im Nahkampf war und wer ein größeres Talent für den Langbogen besaß. Er rief Danica zu sich und begann mit seinem Zaubergesang, während er an den Elfen vorbeischritt und weiße Birkenrindenstückchen über sie warf. Als er sich dem Ende des Spruches näherte, nahm Tintagel seine eigene Position ein – Danica stellte sich wie gewöhnlich direkt neben ihn – und warf Rindenstückchen über sich und seine menschliche Leibwache. Dann war es vollbracht. Wo zuvor Danica und gut vierzig Elfenkrieger gestanden hatten, sah man nun unauffällige Birkenreihen. Danica, unsicher in dieser neuen Verkleidung, sah nach dem Wald, der sie umgab. Er kam ihr jetzt unscharf und neblig vor, mehr ein Gefühl als ein deutliches Bild. Sie konzentrierte sich auf den Pfad, denn sie wusste, dass sie und Tintagel sich ihrer Umgebung bewusst bleiben mussten. Sie mussten bereit sein, aus dem Gestaltwandlungszauber herauszutreten, sobald Ivan und Pikel angriffen. Sie fragte sich, wie sie als Baum aussah. Wie immer, wenn Tintagel diesen Zauber wirkte, bemerkte sie, dass sie ganz gern mal eine Zeitlang in Ruhe in dieser Form verharren würde, nur den Wald um sich her betrachten und die Kraft in ihren verwurzelten Füßen spüren. Aber jetzt stand ihnen ein Kampf bevor. »Ei«, seufzte Pikel Felsenschulter, ein kräftiger Zwerg mit einem grüngefärbten Bart, der ihm zusammengeflochten über den halben Rücken hing. Er beobachtete das ferne Schauspiel von Tintagels Zauber. Seine Sehnsucht war unverkennbar, und beinahe wäre er aus dem Baum gepurzelt, auf dem er saß.
»Nein, du nicht!« flüsterte sein Bruder scharf von der anderen Seite des Weges herüber. Ivan verabscheute Pikels druidische Anwandlungen. Er steckte seinen gelben Bart in den breiten Gürtel und rutschte auf dem Ast herum, um auf diesem höchst unzwergischen Ausguck eine bequeme Position zu finden. Auf dem Kopf trug er seinen Helm mit dem Hirschgeweih, und in einer Hand hielt er eine Keule aus dem dicken Stamm eines toten Baums. Ein schweres Seil war um seinen Bauch geknotet und um einen Ast geschlungen, der zur Hälfte über den Pfad ragte. Ivan hatte den luftigen Sitz akzeptiert, weil er wusste, welchen Spaß er haben würde, aber die Vorstellung, in einen Baum verwandelt zu werden, war dann doch zu viel gewesen. Er hatte gestreikt – trotz des Protestgejammers seines Bruders, der so gern ein Druide werden wollte. Ivan hatte einen Kompromiss angeboten und Tintagel nach einer Variante seines mächtigen Zaubers gefragt, aber der Elfenzauberer hatte abgelehnt. Er hatte nicht die Macht, jemanden in einen Stein zu verwandeln. Pikel hatte es auf der anderen Wegseite sehr viel bequemer. Auch er hatte ein Seil um den Bauch, das andere Ende von Ivans Seil, und seine Baumstammkeule in der Hand. Aber keine Bequemlichkeit der Welt kam gegen seine Betrübnis an, denn er wäre so gerne auch ein Baum in Shilmistas Erde geworden, wie seine Elfenfreunde. Kehliges Goblinknurren unten auf dem Pfad machte die Zwerge darauf aufmerksam, dass der Feind nahte. »Strauchdiebe«, flüsterte Ivan mit breitem Lächeln, um seinen eingeschnappten Bruder etwas aufzuheitern. Ivan wollte nicht, dass Pikel in diesem entscheidenden Moment schmollte. Beide Zwerge packten ihre Keulen fester. Bald kam die feindliche Bande genau unter ihnen vorbei, hässliche Goblins mit mageren Armen, dazwischen schweinsgesichtige Orks und große Orogs. Ivan musste sich zwingen, nicht auf die verhassten Gegner zu spucken. Er musste sich erinnern, dass sie mehr Spaß
haben würden, wenn er und sein Bruder ihre Stellung noch ein kurzes Weilchen länger halten konnten. Dann kam – wie die Dryaden‐Späherin angekündigt hatte – der Riese in Sicht, der langsam den Pfad hinuntertrottete und von seiner Umgebung nicht viel wahrzunehmen schien. Der Dryade zufolge war er der letzte Riese in Shilmista, und Ivan hatte nicht vor, den Unhold in seine Bergheimat zurücktrampeln zu lassen. »Strauchdiebe«, flüsterte Ivan wieder. So hatte er sich und seinen Bruder genannt, und dieser Riese da unten würde nur zu bald merken, dass mit diesen Strauchdieben nicht gut Kirschen essen war. Der riesige Kopf wippte immer näher. Plötzlich blieb ein Goblin stehen und schnüffelte. Zu spät. Ivan und Pikel hoben ihre Keulen, nickten einander zu und schwangen sich auf den Pfad hinunter. Sie hatten den Zeitpunkt perfekt abgepasst, und der nichtsahnende Riese stand zwischen ihnen, den Blick geradeaus, den Kopf genau auf der richtigen Höhe. Pikel traf nur einen Sekundenbruchteil vor Ivan, so dass die schweren Keulen den Kopf des Ungeheuers mit einem gewaltigen Knall von beiden Seiten erwischten. Sofort ließ Ivan seine blutige Keule fallen und zog statt dessen die von ihm bevorzugte Doppelaxt. Unten auf dem Pfad gerieten die kleineren Monster in Panik, stießen und schubsten sich, fielen hin und stoben in alle Richtungen auseinander. In den letzten paar Wochen hatten sie viele ihrer Kumpane verloren, und sie wussten, was folgen würde. Der Zauberer Tintagel rief die Enttarnungssilbe. Danica und vierzig Elfen hinter ihr verwandelten sich zurück. Bogensehnen wurden gespannt, glänzende Schwerter wurden geschwungen. Der benommene Riese wankte, hielt jedoch dummerweise störrisch das Gleichgewicht. Also gingen Ivan und Pikel, die fast zwanzig Fuß über dem Waldweg baumelten, an die Arbeit.
Ivans Axt schlug ein Ohr ab; Pikels Keule zermalmte die Nase des Monsters. Wieder und wieder schlugen sie auf den Giganten ein. Sie wussten, dass sie hier oben verwundbar waren. Wenn der Riese auch nur einen einzigen Treffer landete, würde einer von ihnen wahrscheinlich bis halb zur Erhebenden Bibliothek fliegen. Aber augenblicklich dachten die Brüder nicht an solch ungünstige Aussichten – sie hatten viel zuviel Spaß. Unten auf dem Weg schwirrten die Sehnen der Elfenbögen, und ein Pfeilhagel nach dem anderen fand seine Ziele. Goblins, Orks und Orogs starben in Scharen. Andere schrien vor Angst und Qual, und die Elfen rückten gnadenlos vor. Mit Schwertern hackten sie auf die abscheulichen Invasoren ein, auf die Ungeheuer, die die kostbare Heimat der Elfen so verwüstet hatten. Danica bemerkte, wie eine Gruppe von Feinden seitlich durch die Bäume davonschlüpfen wollte. Sie rief nach Tintagel, dann nahm sie eilig die Verfolgung auf und griff nach ihren Dolchen mit den Kristallklingen. Der Goldgriff des einen hatte die Form eines Tigers, das silberne Heft des anderen sah wie ein Drache aus. Der Schlag von Pikels Keule riss den Riesenkopf so brutal nach hinten, dass die Zwerge das scharfe Knacken im Rückgrat des gewaltigen Monsters hörten. Irgendwie hielt der Riese noch einen Moment das Gleichgewicht, obwohl er benommen und verwirrt und schließlich sehr tot aussah. Dann kippte er nach vorn wie ein gefällter Baum. Rasch überschaute Ivan den Pfad vor dem fallenden Ungetüm. »Zwei!« schrie der Zwerg, und der Riesenkörper begrub im Fallen zwei unglückselige Goblins. »Du schuldest mir ein Goldstück!« jubelte Ivan, und Pikel nickte glücklich. Er war mehr als bereit, die Wettschuld zu bezahlen. »Gleich weiter?« schrie Ivan. »Ei, ei!« antwortete Pikel begeistert. Ohne seinen Bruder
vorzuwarnen, griff er nach einem nahen Zweig und zog sich schnell die Schlinge vom Leib, um sich von seinem Ende des Seils zu befreien. Ivan konnte nur noch die Augen aufreißen, doch die unvermeidlichen Flüche auf seinen Bruder würden warten müssen, denn er nahm einen direkteren Weg zum Boden. Zum Glück landete er wenigstens direkt auf einem Goblin. Dreck und Flüche spuckend, kam der gelbbärtige Zwerg wieder auf die Beine. Beiläufig ließ er die schwere Axt auf den Hinterkopf des verwundeten Goblins krachen, um dessen Gejammer ein Ende zu setzen. Dann schaute er zu seinem Bruder zurück, der den Baum auf weniger überstürzte Art verließ. Pikel zuckte die Schultern und lächelte nur. »Huppsala«, bot er an. Ivan formte das Wort im selben Augenblick schweigend mit den Lippen, denn er hatte genau diesen nur allzu vertrauten Kommentar erwartet. »Warte, bis du unten bist… «, begann Ivan, doch plötzlich drangen Goblins auf ihn ein. Ivan schrie begeistert auf und vergaß jeden Zorn, den er gegen Pikel hegte. Der Spaß hier unten machte den unsanften Aufprall längst wett. Der Anführer der flüchtenden Goblinbande hastete durch das dichte Unterholz. Er wollte nur noch dem Gemetzel entkommen, aber er blieb mit dem Knöchel an einer der vielen kreuz und quer verlaufenden Wurzeln hängen und musste sich unsanft losreißen. Dann blieb er wieder hängen, aber diesmal kam er nicht so leicht wieder frei. Der Goblin quietschte und zog. Als er sich umsah, erblickte er allerdings keine Wurzel, sondern eine Frau, die mit bösem Lächeln seinen Knöchel festhielt. Danica drehte den Arm mit einem plötzlichen Ruck und sprang aus ihrer Deckung hoch, wodurch sie den armen Goblin umwarf. Augenblicklich war sie über dem Ungeheuer, wehrte mit der freien
Hand die vergeblichen Schläge ihres verzweifelten Gegners ab und führte mit der linken Hand, mit dem goldenen Dolch, einen tödlichen Stoß. Danica brauchte selten mehr als einen Treffer. Sie wandte sich von dem toten Goblin ab, um seinen überraschten Kameraden offen ins Gesicht zu sehen, die sie ihrerseits verwirrt anstarrten, weil sie nicht recht wussten, was sie von dieser Frau zu halten hatten. Wo war sie hergekommen? Warum war sie allein? Kein Blatt, kein Busch in der Umgebung regte sich, doch hinten auf dem Pfad ging der Kampf weiter. Mit diesem Gedanken im Sinn rief ein Orog zum Angriff. Wenigstens ein Opfer wollte er in dieser Katastrophe erwischen. Von drei Seiten stürzten die Ungeheuer durch Büsche und Dornen auf Danica zu und wurden mit jedem Schritt mutiger. Elbereth sprang von einem Ast oberhalb von Danica. Seine glitzernde Rüstung verriet seine besondere Stellung im Elfenclan. Einige der Gegner blieben auf der Stelle stehen, die anderen wurden langsamer. Neugierig sahen sie zwischen dem Elfen, der Frau und ihren weniger tapferen Kameraden hin und her. Hinter einem Baum tauchte die Elfin Shayleigh auf und ließ augenblicklich ihren Bogen surren, um das Monster, das ihren Freunden am nächsten war, zu Fall zu bringen. Die Orogs riefen zur Flucht auf – ein Kommando, dem Goblins stets gern Folge leisteten. Elbereth und Danica jedoch waren schneller und stürzten sich in einem wütenden Ausfall auf die nächsten Goblins, während Shayleigh sich mit ihren Pfeilen auf die Orogs konzentrierte. Die Ungeheuer, die nicht in den Kampf verwickelt waren, rannten wild davon, um zwischen den dichten Bäumen und Sträuchern zu entkommen. Eine Nebelwand rollte vor ihnen heran. Entsetzte Goblins kamen
schlitternd zum Stehen. Die Orogs hinter ihnen stießen sie weiter, denn sie wussten, wer anhielt, würde sterben. Ein Pfeil traf einen Orog in den Rücken, ein anderer folgte den Bruchteil einer Sekunde später, und die verbliebenen beiden Orogs schoben den vordersten Goblin in den Nebel. Tintagel, der oben im Geäst zusah, sprach schnell einen anderen Spruch, der seine Stimme weit in das vom Nebel verhüllte Gebiet schickte. Seine Nebelmauer war harmlos, aber die qualvollen Schreie, die plötzlich daraus ertönten, ließen die zögernden Ungeheuer etwas anderes glauben. Drei Pfeile streckten einen weiteren Orog nieder. Das letzte Ungeheuer suchte verzweifelt hinter den Goblins Deckung. Es schlich sich zur Seite der Gruppe, wo es die Nebelwand umrunden wollte… aber statt dessen traf es auf Elbereth und Elbereths Schwert. »Wird auch Zeit, dass du endlich kommst!« knurrte Ivan, als Pikel schließlich von dem turmhohen Baum heruntergeklettert war und sich an seine Seite gesellte. Da Ivan viele Schritte von der Elfentruppe entfernt stand und reichlich Gegner zwischen ihm und ihnen waren, hatte er bereits einiges leisten müssen. Dennoch war der gewiefte Zwerg ohne ernsthafte Verletzung davongekommen, denn der Großteil der Gegner war mehr am Entkommen interessiert als am Kämpfen. Und den Goblins war rasch klar geworden, dass jeder, der sich in die Reichweite von Ivans wütenden Axthieben wagte, nicht lange überleben würde. Rücken an Rücken ging es für die Zwergenbrüder mit dem Kampf nun erst richtig los. Die umstehenden Goblins hatten sie innerhalb von Minuten überwältigt; dann rückten sie den Pfad entlang weiter vor. Die Elfen schlugen genauso grimmig zu. Ihre Schwertkämpfer trieben die Gegner in jede beliebige Richtung, und die Bogenschützen, die dicht dahinter standen, machten kurzen Prozess mit jenen, die aus dem Pulk ausbrechen wollten. Die Goblins
konnten nirgendwohin fliehen und sich nirgendwo verstecken. Schon lagen mehr Ungeheuer tot am Boden, als noch im Kampf standen, und dieses Verhältnis begünstigte die Elfen mit jeder Sekunde mehr. Tintagel sah zu, wie der erste Goblin, der in die Wand gestoßen worden war, auf der anderen Seite unbeschadet herauskam. Der Elfenzauberer widerstand seinem Drang, das Ungeheuer abzuschießen, denn seine Rolle in diesem Kampf war es, die Feinde zurückzuhalten, damit Elbereth, Shayleigh und Danica sich um sie kümmern konnten. Er zog weitere getrocknete Erbsen aus seinem Beutel und warf sie senkrecht zu der Nebelwand auf den Boden. Mit dem richtigen Gesang dazu beschwor der Zauberer eine zweite Nebelwand, um die Gegner einzuschließen. Danica folgte Shayleighs nächsten drei Pfeilen in die verwirrte Horde. Sie benutzte weiterhin ihre Dolche, tötete damit einen Goblin und ließ einen zweiten kreischend vor Schmerz umfallen, dann rückte sie weiter vor, mit einer Wut, der ihre Feinde nichts entgegenzusetzen hatten. Ebensowenig konnte der verbliebene Orog sich gegen Elbereths Kampfkunst zur Wehr setzen. Das Ungeheuer parierte den ersten, prüfenden Schlag des Elfen, dann zog es seine schwere Keule tückisch quer vor dem Körper entlang. Elbereth wich dem Schlag mit Leichtigkeit aus, sprang dann vor und stieß dem langsameren Orog mehrmals sein blitzendes Schwert in die Brust. Der Orog blinzelte, als könnte er nicht mehr klar sehen oder einfach nicht glauben, was da mit ihm geschah. Elbereth durfte nicht abwarten, bis sein Gegner sich zum nächsten Schritt entschlossen hatte. Er holte mit dem Schildarm aus und schlug dem Orog den Schild – der bis vor kurzem noch seinem Vater gehört hatte – gegen den Kopf. Das Ungeheuer kippte schwerfällig um, mit einem Abdruck des Zeichens auf dem Schildbuckel, des Wappens von Shilmista, auf dem Gesicht. Shayleigh, die nun ein Schwert in der
Hand hielt, tauchte neben dem Elfenkönig auf. Gemeinsam stürzten sie sich auf die Goblins. Die Ungeheuer, die kaum eine Wahl hatten, begannen sich zu wehren. Drei umringten Danica und schlugen wild mit ihren Kurzschwertern auf sie ein. Mit Danicas pfeilschnellen Bewegungen, Angriffen und Ausweichmanövern konnten sie jedoch nicht mithalten und brachten ihr nicht einmal einen Kratzer bei. Danica ließ sich Zeit. Ein frustrierter Goblin zog sein Schwert in einem harmlosen, weiten Bogen hervor. Bevor er sich nach seinem schlecht ausbalancierten Schwinger wieder fangen konnte, war Danicas Fuß schon hochgeschnellt und hatte ihn unterm Kinn getroffen. Der Goblin verschwand prompt im Gebüsch. Ein zweiter rannte von hinten auf die abgelenkte junge Frau zu. Blitze magischer Energie zuckten aus dem Baum über ihm und brannten sich in seinen Kopf und Hals. Der Goblin heulte auf und griff nach der Wunde. Danica, die stets im Gleichgewicht war, machte eine halbe Drehung und riss einen Fuß nach oben und dem Goblin ins Gesicht, worauf dieser sich zu seinem toten Gefährten am Boden gesellte. Danica konnte Tintagel noch dankbar zunicken, bevor sie sich dem letzten Goblin zuwandte. Ein Tritt schlug dem Ungeheuer das Schwert aus der Hand, und noch ehe es sich ergeben konnte, hatte Danica es mit einem Handkantenschlag niedergestreckt. Plötzlich war es vorbei. Es waren keine Gegner mehr da. Die vier Gefährten hielten inne und betrachteten das Ergebnis ihrer blutigen Arbeit. »Weißt du was, Elf«, sagte Ivan, als Elbereth und die anderen zu der Gruppe auf dem Pfad zurückkehrten, »das hier wird zu einfach.« Der Zwerg spuckte in beide Hände und umfasste seinen Axtgriff, denn die Klinge seiner Waffe steckte tief im dicken Kopf eines Orogs. Mit
grausigem Knacken riss Ivan seine mächtige Waffe los. »Der erste Kampf seit einer Woche«, fuhr Ivan fort, »und diese Gruppe wollte eher weglaufen als kämpfen!« Elbereth konnte nicht bestreiten, dass der Zwerg recht hatte, aber er hatte überhaupt nichts dagegen, dass die Goblins sich offenbar auf dem Rückzug befanden. »Wenn wir Glück haben, vergeht eine weitere Woche, bis wir wieder kämpfen müssen«, entgegnete er. Ivan murrte und schlug seine blutige Axt in die Erde, um sie zu reinigen. Als Elbereth wegging, flüsterte der Zwerg seinem Bruder zu: »So spricht ein wahrer Elf.«
Von Herzen »Du sitzt hier und wartest, während unsere Träume – all die Träume, die Talona selbst dir eingegeben hat – zerplatzen!« Dorigen Kel Lamond, zweitmächtigste Zauberin auf Burg Trinitatis, ließ sich erschöpft auf den Sessel sinken. Sie war selbst ein wenig überrascht über ihren ungewöhnlichen Ausbruch: Ihre bernsteinfarbenen Augen mieden den Blick ihres Mentors Aballister. Dem hohlwangigen älteren Zauberer schienen ihre Worte nichts auszumachen. Er schaukelte auf seinem bequemen Stuhl nach hinten, während er mit seinen dünnen Fingern auf die Tischplatte trommelte und ein amüsierter Ausdruck über sein hageres Gesicht glitt. »Zerplatzen?« fragte er nach kurzem Schweigen, mit dem er erreicht hatte, dass Dorigen sich unbehaglich fühlte. »Shilmista wird wohl bald wieder in der Hand der Elfen sein, soviel ist wahr«, gab er zu. »Aber sie haben hohe Verluste erlitten – nur noch weniger als hundert verteidigen den Wald.« »Und wir haben über tausend Soldaten verloren«, fauchte Dorigen. »Und Tausende weitere sind aus unserem Herrschaftsbereich in ihre Berglöcher zurückgerannt.« »Wo wir sie wieder abholen können«, versicherte Aballister ihr, »wenn die Zeit reif ist.« Dorigen schäumte, sagte aber nichts. Sie wischte sich eine Schweißperle von der Adlernase und wandte abermals den Blick ab. Mit ihren zwei gebrochenen Händen fühlte sie sich verwundbar, wenn sie mit dem unberechenbaren Aballister und dem Emporkömmling Bogo Rath in diesem Zimmer war, ganz zu schweigen von Druzil, Aballisters verhätscheltem Günstling, einem Teufelchen. Das war eines der Probleme, wenn man mit solchen
Leuten zusammenarbeitete, erinnerte sich Dorigen. Sie konnte nie sicher sein, ob Aballister nicht eines Tages auf die Idee kam, er wäre ohne sie besser dran. »Wir haben immer noch dreitausend Soldaten – hauptsächlich Menschen – zur unmittelbaren Verfügung«, fuhr der Zauberer fort. »Die Goblinoide werden zurückgebracht, wenn wir sie brauchen – nach dem Winter vielleicht, wenn die Jahreszeit für eine Invasion günstig ist.« »Wie viele werden wir brauchen?« fragte er, mehr an Bogo als an Dorigen gewandt. »Shilmista ist nur noch ein Schatten seiner selbst, und die Erhebende Bibliothek wurde schwer getroffen. Damit bleibt nur Carradoon.« Aballisters Tonfall zeigte deutlich, was er von den Bauern und Fischern des kleinen Städtchens am Ufer des Impresksees hielt. »Ich will nicht abstreiten, dass die Bibliothek getroffen wurde«, bestätigte Dorigen, »aber wir wissen nichts Genaues über das Ausmaß der Katastrophe. Du scheinst auch Shilmista unterschätzt zu haben. Muss ich dich an unsere jüngste Niederlage erinnern?« »Und muss ich dich erinnern, dass du es warst, nicht ich, die über diese Niederlage gewacht hat?« knurrte Aballister und warf Dorigen einen bohrenden Blick zu. »Dass es Dorigen war, die im entscheidenden Stadium der Schlacht aus dem Wald geflohen ist?« Als er sah, dass er sie in die Ecke getrieben hatte, beruhigte sich der Zauberer und begann wieder, mit dem Stuhl hin und her zu schaukeln. »Ich habe durchaus Mitleid mit deinen Schmerzen«, sagte er ruhig. »Du hast Tiennek verloren. Das muss ein schrecklicher Schlag gewesen sein.« Dorigen wand sich. Sie hatte diese Bemerkung erwartet, aber dennoch tat sie weh. Tiennek, ein Barbarenkrieger, den sie aus dem Norden geraubt und zu ihrem Vertrauten ausgebildet hatte, hatte Aballister als Liebhaber ersetzt. Dorigen zweifelte nicht eine Minute
daran, dass die Nachricht von Tienneks Tod dem Zauberer Freude bereitet hatte. Eine Frau, die fast zwei Fuß kleiner war als Tiennek und höchstens ein Drittel so schwer wie der Krieger, hatte die Tat vollbracht. Als Druzil, das Teufelchen, Aballister über den Vorfall berichtet hatte, hatte er absichtlich die Kampfkunst der Frau heruntergespielt, wie Dorigen wusste, nur um die Flammen anzufachen, die zwischen den beiden Zauberern aufgeflackert waren. Dorigen wollte zurückschlagen, wollte dem Zauberer ins Gesicht schreien, dass er die Kräfte der jungen Danica, der Adeptin, die Cadderly begleitete, und all der Feinde, auf die sie in Shilmista gestoßen war, nicht annähernd verstand. Sie blickte zu Druzil, der mit ihr dort gewesen war, aber das Teufelchen bedeckte sein hundeähnliches Gesicht mit den ledrigen Flügeln und machte keine Anstalten, ihr zu helfen. »Intriganter Feigling«, murmelte Dorigen. Seit ihrer Rückkehr nach Burg Trinitatis hatte Druzil den Kontakt zu Dorigen gemieden. Sie wusste, dass er Aballister gegenüber nicht loyal war, doch auf Burg Trinitatis war Aballister immer noch der Mächtigste, und das vorsichtige Teufelchen zog es vor, auf der Seite der Sieger zu stehen. »Genug Geplänkel«, sagte Aballister plötzlich. »Unsere Pläne wurden durch unerwartete Umstände durchkreuzt.« »Unter anderem durch deinen eigenen Sohn«, konnte Dorigen sich nicht verkneifen. Aballisters Lächeln deutete an, dass Dorigen ihre Grenzen vielleicht schon überschritten hatte. »Mein Sohn«,wiederholte der Zauberer, »der liebe, kleine Cadderly. Ja, Dorigen, er hat sich als das unerwartetste und ernsteste Problem erwiesen. Meinst du nicht auch, Boygo?« Dorigen sah zu dem jüngsten Zauberer der Burg, den sie und ihr Mentor grundsätzlich »Boygo« nannten. Der junge Mann zuckte bei dieser Beleidigung zusammen, obwohl
sie ihn nicht unerwartet traf. Er war anders als seine beiden Oberen und stand daher häufig im Zentrum ihrer Spötteleien. Er warf den Kopf zurück, wodurch sein langes, strähniges braunes Haar über ein Ohr fiel und die Seite seines Kopfes entblößte, die er rasierte. Dorigen, die Bogos unerhörtes Verhalten leid war, hätte über diesen lächerlichen Haarschnitt fast geknurrt. »Dein Sohn hat sich wirklich als ziemliches Problem erwiesen«, befand Bogo. »Aber was sonst wäre von einem Sprössling des mächtigen Aballister zu erwarten? Wenn der kleine Cadderly auf der anderen Seite kämpfen muss, wären wir gut beraten, ein Auge auf ihn zu haben.« »Der kleine Cadderly«, murmelte Dorigen, deren Gesicht vor Verachtung verzogen war. »Klein‐Cadderly« musste mindestens zwei bis drei Jahre älter sein als dieser kleine Ehrgeizling hier! Aballister hielt eine kleine, ausgebeulte Tasche hoch, die er einmal schüttelte, um zu demonstrieren, dass sie mit Münzen angefüllt war – Gold wahrscheinlich. Dorigen begriff die Bedeutung des Goldes, begriff, was es für Aballister und Bogo kaufen würde. Bogo stammte aus Westtor, einer Stadt vierhundert Meilen nordöstlich der Burg. Westtor war als geschäftige Handelsstadt bekannt und außerdem berüchtigt für eine Assassinenbande, die sich Nachtmasken nannten. Sie zählten zu den grausamsten Meuchelmördern der Welt. »Selbst deine Nachtmasken werden es nicht leicht haben, unseren jungen Gelehrten anzugreifen, ob er nun in Shilmista blieb oder in die Erhebende Bibliothek zurückgekehrt ist«, versicherte Dorigen, wenn auch nur, um Aballisters Kälte gegenüber seinem Sohn die Spitze zu nehmen. Obwohl sie Cadderly hasste – er hatte ihr die Hände gebrochen und ihr eine ganze Reihe magischer Gegenstände geraubt –, konnte Dorigen es einfach nicht fassen, dass der Zauberer seinem eigenen Sohn gegenüber so grausam sein konnte. »Er ist nicht in Shilmista«, erwiderte Bogo grinsend. Seine braunen Augen blitzten aufgeregt. »Und auch nicht in der Bibliothek.«
Dorigen starrte Bogo an, und ihr plötzliches Interesse gefiel dem jungen Zauberer offensichtlich. »Er ist in Carradoon.« »Wo er zweifellos die Garnison alarmiert«, fügte Aballister hinzu. »Wie kannst du dir so sicher sein?« fragte Dorigen Bogo. Bogo sah Aballister an, der wieder seinen Goldbeutel schüttelte. Das Klirren der Münzen ließ Dorigen einen Schauer über den Rücken laufen. Bogos Verbindungen zu den Assassinen von Westtor, die ihm in Burg Trinitatis wenigstens zu gewissem Ansehen verhalfen, hatten ihn bereits auf die Spur des jungen Gelehrten gebracht. Obwohl in ihren Händen immer noch der Schmerz pochte, empfand Dorigen Mitleid mit Cadderly. »Ein Problem nach dem anderen, liebe Dorigen«, sagte Aballister; ein Satz, den er schon öfter geäußert hatte, wenn er von seinem Sohn sprach. Wieder schüttelte der alte Zauberer die Goldtasche, und wieder lief Dorigen ein Schauer über den Rücken. Elbereth und Danica saßen auf dem Wehrberg, einem Ort, der leicht zu verteidigen war und deshalb den Elfen als Stützpunkt diente. Nur wenige aus dem Elfenvolk waren in dieser sternklaren Nacht in der Nähe, und es bestand keine Gefahr mehr, die eine ständige Wachsamkeit der Garnison erfordert hätte. Hammadeen zufolge – und die Informationen, die die Dryade von den Bäumen bezog, waren stets zuverlässig gewesen, seit Cadderly vor Wochen ihre Dienste erzwungen hatte – waren sogar innerhalb von zehn Meilen Umkreis um den Berg keine Ungeheuer zu finden. Es war still und friedlich, man hörte weder Schwerterklirren noch Todesschreie. »Der Wind wird kühl«, bemerkte Elbereth und bot Danica seinen Reisemantel an. Dann streckte sie sich neben dem Elfen ins dichte Gras, sah zu den unzähligen Sternen und den wenigen schwarzen Umrissen ziehender Wolken empor. Elbereths leises Lachen bewirkte, dass sie sich noch einmal aufsetzte. Sie folgte dem Blick des Elfen zum Fuß des Abhangs. Blinzelnd konnte sie gerade so eben drei
Gestalten ausmachen – einen Elfen, die anderen beiden offenbar Zwerge –, die an der Baumlinie entlang wieder aus den Schatten traten. »Shayleigh?« fragte Danica. Elbereth nickte. »Sie und die Zwerge sind in den letzten Wochen dicke Freunde geworden«, stellte er fest. »Shayleigh bewundert ihren Mut und ist froh, dass sie geblieben sind, um uns in unserem Kampf beizustehen.« »Ist der Elfenkönig etwa nicht froh darüber?« fragte Danica frech. Elbereth erwiderte ihre gutmütige Stichelei mit einem Lächeln. Er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit den Zwergen, als er kurz davor gewesen war, sich mit Ivan ernsthaft zu schlagen. Wie lange her erschien das nun! Damals war Elbereth Prinz gewesen und mit seinem Vater, dem König, trotz der großen Gefahr für den Wald zerstritten. »Ich bin nicht undankbar«, antwortete er leise. »Ich werde nie vergessen, in welcher Schuld ich bei den Zwergen stehe… und bei dir.« Nun sah er Danica tief in die Augen. Seine Silberaugen bannten die tiefbraunen der Frau mit ihrem eindringlichen Blick. Ihre Gesichter waren kaum eine Handbreit auseinander. Danica räusperte sich und wandte sich ab. »Die Kämpfe nähern sich dem Ende«, bemerkte sie und nahm dadurch dem Augenblick seine Romantik. Elbereth wusste sofort, worauf sie mit ihrer Bemerkung hinauswollte, denn sie deutete bereits seit einigen Tagen an, was sie vorhatte. »Wir werden noch den ganzen Herbst damit zu tun haben, Shilmista von dem restlichen Ungeziefer zu befreien«, sagte der Elfenkönig. »Und ich fürchte, dass im Frühling, sobald die Bergpässe frei sind, ein neuer Angriff kommen könnte.« »Wahrscheinlich sind Carradoon und die Bibliothek bis dahin bereit«, tröstete Danica.
»Wirst du dabei helfen?« Danica sah wieder den Grashang hinunter, wo die drei Gestalten jetzt stetig näher rückten. »Hab’ noch nie viel von Bäumen gehalten«, hörten sie Ivan meckern, der sich seine Nase rieb. »Ich hätte gedacht, wer so klein ist wie ein Zwerg, wäre fähig, tiefhängenden Zweigen auszuweichen«, gab Shayleigh mit melodischem Lachen zurück. »Hihihi«, ergänzte Pikel, der vorsichtshalber außerhalb von Ivans Reichweite blieb. »Es ist Zeit, dass wir uns verabschieden«, platzte Danica heraus. Sie hasste diese Worte, aber sie musste sie aussprechen. Elbereths Lächeln war sofort verflogen. Er starrte die Frau lange durchdringend an, ohne zu antworten. »Vielleicht hätten wir gleich mit Avery und Rufo zur Bibliothek zurückkehren sollen«, fuhr Danica fort. »Oder vielleicht solltet ihr darauf vertrauen, dass sie die Dinge in der Bibliothek und in Carradoon in die Hand nehmen«, warf Elbereth ein. »Ihr könntet hierbleiben, alle drei. Die Einladung bleibt bestehen, und ich versichere dir, dass Shilmista unter der weißen Decke des Winters eine ganz neue Schönheit zeigen wird.« »Ich zweifle nicht an deinen Worten«, erwiderte Danica, »aber ich fürchte, ich muss gehen. Schließlich ist da noch –« »Cadderly«, Enttäuschung.
unterbrach
Elbereth
lächelnd
trotz
seiner
Danica antwortete nicht. Sie war sich über ihre Gefühle nicht im klaren. Sie schaute zu dem Hang zurück, wo Ivan und Pikel immer noch damit beschäftigt waren, sich zu Shayleigh durchzuschlagen. Diesmal schafften sie es beinahe, aber anscheinend hatte Ivan etwas gesagt, das seinen Bruder beleidigte, denn Pikel sprang ihn an, und sie rollten wieder nach unten. Die Elfenkriegerin hob resigniert die
Hände und rannte den Rest des Weges zu Danica und Elbereth. Sobald sie die beiden erreicht hatte, wich ihr Lächeln einer neugierigen Miene. Sie musterte Danica kurz, dann stellte sie nüchtern fest: »Du gehst.« Danica antwortete nicht. Sie konnte der Elfin kaum in die Augen sehen. »Wann?« fragte Shayleigh in ruhigem, gefasstem Ton. »Bald – vielleicht morgen«, erwidere Danica. Shayleigh dachte einen langen Augenblick über diese bittersüße Nachricht nach. Danica ging, nachdem der Sieg sicher war. Sie konnte zurückkehren, oder die Elfen konnten sie besuchen, ohne größere Bedrohung von Goblins und Orks. »Ich beglückwünsche dich zu deiner Entscheidung«, sagte Shayleigh schlicht. Danica sah sie verdutzt an, denn die Zustimmung der Freundin hatte sie überrumpelt. »Der Kampf ist gewonnen, zumindest vorläufig«, fuhr die Elfenkriegerin fort. »Du hast viele Pflichten zu erfüllen, und natürlich musst du in der Erhebenden Bibliothek weiterstudieren.« »Ich gehe davon aus, dass Ivan und Pikel mich begleiten werden«, erklärte Danica. »Auch sie haben Pflichten in der Bibliothek.« Shayleigh nickte und sah zum Hang zurück, wo die Brüder zum dritten Mal versuchten, den ganzen Weg nach oben zu schaffen. Aus diesem Blickwinkel, im klaren Sternenlicht, konnte Danica die ehrliche Bewunderung in den Veilchenaugen der Elfenkriegerin sehen. Danica verstand, dass Shayleigh so unbeschwert reagiert hatte, weil sie Danicas Entscheidung für richtig hielt, nicht weil sie froh war, die drei bald loszuwerden. »Falls der Kampf im Frühling wieder losgeht …«, setzte Shayleigh an. »Dann kommen wir zurück«, versicherte Danica. »Zurück wohin?« Ivan hatte es endlich geschafft. Er schüttelte die Zweige und
Blätter. aus seinem gelben Bart und steckte ihn wieder in den breiten Gürtel. »Zurück nach Shilmista«, erklärte Shayleigh. »Falls die Kämpfe wieder losgehen.« »Gehen wir denn weg?« fragte Ivan. »Ei, ei«, stöhnte Pikel, der bereits verstanden hatte. »Bald werden die Winterstürme beginnen«, entgegnete Danica. »Die Wege durch das Schneeflockengebirge werden dann unpassierbar.« »Ei, ei«, sagte Pikel wieder. »Du hast recht«, sagte Ivan, nachdem er einen Moment überlegt hatte. »Hier wird alles ruhiger – es ist kaum mehr einer zum Verprügeln übrig. Ich und mein Bruder langweilen uns bestimmt bald, und außerdem haben die Priester in der Bibliothek bestimmt nichts Ordentliches mehr zu essen bekommen, seit wir weg sind!« Shayleigh versetzte Ivan einen Klaps. Ivan starrte ungläubig in ihr betrübtes Gesicht, und selbst er konnte den Schmerz erkennen, der sich hinter dem Lächeln der schönen Elfin verbarg. »Du schuldest mir noch einen Kampf«, erklärte Shayleigh. Ivan schnaubte und räusperte sich. Verstohlen schob er seinen Ärmel hoch genug, um sich die feuchten Augen zu wischen, als er damit über seine Nase fuhr. Danica staunte über diese sichtliche Blöße im schroffen Verhalten des Zwergs. »Pah!« grollte Ivan. »Was für ein Kampf? Du bist genau wie der da!« Anklagend drohte er Elbereth mit dem Finger, den er bei einer ähnlichen Herausforderung vor einigen Wochen bis zum Waffenstillstand bekämpft hatte. »Du tanzt doch bloß herum und rennst im Kreis, bis wir beide todmüde umkippen!« »Glaubst du, ich lasse dir durchgehen, wie du mein Volk beleidigt hast?« schimpfte Shayleigh. Sie baute sich vor dem Zwerg auf. »Glaubst du, ich verzichte darauf?« gab Ivan zurück und stupste
Shayleigh mit seinem dicken Finger in den Bauch. »Pah!« schnaubte er, drehte sich um und stürmte davon. »Pah!« imitierte ihn Shayleigh, deren Stimme zu melodisch war, um den schneidenden Ton des Zwerges richtig nachzuahmen. Ivan fuhr herum und funkelte sie an. Dann winkte er Pikel zu, ihm zu folgen. »Tja, jetzt hast du deinen Wald wieder, Elf«, sagte Ivan zu Elbereth. »Gern geschehen!« »Leb wohl, Ivan Felsenschulter«, antwortete Elbereth. »Wir danken dir und deinem außergewöhnlichen Bruder. Wisset, dass Shilmista euch beiden offensteht, wenn es euch wieder einmal in unsere Gegend verschlägt.« Ivan lächelte Pikel zu. »Als ob der da uns aufhalten könnte!« brüllte er, schlang kurz den Arm um Shayleigh und schoss davon, ehe sie reagieren konnte. »Auch ich muss gehen«, sagte Danica zu Elbereth. »Ich muss noch einiges vorbereiten, bevor es dämmert.« Elbereth nickte, konnte jedoch nichts sagen, weil ihm ein Klumpen in der Kehle saß. Sobald Danica verschwunden war – sie sprang den Hang hinab, um die Zwerge einzuholen –, nahm Shayleigh neben dem silberäugigen Elfenkönig Platz. »Du liebst sie«, bemerkte sie nach einigem Schweigen. Elbereth saß eine Weile still da, dann gab er zu: »Von ganzem Herzen.« »Und sie liebt Cadderly«, sagte Shayleigh. »Von ganzem Herzen«, bestätigte Elbereth traurig. Shayleigh brachte ein schiefes Grinsen zustande, um ihrem Freund Mut zu machen. »Ich hätte nie gedacht, dass ein Elfenkönig von Shilmista sich in ein Menschenmädchen verlieben könnte!« spöttelte sie und gab Elbereth einen Schubs. Der Elf starrte sie mit seinen Silberaugen an und lächelte. »Und ich nicht, dass eine Elfenfrau von einem gelbbärtigen Zwerg
hingerissen sein würde«, konterte er. Shayleighs erste Reaktion war ein ungläubiger Lachanfall. Natürlich hatte Shayleigh Ivan und Pikel als Freunde und vertrauenswürdige Verbündete kennengelernt, aber die Andeutung, dass da mehr sein könnte, war einfach lächerlich. Dennoch wurde die Kriegerin beträchtlich stiller, als sie den inzwischen leeren Hang hinunterblickte. Er wirkte tatsächlich leer, nachdem die Gebrüder Felsenschulter außer Sicht waren.
Lange vor Tagesanbruch Bogo Rath klopfte zaghaft an die Tür des kleinen Besprechungszimmers. Er war immer unsicher, wenn er mit den gefürchteten Nachtmasken zu tun hatte. Volle zwanzig Assassinen hatten die beiden Anführer der Nachtmasken an diesem Morgen nach Burg Trinitatis begleitet, viel mehr Berufsmörder, als Bogo für eine solch scheinbar einfache Aufgabe erwartet hätte. Schwarzgekleidete Posten durchsuchten den jungen Zauberer, bevor man ihm gestattete einzutreten. Die beiden Wachen waren völlig unauffällig, wie Bogo feststellte. Wahrscheinlich waren sie bei der finsteren Bande noch Anfänger. Sie trugen die übliche Kleidung der Assassinengilde von Westtor, schlichte Freisassenkleider, dazu die schwarzen Augenmasken mit dem silbernen Rand. Die Eckzähne des einen Postens ließen Bogo vermuten, dass er mehr orkischer als menschlicher Abstammung war – nichts Ungewöhnliches bei dieser Bande. Dieser Gedanke ließ dem jungen Zauberer allerdings einen Schauer über den Rücken laufen. Doch ob die beiden Menschen waren oder nicht, Bogo wäre auf jeden Fall unbehaglich zumute gewesen. Obwohl die Meuchelmörder ihre Waffen nicht offen zeigten, wusste er, dass jeder von ihnen einige dabei hatte und selbst mit bloßen Händen töten konnte. Nachdem die Durchsuchung beendet war, führten die beiden Wachen den jungen Zauberer ins Zimmer, dann traten sie wieder an die Tür, wo sie zu beiden Seiten ungerührt stehenblieben. Bogo vergaß sie, sobald er sie hinter sich wusste, denn die beiden Personen in dem bequem eingerichteten Zimmer fand er viel interessanter. Am nächsten saß ein weibisches, offensichtlich schwaches Männlein – falls es denn ein Mann war –, das
unaufhörlich röchelnd hustete. Der Mann wies überhaupt keinen Bartwuchs auf, nicht einmal Stoppeln. Sein Gesicht war zu sauber und weich für einen Erwachsenen. Die schweren Augenlider sackten träge herunter, und die dicklichen, zu vollen Lippen wirkten wie eine kindhafte Karikatur. Der Mann gegenüber war das genaue Gegenteil: Ein muskelbepackter, robuster Mensch mit dichtem Vollbart und Haarschopf, beides flammend rot. Er hätte Bogo ohne große Anstrengung mit bloßen Händen zerdrücken können. Dennoch schien dieser starke Mann (nach allem, was Bogo von den Nachtmasken wusste) eher fehl am Platz als der Schwächling. An seinem Gürtel prunkte ein riesiges Schwert, und er trug die Narben zahlreicher Schlachten. Auch seine Kleidung wich weit von dem ab, was die Assassinen bevorzugten. Breite, gepolsterte Armbänder, auf denen Dutzende kleiner Edelsteine glitzerten, schmückten seine Handgelenke, und sein schneeweißer Reisemantel stammte vom Rücken eines nordischen Bären, wenn auch eines kleinen. »Ihr seid Bogo Rath?« fragte der große Mann in weichem Bariton und mit einer Artikulation, die schärfer und gebildeter war, als Bogo erwartet hatte. Der Zauberer nickte. »Glück auf, Bruder Nachtmaske«, erwiderte er mit tiefer Verbeugung. Der Rothaarige schenkte ihm einen neugierigen Blick. »Ich wusste nicht, dass Ihr noch Verbindungen zur Gilde hattet«, sagte er. »Ich war der Ansicht, dass Ihr die Vereinigung im beiderseitigen Einvernehmen verlassen hattet.« Bogo trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte vor drei Jahren eine enorme Summe gezahlt, um aus der Assassinengilde wieder austreten zu dürfen, und wenn sein Vater nicht ein einflussreicher Kaufmann aus Westtor gewesen wäre – jemand mit Freunden in der Politik und Beziehungen zur dunklen Gilde –, hätte auch das Bestechungsgeld Bogo nicht helfen können. Er hätte den
üblichen Abschied derjenigen nehmen müssen, die die Anforderungen der Nachtmasken nicht erfüllen konnten: den Tod. »Es ist ungewöhnlich, jemanden vor sich zu haben, der behaupten kann, dass er einst zu unserer geliebten Bruderschaft zählte«, neckte ihn der rothaarige Mann mit herablassender, vor Sarkasmus triefender Stimme. Wieder zuckte Bogo unruhig zusammen. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass dies Burg Trinitatis war. Er war hier zu Hause, und trotz all ihres Spotts würden Aballister und Dorigen auf ihn aufpassen. »Es waren ungewöhnliche Umstände«, entgegnete er und verriet seine Nervosität, indem er unsicher seine strähnigen Haare zurückwarf. »Ich war zu etwas anderem berufen, das mich weit von Westtor wegführte. Wie Ihr seht, hat mein Abschied für uns beide Vorteile gehabt. Ich habe eine Stufe der Macht erreicht, die Ihr nicht begreifen könnt, und Ihr werdet gut entlohnt werden, wenn Ihr diese eine, kleine Aufgabe für mich erledigt.« Der riesige Mann grinste. Er schien sich über Bogos angebliche Macht lustig zu machen. Dann blickte er zu seinem mickrigen Gefährten, dem die ganze Angelegenheit zu missfallen schien. »Setzt Euch doch«, bat der Rothaarige Bogo. »Ich bin Vander, dem dieser kleine Handel, von dem Ihr sprecht, anvertraut wurde. Mein Begleiter ist Geist, ein wirklich außergewöhnlicher, sehr begabter Mann.« Bogo nahm zwischen den beiden Platz. Abwechselnd musterte er sie, um etwas über seine wenig vertrauenswürdigen Verhandlungspartner herauszufinden. »Ist irgend etwas?« fragte Vander, nachdem er Bogos Blicke kurze Zeit verfolgt hatte. »Nein«, rief der Zauberer erschrocken. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. »Ich bin einfach überrascht, dass für eine so einfache
Hinrichtung so viele gekommen sind«, gab er zu. Vander lachte laut, hielt dann aber abrupt inne, während sich ein eigenartiger Ausdruck über sein Gesicht legte. Finster blickte er Geist an, dessen Körper wild zu zucken begann, und dann fingen Vander und seine Sachen zu Bogos Erstaunen zu wachsen an. Das Schwert, das schon vorher riesig gewesen war, nahm gigantische Ausmaße an, und der Nordbär, aus dem der schöne Mantel gemacht war, glich nicht mehr einem Jungtier. Weil Vander saß, konnte Bogo nicht genau feststellen, wie groß der Mann wurde, aber er schätzte ihn auf mindestens zehn Fuß. »Ein Firbolg?« fragte er schließlich verblüfft. Jetzt war er völlig durcheinander. Ein riesiger, rothaariger, derart auffälliger Mann in den Reihen der Nachtmasken war schon erstaunlich genug, aber ein Firbolg? Vanders zorniger Blick wurde nicht freundlicher. Unter seinen buschigen Brauen her starrte er Geist durchdringend an. Er fasste sich jedoch schnell wieder und lehnte sich zurück. »Vergebt mir«, sagte er unerwartet zu Bogo. »Ich bin tatsächlich aus dem Volk der Riesenartigen, doch normalerweise zeige ich meine wahre Gestalt nicht.« »Aber warum –?« wollte Bogo wissen. »Eine Indiskretion«, unterbrach Vander schnell. Sein Tonfall machte deutlich, dass er keine weitere Diskussion wünschte. Bogo hatte nicht vor, sich mit einem achthundert Pfund schweren Riesen zu streiten. Sicherheitshalber verschränkte er die Hände im Schoß und gab sich große Mühe, entspannt zu wirken. »Ihr wundert Euch über unsere Zahl?« kehrte Vander zur ursprünglichen Frage des Zauberers zurück. »Ich hatte nicht so viele erwartet«, wiederholte Bogo. »Die Nachtmasken gehen kein Risiko ein«, erwiderte Vander ungerührt. »Häufig erweisen sich Hinrichtungen, die zunächst ›so
einfach‹ aussahen, als die schwierigsten. Wir machen keine Fehler. Deshalb werden wir für unsere Bemühungen so gut bezahlt.« Er legte den Kopf schief, was ausgesprochen unriesenhaft aussah, wie Bogo fand – und spähte zu dem Beutel an Bogos Gürtel hin. Der junge Zauberer ging auf den Fingerzeig ein, löste den Beutel vom Gürtel und händigte ihn Vander aus. »Die Hälfte vorweg«, erklärte er, »im Einverständnis mit Euren Vorgesetzten.« »Und Eurem«, stellte Vander sofort fest, denn er wollte Bogo nicht die Oberhand lassen, »einem Zauberer namens Aballister, glaube ich.« Bogo gab keine Antwort; weder bestätigte er Vanders Worte, noch stritt er sie ab. »Und Ihr werdet uns in dieser Sache als Vertreter von Burg Trinitatis begleiten?« Das war weniger eine Frage als eine Feststellung. »Noch ein ungewöhnlicher Umstand.« »Auch hierin bestand Einigkeit«, gab Bogo mit fester Stimme zurück, obwohl die Art, wie er die Finger immer wieder aufs neue verschränkte, seinen überzeugten Ton Lügen strafte. »Bei beiden Seiten«, fügte er vorsichtshalber hinzu. »Höchstwahrscheinlich, weil ich einmal Mitglied Eurer Gilde war und verstehe, wie Ihr vorgeht.« Vander verzichtete darauf, dem aufgeblasenen jungen Mann die Luft rauszulassen, auch wenn ihm sehr danach zumute war. Der Riese wusste, dass Aballister eine beachtliche Menge Gold zusätzlich hingelegt hatte, damit Bogo mitkommen durfte, und dass die Abordnung des jungen Zauberers nichts mit Bogos früherer Stellung bei der Assassinenbande zu tun hatte. »Ich werde mit dir nach Carradoon reisen«, fuhr Bogo fort, »um meinen Ob –… äh, meinen Kollegen einen vollständigen Bericht liefern zu können.« Vander lächelte breit, da ihm der Ausrutscher nicht entgangen
war. »Was immer Ihr für eine Rolle spielt, wenn Cadderly stirbt, es ändert nichts an der Summe, die den Nachtmasken zusteht«, sagte er streng. Bogo nickte. »Meine Rolle ist die eines Beobachters, weiter nichts, außer natürlich, wenn Ihr als Leiter der Gruppe etwas anderes beschließt«, stimmte er zu. »Dürfte ich erfahren, welche Rolle Ihr übernehmt?« Bogo hielt inne. Er wusste, dass er seine Grenzen vielleicht schon überschritten hatte, aber er konnte Vander keinen so offensichtlichen Vorteil bei den Verhandlungen lassen. »Es ist recht unwahrscheinlich, dass ein Firbolg einfach so durch die Straßen von Carradoon spazieren kann. Und was ist mit dem Geist?« »Er heißt Geist und nicht ›der Geist‹«, schimpfte Vander. »Das solltet Ihr Euch lieber merken. Meine eigene Rolle«, fuhr er ein wenig sanfter fort, »geht Euch nichts an.« Bogo kam es ausgesprochen seltsam vor, dass Vander sich mehr um Geists willen aufgeregt hatte als wegen der Infragestellung seiner eigenen Position. »Geist wird uns Zugang und Informationen beschaffen und das Opfer vorbereiten«, fuhr Vander fort. »Ich habe zwanzig erfahrene Assassinen bei mir, deshalb werden wir ein sicheres Quartier in der Nähe, aber nicht innerhalb der Mauern von Carradoon brauchen.« Bogo nickte. Das war leicht zu verstehen. »Wir brechen also morgen früh auf«, sagte Vander. »Seid Ihr bereit?« »Selbstverständlich.« »Dann ist unser Treffen beendet«, stellte Vander übergangslos fest und zeigte zur Tür. Auf der Stelle traten die beiden schwarzgekleideten Posten von beiden Seiten an Bogo heran, um ihn aus dem Raum zu führen. Bogo schaute immer wieder zur Tür zurück, während er langsam den Korridor entlangging. Ein Firbolg und ein Schwächling? Es
wirkte sehr ungewöhnlich, aber schließlich hatte Bogo nur einen Monat und einen Tag bei den Nachtmasken verbracht, ehe er um seine Entlassung gebeten hatte, und er musste eingestehen – wenigstens vor sich selbst –, dass er sehr wenig über die Methoden der Bande wusste. Er wünschte sich sehnlichst, mehr zu wissen. Er war ein wenig enttäuscht, dass so viele Nachtmasken für diese Aufgabe abgeordnet worden waren, nicht weil er Cadderly eine Chance zur Flucht wünschte, sondern weil er an der Sache beteiligt sein wollte. Nur zu gern hätte Bogo Rath eine wichtige Rolle bei dem Mord gespielt und sich damit Aballisters und besonders Dorigens Respekt erworben. Er war ihre Hänseleien leid; er hatte es satt, als Boygo abgefertigt zu werden. Wie würde die mächtige Dorigen, die ohne ihre wertvollen Besitztümer und mit gebrochenen, geschwollenen Händen aus Shilmista zurückgekehrt war, sich fühlen, wenn Bogo den Kopf von Aballisters lästigem Sohn präsentierte? Schließlich war Cadderly der Urheber von Dorigens Demütigung gewesen. Bogo wagte zu träumen, dass er in der Hierarchie von Burg Trinitatis zum Stellvertreter von Aballister aufsteigen könnte. Dorigens Hände heilten langsam. Die Kleriker der Festung bezweifelten, dass alle ihre Finger wieder gerade zusammenwachsen würden. Angesichts der präzisen Bewegungen, die beim Zaubern eine so wichtige Rolle spielten – wer wusste schon, welche Auswirkungen das auf Dorigens Kunstfertigkeit haben würde? Bogo rieb sich eifrig die Hände und eilte zu dem Beratungszimmer, in dem Druzil, sein Führer in ein besseres Leben, auf ihn wartete. »Wie kannst du es wagen, mir so etwas anzutun!« knurrte der Firbolg seinen Begleiter an, sobald Bogo verschwunden war. Sein Nicken ließ die beiden Wachen eilig aus dem Raum huschen. Der Riese sprang auf und kam drohend einen Schritt näher. »Ich wusste nicht, dass mein… dass dein… Körper wieder seine normale Größe annehmen würde«, protestierte der kleine Mann, der
tiefer in die Kissen seines Sessels zu rutschen suchte. »Ich dachte, der Zauber würde länger halten, wenigstens für das ganze Treffen.« Der Firbolg packte den kleinen Mann am Kragen und riss ihn in die Höhe. »Ach, Vander«, schnurrte der Riese mit gefährlich ruhigem Gesicht, »lieber Vander.« Plötzlich war sein Gesicht wutverzerrt. Er boxte dem kleinen Mann ins Gesicht und brach ihm dabei die Nase. Ein Schlag mit dem Handrücken ließ eine Wange anschwellen, ein zweiter Schlag tat der anderen dasselbe an. Dann packte der Firbolg den Mann am Unterarm und brach den Knochen so nachdrücklich, dass die Finger des kleinen Kerls seinen Ellbogen streiften. Das Prügeln ging noch viele Minuten weiter, bis der Firbolg den fast bewusstlosen Mann wieder auf seinen Platz fallen ließ. »Wenn du mich jemals wieder so täuschst… «, warnte ihn der rothaarige Riese. »Wenn du mich vor einem wie Bogo Rath jemals wieder so bloßstellst, werde ich dich foltern, bis du um den Tod bettelst!« Der kleinere Mann, der echte Vander, rollte sich wie ein Baby zusammen, umfasste schützend den gebrochenen Arm und fühlte sich entsetzlich verwundbar. Dass er in diesem armseligen Körper gefangen war, machte ihm angst. »Ich will meinen Körper zurück«, sagte Geist plötzlich. Unbehaglich zupfte er an den Firbolgkleidern. »Du bist so haarig, alles juckt!« Vander setzte sich auf und nickte. Nur zu gern wollte er seinen eigenen Körper zurück. »Nicht jetzt«, grollte Geist ihn an. »Nicht bevor die Wunden verheilt sind. Ich nehme meinen Körper nur in perfektem Zustand zurück«, sagte er trocken. »So wie ich ihn dir überlassen habe.« Vander sank zurück. Er hatte dieses Spiel in den letzten paar Jahren oft genug mitgemacht, aber welche Wahl hatte er schon? Er konnte
Geists Klauen nicht entkommen, konnte dem Zwang von Geists Magie nicht widerstehen. Vander wollte nichts lieber, als in seine Firbolggestalt zurückzuschlüpfen und den kleinen Mann zu zermalmen, aber er wusste, dass Geist einfach einen Rücktausch veranlassen würde, und dann würde Vander die Schmerzen seines eigenen Angriffs spüren. Geist würde weiter auf ihn einschlagen, das wusste Vander, manchmal stundenlang, bis der arme Vander im fremden Körper zusammenbrach und seinen Meister weinend anflehte aufzuhören. Der gefangene Firbolg legte einen Finger an seine gebrochene Menschennase. Sie wuchs bereits wieder zusammen; der Schmerz hatte nachgelassen und die Blutung aufgehört. Der gebrochene Unterarm hatte sich wieder gestreckt, und Vander spürte ein Kitzeln, als die Knochen sich zusammenfügten. Noch ein paar Minuten, dachte er, dann habe ich meinen eigenen, starken Körper zurück. »Ich gehe noch in dieser Stunde«, sagte Geist zu ihm. Drohend zeigte er mit dem Finger in Vanders Richtung. »Denk dran, du bist mein Seelenbruder«, warnte er. »Ich kann zu dir zurückkommen, Vander, nur zu dir, aus jeder Entfernung, jederzeit.« Vander wandte den Blick ab, aber die Drohung konnte er nicht ignorieren. Einmal hatte er versucht, diesem Alptraum zu entkommen, hatte den ganzen Weg bis nach Hause zum Grat der Welt geschafft, doch Geist hatte ihn – über Tausende von Meilen – gefunden und ihm einen Körpertausch aufgezwungen. Nur um Vander zu zeigen, wie sinnlos sein Verhalten war, hatte Geist auf einem wenig begangenen Bergpfad östlich von Mirabar gnadenlos zahlreiche Firbolge seiner Sippe, darunter sogar Vanders Bruder, umgebracht. Vander erinnerte sich deutlich an den schrecklichen Augenblick, als Geist ihm seinen Körper zurückgegeben hatte, während er noch den linken Arm seines ältesten Sohnes in seiner Riesenhand gehalten hatte.
Vander hatte Geist erschlagen, als er nach Westtor zurückkehrte, hatte dem kleinen Mann fast den Kopf abgerissen, doch eine Woche später war Geist lächelnd in Vanders Lager geschlendert. Vander schreckte aus seinen Gedanken auf und sah seinen verhassten Begleiter an. Geist ragte vor ihm auf, einen schwarzen Handschuh an der einen Hand, einen weißen an der anderen, dazu den bekannten Goldrandspiegel an einer Goldkette um den Hals. Als der Firbolg in die Hände klatschte, merkte Vander, wie er schwebte. Seine körperlose Seele sah verächtlich zu der schwachen, benommenen Gestalt auf dem Boden zurück und dann nach vorn zu dem riesigen, aufnehmenden Körper. Es gab einen brennenden, zuckenden Schmerz, als er seinen Firbolgkörper betrat. Seine Seele wirbelte unsicher umher, um wieder ihre eigentliche Gestalt zu erfüllen, bis Vander sich schließlich in seiner Hülle zurechtfand. Geist war wie üblich schneller aus dem Seelentausch aufgetaucht, so dass er schon bequem auf einem Stuhl saß und den Firbolg genau beobachtete, als er wieder zu Bewusstsein kam. Jetzt trug der winzige Körper die Handschuhe und den Spiegel, denn die magischen Gegenstände wurden immer zusammen mit ihrem Meister übertragen. Sobald klar war, dass Vander ihn nicht angreifen würde, faltete Geist die Hände und schloss die Augen. Handschuhe und Spiegel verschwanden, doch aus bitterer, schmerzhafter Erfahrung wusste Vander, dass sie in unmittelbarer Reichweite waren. »Du wirst mit der Bande und dem jungen Zauberer abreisen wie geplant«, wies Geist ihn an. »Was ist mit diesem Bogo Rath?« fragte Vander. »Ich traue ihm nicht.« »Das spielt keine Rolle«, gab Geist zurück. »Schließlich traust du auch mir nicht, aber ich weiß, dass du von meiner liebenswerten Persönlichkeit sehr, eingenommen bist.« Am liebsten hätte Vander ihm das verschlagene Lächeln aus dem tranigen Gesicht geschlagen.
»Der Zauberer soll uns begleiten«, erläuterte Geist. »Aballister hat uns großzügig bezahlt, damit wir Rath mitnehmen, ein schöner Batzen Gold für eine so kleine Unannehmlichkeit.« »Zu welchem Zweck?« fragte Vander wieder, den die Verwicklungen scheinbar sinnloser Intrigen nicht gerade ehrenwerter Leute immer verwunderten. »Aballister glaubt, wenn er einen Boten mitschickt, wird er besser informiert«, erwiderte Geist. »Der Zauberer hat eine Schwäche für Wissen. Er kann nicht dulden, dass irgend etwas geschieht, das direkt oder auch nur indirekt mit ihm zu tun hat, ohne dass er es erfährt.« Vander widersprach nicht. Er war Aballister erst einmal begegnet, und Geist hatte nicht öfter als dreimal mit dem hohlwangigen Zauberer geredet. Aber der Firbolg zweifelte nicht an Geists Beobachtungen. Der kleine Mann besaß eine geradezu unheimliche Menschenkenntnis, besonders was Charakterschwächen anging, und fand immer einen Weg, diese zu seinem Vorteil zu nutzen. Der junge Gelehrte blinzelte ins Morgenlicht, das über den Impresksee und durch die Fenster seiner Balkontüren fiel. Auf dem Tisch neben Cadderly wartete sein Frühstück, besonders reichlich, wie er lächelnd feststellte. Das war Bestechung, Brennans Dankeschön für Cadderlys zuverlässiges Schweigen. Fredegar würde nicht begeistert sein, wenn er wüsste, wo sein Sohn den Abend verbracht hatte. Cadderly war wirklich hungrig, und das Essen sah verlockend aus, aber als der junge Gelehrte das Buch der Universellen Harmonie aufgeschlagen auf dem Schreibtisch am Fenster liegen sah, bemerkte er einen tieferen, fordernderen Hunger. Er nahm nur einen einzigen Keks mit zum Tisch. Wie schon so oft verschlang Cadderly die Seiten, die
verschwimmenden Worte, schneller, als seine Augen folgen konnten. In Minutenschnelle hatte er das Buch durchgelesen, schlug es wieder auf und begann schnellstens von neuem, denn er wollte unbedingt, dass das geheimnisvolle Lied ohne Unterbrechung weitertönte. Wie viele Male er an diesem Tag das Werk durchblätterte, wusste er nicht. Als Brennan mit dem Mittagessen und schließlich mit dem Abendbrot kam, blickte Cadderly nicht auf, sondern lauschte immer weiter dem Lied. Das Tageslicht schwand, und noch immer las Cadderly. Als es im Raum zu dunkel zum Lesen wurde, war sein erster Gedanke, zur Lampe zu gehen, um sie anzuzünden, doch er hasste die Zeitverschwendung, die dieses Aufstehen für ihn bedeutete. Ohne lange nachzudenken, rief er sich eine Seite aus dem Buch ins Gedächtnis, eine bestimmte Melodie, murmelte ein paar einfache Worte, und sofort war der Raum voller Licht. Der Fluss des Liedes war unterbrochen. Cadderly saß blinzelnd da und staunte über seine Tat. Im Geist verfolgte er seine Schritte zurück, rief sich dieselbe Seite noch einmal auf, deren Bild ihm klar vor Augen stand. Wieder murmelte er die Worte, doch diesmal änderte er die Betonung und tauschte zwei Wörter aus. Das Licht ging aus. Zitternd rutschte Cadderly vom Stuhl und schlüpfte ins Bett. Er legte einen Arm über die Augen, als ob das die verwirrende Erinnerung an das, was gerade geschehen war, ausblenden könnte. »Morgen früh gehe ich zu dem Zauberer«, flüsterte er laut. »Er wird es verstehen.« Er glaubte sich kein Wort, aber er weigerte sich auch, die Wahrheit zu akzeptieren. »Morgen früh«, flüsterte er wieder, während er die Gelassenheit des Schlafes suchte. Der Morgen jedoch war noch viele Stunden und viele Träume von
dem gepeinigten jungen Mann entfernt. Percival hüpfte zum Fenster des Zimmers herauf – nein, nicht zum Fenster, sondern an die Balkontür. Cadderly betrachtete den seltsamen Anblick, denn die schiere Größe des Eichhörnchens ließ die Tür mehr einem winzigen Fenster ähneln. Es war Percival, wie Cadderly instinktiv wusste, aber warum war das Eichhörnchen sechs Fuß groß? Das weiße Eichhörnchen betrat das Zimmer und kam zu ihm. Cadderly streckte eine Hand aus, um das Tier zu streicheln, aber Percival zuckte zurück. Dann stürzte er wieder vor, und seine nicht gerade winzigen Pfoten zerrten an den Beuteln an Cadderlys Gürtel. Cadderly wollte protestieren, aber einer der Beutel riss auf und ließ endlose Mengen Cacasanüsse über den Boden strömen. Hunderte von Cacasanüssen! Tausende von Cacasanüssen! Das Rieseneichhörnchen stopfte sie dutzendweise in seine Backentaschen, so dass der Boden bald wieder leer war. »Wo willst du hin?« hörte Cadderly sich fragen, als das Eichhörnchen davonhüpfte. Die Tür war komischerweise wieder zu, aber das Eichhörnchen rannte mittendurch, wobei es sie aus den Angeln riss. Dann sprang Percival über die Balkonbrüstung und war verschwunden. Cadderly saß senkrecht im Bett – aber das war nicht sein Bett, denn er war nicht in seinem Zimmer. Statt dessen lag er unten im Wirtsraum. Es war sehr spät, das wusste er, und sehr still. Cadderly war nicht allein. Er spürte eine geisterhafte Gegenwart hinter sich. Er nahm all seinen Mut zusammen und fuhr herum. Dann schrie er auf – ein Schrei der Verzweiflung entfuhr seinen Lungen. Dort, auf einem der kleinen, runden Tische des Gasthauses, lag Großmeister Avery, Cadderlys Lehrmeister und Ersatzvater, mit weit klaffender Brust. Cadderly musste den Mann nicht näher untersuchen, um zu wissen, dass er tot war und dass man ihm das Herz herausgerissen hatte.
Cadderly saß senkrecht im Bett – und diesmal war es wirklich sein Bett. Sein Zimmer war still bis auf das gelegentliche Klappern der Balkontüren, die im Nachtwind erzitterten. Das silberne Licht des Vollmonds tanzte durchs Fenster und malte Schatten auf den Boden. Auch dieser beruhigende Anblick reichte kaum aus, um die Träume zu vertreiben. Cadderly versuchte wieder, sich an jene Buchseite zu erinnern, an das Lied und den Spruch, die den Raum in Licht tauchen würden. Er war müde und verängstigt, hatte den ganzen Tag nichts gegessen und am Vortag auch kaum etwas. Das Bild der Seite wollte nicht erscheinen, so dass er still und voller Schrecken liegenblieb. Es gab nur das blasse Licht des Mondes. Die Dämmerung war noch sehr fern.
Wieder zu Hause Eine unablässige Schimpftirade wies Danica und den Brüdern Felsenschulter den Weg, als sie durch die Gänge im Südteil des ersten Stocks der Bibliothek wanderten. Alle drei Freunde wussten, noch bevor sie sein Arbeitszimmer erreicht hatten, dass Großmeister Avery die Quelle dieses Geschreis war, und aus dem, was man ihnen seit ihrer Ankunft zugeflüstert hatte, wussten sie auch, dass Kierkan Rufo es war, der wieder einmal angebrüllt wurde. »Gut, dass ihr zurück seid!« Großmeisterin Pertelope kam auf die drei zu. Sie lächelte freundlich. Wie in letzter Zeit üblich, trug sie ein bodenlanges, langärmliges Gewand und schwarze Handschuhe. Kein Fleckchen Haut lugte unterhalb des Halses hervor, und zwischen dem dunklen Stoff und dem hockgesteckten grauweißen Haar schien ihr Gesicht wie losgelöst, als triebe es vor einem leeren Hintergrund. »Ich habe schon befürchtet, ihr hättet eure Herzen an Shilmista verloren – was absolut zu verstehen wäre«, sagte die Großmeisterin ernsthaft, ohne dass ein Hauch von Tadel in ihrem Tonfall gelegen hätte. »Ihr seid ja verrückt!« schnaubte Ivan kopfschüttelnd. »Ein Ort für Elfen; überhaupt nicht nach meinem Geschmack.« Pikel trat ihn vors Schienbein, und die Brüder lieferten sich ein ausgiebiges Blickduell. »Shilmista war wunderschön«, gestand Danica. »Besonders nachdem wir die Monster in die Flucht geschlagen hatten. Schon jetzt sieht es so aus, als wären die Schatten im Elfenwald wieder heller geworden.« Pertelope nickte und ließ noch einmal ihr liebenswertes Lächeln aufblitzen. »Ihr geht zu Avery?« fragte sie. »Das müssen wir wohl«, antwortete Danica, »aber er scheint heute keine gute Laune zu haben.«
»Rufo könnte jedem den Tag vermasseln, möcht’ ich meinen«, warf Ivan ein. Wieder nickte Pertelope, und ihr Lächeln wirkte etwas gezwungener. »Kierkan Rufos Verhalten im Wald wird nicht so schnell vergessen werden«, erklärte sie. »Der junge Priester muss einiges leisten, wenn er die Gunst der Großmeister wiedererlangen will, besonders die von Großmeister Avery.« »Wäre ja auch noch schöner!« schnaubte Ivan. »Ei, ei!« fügte Pikel hinzu. »Ich habe gehört, Rufo sei bereits bestraft worden«, fuhr Pertelope trocken fort und starrte demonstrativ Danicas Faust an. Unwillkürlich versteckte Danica die Hände hinter ihrem Rücken. Sie konnte nicht bestreiten, dass sie Rufo dort im Wald geschlagen hatte, als er sich über die Versäumnisse seiner Gefährten beschwerte. Sie konnte auch nicht bestreiten, wieviel Genugtuung es ihr bereitet hatte, dem aufgeplusterten Dummkopf eins überzubraten. Dennoch war ihr Vorgehen unüberlegt gewesen und würde wahrscheinlich nicht folgenlos bleiben. Pertelope erkannte die Verunsicherung der jungen Frau und ging schnell zu einem anderen Thema über. »Wenn Ihr bei Großmeister Avery fertig seid«, sagte sie zu Danica, »dann kommt doch noch zu mir. Wir haben viel zu bereden.« Danica wusste, dass Pertelope auf Cadderly anspielte, und sie wollte der Großmeisterin auf der Stelle Hunderte von Fragen stellen. Doch sie nickte nur schweigend, weil sie ihre Pflicht kannte und wusste, dass ihre Wünsche warten mussten. Die aufmerksame Großmeisterin lächelte wissend und sagte: »Später.« Dann zwinkerte sie der jungen Frau zu und ging davon. Danica sah ihr nach, als würden jedem Schritt von Pertelope tausend Gedanken an Cadderly folgen. Ivans ungeduldiges Schnaufen erinnerte sie daran, dass sie noch etwas anderes zu tun hatte.
Widerstrebend wandte sie sich den Zwergen zu. »Seid ihr zwei bereit für Avery?« Ivan kicherte hinterhältig. »Keine Bange«, versicherte er, nahm ihren Arm und führte sie zum Arbeitszimmer des behäbigen Großmeisters. »Wenn der Dicke sich bei dir nicht zusammenreißt, droh’ ich ihm kleinere Essensportionen an. Als Koch hat man schließlich einen gewissen Einfluss.« Danica konnte das nicht bestreiten, doch es tröstete sie wenig, als sie sich der Tür näherte und das Ausmaß von Averys Zorn deutlicher wahrnahm. »Ausreden!« brüllte der Großmeister. »Immer Ausreden! Warum trägst du nicht die Verantwortung für das, was du tust?« »Ich habe nicht –«, hörten sie Rufo unsicher ansetzen, aber Avery schnitt ihm prompt das Wort ab. »Du hast!« schrie der Großmeister. »Du hast sie an dieses verflixte Teufelchen verraten – und zwar mehr als einmal!« Dann kam eine Pause, nach der Averys Stimme wieder erklang, diesmal etwas gefasster. »Deine anschließenden Taten waren einigermaßen tapfer, das gebe ich zu«, sagte er, »aber das ist keine Entschuldigung. Du solltest keinen Moment annehmen, dass dir verziehen ist. Und jetzt an die Arbeit, und denk dran, dass jede Übertretung, wie klein sie auch sein mag, dich teuer zu stehen kommen wird!« Die Tür schwang auf, und ein verhärmter Rufo kam herausgeschlichen. Angesichts von Danica und den Zwergen wirkte er nicht gerade erfreut. »Überrascht?« fragte Ivan ihn mit breitem Grinsen. Der hagere Mann fuhr sich durch sein glattes schwarzes Haar. Sein Blick schoss umher, als würde er einen Ausweg suchen. Da er nirgendwohin konnte, schob Rufo sich schließlich zwischen Danica und Pikel durch und rannte davon. »Dein Tag wird immer schöner, was?« rief Ivan ihm nach, der die
Qualen des jungen Priesters genoss. »Ihr habt ziemlich lange gebraucht, um mich aufzusuchen«, ertönte eine säuerliche Stimme hinter ihnen, worauf sich die Freunde umdrehten und den Großmeister in der Tür stehen sahen. »Ui, ui«, murmelte Pikel, aber Ivan schnaubte nur und schritt in den Raum hinein bis direkt vor Averys Eichentisch. Danica und Pikel kamen etwas zögerlicher nach. Averys Ausbruch schien schon vorüber zu sein. Der kurzatmige Mann zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit sein schweißnasses Gesicht ab. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr zurückkommt«, sagte er schnaufend unter mühsamem Luftholen. Abwechselnd sah er Ivan und Pikel an. »Ich hatte Abt Thobicus sogar schon vorgeschlagen, dass wir uns nach neuen Köchen umsehen sollten.« »Keine Sorge«, versicherte ihm Ivan mit einer Verbeugung, bei der sein gelber Bart über den Boden fegte. »Die Meister Eures Bauches sind zurück.« Pikel fiepte begeistert seine Zustimmung, doch Averys Miene zeigte, dass ihm die prahlerische, unbedarfte Haltung des Zwergs nicht passte. »Wir brauchen natürlich einen vollständigen Bericht über, eure Zeit in Shilmista – einen schriftlichen Bericht«, sagte er, während er ein paar Bögen Papier auf dem großen Schreibtisch umsortierte. »Ich schreibe nicht«, zog Ivan ihn auf, »aber ich kann Euch eine Goblinohrsuppe kochen. Das dürfte meine Zeit im Wald ganz gut ausgleichen.« Diesmal konnte nicht einmal Danica sich das Lachen verbeißen. »Dann wird Lady Maupoissant dir helfen«, sagte Avery, der jedes Wort langsam betonte, um ihnen zu zeigen, dass er nicht spaßte. »Wann werdet Ihr den Bericht brauchen?« fragte Danica, die hoffte, dass er ihr den ganzen Winter Zeit lassen würde. Ihre
Gedanken waren in Carradoon bei Cadderly, und allmählich befürchtete sie, sie hätte lieber weiter durch die Berge und direkt zu ihm laufen sollen. »In drei Tagen trefft Ihr Euch mit Abt Thobicus«, teilte Avery ihr mit. »Damit solltet Ihr reichlich Zeit –« »Unmöglich«, sagte Danica zu ihm. »Ich werde den Abt noch heute aufsuchen oder vielleicht morgen, aber –« »Drei Tage«, wiederholte Avery. »Der Zeitplan des Abts ist nicht Eure Angelegenheit, Lady Maupoissant.« Wieder benutzte er ihren Nachnamen, und Danica wusste, dass er so seinem Zorn Ausdruck verleihen wollte. Sie hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. »Ich gehöre nicht Eurem Orden an«, erinnerte sie den Großmeister. »Ich bin nicht verpflichtet –« Wieder schnitt Avery ihr das Wort ab. »Ihr werdet tun, was Euch aufgetragen wurde«, sagte er streng. »Glaubt nur nicht, Euer Verhalten in Shilmista wäre vergeben und vergessen.« Danica wich einen Schritt zurück. Ivan, der ebenso wütend wie verwirrt war, hob sich auf die Zehenspitzen und funkelte Avery an. »Häh?« war alles, was der perplexe Pikel ausstoßen konnte. »Wie ich gesagt habe«, erklärte Avery, der seine schwere Faust auf den Tisch heruntersausen ließ. »Ihr alle habt Euch heldenhaft verhalten, sowohl in Shilmista als auch zuvor, als der böse Priester und sein grausamer Fluch die Bibliothek heimgesucht haben, aber das entschuldigt nicht Euer Betragen, Lady Maupoissant.« Danica wollte schreien: »Welches Betragen?« Aber wegen ihres wachsenden Zorns, der ihr die Sprache verschlug, brachte sie kein Wort heraus. »Ihr habt ihn geschlagen«, erklärte Avery. »Ihr habt Rufo angegriffen, einen Priester des Deneir und Gastgeber in der Erhebenden Bibliothek.«
»Er hatte es verdient«, schimpfte Ivan. Avery brachte eine Art Lächeln zustande. »Irgendwie zweifle ich nicht daran«, stimmte er zu und näherte sich einen Augenblick seinem alten, liebenswerten Selbst. »Aber es gibt Regeln für derartige Vorfälle.« Er sah Danica in ihre braunen Augen. »Ihr könntet leicht für Euer ganzes Leben aus der Bibliothek verbannt werden, wenn ich Rufos Anklage nachgehen würde. Denkt daran.« Avery ließ Danica und den Zwergen einen Moment Zeit, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. »Alle für Euch wichtigen Schriften sind hier, alle bekannten Werke von Großmeister Penpahg D’Ahn. Ich weiß, was Eure Studien Euch bedeuten.« »Warum droht Ihr mir dann derart?« fauchte Danica. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und verschränkte die Arme. »Kann sein, dass ich zu Unrecht geschlagen habe, aber wenn ich wieder in dieselbe Situation käme – wenn ich nach all dieser Anstrengung, all dem Töten sein endloses Gejammer und die Vorwürfe an mich und meine Freunde mitanhören müsste –, dann kann ich nicht guten Gewissens behaupten, dass ich es nicht wieder tun würde.« »Ei, ei!« stimmte Pikel bereitwillig zu. »Er hatte es verdient«, sagte Ivan wieder. Avery winkte beschwichtigend ab. »Einverstanden«, sagte er, »und ich versichere Euch, dass ich nicht vorhabe, Rufos Anklagen weiter nachzugehen. Aber im Gegenzug verlange ich die paar Dinge, die ich erwähnt habe. Schreibt den Bericht und trefft Euch in drei Tagen mit Thobicus, wie er verfügt hat. Ich gebe Euch mein Wort, dass Rufos Anklagen weder Euch noch anderen gegenüber je wieder erwähnt werden.« Danica blies sich die störrische Haarsträhne aus dem Gesicht, was Avery als resignierten Seufzer ansah. »Allen Berichten zufolge geht es Cadderly gut«, sagte der
Großmeister leise. Danica schreckte hoch. Diesen Namen zu hören rief Angst und schmerzhafte Erinnerungen in ihr wach. »Er wohnt in der ›Drachenbörse‹, einem schönen Wirtshaus«, fuhr Avery fort. »Fredegar, der Wirt, ist ein Freund, und er kümmert sich um Cadderly, auch wenn das nicht einfach ist, weil er kaum sein Zimmer verlässt.« Die offenkundige Sorge des Großmeisters um Cadderly erinnerte Danica daran, dass Avery kein Feind war – weder für sie noch für ihren Freund. Sie verstand auch, dass ein Großteil von Averys säuerlichem Verhalten dem gleichen Umstand zugeschrieben werden konnte, der auch ihr zu schaffen machte: Cadderly war nur eben so lang in der Bibliothek geblieben, wie er gebraucht hatte, um seine Sachen zusammenzusuchen. Cadderly war nicht nach Hause gekommen – würde es vielleicht nie mehr tun. »Ich breche heute Nachmittag nach Carradoon auf«, kündigte Avery an. »Die Großmeister und der Rat der Stadt haben einiges zu klären. Nachdem diese Kriegsdrohung über uns hängt und… nun, macht Euch keine Gedanken. Ihr drei habt wirklich ein paar Tage Ruhe verdient.« Wieder verstand Danica die Hintergedanken des behäbigen Großmeisters. Sicher gab es zwischen der Bibliothek und der Stadt Dinge zu klären, aber Danica hielt es für unwahrscheinlich, dass Avery, dessen Aufgabe die Beaufsichtigung und Führung der jüngeren Priester war, in einem solchen Fall als Vertreter der Bibliothek geschickt würde. Avery hatte sich freiwillig gemeldet, hatte darauf bestanden, wie Danica wusste, und zwar nicht wegen der Bedrohung der Region. Die Verhandlungen in Carradoon waren die Ausrede, um nach Cadderly zu sehen, dem jungen Mann, den er liebte wie seinen Sohn. Danica und ihre Begleiter verabschiedeten sich. Schützend flankierten die Zwerge die junge Frau, als sie den Raum verließen. »Keine Sorge«, sagte Ivan zu Danica. »Ich und mein Brüderchen,
wir ziehen sowieso bald in die Stadt, um Vorräte für den Winter zu kaufen. Sieh zu, dass du deine Arbeit erledigst, dann brechen wir gleich hinterher auf. Es ist kein weiter Weg nach Carradoon, aber in diesen Zeiten ist es besser, wenn du nicht alleine hingehst.« Pikel nickte bekräftigend, dann trennten sie sich. Die Zwerge liefen die Treppe zur Küche hinunter, Danica ging auf ihr Zimmer. Ihr wurde klar, dass auch Ivan und Pikel Cadderly vermissten. Sie strich sich das rötlichblonde Haar zurück, das sich mittlerweile mehrere Fingerbreit über die Schultern lockte, als gestattete diese Geste ihr, vorläufig ihre Sorgen zu vergessen. Doch wie die widerspenstigen Haare ihr unvermeidlich wieder ins Gesicht fielen, wollten auch Danicas Ängste nicht verschwinden. Sie wollte Cadderly unbedingt wiedersehen, ihn halten und küssen, aber gleichzeitig hatte sie Angst vor der Begegnung. Wenn der junge Gelehrte sie wieder zurückwies wie in Shilmista, würde ihr Leben, ja, selbst ihre Hingabe an ihre Studien, keinen Sinn mehr haben. »Ich habe nicht viel gesehen«, gab Danica zu und setzte sich auf die Kante von Großmeisterin Pertelopes Bett. »Ich habe Wache gestanden, weil die Schlacht näherrückte. Ich wusste, dass Cadderly und Elbereth verwundbar sein würden, solange sie die Bäume riefen.« »Aber Ihr seid überzeugt, dass Cadderly bei dieser Anrufung eine Rolle spielte?« drängte Pertelope, die ihre Frage vielleicht schon zum fünften Mal wiederholte. Pertelope saß neben Danica, züchtig gekleidet wie immer. »Es war nicht nur der Elfenprinz.« Danica schüttelte den Kopf. »Ich habe Cadderly singen hören«, versuchte sie zu erklären. »Es lag noch etwas darin, eine unterschwellige Kraft…« Sie rang um Worte, ab er wie sollte sie welche finden? Was dort in Shilmista geschehen war, als Cadderly und Elbereth die großen Eichen geweckt hatten, war der jungen Frau fast wie ein Wunder vorgekommen. Und Wunder entzogen sich
definitionsgemäß jeder Beschreibung. »Cadderly hat mir erzählt, er habe eine Rolle gespielt«, antwortete die betretene Danica schließlich. »Zu der Anrufung gehörte mehr als nur die Wiederholung der alten Worte. Er hat von einer wachsenden Energie gesprochen, einer Geistesverfassung, die ihn in die Welt der Bäume geführt hat, bevor er sie wecken und in unsere Welt locken konnte.« Pertelope nickte. Sie hegte keine Zweifel an Danicas Aufrichtigkeit oder an Cadderlys mysteriöser, aufkeimender Macht. »Und die Verwundung des Elfenzauberers?« fragte sie nach. »So wie Elbereth es beschrieb, war der Speer Tintagel mindestens eine Spanne tief in die Seite gedrungen«, antwortete Danica. »Seine Kleider waren blutgetränkt – so viel habe ich selbst gesehen –, und Elbereth hätte eigentlich erwartet, dass er im nächsten Augenblick sterben würde. Doch als ich ihn sah, nur eine halbe Stunde nach der Verwundung, war er fast geheilt und schleuderte unseren Feinden schon wieder Zaubersprüche entgegen.« »Ihr habt in der Bibliothek Heilungen miterlebt«, sagte Pertelope, die ihre Aufregung zu verbergen suchte. »Zum Beispiel, als der Priester des Oghma sich beim Ringen mit Euch den Arm brach.« »Nichtvergleichbar mit der Heilung, die Cadderly an Tintagel vollzogen hat«, versicherte ihr Danica. »Elbereths Worten nach hat er den Bauch des Zauberers zugedrückt, während sich rund um seine Finger die Haut schloss!« Pertelope nickte wieder und versank in langes Schweigen. Es war nicht nötig, alles noch einmal durchzugehen. Danica hatte sich bei keiner Wiederholung widersprochen, und Pertelope wusste instinktiv, dass die junge Frau ehrlich war. Ihre braunen Augen starrten eine Weile ins Leere, bevor sie Danica wieder ansah. Die junge Kämpferin saß ganz still da, denn sie war in eigene Gedanken versunken. Pertelopes Augen nahmen einen Schatten wahr, der auf Danicas Schulter auftauchte, die Silhouette einer
winzigen Frau, die sich zitternd vor Nervosität umschaute. Vom Körper der jungen Frau ging eine ungewöhnliche Hitze aus, und ihr Atmen, das einem oberflächlichen Zuschauer stetig erscheinen musste, verriet Pertelopes wissendem, forschendem Blick ihre Ängste. Danica war voller Leidenschaft und doch voller Furcht, stellte die Großmeisterin fest. Schon der Gedanke an Cadderly versetzte sie in brodelnden Aufruhr. Pertelope schüttelte die hellsichtigen Visionen ab, beendete das ferne Lied, das in ihrem Hinterkopf spielte, und legte Danica tröstend die Hand auf die Schulter. »Danke, dass Ihr Euch ein wenig zu mir gesetzt habt«, sagte sie herzlich. »Ihr wart mir eine große Hilfe – und für Cadderly ebenfalls, daran zweifle ich nicht.« Über Danicas Gesicht glitt ein verwirrter Ausdruck. Pertelope hasste es, dass sie mit jemandem, der Cadderly so offensichtlich liebte, nicht offen reden durfte, aber sie wusste, dass Danica nicht verstehen würde, welche Mächte auf den jungen Priester einwirkten. Dieselben Mächte hatten Pertelope seit fast zwanzig Jahren begleitet, und Pertelope war sich nicht unbedingt sicher, dass sie selbst sie verstand. Das Bett knarrte, als Danica aufstand. »Ich muss jetzt gehen«, erklärte sie mit einem Blick zur Tür des kleinen Zimmers. »Falls Ihr es wünscht, kann ich später wieder…« »Nicht nötig«, antwortete die Großmeisterin mit warmem Lächeln. »Außer natürlich, wenn Ihr Euch gern unterhalten möchtet«, fügte sie schnell hinzu. Pertelope sah wieder genauer hin und ließ das Lied anklingen, um jene hellsichtige, übernatürliche Wahrnehmungsebene zu erreichen. Der zitternde Schatten hockte immer noch auf Danicas Schulter, aber jetzt wirkte er ruhiger, und der Atem der jungen Frau ging gleichmäßiger. Die Hitze jedoch war immer noch da, die vitale Energie leidenschaftlicher Vorfreude dieser jungen Frau, die kein Mädchen
mehr war. Selbst nachdem Danica verschwunden war, glühte die Türklinke von ihrer Berührung leicht nach. Pertelope stieß einen langen Seufzer aus. Sie zog einen ihrer armlangen Handschuhe ab, um die Haifischhaut zu kratzen, die er verbarg, und versuchte, sich an ihre eigenen Prüfungen zu erinnern, nachdem Deneir sie erwählt hatte, sie verflucht hatte, wie sie oft glaubte. Pertelope lächelte über diesen düsteren Gedanken. »Nein, kein Fluch«, sagte sie laut, während sie zur Decke blickte, als wollte sie sich an ein höheres Wesen wenden. Sie ließ das Lied in ihren Gedanken lauter werden, die universelle Harmonie, die sie unzählige Male beim Blättern in jenem Buch vernommen hatte, das sie Cadderly übergeben hatte. Sie überließ sich dem Lied und folgte seinen Tönen, um mit ihrem Lieblingsgott zu verschmelzen. »Du hast also Cadderly erwählt«, flüsterte sie. Sie erhielt keine Antwort und hatte auch keine erwartet. »Anders hätte er all diese ›Wunder‹ im Elfenwald nicht vollbringen können«, fuhr Pertelope fort, die ihre Schlussfolgerungen laut aussprach, um ihre Vermutungen zu stärken. »Ich habe Mitleid mit ihm, und doch beneide ich ihn, denn er ist jung und stark, stärker als ich je war. Wie mächtig wird er werden?« Wieder keine Antwort, nur die fortwährende Melodie in Pertelopes Kopf. Deshalb war sich die Großmeisterin oft vorgekommen, als wäre sie verflucht. Niemals gab es irgendwelche Antworten. Immer hatte sie alles selbst herausfinden müssen. Und so, das wusste sie, würde es auch Cadderly gehen.
Ein Bettelmann, ein Dieb Cadderly vermied es absichtlich, den Wachmann anzusehen, als er durch den kurzen Tunnel und unter dem hochgezogenen Fallgitter hindurchging, um die Stadt am See hinter sich zu lassen. Den ganzen Weg zum Westtor hatte der junge Gelehrte Leute jedes Standes und jeder Art beobachtet, und die Vielfalt der Schattenbilder, die von ihren Schultern gesprungen waren, hatte ihn nahezu überwältigt. Wieder spielte in seinen Gedanken das Lied von Deneir, als ob er es unbewusst herbeigerufen hätte, und wieder blieb als einziges verständliches Wort der Begriff Aurora. Cadderly konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Er befürchtete, diese neue Hellsichtigkeit würde ihn in den Wahnsinn treiben. Erst als er das geschäftige Carradoon hinter sich gelassen hatte, beruhigte er sich ein wenig. Auf den von Hecken und Bäumen gesäumten Wegen verlangte nur das Vogelgezwitscher und das Rascheln der Eichhörnchen, die über ihm ihre Wintervorräte zusammentrugen, seine Aufmerksamkeit. »Ist mein Los der Fluch der Eremiten?« fragte er sich laut. »Das ist es!« verkündete er dann und schreckte dadurch ein Eichhörnchen auf, das reglos an der tarnenden, grauen Rinde eines Baumes verharrt hatte. Cadderlys lauter werdende Stimme ließ den Nager blitzschnell den Baum hinaufspringen, wo er wieder erstarrte. Nicht einmal der buschige Schwanz zuckte. »Doch, das ist es!« rief Cadderly dem Tier mit gespielter Empörung zu. »All diese armen, verlassenen, einsamen Seelen, über die wir anderen die Stirn runzeln. Sie sind nicht freiwillig Eremiten. Sie werden von denselben Visionen gequält, die mich jagen, und das macht sie verrückt, treibt sie so lange umher, bis sie den Anblick eines anderen intelligenten Wesens nicht mehr ertragen.«
Cadderly trat unter den Baum, um das Tier besser sehen zu können. »Auf deinen Schultern sehe ich keine Schatten hocken, Herr Grau«, rief er. »Du hast keine heimlichen Wünsche, keine Gelüste außer denen, denen du ganz offen nachsetzt.« »Wenn nicht gerade ein Weibchen in der Nähe ist!« kam ein Ruf vom Weg her. Cadderly wäre beinahe aus seinen Stiefeln gefahren. Als er sich umschaute, sah er einen großen, schmutzigen Mann in zerlumpten, schlechtsitzenden Kleidern und Stiefeln, deren Kappen seit langem durchgestoßen waren. »Ein Weibchen würde es schon von seinen Nüssen ablenken«, fuhr der stoppelbärtige Mann fort, der beständig näher kam. Cadderly fasste unwillkürlich seinen Wanderstab mit dem Widderkopf fester. Auf den Wegen um die Stadt herum waren Diebe häufig, besonders zu dieser Jahreszeit, wenn bald der Winter Einzug halten würde. »Allerdings … «, fuhr der große Mann fort und legte nachdenklich einen Finger an seine Unterlippe. Cadderly fiel auf, dass er fingerlose Handschuhe trug, einen schwarzen und einen aus braunem Leder. »Wenn das Weibchen in der Nähe wäre, hätte der Eichkater noch immer keine ›heimlichen Wünsche‹, denn das unbeschwerte Ding würde dem folgen, was sein Herz für notwendig hielte, dem Ruf seines Bauches oder dem Ruf seiner Lenden. – Ich wäre da eher für die Lenden, was?« Er zwinkerte anzüglich. Cadderly errötete und hätte beinahe gelacht, obwohl er noch nicht recht wusste, was er von diesem wortgewandten Vagabunden zu halten hatte, und sich in seiner Nähe immer noch nicht wohl fühlte. Er sah genauer hin, um vielleicht einen verräterischen Schatten auf den Schultern des Mannes zu entdecken. Aber durch Cadderlys Überraschung war das Lied ganz verschwunden. Er entdeckte nichts außer den zerschlissenen Falten eines alten Wollschals. »Ein schöner Tag, um spazierenzugehen und mit den Tieren zu reden«, fuhr der Mann fort, als er sah, dass von Cadderly keine
Antwort zu erwarten war. »So ein Pech, dass ich durch die Tore von Carradoon ziehen muss, wo viel unangenehmere Gerüche herrschen, wo hohe Häuser den Blick auf das Panorama verstellen, das man auf dieser lieblichen Landstraße so leicht für selbstverständlich hält.« »Ihr werdet es schwer haben, an den Wachen vorbeizukommen«, stellte Cadderly fest, denn er wusste, wie sorgfältig die Stadtmiliz ihre Heimat bewachte, besonders seit Gerüchte über den Krieg zu hören waren. Der Vagabund öffnete einen kleinen Beutel, der an dem Strick um seinen Bauch hing, und zog ein einzelnes Goldstück heraus. »Bestechungsgeld?« fragte Cadderly. »Eintritt«, stellte der Bettler richtig. »›Man muss Gold geben‹ – oder Silber, in meinem Fall – ›um Gold zu machen‹, heißt das alte Sprichwort. Ich werde den Spruch für bare Münze nehmen, besonders weil ich weiß, dass mir auf jeden Fall Gold sicher ist, sobald ich erst hinter der Stadtmauer bin.« Cadderly betrachtete den Mann genauer. Er hatte keine Abzeichen einer zugelassenen Gilde, machte nicht den Anschein, als ob er irgendwelche Talente besaß, mit denen er Geld schinden konnte. »Ein Dieb«, stellte er kurz angebunden fest. »Niemals«, versicherte der Mann. »Ein Bettler?« fragte Cadderly, der dieses Wort mit dem gleichen, deutlichen Abscheu aussprach. Der große Mann hielt sich die Brust und taumelte mehrere Schritte zurück, als ob Cadderly ihm einen Dolch ins Herz gestoßen hätte. Jetzt erkannte der junge Gelehrte doch ein paar Schatten. Er fing einen schmerzerfüllten Blick hinter dem sarkastischen, spielerischen Auftreten des Mannes auf. Er sah eine Frau auf der einen Schulter, sie hielt ein kleines Kind, und ein älteres Kind auf der anderen Schulter des Mannes. Die Bilder waren sofort wieder verschwunden, und Cadderly fiel zum ersten Mal auf, dass der Mann leicht hinkte. Über
dem Rand des braunen Handschuhs entdeckte er eine blaugrüne Stelle am Handgelenk. Cadderly war plötzlich ganz elend zumute. Als er sich genauer konzentrierte, spürte er deutlich die Ausstrahlung der Krankheit und wusste ohne jeden Zweifel, warum dieser intelligente, gebildete Mann so tief gesunken war. Er hatte die Lepra. »E‐entschuldigt bitte«, stammelte Cadderly. »Ich wusste nicht …« »Nein, es weiß nie einer«, sagte der große Mann mit scharfer Stimme. »Euer Mitleid könnt Ihr Euch sparen, junger Priester des Deneir, aber Eure milde Gabe nehme ich gerne an.« Cadderly umklammerte seinen Wanderstab fester, weil er die Bemerkung als Drohung missverstand. »Ihr wisst, wovon ich rede«, sagte der Bettelmann zu ihm, »die Münzen, die Ihr mir unweigerlich hinwerfen werdet, um Eure Schuldgefühle zu mindern.« Cadderly litt unter der treffenden Feststellung, doch er konnte nichts dagegen tun, dass er mit diesem intelligenten Menschen, der so tief gesunken war, Mitleid empfand. Daneben war er überrascht, dass der Bettler seinen Orden erkannt hatte – dabei trug er doch sein heiliges Symbol weithin sichtbar auf der Vorderseite seines breitkrempigen Huts. Der große Mann musterte Cadderly eindringlich, während der junge Gelehrte von seinen aufgewühlten Emotionen übermannt wurde. »Schwein«, sagte der Mann zu Cadderlys Überraschung höhnisch. »Wie schrecklich, dass einer wie ich zum Bettler herabgesunken ist!« Cadderly biss sich angesichts dieser Theatralik auf die Lippe. »Um sich neben den armen Teufeln im Dreck zu suhlen«, fuhr der Mann fort und streckte einen Arm weit aus, während die andere Hand immer noch auf der eingebildeten Brustwunde ruhte. In dieser Pose verharrte er plötzlich und warf Cadderly einen
verwirrten Blick zu. »Arme Teufel?« fragte er. »Was wisst Ihr von ihnen, eingebildeter Priester? Ihr, der Ihr so intelligent seid – das ist doch das Höchste in Eurem Orden, nicht wahr? Intelligenz.« Der Bettler spuckte verächtlich aus. »Alles nur Ausreden, sage ich. Das ist es, was Euch anders macht, Euch hervorhebt.« Drohend sah er Cadderly an. »Das ist es, was Euch blind macht.« »Ich habe solche Worte nicht verdient!« erklärte Cadderly. Der Mann hob die Hände und stieß einen spöttischen, ungläubigen Schrei aus. »Verdient?« schrie er. Er riss einen Ärmel noch und enthüllte einen Streifen verfaulender, bläulich verfärbter Haut. »Verdient?« fragte er wieder. »Bitte sagt mir doch, junger Priester, der Ihr so klug seid, was haben die verdient, die in den Gassen von Carradoon knien und dort herumkriechen?« Cadderly glaubte, er müsste platzen. Er fühlte wütende Energie in sich aufsteigen, die sich zu explosiver Stärke ballte. Er erinnerte sich daran, wie er die Bäume in Shilmista geweckt hatte, wie er Tintagel geheilt hatte, wie er die Eingeweide des Elfenzauberers gehalten hatte, während eine ähnliche Energie die klaffende Wunde verschlossen hatte. Eine Seite aus dem Buch der Universellen Harmonie tauchte in Cadderlys Kopf auf, so deutlich, als läge das Buch offen vor ihm, und nun kannte er das Ziel seines Zorns. Er sah die Entstellungen am Arm des großen Mannes, atmete den Gestank der Krankheit ein, die die Seele dieses unschuldigen Menschen so mitgenommen hatte. »Pieta pieta, dominus…«, setzte Cadderly mit der Rezitation des Liedes an, dessen Worte er von dem Bild ablesen konnte, das ihm deutlich vor Augen stand. »Nein!« schrie der große Mann und stürmte los. Cadderly wollte noch schützend die Arme hochwerfen, aber der Mann war überraschend schnell und wendig für jemanden seiner Größe. Er bekam Cadderlys Kleider zu fassen und schüttelte den jungen Priester gründlich durch.
Cadderly sah eine Blöße; er hätte dem Mann seinen Wanderstab unter das Kinn stoßen können. Doch er wusste, dass der frustrierte Bettler ihn nicht wirklich verletzen wollte, und er war nicht überrascht, als der Mann ihn losließ und ihn einen Schritt zurückstieß. »Ich könnte Euch heilen!« knurrte Cadderly. »Könntet Ihr das?« spottete der Mann. »Und könntet Ihr all die anderen heilen?« rief er, während er mit dem Finger auf die ferne Stadt zeigte. »Könntet Ihr sie alle heilen? Sollen alle Leiden der Welt vor diesem jungen Priester des Deneir in die Knie gehen? Ruft die armen Teufel, sage ich!« rief der Bettler, der herumfuhr und es in alle Himmelsrichtungen schrie. »Sie sollen Schlange stehen vor diesem … diesem …« Seine schmutzigen Lippen bewegten sich schweigend, als er nach dem Wort suchte. »Diesem Gottgesandten!« rief er schließlich. Ein Eichhörnchen in der Nähe hetzte in Todesangst durch die Äste über dem Weg. »Ich habe solche Worte nicht verdient«, sagte Cadderly zum zweiten Mal. Seine Ruhe wirkte ansteckend, denn der große Mann ließ sofort seine Hände sinken. Seine Schultern hingen sichtlich herunter. »Nein«, stimmte der Leprakranke zu, »aber nehmt sie bitte hin. Als kleine Buße in einer Welt voll unverdienter Bußen.« Cadderly blinzelte gegen die Feuchtigkeit an, die ihm auf einmal in die grauen Augen trat. »Wie heißen sie?« fragte er leise. Der Bettler sah ihn einen Augenblick neugierig an, dann zog er die Mundwinkel hoch und lächelte zum ersten Mal richtig. »Meine Frau heißt Jhanine«, antwortete er. »Mein Sohn Toby und meine kleine Tochter Millinea. Bis jetzt scheint sich keiner von ihnen angesteckt zu haben«, erzählte er, denn er erriet Cadderlys unausgesprochene Frage. »Ich sehe sie selten – nur um die Gaben abzuliefern, die mir die schuldbewussten, hochnäsigen Leute in Carradoon zuwerfen.«
Der Bettler grinste, als er Cadderly rot werden sah. »Bitte um Vergebung«, sagte er und fiel in eine tiefe Verbeugung. »Auch ich bin mitunter blind und sehe alle Glücklichen, denen es besser geht, im gleichen Licht.« Cadderly nickte verständnisvoll über diesen unvermeidlichen – und entschuldbaren – Fehler. »Wie heißt Ihr?« »Namenlos«, antwortete der Bettler ohne Zögern. »Ja, das ist ein guter Name für einen wie mich. Namenlos – verwandt mit all den anderen Namenlosen, die sich vor den Türmen der Reichen in die Gosse ducken.« »Soviel Selbstmitleid habt Ihr?« fragte Cadderly. »Selbsterkenntnis«, antwortete Namenlos sofort. Cadderly gestand ihm dies zu. »Ich könnte Euch heilen«, sagte der junge Priester wieder. Namenlos zuckte die Schultern. »Das haben schon andere versucht«, erklärte er, »Priester Eures eigenen Ordens und auch Priester des Oghma. Ich bin in die Erhebende Bibliothek gepilgert – natürlich bin ich dorthingegangen –, als sich die ersten Anzeichen zeigten.« Die Erwähnung der Erhebenden Bibliothek ließ Cadderly unwillkürlich die Stirn runzeln. »Ich bin nicht wie die anderen«, versicherte er nachdrücklicher, als er beabsichtigt hatte. Der Bettler lächelte. »Nein, das seid Ihr nicht«, bestätigte er. »Dann werdet Ihr meine Hilfe annehmen?« Namenlos’ Lächeln brach nicht ab. »Ich werde… darüber nachdenken«, erwiderte er gefasst. Cadderly nahm einen unmissverständlichen Hoffnungsschimmer in den dunkelbraunen Augen wahr und sah auf der Schulter des Mannes einen Schatten auftauchen, einen Schatten des Bettlers selbst, der ausgelassen eine kleine Gestalt – Millinea, wie er irgendwie wusste – in die Luft warf und wieder auffing. Der Schatten zerfiel schnell, löste sich in Luft auf.
Cadderly nickte finster, denn er ahnte, wie gefährlich falsche Hoffnungen für einen wie diesen Mann waren. Er ahnte das Risiko, ohne es ganz zu verstehen – das wusste er nun, denn trotz all seines Mitgefühls stand nicht er in den löchrigen Schuhen des Bettlers. Der junge Priester zog seinen Beutel vom Gürtel. »Dann nehmt das hier«, sagte er entschieden und warf ihn dem großen Mann hin. Namenlos fing den Beutel auf, sah Cadderly fragend an, machte aber keine Anstalten, die Börse zurückzugeben. Cadderly begriff. Das hier war ein Angebot ohne falsche Hoffnungen, ein Angebot von offenkundigem Wert ohne Hintergedanken. »Ich bin einer dieser Hochmütigen«, erklärte Cadderly, »schuldig im Sinn Eurer Anklage.« »Und das hier mindert Eure Schuld?« fragte der Bettelmann, der die Augen zusammenkniff. Cadderly konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Kaum«, gab er zurück. Wenn Namenlos geglaubt hätte, die Börse würde seine Schuld mindern, hätte er sie Cadderly zurückgeworfen. »Kaum. eine angemessene Buße. Ich gebe sie Euch, weil Ihr und Jhanine, Toby und Millinea sie mehr verdient habt als ich. Meine Schuld werde ich tragen müssen, bis ich es besser weiß.« Cadderly legte den Kopf schief, weil ihm ein Gedanke kam. »Betrachtet das Gold als Lehrgeld, wenn Euch das hilft, Eure eigene Schuld zu mindern, weil Ihr einem Unschuldigen wie mir aufgelauert habt!« sagte er. Der Bettelmann lachte und verneigte sich tief. »Wirklich, kleiner Priester, Ihr seid nicht wie die Eures Ordens, die mich an der großen Tür zur Bibliothek begrüßt haben, die mehr mit ihrem eigenen Versagen bei meiner Heilung beschäftigt waren als mit den Folgen meiner Krankheit.« Darum haben sie auch versagt, erkannte Cadderly, unterbrach den Bettler jedoch nicht.
»Es ist ein schöner Tag!« fuhr Namenlos fort. »Und ich hoffe, Ihr könnt ihn genießen.« Er hielt die Börse hoch und schüttelte sie. Er vollführte einen regelrechten Freudentanz und lachte über das laute Klingeln der Münzen. »Vielleicht tue ich das auch. Heute pfeife ich auf die stinkenden Gassen von Carradoon!« Abrupt brach er seinen Tanz ab. Stocksteif und ernst musterte er Cadderly. Langsam streckte er seine rechte Hand aus und schien dabei zum ersten Mal seinen schmutzigen, fingerlosen Handschuh wahrzunehmen. Cadderly verstand, dass er geprüft wurde, und war froh, dass er diese Prüfung so leicht bestehen konnte. Ohne einen Gedanken an abergläubische Vorstellungen zu verschwenden, akzeptierte der Priester den Handschlag. »Ich komme häufig hier vorbei«, sagte Cadderly leise. »Denkt darüber nach, ob ich versuchen soll, Euch zu heilen.« Der Bettelmann, der zu bewegt war, um ein Wort herauszubringen, nickte heftig. Er drehte sich um und marschierte eilig davon. Jetzt war sein Hinken deutlicher zu sehen, als ob er sich nicht länger darum bemühte, es zu verbergen. Cadderly sah ihm einige Augenblicke nach, dann drehte er sich um und entfernte sich weiter von Carradoon. Er lächelte, als weitere Eichhörnchen über ihm herumhuschten, sah jedoch kaum einmal nach oben. Dem jungen Priester kam es so vor, als wäre der Tag gleichzeitig schöner und weniger schön geworden. Namenlos lächelte, als ein Eichhörnchen auf einem dünnen Ast fast das Gleichgewicht verlor, sich wieder fing und im letzten Moment wieder hochkam. Diesen einfachen, natürlichen Vorfall wollte der Bettler gern als Symbol dafür sehen, was gerade zwischen ihm und dem seltsamen jungen Priester geschehen war. Sich selbst sah er als den Ast und Cadderly als das Wesen, das daran seinen Lauf ausrichtete. Bei diesem Gedanken fühlte der Leprakranke sich zum
ersten Mal seit langer, langer Zeit gut und wertvoll. Er konnte allerdings kaum hoffen, genug Menschen wie diesen seltsamen Cadderly zu treffen, die Wert darauf legten, dass man ihnen ihren Hochmut deutlich machte. Nein, Namenlos würde so weitermachen müssen wie das ganze letzte Jahr, sich täglich abmühen, genug Almosen zu bekommen, damit seine Frau und seine Kinder nicht verhungern würden. Wenigstens hatte er vorläufig genug. Er warf den Beutel in die Luft, fing ihn glücklich wieder auf und lächelte wieder. Es war wirklich ein schöner Tag! Namenlos drehte sich um, denn er wollte Jhanine und den Kindern einen lange überfälligen Besuch abstatten, aber seine freudige Miene wich schnell einem Stirnrunzeln. »Verzeihung, wenn ich Euch erschreckt habe, guter Freund«, sagte ein Männlein, dessen dicke, träge Augenlider sich gerade so weit öffneten, dass Namenlos seine kleinen, dunklen Augen erkennen konnte. Instinktiv steckte Namenlos den Beutel mit den Münzen weg und hielt seine Arme vor sich. »Ich habe die Lepra«, knurrte er, um seine Krankheit als Drohung einzusetzen. Der kleine Mann kicherte. Dann stieß er ein pfeifendes Gelächter aus, das mehr einem Husten ähnelte. »Ihr haltet mich für einen Dieb?« fragte er mit offen ausgestreckten Händen. Namenlos betrachtete verwirrt die komischen Handschuhe des Mannes, ein schwarzer und ein weißer. »Wie Ihr seht, trage ich keine Waffen«, versicherte der kleine Kerl. »Nicht offen«, räumte Namenlos ein. »Ich sehe, dass wir beide ein gemischtes Paar Handschuhe haben«, stellte Geist fest. »Brüder im Geiste, hm?« Namenlos schob seine Hände unter die Falten seiner
schlechtsitzenden Kleider, weil er sich aus einem unverständlichen Grund schämte. Brüder im Geiste, dachte er. Kaum. Die guten Handschuhe, die dieser kleine Mann trug, ob sie zusammenpassten oder nicht, mussten mehr gekostet haben, als Namenlos seit vielen Monaten gesehen hatte, einschließlich der Börse des jungen Priesters. »Oh, doch, das sind wir«, versicherte Geist, der das Stirnrunzeln seines Gegenübers bemerkte. »Dann seid Ihr ein Bettler?« wagte Namenlos zu fragen. »Carradoon liegt nur eine Meile weiter. Ich wollte selbst dorthin. Die Ausbeute ist immer gut.« »Aber der junge Priester hat Eure Meinung geändert?« fragte der Fremde. »Erzählt mir von ihm.« Namenlos zuckte die Schultern und schüttelte leicht den Kopf, ohne die Bewegung selbst recht wahrzunehmen. Geist jedoch sah sie, und die Verwirrung des Bettlers verriet dem bösen Mann einiges. »Aha«, sagte Geist mit immer noch ausgebreiteten Armen, »Ihr kennt den jungen Cadderly gar nicht.« »Aber Ihr?« »Natürlich«, erwiderte Geist, der auf den Beutel zeigte, den Namenlos zu verbergen suchte. »Sollte in unserem Gewerbe nicht jeder jemanden kennen, der so großzügig ist wie Cadderly?« »Dann seid Ihr also wirklich ein Bettler«, schlussfolgerte Namenlos, der sich etwas entspannte. Es gab einen unausgesprochenen Ehrenkodex unter den Leuten der Gosse, eine Art Bruderschaft. »Vielleicht«, antwortete Geist geheimnisvoll. »Ich war schon vieles, aber jetzt bin ich ein Bettelmann.« Er presste ein weiteres Lachen heraus. »Jedenfalls werde ich, bald einer sein«, stellte er richtig. Namenlos sah zu, wie der Mann seinen Mantel am Hals aufknöpfte und die Wollfalten auseinander schob. »Ein Spiegel?« murmelte der Bettler. Dann sagte er nichts mehr, denn sein Spiegelbild in dem silbernen Gegenstand fesselte ihn.
Namenlos spürte das Eindringen. Er versuchte, sich zu entziehen, doch er konnte es nicht, weil die seltsame Magie ihn gefangen hielt. Er sah nichts als sein eigenes Abbild mit schwarzem Rand, als würde er zu einem anderen, dunklen Ort in einer anderen Welt befördert. Verzweifelt versuchte er, sich zu orientieren, seine Umgebung zu begreifen, etwas Vertrautes zu finden. Er sah nur sein Spiegelbild. Er hörte ein Klatschen, dann bewegte er sich oder hatte jedenfalls die Illusion, sich zu bewegen, obwohl er wusste, dass sein richtiger Körper sich überhaupt nicht gerührt hatte. Er spürte einen kurzen, scharfen Schmerz, als seine Seele aus dem Körper austrat und hilflos auf das schwächliche Gefäß zuschwebte, das ihn erwartete. Dann wieder Schmerz. Namenlos blinzelte. Bewusst kämpfte er gegen die Schwere seiner Augenlider an. Er sah wieder sein eigenes Bild, einen Bettler mit einem schwarzen und einem weißen Handschuh. Seine Verwirrung dauerte nur so lange an, bis er erkannte, dass er nicht länger ein Spiegelbild vor Augen hatte, sondern seinen eigenen Körper. »Was habt Ihr mir angetan?« schrie der Bettelmann, der nach dem Fremden in seinem Körper griff. Jede Bewegung kam ihm mühsam vor; seine Arme hatten kaum die Kraft, seine Wut auszuleben. Geist schnippte mit den Fingern, und die zwei Handschuhe verschwanden, so dass man seine neuen Hände sah, die zur Hälfte aus den fingerlosen Handschuhen herausragten. Halbherzig stieß er den Schwächling zurück. Wie nützlich dieser schlaffe Körper sich für Geist erwiesen hatte! Wie praktisch und unbedrohlich, ein Körper, den selbst ein kleiner Junge besiegen konnte. Mit fast resigniertem Schulterzucken näherte er sich dem jammernden, zutiefst verwirrten Bettler und legte ihm die schmutzigen Hände um den dünnen Hals. Namenlos wehrte sich verzweifelt, so verzweifelt, wie Geists jämmerliche Hülle eben kämpfen konnte, aber es lag nicht genug Kraft in seinen Armen, um den Griff des großen Angreifers zu lösen.
Bald hörte er auf, sich zu wehren, und Geist wusste, dass die Ergebenheit des Bettlers auf der Trauer um jene beruhte, die er zurücklassen würde. Der böse Mann betrachtete die Veränderung einigermaßen amüsiert, denn er fand es seltsam, ja, komisch, dass ein so erbärmlicher Mensch wie dieser leprakranke Bettler doch das Ende seines Lebens beklagte. Doch Geist kannte keine Gnade. Er hatte diesen Körper bestimmt schon hundertmal umgebracht und seinen vorherigen Körper und den Körper davor ebensooft. Der leblose Körper fiel auf den Boden. Sofort rief Geist seine magischen Gegenstände zurück und nutzte seine Macht, um zu beobachten, wie die Seele des Bettlers den getöteten Leib verließ. Schnell zog Geist den schönen schwarzen Handschuh aus und legte ihn auf seinen unbelebten Körper. Er schloss die Augen und bereitete sich auf den Ansturm der Schmerzen vor, denn schon diese einfache Handlung hatte einen Teil seiner eigenen Seele wieder an jenen Körper gebunden. Das war aus zwei Gründen notwendig. Der Körper würde heilen – Geist hatte einen mächtigen, magischen Gegenstand in einem Stiefel versteckt, der dafür sorgte –, und wenn er weiter geöffnet blieb, würde die Seele des Bettelmanns in ihn zurückfinden. Wenn Geist dem Gegenstand im Stiefel gestatten würde, eine Seele zurückzurufen, würden die Regenerationskräfte des Gegenstands außerdem die Gestalt teilweise verzehren. Wenn man bedachte, wie oft Geist diesen Tausch schon vollzogen hatte, hätte der Gegenstand die mickrige Gestalt schon längst aufgezehrt haben müssen. Aber dazu würde es nicht kommen. Geist wusste, wie er die Zauberkräfte kombinieren musste. Der Ghearufu, der aus Handschuhen und Spiegel bestand, hatte ihm schon vor langer Zeit gezeigt, wie es ging, und Geist hatte diese Kunst über drei Leben vervollkommnet.
Geist sah sich verstohlen um. Dann zog er den schmalen Körper weit vom Weg weg, in ein schützendes Gebüsch. Er spürte die Krankheit dieser neuen Gestalt, die er angenommen hatte. Es war ein unangenehmes Gefühl, aber Geist vertraute darauf, dass er diese Verkleidung nicht lange tragen würde – nur solange, bis er den jungen Cadderly selbst kennengelernt hatte. Dann hüpfte er wieder auf die Straße, wo er herumwanderte und sich fragte, wieviel Zeit wohl verstreichen würde, bis der kleine Cadderly auf diesem Weg zurückkam. Nachdem der Dieb mit dem Bettlerkörper verschwunden war, stand Namenlos’ Seele verwirrt und hilflos neben der winzigen Leiche. Wenn Cadderly sie jetzt mit seiner neuen Hellsichtigkeit angesehen hätte, hätte er mitbekommen, wie die Schatten von Jhanine, Toby und Millinea in alle Himmelsrichtungen zerstoben und verblassten wie die Bilder der Hoffnung, die sich Namenlos nie zugestanden hatte.
Das Labyrinth Nur zögernd näherte sich Cadderly dem steil ansteigenden Hügel mit der runden Kuppe und dem Turm von Belisarius, denn er erwartete eigentlich nicht, dass der Zauberer – so belesen er auch war – ihm viel Einsicht in die seltsamen Dinge verschaffen könnte, die ihm zugestoßen waren. Ehrlich gesagt hatte Cadderly keine Ahnung, ob der Zauberer ihm überhaupt eine Audienz gewähren würde. Er hatte Belisarius mehrmals wertvolle Schreibdienste geleistet, aber er konnte den Mann nicht wirklich seinen Freund nennen. Zudem war Cadderly gar nicht sicher, ob Belisarius zu Hause war. Der junge Gelehrte entspannte sich ein wenig, als sich ein breiter Grasstreifen, der den fast um siebzig Grad geneigten Hang hinaufführte, in eine Steintreppe mit geraden, gleichmäßigen Stufen verwandelte. Der Zauberer war zu Hause und hatte Cadderly offenbar schon kommen sehen. Fünfundsiebzig Stufen brachten Cadderly auf die flache Kuppe des Hügels und zu dem Kopfsteinpflasterweg, der um den Turm herum führte. Cadderly musste fast die Hälfte des Turms umrunden, denn Belisarius hatte seine Treppe heute weitab vom Eingang gelegt. Die Stufen erschienen nie an derselben Stelle des Hügels, aber Cadderly hatte noch nicht herausgefunden, ob der Zauberer jedesmal eine neue Treppe erschuf, ob er die grasbewachsene Anhöhe unter dem Turm drehte oder ob er die Besucher einfach über die tatsächliche Lage der Treppe täuschte. Cadderly hielt die letzte Möglichkeit – Täuschung – für die wahrscheinlichste, da Belisarius seine Zauberkraft in erster Linie für ausgefeilte Illusionen verwendete. Die eisenbeschlagene Tür des Turms schwang auf, als der junge Gelehrte näher kam (oder hatte sie schon die ganze Zeit offengestanden und nur so ausgesehen, als ob sie geschlossen war?).
Grübelnd blieb Cadderly stehen, bevor er über die Schwelle trat. Jetzt gab es ein Geräusch von knirschendem Stein, und ein ganzer Teil der Steinmauer in der Eingangshalle geriet in Bewegung, schwang auf, blockierte die innere Eingangstür und enthüllte statt dessen eine spinnwebenbedeckte Treppe, die sich ins Dunkel hinunterwand. Cadderly kratzte sein stoppliges Kinn, während er einen fragenden Blick auf die Treppe warf. Er erinnerte sich an die Male, als er mit Großmeister Avery in den Turm gekommen war. Jedesmal hatte der schlaue Zauberer die beiden mit einem neuen Rätsel empfangen. Cadderly freute sich über die Abwechslung. Anscheinend hatte Belisarius sich etwas Neues ausgedacht, etwas, das den jungen Mann von den quälenden Fragen ablenken konnte, die der Bettler ihm gestellt hatte. »Das ist ein neuer Weg und ein neuer Trick«, sagte Cadderly laut, um dem Zauberer zu gratulieren, der zweifellos zuhörte. Der stets neugierige junge Gelehrte zog prompt eine Fackel aus ihrer Halterung in der Vorhalle und machte sich an den Abstieg. Zwanzig Wendeltreppenstufen später stieß er auf einen niedrigen Gang, der an einer dicken Holztür endete. Cadderly betrachtete die Tür einen langen Augenblick sehr genau. Dann legte er eine Hand darauf, um die Festigkeit ihrer Substanz zu prüfen. Zufrieden stieß er die Tür auf und ging weiter. Hinter der Tür fand er eine weitere Treppe, die tiefer nach unten führte. Die nächste Ebene erwies sich als etwas verwirrender. Vom Fuß der Treppe zweigten drei gleichermaßen unauffällige Steinkorridore ab. Cadderly ging geradeaus, dann änderte er seine Meinung und ging nach links, wo er eine weitere Tür durchschreiten musste (nachdem er wieder prüfend innegehalten hatte), dann noch eine. Wieder hatte er einen neuen Abschnitt erreicht, der noch verwirrender war, denn von jedem der Wege gingen nach rechts und links viele Seitenpassagen ab. Cadderly hätte fast laut gelacht und gratulierte
insgeheim dem schlauen Zauberer. Mit hilflosem Achselzucken ließ er seinen Wanderstab auf den Boden fallen und folgte dann dem Pfad, den die blicklosen Augen des geschnitzten Widderkopfes für ihn bestimmt hatten. Ein Weg schien so gut wie der andere, als der junge Priester weiterlief, links, dann rechts, dann wieder rechts und dann geradeaus. Er ließ drei weitere Türen hinter sich offenstehen. Ein Gang neigte sich deutlich nach unten. »Ausgezeichnet!« rief Cadderly, als er um eine scharfe Ecke bog und sich an seinem Ausgangspunkt wiederfand, am Fuß der zweiten Treppe. Seine Fackel war bereits weit heruntergebrannt, aber der neugierige, junge Priester wagte sich noch einmal vor. Diesmal wählte er bewusst andere Gänge als beim ersten Durchgang. Die Fackel erlosch und ließ Cadderly in schwärzester Dunkelheit zurück. Gelassen schloss er die Augen und rief sich eine Seite aus dem Buch der Universellen Harmonie ins Gedächtnis. Er hörte ein paar Töne von Deneirs endlosem Lied und murmelte die entsprechenden Worte dazu, während er auf die Spitze seiner abgebrannten Fackel wies. Er musste viele Male blinzeln, als das magische Licht erstrahlte, viel heller, als die flackernde Flamme der Fackel gewesen war. Als seine Augen sich schließlich angepasst hatten, ging er weiter, bog um eine Ecke nach der anderen. Ein Schnaufen und Schnarren ließ ihn innehalten. Das war keine Ratte, stellte Cadderly fest. Das Tier – falls es ein Tier war –, das dieses Geräusch verursacht hatte, musste viel größer sein. Cadderly kam ein Bulle in den Sinn. Er erinnerte sich an einen Tag seiner Jugend, als er mit Großmeister Avery unterwegs gewesen war, und sie hatten eine Kuhweide überquert. Jedenfalls hatte Avery die Tiere für Kühe gehalten. Cadderly konnte sich das Lächeln nicht verbeißen, als er daran dachte, wie der dicke Avery schnaufend und keuchend schnellstmöglich vor einem wütenden Bullen Reißaus genommen hatte. Wieder hörte er das Scharren.
Cadderly überlegte, ob er das magische Licht löschen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch augenblicklich wieder, als ihm klar wurde, in welche prekäre Lage ihn dies bringen würde. Er schlich sich zur nächsten Ecke, nahm seinen breitkrempigen Hut ab und spähte langsam herum. Das Scharren stammte von einem menschenähnlichen Wesen, das jedoch eindeutig kein Mensch war. Es war volle sieben Fuß groß, Schultern und Brust waren breit und unglaublich stark, und sein Kopf – keine Maske, wie Cadderly wusste – ähnelte dem Bullen auf jenem Feld damals. Das Wesen trug nur einen Lendenschurz aus Wolfsfell und keine Waffe, was den nahezu unbewaffneten Gelehrten jedoch nur wenig erleichterte. Ein Minotaurus! Cadderly blieb fast das Herz stehen. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, dass dieser ganze Irrweg durch die Gewölbe des Turms das Werk von Belisarius war. War dem genialen Magier vielleicht etwas Schlimmes zugestoßen? Hatte eine dunkle Macht die hervorragenden Abwehrmechanismen des Turms überwältigt? Cadderlys Gedanken waren einen Augenblick später wie weggeblasen, als der stierköpfige Riese noch einmal mit einem Fuß über den Stein scharrte und angriff. Er überrannte Cadderly einfach, warf ihn quer durch den Gang. Als Cadderly auf dem Stein aufprallte, brach sein Schulterblatt, und seine Fackel flog davon. Immerhin ließ das magische Licht nicht nach. Der Minotaurus stürmte abermals schnaubend los. Cadderly hob abwehrend den Wanderstab. Was, bei den Neun Höllen, sollte diese winzige Waffe gegen ein so furchteinflößendes Untier ausrichten? Der Minotaurus schien sich überhaupt nicht darum zu kümmern, sondern rannte schnurstracks auf seinen Gegner zu. Cadderly schlug mit aller Kraft zu, doch der dünne Stecken zerbrach, als er die dickhäutige Brust des Minotaurus traf. Der Minotaurus verpasste ihm eine Ohrfeige, dann senkte er seinen
gehörnten Kopf und drückte Cadderly gegen die Steine. Der junge Mann bekam einen Arm frei, mit dem er auf das Untier einschlug, aber vergeblich. Der Minotaurus drückte nur noch fester, und Cadderly konnte sich weder bewegen noch atmen. Seine Schätzung, wie lange er noch zu leben hatte, verkürzte sich beträchtlich, als der Minotaurus seinen riesigen Mund öffnete, um seine beachtlichen Zähne auf eine Höhe mit Cadderlys ungeschütztem Hals zu bringen. In diesem Bruchteil einer Sekunde bemerkte der junge Priester die Energiefelder, die ihn umwehten. Er sah auf den Boden, wo sein unzerbrochener Wanderstab lag. Cadderly stieß den freien Arm in das klaffende Maul und fuhr mit der Hand die Kehle des Minotaurus hinunter. Einen Augenblick später zog er die Hand zurück, in der er das pochende Herz des stierköpfigen Monsters hielt. Das Wesen wich einen Schritt zurück. Es wagte nicht, etwas zu unternehmen. »Ich bin zwei Treppen hinuntergelaufen, die in Wirklichkeit nach oben führten«, erklärte Cadderly mit fester Stimme. »Und durch sechs Türen, von denen zwei Illusionen waren. Damit müsste ich im Westflügel Eurer Bibliothek sein, nicht wahr, mein guter. Belisarius?« Der Illusionsminotaurus verschwand, aber seltsamerweise hielt Cadderly noch immer das pochende Herz in der Hand. Die Umgebung nahm ihre wahre Gestalt an – der Westflügel, wie Cadderly vermutet hatte – , und ihm gegenüber stand Belisarius mit einem verwirrten, fast entsetzten Ausdruck auf dem bärtigen Gesicht mit den buschigen Augenbrauen. Der Zauberer lehnte erschüttert an einem Bücherschrank. Cadderly zwinkerte ihm zu. Dann sperrte er den Mund auf und tat, als wollte er einen Bissen von dem Etwas nehmen, das er in der Hand hatte. »Oh nein!« rief der Zauberer. Er drehte sich um und legte eine Hand über den Mund, um seinen Mageninhalt bei sich zu behalten.
»Tut das nicht! Oh, bitte, nicht!« Cadderly ließ das grausige Bild verschwinden. Er musste nur seinen Willen bemühen, dabei war er sich nicht einmal sicher, wie er es eigentlich erschaffen hatte. »Wie ist das möglich?« japste der Zauberer, als er sich schließlich gefangen hatte. »Meine Magie hat sich in letzter Zeit verändert«, versuchte Cadderly zu erklären. »Sie ist gewachsen.« »Von solcher Klerikermagie habe ich noch nie gehört«, beharrte Belisarius. »Um so perfekte Illusionen zu erschaffen …« Schon bei diesen Worten malte sich der Zauberer das Herz wieder aus, und wieder musste er würgen. Cadderly verstand etwas, das Belisarius anscheinend entging. »Ich habe das Bild nicht erschaffen«, erklärte der junge Gelehrte sich selbst ebenso wie dem Zauberer, »und ich habe auch die magischen Kräfte für dieses Bild nicht herbeigerufen.« Der Zauberer schluckte jeden Rest von Übelkeit herunter, denn was Cadderly gerade andeutete, war viel zu aufregend. »Ich habe die Energiekonzentration bemerkt«, fuhr Cadderly fort. »Ich habe Euren Trick als das erkannt, was er war, und Eure phantastische Illusion… verfremdet.« »Hättet Ihr sie nicht einfach auflösen können wie jeder normale Priester?« fragte Belisarius trocken. Cadderly zuckte die Schultern. »Ich dachte, das hätte ich«, erwiderte er mit schiefem Lächeln, »auf eine phantastische Weise, die Eurer Illusion würdig war.« Belisarius tippte anerkennend an seinen formlosen Filzhut. »Aber ich bin mir nicht sicher«, gab Cadderly zu. »Ehrlich gesagt, ich bin mir über gar nichts sicher, was meine Magie betrifft, und deshalb bin ich wieder hier.« Belisarius führte den jungen Mann zu dem benachbarten
Wohnraum, wo die beiden sich auf bequemen Sesseln niederließen. Der Zauberer holte vier Gegenstände – drei Ringe und einen schlanken Stab –, die Cadderly ihm vor drei Wochen gegeben hatte, und legte sie neben sich. Zuerst wollte er Cadderlys Erklärungen hören. Cadderly brauchte eine Weile, um mit seinen vielen Geschichten anzufangen – ihm war so viel passiert! Als er jedoch einmal begonnen hatte, erzählte er immer weiter, ließ nicht das kleinste Detail aus. Er erzählte Belisarius von der Anrufung der Bäume in Shilmista, wie er Tintagel geheilt hatte und wie er gesehen hatte, wie der Geist des edlen Pferdes Temmerisa sich von dessen Körper löste. Dann sprach er von den konkreteren, jüngeren Ereignissen, wie er erst Licht, dann Dunkelheit in seinem Zimmer und in Belisarius’ Labyrinth gemacht hatte. Am meisten verstörten den jungen Priester die Schattenbilder, die er auf den Schultern anderer sehen konnte. Er sagte jedoch noch nichts über seine Träume, weil er nicht recht wusste, wie sie in die ganze Sache hineinpassten, und auch ein bisschen Angst hatte, was sie zu bedeuten hatten. »Die Zauber, von denen Ihr sprecht, sind in der priesterlichen Magie nicht so ungewöhnlich«, sagte der Zauberer, als der offensichtlich erschütterte junge Mann seine beängstigende Geschichte beendet hatte. »Viele können auch von Zauberern durchgeführt werden, zum Beispiel die Beherrschung des Lichts. Was die Schatten angeht, nun, Kleriker sind schon seit Jahrhunderten in der Lage, das allgemeine Befinden einzelner zu erkennen.« »Aurora«, erinnerte sich Cadderly an das einzige Wort, das er aus jenem bestimmten Spruch entziffert hatte. »Ich verstehe nicht, wie ›die Morgenröte‹ einen solchen Spruch beeinflussen kann.« Belisarius kratzte sich den bereits ergrauenden Bart. »Das ist ungewöhnlich«, sagte er schließlich. »Aber ist ›die Morgenröte‹ die einzige Bedeutung dieses Worts? Wann wurde dieses wunderbare Buch geschrieben?«
Cadderly dachte einen Augenblick nach, dann hatte er seine Antwort. »Aurora«, sagte er fest, »Aura.« Er sah den Zauberer an und lächelte breit. »Aurora bedeutet Aura«, stimmte Belisarius zu, »oder jedenfalls bedeutete es das früher, denn es bezog sich auf die Ausstrahlung von Licht und Güte bei einzelnen Menschen. Da habt Ihr es: Eindeutig ein Klerikerspruch. Vielleicht ist es das, was Euch passiert ist, nur habt Ihr noch nicht gelernt, wie Ihr das Gesehene zu deuten habt.« Cadderly nickte, obwohl er nicht wirklich dieser Meinung war. Er wusste gewiss, wie er die tanzenden, flüchtigen Schatten zu deuten hatte, er spürte es. Das war nicht sein Problem. »Ich habe extreme Beispiele von Klerikermagie gesehen«, erwiderte Cadderly, »aber ich fürchte, diese Kräfte sind anders. Ich muss die Sprüche nicht durcharbeiten, bevor ich auf sie zurückgreife, so wie die Priester in der Bibliothek. Ich bereite mich überhaupt nicht darauf vor – wie bei der Illusion, die ich vor Euren Augen besiegt habe. Ich war nicht einmal davon ausgegangen, dass Ihr wisst, dass ich zu Besuch gekommen war.« Cadderly musste eine lange Pause einlegen, um sich wieder zu fassen. Während dieses Schweigens murmelte Belisarius fast unaufhörlich vor sich hin und kratzte seinen buschigen Bart. »Ihr wisst etwas«, meinte Cadderly, dessen Worte wie eine Anklage klangen. »Ich vermute etwas«, entgegnete Belisarius. »Seit der Zeit der Unruhen gab es vermehrt Berichte von einzelnen Menschen mit angeborenen magischen Kräften.« »Psioniker«, sagte Cadderly sofort. »Ihr habt also davon gehört«, sagte der Zauberer. Er streckte die dürren Arme in gespielter Verzweiflung aus. »Natürlich habt Ihr das«, brummelte er. »Ihr habt von allem schon gehört. Darum ist es so überaus frustrierend, mit Euch zu tun zu haben.«
Sein theatralisches Benehmen entlockte Cadderly ein Lächeln. Belisarius wirkte wirklich interessiert, als ob er ganz wild darauf wäre, seine Vermutung beweisen zu können. »Seid Ihr vielleicht ein Psioniker?« fragte er. »Ich weiß wenig darüber«, gab der junge Priester zu. »Wenn es das ist, was mit mir passiert, dann geschieht es ohne meine Einwilligung und ohne meine Unterstützung.« »Ihre Kräfte unterscheiden sich nicht so sehr von denen eines Zauberers«, erklärte Belisarius, »bis auf die Tatsache, dass sie aus dem Geist des einzelnen stammen, nicht aus den äußeren Kräften des Universums. Mit Euren mentalen Fähigkeiten bin ich wohlvertraut.« Er grinste, denn er spielte offenbar auf sein Zauberbuch an, das Cadderly rein aus der Erinnerung neu geschrieben hatte. »Solche Künste sind sehr typisch für die Kräfte eines Psionikers.« Cadderly dachte über seine Worte nach und schüttelte dann den Kopf. »Die Kräfte, die ich hier im Turm benutzt habe, waren äußerlich«, überlegte er. »Können Psioniker sich überhaupt derart in einen Zaubererspruch einmischen?« Belisarius zupfte an seiner Unterlippe. Sein Stirnrunzeln verriet, dass ihm die Frage zu denken gab. »Ich weiß nicht«, gab er zu. Schweigend saßen die beiden da. »Es passt nicht«, erklärte Cadderly schließlich. »Ich bin Empfänger der Kräfte und wandle sie zu dem gewünschten Ergebnis um, soviel weiß ich sicher.« »Ich will nicht widersprechen«, meinte Belisarius, »aber solche Kräfte müssen irgendwie geleitet werden – durch einen Spruch, wenn Ihr so wollt. Man kann nicht einfach so in die äußeren Energien des Universums eintreten!« Cadderly verstand die wachsende Erregung des Zauberers. Wenn Belisarius sich irrte, dann war sein ganzes Leben, seine einsiedlerartige Hingabe an seine magischen Studien, womöglich ein sinnloses Unterfangen gewesen.
»Das Lied«, murmelte Cadderly, der plötzlich die ganze Wahrheit erkannte. »Lied?« »Das Buch der Universellen Harmonie«, erklärte der junge Priester. »Das Buch von Deneir. Jedesmal, wenn ich auf diese Kräfte zurückgriff, selbst unbewusst, wie bei den tanzenden Schatten, habe ich im Hinterkopf das Lied aus jenem Buch gehört. Meine Antworten liegen in dem Lied.« »Lied aus dem Buch?« Belisarius begriff überhaupt nichts mehr. »Der Rhythmus der Worte«, versuchte Cadderly zu erklären, obwohl er wusste, dass es eigentlich nicht zu erklären war. Belisarius zuckte die Schultern. Er schien die einfache Erläuterung zu akzeptieren. »Dann habt Ihr Euer Verbindungsglied gefunden«, sagte er, »aber ich fürchte, es gibt wenig, was ich Euch darüber erzählen kann. Dieses Problem wäre eher etwas, das Ihr den Großmeistern der Erhebenden Bibliothek vortragen solltet.« »Oder meinem Gott«, murmelte Cadderly. Wieder zuckte Belisarius die Schultern. »Wie Ihr wollt«, sagte er. »Aber eines kann ich Euch sagen, und ich weiß, dass ich recht habe. Ich brauche nur Euer ausgezehrtes Gesicht anzusehen –« »Ich habe nicht gut geschlafen«, warf Cadderly ein, denn er fürchtete sich vor den Worten des Zauberers. »Magie, die Übertragung solcher Energien«, fuhr Belisarius fort, ohne sich von Cadderlys Erklärung beirren zu lassen, »fordert ihren Zoll von dem, der sie ausübt. Wir Zauberer geben gut acht, unsere Grenzen nicht zu überschreiten. Normalerweise könnten wir das sowieso nicht, denn wir bemerken schon beim Einprägen eines Spruches, wo diese Grenzen liegen. Das ist vergleichbar mit den Kräften, die einem Kleriker gewährt sind, die aus seinem Glauben erwachsen und von Sendboten der Götter oder mitunter bei Hohepriestern gar von den Göttern selbst
übermittelt werden«, überlegte Belisarius. »Ich warne Euch, junger Cadderly. Ich habe dumme Magier gesehen, die starben, weil sie versuchten, Sprüche zu wirken, die ihre Fähigkeiten überstiegen. Wenn Ihr einen Weg gefunden habt, die normalen Begrenzungen der Magie zu umgehen, was auch immer das für eine Magie sein mag, dann hoffe ich sehr, dass Ihr die Weisheit erlangen mögt, Eure Aktivitäten zu mäßigen, denn sonst wird die Magie Euch auffressen.« Tausend Möglichkeiten gingen Cadderly durch den Kopf. Vielleicht sollte er mit seinem Problem in die Bibliothek zurückkehren. Er könnte mit Pertelope sprechen… »Jetzt zu den Dingen, über die ich mehr weiß«, sagte Belisarius. Der Zauberer griff nach den Ringen und dem Stab. Zuerst hielt er einen Siegelring mit dem Dreizack‐und‐Flaschen‐Symbol von Burg Trinitatis hoch. Er hatte früher der bösen Zauberin Dorigen gehört. »Dieser Ring enthält keine erkennbare Magie, wie Ihr schon vermutet habt«, sagte der Zauberer und warf ihn Cadderly zu. »Ich weiß«, sagte Cadderly, als er ihn auffing und in seinen Beutel steckte. Die Erklärung ließ Belisarius innehalten und den jungen Mann betrachten. »Dieser Ring jedoch«, sagte er langsam, während er das goldene Band hochhielt, das mit einem großen Onyx besetzt war, »ist tatsächlich magisch und mächtig.« »Er ruft einen Feuerstrahl hervor«, sagte Cadderly, »wenn der Besitzer ›Fete‹ sagt, das Elfenwort für Feuer. Ich habe gesehen, wie er benutzt wurde«, ergänzte der junge Priester eilig, als er die tiefer werdende Furche auf Belisarius’ Stirn bemerkte. »Allerdings«, murmelte der Zauberer. »Und habt Ihr je von einem Mann namens Agannazzar gehört?« Belisarius lächelte, als Cadderly den Kopf schüttelte. »Ein nicht besonders berühmter Zauberer, der vor zweihundert Jahren geboren
wurde«, erläuterte Belisarius. »Also inzwischen tot«, schlussfolgerte Cadderly. »Vielleicht«, sagte Belisarius trocken, aber augenzwinkernd. »Bei Zauberern weiß man nie.« »Und es war sein Ring?« fragte Cadderly. »Ich weiß nicht genau«, erwiderte Belisarius. »Er oder einer seiner Gehilfen hat ihn mit dieser besonderen Macht ausgestattet. Er ist nicht besonders mächtig, aber er könnte Euch von Nutzen sein.« Er warf ihn Cadderly hin und nahm den Stab zur Hand. Der junge Priester vermutete, dass der Zauberer den letzten Ring absichtlich bis zum Schluss liegen ließ. »Das ist ein verbreiteter Gegenstand«, fing der Zauberer an, aber Cadderly unterbrach ihn, indem er die Hand hob. Auf den ersten Blick wirkte der Stab wie ein gewöhnlicher, schlanker Stock aus schwarzem Holz, nur gut einen Fuß lang. Doch als Cadderly ihn ansah, hörte er die Töne eines fernen Liedes in seinem Geist spielen. Er versenkte sich tiefer, spürte nach, dann sah er deutlich die Magie des Gegenstands. »Licht«, sagte er zu dem Zauberer. »Die Kraft des Stabes hat etwas mit der Einwirkung auf die Beleuchtung zu tun.« Belisarius runzelte wieder die Stirn und sah den Stab an, als ob er sich vergewissern wollte, dass in dem glatten Holz keine sichtbaren Runen eingeritzt waren. »Ihr habt gesehen, wie er benutzt wurde?« fragte der Zauberer hoffnungsvoll, da er es bereits leid war, nie zum Zuge zu kommen. »Nein«, erwiderte Cadderly, ohne sich von seiner Erkenntnis ablenken zu lassen. Innerlich sah er Lichter verschiedene Bilder formen und herumtanzen. »Domin illu«, murmelte er. Das Licht, das er sich vorstellte, wurde dauerhaft und genauso stark wie das Licht, das er in seinem Zimmer und im Labyrinth erschaffen
hatte. »Illu«, ein uraltes Wort für Licht, entwich seinen bebenden Lippen. Das Licht wurde stärker und heller, bis Cadderly gegen das Leuchten in seinem Geist ankämpfen musste. »Mas illu«, sagte er; die wörtliche Übersetzung davon lautete »Großes Licht.« Eine grüne, feurige Lichtexplosion sandte goldene Strahlen aus, die Cadderly innerlich blendeten. Er schrie auf, wandte sich ab. Er schrie: »Illumas belle!«, dann fiel er vom Sessel. Als er sich wieder aufraffte, sah er den Zauberer an, der immer noch dasaß und den auffälligen Stab in der ausgestreckten Hand hielt. »Was war denn das jetzt?« fragte Belisarius ungerührt. »Ich habe die Kräfte gesehen – vier verschiedene«, stammelte Cadderly, »in meinem Kopf.« »Und Ihr habt die Auslöserunen gesprochen«, fügte der verstimmte Zauberer hinzu, »genau.« »Aber wie?« fragte Cadderly ihn mit ehrlicher Verwirrung. »Geht zu einem Priester«, fauchte Belisarius. »Warum verschwendet Ihr meine Zeit und Energie mit Dingen, die Ihr bereits wisst?« »Aber ich wusste nichts«, beharrte Cadderly. »Geht zu einem Priester«, wiederholte Belisarius und warf Cadderly den Stab zu. Der junge Mann nahm den Stab entgegen und schaute. auf den Boden neben dem Sessel des Zauberers. »Es ist immer noch ein Ring übrig«, bemerkte er und setzte sich wieder hin. Belisarius hob den letzten Ring auf, ein goldenes, mit Diamantsplittern besetztes Band, und hielt ihn Cadderly hin. »Sagt Ihr es mir«, forderte der Zauberer. Wieder hörte Cadderly das ferne Lied erklingen, aber um des Stolzes seines geschätzten Freundes willen schob er es absichtlich
beiseite. »Der ist nicht magisch«, log er und streckte seine Hand aus, um den Ring zu nehmen. »Ha!« fauchte der Zauberer, der seine Hand zurückzog. »Das ist der mächtigste Gegenstand von allen!« Er hielt ihn dicht vor seine glitzernden, bewundernden Augen. »Ein Ring für Zauberer«, erklärte er, »der ihre Kräfte erhöht. Für Euch wäre der ziemlich wertlos.« In Cadderlys Kopf schellten die Alarmglocken. Worauf war der habgierige Belisarius aus? Der junge Priester konzentrierte sich nicht auf den Ring, sondern auf den Zauberer selbst, auf dessen Schulter er ein Schattenbild hocken sah, das gierig mit den Fingern wackelte und sich nervös die Hände rieb, während es den Ring anstarrte. Aber Cadderly wurde klar, dass die Gier des Zauberers wirklich einem Zaubererding galt. Der gebückte Schatten verriet ihm ohne jeden Zweifel, dass Belisarius ihn nicht angelogen hatte. Insgeheim machte Cadderly sich Vorwürfe, dass er etwas anderes geglaubt hatte. »Behaltet ihn«, bot er an. Der Zauberer wäre fast aus dem Sessel gekippt. Sein Lächeln sah aus, als wollte es auch noch seine Ohren umschließen. »Einverstanden«, sagte er mit unwillkürlich schriller Stimme. »Was soll ich Euch dafür geben?« Cadderly tat diesen Gedanken einfach ab. »Ich muss darauf bestehen«, fuhr Belisarius hartnäckig fort. »Das ist ein zu wertvolles Geschenk –« »Nicht für mich«, erinnerte ihn Cadderly. Belisarius gestand ihm diese Feststellung mit einem Nicken zu, suchte aber immer noch eine Möglichkeit, dem jungen Priester etwas zurückzugeben. »Euren Wanderstab!« erklärte er schließlich laut. Cadderly hob den Stab auf, ohne zu verstehen.
»Ihr benutzt ihn als Waffe?« »Wenn ich es nicht vermeiden kann«, antwortete Cadderly. »Er ist härter als meine Hand.« Schon der Gedanke an einen waffenlosen Zweikampf führte Cadderly unweigerlich Danicas Bild vor Augen. »Aber er ist nicht so kräftig, wie Ihr es Euch wünscht?« fuhr Belisarius fort, ohne den Schleier der Verzweiflung zu bemerken, der sich kurz über Cadderlys Gesicht senkte. »Streitet es nicht ab«, beharrte der Zauberer. »Im Kampf mit dem Minotaurus habt Ihr verraten, wie schwach Euch Eure Waffe vorkommt, denn Ihr habt leicht die Vorstellung akzeptiert, dass er zerbrochen war.« Cadderly widersprach nicht. »Lasst ihn bei mir, mein Junge!« rief Belisarius. »Überlasst ihn mir für ein paar Tage, und ich verspreche Euch, dass Ihr ihn nie wieder für eine schwache Waffe halten werdet.« »Also seid Ihr auch ein Beschwörer?« fragte Cadderly. »Es gibt viele Zauberertalente, die ein Kleriker eben nicht versteht«, antwortete der Zauberer mit übertriebener Überheblichkeit. »Besonders ein Kleriker, der nicht einmal seine eigenen Talente versteht«, erwiderte Cadderly und nahm mit seiner Bescheidenheit dem Zauberer den Wind aus den Segeln. Belisarius nickte und brachte ein schwaches Lächeln zustande, bevor er Cadderly mit einer letzten Mahnung entließ: »Mäßigung.« Cadderly war leicht überrascht, dass Namenlos immer noch auf der Straße zwischen dem Turm des Zauberers und Carradoon herumlief. Er hatte erwartet, dass der Bettler entweder nach Carradoon gegangen war, um seine Tageseinnahmen noch zu vergrößern, oder zu seiner Frau und seinen Kindern, um sich zu freuen, dass er den unausweichlichen Bürden der ihm aufgezwungenen Lebensweise ein
Weilchen entkommen war. Cadderly war noch überraschter, als der Bettler ihn ansah und ihm überdeutlich zuzwinkerte. Mit einem durchtriebenen Grinsen auf seinem schmutzigen Gesicht hielt er den Beutel Gold hoch und klingelte damit. Etwas an dieser Geste machte Cadderly stutzig, denn sie zeigte offene Gier oder offenen Dank, doch beides davon passte nicht zu dem stolzen, unglücklichen Menschen, den Cadderly am Morgen auf dem Weg getroffen hatte. Dann sah Cadderly die Schatten. Er konnte sie nicht so klar erkennen wie die Bilder von Jhanine und ihren Kindern. Es waren geduckte, zähnefletschende Dinger von ständig wechselnder Gestalt, die für den jungen Priester jedoch eine deutliche, permanente Bosheit ausstrahlten. Er sah eine Kralle von der Schulter des Bettlers ausfahren und in seine Richtung schlagen. Plötzlich hatte der junge Gelehrte große Angst. Seine Nackenhaare sträubten sich, sein Herz begann wie wild zu pochen. Ein ekelhaft süßlicher Gestank drang auf ihn ein; er glaubte, er könne Fliegen summen hören. Cadderly schüttelte heftig den Kopf, denn er fürchtete, er würde wirklich verrückt werden. Es kam ihm so vor, als wären all seine Sinne tierhaft verstärkt, und das plötzliche Eindringen so vieler Reize war nahezu überwältigend. Dann war er wieder ruhig und sah den Bettler an. Er wünschte, er hätte seinen Wanderstab, darum warf er einen Blick auf den fernen Turm. »Schöner Tag!« sagte Namenlos scheinbar gutgelaunt, obwohl Cadderly das rein instinktiv gar nicht fand. Fete. Cadderly kam das Wort in den Kopf, und fast hätte er es ausgestoßen. Er sah auf seine Hand, an deren einem Finger der Onyxring steckte. Unbewusst zielte sie bereits auf den Bettler. »Müsst Ihr so schnell wieder gehen?« fragte der Mann scheinbar
gekränkt. Cadderly sah die schwarzen Schatten, die sich auf der Schulter des Mannes drängten, sah die Klauen und die gifttriefenden Reißzähne. Er nickte kurz, zog fest den Mantel um die Schultern und eilte weiter. Wieder nahm er einen Hauch von jenem ekelhaft süßen Geruch wahr und hörte die Fliegen. Wäre er allein und weniger verstört gewesen, hätte er innegehalten und nach der Ursache geforscht. So schaute er nur kurz im Vorübergehen zu den Büschen am Straßenrand. Wenn er genauer hingesehen hätte, hätte Cadderly die Leiche entdeckt, die nach den wenigen Stunden in der spätsommerlichen Sonne bereits aufgetrieben war. Und wenn er die Kraft gefunden hätte, seine magische Wahrnehmung einzusetzen, hätte Cadderly auch gesehen, wie der Geist von Namenlos hilflos und ohne Hoffnung jämmerlich herumstreifte, bis die Götter kamen, um ihn für sich zu beanspruchen.
Unnötige Bosheit Der junge Priester hatte die Veränderung bemerkt! Geist verfluchte sich selbst und überlegte, was diese unerwartete Wendung zu bedeuten hatte. Er hatte nie wirklich angenommen, dass er Cadderly so leicht umbringen könnte – sämtlichen Informationen zufolge, die er bekommen hatte, war dieser junge Priester ein überaus gefährlicher Gegner. Aber als er gesehen hatte, wie Cadderly den Weg entlangwanderte, allein und offenbar ohne Zeugen in der Nähe, hatte Geist sich kurz gefragt, ob der Beutel Gold wohl schnell verdient sein könnte, wenn seine Kunst sich so leicht auszahlte. Der Bettelmann hatte Cadderlys Vertrauen gewonnen; soviel wusste Geist, der die Unterhaltung belauscht hatte. Wenn er sich jetzt als dieser Mann ausgab, dachte der Assassine, könnte er doch nahe genug herankommen und den arglosen Cadderly überwältigen. Aber der junge Priester hatte die Veränderung bemerkt! Geist spielte die kurze Begegnung noch einmal durch, denn er wollte herausfinden, wo seine Vorstellung fehlgeschlagen war. Ihm kam nichts Offensichtliches in den Sinn, jedenfalls nichts so Eklatantes, das es rechtfertigte, dass Cadderly den Kopf eingezogen hatte und eilig weitergerannt war. Wenn dieser junge Mann so ein eindrucksvoller Gegner war, wie die Berichte vermuten ließen – und wie jetzt auch Geist allmählich ahnte –, dann war er womöglich auch stark genug, die Magie des Ghearufu abzuwehren. Das war erst zweimal vorgekommen, beide Male bei Zauberern, die Geists Versuche, von ihnen Besitz zu ergreifen, mental abgeblockt hatten. »Es gibt noch andere Möglichkeiten«, sagte Geist laut und erinnerte sich daran, dass diese beiden widerstandsfähigen Zauberer schließlich doch als Futter für die Würmer geendet hatten. Das eine Mal war Geist in ein Opfer eingedrungen, das der nichtsahnende Magier nie
verdächtigt hätte: seine Frau. Was für ein köstlicher Mord das gewesen war! Das andere Mal hatte Geist der Nachtmaskenbande als Spion gedient und sie mit so enormen Mengen an Informationen versorgt, dass der anvisierte Zauberer trotz all seiner Macht einer der einfachsten Morde der Gesellschaft geworden war. »So oder so, kleiner Cadderly«, flüsterte der unbarmherzige Assassine in den Wind, »ich werde mein Bild malen, und noch vor dem ersten Schneefall sollst du tot sein.« Mit bösem Schnauben ging er in seinem Bettlerkörper zu den Büschen und holte seinen eigenen Körper zurück. Der magische Ring hatte die heilende Arbeit an der schwächlichen Gestalt inzwischen fast vollendet. Der Gestank verflog bereits, und die Fliegen waren verschwunden. »Trägst du einen Ring wie ich?« verhöhnte der Mann den körperlosen Geist, der immer noch hier herumstreifen musste. Geist machte den Ghearufu, den weißen Handschuh und den Spiegel, sichtbar und zog den schwarzen Handschuh von der Hand des Leichnams. Er versenkte sich in sich selbst, um sich mit den Kräften der magischen Gegenstände zu verbinden. Die Augen der vertrauteren Gestalt des Assassinen klappten gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie der Körper des Bettlers steif zur Seite kippte. Geist ließ sich einen Moment Zeit, um sich in seinem gewohnten Körper zu orientieren, dann stützte er sich auf die Ellenbogen. »Kein magischer Ring?« Er verlachte den Leichnam des Bettelmanns. »Dann wirst du tot bleiben, armer Tölpel, und wer auch immer deine Leiche findet, wird keine Ahnung haben, wie du gestorben bist.« Dieser Gedanke ließ sein Lächeln noch breiter werden. In seiner ersten Zeit mit dem Ghearufu, vor über hundert Jahren, hatte er seine unbeschadeten Opfer zerhackt. Seine Zuversicht war jedoch rasch gewachsen, und bald hatte Geist seine Taktik geändert. Mit
wachsender Arroganz hatte er gefunden, dass das Geheimnis um den Tod eines scheinbar gesunden Menschen eine passende Visitenkarte abgab. Geist ließ den Ghearufu verschwinden und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. Dann brach er zu den fernen Toren von Carradoon auf, wo ihn sein Zimmer in der »Drachenbörse« erwartete. Voll Abscheu registrierte der Firbolg die scheinbare Normalität um das Bauernhaus in der Nähe von Carradoon. Ein paar Hennen liefen herum und pickten hier und dort verstreute Körner auf, die drei Pferde im Stall neben der Scheune zeigten keinerlei Hinweise darauf, dass sie unterwegs gewesen waren, und das Haus wirkte völlig sicher. Keine Scheibe war zerbrochen, nicht einmal sichtbare Kratzspuren waren an den Türen zu finden. Vander wusste es besser. So war es immer, heimlich und hinterhältig. Dem Riesenkrieger kam alles so ungemein feige vor. »Wir hätten doch im Wald bleiben können«, murmelte er und warf den weißen Pelzmantel über seinen breiten Schultern zurück. Die Assassinen in ihrer schwarzsilbernen Kleidung sahen einander irritiert an. »Es war doch auf deinen Befehl … «, setzte einer zur Erwiderung an, aber Vander hob nur abwehrend die Hand. Nicht auf meinen Befehl, dachte der Firbolg, der sich daran erinnerte, wie Geist – in Vanders herrlichem Körper – seine Truppe in Marsch gesetzt hatte, während Vander in Geists schwacher Gestalt nur hilflos dabeigesessen und zugeschaut hatte. »Wir müssen reingehen«, meinte der Assassine nach kurzem, lastendem Schweigen. »Dieser Hof ist vom Weg aus zu sehen.« »Dich stört nur das Tageslicht«, stellte der Firbolg fest. »Es verrät uns«, gab die Nachtmaske trotzig zurück. Vander warf ihm einen finsteren Blick zu, folgte den beiden Männern aber doch zur Tür. Der Eingang war immerhin hoch und
breit, dass Vander nicht seine Größe verändern musste, worüber er froh war. Er nahm nur ungern menschliche Gestalt an, insbesondere in Gegenwart dieser verräterischen Mörder. Er liebte die eindrucksvolle Stärke seines Riesenkörpers, die langen, starken Arme, mit denen er einen Feind problemlos erreichen und erwürgen konnte. Auf der Schwelle zögerte er. »Das Haus ist sicher«, meinte einer der Assassinen von drinnen beruhigend, da er Vanders Widerwillen missverstand. »Nur die ältere Tochter ist noch am Leben, und die haben wir« – der lüsterne Ton, in den der Mann verfiel, ärgerte Vander zutiefst – »im Schlafzimmer.« Vander betrat das Haus. »Wo?« rief er, während er seinen Blick absichtlich von den blutigen Leichen in der Ecke der kleinen Küche abwandte. Der Assassine, den dieser grausige Anblick anscheinend überhaupt nicht störte, saß gemütlich am Tisch und frühstückte. Er zeigte auf eine Tür hinten im Raum. Getrieben von wachsender Wut, war Vander im Nu durch die Küche und an der Tür. Hinter der Schwelle zum zweiten Raum wäre er beinahe über eine kleinere, ebenfalls blutige Gestalt gefallen, und das trieb ihn nur noch schneller und entschlossener voran. Dieser Raum grenzte an ein seitliches Schlafzimmer, dessen Tür einen Spaltbreit offenstand. Von innen kam ein wimmerndes Geräusch, das Vander schon verriet, was dort vorging, bevor er die Tür überhaupt aufgestoßen hatte. Das Mädchen lag halbnackt auf dem Bett und war mit Hand‐ und Fußgelenken fest an die Pfosten gefesselt. Ein Knebeltuch zog ihre Mundwinkel straff zurück. An jeder Seite von ihr lag ein Assassine, der sie verspottete und sich an ihren entsetzten Bewegungen erfreute. Vander musste sich in diesem Zimmer tief bücken, um nicht an die Deckenbalken zu stoßen, aber das machte ihn nicht langsamer. Mit
einer einzigen Bewegung fegte er die drei Nachtmasken beiseite, die ihm im Weg standen, dann trat er an den Fuß des Bettes. Einer der zudringlichen Assassinen sah auf und grinste unverschämt, weil er das Hereinstürmen des Firbolgs missverstand. Der Dummkopf winkte Vander zu, sich dem Vergnügen zuzugesellen. Vanders große Hände packten beide Männer am Kragen und warfen sie quer durch den Raum. Beide Assassinen krachten links und rechts der Tür heftig gegen die Wand. Der Firbolg warf schnell eine Decke über die entblößte junge Frau und drehte sich zu seinen verhassten Kumpanen um. Die drei an der Zimmerwand sahen einander nervös an. Einer der Männer, die gegen die Wand geflogen waren, lag zusammengesackt am Boden, der andere jedoch war wütend aufgesprungen. Er hielt ein Kurzschwert in der Hand. Vander musste unwillkürlich grinsen, als er die Situation besah. Ob dies sein lange ersehnter Schlussstrich war? Doch ein nagender Gedanke nahm seinen Spott hinweg. Er konnte diese Männer töten, alle fünf, und wahrscheinlich auch das restliche gute Dutzend, das im Haus herumlief, aber was war mit Geist? Immer musste der Firbolg an Geist denken. »Ihr drei da«, befahl er den Männern an der Wand. »Euer Bruder hat eine Waffe gegen euren Meister gezogen.« Die drei verstanden sofort, was das zu bedeuten hatte, ebenso wie der Mann mit dem Kurzschwert, wenn sein plötzlich erschrockener Gesichtsausdruck denn seine wahren Gedanken widerspiegelte. Die Nachtmasken waren eine verschlagene, hinterhältige Bande, aber innerhalb ihrer Organisation herrschten strenge Verhaltensregeln und schreckliche Formen der Disziplinierung, die selbst der hartgesottenste Assassine fürchtete. Die drei an der Wand zogen ihre Waffen und gingen auf den Verräter zu.
Der Mann mit dem Kurzschwert versuchte, schnell seine Waffe wegzustecken. Er zuckte einmal, dann noch ein mal. Ein verwirrter Ausdruck legte sich über sein Gesicht. Sein Komplize, der an der Wand zusammengebrochen war, war nicht so benommen, wie es den Anschein gehabt hatte, und er war darauf versessen, sich die Gunst des Anführers wieder zu sichern. In der Hand hielt er den letzten von drei Dolchen, und auch diesen schwang er auf der Suche nach einem Platz in der Seite des Verräters. Bemüht, ihrem Anführer Respekt und Loyalität zu zeigen, drangen auch die anderen drei prompt auf den sterbenden Mann ein. Eine Keule schlug ihm das Kurzschwert aus den bebenden Händen, und alle vier loyalen Soldaten stürzten sich auf den Verurteilten, um auf ihn einzuhacken, bis er als blutiger Haufen auf dem Boden lag. »Legt ihn zu den anderen Toten«, sagte Vander zu ihnen. Er blickte zurück zum Bett. »Und sucht ein passendes Gefängnis für das Mädchen da.« »Sie ist eine Zeugin und muss getötet werden«, widersprach ein Assassine. »Das ist so bei uns.« »Nur, wenn ich es befehle«, gab Vander grimmig zurück. Angesichts des schlimmen Schicksals dessen, der es gewagt hatte, sich gegen ihn zu wenden, hatte seine Stimme nun gewaltigen Einfluss. »Jetzt nehmt sie mit!« Derselbe Mann, der Vanders Entscheidung in Frage gestellt hatte, ging sofort zum Bett. Er steckte seine Waffe ein, ohne jedoch den eiskalten Blick zu senken. Vander griff mit einer Hand nach seiner Kehle und hob ihn mit Leichtigkeit hoch. »Keiner rührt sie an«, fauchte er ihn an. Er bemerkte, wie die Hand des Mannes ganz langsam zu seinem Gürtel glitt. »Ja«, schnurrte Vander, »zieh doch dein kleines Messer!« Die übrigen drei Männer wirkten verunsichert.
»Sie muss getötet werden«, wagte einer von ihnen seinen bedrohten Gefährten zu unterstützen. Der Mann in Vanders Griff riss sich so weit los, dass er den Firbolg trotzig anknurren konnte. Vander warf ihn durch die nächste Wand in die Küche zurück. Mehrere Assassinen, die im Nachbarraum standen, starrten ungläubig durch das Loch auf den wütenden Firbolg. »Nur, wenn du es sagst«, erklärten die drei Männer an der Tür gehorsam. »Ich werde in der Scheune schlafen«, sagte Vander zu allen. »Die ist meiner Größe eher angemessen, und dort muss ich mich nicht mit euren Unverschämtheiten herumschlagen. Ich warne euch ein letztes Mal …« Vander beließ es dabei, denn er zog es vor, seine Drohung dadurch zu beenden, dass er die Blicke der anderen auf die zappelnde, stöhnende Nachtmaske lenkte, die zwischen den zerbrochenen Brettern zwischen Schlafzimmer und Küche feststeckte. Fredegar Harriman, Besitzer des Gasthauses »Zur Drachenbörse«, schüttelte ungläubig sein hängebackiges Gesicht, als nach noch einem Einzelzimmer gefragt wurde. Das Gasthaus hatte nur acht solche Räume, und während das viel billigere Gemeinschaftsquartier fast leer war, waren alle Privatzimmer belegt. Schon das war erstaunlich genug, aber was Fredegar noch seltsamer vorkam, war die Zusammensetzung seiner Gäste. Fünf der Zimmer gehörten Kaufleuten auf der Durchreise, was häufig vorkam. Das sechste war bis Ende des Jahres von Cadderly bezahlt worden, und ein siebtes war von der Erhebenden Bibliothek für einen Großmeister reserviert worden, der bald eintreffen sollte. Und gänzlich unerwartet hatte er den letzten Raum gerade heute an einen Fremden vermietet, der fast genauso eigenartig aussah wie dieser braunhaarige Bursche hier.
»Gemeinschaftsquartier reicht nicht?« fragte der bedrängte Wirt. »Wenigstens für ein paar Nächte? Es liegt auf der Rückseite des Hauses. Kein besonderer Ausblick, aber ziemlich ruhig.« Der junge Mann schüttelte den Kopf, wobei sein strähniges, braunes Haar zur Seite fiel und enthüllte, dass eine Hälfte seines Kopfes rasiert war. »Ich kann Euch gut bezahlen«, bot Bogo an und schüttelte kurz seine Börse, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Fredegar wischte weiter seinen Schanktisch und versuchte, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Er wollte den jungen Mann nicht abweisen, mehr wegen seines Rufes als Wirt und seiner Ehrlichkeit als wegen der verlorenen Münzen, aber er fand keine andere Lösung. Im Schankraum war heute Abend jede Menge Betrieb – wie jeden Abend, seit die Gerüchte von einem bevorstehenden Krieg Carradoon beunruhigten. Es waren hauptsächlich Leute aus dem Ort da. Fredegar warf einen Blick in die Menge, um zu sehen, ob einer seiner Privatgäste anwesend war. »Ich habe nur ein freies Zimmer«, erklärte er, »aber das wird nicht lange frei bleiben – vielleicht ist es schon heute Abend belegt.« »Jetzt bin ich hier, um es zu nehmen«, argumentierte Bogo. »Ist mein Gold nicht genauso gut wie jedes andere?« »Euer Gold ist gut«, versicherte ihm Fredegar, der Streit vermeiden wollte. »Dieser Raum ist seit einer Woche von Priestern aus der Erhebenden Bibliothek reserviert. Ich habe ihnen zugesichert, dass er frei sein wird, und, na ja, wenn Ihr aus unserer Gegend stammt, werdet Ihr wissen, dass es unklug ist, wenn ein ehrlicher Kaufmann wie ich sich mit der Erhebenden Bibliothek überwirft.« Bogo spitzte die Ohren, als von der Bibliothek die Rede war – und von den anderen Priestern, die unterwegs zur Stadt waren. »Großmeister Avery und Kierkan Rufo werden bald eintreffen«, fuhr der redselige Wirt fort. »Ich habe den guten, runden
Großmeister schon fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Ich gehe davon aus, dass er und Rufo in die Stadt kommen, um den jungen Cadderly zu treffen, der auch zu meinen Gästen zählt, und noch einen von ihren Priestern, damit sie sich auf diesen eventuellen Krieg vorbereiten können, von dem alle Welt zu reden scheint.« Bogo merkte sich jedes Wort, während er möglichst unbeteiligt wirkte. Die Nachricht von Rufo schien fast zu gut, um wahr zu sein. Wenn er einen in die Finger bekam, der schon zweimal den Helfershelfer gespielt hatte, konnte das seinem Plan, Cadderly umzubringen, nur zuträglich sein. Fredegar schwatzte weiter, vor allem über die wilden Gerüchte, die umliefen. Bogo gab gelegentlich ein Lächeln oder ein Grunzen dazu, damit es den Anschein hatte, als ob er zuhörte, doch im Geist beschäftigten ihn die vielen Wege, die seine neuesten Informationen ihm geöffnet hatten. »Ich hab’s!« verkündete Fredegar plötzlich so laut, dass mehrere Gäste an den vorderen Tischen des Schankraums ihre Gespräche abbrachen und sich zum Wirt umdrehten. »Malcolm«, rief Fredegar durch den Raum. Ein älterer Herr, der guten, farbenfrohen Kleidung nach ein Kaufmann, sah von seinem Tisch auf. »Halber Preis, wenn Ihr mit meinem Brennan das Zimmer teilt«, bot Fredegar an. Der alte Herr lächelte und wechselte noch einige Worte mit seinen Freunden am Tisch. Dann stand er auf und kam zum Schanktisch. »Ich bin nur noch eine Nacht in der Stadt«, antwortete er. »Morgen breche ich nach Riatavin auf.« Verschwörerisch zwinkerte er Fredegar und dem seltsam anmutenden jungen Mann am Schanktisch zu. »Mit so üblen Gerüchten in der Luft lassen sich gute Geschäfte machen.« »Eine Nacht mit meinem Brennan?« fragte Fredegar hoffnungsvoll. Der Kaufmann blickte durch den Raum zu einer jüngeren Frau
von hübschem Äußeren, die den Blick mit offenkundigem Interesse zurückgab. »Ich hatte gehofft, meine letzte Nacht in der Stadt nicht allein zu verbringen«, erklärte er. Wieder zwinkerte er, diesmal etwas lüsterner. »Denn wenn ich morgen Abend wieder in Riatavin bin, muss ich schließlich ein Weilchen bei meiner Frau bleiben.« Fredegar wurde rot, schloss sich aber seinem Lachen an. »Eine Nacht könnte ich im Gemeinschaftsquartier schlafen«, warf Bogo ein, der dem nutzlosen Geplänkel überhaupt nichts abgewinnen konnte, »wenn Ihr mir ab morgen Mittag den Raum dieses Mannes zusichert.« Bogo verzog seine dünnen Lippen zu einem trockenen Lächeln, weil er es für günstig hielt, den freundlichen Komplizen zu spielen. »Heute nacht umsonst?« fragte er zögernd. Fredegar, der nie kleinkrämerisch war (besonders wenn sein Haus so voll war), schlug sofort ein. »Und ein Bier auf meine Rechnung, junger Fremder«, bot der Wirt an, der schon einen Krug füllte. »Und eins für Eure Freundin?« fragte der Wirt Malcolm. »Lasst es an meinen Tisch bringen«, antwortete der Kaufmann, der an seinen Platz zurückkehrte. Bogo nahm das Getränk lächelnd an und drehte sich um. Mit dem Ellenbogen stützte er sich auf den Schanktisch. Die Menge redete laut und spielte; es war ein warmes, angenehmes Gasthaus, dessen Stimmung es überhaupt nicht beeinträchtigte (vielleicht sogar eher hob), dass aus der Ferne Gerüchte über einen Krieg herandrangen. Die perfekte Tarnung, dachte Bogo, als er das Getümmel beobachtete. Am liebsten hätte er laut gelacht, als er überlegte, wie die Ereignisse der nächsten Tage diesem Frohsinn ein Ende machen könnten. »Wie schön, dass Ihr wieder da seid!« hörte er Fredegar etwas später sagen. Bogo machte große Augen und schob sich ein wenig hinter den Tisch, als ein junger Mann zu dem Wirt trat. Er trug einen breitkrempigen, blauen Hut mit einem roten Hutband, in dessen
Mitte eine Porzellanbrosche mit dem heiligen Symbol des Deneir prangte. An seiner Identität konnten kaum Zweifel bestehen – Dorigens Beschreibung von Cadderly hatte keinen Bart enthalten, doch Bogo konnte erkennen, dass dieser noch nicht alt war. Die ungekämmten, blonden Haare und die grauen Augen passten jedenfalls. »Großmeister Avery und Kierkan Rufo haben sich angekündigt«, erzählte Fredegar, »vielleicht kommen sie noch heute nacht.« Bogo fiel auf, dass der junge Mann bei dieser Bemerkung zusammenzuckte, obwohl er versucht hatte, seine Reaktion zu verbergen. »Wissen sie, dass ich hier bin?« Fredegar wusste mit dem offensichtlichen Unbehagen seines Gasts nichts anzufangen. »Aber Cadderly«, entgegnete er verschmitzt, »habt Ihr etwas zu verbergen?« Der junge Priester lächelte unverbindlich und ging zur Treppe neben dem Schanktisch. Er war so in Gedanken versunken, dass er keine Notiz von dem komisch aussehenden jungen Mann nahm, an dem er vorüberkam. Bogo hingegen hatte Cadderly aufmerksam beobachtet. Er sah den Priester verschwinden und dachte daran, wie einfach alles werden konnte.
Schlimme Visionen, schlimme Taten Er stand in einem Zimmer, vielleicht dem Wohnzimmer in Belisarius’ Turm, und hielt ein pochendes Herz in der Hand. Zu seinen Füßen lag der gefällte Minotaurus, und seine engsten Freunde, Danica und die Zwergenbrüder, standen alle daneben und schütteten sich aus vor Lachen. Auch Cadderly fiel in das Gelächter ein, aber sobald er das tat, fiel ihm auf, dass seine Freunde überhaupt nicht lachten. Nein, sie weinten, schluchzten, dicke Tränen liefen ihnen über die Wangen und tropften in unglaublich große Pfützen zu ihren Füßen. Er verstand gar nichts. Etwas war unlogisch, falsch. Cadderly spürte, dass etwas an dieser ganzen Szene fehl am Platze war. Er spürte, dass warmes Blut seinen Arm herunterlief und seine Tunika durchtränkte, aber als er die Illusionen des Zauberers, den Minotaurus und das Labyrinth, verändert hatte, hatte es kein Blut gegeben! Langsam und voller Angst blickte der junge Gelehrte nach unten. Der Minotaurus war kein Minotaurus mehr, war aber auch nicht verschwunden, wie Cadderly es erwartet hatte. Es war Avery – Cadderly wusste, es war Avery, auch wenn er das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, der rücklings auf einem Tisch lag, Arme und Beine weit ausgebreitet und die Brust roh aufgerissen. Cadderly hielt Averys noch pochendes Herz. Er versuchte zu schreien, konnte es aber nicht. Dann kam ein klopfendes Geräusch, deutlich, aber fern. Er konnte nicht schreien.
Cadderly setzte sich auf. Das Klopfen kam wieder, drängender, gefolgt von einer Stimme, die Cadderly nicht ignorieren konnte. Schließlich wagte er es, die Augen aufzuschlagen, und seufzte tief, als er merkte, dass er in seinem eigenen Zimmer war. Es war nur ein weiterer dieser furchtbaren Träume gewesen. »Cadderly?« Der Ruf war kein Traum, und er erkannte die väterliche Stimme sehr richtig. Er machte die Augen wieder zu, um so zu tun, als wäre er nicht da – oder als wäre Avery nicht da. »Cadderly?« Das Klopfen hörte nicht auf. Wie spät war es wohl? Der Mond war aufgegangen, hatte seinen höchsten Stand jedoch noch nicht erreicht, denn sein silbernes Licht fiel noch nicht direkt durch das Ostfenster herein. Resignierend schob Cadderly sich aus dem Bett, zupfte sein Nachthemd zurecht und ging zur Tür. »Cadderly?« Er zog die Tür einen Spalt auf und wich ein wenig zurück, als er tatsächlich Großmeister Avery vor sich sah. Kierkan Rufo beugte sich wie üblich hinter dem Großmeister über dessen breite Schulter. »Es ist spät«, grummelte Cadderly durch das pelzige Gefühl im Mund und den würgenden Knoten im Hals. Er konnte Avery nicht ansehen, ohne dass ihm das schaurige Traumbild vor Augen trat, konnte den Mann nicht begrüßen, ohne das Gefühl zu haben, dass ihm Blut den Arm herunterlief. Unwillkürlich wischte er sich die Hand am Nachthemd ab. »Allerdings«, erwiderte Avery leicht verstimmt, »aber ich dachte, du würdest dich freuen zu erfahren, dass Rufo und ich in der Stadt sind. Wir wohnen hier im Gasthaus, nur vier Türen weiter, gegenüber der Treppe.« Einladend wies der behäbige Großmeister auf seine Zimmertür. Cadderly nickte nur. Dann erschauerte er wieder, als ihm ein
eingebildeter Blutstropfen über den Unterarm rann. Avery entging seine bedrückte Miene nicht. »Stimmt etwas nicht, Junge?« fragte der Großmeister mitleidig. »Nein«, antwortete Cadderly knapp, aber er vermutete, dass sein Benehmen weitere Neugier wecken würde, und erklärte: »Ich bin bloß müde. Ich hatte geschlafen …« »Tut mir leid«, sagte Avery mit etwas gezwungener Fröhlichkeit, »aber jetzt schläfst du nicht mehr.« Er machte einen Schritt vorwärts, als wollte er in das Zimmer eintreten. Cadderly verstellte ihm den Weg. »Ich werde bald weiterschlafen«, sagte er schlicht. Avery trat zurück. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft sah er Cadderly mit nicht gerade freundlichem Glimmen in seinen Schweinsäuglein an. »Immer noch stur?« fragte Avery scharf. »Du bewegst dich auf gefährlichem Boden, junger Priester. Dein Fehlen in der Bibliothek könnte man dir nachsehen. Abt Thobicus hat versprochen, dass er dir gestatten wird, dein Pflichtversäumnis und deinen mangelnden Fleiß wieder gutzumachen.« »Ist mir egal.« »Wenn du weiter so eigensinnig bleibst«, grollte Avery, »dann könntest du dich völlig vom Orden entfernen. Ich glaube, nicht einmal der gute Thobicus könnte dir dein Fehlverhalten gegen Deneir verzeihen …« »Was weißt du schon von Deneir?« fragte Cadderly. Innerlich sah er Avery wieder tot auf dem Tisch liegen, aber er schüttelte den schrecklichen Gedanken ab, der ihm klar machte, wie sehr er diesen Mann liebte, der ihm den Vater ersetzt hatte. »Und warum kümmerst du dich um mich? Hast du mich nicht einst einen Gondjünger genannt?« fragte Cadderly scharf. Diese Äußerung Averys hatte sich auf einen Orden erfinderischer Priester bezogen, die gewissenlos Dinge erschufen, ohne die Folgen ihrer Werke zu
berücksichtigen. Cadderly sah den Großmeister an, seinen Ersatzvater, den er mit seiner Unverschämtheit gerade schrecklich gekränkt hatte. Gegen seine letzte Aussage konnte Avery nichts einwenden. Es sah fast so aus, als wollte er in Tränen ausbrechen. Kierkan Rufo hinter ihm zeigte einen fast belustigten Ausdruck des Erstaunens. »Tut mir leid«, stammelte Cadderly. Avery hob abwehrend die Hand. »Ich bin müde, das ist alles«, versuchte Cadderly zu erklären. »In letzter Zeit habe ich schreckliche Träume.« Jetzt schaute Avery eindeutig besorgt drein, und Cadderly wusste, dass seine Entschuldigung angenommen war oder bald sein würde. »Wir sind nur vier Türen weiter«, wiederholte der behäbige Großmeister. »Wenn du reden möchtest, kannst du immer noch zu uns kommen.« Cadderly nickte, obwohl er wusste, dass er nicht zu ihnen gehen würde. Sobald Avery sich umdrehte, machte er die Tür zu. Dann lehnte er sich matt dagegen und dachte, was für eine armselige Barriere diese Tür doch gegen die Zweifel und die Verwirrung in der Welt da draußen war. Er sah zum Tisch am Fenster, wo das aufgeschlagene Buch lag. Wann hatte er dieses Buch zum letzten Mal zugeschlagen? Cadderly brachte nicht einmal die Kraft auf, zum Tisch zu gehen. Er schlüpfte wieder ins Bett und hoffte, dass er die Alpträume dieser Nacht schon hinter sich hatte. Bogo Rath beendete den Hellhörigkeitszauber und stieß die Tür zum Schlafsaal auf. Der Schlafsaal lag im Südwestflügel des ersten Stocks des Gasthauses. Fast direkt gegenüber, über dem Schankraum, sah er Cadderlys Tür, die jetzt wieder geschlossen war. Avery und Rufo gingen um die Ecke schräg rechts von Bogo, um zu
der Tür genau gegenüber der breiten Treppe zu gelangen. Im Wirtsraum war es jetzt still, so dass Bogo ihr Gespräch deutlich hören konnte. »Seine Laune hat sich kein bisschen verbessert, seit er aus der Bibliothek abgezogen ist«, sagte Rufo anklagend. »Er sah müde aus«, antwortete Avery mit ergebenem Seufzer. »Armer Kerl – vielleicht wird Danicas Ankunft ihn etwas aufheitern.« Dann betraten sie ihr Zimmer. Bogo überlegte, ob er magisch weiterlauschen sollte, um den Rest des Gesprächs mitzuhören. »Wer ist Danica?« fragte eine leise, monotone Stimme hinter ihm. Der junge Zauberer erstarrte. Dann schaffte er es, sich langsam umzudrehen. Mitten in dem ansonsten leeren Schlafsaal stand Geist. Der winzige Mann hatte keine Waffe und kam keinen Schritt auf Bogo zu, aber der Zauberer fühlte sich dennoch verwundbar. Wie hatte sich Geist so leicht hinter ihn schleichen können? Es gab nur eine Tür zu dem Raum, und er hatte keinen Balkon wie die teureren Einzelzimmer. »Wie seid Ihr hier hereingekommen?« fragte Bogo mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich war schon die ganze Zeit hier«, erwiderte Geist. Er drehte sich um und zeigte auf einen Haufen Decken. »Da drüben habe ich Eure Rückkehr aus dem Schankraum erwartet.« »Ihr hättet etwas sagen können.« Geists pfeifendes Gelächter verspottete ihn und verriet, wie lächerlich er sich angehört hatte. »Wer ist Danica?« fragte der böse kleine Mann wieder, diesmal entschlossener. »Lady Danica Maupoissant«, antwortete Bogo, »aus Westtor. Habt Ihr schon von ihr gehört?« Geist schüttelte den Kopf.
»Sie ist Cadderlys beste Freundin«, fuhr Bogo fort, »allen Beschreibungen nach ein hübsches, zartes Ding, aber unglaublich!« Bogos Stimme und seine Miene wurden ernst. »Das sind schlechte Nachrichten, Partner«, erklärte er. »Lady Maupoissant war für Burg Trinitatis bisher eine schreckliche Gegnerin. Wenn sie bald eintrifft, wärt Ihr gut beraten, Euer Geschäft mit Cadderly rasch abzuwickeln und hier zu verschwinden.« Geist nickte und dachte über die Warnung nach. »Wo kommt sie her?« fragte er. »Aus der Bibliothek?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete Bogo. Er warf sein braunes Haar auf eine Seite und lächelte dreist. »Was meint Ihr?« Geists wütender Blick bewirkte, dass der Zauberer weniger spöttisch dreinschaute. »Das geht Euch nichts an«, fauchte er in plötzlicher Wut und drängte sich an Bogo vorbei aus der Tür. »Wenn Ihr glaubt, Ihr könntet auf eigene Faust gegen Cadderly vorgehen … « Er ließ die Andeutung. einen Augenblick lang in der Luft hängen. »… nun, sagen wir einfach, die Folgen eines Versagens wären absolut schrecklich«, endete Geist und wollte gehen. Er drehte sich jedoch gleich noch einmal um. Sein Blick führte Bogo zu dem Stapel Decken, unter dem er sich versteckt hatte. »Seht Euch vor, junger Zauberer«, sagte Geist nur. Dann stieß er ein pfeifendes, hustendes Lachen aus und ging in sein Zimmer in der Nordecke, zwischen Cadderlys Raum und dem Zimmer, in dem Avery und Rufo schliefen. »Aus der Bibliothek, aus den Bergen«, überlegte Geist, nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte. »Nun, wir werden sehen, ob Lady Maupoissant auch in Carradoon ankommt.« Geist setzte sich aufs Bett und rief den Ghearufu. Mit seiner Macht schickte er seine Gedanken aus der Stadt zu Vander ins Bauernhaus. Geist fühlte den üblichen Abscheu des Firbolgs und wusste innerlich, dass Vander sich sowohl über die Situation auf dem Hof als auch über Geists Eindringen ärgerte.
Lass mich ein, Vander, neckte der hämische Mann, der darauf vertrauen konnte, dass der Firbolg ihm nichts entgegensetzen konnte. Vander war Geists Lieblingsopfer, sein bestes Ziel, und nur mit Vander konnte Geist den Körpertausch über fast jede Entfernung vornehmen. Er fühlte den scharfen, brennenden Schmerz, als sein Geist seinen Körper verließ, dann trieb er auf dem Wind dahin und sauste direkt in die Hülle des Firbolgs. Als er in den Riesenkörper eindrang, wusste er, dass Vander seinen Körper im Zimmer im Gasthaus »Zur Drachenbörse« eingenommen hatte. Geh nicht aus dem Zimmer, wies Geist ihn durch die noch bestehende telepathische Verbindung an. Lass niemanden ein, schon gar nicht diesen dummen Bogo Rath! Geist ließ den Ghearufu verschwinden und sah sich um. Komischerweise befand er sich in einer Scheune zwischen Pferden und Kühen. Der Mann im Körper des Firbolgs schüttelte angesichts von Vanders immer wieder überraschendem Verhalten den Kopf und marschierte zu der breiten Tür. Der Hof lag still im Licht des Monds, der schon nach Westen wanderte. Das Haus war dunkel. In keinem Fenster brannte eine Kerze. Geist lief quer über den Hof, als er über sich ein Geräusch hörte. »Nur euer Anführer«, sagte er zu den unsichtbaren Wachen. »Holt die anderen und kommt in die Scheune, alle. Es wird Zeit, unsere Schlinge enger zu ziehen.« Schon wenige Minuten später waren alle neunzehn Nachtmasken um ihren Anführer versammelt. Geist bemerkte, dass einer seiner Gefolgsleute fehlte, sagte jedoch nichts dazu, weil Vander vermutlich gewusst hatte, was aus dem Mann geworden war. Er würde alle verwirren, wenn er nun in Vanders Körper nach diesem Mann fragte. Schnell zeichnete er eine Karte vor sich auf den Boden. »Ich habe erfahren, dass eine Frau aus der Erhebenden Bibliothek auf dem Weg
nach Carradoon ist«, sagte er und zeigte auf eine Stelle in dem Bergmassiv. »Es gibt nur wenige Wege durch die Berge, und alle enden ungefähr hier. Sie dürfte leicht zu finden sein.« »Wie viele sollen wir losschicken?« fragte einer der Assassinen. Geist hielt inne, um sowohl den wütenden Unterton in der Stimme des Mannes als auch die Frage selbst zu überdenken. Vielleicht hatte der fehlende Mörder unter Vanders impulsiven Händen ein unerwartetes Ende gefunden. »Fünf«, sagte Geist schließlich. »Die Frau muss getötet werden, ebenso jeder, der sie begleitet.« »Es könnte eine große, gut bewaffnete Truppe sein«, widersprach derselbe Assassine. »Wenn es so ist, tötet ihr nur die Frau und verschwindet wieder«, fauchte Geist ihn an. Seine laute Firbolgstimme hallte in der Scheune wider. »Welche fünf?« fragte einer aus der Gruppe. »Macht das unter euch aus«, erwiderte Geist, »aber nehmt die Frau nicht zu leicht. Allen Berichten nach ist sie wirklich ein starker Gegner. Eine zweite Fünfergruppe muss in der Stadt zuschlagen«, fuhr er dann fort. »Unsere Informationen waren korrekt. Cadderly wohnt in der ›Drachenbörse‹. Hier«, sagte er, während er seine Karte um den seenahen Teil von Carradoon erweiterte und auf die Straße am Ufer zeigte, »an der Promenade. Sucht euch Positionen in der Nähe des Wirtshauses, wo ihr meinen… Geists Befehl erwartet. Aber passt auf, dass ihr euch im Hintergrund haltet und keinen Verdacht erregt.« »Mit fünf Läufern als Kontaktreihe zur Gruppe in der Stadt?« fragte der bisherige Wortführer weiter. »Wie immer«, antwortete Geist ruhig. »Dann wären außer Euch nur noch vier Leute hier auf dem Hof«, stellte der verstimmte Assassine fest. Geist sah nicht ein, wieso das
problematisch sein sollte. »Wenn wir das Mädchen die ganze Zeit bewachen müssen …« »Das Mädchen?« Geist hatte sich nicht so überrascht anhören wollen. Der Assassine und mehrere andere zogen neugierig die Brauen hoch. »Das Mädchen, für das Mishalak gestorben ist«, sagte er verächtlich. Geist sah ein Problem aufkommen und runzelte sofort die Stirn, um den Wortführer in seine Schranken zu weisen. »Ich zweifle nicht an Eurer Entscheidung, sie am Leben zu lassen«, erklärte der Assassine schnell. »Und ich bestreite auch nicht, dass Mishalak den Tod verdient hat, weil er gegen Euch, unseren Anführer, die Waffe erhoben hat. Aber wenn nur vier von uns im Hof zurückbleiben, wird das Mädchen zur Bedrohung.« Das alles kam dem schlauen Körpertauscher sehr plausibel vor. Vanders weiches Herz hatte schon zuvor öfter Probleme bereitet. Meist war der Firbolg einfach zu ehrenhaft und begriff nicht, dass die Pflicht vorging. Geist dachte einen Augenblick nach, wie er den Riesen bestrafen konnte, dann lächelte er breit, als ihm eine wirklich gemeine Idee kam. »Du hast recht«, sagte er zu dem Assassinen. »Es wird Zeit, dass ihr dieser Bedrohung ein Ende macht.« Der Mann nickte eifrig, und Geists Lächeln wurde noch breiter, als er daran dachte, wie wütend Vander werden würde und wie hilflos. Das würde der stolze Firbolg am allermeisten hassen. »Macht dieser Bedrohung noch heute nacht ein Ende«, schnurrte Geist, »aber zuerst dürft ihr euch gemeinsam mit ihr vergnügen.« Der ganze Ring der bösen Assassinen lächelte. »Wir leben nicht von Pflicht allein!« Alle johlten begeistert. »Zieht aber auch noch heute nacht in die Berge«, fuhr Geist fort. »Ich weiß nicht, wie viele Tagesreisen diese Lady Maupoissant noch von Carradoon entfernt ist, aber sie darf auf keinen Fall die Stadt
betreten.« »Maupoissant?« fragte einer der Assassinen, ein älterer Bandenangehöriger mit graumeliertem Haar. »Du kennst den Namen?« »Vor knapp zehn Jahren haben wir einen Wagenmacher dieses Namens getötet«, gab der Mann zu, »einen Wagenmacher und seine Frau. Und wir wurden wirklich ordentlich dafür bezahlt, muss ich sagen.« »Der Name ist selten, und mein Informant sagt, sie käme aus Westtor«, überlegte Geist. »Es könnte eine Verbindung geben.« »Gut«, sagte der Mann, der einen Dolch zog und die flache Klinge langsam an seiner knochigen Wange entlangzog. »Es gefällt mir immer, wenn es in der Familie bleibt.« Die neunzehn Nachtmasken waren froh, dass ihr unberechenbarer Firbolganführer in ihr Lachen mit einstimmte. Das von Herzen kommende Brüllen des Riesen übertönte ihr eigenes Gelächter. Sie waren gespannt. Die Zeit des Tötens rückte näher, und dass diese »Lady Maupoissant« nun noch auf der Opferliste stand, war wie der Zuckerguss auf einem ohnehin schon köstlichen Kuchen.
Profis »Wie spät ist es?« fragte Ivan, der sich aus seinen Decken schälte, um sich ausgiebig zu räkeln. »Stunden nach Tagesanbruch«, antwortete Danica scharf, die sich insgeheim Vorwürfe machte, dass sie dumm genug gewesen war, die letzte Wache zu übernehmen. »Du hättest mich wecken sollen«, beschwerte sich Ivan. Er wollte sich aufsetzen, überlegte es sich dann aber anders und rutschte wieder in seine Decken zurück. »Das habe ich«, murmelte Danica, obwohl der Zwerg nicht mehr zuhörte. »Sechsmal! Aber jetzt ist Schluss.« Diesmal war sie vorbereitet. Sie griff nach zwei kleinen Eimern, die mit dem eiskalten Wasser eines nahen Bergbachs gefüllt waren. Heimlich schlich sie zu den Zwergen, deren Decken durch ihren üblichen unruhigen Nachtschlaf zu einem einzigen großen Haufen zerwühlt waren. Danica suchte ein wenig und schob die Decken weit genug beiseite, dass die haarigen Nacken freilagen. Pikel stellte das schwierigere Problem dar, denn der Zwerg steckte seinen Bart hinter die Ohren und flocht ihn mit seinem langen Haar (das er erst kürzlich wieder frisch waldgrün gefärbt hatte) zusammen. Vorsichtig schob Danica den Zopf beiseite, was ihr einschläfriges »Hihi« von dem schlummernden Zwerg einbrachte, und hob einen Eimer hoch. Das ohrenbetäubende Gebrüll ließ die Tiere in mindestens einer Meile Umkreis Deckung suchen. Selbst ein dicker Schwarzbär, der die Morgensonne genossen hatte, raste durch ein Gestrüpp und an einer dicken Eiche hoch, wo er furchtsam witternd hocken blieb. Die Zwerge rannten im Kreis, prallten mehrmals gegeneinander und warfen ihre Decken in die Luft. »Meine Waffe!« schrie Ivan empört.
»Ei, ei!« stimmte Pikel von ganzem Herzen zu, denn auch er konnte seine Baumstammkeule nicht finden. Ivan beruhigte sich als erster, denn er merkte, dass Danica mit verschränkten Armen und breit grinsend dastand. Der Zwerg blieb einfach stehen und durchbohrte sie mit Blicken. Er hätte lieber nach seinem Bruder Ausschau halten sollen. Pikel, der immer noch aufgebracht herumlief, rannte ihn über den Haufen. Bis beide Zwerge sich wieder aus dem Gebüsch befreit hatten, standen ihre Bärte in alle Richtungen ab, und ihre Nachthemden wirkten vor lauter Kletten wie Pelze. »Daran bist du schuld!« schrie Ivan Danica vorwurfsvoll an. »Ich will spätestens morgen in Carradoon sein«, erwiderte die Frau nicht minder wütend. »Ich habe mich gefreut, dass ihr mich begleiten wolltet, aber ich konnte nicht ahnen, dass wir dann jeden Tag erst mittags loskommen! Ich dachte, Zwerge wären eifriger!« »Eiii«, stöhnte Pikel, der sich offensichtlich seiner Faulheit schämte. »Nicht unsere Schuld«, murrte Ivan, gleichfalls ein wenig in die Enge getrieben. »Es ist der Boden«, jammerte er. »Ja, der Boden. Zu hart und gemütlich für einen Zwerg, als dass man morgens aufstehen möchte!« »Frühstück ist gestrichen!« schimpfte Danica. »Wenn Halblinge sich die Füße rasieren!« brüllte Ivan, und Danica nahm zu Recht an, dass sie ihre Grenzen überschritten hatte. Schlafenden Zwergen eiskaltes Wasser über den Rücken zu kippen war eine Sache, aber ihnen Essen zu verweigern war etwas völlig anderes, etwas Hochgefährliches. »Dann aber schnell«, ließ sie sich herab, »und dann los.« Sechzehn Forellen, jeweils vier Bierkrüge, jeweils einen halben Sack Kekse und drei Schüsseln Beeren später sammelten die Zwergenbrüder ihre Siebensachen zusammen und machten sich auf den Weg über die steilen Bergpfade. Der Impresksee war gut zu sehen, wenn sie an
freie Hänge kamen, und bald kam auch Carradoon tief unten in Sicht. Trotz Danicas Eile beachteten die drei unterwegs alle Vorsichtsmaßnahmen. Die Schneeflockenberge waren ein gefährlicher Ort, selbst ihre südlichen Ausläufer, wo die Mitglieder der Erhebenden Bibliothek die Gegend beherrschten. Da sich im Norden Krieg zusammenbraute und drüben im Westen, in Shilmista, immer noch gekämpft wurde, mussten die Freunde davon ausgehen, dass die Pfade noch gefährlicher sein würden. Danica ging voran. Gebückt untersuchte sie jede Spur, jeden geknickten Grashalm. Ivan und Pikel trotteten hinterher, Ivan mit seinem Hirschgeweihhelm und Pikel mit einem eingedellten Kochtopf auf dem Kopf, da er keinen richtigen Kopfschutz besaß. Obwohl Danica unablässig den Boden absuchte, hatte die hurtige Adeptin keine Schwierigkeiten, schneller zu sein als die Zwerge. Im Gegenteil, Ivan und Pikel mussten in Laufschritt fallen, um mithalten zu können. Aber nun wurde Danica deutlich langsamer; Ivan und Pikel hätten sie beinahe umgerannt. »Ui, ui«, murmelte Pikel, der Danicas neugierige Miene bemerkte. »Was hast du gefunden?« fragte Ivan. Danica schüttelte unsicher den Kopf. »Jemand ist hier vorbeigekommen«, erklärte sie. »Avery und Rufo«, erwiderte Ivan. »Später«, sagte Danica, richtete sich wieder auf und warf einen langen, forschenden Blick in das nahe Unterholz. »Aufwärts oder abwärts?« wollte Ivan genauer wissen. Danica schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht sagen. Sie war sicher, dass ihre Vermutung stimmte, aber was sie beunruhigte, war die Art der Spuren. Es waren Stiefelabdrücke, aber sie waren verwischt worden. Wenn jemand heute früh diesen Weg genommen hatte, hatten sich
die Leute große Mühe gegeben, ihre Spuren zu verbergen. Ivan sah den Boden an. Als er sich verwirrt den gelben Bart kratzte, fand er eine weitere, störrische Klette. »Ich sehe keine Spuren«, schnaufte er. Danica zeigte auf eine leichte, kaum wahrnehmbare Vertiefung in der Erde, dann auf das Muster, aus dem sie schloss, dass man Zweige über den Boden gezogen hatte. Ivan schnaubte ungläubig. »Das ist alles, was du siehst?« fragte er, ohne seine Stimme noch länger zu dämpfen. Danica versuchte gar nicht erst, ihn zum Schweigen zu bringen. Sie vertraute ihrer Vermutung; sie konnte nur hoffen, dass ein Waldläufer oder vielleicht jemand aus Elbereths Volk in der Gegend war. Wenn es kein Waldläufer oder Elf gewesen war, dann mussten diese Spuren von jemandem stammen, der darauf aus war, sich zu verstecken. In der Wildnis der Berge bedeutete das für Reisende selten etwas Gutes. Ein paar hundert Schritte weiter unten am Weg fand Danica neue Spuren. Diesmal konnte nicht einmal Ivan den deutlichen Stiefelabdruck abstreiten, obwohl die Hälfte davon ebenso deutlich verwischt worden war. Der Zwerg stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um. Er konzentrierte sich auf einen tiefhängenden, krummen Ast über dem Weg. »Da hinten sehe ich ein paar Felsen am Weg«, fing der Zwerg an. »Ui, ui«, murmelte Pikel, der bereits ahnte, worauf sein Bruder hinauswollte. »Ein paar Bäume über dem Weg sind groß genug«, fuhr Ivan fort, ohne auf Pikels resignierten Seufzer zu achten. Er sah Danica an, die nichts zu verstehen schien. »Wir könnten eine Falle stellen«, strahlte Ivan. »Könnten einen Stein auf einen von den Bäumen heben und –«
Pikel gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Das habt ihr schon mal probiert«, folgerte Danica aus dem grimmigen Ausdruck auf Pikels Gesicht. Pikel stöhnte, und Ivan funkelte ihn an, konnte seinem Bruder allerdings nichts entgegensetzen. Diese Falle hatten sie tatsächlich schon einmal ausprobiert. Während Ivan störrisch, wenn auch mit wenig Überzeugungskraft darauf beharrte, dass sie erfolgreich gewesen war (sie hatten mit dem Stein einen Ork erschlagen), beharrte Pikel ebenso störrisch darauf, dass dieses armselige Ergebnis kaum den furchtbaren Aufwand wert gewesen war, den Felsbrocken erst einmal auf den Baum zu hieven. Da Ivan wusste, dass es diesmal einen weiteren Zeugen geben würde, hätte er den Vorschlag fallenlassen und die Falle und Pikels Schlag – es war ja nur ein Klaps gewesen – nicht mehr weiter erwähnt, aber dann hob Pikel plötzlich einfach seine Keule. Danica hatte angenommen, er werde es bei dieser Drohgebärde belassen, aber dann traf die Keule Ivans dicke Nase. Der Schlag warf ihn mehrere Schritte zurück. Blut floss ihm in den Bart. »Was ist denn…«, stammelte Ivan verdutzt. Er nahm seine Doppelaxt zur Hand und trat grimmig auf seinen wild quietschenden Bruder zu. Pikel konnte sein Verhalten weder Ivan noch Danica erklären, aber es gelang ihm, rechtzeitig seine dicke Keule umzudrehen und zu zeigen, dass ein schwerer Pfeil tief in dem harten Holz steckte. Jetzt war es an Ivan, seinem Bruder etwas Gutes zu tun. Ein Blick zu den dichten Büschen hinter Pikel zeigte ihm, dass eine Armbrust auf Pikel zielte. Eine große Gestalt löste sich von einem Ast und landete lautlos hinter Danica. Ivans ausgestreckter Finger ließ Pikel herumfahren. »Ui, ui«, quiekte der grünbärtige Zwerg, der wusste, dass er keine
Zeit mehr hatte, seinem Verhängnis zu entgehen. Ivan traf ihn jedoch noch vor dem Schuss und riss ihn zu Boden, ehe der Bolzen harmlos vorbeisauste. Doch Ivan ließ nicht ab. Im Rollen hob er Pikel über sich, und Pikel verstand die Taktik und hob Ivan anschließend genauso über sich. Wie ein rollender Felsen donnerten die Zwergenbrüder mit solcher Wucht in die Büsche, dass sie die zwei Männer, die sich dort versteckt hatten, fast niederwalzten. Die Nachtmaske hinter Danica hatte das Schwert hoch erhoben und nahm nicht an, dass die Frau, die auf die Zwerge achtete, auch nur ahnte, dass sie bald sterben würde. Doch gänzlich überraschend beugte sich Danica vor und trat nach hinten aus, so hoch, dass ihr Fuß den Mann an der Brust traf. Er flog mehrere Schritt weit zurück, knallte gegen einen Baumstamm, schaffte es aber, das Schwert wieder aufzuheben, das ihm heruntergefallen war. Vorsichtiger geworden, begann er, langsam Schritt für Schritt zurückzuweichen, als die gefährliche Frau sich näherte. Danica rannte los, doch plötzlich rutschte sie auf den Knien weiter und zog den Kopf ein, denn hinter dem Stamm tauchte eine weitere Gestalt auf, die mit einem kurzen, schlanken Stab in Schulterhöhe nach ihr schlug. Die Waffe traf den Baum so hart, dass Rindensplitter abbrachen. Danica zog einen Fuß nach vorn und trat mit dem anderen aus, um dem zweiten Angreifer das Knie zu zertrümmern. Der jedoch konnte die Attacke noch rechtzeitig mit seinem Stab abwehren und ging dann mit mehreren schnellen, wütenden Schlägen seinerseits zum Angriff über. Die junge Frau erkannte sofort, dass sie ein Problem hatte. Das waren keine gewöhnlichen Wegelagerer, auch wenn ihre Kleidung ganz unauffällig aussah. Sie konnte sich zur Seite werfen, als das Schwert des anderen auf ihren Kopf zufuhr, doch dabei erwischte sie der wirbelnde Stab an der Hüfte. Dann blieb sie wenige Fuß vor den
beiden Männern entfernt hocken, um eine Situation einzuschätzen, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Ivan biss fest zu, immer wieder, bis er an dem unablässigen »Oooooh« merkte, dass er nicht das Bein eines Feindes, sondern Pikels im Mund hatte. Der Zwerg bemühte sich, in der Enge einen festen Stand einzunehmen, doch Zweige und Dornen griffen bei jeder Bewegung nach ihm, und der vordere Mann versetzte Ivans schon vorher geschundener Nase nicht weniger als drei Schläge. Dann waren Ivan und Pikel aufgesprungen und hielten ihre Waffen bereit. Ivan holte weit mit seiner Axt aus, doch sein Arm blieb an einem anderen dünnen, aber festen Zweig hängen, was seine Reichweite verkürzte, so dass er seinen Gegner gar nicht erst traf. Pikel schrie auf vor Schreck und warf sich zur Seite, weil sein Bruder ihn mit seinem wilden Axtschwinger beinahe getroffen hätte. Und wieder hatte Ivan ihm damit – wenn auch unabsichtlich – das Leben gerettet, denn als Pikel beiseite sprang, sauste ein weiterer Armbrustbolzen vorbei, der zischend zwischen den beiden Zwergen hindurchschoss und dem Mann gegenüber von Ivan tief in die Schulter drang. Beide Brüder hielten lange genug inne, um hinter sich nach dem Armbrustschützen zu sehen, der eilends seine Waffe nachlud. Pikel ging wieder auf seinen Angreifer los, der sich endlich aus dem Gebüsch befreit hatte, und Ivan drehte sich zu der Stelle um, wo sein nächster Feind gestanden hatte. Der Mann war nicht zu sehen, und aus den immer noch zitternden Büschen schloss Ivan, dass er platt am Boden lag. Ohne an seinem Glück zu zweifeln, schrie der Zwerg begeistert auf und jagte in die andere Richtung zurück, durch das Dickicht, um den offenen Pfad zu dem Armbrustschützen wiederzufinden.
Der Schwertkämpfer war verwundet; das war wenigstens etwas. Danicas Tritt hatte ihm offenbar zugesetzt, denn bei jedem seiner Schritte verzog er das Gesicht. Die junge Frau war jedoch bereits zu dem Schluss gekommen, dass der mit dem Stab der Gefährlichere war. Sein graues Haar verriet seine Erfahrung, und die perfekte Balance seiner genau bemessenen Schritte ließ sie erkennen, dass dieser Mann sich sein ganzes Leben lang in Kampfkünsten geübt hatte. Verglichen mit dem Schwert des anderen erschien sein Stab lächerlich, aber in diesen Händen war er eine wahrhaft tödliche Waffe. Danica musste sich tief bücken, um einem Schwerthieb auszuweichen; der Stab streifte ihre Schulter, und sie musste einen Überschlag nach hinten machen. Danach kam sie gerade rechtzeitig wieder auf die Beine, um einem mörderischen zweiten Angriff zu entgehen. Sie hatte die Rolle zu ihrem Vorteil genutzt. Während sie zu einer Kugel zusammengekauert gewesen war, hatte sie einen ihrer Dolche mit den Kristallklingen aus der Stiefelscheide gezogen. Der Schwertkämpfer drang wieder auf sie ein, diesmal zuversichtlicher. Danica ließ den linken Fuß weit hinter sich hochschnellen. Sie wusste, dass ihr Trittangriff keine andere Wirkung haben würde, als den Schwertkämpfer zu weitem Ausholen zu zwingen, und sie wusste auch, dass sie sich dabei dem zweiten Angreifer gegenüber eine Blöße gab. Sie zog das Standbein unter sich weg und vollendete die Kreisbewegung auf dem linken Fuß. Und schon hörte sie das Pfeifen des Stabs, der nur wenige Fingerbreit über ihren Kopf sauste. Danica fing ihren Fall mit einem Arm ab und hielt sich noch so aufrecht, dass sie den anderen Arm unter ihrem Körper durchschnellen lassen konnte, um den Dolch zu schleudern. Sein kurzer Flug endete im Bauch des Schwertkämpfers, der mit ungläubig aufgerissenen Augen, den Mund zu einem stillen Schrei
aufgesperrt, umfiel. Der Stabkämpfer lachte und gratulierte Danica zu ihrem schlauen Schachzug. Dann drang er wieder gnadenlos auf sie ein. Auch Pikels Angreifer schwang eine Keule, aber er war doppelt benachteiligt. Erstens war Pikels Keule viel größer als seine, und zweitens konnte er den dickhäutigen und noch dickköpfigeren Zwerg mit einer stumpfen Waffe unmöglich fest genug treffen, um ihm ernstlich Schaden zuzufügen. Blitzschnell schlug er Pikel zweimal auf die Schulter und einmal auf den Topfhelm, der laut dröhnte. Pikel störte sich kaum daran, sondern nahm die drei Treffer im Austausch gegen seinen eigenen hin. Seine Baumstammkeule traf die ungeschützte Seite des Mannes und warf ihn ins Gebüsch, wo er fest gegen einen Baumstamm stieß. Die Miene des Mannes hätte nicht erschrockener sein können, wenn er gefesselt einer anstürmenden Stampede von Pferden entgegengesehen hätte, als Pikel ihm nachrannte. Der Topf nahm dem Zwerg die Sicht, aber seine Keule zielte genau und drohte den Mann an den Baum zu drücken. Der Mann rollte zur Seite, und Pikel schlug zu, knickte den jungen Baum ab und purzelte Hals über Kopf über den abgebrochenen Stamm. »Oo«, grunzte er, als er schlitternd an der rauen Rinde zum Halten kam. Dann folgte wieder lautes Dröhnen, als sein zäher Gegner erneut angriff und beidhändig von oben auf seinen Helm schlug. Ivan erkannte, dass er nicht zu dem Schützen gelangen konnte, ehe der Mann seine Waffe bereit hatte, darum riss er mit beiden Händen die Axt über den Kopf, brüllte »Zeit zu sterben, du diebischer Hund!« und schleuderte die Waffe.
Der Mann warf sich nach hinten und hielt seine Armbrust wie einen Schild schützend vor sich. Die Axt traf mitten hinein, riss sie dem Mann aus den Händen und flog damit weiter, bis alles zusammen einen Baum traf, wo die Armbrust in zwei Stücke zerfiel und die Axt sich mehrere Fingerbreit in den Stamm grub. Ivan wurde langsamer, als der Schütze wieder auf die Beine kam, ein langes, schmales Schwert zog und von dem feinen Wurf gar nicht eingeschüchtert war. Statt dessen lächelte der Mordgeselle breit; als der jetzt unbewaffnete Zwerg näherkam. »Ich könnte mich irren«, gab Ivan insgeheim zu. Sein grimmiger Ansturm kam zum Stillstand. Danica boxte einmal, dann noch einmal. Beide Angriffe wurden von dem kleinen Stab problemlos abgewehrt. Ihr Angreifer konterte mit einem Schlag nach vorn. Im letzten Moment warf Danica den Unterarm hoch, um ihn von ihrem Gesicht abzulenken. Sie griff ihrerseits mit einem schnellen Tritt an, doch ihr Gegner hatte seinen Stab schnell genug wieder zurückgezogen, um den Tritt abzubremsen, so dass er keinen echten Schaden anrichten konnte. Ein Stöhnen ließ Danica zur Seite blicken. Dort stand der Schwertkämpfer, dessen zitternde Hand sich schließlich doch um Danicas blutigen Dolch geschlossen hatte. Das Gesicht des Mannes war vor Qual, aber auch vor sichtlicher Wut verzerrt, und Danica vermutete, dass er sich bald wieder ins Getümmel stürzen würde. Ganz gleich, wie wenig er noch ausrichten konnte, sie fürchtete, dass sie mit beiden Männern gleichzeitig nicht fertig werden würde. Die kurze Ablenkung kam sie teuer zu stehen, denn der Stab traf sie von der Seite. Danica rollte seitlich mit dem Schlag ab, um den schmerzhaften Treffer zu mildern, und griff, als sie sich umdrehte und in die Hocke ging, in ihren anderen Stiefel. Der Stabkämpfer sprang hoch und begann mit einem verteidigenden Wirbel, weil er einen weiteren Dolchwurf erwartete. Danica zuckte mehrmals mit
dem Arm und veränderte jedesmal leicht den Wurfwinkel. Jedesmal stellte ihr Opfer sich so hin, dass er den Wurf abwehren oder ausweichen konnte. Der Mann war gut. Danica richtete sich sehr genau aus, zuckte noch einmal mit dem Arm und warf. Der Stabkämpfer wich mit Leichtigkeit aus; seine Miene verriet die Verwirrung, dass diese geübte Frau ihn so weit verfehlt hatte. Eine Sekunde später, als sein Kumpan erneut laut aufstöhnte, begriff er. Die zitternde Hand des Schwertkämpfers löste sich von dem goldenen Tigergriff des Dolches in seinem Bauch und schob sich nach oben, wo der silberne Drache aus seiner Brust ragte. Hilflos fiel er gegen einen Baum und rutschte daran auf die Erde. »Ihr und ich«, sagte der Stabkämpfer, der seine Bemerkung mit einem furiosen Ansturm und einer schwindelerregenden Reihe von Stößen und Schlägen unterstrich. Pikel sah betrübt den Baum an, den er gefällt hatte, doch diese Pause für seine leidvollen Betrachtungen brachte ihm einen weiteren dröhnenden Schlag auf den Topfhelm ein. Der Zwerg, der so gern ein Druide werden wollte, spürte nur noch unermessliche Wut. Wer Pikel kannte, wusste, dass er von Grund auf gleichmütig und fast unmöglich in Rage zu bringen war. Doch jetzt hatte er einen Baum getötet. Er hatte einen Baum getötet! »Oooooooh!« drang sein Stöhnen durch gefletschte, mahlende Zähne. »Oooooooh!« Er drehte sich zu seinem Angreifer um, der vor der entfesselten Wucht des Zwergenzorns einen Schritt zurückwich. »Oooooooh!« Pikel stolperte über den Baumstumpf, als er losstürmte, und fiel der Länge nach hin. Sein Angreifer wandte sich
zur Flucht, aber der Zwerg griff nach seinem Knöchel. Die Keule des Mannes sauste mehrmals fest auf Pikels klammernde Finger herunter, aber der erzürnte Möchtegerndruide fühlte keinen Schmerz. Pikel zog den Mann heran, packte ihn mit beiden Händen und hob ihn in die Luft. Während er aufstand, hielt der starke Zwerg den Mann über seinen Kopf und sah sich neugierig um, als ob er sich fragte, was er als nächstes tun sollte. Wieder dröhnte die Keule auf Pikels Kochtopfhelm. Pikel beschloss, dass er genug hatte. Er pfählte den Mann auf dem zersplitterten Stumpf des abgeknickten Baums. Ivan riss sein Marschgepäck herunter und fummelte an den Riemen herum, während sein Feind angriff. Einen Schwertstoß fing der Zwerg mit dem Gepäck ab, so dass das Schwert gerade eben lange genug in den Riemen festhing, bis Ivan ein sorgfältig eingepacktes Päckchen herausgeholt hatte. Der Schwertkämpfer zog seine Klinge ruckartig zurück und schüttelte das Bündel ab. Dann blickte er neugierig zu dem Zwerg zurück. Ivan hatte die Schachtel aufgerissen und ihren Inhalt herausgezogen: ein Spielzeug für Cadderly, am dem er seit dem heldenhaften Vorgehen des jungen Priesters gegen den bösen Barjin gearbeitet hatte. Die schwarze, adamantene Kante der Spindelscheiben stand in hypnotisierendem Kontrast zu der Mitte aus Bergkristall. Der Schwerkämpfer hielt inne. Er fragte sich, welchem Zweck diese beiden Scheiben, die in der Mitte durch einen dünnen Stab verbunden waren, wohl dienen mochten. Ivan fummelte eilig seinen dicken Finger durch die Schlaufe der Schnur, die um diesen dünnen Stab gewickelt war. Tausendmal hatte er Cadderly mit so einem Spielzeug üben sehen, hatte gestaunt,
wie der junge Priester die Scheiben so leicht bis ans Ende der Schnur rollen lassen konnte, um sie dann mit einem Ruck aus dem Handgelenk wieder in die wartende Hand zurücksausen zu lassen. »Hast du so etwas schon mal gesehen?« fragte Ivan den neugierigen Schwertkämpfer. Der Mann griff an. Ivan schleuderte die Scheiben nach ihm. Der Mann hob sein Schwert, um den Angriff abzufangen. Dann warf er einen ungläubigen Blick auf seine Waffe, der der harte Adamant eine breite Scharte beigebracht hatte. Ivan jedoch hatte keine Zeit, sich über sein perfektes Werk zu freuen. Sein Wurf war kräftig gewesen, doch im Gegensatz zu Cadderly hatte er keine Ahnung, wie er die Spindelscheiben zurückrufen sollte. Sie hingen schlaff hin – und herkullernd am Ende der Schnur. »Oooooooh!« Als Pikel von der Seite angestürmt kam, fuhr der Schwertkämpfer herum. Er wich dem aufgebrachten Zwerg aus und fand bereits sein Gleichgewicht wieder, während Pikel noch herumschwang. Der Mann begann mit einem neuerlichen, ungezügelten Angriff. Diesmal blieb der grünbärtige Zwerg kurz vor dem Mann stehen, um eine Reihe wütender Keulenschläge auszuteilen. Der Schwertkämpfer hatte schwer zu tun, schaffte es aber, nicht getroffen zu werden. Ivan schob sich vor Pikel. »Der gehört mir!« erklärte der Zwerg schroff. Der Schwertkämpfer lächelte über diese offensichtliche Dummheit – gemeinsam hätten die beiden ihn leicht erledigen können. Das Lächeln verging ihm – buchstäblich, als Ivan plötzlich wieder seine Spindelscheiben schleuderte. Diesmal hing die kleine Waffe überraschenderweise nicht am Finger des Zwergs fest. Völlig unbehindert surrte sie am vergeblichen Abwehrversuch des
Kämpfers vorbei. Sein Kopf wurde gewaltsam nach hinten gerissen, und sein Gesicht schien zu schmelzen, als die Adamantscheiben ihn trafen, jeden sichtbaren Zahn mitnahmen, ihm die Nase und beide Wangenknochen zerschmetterten und sein Kinn sauber in den Oberkiefer drückten. Ungläubig stand der Mann da. Das Schwert fiel auf den Boden. »Oh«, murmelte Pikel, als der Kopf des Mannes zur Seite kippte. Erst jetzt erkannten die Brüder, dass Ivans mächtiger Wurf dem Mann den Hals gebrochen hatte. Ivan wiederholte Pikels grimmigen Ausspruch: »Oh.« Tritt und Schlag, Fauststoß und Stabstoß. Danica und der Stabkämpfer bewegten sich in grausiger Harmonie, griffen an und parierten mit unglaublicher Schnelligkeit. Die Sekunden wurden zu Minuten, doch keiner konnte einen Treffer landen. Und in der Hitze des Gefechts, im wilden Adrenalinrausch, schien keiner von beiden im geringsten zu ermüden. »Ihr seid gut, Lady…« Der Kämpfer unterbrach sich, aber es klang, als hätte er mehr sagen wollen. »Wie ich erwartet hatte.« Danica wunderte sich. War das eine Finte gewesen? Hatte er nur so getan, als wüsste er ihren Namen? Aber woher? Tausend Gedanken zuckten ihr durch den Kopf und nährten den Verdacht, dass dieser Hinterhalt kein Zufall war. War Cadderly in Sicherheit? Und was war mit Avery und Rufo, die erst vor wenigen Tagen genau diesen Pfad entlanggekommen waren? Danica war verzweifelt. Die Nachtmaske glaubte, sie abgelenkt zu haben, und machte einen tückischen Angriff. Danica ließ sich fallen und trat zu. Sie traf den Mann fest genug am Knie, um seinen Angriff aufzuhalten, und warf sich dann nach vom,
so dass sie genau vor dem Gesicht des Mannes hochkam. Dieser Schachzug brachte ihr einen schmerzhaften Schlag auf die Schulter ein, doch dann gelang es ihr, einen schnellen Handkantenschlag gegen die Kehle des Mannes zu landen. In dem kurzen Moment, den er brauchte, um wieder zu Atem zu kommen, hatte Danica eine Hand an sein Kinn gelegt, die andere an seinen Hinterkopf, wo sie ein Büschel Haare packte. Der Mann ließ den Stab fallen und umklammerte verzweifelt Danicas Handgelenke, um sie davon abzuhalten, ihm den Kopf umzudrehen. So verharrten sie einige Augenblicke, denn Danica war einfach nicht stark genug, mit ihrer Taktik fortzufahren. Der Mann, der seine Überlegenheit spürte, lächelte böse. Ohne loszulassen, sprang Danica hoch und rollte einfach über seine Schulter, damit ihr Gewicht schaffte, wozu die Kraft ihrer Arme nicht ausreichte. Ächzend drehten sie sich um. Danica zog die Knie an, um mit vollem Gewicht am Kopf ihres Gegners zu hängen. Der Mann war klug genug, sich fallen zu lassen, doch diesmal rollte Danica sich seitlich unter ihm durch. Inzwischen hatte sie den Unterarm fest unter sein Kinn geschoben. Vergeblich rang er nach Luft, krallte sich in Danicas Arm, schob dann seine eigene Hand in Danicas Gesicht, um nach ihren Augen zu tasten. Danica spürte einen größeren Stein unter ihrer Hüfte. Schnell drehte sie sich wieder um und brachte den Kopf des Mannes in die richtige Position. Verzweifelt griff die junge Frau erneut mit roher Gewalt in seine Haare, so dass der Hinterkopf ungeschützt war, und begann, den Kopf des Mannes gegen den Stein zu schlagen. Er konnte immer noch nicht atmen; die ganze Welt verschwand in einem dunkler werdenden Nebel. »Er ist tot!« schrie Ivan. Erst jetzt nahm Danica wahr, dass der Zwerg diese Worte schon ein paarmal wiederholt hatte. Entsetzt und ziemlich mitgenommen löste die Frau ihren Griff und rollte sich von
dem Mann weg. Sie kämpfte gegen aufsteigende Übelkeit an. »Der da macht’s auch nicht mehr lange«, meinte Ivan gelassen und zeigte auf den Mann am Baum, aus dessen blutüberströmtem Körper zwei Dolche ragten. »Falls wir ihn nicht verbinden.« Der Mann schien sie zu hören und sah die drei Gefährten bettelnd an. »Das müssen wir«, erklärte Danica, die sich wieder gefasst hatte. »Ich glaube, der hier kannte meinen Namen. Es könnte eine Verschwörung sein, und er«, sie zeigte auf den Mann am Baum, »kann uns sagen, was hier eigentlich los ist.« Ivan zuckte ergeben die Schultern und machte einen Schritt auf den Mann zu, aber dann ertönte von der Seite ein Klacken. Einen Augenblick später zuckte der Mann heftig zusammen, denn neben dem Dolch mit dem Silbergriff steckte ein Armbrustbolzen. Der letzte überlebende Meuchelmörder, dem ein Armbrustbolzen aus der Schulter ragte, brach durchs Gebüsch. Von dem brennenden Schmerz und dem Blutverlust stand der Mann kurz vor dem Delirium. Aber wenigstens hatte er seinen feigen Kameraden davon abgehalten, den Plan zu verraten – Regel Nummer eins in der gnadenlosen Bande. Der Mann wusste nicht, wohin er laufen sollte. Vander würde ihn töten, wenn er erfuhr, dass Lady Maupoissant überlebt hatte. Jetzt bedauerte der Mann, dass er seinen letzten Schuss dazu verwendet hatte, den möglichen Informanten zu erledigen, anstatt noch einmal auf Danica anzulegen. Dann fasste er wieder Mut, denn selbst wenn er Danica getroffen hätte, hätten die Zwerge ihren Informanten gehabt, und der wichtigere Plan, Cadderly auszuschalten, wäre in Gefahr gewesen. Dennoch bedauerte der Mann seine Entscheidung, um so mehr, als er seine Verfolger hörte. Selbst verwundet und geschwächt war er zuversichtlich, dass er den kurzbeinigen Zwergen entkommen konnte. Als er jedoch einen Blick über die Schulter warf, sah er die
junge Adeptin, die mühelos durch das Unterholz flitzte und mit jedem ihrer sicheren Sprünge näher kam. Bäume und Büsche wichen einem öderen, felsigen Gelände, und der verzweifelte Mann lächelte, als er sich an seine Umgebung erinnerte. Er war Nachtmaske bis zum bitteren Ende, loyal und stolz. Seine Pflicht – so verrucht sie oft auch war – war sein ein und alles gewesen, eine Berufung, die an Besessenheit grenzte. Er wusste, dass die Frau nur wenige Schritte hinter ihm war. Loyal und stolz – er wurde nicht langsamer, als er an den Rand der hundert Fuß hohen Klippe gelangte, und sein Schrei, als er ins Leere sprang, drückte nicht Entsetzen, sondern Sieg aus.
Was die Schatten sagen Lange Schatten vom letzten Tageslicht fielen auf Boden und Wände der Scheune. Graue Spinnweben glänzten zwischen den Deckenbalken und wurden dann dunkel, als die Sonne weiter abtauchte. Vander lehnte an der Holzwand. Er war froh, seinen Körper wiederzuhaben, aber weniger froh über das, was sich in den wenigen Stunden abgespielt hatte, in denen Geist seine Gestalt angenommen hatte. Das Bauernmädchen war tot, und sein Ende war ausgesprochen schrecklich gewesen. Erinnerungen an die Zeit, als er in sein Heimatland auf dem Grat der Welt geflüchtet war, bis Geist ihn erwischt und seinen Körper übernommen hatte, wurden in Vander wach und zwangen ihn, sich dichter an die Wand zu kauern. Für den stolzen Firbolg war dies die vollendete Niederlage. Vander war in seiner Ehre als Krieger zutiefst getroffen. Er konnte es hinnehmen, wenn er im ehrlichen Kampf geschlagen wurde, konnte vor einem rechtmäßigen König niederknien, aber Geist hatte es gewagt, ihn diesen einen Schritt weiter zu treiben. Geist hatte Vanders Ehre und seinen Edelmut beschmutzt. »Sind sie zurück?« fauchte der Firbolg den schwarzsilbern gekleideten Mann an, der gerade im Scheunentor auftauchte. »Für den Weg in die Berge müssen sie die ganze letzte Nacht gebraucht haben«, erwiderte der Mann, als ob er Vanders Frustration spürte. »Wahrscheinlich sind sie Lady Maupoissant noch nicht einmal begegnet. Die Linie nach Carradoon steht, und die Gruppe hat neben der ›Drachenbörse‹ Stellung bezogen«, fuhr der Assassine hoffnungsvoll fort.
Vander musterte den Mann gründlich. Er wusste, was dieser Mensch dachte. Er wusste, dass der Mann mit dieser Information nur deshalb so herausgeplatzt war, weil er hoffte, dass seine Nachrichten gut aufgenommen werden und er vor dem Zorn des unberechenbaren Firbolgs verschont bleiben würde. Unberechenbar! Bei der schrecklichen Ironie dieses Gedankens hätte Vander fast aufgelacht. Er winkte den Mann fort, und die Nachtmaske schien überglücklich zu sein, diesem stillen Befehl Folge leisten zu können. Vander saß wieder allein im schwindenden Licht. Er zog etwas Trost daraus, dass die Schlinge um ihr augenblickliches Opfer sich offenbar zuzog und dieser Auftrag bald beendet sein würde. Aber sofort verfinsterte sich seine Miene wieder. Dieses Geschäft würde bald beendet sein und ein neues beginnen. Es würde kein Ende haben, das wusste Vander, bevor Geist beschloss, dass der Firbolg ihm nicht mehr nützlich sein konnte. Die Sonne war untergegangen und ließ Vander im Dunkeln zurück. »Ihr habt zu verstehen gegeben, dass Ihr Euch nützlich machen wollt«, sagte Geist zu dem überraschten Zauberer. »Jetzt biete ich Euch Gelegenheit dazu.« Bogo Raths grüne Knopfaugen schienen noch kleiner zu werden, als er sein Gegenüber betrachtete. Er hatte gerade sein weniges Gepäck in das Einzelzimmer getragen, das Fredegar zur Verfügung gestellt hatte, und dort den geheimnisvollen Assassinen wartend auf dem Bett vorgefunden. Geist verstand das argwöhnische Zögern des Zauberers. Bogo traute Geist nicht (zu Recht), und er hatte seine eigenen Pläne. Natürlich wollte Bogo Cadderly tot sehen, aber Geist wusste, dass der opportunistische, ehrgeizige, junge Zauberer nur ungern mit der Assassinenbande zusammenarbeitete. Er blieb lieber unabhängig,
weil er hoffte, dass er sie zu seinen eigenen Zwecken nutzen konnte. Geist konnte ein solch eigennütziges Vorgehen gut verstehen und kannte besser als jeder andere die Gefahren, die aus solchen Handlungen entstehen konnten. »Ich soll Schmiere stehen?« fragte Bogo ungläubig zurück. Geist überlegte, dann nickte er – eine bessere Beschreibung wäre ihm auch nicht eingefallen. »Nur für diese einfache Erkundung«, antwortete er. »Es ist Zeit, dass wir etwas mehr über Cadderlys Zimmer und seine persönlichen Verteidigungsstrategien erfahren. Das kann ich natürlich selbst übernehmen, aber ich wäre nicht so glücklich, wenn die anderen beiden Priester aus der Bibliothek ins Gasthaus zurückkehrten, solange ich anderweitig beschäftigt bin.« Bogo starrte den Mann einen langen Moment an. »Ihr steckt so voller Rätsel«, sagte er endlich. »Ihr könnt neben Cadderly treten, behauptet, dass Ihr noch näher herankommen könnt, und dennoch lebt der Priester noch. Ist es Vorsicht oder eine makabre Lust, die Euch dieses Spiel spielen lässt?« Geist lächelte, um Bogo für seine Aufmerksamkeit zu loben. »Beides«, antwortete er ehrlich. »Ich bin ein Künstler, junger Zauberer, und kein gewöhnlicher Killer. Das Spiel – denn ein solches ist es – muss nach meinen Regeln und Vorgaben gespielt werden.« Geist achtete sorgfältig darauf, dass sein letzter Satz bedrohlich genug klang, um Bogos Nervosität noch ein wenig zu vergrößern. »Es ist früh für den, Wirtsraum«, überlegte Bogo. »Die Sonne ist gerade erst untergegangen. Die meisten Gäste sind noch zu Hause und essen zu Abend. Und ich habe mich noch gar nicht in meinem neuen Zimmer eingerichtet«, fügte er mit einem Hauch von Missmut in der Stimme hinzu. »Haltet Ihr das für so überaus wichtig?« fragte Geist ihn frech. Bogo fand nicht sofort eine Entgegnung. »Esst einfach unten im Wirtsraum«, antwortete Geist. »Das ist für
die Gäste hier nichts Ungewöhnliches.« »Die Priester sind zum Tempel des Ilmater gegangen«, wandte Bogo ein. »Es ist unwahrscheinlich, dass sie in der Stunde wiederkommen, die Ihr zu brauchen meint.« »Aber möglich«, sagte Geist, dessen Stimme seinen wachsenden Ärger verriet. »Künstler«, wiederholte er und sprach beide Silben klar und deutlich aus. »Perfektionist.« Sie verließen Bogos Raum gemeinsam. An der Tür hielt Geist Bogo fest und flüsterte ihm zu: »Ihr sagt dem kleinen Brennan Bescheid, dem Sohn des Wirts, dass Cadderly jetzt essen möchte.« Bogo zog eine Augenbraue hoch. »Damit bekommen wir die Tür auf«, erklärte Geist. Der Assassine verschwand in seinem eigenen Zimmer, während Bogo die Treppe hinunterstieg. Geist gratulierte sich insgeheim, dass er mit dem Zauberer, der prinzipiell ein Störenfried war, so gut fertig wurde. Noch während er hinter den Schutz seiner leicht geöffneten Tür schlüpfte, ließ er den Ghearufu erscheinen. Der fleißige Brennan kam kurze Zeit später die Treppe heraufgehüpft. Er trug ein Essenstablett, das er geschickt auf einer Hand balancierte, und in der anderen Hand ein langes, schmales Päckchen. Geist bewunderte das Federn im Schritt des Halbwüchsigen, die Kraft und die grenzenlose Energie der erwachenden Männlichkeit in dem hübschen, wenn auch etwas dünnen Brennan. »Junge!« rief Geist leise, als Brennan hinter Averys Raum um die Ecke bog und an seiner Tür vorbeikam. Brennan blieb stehen und drehte sich nach dem eigenartigen Mann um, der ihm mit einem weißen Handschuh winkte. »Lasst mich erst das hier abliefern, dann bringe ich Euch, was Ihr…«, setzte Brennan an, doch Geist schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Erstaunt stellte Brennan fest, dass der Mann an der anderen
Hand einen schwarzen Handschuh trug. »Mein Anliegen dauert nur einen Augenblick«, sagte Geist, doch die Bedeutung seines trockenen Lächelns war dem arglosen Jungen unklar. Den Bruchteil einer Sekunde später stellte Brennan entsetzt fest, dass er in sein eigenes Gesicht und auf den Gang dahinter starrte. Zuerst glaubte er, dieser seltsame Mann hätte eine Art Spiegel aufgestellt, aber dann bewegte sich das Spiegelbild, sein Bild, unabhängig von ihm. Und er – oder wenigstens sein Spiegelbild – trug nun den schwarzen und den weißen Handschuh! »Was…?« stammelte Brennan am Rande der Panik. Geist schob den Jungen in den Raum zurück und kam hinterher. Er schloss die Tür hinter sich, legte das schmale Bündel hin – inzwischen wusste er, dass es eine Art Stab oder Stock enthielt – und stellte das Tablett auf seinen eigenen Nachttisch. »Es ist nur ein Spiel«, schnurrte Geist, der sein entsetztes Opfer vom Schreien abhalten wollte. »Wie gefällt dir dein geliehener Körper?« Brennan suchte hektisch nach einem Ausweg. Nach und nach wich sein Schrecken der Neugier. Der Mann, der vor ihm stand und seinen Körper gestohlen hatte, wirkte gewiss nicht sehr bedrohlich. »Ich fühle mich schwach«, gab er offen zu. Dann zog er den Kopf ein, denn ihm wurde klar, dass er den Mann vielleicht beleidigt hatte. »Aber das bist du ja auch!« spottete Geist. »Verstehst du nicht? Das ist der Sinn der Sache.« Brennan verzog verwirrt das Gesicht, dann riss er die Augen weit auf, als Geist mit der Schnelligkeit der Jugend seine geborgte Faust ballte und zu einem langen Schwinger ausholte. Brennan wollte sich ducken, wollte abwehren, aber sein schwacher Körper reagierte nicht schnell genug. Die Faust durchschlug die armselige Abwehr und traf Brennan zwischen die Augen, so dass er hilflos umkippte. Er hatte nicht die Kraft, den schwarzen Wogen zu widerstehen, die sich über
ihm schlossen. Geist betrachtete den Körper lange, denn er versuchte, sich über seinen nächsten Schritt klarzuwerden. Aus Vorsichtsgründen müsste er Brennan eigentlich hier und jetzt erdrosseln, wie er es mit dem Bettler auf der Straße gemacht hatte, und einen Handschuh auf den Körper legen, damit der Regenerationsprozess den körperlosen Geist des Jungen nicht zurückrufen konnte. Andere Gefühle sprachen gegen diesen Kurs. Der uralte Assassine fühlte sich im Körper dieses Jungen großartig, von kaum kontrollierbarer Energie und fast gewaltsamen Leidenschaften durchflutet, die ihn dringend zu grundlegenden Taten aufriefen, die er seit Jahrzehnten nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Spontan wollte Geist zugreifen und den Stiefel mit dem magischen Ring an sich nehmen, damit Brennan im Körper des Schwächlings starb und tot liegenblieb. Dann könnte Geist diesen Körper für sich beanspruchen, bis er ausgebrannt war, so wie der weibische Körper fast ausgedient hatte. Er trug wieder den schwarzen und den weißen Handschuh, als seine Hände sich um den Hals des Schwächlings schlossen. Aber dann wurde ihm klar, dass er es nicht tun durfte. Noch nicht. Er machte sich Vorwürfe, dass er überhaupt an etwas so Unüberlegtes gedacht hatte. Mit geübten Bewegungen fesselte und knebelte er sein Opfer, zog den Jungen hinter das Bett und legte ihn zwischen Bett und Wand. Der Ring war bereits an der Arbeit, und Brennans flatternde Augenlider verrieten erste Anzeichen, dass er zu sich kam. Geist schlug ihn noch einmal, dann noch einmal. Brennan stöhnte durch den Knebel, und Geist beugte sich zu ihm hinunter und legte dem gefangenen Jungen seine Lippen ans Ohr. »Du musst still sein«, raunte er, »oder du wirst bestraft.« Brennan stöhnte wieder, diesmal lauter. »Möchtest du, dass ich dir die Strafe verrate, die ich für deinen
Ungehorsam vorgesehen habe?« fragte Geist und legte Brennan einen Finger ans Auge. Der eingeschüchterte Brennan gab kein Geräusch mehr von sich und rührte sich nicht mehr. »Gut, kluger Bursche«, schmeichelte Geist. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, was du mitgebracht hast.« Der Assassine ging zur Tür und wickelte schnell das Bündel aus. Ein Wanderstab mit einem Widderkopf kam zum Vorschein, schön gearbeitet und perfekt ausgewogen. Geist hatte das wunderbare Stück bereits in Cadderlys Händen gesehen, als der Priester zum Zaubererturm vor Carradoon gelaufen war. Erst jetzt fiel Geist auf, dass der junge Priester den Stab nicht mehr gehabt hatte, als er von dort zurückkam. »Wie praktisch!« sagte er und ging zu Brennan zurück. »Ich habe doch gesagt, ich würde dir deine Strafe verraten, aber hier, sieh dir mal das an«, sagte er und klopfte mit der eindrucksvollen Waffe in seine offene Handfläche. Geists Gesicht verzerrte sich in plötzlicher Wut, und er holte zu einem doppelhändigen Überkopfschlag aus. Als er den Widderkopf auf Brennans Schulter krachen ließ, fühlte er, die pulsierende Magie der Waffe und lächelte noch breiter, als er sah, wie die knochige Schulter unter dem überwältigenden Zauber zermalmt wurde. Geist hatte nie viel für Waffen übrig gehabt, aber diese hier hätte er gern behalten. Geist überlegte, ob es klug war, Cadderly den Wanderstab auszuhändigen. Der Assassine steckte in der Zwickmühle. Wenn der junge Priester die Rückgabe der Waffe erwartete, würde er vielleicht Fredegar oder gar den Zauberer im Turm ansprechen, und beides würde wahrscheinlich noch gefährlichere Fragen nach sich ziehen. Das wäre die schlimmste aller Möglichkeiten. Der Mordkünstler verließ den Raum ein paar Minuten später mit dem Tablett und dem wieder eingewickelten Bündel für Cadderly. Den zusammengesunkenen, bewusstlosen Brennan ließ er hinter
dem Bett in einer Blutlache liegen. Geist hatte Brennan schwer zugesetzt, und ohne die ständige heilende Macht des Ringes im Stiefelabsatz wäre der junge Mann in dem jämmerlichen Körper bald gestorben. Der benommene Brennan wünschte sich beinahe den Tod. Tausend feurige Explosionen in seinem Körper quälten ihn; jedes Gelenk schmerzte, und der gemeine Mann mit dem Stock hatte besonders gezielt in seine Lenden und gegen das Schlüsselbein geschlagen. Brennan versuchte, den Kopf zu bewegen, konnte es aber nicht. Trotz seiner Schmerzen versuchte er, den Körper aus der engen Nische zu winden, doch er war zu gut gefesselt. Er hustete einen Blutklumpen aus, schaffte es gerade so eben, die warme Flüssigkeit an dem Knebel vorbeizuschieben, damit er nicht daran erstickte. Der zerschundene Junge betete, dass seine Qualen bald enden würden, selbst wenn dieses Ende den Tod bedeutete. Er wusste natürlich nicht, dass er einen magischen Ring besaß, der ihn bald wiederhergestellt haben würde. Cadderly dachte nicht an Essen, dachte an gar nichts außer an das berauschende Lied in seinem Inneren, als er die Seiten des Buchs der Universellen Harmonie umblätterte. Das Buch hatte ihm wieder Schutz gewährt, hatte die Bilder von Avery und Rufo vertrieben – sie waren heute morgen zurückgekommen, und wieder hatte er sie barsch vertrieben – und all die anderen Sorgen, die schwer auf den Schultern des jungen Priesters lasteten. Unter dem Schutz des süßen Lieds von Deneir spürte Cadderly nichts von diesem Gewicht, sondern saß gerade und aufrecht. Wenn er nicht gerade Seiten umblätterte, streckte er die Arme seitlich aus, ähnlich wie bei den Meditationstechniken, die Danica ihm einmal in der Erhebenden Bibliothek gezeigt hatte. Damals war das für ihn einfach eine Leibesübung gewesen, aber jetzt, wo durch jede Bewegung das Lied floss, fühlte Cadderly die Stärke, die innere Kraft,
durch seine Glieder rinnen. »Ich habe dein Nachtmahl!« hörte er Brennan von hinten rufen. Die Lautstärke seiner Stimme verriet Cadderly, dass Brennan ihn wahrscheinlich schon mehrmals angesprochen und vorher laut an die Tür geklopft hatte. Peinlich berührt klappte Cadderly das große Buch zu und drehte sich zu dem jungen Mann um. Brennan riss die Augen auf. »Entschuldige bitte«, bat Cadderly, der sich hilflos nach etwas umsah, womit er sich bedecken konnte. Er war von der Taille aufwärts nackt, seine muskulöse Brust und die Schultern glänzten vor Schweiß, und seine straffen Bauchmuskeln, die durch die meditativen Übungen vor dem Buch neu trainiert wurden, beb ten noch von der frischen Anstrengung. Brennan riss sich schnell zusammen und warf Cadderly sogar ein Handtuch zu, damit er sich abreiben konnte. »Scheint, als könntest du das Mahl gebrauchen«, meinte Geist. »Ich wusste nicht, dass Lesen so anstrengend sein kann.« Cadderly lachte über die witzige Bemerkung, obwohl es ihn etwas verwirrte, dass sie von Brennan kam. Der junge Mann hatte ihn schon viele Male beim Lesen gesehen, und viele Male war er – wie eben – mitten in der Meditation gewesen. »Was hast du da?« fragte Cadderly, der das lange, schmale Bündel sah. Geist fummelte an dem Ding herum. Er war immer noch nicht sicher, ob der Priester es überhaupt erwartet hatte. »Das ist heute Nachmittag gekommen«, erklärte er, »von dem Zauberer, nehme ich an.« Er wickelte das Paket aus und händigte Cadderly den schönen Wanderstab aus. »Ja, Belisarius«, gab Cadderly abwesend zurück. Geschickt schwang er den Stab durch die Luft, um seine Balance zu prüfen, dann warf er ihn gleichgültig aufs Bett. »Den hatte ich fast
vergessen«, bemerkte er und fügte mit offenem Sarkasmus hinzu: »Ich frage mich, mit welchem mächtigen Zauber mein Zaubererfreund ihn belegt hat!« Geist zuckte nur die Schultern, obwohl er heimlich an seiner Unterlippe nagte. Jetzt war er wütend, dass er beschlossen hatte, das unerwartete Geschenk abzuliefern. Cadderly zwinkerte dem jungen Mann zu. »Nicht, dass ich je Verwendung dafür fände, du verstehst schon.« »Wir wissen nie, wann die Notwendigkeit zum Kampf über uns hereinbricht«, erwiderte Geist, der das Tablett auf Cadderlys kleinen Tisch schob und das Besteck hinlegte. Cadderly sah ihn neugierig an, denn die finsteren Töne und die ungewöhnlich nachdenklichen Worte des heißblütigen Jungen überraschten ihn. Einen kurzen Augenblick lang geriet der junge Mann mit einem Sägemesser ganz in die Nähe von Cadderlys nackter Brust. Aus unerfindlichen Gründen störte dies Cadderly plötzlich. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Der junge Priester schob es so leicht beiseite, wie er den Schweiß von seinem Hals rieb, indem er sich selbst mahnte, dass seine Reaktion übertrieben war. In Cadderlys Hinterkopf spielte das Lied. Fast hätte er sich umgedreht, um nachzusehen, ob er das Buch offen liegengelassen hatte, aber das hatte er nicht; er konnte es nicht. Schatten nahmen auf Brennans schmalen Schultern Gestalt an Aurora. Aus irgendeinem Grund, den er nicht verstehen konnte, spürte Cadderly wieder die unvorstellbare Möglichkeit, dass Brennan überlegte, ob er ihn mit dem Messer erstechen sollte. Plötzlich legte Brennan das Messer auf das Tablett und machte sich an der kleinen Schüssel und dem Teller zu schaffen. Cadderly entspannte sich jedoch nicht. Brennans Bewegungen waren zu steif, zu nervös, als ob er bewusst versuchte, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Cadderly sagte nichts, sondern hielt das kleine Handtuch mit beiden Händen hinter dem Hals. Er war bereit. Er konzentrierte sich
nicht auf die tatsächlichen Handlungen des Mannes, sondern mehr auf dessen Schultern, auf die missgestalteten, drohenden Schatten, die dort hockten, deren schwarze Klauen ins Leere griffen. Aurora. Das Lied spielte in den fernen Tiefen seines Geistes und verriet ihm die Wahrheit. Aber Cadderly, der immer noch Novize und sich der Quelle seiner Macht immer noch nicht sicher war, wusste nicht, ob er ihr trauen durfte oder nicht. Cadderly konnte nichts anderes feststellen, als dass die Schatten denselben furchterregenden Dingen glichen, die er auf den Schultern des Bettlers unterwegs gesehen hatte. Er spürte, dass sie Unheil ankündigten, damals wie heute, spürte, dass sie grausamen Gedanken entsprangen. Angesichts dessen, dass Brennan gerade ein Schneidemesser gehalten hatte, dass eine knappe Bewegung das scharfe Gerät in Cadderlys nackte Brust hätte treiben können, war das nicht gerade beruhigend. »Du musst gehen«, sagte er zu dem Jungen. Geist sah ihn verwirrt an, aber wieder kam sein Gesichtsausdruck Cadderly falsch vor. »Stimmt etwas nicht?« fragte der schlanke junge Mann unschuldig. »Geh«, wiederholte Cadderly wieder mit unnachgiebig finsterer Miene, und diesmal enthielt sein Wort die Kraft eines simplen Zaubers. Überraschenderweise blieb der junge Mann trotzdem stehen. Die Schatten auf Brennans Schultern lösten sich auf, und Cadderly musste sich fragen, ob er die Zeichen falsch gelesen hatte, ob diese Schatten etwas ganz anderes zu bedeuten hatten. Brennan verbeugte sich knapp – eine weitere unerwartete Geste von den jungen Mann, den Cadderly recht gut zu kennen meinte – und schlüpfte dann klugerweise aus dem Zimmer. Hinter sich schloss er die Tür. Cadderly starrte lange die Tür an, denn er glaubte, er wäre verrückt
geworden. Er starrte das Buch der Universellen Harmonie an, denn er fragte sich, ob es ein verfluchtes Buch war, das Lügen hervorrief und dessen unverständliches Lied nur im Ohr des dummen Opfers wahr erschien. Wie viele Priester waren tot über seinen aufgeschlagenen Seiten aufgefunden worden? Für ein paar entscheidende Momente rang Cadderly nach Atem. Er stand an einem Scheideweg in seinem Leben, obwohl er es nicht erkannte. Nein, beschloss er schließlich. Er musste an das Buch glauben, er wollte unbedingt an etwas glauben. Dennoch blieb er so stehen, sah zur Tür, zum Buch und schließlich in sein eigenes Herz. Er nahm wahr, dass sein Essen kalt wurde, stellte aber fest, dass es ihm egal war. Die Leere in ihm ließ sich nicht mit Essen füllen. Bogo hatte Geist mehr als die Stunde gegeben, um die der verschlagene Mann gebeten hatte, doch er beschloss, trotz dem im Wirtsraum zu bleiben, wo er vielleicht etwas erfahren konnte. Die Gespräche der wachsenden Gästeschar drehten sich überall um die Kriegsgerüchte, doch zu Bogos Erleichterung schien keiner der Anwesenden eine Ahnung zu haben, wie groß die Gefahr war, die sich über ihnen zusammenbraute. Wenn Aballister den Abmarsch befahl, höchstwahrscheinlich zu Beginn des Frühlings, würde es der Armee von Burg Trinitatis nicht schwerfallen, Carradoon in die Knie zu zwingen. Bogos Lächeln wurde hämisch, als etwas später Kierkan Rufo eintrat, denn diesmal war der linkische Mann nicht in Begleitung des Großmeisters. Rufo lief direkt auf die Treppe zu, aber Bogo schnitt ihm den Weg ab. »Ihr seid aus der Erhebenden Bibliothek?« fragte er in hoffnungsvollem Ton. Rufos scharfe Züge wirkten im flackernden Feuerschein noch
schärfer, und aus dunklen Augen blickte er den seltsam aussehenden jungen Mann starr an. »Dürfte ich Euch vielleicht ein Bier oder einen guten Wein spendieren?« drängte Bogo, als keine Antwort kam. Rufos Antwort troff vor Argwohn. »Warum?« »Ich bin nicht von hier«, erwiderte Bogo ohne das geringste Zögern. Der ehrgeizige Magier hatte diese Szene innerlich ein dutzendmal durchgespielt. »Den ganzen Abend wurde ich mit Gerüchten über Krieg bombardiert«, erklärte er. »Und alle Gerüchte deuten an, dass die einzige Hoffnung in der Erhebenden Bibliothek liegt.« Wieder antwortete Rufo nicht, aber Bogo bemerkte, dass der eitle Mann mit gewissem Stolz die Schultern straffte. »Ich bin nicht ganz untalentiert«, fuhr Bogo fort, der jetzt zuversichtlich war, dass Rufo ihm in die Falle gehen würde. »Vielleicht könnte ich zu diesen Hoffnungen etwas beitragen. Jedenfalls würde ich es gern versuchen! Also lasst Euch von mir zum Wein einladen. Wir könnten uns unterhalten, und vielleicht kann ein weiser Priester mich an die Stelle führen, wo meine Fähigkeiten am hilfreichsten wären.« Rufo sah zur Eingangstür zurück, als ob er erwartete und befürchtete, dass Großmeister Avery jeden Moment hereinstapfen könnte. Dann nickte er kurz und folgte Bogo zu einem der wenigen leeren Tische, die es im Wirtsraum noch gab. Das Gespräch blieb eine Weile belanglos. Bogo und Rufo schlürften ihren Wein, und der Zauberer gab rasch jede Hoffnung auf, dem ungelenken Mann viel Alkohol einflößen zu können. Rufo, der in den letzten paar Wochen viel durchgemacht hatte, blieb auf der Hut und bedeckte jedesmal sein halbvolles Glas, wenn Brennan, der an den Tischen bediente, einen seiner häufigen Besuche machte. Bogo fiel mehrfach auf, dass der Sohn des Wirts ihn misstrauisch
ansah, doch das schrieb er der angeborenen Neugier des Jungen zu. Er dachte sich nichts weiter dabei. Er lenkte das Gespräch schon bald auf speziellere Themen wie die Erhebende Bibliothek und den Rang von Rufos behäbigem Freund. Ganz allmählich ging die Unterhaltung auch auf den anderen Priester über, der im Gasthaus wohnte. Rufo, der von Anfang an verschlossen gewesen war, schreckte noch mehr zurück und schien Verdacht zu schöpfen, doch Bogo ließ nicht von ihm ab. »Warum seid Ihr in der Stadt?« fragte Bogo ziemlich scharf. Rufo schien die leise Veränderung in der immer ungeduldigeren Stimme des Zauberers zu bemerken. Er lehnte sich zurück und beobachtete Bogo schweigend. »Ich muss gehen«, erklärte er schließlich, stützte sich auf den Tisch und wollte aufstehen. »Setzt Euch, Kierkan Rufo«, zischte Bogo ihn an. Rufo sah ihn einen Augenblick fragend an. Er wusste, dass er dem Mann seinen Namen nie genannt hatte. Ein leises Wimmern entfuhr seinen dünnen Lippen, als er wieder auf den Stuhl zurücksackte, weil er schon fast erwartete, was nun folgte. »Woher wisst Ihr meinen Namen?« fragte Rufo mit allem Mut, den er aufbringen konnte. »Den hat mir Druzil verraten«, antwortete Bogo offen. Wieder kam dieses kaum wahrnehmbare Wimmern. Rufo wollte eine neue Frage stellen, aber der Zauberer brachte ihn sofort zum Schweigen. »Ihr werdet antworten und gehorchen«, erklärte Bogo schlicht. »Nicht noch einmal«, knurrte Rufo mit einem Trotz, der ihn selbst überraschte. »Dorigen denkt da anders«, erwiderte Bogo, »genau wie Druzil, der die letzten beiden Nächte in Eurem Zimmer verbracht hat«, log Bogo. »Das Teufelchen war schon dort, bevor Ihr und Avery den
Raum bezogen habt. Dachtet Ihr, Ihr entkommt uns so leicht, Kierkan Rufo? Dachtet Ihr, die Schlacht wäre gewonnen, nachdem wir in Shilmista eine unbedeutende Niederlage einstecken mussten?« Rufo fand keine Worte, um zu antworten. »Aha«, sagte Bogo ruhig, lehnte sich zurück und strich sein strähniges, braunes Haar zur Seite. »Jetzt verstehen wir uns.« »Was wollt Ihr diesmal von mir?« fragte Rufo, dessen Stimme etwas zu laut und zu scharf für Bogos Geschmack war (besonders mit Brennan in der Nähe, der die beiden Männer mit unverhohlener Neugier anstarrte). Rufos Gesicht hatte immer noch einen trotzigen Ausdruck, aber Bogo war unbesorgt. Der Mann war schwach, soviel wusste er, sonst wäre er bereits gegangen oder hätte seinen Feind angegriffen. »Vorerst gar nichts«, antwortete Bogo, der nicht zuviel in Bewegung setzen wollte, bevor er besser verstand, was Geist und die Nachtmasken vorhatten. »Ich werde in der Nähe sein, und Ihr werdet mir zur Verfügung stehen. Ich habe ein paar spezielle Dinge für meinen Besuch in Carradoon eingeplant, und Ihr, Rufo, werdet zweifelsohne darin eine Rolle spielen.« Er prostete dem ungelenken Mann zu und trank aus. Dann stand er vom Tisch auf, um zu gehen. Rufo saß in der Falle. »Nehmt Euch in acht, junger Zauberer«, hörte Bogo von der Seite, als er schon am Fuß der Treppe neben dem Schanktisch des Wirtsraums stand. Hinter sich sah er den jungen Brennan, der in aller Ruhe den Tisch abwischte und ihn drohend ansah. »Sprichst du mit mir?« fragte Bogo, der sich Mühe gab, überlegen zu klingen, obwohl ihn die plötzliche Aufmerksamkeit des Wirtssohns wirklich etwas nervös machte. »Ich warne Euch«, wurde Geist in Brennans Körper deutlicher. »Und dies ist die einzige Warnung, die Ihr bekommen werdet. Ihr
seid als Beobachter hier – eine Funktion, die Aballister persönlich bestimmt hat. Wenn Ihr Euch einmischt, könntet Ihr Euch in einem Loch neben Cadderly wiederfinden.« Bogos Augen wurden groß vor Schreck, was Geist ein befriedigtes Lächeln auf die geborgten Lippen trieb. »Wer bist du?« wollte der Zauberer wissen. »Wie…?« »Wir sind viele«, erwiderte Geist vielsagend. Es machte ihm Spaß zu sehen, wie der Zauberer sich wand. »Wir sind viele, und wir sind überall. Euch wurde gesagt, dass wir unsere Sache ordentlich machen, Bogo Rath. Euch wurde gesagt, dass wir kein Risiko eingehen.« Damit ließ Geist das Thema fallen und wandte sich wieder seiner Arbeit am Schanktisch zu. Bogo verstand den Grund für den plötzlichen Abbruch des Gesprächs, als Avery, der gerade ins Gasthaus zurückgekehrt war, mit Kierkan Rufe, an ihm vorbei die Treppe hochstieg, um in sein Zimmer zu gehen. Bogo folgte ihnen in sicherer Entfernung, denn er wusste nicht mehr genau, ob er weitere Anweisungen für Kierkan Rufo haben würde. Er wusste im Augenblick gar nichts mehr.
Sterblichkeit Die Morgendämmerung traf Cadderly beim aktiven Meditieren an. Er hatte beide Arme nach den Seiten ausgestreckt und ließ die Muskelkraft gegeneinanderwirken. Während er sich bewegte, sah er das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch vor sich an, hörte das Lied im Kopf und fühlte sich damit im Einklang. Schweiß bedeckte seine bloße Brust und rann ihm über das Gesicht. Der junge Priester spürte ihn deutlich, denn der meditative Zustand hatte seine Sinne geschärft. Als er schließlich fertig war, war Cadderly gründlich erschöpft. Er überlegte, ob er ins Bett gehen sollte, dann änderte er seine Meinung, denn er fand, dass er die letzten paar Tage zuviel Zeit in seinem Zimmer verbracht hatte. Der Tag würde hell und warm werden. Vor seinem Fenster glitzerte und funkelte der Impresksee in der Morgensonne. Cadderly schloss das Buch der Universellen Harmonie, aber als er auf das ruhige, inspirierende Wasser des Sees schaute, hörte er immer noch deutlich das Lied. Es war Zeit, das Wissen (die Kraft der Gefühle, wie er hoffte), das er aus dem Buch gewonnen hatte, in die Welt hinauszutragen. Es war Zeit zu überprüfen, wie seine neuen Einsichten zu den alltäglichen Mühen der Menschen um ihn herum passten. Cadderly fürchtete diese Enthüllungen. Konnte er die Schatten beherrschen, die er unweigerlich auf den Schultern der vielen Menschen von Carradoon tanzen sehen würde? Und konnte er ihre Bedeutung entziffern – die wahre Bedeutung? Er dachte an die Ereignisse des Vorabends, als er den jungen Brennan rausgeworfen hatte, weil ihm die sich windenden, drohenden Bilder Angst gemacht hatten. Der junge Priester wusch sich und trocknete sich ab, um seinen
Entschluss zu stärken. Die Wahl schien klar: Hinausgehen und lernen, sich mit Hilfe seines neugefundenen Wissens anzupassen, oder in seinem Zimmer bleiben und das Leben eines Einsiedlers führen. Cadderly dachte an Belisarius, der allein in seinem Turm lebte. Dort würde der Zauberer auch sterben, allein, und höchstwahrscheinlich würde sein Körper erst nach Wochen gefunden werden. Cadderly wollte dieses harte Los nicht teilen. Immer noch im Körper des jungen Brennan, ersetzte Geist abwesend auf dem oberen Treppenabsatz die Kerzen am Kronleuchter und sah dabei zu, wie der junge Priester die ›Drachenbörse‹ verließ. Er hatte gehört, wie Cadderly Fredegar mitgeteilt hatte, dass er erst spät zurücksein werde, und Geist hielt das für praktisch. Die Nachtmasken waren in der Stadt. Sie waren bereit. Heute musste Geist sich mit ihnen treffen. Vielleicht würde den jungen Cadderly eine ziemlich unangenehme Überraschung erwarten, wenn er heute abends zurückkehrte. Als geduldiger Killer, als Künstler, hätte Geist es vorgezogen, noch einige Tage abzuwarten, bevor er alles zum Zuschlagen vorbereitete; er wäre diesem seltsamen jungen Mann lieber noch näher gekommen, um alles über ihn zu wissen, damit es keinen Fehler geben konnte. Angesichts der Probleme, die aus der Ankunft der beiden anderen Priester erwachsen konnten, hielt der Assassine dies für besonders wichtig. Es war bekannt, dass mächtige Priester die Toten wiedererwecken konnten, und unter normalen Umständen hätte Geist es vorgezogen, sich Zeit zu lassen, um genau festzustellen, wieviel magische Einmischung von den Neuankömmlingen zu erwarten war, besonders von dem Priester mit dem Titel eines Großmeisters. Wenn nun die Nachtmasken Cadderly umbrachten, nur damit Avery seinen Körper wiederfand und ihn ins Leben zurückrief? Bogo Rath stellte ein noch größeres Problem dar. Was mochte der
ehrgeizige junge Zauberer planen? Bogo hatte gestern abends mit dem anderen, rangniederen Priester gesprochen, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Geist mochte keine Unklarheiten. Er war ein anspruchsvoller Berufskiller, der sich etwas darauf einbildete, keine Fehler zu machen und niemals etwas offenzulassen. Aber obwohl dieser Auftrag ihm verwirrend vorkam, musste er glauben, dass die Probleme umgangen – oder beseitigt – werden konnten. Zusätzlich hatte sich eine neue Möglichkeit aufgetan, ein Wunsch, mit dem Geist seine scheinbare Unvorsicht rechtfertigte. Er spürte die Vitalität in seinen Gliedern, spürte die mächtigen Bedürfnisse der Jugend und erinnerte sich an die Lust, die diese Bedürfnisse mit sich brachten. Er wollte seinen neuen Körper nicht aufgeben. Aber er wusste auch, dass er dieses Versteckspiel nicht viel länger durchstehen konnte. Schon bei der ersten Begegnung hatte Cadderly Verdacht geschöpft, und Geist zweifelte nicht daran, dass dieser Verdacht sich mit der Zeit nur verstärken würde. Außerdem war Geist durch diese Gestalt sehr eingeschränkt. Sein anderer Körper war noch am Leben, und das würde so bleiben, bis der Assassine sich endgültig entschlossen hatte, Brennans Körper als seinen eigenen zu übernehmen. Bevor ihre augenblickliche Mission abgeschlossen war, wäre das ausgesprochen gefährlich. Und solange die andere, armselige Gestalt noch atmete, konnte Geist den Ghearufu nicht gegen ein neues Opfer einsetzen. Selbst um Vander, sein Lieblingsopfer, zu erreichen, musste Geist durch seinen eigenen Körper gehen, und wenn er das tat, würde er den jungen Brennan befreien. Alles würde viel einfacher sein, sobald Cadderly tot war, das wusste er. Geist hatte am Vorabend überlegt, ob er zuschlagen sollte, als er direkt vor Cadderlys Brust das scharfe Messer in der Hand gehalten hatte. Wenn er gut gezielt hätte, hätte das Spiel gleich dort ein Ende gehabt, und er könnte jetzt sein Gold holen und ernsthaft über seine spontane Idee nachdenken, diesen jungen, kraftstrotzenden Körper zu
behalten. Er könnte den Körper mit der gefangenen Seele des jungen Mannes oben in seinem Zimmer töten und den magischen Ring aus dem Stiefel der Leiche ziehen. Schon in wenigen Tagen würde sich seine Seele an diese neue Gestalt gewöhnt haben, und dann konnte der Ghearufu ihm wieder von Nutzen sein. Er würde wieder einmal die Kraft der Jugend spüren. Sein Zögern hatte den Assassinen um seine Chance gebracht. Bevor er sich zum Zustechen entschlossen hatte, war Cadderly wieder auf ihn aufmerksam geworden. Die Unwägbarkeiten – seine Unkenntnis bezüglich Cadderlys Kräften, seine Unkenntnis, was die anderen beiden Priester betraf – hatten ihn zurückgehalten. »Brennan!« Fredegars Ruf riss den Assassinen aus seinen Gedanken. »Worauf wartest du?« bellte der Wirt. »Sieh zu, dass du diesen Leuchter wieder an seinen Platz hängst, und zwar bald! Der Schankraum muss noch geputzt werden, Junge. Also, los jetzt!« Mit der angenehmen jungen Gestalt kamen leider noch weitere Einschränkungen. Geist erhob keine Einwände. Die Nachtmasken waren nicht weit – er hatte reichlich Zeit, zu ihnen zu gelangen – und in Wirklichkeit war er froh über die Verzögerung, damit er die vielen möglichen Probleme und die vielen interessanten Fragen besser durchdenken konnte. Ungefähr eine Stunde später war der Assassine noch dankbarer für die Verzögerung, die ihn im Gasthaus zurückgehalten hatte, denn eine junge Frau mit rötlichblondem Haar, das sich fröhlich über ihre Schultern lockte, betrat die »Drachenbörse«, fragte nach Cadderly und stellte sich als Lady Danica Maupoissant vor. Noch ein Problem. »Da ist das Kerlchen!« rief Ivan, der zur Vorderseite der »Drachenbörse« zurückzeigte und Pikel grob herumriss. »Ei, ei!« piepste Pikel, sobald er Cadderly ausgemacht hatte. Ihm
war es wichtiger, Ivans Hände abzuschütteln, damit er sich endlich nicht mehr drehte. Leicht schwindelig schwankte der Zwerg von einem Bein aufs andere und kämpfte mit seinem verrutschten Topfhelm. Ivan wollte auf Cadderly zulaufen, der sie noch nicht bemerkt hatte, aber Danica legte ihm eine Hand auf die Schulter. Als der überraschte Zwerg sich umsah und in Danicas bittende Augen blickte, verstand er. »Du willst selbst zu ihm«, stellte Ivan fest. »Soll ich?« fragte Danica. »Ich weiß nicht, wie Cadderly reagiert, wenn er mich sieht. Ich würde lieber …« »Ruhe jetzt, junge Dame«, schimpfte Ivan. »Ich und mein Brüderchen haben noch ein bisschen Arbeit vor uns, und es wird schon spät. Ich besorge uns da drin Zimmer.« Er zeigte auf das Schild eines Wirtshauses, nur zwei Häuser von der »Drachenbörse« entfernt. »Du kannst uns holen, wenn du uns brauchst. Und du kannst ihm von mir und meinem Brüderchen das hier geben«, fügte Ivan hinzu, der die Spindelscheiben aus Adamant aus einer tiefen Tasche zog. Er wollte sie Danica geben, zog sie jedoch irritiert zurück. So diskret wie möglich rieb er einen Knochensplitter ab. Danica entging die Bewegung nicht. Mit hilflosem Schulterzucken warf Ivan ihr die Scheiben zu. Danica bückte sich und küsste den verständnisvollen Zwerg auf die Stirn, was Ivan tief erröten ließ. »Hihihi«, zirpte Pikel. »He, was sollte denn das jetzt?« fragte der verlegene Zwerg Danica. Dann machte er sich mit seinem kichernden Bruder auf den Weg. Ivan wusste, wenn Cadderly sie sähe, würde er sie wahrscheinlich alle hereinbitten und Danicas Wünsche so durchkreuzen. Danica stand allein im Gedränge der Straße und beobachtete jeden Schritt Cadderlys, während er in die »Drachenbörse« ging.
Gegenüber funkelte das Wasser des Impresksees im Schein der Abendsonne, und fast wäre sie diesem verlockenden Zauber gefolgt und vor ihren Ängsten davongerannt. Danica wusste wirklich nicht, wie Cadderly reagieren würde. Sie wusste nicht, ob ihr Abschied im Wald von Shilmista endgültig gewesen war. Wenn Cadderly sie jetzt zurückwies, würde sie nicht wissen, wohin sie sich wenden sollte. Die junge Frau, die schon so viele Herausforderungen angenommen hatte, so vielen Feinden begegnet war, hatte noch nie einen so entscheidenden Moment erlebt. Danica musste allen Mut zusammen nehmen, den sie aufbringen konnte, ab er schließlich ging sie doch auf das Gasthaus vor ihr zu. Cadderly stieg bereits die Treppe hinauf, als Danica eintrat. Seinen alten Wanderstab hielt er unter den Ellenbogen geklemmt und betrachtete ein verknittertes Pergament, anscheinend ohne etwas vom Rest der Welt wahrzunehmen. Leise wie eine Katze durchquerte die behende Adeptin den Raum und gelangte zur Treppe. Ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren musterte sie neugierig, als sie vorüberkam, und halb erwartete sie, dass er sie aufhalten würde, denn sie war kein zahlender Gast: Er tat es jedoch nicht, und bald war Cadderly, der immer noch zu sehr mit dem Pergament beschäftigt war, so dass er sie nicht bemerkte, nur noch zwei Stufen von ihr entfernt. Danica betrachtete ihn von hinten. Er sah magerer aus als noch vor wenigen Wochen, aber sie wusste, dass das nicht daran lag, dass er zu wenig gegessen hatte. Cadderlys jungenhafter Körper war der eines Mannes geworden; selbst sein Schritt wirkte sicherer und fester, weniger geneigt, von seinem selbstgewählten Pfad abzuweichen. »Du siehst gut aus«, platzte Danica heraus. Cadderly blieb abrupt stehen und stolperte über die nächste Stufe. Langsam löste er seinen Blick vom Pergament. Danica hörte ihn um Atem ringen. Es schien viele Minuten zu dauern, bis der junge Priester
schließlich den Mut aufbrachte, sich umzudrehen und sie anzusehen, und als er das tat, starrte Danica in ein zutiefst verwirrtes Gesicht. Sie wartete auf eine Antwort, aber entweder hatte es Cadderly die Sprache verschlagen, oder er hatte nichts zu sagen. »Du siehst gut aus«, sagte Danica wieder und fand sich unglaublich albern. »Ich … wir mussten nach Carradoon kommen …« Sie brach ab, denn der Ausdruck in Cadderlys grauen Augen brachte sie zum Schweigen. Danica hatte schon viele Male tief in diese Augen geschaut, aber jetzt sah sie etwas Neues darin, eine Traurigkeit, die von bitteren Erfahrungen herrührte. Wieder schienen viele Minuten zu vergehen. Cadderlys Wanderstab fiel mit einem lauten Knall auf die Treppe. Danica schaute ihm neugierig hinterher, und als sie wieder aufsah, war Cadderly bei ihr und umarmte sie so fest, dass er sie beinahe zerquetschte. Danica war unabhängig und stark und eine der besten Kämpfer des ganzen Landes, aber noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so warm und sicher gefühlt. Langsam rannen ihr die Tränen über die weichen Wangen, doch es war keine Traurigkeit in ihrem Herzen. Immer noch in Brennans Körper, beobachtete Geist das Paar vom Fuß der Treppe aus, wo er abwesend seinen Besen hin und her zog. Sein teuflischer Verstand wirbelte bereits wieder, entwarf neue Pläne und nahm an den alten leichte Änderungen vor. Geist wusste, dass er jetzt schnell handeln musste. Es war nicht zu bestreiten, dass alles zunehmend komplizierter wurde. Der erfahrene Mörder, der Künstler, hatte keine Angst. Er liebte Herausforderungen, und im Vergleich mit den vielen toten Helden, die er schon zur Strecke gebracht hatte, schien dieses Opfer, dieser Cadderly, kein besonderes Problem darzustellen. Danica. Cadderly hatte sie seit über fünf Wochen nicht mehr gesehen, und
obwohl er nicht vergessen hatte, wie sie aussah, war er dennoch von ihrer Schönheit aufs neue überrascht. Danica stand in seinem Zimmer, den Kopf ein wenig schief gelegt, das goldrote Haar über eine Schulter gelockt und die exotischen, tiefbraunen Augen zärtlich und wissend auf ihn gerichtet. Sie hatten sich auf seinen Wunsch getrennt. Er war es gewesen, der gegangen war – der Danica, den Krieg und Shilmista verlassen hatte. Er war sich immer noch nicht sicher, aus welchem Grunde Danica ihm gefolgt war, aber unabhängig davon wusste Cadderly, dass jetzt er etwas sagen, etwas erklären musste. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass du kommst«, sagte er, während er an seinen Lesetisch ging und sanft das Buch der Universellen Harmonie zuschlug. Ein nervöses Lachen entfuhr seinen trockenen Lippen. »Ich habe befürchtet, ich würde eine Einladung nach Shilmista bekommen, als Trauzeuge bei der Hochzeit von Danica und Elbereth.« »Das habe ich nicht verdient«, erwiderte Danica, deren melodische Stimme gleichmäßig und gefasst blieb. Cadderly breitete hilflos die Arme aus. »Ich hätte es verdient gehabt«, gestand er. Danica holte Ivans Geschenk heraus und warf es ihm hin. »Von den Zwergen«, erklärte sie, als Cadderly die schweren Scheiben auffing. »Sie haben vor langer Zeit damit angefangen; ein Geschenk für den Retter der Erhebenden Bibliothek.« Cadderly konnte die Macht der Waffe fühlen, die ihn ebenso entsetzte wie begeisterte. »Immer Waffen«, murmelte er resigniert und warf die Spindelscheiben vor seinem Bett auf den Boden, wo sie gegen eine kleine Kleidertruhe prallten, das Hartholz eindellten und dicht neben Cadderlys frisch bezaubertem Wanderstab liegenblieben. Cadderly betrachtete das passende Bild und hätte fast laut gelacht,
doch er wollte sich nicht vom Thema abbringen lassen. »Du hast den Elfenprinzen geliebt«, sagte er zu ihr. »Er ist jetzt der Elfenkönig«, erinnerte ihn Danica. Cadderly übersah nicht, dass sie nicht auf seine Unterstellung geantwortet hatte. »Du hast… du lieb st Elbereth«, sagte Cadderly wieder. »So wie du«, gab Danica zurück. »Er ist ein treuer Freund und einer der erstaunlichsten und ehrenwertesten Leute, neben denen ich je kämpfen durfte. Für den Elfenkönig von Shilmista würde ich mein Leben geben, so wie du.« Ihre Worte enthielten nichts Neues für Cadderly. Unter dem Schleier seiner Ängste hatte er die ganze Zeit gewusst, wie es um Danicas Beziehung zu Elbereth wirklich bestellt war. Er hatte gewusst, dass ihre Liebe zu dem Elfen – und es war wirklich Liebe – ihm selbst nichts anhaben konnte. Danica und Elbereth hatten sich derselben Sache verschrieben wie Krieger mit denselben Überzeugungen. Wenn Cadderly Danica liebte – und das tat er von ganzem Herzen –, wie konnte er dann nicht auch Elbereth lieben? Doch es blieb eine nagende Frage, ein nagender Zweifel, und zwar nicht an Danica. »Du würdest dein Leben für ihn geben«, wiederholte Cadderly mit großem Ernst. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich wäre genauso mutig.« Danicas Lächeln hatte ihn nicht verspotten wollen, aber es tat ihm trotzdem weh. »Ich bin davongerannt«, erinnerte Cadderly sie betont. »Nicht, als du gebraucht wurdest«, gab Danica zurück. »Weder ich noch die Elfen haben vergessen, was du im Syldritch‐ Hain oder mitten in der Schlacht getan hast. Tintagel lebt – und das ist dein Verdienst. Shilmista ist in den Händen von Elbereths Volk – deinetwegen.«
»Aber ich bin davongerannt«, wandte Cadderly ein. »Zweifle nur nicht daran.« Auf Danicas nächste Frage, in der Unschuld und ehrliche Scheu mitschwangen, war der junge Priester nicht gefasst. »Warum eigentlich?« Sie legte ihren Reisemantel auf den kleinen Nachttisch und setzte sich auf Cadderlys Bett. Er drehte sich um, denn er wollte aus dem Fenster sehen, über den immer noch glitzernden See im letzten Tageslicht. Cadderly hatte sich diese Frage nie so direkt gestellt, hatte nie die Ursache für sein Unbehagen untersucht. »Weil«, sagte er nach einem Moment, dann brach er wieder ab, denn die Worte waren ihm innerlich noch nicht klar. Er hörte das Bett knarren und fürchtete einen Augenblick, dass Danica zu ihm käme. Er wollte nicht, dass sie den Schmerz sah, der sich auf seiner Miene abzeichnete. Das Bett knarrte wieder, und er merkte, dass sie sich nur bewegt hatte, ohne aufzustehen. »Alles hat sich nur noch um mich gedreht«, sagte er. »Das Kämpfen, die Magie, mein Problem mit der bewusstlosen Dorigen und die Angst, dass es falsch war, sie nicht zu töten, die Schreie der Sterbenden, die mir nicht aus den Ohren gingen.« Cadderly rang sich ein Lachen ab. »Und die Art, wie du Elbereth angesehen hast.« »Das alles wäre wohl um so mehr Grund gewesen, bei denen zu bleiben, die dich lieben, anstatt davonzulaufen«, stellte Danica fest. »Dieser Wahnsinn hat sich Stück für Stück aufgebaut«, erklärte Cadderly, »vielleicht schon, bevor der böse Priester seinen Angriff auf die Bibliothek begann. Vielleicht hatte ich schon Probleme, seit ich erwachsen bin. Das würde mich nicht überraschen. Ich muss mich diesen Schwierigkeiten stellen und sie überwinden«, fuhr er fort und warf über die Schulter einen Blick auf Danica. »Das weiß ich jetzt.« »Aber dennoch… «, setzte Danica an, doch Cadderly, der wieder
auf den See blickte, schnitt ihr mit ausgestreckter Hand das Wort ab. »Ich konnte mich dem nicht stellen, wenn du bei mir warst, verstehst du das nicht?« fragte er flehentlich in der Hoffnung, dass sie ihm vergeben würde. »Wenn mich damals in der Bibliothek die vielen Fragen zu überwältigen drohten, musste ich nur meine geliebte Danica suchen. Neben dir, wenn ich dich ansah, gab es keine Probleme, keine unlösbaren Fragen.« Er drehte sich zu ihr um und sah die Freude, die aus ihrem schönen Gesicht strahlte. »Du bist nicht meine Antwort«, gestand Cadderly und litt mit, als Danicas Licht erlosch, weil ein tiefer Schmerz ihre Mandelaugen überschattete. »Du bist nicht mein Heilmittel«, versuchte Cadderly rasch zu erklären, weil er seine ursprüngliche Wortwahl beklagte. »Du bist eine Salbe, eine kurzfristige Erleichterung.« »Ein Spielzeug?« »Niemals!« Dieses Wort kam mitten aus Cadderlys Herzen, barst so plötzlich aus ihm heraus, wie Danica es jetzt brauchte. »Wenn ich bei dir bin, ist die ganze Welt, mein ganzes Leben wunderbar«, fuhr Cadderly fort. »Aber in Wahrheit ist es das natürlich nicht. Das hat Shilmista ohne jeden Zweifel erwiesen. Wenn ich bei dir bin, kann ich mich hinter meiner Liebe verstecken. Du, meine Danica, warst meine Maske. Dahinter konnte ich mich sogar vor den Schrecken des fortwährenden Kämpfens verstecken, ganz sicher.« »Aber du konntest dich nicht vor dir selbst verstecken«, warf Danica ein, die allmählich begriff. Cadderly nickte. »Die Probleme sind hier drin«, erklärte er, während er erst auf sein Herz, dann auf seinen Kopf zeigte, »und sie bleiben bei mir, bis ich sie lösen kann. Oder bis sie mich zerstören.« »Und solange deine Maske da war, hinter der du dich verstecken konntest, konntest du dich ihnen nicht stellen«, überlegte Danica. In
ihrer ruhigen Stimme lag keine Bosheit. Voll ehrlichen Mitleids für Cadderly fragte sie leise: »Hast du deine Antworten gefunden?« Cadderly hätte fast laut gelacht. »Ich habe neue Fragen gefunden«, gestand er. »Die Welt ist nur noch verwirrender geworden, seit ich mich selbst erforsche.« Er zeigte auf das Buch der Universellen Harmonie. »Du würdest kaum glauben, was dieses Buch mir schon gezeigt hat, doch ob die Bilder echt sind oder schlaue Täuschung, das weiß ich nicht.« Danicas erschrockener Blick verriet Cadderly, dass er etwas Entlarvendes gesagt hatte. Er musste lange warten, bis die junge Frau antwortete und diese Enthüllung mit ihm teilte. »Du zweifelst an deinem Glauben?« fragte sie direkt. Cadderly fuhr herum. Wieder suchte sein Blick das sterbende Licht auf dem See. Sie hatte genau ins Ziel getroffen, erkannte er jetzt. Wie konnte er, ein Priester des Deneir, an der Vision und der Magie zweifeln, die ihm das heiligste Buch seines Gottes offenbarte? »Ich zweifle nicht an den Grundregeln, die die Kleriker des Deneir aufgestellt haben«, versicherte Cadderly mit Überzeugung. »Dann also an Deneir selbst«, überlegte Danica ungläubig. »Du hinterfragst die Existenz solcher Wesenheiten?« Ihre Stimme brach beinahe bei diesen Worten. »Wie kann jemand, der unter Priestern aufgewachsen ist und so viel Klerikermagie mit angesehen hat, behaupten, an gar nichts zu glauben?« »Ich behaupte überhaupt nichts«, protestierte Cadderly. »Ich bin bloß zutiefst verunsichert.« »Du hast die Magie gesehen, die von den Göttern stammt«, wandte Danica ein. »Du hast die Magie gespürt … als du Tintagel geheilt hast.« »Ich glaube an Magie«, überlegte Cadderly. »Hier auf Faerun ist sie unbestreitbar vorhanden. Und, ja, ich habe die Kraft gespürt, aber woher sie stammt, kann ich nicht sagen.«
»Der Fluch der Intelligenz«, murmelte Danica ironisch. Cadderly sah sie noch einmal über die Schulter an. »Du kannst nur noch an das glauben, was du ohne jeden Zweifel beweisen kannst«, sagte sie zu ihm. »Muss man alles anfassen können? Ist in einem Kopf, der jedes der geringeren Mysterien enträtseln kann, kein Raum mehr für Glauben?« Wind war über dem See aufgekommen. Wellen schlugen ans Ufer und fingen auf ihren Schaumkronen das letzte Tageslicht ein. »Ich weiß es einfach nicht«, sagte Cadderly, der das aufgewühlte Wasser betrachtete und versuchte, ein passendes Symbol darin zu sehen, wie es das allerletzte Licht weitertrug. »Warum bist du davongerannt?« fragte Danica ihn wieder, und an ihrer festen Stimme erkannte er, dass sie ihn weiterzwingen wollte, was es sie beide auch kosten mochte. »Ich hatte Angst«, gab er zu. »Angst, noch mehr zu töten. Angst, dass du getötet werden könntest. Das konnte ich nicht ertragen.« Cadderly hielt inne und schluckte vernehmlich. Sein Schweigen dauerte an, doch Danica wagte es nicht, seinen Gedankenfluss zu unterbrechen. »Ich hatte Angst zu sterben.« Da war es. Cadderly hatte gerade seine eigene Feigheit eingestanden. Er zog die Schultern hoch, weil er Danicas beißenden Vorwurf fürchtete. »Natürlich hattest du das«, sagte sie statt dessen, und in ihrer Bemerkung lag kein Sarkasmus. »Du zweifelst an deinem Glauben, zweifelst daran, dass es jenseits dieser Existenz noch irgend etwas gibt. Wenn du glaubst, dass es sonst nichts gibt, welchen Wert hätte da Ehre? Tapferkeit reitet auf dem Rücken einer Sache, Cadderly. Für Elbereth würdest du sterben. Das hast du schon bewiesen. Und wenn ein Speer auf mein Herz zielen würde, würdest du ihn, ohne nachzudenken, mit deinem Körper auffangen. Daran zweifle ich nicht.« Cadderly starrte weiter aus dem Fenster. Er hörte, wie sich Danica
wieder bewegte, war jedoch zu sehr darin versunken, ihre Weisheit zu bewundern. Er sah die letzten Lichtfunken auf den Wellen reiten, auf der Brandung, und wusste, dass in Danicas Worten Wahrheit lag. In Shilmista hatte er Angst vor dem Tod gehabt, aber nur, weil die Rechtfertigung für die Fortsetzung dieses Krieges auf Prinzipien beruhte, und diese Prinzipien wiederum beruhten auf Glauben. Und er war so wütend auf Danica und Elbereth und all die anderen gewesen, weil er Angst um sie gehabt hatte und nicht anerkennen konnte, dass sie an diese höheren Prinzipien glaubten und deshalb bereitwillig einen Weg einschlugen, der leicht mit ihrem Tod hätte enden können. »Ja, das würde ich tun«, bekannte Cadderly. »Ich habe nie an dir gezweifelt«, antwortete Danica. Es lag etwas in ihrer Stimme, etwas Weicheres, Geheimnisvolles, das Cadderly dazu brachte, sich umzudrehen. Sie lag auf seinem Bett. Ihre Kleidung hatte sie, ordentlich gefaltet, davorgelegt. Wenn Cadderly tausend Jahre alt werden würde – nie würde er diesen Anblick vergessen. Danica hatte den Kopf in die Hand gestützt, ihr dichtes, rötlich blondes Haar fiel über ihren Arm, um auf dem einzigen Kissen zu tanzen. Das spärliche Licht betonte Danicas weiche Haut, das Schimmern ihrer wohlgeformten Beine. »Die ganzen Wochen habe ich nie an dir gezweifelt«, sagte sie. Cadderly bemerkte das leichte Beben in ihrer Stimme, konnte aber immer noch nicht glauben, wie tapfer sie gewesen war. Er knöpfte sein Hemd auf und kam zu ihr. Gleich darauf waren sie zusammen. Wieder spielte das Lied in Cadderlys Gedanken. Nein, eher fühlte er es drängend durch jede Faser seines Körpers pochen, denn es führte ihn durch jede kleinste Bewegung und überzeugte ihn, dass alles, was er tat, vollkommen richtig war. In Cadderlys Kopf wirbelte ein schwindelerregendes Knäuel aus Gedanken und Gefühlen. Er dachte daran, dass Danica sein Kind
empfangen könnte, und merkte, was Sterblichkeit bedeutete. Am meisten aber konzentrierte er sich auf Danica, die Gefährtin seiner Seele, und er liebte sie um so mehr. Einst war sie vielleicht sein Schild gewesen, aber nur, weil er ihr diese Rolle zugewiesen hatte. Jetzt hatte er seine Verletzlichkeit und seine tiefsten Ängste eingestanden, und Danica hatte sie und ihn von ganzem Herzen akzeptiert, und zwar mit dem ehrlichen Bestreben, ihm bei der Lösung zu helfen. Später, als Danica schlief, stand Cadderly auf und entzündete eine einzige Kerze auf seinem Tisch neben dem Buch der Universellen Harmonie. Einen Augenblick lang schaute er zu Danica zurück, die auf dem Bett lag, und spürte, wie heiße Liebe durch seine Adern strömte. Bestärkt durch diese Sicherheit setzte Cadderly sich hin und schlug das Buch auf, denn er hoffte, dass er das Lied nach den Erkenntnissen dieser Nacht anders hören würde. Viele Stunden, bevor Cadderly diese Kerze anzündete, war Geist von der Tür des jungen Priesters weggeschlichen, denn nun war er recht zuversichtlich, dass die Ankunft von Danica Maupoissant seinen Plänen, die langsam Gestalt annahmen, wenig anhaben konnte. Im Gegenteil. Geist war zu dem Schluss gekommen, dass er Danica – wenigstens ihren Körper – vielleicht benutzen konnte, um die Lust an diesem Mord noch erheblich zu vergrößern. Wenn er den Körper von Cadderlys Geliebter in Besitz nahm, könnte er den jungen Priester vielleicht zu einem Zeitpunkt erwischen, zu dem er vollkommen arglos war. Aber trotz seines Eifers war Geist klug genug, zu erkennen, dass die Dinge gefährlich kompliziert wurden. Der arme, verprügelte Brennan, der immer noch in der Nische zwischen Bett und Wand festsaß, sah flehend hoch. »Ich werde dich heute nacht freilassen«, versprach Geist. »Ich habe entschieden, dass ich es mir nicht leisten kann, deinen
Körper zu behalten – so ein Pech, denn es ist ein angenehmer Körper.« Brennan, der unbedingt hoffen wollte, hätte fast ein Lächeln zustande gebracht, bis sich Geists Hände – Brennans eigene Hände – um seine geliehene Kehle schlossen. Diesmal gab es keinen Schmerz für den gequälten Sohn des Wirts; es gab nur Schwärze. Nachdem diese Aufgabe vollbracht war, setzte sich Geist aufs Bett, band die Gestalt des Schwächlings los und wartete ungeduldig darauf, seinen eigenen Körper wieder einzunehmen. Er beklagte, dass er diesen schönen jungen Körper nicht nutzen konnte, aber er erinnerte sich an seinen Auftrag und die drängende Gefahr. Er versicherte sich selbst, dass er schon bald einen anderen, passenden Körper finden würde, wenn Cadderly erst tot war.
Spion des Spions Kierkan Rufo betrachtete die beladenen Regale mit unverhüllter Verachtung. Einkaufen! Seit über zwölf Jahren schuftete er in der Erhebenden Bibliothek, war seinen Pflichten stets sorgfältig nachgekommen, und jetzt hatte Großmeister Avery ihn Einkaufen geschickt! Diese ganze Reise nach Carradoon hatte dem armen Rufo eine Demütigung nach der anderen gebracht. Er wusste, dass seine Taten in Shilmista Avery verärgert hatten (obwohl er sich inzwischen eingeredet hatte, dass nichts davon wirklich seine Schuld gewesen war), aber er hätte nie gedacht, dass der Großmeister ihn derart degradieren würde. Bei all den vielen Treffen mit den Priestern des Ilmater, mit mehreren an deren religiösen Sekten der Stadt und mit den Stadträten hatte Rufo hinter Avery stehen und schweigen müssen. Diese Begegnungen waren von großer Wichtigkeit für die Verteidigung der Region und das Überleben der Erhebenden Bibliothek, doch Rufo war aus unerfindlichen Gründen übergangen worden. Seine Kommentare waren nicht nur unerwünscht gewesen, nein, der Großmeister hatte ihm einfach den Mund verboten! Und jetzt ging er einkaufen. Rufo stand ein Weilchen vor den Regalen und malte sich aus, dass in Shilmista die andere Seite gewonnen hätte, denn er glaubte, er wäre besser dran gewesen, wenn Dorigens Truppen die Elfen abgeschlachtet und ihn in ihre Reihen aufgenommen hätten, wie das Teufelchen es versprochen hatte. Vielleicht wäre die Welt für Kierkan Rufo ein besserer Ort, wenn Cadderly in den Schatten des Waldes gefallen wäre. Cadderly! Der Name klang in Rufos Gedanken wie der allerschlimmste Fluch. Cadderly hatte die Bibliothek und den Orden des Deneir verraten, hatte mit seiner Desertion – ein anderes Wort
konnte es für das Verschwinden des jungen Priesters nicht geben – Avery und allen anderen Priestern einen Schlag ins Gesicht versetzt. Cadderly war noch nie ein guter Priester gewesen, jedenfalls nicht in Rufos Augen, hatte sich nie mit viel Hingabe den vielen Pflichten gewidmet, die den einfachen Klerikern zugewiesen wurden. Und doch galt Cadderly mehr als Rufo, viel mehr als jeder, mit Ausnahme der herrschenden Ordnung in der Bibliothek. Rufo nahm einen Sack Mehl und zog ihn so gewaltsam zu sich, dass ihm eine kleine, weiße Wolke entgegenstob und sein Gesicht bedeckte. »Da sieht aber einer gar nicht glücklich aus«, kam eine schroffe, raue Stimme von der Seite. »Ui, ui«, stimmte jemand von der anderen Seite zu. Der ungeschickte Priester musste weder zur Seite noch nach unten sehen, um zu wissen, dass die Gebrüder Felsenschulter neben ihm standen, und diese Tatsache konnte seine schlechte Laune kaum verbessern. Er hatte gewusst, dass die Zwerge nach Carradoon wollten, aber er hatte gehofft, dass er und Avery vor ihrer Ankunft längst wieder auf dem Weg in die Bibliothek wären. Er drehte sich zu Ivan um und wollte sich an dem Zwerg vorbeischieben. Ivan tat wenig, um dem ungeschickten Mann zu helfen, und dank des beträchtlichen Umfangs des Zwergs musste Rufo schließlich bleiben, wo er war. »Du hast es eilig«, bemerkte Ivan. »Ich dachte, du freust dich, wenn du mich und mein Brüderchen siehst.« »Geh mir aus dem Weg, Zwerg«, sagte Rufo finster. »Zwerg?« echote Ivan, als hätte er eine tödliche Wunde erlitten. »Du sagst das, als wenn’s eine Beleidigung wäre?« »Denk, was du willst«, gab Rufo ungerührt zurück, »aber geh mir aus dem Weg. Ich habe wichtige Geschäfte in Carradoon – etwas, was du eindeutig nicht verstehst.«
»Ich habe Mehl nie für unwichtig gehalten«, erwiderte Ivan sarkastisch, der dem Sack einen festen Klaps versetzte, so dass Rufo eine neue weiße Wolke ins Gesicht stob. Der Mann zitterte vor wachsender Wut, doch das spornte Ivan nur zu weiteren Spötteleien an. »Du tust so, als wenn du dich gar nicht freust, mich und mein Brüderchen zu sehen«, sagte der Zwerg. »Sollte ich das?« fragte Rufo. »Wann wären wir je Freunde gewesen?« »Wir haben gemeinsam im Wald gekämpft«, erinnerte ihn Ivan, »das heißt, ein paar von uns haben gekämpft. Andere haben sich lieber in einem hohen Baum versteckt, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht.« Rufo drängte knurrend nach vorne und riss mehrere Packungen vom Regal, während er versuchte, an Ivan vorbeizukommen. Er hatte es fast geschafft, als der Zwerg einen starken Arm ausstreckte und Rufo so sicher wie eine Steinwand aufhielt. »Danica ist auch in der Stadt«, meinte Ivan, der die andere Hand hochstreckte und zur Faust ballte. »Bumm«, fügte Pikel finster hinzu. Die Anspielung auf Danicas demütigenden Angriff ließ Rufos Gesicht vor Wut rot anlaufen. Wieder knurrte er und schob sich an Ivan vorbei, um dann den engen Gang hinunterzustolpern und dabei noch viele andere Sachen aus den Regalen zu stoßen. »Einen schönen Tag noch«, rief Ivan ihm nach. Rufo ließ den Mehlsack fallen und lief einfach am Ladentisch vorbei auf die Straße. »Nettes Treffen«, sagte Ivan zu Pikel. »Ein bisschen Salz für diese öde Reise.« »Hihihi«, stimmte Pikel zu. Ivans Gesicht wurde wieder ernst, als er einen großen Mann bemerkte, der hinter Pikel Waren von einem Brett nahm. Der Mann
bewegte sich anmutig und geschickt, sein Blick war fest und durchdringend, und er hob einen zwanzig Pfund schweren Sack Maismehl problemlos mit einer Hand. Als er sich streckte, rutschte seine Tunika hinten hoch und enthüllte einen Dolch, der ihm fest im Gürtel steckte. Das allein hätte bei Ivan nicht die Alarmglocken schrillen lassen; viele Leute in Carradoon trugen versteckte Waffen, und Ivan hatte selbst ein Messer in der Tasche. Aber der Zwerg war sicher, dass er diesen Mann zuvor schon in anderer Aufmachung gesehen hatte. Er beobachtete ihn noch einige Augenblicke, bis der Mann ihn bemerkte und zur anderen Seite des Gangs verschwand. »Hä?« fragte Pikel, der wissen wollte, welches Problem seinen Bruder so offensichtlich beschäftigte. Ivan antwortete nicht sofort, denn er hatte damit zu tun, in seinem Gedächtnis zu kramen. Dann kam es ihm: er hatte einen Mann, der diesem Einkäufer sehr ähnelte, in der Gasse neben der »Drachenbörse« bemerkt. Der Mann dort war unordentlicher gewesen, hatte zerrissene Kleider getragen und wie ein einfacher Bettler ausgesehen, von denen es in Carradoon so einige gab. Doch selbst damals war Ivan die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen aufgefallen, die genau bemessenen Schritte. Der Zwerg hatte nicht viel darüber nachgedacht und hätte auch jetzt nicht mehr als einen kurzen Gedanken daran verschwendet, wäre da nicht der unangenehme Zwischenfall auf ihrer Reise in die Stadt gewesen. Danica war davon überzeugt, dass die Banditen keine gewöhnlichen Straßenräuber gewesen waren und dass sie es auf die drei Freunde abgesehen hatten. Ivan hatte für beides wenig Beweise, und obwohl er insgeheim so seine Zweifel hegte, kannte er Danica gut genug, um ihren Überlegungen nicht offen zu widersprechen. Das Durchsuchen der Leichen hatte jedoch wenig ergeben, denn die Männer hatten keine offensichtlichen Kennzeichen getragen, nicht
einmal das typische Symbol ihrer Feinde von Dreizack und Flasche, das die Freunde erwartet hatten. Allem Anschein nach waren es einfache Räuber gewesen, die den Gefährten zufällig in den Weg geraten waren, und dies schien um so plausibler, als Ivan und die anderen bei ihrer Ankunft in Carradoon Cadderly, Avery und Rufo sicher und gesund in der »Drachenbörse« vorgefunden hatten. Aber die Wachsamkeit des vorsichtigen, kampferprobten Ivan hatte deshalb nicht nachgelassen, nicht im geringsten. »Wir sollten Cadderly und Danica suchen«, sagte er zu Pikel. »Tsts«, widersprach Pikel, der peinlich berührt errötete und Ivan mit seinem Stummelfinger zuwackelte. Danica war letzte Nacht nicht in ihr Zimmer zurückgekehrt, und die Zwerge konnten sich unschwer vorstellen, wo sie steckte und warum. »Wir werden sie nicht stören, wenn es nicht nötig ist«, knurrte Ivan ihn an. »Nur ein Auge auf sie haben, das ist alles.« Ivan nickte zum Ende des Gangs hin, wo der verdächtige Kunde weitere Sachen einpackte. »Ich bin nicht sicher, ob wir schon den letzten dieser Banditen gesehen haben, die uns unterwegs überfallen haben.« »He?« machte Pikel. »Klar, der Haufen ist tot«, sagte Ivan, als Pikel schließlich herumhopste, um den Mann zu betrachten, »aber ich denke doch, dass sie Freunde hatten, und ich fürchte, dass wir nicht ganz zufällig angegriffen wurden.« »Ui, ui«, jammerte Pikel. Augenscheinlich beunruhigt sah er Ivan wieder an. »Wir passen nur auf sie auf, das ist alles«, sagte Ivan tröstend. »Wir passen nur gut auf sie auf.« Vander tigerte nervös in der Scheune am Rand der Stadt auf und ab. Geist hatte ihn mit Hilfe der Kräfte des Ghearufu heute morgen
telepathisch informiert, damit ihr Plan ins Rollen kam. Der Angriff auf Cadderly würde noch vor dem nächsten Morgen stattfinden. Alle anderen Assassinen waren schon vom Hof verschwunden, um sich mit ihren übrigen Spießgesellen in Carradoon bereit zu halten. Noch immer gab es keine Nachricht von den fünfen, die in die Berge gezogen waren, aber dass Danica und die Zwerge in der Stadt eingetroffen waren, verhieß nichts Gutes für die fehlenden Nachtmasken. Dennoch sollten vierzehn hervorragend vorbereitete Assassinen eigentlich für ein einziges nichtsahnendes Opfer genügen. Das jedenfalls war Geists Überlegung gewesen, als er Vander, dem Stärksten der Gruppe, befohlen hatte, auf dem Hof – und aus dem Weg – zu bleiben. Gegen die einzelnen Anweisungen hatte der Firbolg prinzipiell nichts einzuwenden. Hinrichtungen hatten bei dem ehrenhaften Riesen immer einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Was Vander jetzt beschäftigte, waren Geists Hintergedanken. Warum sollte er sich wirklich fernhalten? Nur wenn der teuflische kleine Assassine die Kräfte seines Opfers sehr ernst nahm, griff er zu dieser Strategie. Bei solchen Gelegenheiten war Vander nichts weiter als ein sicherer Fluchtweg für Geist. Wenn der Assassine ernsthaft in Gefahr geriet, konnte er einfach in Vanders Körper fliehen – und Vander in Geists Körper zurücklassen, wo er jeder Gefahr ausgesetzt war, in die der Assassine sich begeben hatte. Wie lange würde es noch so weitergehen, fragte sich der Firbolg zum zehntausendsten Mal. Wie lange würde er noch ein Spielball dieses verschlagenen, ehrlosen kleinen Schwächlings bleiben? Trotz des Herumtigerns und aller quälenden Gedanken konnte Vander weder ein Ende noch einen Fluchtweg sehen. Trost fand er nur darin, dass Cadderly am Morgen tot sein würde. Dann hatte dieses traurige Kapitel seines armseligen Lebens ein Ende.
»Ihr habt es wohl eilig«, meinte der junge Zauberer, als Rufo mit kreideweißem Gesicht die »Drachenbörse« betrat und schnurstracks auf die Treppe zulief. Rufo sah Bogo Rath an und schnaubte verächtlich, doch er hatte nicht den Mut, den Wink des jungen Zauberers zu übersehen. »Was wollt Ihr?« fauchte Rufo, der mit der ganzen Welt haderte und sich besonders darüber aufregte, dass er schon wieder zum Dienen gezwungen wurde. Wo er sich auch hinwandte, überall stieß er auf Leute, die ihn herumkommandierten. Bogo lachte herzlich und warf sein strähniges Haar zur Seite, weil es ihm in die grünen Augen hing. »Wie laufen Eure Besprechungen?« fragte der Zauberer. Wieder schnaubte Rufo. »Da solltet Ihr Avery fragen«, erwiderte er mit gifttriefender Stimme. »Denn ich, der verlorene Sohn, weiß das gewiss nicht!« Zum Beweis hielt Rufo seine Einkäufe hoch. »Ihr habt eine bessere Behandlung verdient.« Bogo gab sich große Mühe, wie ein ehrlicher Freund zu klingen. »Auch von Euch«, erwiderte Rufo scharf. Bogo nickte und stritt nichts ab. Insgeheim hatte der junge Zauberer, der ständig von seinen älteren Kollegen lächerlich gemacht wurde, durchaus Mitleid mit Rufos Dilemma. »Also, habt Ihr eine Aufgabe für mich, oder verschwendet Ihr nur meine Zeit?« fragte Rufo. »Wobei meine Zeit natürlich nicht gerade kostbar ist.« »Nichts davon«, erwiderte Bogo. Sofort drehte sich der ungelenke Mann um und ging wieder auf die Treppe zu. »Vorläufig«, rief Bogo ihm nach, was Rufos entschlossenen Schritten etwas von ihrem zornerfüllten Nachdruck nahm. Der Priester schaute sich ein letztes Mal um. »Ihr werdet es schon erfahren, wenn Ihr gebraucht werdet«, sagte
Bogo schlicht. Sein Gesicht war streng und unnachgiebig. Vielleicht hatte der junge Zauberer ja Mitleid mit Rufo, aber das würde den Priester kaum von den Diensten entbinden, die Bogo möglicherweise von ihm verlangen würde. »Ihr habt Euch heute wieder mit dem Priester getroffen«, sagte Geist zu Bogo, als dieser später am Nachmittag sein Zimmer betrat. Der junge Zauberer war nicht besonders überrascht, dass der hinterlistige Assassine auf ihn wartete, auch nicht darüber, dass er von seiner Begegnung mit Rufo wusste. »Ich habe Euch bereits gewarnt, Euch nicht einzumischen«, fuhr Geist fort. Bogo verzog erstaunt das Gesicht, und Geist merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte Bogo keineswegs gewarnt; das war der Sohn des Wirts gewesen, jedenfalls, soweit es Bogo anging. »Ihr?« fragte Bogo, dessen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Ich habe den jungen Brennan heute noch gar nicht gesehen«, stellte er fest. »Ehrlich gesagt, sein Vater macht sich große Sorgen um ihn.« Geist setzte sich auf dem Bett zurück und nickte dem scharfsinnigen jungen Mann anerkennend zu. »Sagen wir mal, der Junge hat seine Nützlichkeit überlebt«, erklärte er. »Was eine sehr gefährliche Sache ist.« Lange Zeit sprach keiner von beiden, aber zwischen ihnen herrschte nur wenig Spannung. Geist musterte Bogo lange und eindringlich, und der junge Zauberer schien zu spüren, dass der Assassine Pläne schmiedete – Pläne, von denen Bogo nur hoffen konnte, dass sie ihn einbezogen. »Also ist die Zeit nahe«, stellte Bogo fest. »Das Verschwinden des jungen Brennan wird Fragen aufwerfen, die Ihr nicht sehr lange unbeantwortet in der Luft hängen lassen könnt.« Wieder nickte Geist. »Die Zeit ist fast gekommen«, bestätigte er, »aber anscheinend haben sich einige Dinge verändert.«
»Die Ankunft der Priester und die von Danica?« fragte Bogo. »Komplikationen«, antwortete Geist. »Und was hat sich noch geändert?« »Eure Rolle«, gab Geist sofort zur Antwort. Bogo wich zunächst vorsichtig einen Schritt zurück, denn er fürchtete, auch er hätte seine Nützlichkeit überlebt. »Ich hatte gesagt, Ihr wärt nur Beobachter«, erklärte der Assassine, »und so sollte es Aballisters Meinung nach auch sein. Aber Ihr habt das doch nie geglaubt, nicht wahr, Rath? Ihr hattet nie vor, tatenlos zuzusehen und den Nachtmasken das Vergnügen, Cadderly umzubringen, ganz allein zu überlassen.« Bogo legte neugierig den Kopf schief und sah den Assassinen an. »Und Ihr habt mir bewiesen«, fuhr Geist fort, »sowohl durch Eure scharfsinnigen Schlüsse als auch durch Eure Fähigkeit, nahe an unsere Feinde heranzukommen, dass Euer Wert die Euch zugedachte Rolle übersteigt.« »Ich dachte, Ihr wolltet nicht, dass ich mit Rufo rede«, erwiderte Bogo, der sich immer noch in sicherer Entfernung von dem gefährlichen Mann hielt. »Ich habe Euch nur erklärt, dass die Dinge sich geändert haben«, gab Geist zurück. »Anscheinend müssen wir mit einem Großmeister der Bibliothek und mit einer gefährlichen jungen Frau fertig werden. Ich habe vor, das zweite Problem persönlich in die Hand zu nehmen, und dazu muss ich mir Euren Spion leihen.« Bogo ging zum Bett, denn jetzt überstieg die Neugier seine Angst. »Eine einfache Sache«, erklärte Geist. »Eine einfache, harmlose Aufgabe für Kierkan Rufo, die mir ermöglichen wird, an Lady Maupoissant heranzukommen.« »Ihr wollt sie töten?« »Sozusagen«, erwiderte Geist. »Zuerst werde ich sie benutzen, und wenn dann die Nachtmasken zu Cadderly kommen, wird die, die er
für seine engste Verbündete hält, in Wahrheit sein Feind sein.« Bogos Lächeln wurde breiter und spiegelte Geists teuflischen Gesichtsausdruck wider. Der Plan des Assassinen war wunderbar einfach. »Ich biete Euch einen Teil dieser Hinrichtung an«, erklärte Geist, »etwas, wonach Ihr fiebert, seit wir Burg Trinitatis verlassen haben. Ich versichere Euch, dass Eure Beteiligung an der Aktion von Aballister gut aufgenommen werden wird. Aber«, fuhr Geist verschlagen fort, denn nun kam der eigentliche Haken, »meine Bezahlung bleibt so, wie es ursprünglich vereinbart war.« »Natürlich… «, setzte Bogo an, doch Geist ließ ihn gar nicht erst weiterreden. »Und wenn Aballister mir nicht den vollen Betrag aushändigt«, fuhr Geist grimmig fort, »dann müsst Ihr die Differenz bezahlen – bis aufs letzte Goldstück.« Bogo nickte eifrig. Er war überglücklich, so eine lächerliche Summe im Tausch für sein Prestige zu zahlen. Außerdem verstand er allmählich, wie überaus fatal es sein konnte, nicht auf derselben Seite wie dieser böse kleine Mann zu stehen. Sie verbrachten noch eine Stunde zusammen, in der Geist seine Pläne und die Rolle, die Bogo spielen sollte, genau erklärte. Dem ehrgeizigen jungen Zauberer kamen der Plan und seine Aufgabe sicher genug (tatsächlich würde Rufo die meiste Arbeit tun) und lohnenswert genug vor, um ihn zufriedenzustellen. Genau, wie Geist es sich gedacht hatte.
Eine Seele zu fangen Cadderly und Danica hatten an diesem Tag sehr lange geschlafen. Brennan brachte kein Frühstück, und Cadderly war froh darüber. Er nahm an, dass der Sohn des Wirts wahrscheinlich zur Tür gekommen war und sich dann angesichts der Geräusche von drinnen errötend umgedreht hatte. Cadderly lächelte und dachte nicht mehr daran. Kurz nach Mittag verließen die Liebenden ihr Zimmer, um im Wirtsraum zu essen. Fredegar brachte die Speisen – das war ungewöhnlich, doch es fiel Cadderly erst auf, als der Wirt ihn fragte, ob er Brennan heute morgen schon gesehen hätte. Aber noch immer war Cadderly viel zu beschäftigt, um darüber nachzudenken, was das Verschwinden des jungen Burschen zu bedeuten hatte. Er versprach, nach Brennan Ausschau zu halten, als er mit Danica zu einem Spaziergang aufbrach. Fredegar nickte dankbar, doch er machte sich echte Sorgen. »Die Laster der Jugend«, erklärte Cadderly Danica, ohne sich allzusehr um das Befinden des Jungen zu sorgen. Er nahm an, dass Brennan noch spät nachts einer jungen Dame nachgestellt hatte und dass er diesmal vielleicht erfolgreich gewesen war. Trotz seines innerlichen Aufruhrs war für Cadderly heute morgen die Welt in Ordnung, denn Danica war bei ihm, und der junge Priester konnte einfach keine dunklen, bedrohlichen Gedanken fassen. Gemeinsam verließen sie das Gasthaus, überquerten die breite Promenade und gingen an das sandige Ufer des Impresksees. Vom Wasser her wehte ein steifer Wind, kühl, aber nicht kalt. Möwen schossen in unmöglichen Winkeln herum und führten überall um sie herum gewagte Kunststücke vor. Der übliche Morgennebel hatte sich längst aufgelöst, so dass die beiden einen großartigen Blick auf
die Insel mit dem wohlhabenderen Stadtteil von Carradoon und die breiten Bögen der Steinbrücke hatten, die dorthin führten. Einige mehrstöckige Gebäude ragten über die Bäume hinaus, und die Flotte von Booten – Fischer und Vergnügungslustige – wand sich um die Landzunge. »Ich glaube, ich könnte mich an den Bart gewöhnen«, sagte Danica, nachdem sie minutenlang ruhig zugesehen hatte. Sie zupfte an einer besonders langen Strähne. »Solange du ihn regelmäßig schneidest!« »Und ich liebe dich«, antwortete Cadderly. »Willst du bei mir bleiben?« »Bist du sicher, dass du das möchtest?« fragte Danica neckend, doch in ihrer Frage lag ein versteckter Unterton. »Bleib bei mir«, sagte Cadderly nachdrücklicher. Danica schaute auf das Wasser hinaus, ohne zu antworten. Die Frage hörte sich so einfach und klar an, doch sie wusste, dass es noch viele Hindernisse gab. Sie war in die Erhebende Bibliothek gekommen, um die uralten Werke von Großmeister Penpahg D’Ahn zu studieren, des Allerheiligsten, des Propheten und Gründers ihres Ordens. Nur in der Bibliothek konnte Danica ihre Arbeit fortsetzen, und diese Arbeit war ihr sehr wichtig, die Krönung aller persönlichen Ziele. So wichtig wie Cadderly? Danica war sich nicht völlig sicher, doch sie wusste, wenn sie ihre Ziele aufgab, um bei ihrem Liebsten zu bleiben, dann würde sie sich immer nach dieser Zeit zurücksehnen und sich fragen, was hätte sein können, welche Stufe der Perfektion sie hätte erreichen können. Und dann war da noch der Krieg. Die letzten paar Tage waren für die kriegsmüde Frau trotz des Angriffs auf dem Weg zur Stadt erholsam gewesen, doch Danica wusste, dass diese Ruhepause nur vorübergehend war. Es würde weitere Kämpfe geben, wenn nicht
jetzt, dann im Frühjahr, und Danica hatte sich längst entschlossen, daran teilzunehmen. Cadderly hingegen war davongelaufen, und jetzt wusste die Frau nicht, ob er seine Meinung ändern würde. Deshalb beantwortete Danica seine Frage nicht, und Cadderly, der klug genug war, ihr Zögern und ihre Ängste zu verstehen, fragte nicht wieder. Eins nach dem anderen, beschloss er. Sie würden Tag für Tag miteinander verbringen und sehen, welche Veränderungen der Wind über den See brachte. Schweigend gingen sie eine Zeitlang am Strand entlang. Cadderly führte Danica zu einem seiner Lieblingsplätze. Die Küste sprang abrupt ins Wasser vor und bildete eine kleine, baumbestandene Halbinsel, deren Ufer nur einen Fuß über der Wasseroberfläche lag. Ein einziger Pfad, kaum einen Fuß breit, führte in das dichte Gehölz hinein und endete auf einer kleinen Lichtung in der Mitte der Halbinsel. Obwohl sie nur eine knappe halbe Meile vom geschäftigen Carradoon entfernt waren, kam es Cadderly und Danica so vor, als wäre die Welt jenseits dieser schützenden Bäume verschwunden. Danica sah Cadderly argwöhnisch von der Seite an, denn sie glaubte zu wissen, weshalb er sie hier rausgebracht hatte. Aber Cadderly hatte andere Vorstellungen. Er führte Danica einen anderen, schmalen Pfad zur Spitze der Halbinsel entlang. Dort hatte sich ein kleiner Teich gebildet, in den immer, wenn ein Boot vorbeifuhr, neue Wellen schwappten. Cadderly zeigte auf einen moosbewachsenen Stein und bat Danica, sich zu setzen. Cadderly ging einmal um den Teich, wobei er etwas in sich hineinmurmelte, das Danica nicht verstand. Sie vermutete, dass es sich um einen magischen Spruch handelte. Cadderly blieb stehen. Er wiegte sich leise, wie eine Weide im Wind, und ließ die Arme kreisen. Danica hatte den Blick auf Cadderlys heiliges Symbol gerichtet, das Auge über der Kerze, das in der Mitte seines breitkrempigen Hutes angebracht war. Sie spürte, dass Macht davon ausging; das Auge schien aus innerer Kraft zu leuchten.
Das Wasser reagierte auf Cadderlys Ruf. Die Mitte des Teiches brodelte plötzlich auf. Danica zog die Füße an sich, weil sie nicht nass werden wollte, doch das Wasser überschritt die Ränder des Teiches nicht. Als die Wellen ans Ufer stießen, gab es ein lautes, zischendes Geräusch, und sie verdampften, stiegen in die Luft auf, um eine graue Wolke zu bilden. Noch mehr Wasser wogte auf und verschwand, und als alles vorüber war, standen nur noch ein paar kleine Pfützen dort, wo der Teich gewesen war. Die Wolke blieb noch einige Augenblicke über ihnen, bis der kräftige Wind sie zerriss und auflöste. Danica blinzelte staunend und sah Cadderly an, der ganz still dastand und die Grube voll Matsch und Pfützen betrachtete. »Du bist mächtig geworden«, bemerkte sie, nachdem einige Zeit vergangen war. »Für einen Ungläubigen.« Cadderly funkelte sie wütend an, doch angesichts ihres entwaffnenden Lächelns konnte er seinen Zorn nicht aufrechterhalten. Durch dieses Lächeln hindurch konnte Danica jedoch die Qualen des jungen Mannes erkennen. »Vielleicht ist es wirklich nur eine Abart der Zauberermagie, wie du befürchtest«, bot sie an, »aber vielleicht kommt die Kraft doch von Deneir. Du scheinst allzu schnell abzustreiten, was andere aus deinem Orden …« »Meinem Orden?« unterbrach Cadderly sofort mit ebensoviel Sarkasmus wie Unglauben in der Stimme. »Dein heiliges Symbol vibrierte vor Macht«, erwiderte Danica. »Ich habe es selbst gesehen.« »Ein Leiter für die Energie, genau wie das Buch auf meinem Tisch«, sagte Cadderly schärfer, als Danica verdient hatte. Er schien das einzusehen, und sein Ton war beträchtlich freundlicher, als er fortfuhr: »Immer wenn ich die Magie rufe, denke ich einfach an Worte aus diesem Buch.«
»Und es ist ein Buch von Deneir«, stellte Danica fest. Cadderly schüttelte den Kopf. »Weißt du, wer Belisarius ist?« fragte er. »Der Zauberer in dem Turm im Süden?« meinte Danica. Cadderly nickte. »Belisarius hat ein ähnliches Buch – ein Zauberbuch. Wenn er den Namen eines Gottes darauf schriebe, wäre es dann ein heiliges Buch?« »Das ist nicht dasselbe«, entgegnete Danica. »Ich weiß nicht«, murmelte Cadderly frustriert. Danica schaute auf den See hinter ihr, auf die sanften Wellen, die gegen die vielen kleinen Felsen an der Spitze der Halbinsel schlugen. Sie wollte unbedingt das Thema wechseln. Dann sah sie etwas beunruhigt in das matschige Loch. »Wie lange wird es dauern, bis es wieder voll ist?« fragte sie ziemlich unglücklich über das Ergebnis von Cadderlys Vorführung. »Oder muss es bis zum nächsten Regen warten?« Cadderly lächelte und bückte sich, um mit beiden Händen ein paar Tropfen des restlichen Wassers zu schöpfen. Er zog seine Hand dicht vor die Brust und murmelte wieder etwas vor sich hin. »Wie der sanfte Regen fallen muss!« endete er. Dann warf er die Hände nach oben und warf das Wasser über der matschigen Grube in die Luft. Eine winzige Wolke erschien, wurde größer, und kurz darauf ergoss sich ein dichter Wasserfall spritzend in den Schlamm. Noch ehe Danica sich von ihrem Lachanfall erholt hatte, war der Teich wieder da, so voll wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. »Du findest das komisch?« fragte Cadderly, der seine grauen Augen zusammenkniff und die Fäuste in die Hüften stemmte – eine Karikatur verletzten Stolzes. »Ich finde dich komisch«, gab Danica zurück, und Cadderlys Miene verriet, dass er wirklich verletzt war. »Du hast alle Beweise vor deiner Nase«, erklärte Danica, »mehr
Beweise, als die große Mehrheit der gewöhnlichen Menschen je sehen wird, und doch bleibst du so voller Zweifel. Mein armer Cadderly, verfolgt von den endlosen Fragen seiner eigenen Intelligenz!« Cadderly schaute zu dem Teich zurück, den er magisch geleert und dann wieder gefüllt hatte, und kicherte über die Ironie des Ganzen. Da nahm Danica seine Hand und führte ihn zu der Lichtung in der Mitte der Halbinsel zurück, Cadderly wollte weitergehen, den anderen schmalen Pfad hinunter und auf den breiteren Strand hinaus, aber Danica hielt seine Hand fest und blieb stehen, so dass er sich umdrehen musste. Sie waren allein in Sonne und Wind, und die ganze Welt schien friedlich. Danica lächelte spitzbübisch, und ihre Mandelaugen verrieten Cadderly ohne den geringsten Zweifel, dass jetzt nicht der Zeitpunkt zum Gehen war. Es dämmerte schon fast, als Cadderly und Danica sich wieder auf den Weg zur »Drachenbörse« machten. Weiter unten auf der Promenade sah Ivan sie kommen. Der Zwerg war viel ruhiger als vorher, und als Cadderly und Danica nun unversehrt zurückkehrten, fragte er sich, ob sein Verdacht vielleicht einfach übertrieben war und er sich jetzt schon benahm wie eine besorgte Glucke. Aber war es ein Zufall, dass nur einen Augenblick später ein Bettler aus der Gasse neben der »Drachenbörse« trat, der das junge Paar genauso eindringlich beobachtete wie Ivan? Ivan spürte, dass der Mann den beiden folgen würde. Der Zwerg ging langsam die Straße hinauf. Er hatte seine große Axt nicht dabei – es wurde nicht gern gesehen, wenn man in den Straßen von Carradoon so offen bewaffnet herumlief – aber er trug seinen Hirschgeweihhelm. Wenn dieser Bettler etwas gegen Cadderly unternehmen wollte, würde Ivan ihn einfach aufspießen. Cadderly und Danica betraten das Wirtshaus, und der Bettler lehnte sich gemütlich an die Wand. Ivan blieb perplex stehen und
kam sich sehr dumm vor. Er sah sich nach allen Seiten um, als ob er erwartete, dass die ganze Straße lachend mit dem Finger auf ihn zeigte, aber anscheinend hatte niemand etwas Ungewöhnliches an seiner Pirsch bemerkt. »Blöder Zwerg«, murmelte er in sich hinein. »Wovor hast du bloß soviel Angst? Nur ein armer Mann, der ein paar Münzen möchte.« Ivan kratzte sich verwundert den gelben Bart, als er wieder zu der Gasse hinsah. Der Mann war verschwunden. Danica kicherte, aber Cadderly fand das Klopfen an der Tür gar nicht komisch – nicht in diesem speziellen Augenblick. »Ach, geh schon und mach auf«, flüsterte Danica ihm zu. »Das ist bestimmt der Sohn des Wirts, um den du dir den ganzen Tag Gedanken gemacht hast!« »Ich will nicht gehen«, erwiderte Cadderly mit kindlichem Schmollen. Das brachte ihm ein neues Gekicher von Danica ein, die sich die Bettücher bis zum Hals hochzog. Bei jeder Bewegung stöhnend, hievte Cadderly sich aus dem Bett und ging zur Tür. Dabei schlang er den abgeworfenen Mantel um sich. »Rufo?« fragte er, als er die Tür einen Spaltbreit öffnete. Der Gang war dunkel, denn die Kerzen in dem großen Kronleuchter über der Treppe waren schon lange erloschen. Nur das Glühen aus dem Kamin des Wirtsraums spendete noch ein wenig Licht. Dennoch war Rufos schiefe Haltung für Cadderly unverkennbar. »Sei gegrüßt«, gab der ungelenke Mann zurück. »Und entschuldige bitte, dass ich dich gestört habe.« Cadderly lief puterrot an, was seinem Gegenüber offenbar gefiel. »Was willst du?« »Du wirst im Wirtsraum gebraucht«, erklärte Rufo, »sobald du
kannst.« »Nein.« Die Antwort schien klar genug, und Cadderly wollte die Tür zuschlagen, aber Rufo stellte seinen Fuß dazwischen. »Großmeister Avery wird mit einer Delegation aus der Ilmaterkapelle wiederkommen«, log Rufo, denn er wusste recht gut, dass Großmeister Avery zufrieden schnarchend in seinem Zimmer lag. Cadderly blickte über die Schulter zu den Balkontüren, hinter denen die schwarze Nacht zu sehen war. »Wie spät ist es?« fragte er. »Es ist sehr spät«, gab Rufo zu. »Die Priester des Ilmater wollen nicht, dass die Sache bekannt wird. Sie brauchen Informationen über den Tod ihrer Akolythen in der Erhebenden Bibliothek während der Zeit des Chaosfluchs.« »Ich habe doch schon meinen Zeugenbericht –« »Avery möchte, dass du kommst«, drängte Rufo. »Er verlangt nicht viel von dir, bestimmt weniger, als er von mir erwartet.« In der Stimme des kantigen Mannes lag offener Trotz. »Soviel kannst du für ihn tun, Cadderly, nachdem der Großmeister sich immer so für dich eingesetzt hat.« Dieses Argument schien stichhaltig genug. Cadderly stöhnte wieder; dann nickte er. »Zehn Minuten«, sagte er. Danica fing wieder an zu kichern, sobald die Tür geschlossen war. »Ich werde nicht lange fort sein«, versprach Cadderly, während er seine Kleider anzog. »Macht doch nichts«, erwiderte Danica unschuldsvoll. »Ich schlafe bestimmt sofort ein.« Sie räkelte sich genüsslich und rollte sich auf die Seite, während Cadderly fluchend das Zimmer verließ. Er war so verärgert, dass er gar nicht bemerkte, dass ein wieselartiger Mann – war es ein Mann? – ihn hinter einer leicht geöffneten Tür beobachtete.
»Cadderly?« Danica war nicht ganz sicher, ob sie selbst es gewesen war, die diese Frage gestellt hatte. Im Zimmer duftete es nach exotischen Blumen. Sie war überrascht, dass sie so schnell eingeschlafen war. War sie das wirklich? Wie lange war Cadderly fortgewesen? Und was war das für ein Geruch? »Cadderly?« fragte sie wieder. »Wohl kaum.« Das Wort hätte eine Warnung für die Frau sein müssen – sie wusste, sie musste jetzt wach werden und herausfinden, was bei den Neun Höllen hier vorging… aber sie konnte es nicht. Sie spürte einen Schlag, eine Hand im Handschuh, so kam es ihr vor, die gegen ihr Augenlid drückte, und dann wurde ihr Auge gewaltsam gerade einen Spalt aufgezogen. Danica versuchte, sich zu sammeln – warum war sie so schläfrig? Durch den Nebel sah sie sich selbst in einem kleinen Spiegel. Sie wusste, dass der Spiegel jemandem um den Hals hing. Wessen Hals? »Cadderly?« Jemand lachte, und das erfüllte sie mit einer bösen Vorahnung. Plötzlich riss sie hellwach die Augen auf, wehrte sich gegen die durchdringende Müdigkeit. Einen kurzen Augenblick sah sie Geist, zu kurz, um zuzuschlagen oder auch nur aufzuschreien. Dann fiel sie wieder in ihre eigenen Gedanken zurück, in tiefe Finsternis. Sie spürte einen brennenden Schmerz in jeder Faser ihres Körpers. Danica begriff nicht, was passierte, aber sie fühlte, dass es nichts Gutes war. Sie merkte, wie sie sich bewegte, doch sie wusste, dass ihr Körper liegenblieb. Hinter einer grauen Wolke wartete etwas anderes, etwas Schwarzes, auf das sich Danica zugezogen fühlte, gezwungen, dort hineinzusinken. Die erste Schwärze, ihre sterbliche Hülle, war weit,
weit hinter ihr. Kaum jemand in ganz Faerun hätte begriffen, aber kaum jemand in ganz Faerun war so meditationserfahren wie Danica. Ihre Identität! Jemand wollte ihre Identität stehlen! »Nein!« Danica wollte schreien, aber die Kontrolle über ihre körperliche Stimme war inzwischen fast verschwunden, und das Wort kam als unverständliches Wimmern heraus. Danica konzentrierte sich, wehrte den fortwährenden Duft ab, den sie inzwischen für eine Art Schlafgift hielt. Sie wehrte sich mit aller geistigen Kraft gegen die Schwärze, denn sie verstand, dass sie verloren war, wenn sie dort eintrat. Einen Augenblick später fühlte sie eine andere Präsenz, ebenso körperlos, die an ihr vorbeizog. Ihre Gedanken kreischten dem anderen tausend Protestrufe zu, doch es antwortete nicht. Es bewegte sich einfach nur auf die Schwärze zu, die Danica hinter sich gelassen hatte. »Wo sind sie?« fragte Cadderly ungeduldig, als er in die Wirtsstube kam. Das Feuer war heruntergebrannt und der Raum leer bis auf ihn und Rufo, der nervös in der hintersten Ecke an einem Tisch saß. »Nun?« knurrte Cadderly, als er sich dem kantigen Mann gegenübersetzte. »Geduld«, mahnte Rufo. »Es wird nicht lange dauern.« Cadderly lehnte sich zurück. Seiner Schätzung nach dauerte es schon viel zu lange. Wieder sah er Rufo an, wobei er eine unterschwellige Nervosität an ihm wahrnahm, aber dann verwarf er jeden Verdacht, denn er erinnerte sich daran, dass Kierkan Rufo immer nervös war. Er schloss die Augen und ließ die Minuten verstreichen, während seine Gedanken bei Danica und den Freuden und Erkenntnissen, die dieser Tag heute gebracht hatte, weilten. Er würde sie nie wieder
verlassen, soviel stand fest. Dann riss er die Augen weit auf. »Was ist denn?« hörte er Rufo laut fragen. Cadderly musterte den Mann, sah Rufo zwinkern. Hörte Rufo zwinkern! Das Feuer knisterte so ohrenbetäubend, dass Cadderly glaubte, die ganze Wand stünde in Flammen, aber als er sich zum Kamin umdrehte, schienen die Kohlen gerade noch ein letztes Flackern abzugeben. Eine Fliege summte am Schanktisch herum. Götter! Cadderly glaubte, sie müsste mindestens so groß wie ein kleines Pony sein. Er sah nichts. Und dann nahm er wieder das Lied wahr, das leise in seinem Hinterkopf spielte. Anstatt zu versuchen, sich einen Reim auf alles zu machen, gestattete Cadderly sich klugerweise, einfach nur zu fühlen. Etwas – eine Gefahr? – hatte ihn wachsam gemacht, und unbewusst hatte er eine Seite des Buches abgespielt, einen magischen Spruch in Gang gesetzt, der sein Hörvermögen verstärkte. »Was ist denn?« fragte Rufo ihn wieder, drängender. Cadderly sah den Mann nicht an, hob nur die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Atmen. Cadderly hörte das gleichmäßige Ein‐ und Ausatmen ein paar Tische weiter. Er sah hin, sah aber nichts. Aber da war etwas, jemand, dort drüben! Während er sich umsah, spürte Cadderly die magische Energie. »Was hast du gesagt?« hörte er Rufo fragen und erkannte erst jetzt, dass seine Lippen sich bewegten, um die Worte einer weiteren Seite aus dem Buch der Universellen Harmonie zu sprechen. Cadderly sah den silbrigen Umriss eines jungen Mannes, erkannte
die strähnigen Locken, die dem unsichtbaren Eindringling über die eine Kopfseite fielen. Rufo schubste ihn grob, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Cadderly wollte ihm Vorwürfe machen, doch dann hielt er inne und starrte Rufo durchdringend an. Danica riss sich zusammen. Sie musste die andere Präsenz auf dem Weg zu ihrem Körper überholen. Sie drehte ihre Seele um, zwang ihren Geist, sich ganz mit dem winzigen Teil von ihr zu verbinden, den sie zurückgelassen hatte, dem Teil, der ihren Mund gezwungen hatte, diesen jämmerlichen Laut auszustoßen. Da spürte sie die andere Gegenwart gegen die Schwärze stoßen – sie hatte ihren Körper schon erreicht! Sie spürte ein Brennen. Im nächsten Augenblick sah Danica einfach zu viele Dinge, als dass sie sie hätte begreifen können. Sie sah überdeutlich Morde, Dutzende von Morden. Sie sah Nachtmasken. Nachtmasken! Die Assassinenbande, die Geißel von Westtor, hatte ihre Eltern getötet. Sie sah einen Riesenclan durch die Augen eines Riesen. Sie sah die anderen Riesen durch ihre eigenen Riesenhände sterben. Sie sah Cadderly auf dem Weg nach Carradoon, sah ihn, wie er sich an seinem Tisch über das Buch der Universellen Harmonie beugte, wie er sich im Schutz seiner leicht geöffneten Tür duckte. Zu ihrem Entsetzen erkannte Danica, dass sie die Erinnerungen eines anderen aufrief. Sie hatte sich mit dem kleinen Teil verbunden, den diese andere Wesenheit auf ihrer Reise zu Danicas eigenem Körper zurückgelassen hatte! Und diese Person, wer es auch sein mochte, war mehrfach in Cadderlys Nähe gekommen. Nachtmasken! Lass mich raus! protestierten ihre Gedanken.
Die andere Identität schrie voller Wut, Qual und Unglauben auf sie ein. Danica hörte keine Worte, verstand die Bedeutung jedoch ganz genau, verstand, dass ihr konzentrierter Zorn sie dorthin zurückbringen konnte, wohin sie gehörte. Lass mich raus! Danica stemmte sich mit aller geistigen Stärke gegen die fremde Schwärze, rief ihren Zorn und all die Jahre geistiger Übungen zu Hilfe. Das Brennen wurde stärker, dann ließ es nach, und Danica spürte erneut eine physische Gegenwart – ihren eigenen Körper. Der Geruch kehrte zurück, und Danica merkte, dass ihr ein Tuch aufs Gesicht gedrückt wurde. Sie überließ sich ganz ihren Kriegerinstinkten, verschränkte die Finger zu einer Stoßtechnik und zog den Arm zum Zustoßen an. Ohne es zu merken, fiel sie hart auf den Boden. Schatten, böse, missgestaltete Wesen knurrten grimmig von den Schultern des ungelenken Mannes. Ihre Haltung war offen feindselig. Rufo griff über den kleinen Tisch, um Cadderly wieder zu berühren, doch der junge Priester schlug seine Hand weg. »Cadderly!« rief Rufo empört, aber der junge Gelehrte spürte deutlich, dass die scheinbare Besorgnis des Mannes Fassade war. Bevor Rufo sich wieder rühren konnte, stieß Cadderly gegen den Tisch und rammte dem Mann die andere Kante in den Bauch. Er wusste nicht, was er tun sollte, wusste nicht, ob er gewarnt oder in die Irre geleitet wurde. »Sag Avery, dass er mich morgen früh sprechen kann«, erklärte er schließlich, dann sprang er auf und sah sich im Raum um. Er spürte, dass der unsichtbare Zauberer längst fort war. »Das wird Avery aber nicht gefallen«, hörte er Rufo sagen, aber viel deutlicher hörte er einen Rums von oben und wusste instinktiv, dass er aus seinem Zimmer gekommen war.
Danica! Cadderly wollte zur Treppe rennen, aber dann bewegte er sich langsam wie im Traum, war kaum fähig, einen schweren Fuß vor den anderen zu setzen. Das Lied spielte in seinem Kopf. Instinktiv rief er eine Seite aus dem großartigen Buch auf, auf der konzentrierte magische Energien und die Sprengung solcher böswilligen Ansammlungen von Magie beschrieben waren. Einen Augenblick später bewegte er sich wieder normal und hatte sich von allen magischen Banden, die über ihn geworfen worden waren, befreit. Die Tür zu seinem Zimmer war geschlossen, wie er sie verlassen hatte, und alles sah aus, wie es sein sollte. Trotzdem stürmte Cadderly einfach hinein. Drinnen lag Danica keuchend neben dem Bett ausgestreckt und in einen Haufen Decken verstrickt. Cadderly wusste, dass sie lebte und nicht schlimm verletzt war, als er sie in den Armen hielt. Der junge Priester sah sich im Zimmer um. Jetzt erklangen die Töne des Liedes nur noch leise, und alles wirkte ruhig, aber noch immer fragte er sich, ob jemand in seiner Abwesenheit hier gewesen war. »Cadderly«, hauchte Danica, die plötzlich aufwachte. Sie sah sich einen Moment verwirrt um, zog die Decken hoch und schlang die Arme um sich – was Cadderly seltsam vorkam. »Ein furchtbarer Traum«, versuchte Danica zu erklären. Cadderly küsste sie liebevoll auf die Stirn und versicherte ihr, dass alles gut war. Er legte sein Kinn auf Danicas Kopf und wiegte sie in den Armen, während sein eigenes Lächeln mit wachsender Sicherheit breiter wurde. Danica war nichts geschehen. Es war nur ein Traum gewesen.
Ein guter Tag zum Sterben Als die Nacht sich dem Morgen näherte, schlief die Hälfte der Gäste in den acht Einzelzimmern der »Drachenbörse« tief und fest. Bogo Rath war einfach zu aufgeregt, um an Schlaf zu denken. Da er wusste, was kommen würde und dass er im Vorfeld zu dem tatsächlichen Mord eine Rolle gespielt hatte, dachte der junge Zauberer an jenem Morgen ununterbrochen daran, was schiefgehen konnte. Würde Kierkan Rufo loyal bleiben? Und selbst wenn der Priester es bliebe – würde der seltsame, ungeschickte Mann dazu fähig sein, die Aufgabe auszuführen, die Bogo ihm gestellt hatte? Die Lage in der »Drachenbörse« konnte sehr schnell sehr unangenehm werden, wenn sie mit einem gewissen Großmeister der Erhebenden Bibliothek nicht ordentlich und gründlich fertig wurden. Bogo kannte die gnadenlose Organisation der Nachtmasken gut genug, um zu wissen, dass Geist ihn verantwortlich machen würde, wenn Kierkan Rufo versagte. Der Zauberer tigerte in seinem kleinen Zimmer auf und ab, wobei er darauf achtete, so leise wie möglich zu sein. Wenn doch nur Geist oder ein anderer aus der Bande ihn auf dem laufenden hielte! Der junge Zauberer widerstand dem Drang, seine Tür einen Spalt aufzuziehen, denn er wusste, wenn er den vorgesehenen Ablauf zum ungeeigneten Augenblick unterbrach, konnte er leicht Cadderlys grausames Schicksal teilen. In seinem eigenen Zimmer saß Geist voller Bitterkeit und Wut am Fenster und starrte hinaus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, nachdem sein Versuch, von Danica Besitz zu ergreifen, an ihrer mentalen Disziplin gescheitert war. Er hatte in greifbarer Nähe sein wollen, wenn die Assassinenbande angriff. Nun war er sogar gezwungen gewesen, noch in der Nacht die Bande aufzusuchen und die Befehle zu ändern. Danica würde mit ihrem Liebhaber sterben
müssen. Trotz all der unerwarteten Wendungen blieb der Assassine zuversichtlich, dass Cadderly heute den Tod finden würde. Aber selbst wenn der Priester jetzt fiele, würde dies eine unschöne Hinrichtung sein, voller Komplikationen und unerwarteter Verluste. Vander hatte einen Mann getötet; fünf andere wurden noch in den Ausläufern der Schneeflockenberge vermisst. Und der junge Cadderly war immer noch sehr lebendig. Und sehr wach. In seinem Zimmer saß der Priester – schon für den nächsten Tag angekleidet – am Tisch und las im Buch der Universellen Harmonie. Im Wirtsraum hatte er in dieser Nacht einige Überraschungen erlebt, und nun suchte er nach einem Eintrag, der ihm vielleicht half, die plötzliche Schärfung seiner Sinne, besonders seines Hörvermögens, zu erklären. Danica saß im Schneidersitz vor dem Bett auf dem Boden und verharrte in stiller Meditation, damit Cadderly und auch sie selbst ganz bei sich sein konnten. Sie führte ein Leben, das auf Disziplin, Herausforderungen und Prüfungen begründet war, und obwohl es noch etwas früh war, hatte sie bereits mit ihrem täglichen Morgenritual begonnen, an ihrem inneren Selbst gearbeitet, ihre Glieder gestreckt und ihren Geist geklärt, um auf den neuen Tag vorbereitet zu sein. Danica hatte keine Antworten für ihre seltsame Erfahrung in dieser Nacht gefunden, und in Wahrheit hatte sie auch gar keine gesucht. Für sie blieb die Begegnung mit der unbekannten anderen Seele ein Traum. Da weiter nichts Dramatisches oder Gefährliches vorgefallen war, schien diese Erklärung zu genügen. »Die Sonne schaut noch nicht einmal über den Horizont!« protestierte Großmeister Avery, der seine mächtige Gestalt nur unter großer Anstrengung aus dem Bett rollen konnte. »Das war Cadderlys Wunsch«, erinnerte ihn Kierkan Rufo. »Er wollte Heimlichkeit, und ich glaube, was er vielleicht zu sagen hat, ist den Aufwand wert.«
Avery räusperte sich und atmete dann tief durch, ohne dabei seinen neugierigen Blick von seinem ungelenken Untergebenen zu lösen. Rufo gab sich noch größere Mühe, unter diesem forschenden Blick ruhig zu bleiben. Er atmete ganz gleichmäßig. So viel hing jetzt von seiner Fassade ab! Und unter der ruhigen Oberfläche brodelte es jedoch. Rufo fragte sich ehrlich, wie er an diesen dramatischen Wendepunkt geraten war. Er war von Barjin benutzt worden, als der böse Priester vor einigen Monaten in die Bibliothek eingedrungen war. Er war derjenige gewesen, der Cadderly die geheime Treppe hinuntergestoßen hatte, was fast zur Zerstörung der Bibliothek geführt hätte. Rufo hatte sich das niemals wirklich verziehen – nein, nicht verziehen, sondern vielmehr war er nie wirklich in der Lage gewesen, diese Tat vor sich selbst zu rechtfertigen. Sich zu verzeihen, würde bedeuten, dass er wegen dieser verräterischen Tat Schuldgefühle hätte, und die hatte der ungelenke Mann inzwischen nicht mehr. Mit jedem Ereignis, das auf Barjins Eindringen gefolgt war, war Cadderly mehr zu Rufos Rivalen, zu seinem Fluch geworden. Aus Shilmista war Cadderly als Held zurückgekehrt, während Rufo ganz ohne eigene Schuld (jedenfalls ohne eine, die er je eingestanden hätte, nicht einmal sich selbst) zum Sündenbock geworden war. Müde stolperte Avery herum und zog sich an. Rufo war froh, dass der Großmeister ihn nicht mehr anstarrte. »Kommst du mit?« fragte Avery. »Cadderly will mich nicht dabeihaben«, log der ungelenke Mann. »Er sagte, er wollte sich mit Euch allein im Schankraum treffen, bevor Fredegar mit seiner Arbeit anfängt.« »Vor Sonnenaufgang«, murmelte Avery voller Abscheu. Rufo starrte weiter den Rücken des behäbigen Großmeisters an. Wie hatte es soweit kommen können? Rufo hasste Avery nicht – im Gegenteil, der Großmeister hatte in den letzten zehn Jahren viel für ihn getan.
Aber das gehörte der Vergangenheit an. Shilmista hatte Rufos Lebensweg unbestreitbar verändert, aber jetzt, wenn er den verwundbaren Avery ansah, musste er doch innehalten und nachdenken, wie drastisch diese Veränderung ausgefallen war. »Also gut, dann geh’ ich mal in den Schankraum«, kündigte Avery an und ging zur Tür. Er hatte nicht einmal seinen Streitkolben in der Schlinge am Gürtel stecken, bemerkte Rufo. Und er hatte noch nicht gebetet, keine Sprüche vorbereitet. »Ich wünschte wirklich, Cadderly wäre etwas normaler«, meinte Avery voll offensichtlicher Zuneigung zu dem jungen Priester, was die Entschlossenheit des verräterischen Rufo nur noch stärkte. »Aber darin liegt ja wohl auch das Besondere an ihm.« Avery hielt inne und lächelte. Rufo wusste, dass der behäbige Mann mit persönlichen Erinnerungen an Cadderly beschäftigt war. »Wir sehen uns zum Frühstück im Wirtsraum«, wies Avery ihn an. »Vielleicht kann ich Cadderly ja überreden, mit uns zu essen.« »Mein allergrößter Wunsch«, murmelte der ungelenke Mann finster. Er ging zur Tür und sah Avery nach, der die breite Treppe zum schwach erhellten Wirtsraum hinunterstieg. Leise schloss Rufo die Tür. Sein Teil war getan. Er hatte die Dinge in Gang gesetzt, wie der junge Zauberer ihn angewiesen hatte. Averys Schicksal lag nun in seinen eigenen Händen. Rufo lehnte an der Wand und versuchte verzweifelt, sein wachsendes Schuldgefühl abzuschütteln. Er erinnerte sich daran, wie Avery ihn in letzter Zeit behandelt hatte, als man gedroht hatte, ihn aus dem Orden zu werfen. Aber Kierkan Rufo wurde so von Groll verzehrt, dass er seine Schuldgefühle leicht überwand. In der Wirtsstube des Gasthauses zwei Häuser neben der
»Drachenbörse«, wo er dicht an der Fensterbank zur Gasse hin lag, hörte Pikel im Halbschlaf einen fernen Pfiff. Die Benommenheit des Zwergs hielt nur so lange an, wie Pikel brauchte, bis ihm einfiel, was sein Bruder ihm antun würde, wenn Ivan feststellte, dass er auf Wache eingeschlafen war. Pikel streckte den Kopf aus dem Fenster in die kühle Luft vor Tagesanbruch und atmete tief durch. Ein neuer Pfiff ertönte in der Gasse auf der anderen Seite des Gebäudes vor ihm. »He?« fragte der Zwerg, dem sein Instinkt sagte, dass die Pfiffe kein Zufall waren, wahrscheinlich eher ein Zeichen. Pikel sprang auf und rannte zur Vordertür, wo er den Riegel zur Seite schob und auf die Veranda des Gasthauses trat. Er sah Gestalten aus der Gasse hinter dem nächsten Haus rennen, Gestalten, die auf die Veranda der »Drachenbörse« huschten und leise durch die offene Tür schlüpften. Pikel trat vor, um einen besseren Blick zu haben, als ihn eine Bewegung dicht neben ihm ablenkte. Ein großer Mann kam mit gezücktem Schwert auf ihn zu. Der erste Schlag prallte von der Rüstung des Zwergs ab, ohne sie zu durchdringen, hinterließ aber eine schmerzhafte Prellung. »Ooooh!« rief Pikel überrascht aus, während er eilig dorthin zurücklief, woher er gekommen war. Der Mann blieb dicht hinter ihm und schlug weiter auf ihn ein. Pikel hatte keine Waffe – er hatte seine Keule in seinem Zimmer gelassen, weil er nicht recht an Ivans Verdacht glauben mochte, dass draußen vor der Tür Gefahren lauerten. Jetzt tat dies dem grünbärtigen Zwerg herzlich leid, denn dieser Mann hackte auf ihn ein und trieb ihn Schritt für Schritt zurück. Blut lief über Pikels Arm; ein Streifschlag über die Wange hatte ebenfalls eine dünne, rote Linie hinterlassen. Die Schläge gingen gnadenlos weiter, und Pikel, der die Wirtsstube fast durchquert hatte, hatte kaum noch einen Fluchtweg.
Das Schloß war lautlos geknackt worden. Großmeister Avery mit seinen traumschweren Augenlidern bekam gar nicht mit, dass jemand die »Drachenbörse« betreten hatte, bis die Assassinen bei ihm waren. Dann waren sie an ihm vorbei und huschten leise wie Schatten die Stufen hoch. Cadderly blickte vom Buch der Universellen Harmonie auf und warf über die Schulter einen Blick auf Danica. »Was ist?« fragte die Frau, deren Meditation durch die Eindringlichkeit von Cadderlys Blick unterbrochen worden war. Cadderly legte einen Finger an die Lippen. Etwas hatte nach ihm gerufen, ein fernes Lied, eine Stimme, die Gefahr ankündigte. Er nahm seine Spindelscheiben und den Wanderstab und wollte – mit Blick auf die geschlossene Tür – aufstehen. Er hatte seinen Stuhl noch nicht einmal verlassen, als die Tür aufgestoßen wurde und dunkle Gestalten hereinstürmten. Danica saß immer noch im Schneidersitz da, als der erste Assassine mit gezücktem Schwert auf sie zustürmte. Der Mörder kam gebückt heran und sperrte nur ungläubig den Mund auf, denn Danica sprang sofort aus ihrer unbequemen Position hoch in die Luft. Dabei zog sie die Beine an, wich dem tiefen Schlag aus und kam dann auf den geduckten Mann herunter. Ihre Beine schlossen sich um seinen Hals, klammerten sich fest, dann warf sie sich kraftvoll zur Seite, knickte ab und riss den gebückten Mann mit vollem Gewicht nach unten. Der Assassine sah, wie der Raum sich drehte. Nur sein Körper hatte sich nicht gedreht. Cadderly zog seinen Wanderstab vor sich und war erstaunt, als er etwas – einen Armbrustbolzen, wie er erkannte – davon abprallen
und weit zur Seite fliegen hörte. Dann sah er gerade noch, wie zwei Männer sich auf ihn stürzten. Instinktiv ging er auf ein Knie herunter und ließ seine Spindelscheiben vorschnellen. Die erste Nachtmaske geriet dieser zweiten Waffe genau in den Weg und bekam die Adamantscheiben an den Unterarm. Cadderly erwartete, dass der Mann es ihm sofort heimzahlen würde, denn er hatte noch keine Erfahrung mit der Durchschlagkraft von Ivans Meisterstück. Erschüttert sah er, wie der Arm des Mannes unter der Wucht des Schlages abknickte – es sah aus, als wäre ihm ein zweiter Ellenbogen gewachsen. Aber verblüfftes Innehalten, während ein zweiter Feind so nahe war, war keine weise Entscheidung. Als Cadderly seinen Fehler erkannt hatte, war die Dornenkeule seines Gegners schon über ihm. Pikel schaffte es, seinem Verfolger so nahe zu bleiben, dass der Mann nicht dazu kam, seine langen Arme auszustrecken und einen ernsthaften Treffer zu landen. Dennoch sagte der Zwerg immer wieder »Ooooh!«, weil er den Schmerz der vielen rasiermesserscharfen Schnitte spürte. Pikels erster Gedanke war, zur Treppe zu laufen, doch den verwarf er sofort. Wenn er dort hochrannte, würde er auf die Höhe seines Feindes kommen und den dringend benötigten Vorteil verspielen, unter der optimalen Schlaghöhe des Mannes zu sein. Der Zwerg bog zur Seite ab, lief schneller und stolperte beinahe dabei. Der Mann blieb dicht hinter ihm. Plötzlich blieb der Mörder stehen, und Pikel erkannte, dass er es ihm nicht nachtun konnte, so dass er ungeschützt gegen einen weiten Rundumschlag dastand. »Ooooh!« schrie Pikel und warf sich verzweifelt rückwärts in die Luft. Er prallte schwer gegen die Wand, bevor er sehr weit gekommen war, und das Schwert des Assassinen zischte haarscharf unter dem Brustpanzer der guten Zwergenrüstung entlang.
Pikel hatte nicht einmal Zeit, wegen seiner neuesten Wunde aufzuschreien. Er prallte von der Wand ab und stürmte wild nach vorn. Der Assassine hielt sein Schwert ausgestreckt vor sich, so dass Pikel sich aufgespießt hätte, wenn er die scharfe Klinge nicht mit der bloßen Hand ergriffen und abgelenkt hätte. Dann stand Pikel vor dem Mann, ließ das Schwert los, schlang seine Arme um die des Angreifers und schob mit aller Kraft nach hinten. Jetzt wich der Mörder eilig zurück, und Pikel schob weiter, wurde immer schneller. Der Zwerg konnte kaum um den größeren Mann herumblinzeln. Er hielt auf die offene Tür zu, verfehlte sie jedoch und kam zwei Fuß weiter links an. Plötzlich hatte das Gasthaus eine zweite Tür. Danica traf härter auf dem Boden auf, als ihr lieb war, aber sie schaffte es, schnell genug unter ihrem Opfer hindurch zu kriechen, so dass die nächststehende Nachtmaske ihr Schwert unvermeidlich in den Rücken ihres immer noch stehenden Kameraden stieß. Danica rannte zum Fußende des Bettes, schlang einen Arm um den Pfosten und wirbelte herum, so dass sie auf der Matratze landete. Eine Nachtmaske sprang ebenfalls aufs Bett, um sich auf die scheinbar unbewaffnete Frau zu stürzen. Danica hielt sich tief und trat gerade nach vorn. Sie konnte sich zwischen den zerwühlten Decken kaum abstützen, so dass ihr Tritt nicht zu fest war, doch das konnte der Assassine auch nicht, darum reichte es so aus. Der Mann stolperte in den Deckenhaufen hinein und kippte nach vorn. Danica kam unter ihm hoch, hakte ihren Arm unter seiner Schulter hindurch und warf ihn über das Fußende des Bettes, indem sie seinen eigenen Schwung ausnutzte. Dann stand sie auf und riss dabei die Decken hoch, denn sie wusste, dass der Schwertkämpfer zu nahe war. Instinktiv hielt sie das Deckenknäuel vor sich und lächelte finster, als sie spürte, wie es die
Wucht seines Schlages abfing. Der Assassine, der mit dem unerwarteten Gewirr beschäftigt war, in dem sein Schwert steckte, bemerkte Danicas nächsten Angriff erst, als sie fest in seinen Bauch trat. Die behende Adeptin ließ sich fallen, als der Mann sich nach vorn warf, benutzte das Federn des Bettes, um sich wieder aufzurichten, und schlug dem Mann dabei ihren Unterarm ins Gesicht. Den anderen Arm hatte sie vor die Brust gezogen, ließ ihn jetzt vorschnellen und boxte dem Mann gegen den Hals, dann traf sie ihn ein zweites Mal am Schlüsselbein. Der Mann flog zur Seite, und Danica, die nun nicht mehr unmittelbar bedroht war, war wenig erfreut über das, was sie hinter ihm sah. Die junge Frau nutzte wieder die federnde Matratze, sprang hoch und zwischen den Pfosten am Fußende des Bettes hindurch. Sie hörte deutlich einen lauten Aufprall, als ein Armbrustbolzen genau hinter ihr die Wand traf. Ihr zweiter Gegner war wieder auf den Beinen und wollte erneut kämpfen, war jedoch kaum darauf vorbereitet, dass Danicas Schulterstoß ihn über den Tisch gegen die Wand warf. »Halt!« Das Wort kam irgendwo aus den Tiefen von Cadderlys Geist. Er war sich noch nicht einmal der magischen Kraft bewusst, die ihm innewohnte, bis der Mörder, der bereits mitten im Schlag war, in der Bewegung erstarrte. Die Waffe schwebte dicht über Cadderlys Kopf. Das Kommando hatte keine dauerhafte Macht, und der Assassine kam schnell wieder zu sich. Fluchend hob er die Keule zum nächsten Schlag. Immer noch rein instinktiv schlug Cadderly dem Mann seinen Wanderstab von der Seite gegen das Knie und warf die Spindelscheiben gerade nach vorn, so dass sie den zusammenbrechenden Assassinen vor die Brust trafen und ihn nach
hinten fallen ließen. »Zum Balkon!« schrie Danica, und Cadderly, der immer mehr Mörder – einige mit angelegten Armbrüsten – zur Tür hereinkommen sah, hatte nichts gegen diese Idee einzuwenden. Danica hakte ihn unter und stieß die Tür auf. Das Lied in Cadderlys Kopf hatte wieder begonnen und durchdrang irgendwie die Verwirrung und die vielen Geräusche. Er griff Danica ins Haar und riss sie gewaltsam zurück, als sie gerade aus dem Zimmer treten wollte. Völlig überrascht fiel sie nach hinten. Cadderly ließ seine Spindelscheiben über ihren nach hinten gebeugten Körper schnellen und traf einen Dolch, der von der anderen Seite her kam. Ivans Scheiben waren dem Messer eindeutig überlegen. Sie verbogen die Dolchklinge und zerschmetterten die Hand, die sie gehalten hatte. Cadderly ließ die Scheiben so schnell zurückschnellen, dass das Auffangen weh tat, dann sausten sie gleich wieder vor und trafen die verwundete Nachtmaske diesmal vor der Brust, worauf der Mann über die Brüstung kippte. Der Assassine griff im Taumeln nach vorn, langte vergeblich nach dem Geländer. Seine Hand berührte den Balkon gerade so lange, dass er sich weiter drehte und die Beine nach unten zeigten. Zwanzig Fuß tiefer landete er flach auf dem Rücken. Und er blieb sehr still liegen. Pikel schüttelte die Splitter aus Bart und Haaren. »Brüderchen!« Obwohl der Ruf voller Leidenschaft ausgestoßen wurde, klang er fern und wurde vom Krachen des splitternden Holzes und den klirrenden Fensterscheiben untermalt, weil Ivan, der die missliche Lage seines Bruders bemerkt hatte, so schnell wie möglich angerannt kam und sich kopfüber durch das Fenster über
der Eingangstür warf. Stöhnend kam er auf, zwei Fuß rechts neben Pikel und dem verblüfften Assassinen, und überschüttete sie mit einem Regen aus Glas‐ und Holzsplittern. Der Mörder, der als erster auf den Beinen war und dessen Rücken von vielen Schnitten blutete, fuhr herum, um die neue Bedrohung einzuschätzen. Er hatte sein Schwert schon fast wieder erhoben, als Pikel ihn an den Knöcheln packte und ihm die Beine nach hinten wegzog. Pikel zog weiter, um den Mann von Ivan wegzuzerren. Die Wut machte den grünbärtigen Zwerg blind. »Oooooh!« knurrte er, begann sich zu drehen und klemmte sich die Füße des Mannes fest unter die Arme. Die Nachtmaske wand sich, versuchte, den Zwerg zu erreichen, aber Pikel stand fest und bekam schnell soviel Schwung, dass der Mann ausgestreckt an ihm hing. »Oooooh!« Als der Assassine aufprallte, schaffte er es gerade noch, sein Schwert festzuhalten. »Oooooh!« Jetzt waren es nur noch die Arme des Mannes, die mit dem Boden in Berührung kamen, weil er versuchte, sich damit festzuhalten. »Oooooh!« Pikel drehte sich wie wild. Der Mann, der nur knapp an den Verandapfosten und der Wand des Gasthauses vorbeiflog, schloss sich seinem Schrei aus tiefstem Herzen an. Ivan, der sich wieder aufgerichtet hatte, sah voller Unglauben zu, der jedoch bald in Amüsiertheit umschlug. Der Zwerg legte die Keule seines Bruders weg, spuckte sich in die Hände und nahm seine riesige Doppelaxt zur Hand. Der Mörder bemerkte Ivans Vorbereitungen und versuchte einen
halbherzigen Schlag mit dem Schwert, der nicht einmal annähernd sein Ziel traf. Sein immer noch ausgestreckter Arm krachte mit dem Handgelenk gegen einen Verandapfosten, worauf das Schwert auf die Straße hinaus flog. Ivan umfasste seine Axt noch fester. Er wollte ausholen, doch der Mann war schon vorbei. »Muss früher anfangen«, mahnte sich der Zwerg und landete einen Treffer, als der Mann wieder vorbeikam. Er sah, dass das Gesicht der Nachtmaske geisterhaft bleich wurde, sah das tiefste Entsetzen darin, das der abgebrühte Zwerg je gesehen hatte. Rums! Abgelenkt von einem seltenen Anflug von Mitleid, hatte Ivan diesmal nicht genau aufgepasst und seine Axt tief in die Holzbretter gegraben. Pikel bemerkte weder seinen Bruder noch die Axt, bemerkte nicht einmal, dass das Schreien des Assassinen einem atemlosen, entsetzten Japsen gewichen war. Er hatte keine Ahnung, wie er dieses Schleudern bremsen sollte oder wie er die Welt davon abhalten sollte, sich in seinem schwindelnden Kopf zu drehen. »Oooooh!« Das Gewicht war plötzlich weg, und Pikel taumelte gegen die Wand. Er sah auf die leeren Stiefel herunter, die immer noch fest unter seinen Armen steckten. Der Assassine riss den vordersten Stützpfeiler mit, krachte gegen die Brüstung und rutschte dann an den dünnen, geschnitzten Balustradenpfeilern entlang, bis er abrupt zum Halten kam, weil seine Hüfte auf dem spitzen Ende eines abgebrochenen, dünnen Balkens feststeckte. Da lag er nun leise stöhnend halb auf der Veranda und halb auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. »Schöne Stiefel«, bemerkte Ivan, der an Pikel vorbeilief und seinem Bruder die Baumstammkeule zuwarf, die er mitgebracht
hatte. Ivan lief auf den gestürzten Mann zu, hielt dann aber inne, weil er einen Schrei hörte, als jemand in der »Drachenbörse«, zwei Türen weiter, von einem Balkon fiel – Cadderlys Balkon. Beide Zwerge atmeten erleichtert auf, als sie erkannten, dass weder Cadderly noch Danica gestürzt waren. Aber der fortgesetzte Kampflärm zwanzig Fuß über ihnen verriet ihnen, dass ihre Freunde noch nicht außer Gefahr waren. Die Tür zum Wirtshaus war wieder verschlossen und verriegelt, aber so etwas hatte die Brüder Felsenschulter noch nie aufhalten können. Es erwies sich sogar als sehr praktisch für die beiden Zwerge, dass sie hinter der aus den Angeln gerissenen Tür in den Schankraum kamen, denn sie wurden von mehreren Armbrustbolzen begrüßt, die nun alle harmlos im Holz steckenblieben. Ein Bolzen streifte Cadderlys Schulter und hinterließ eine blutige Linie auf seinem Arm. Die Nachtmasken stürzten sich von hinten auf ihn; zwei andere warteten auf dem Balkon, wo ein Schwert und eine schwere Axt matt im Licht der Morgendämmerung glänzten. Cadderly, der Danica immer noch an den Haaren festhielt, zog die junge Frau wieder hoch. Sofort wirbelte sie schwindelerregend umher, versetzte den bereits verwundeten Männern, die von hinten näherkamen, Tritte und Schläge. Sie landete mehrere harte Treffer, so dass wenigstens einer der Assassinen zurückwich. Doch der andere fasste Danica um die Taille, und sein Schwung trieb beide über den schmalen Balkon bis zum Geländer. Danica bekam eine Hand ins Gesicht ihres Angreifers. Ihre Finger suchten die verwundbaren Augen des Mannes. Eine der Nachtmasken auf dem Balkon jedoch, die die Kampferfahrenheit dieser außergewöhnlichen Frau erkannt hatte, fand eine teuflische Antwort. Ein einziger Schwinger ihrer riesigen Axt zerbrach das Geländer, das Danica und ihren Angreifer stützte.
Zusammen kippten sie über die Seite. Danica ließ sofort vom Gesicht des Mannes ab und schlug mit beiden Armen um sich, um noch einen Halt zu finden. Cadderly sah sie fallen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hilflosen Maske der Angst. Ein Armbrustbolzen traf den jungen Priester von hinten in den Oberschenkel. Er drehte sich noch um, während er auf den Boden sank. Offene Wut zeichnete sich auf seinen normalerweise ruhigen Zügen ab. Ohne auch nur nachzudenken, was er da tat, hob Cadderly eine geballte Faust in Richtung auf den Schützen und stieß das Elfenwort »Fete!« aus, Feuer, das seinen magischen Ring aktivierte. Ein Flammenstrahl schoss aus Cadderlys Hand auf den Angreifer zu und schloss den Mann in eine brennende Wolke ein. Mit einem innerlichen Entsetzensschrei beendete Cadderly das Feuer. Er fuhr wieder herum und landete mit seinem Wanderstab einen harten Schlag auf den Mann mit dem Schwert. Es war ihm wirklich gleichgültig, wie schwer er den Mann verletzt hatte; er wollte ihn nur aus dem Weg räumen, um freie Bahn auf den Mann mit der Axt zu haben, der Danica hatte abstürzen lassen. Wieder hatte seine Unerfahrenheit Cadderly zu unkluger Zielstrebigkeit verführt. Bevor er auch nur in die Nähe des Axtschwingers kam, ergriffen ihn starke Hände an den Schultern und schoben ihn zur seitlichen Brüstung. Ivan warf die schwere Tür zur Seite, denn er wollte geradewegs die Treppe hinauf stürmen. Ein grausiger Anblick auf der Seite ließ ihn jedoch einen Augenblick stutzen, und als er seinen Ansturm wieder aufnahm, hatte sich seine Wut verzehnfacht. Auch Pikel hatte auf die Treppe zuhalten wollen. »Ui, ui«, murmelte er und rannte statt dessen nach rechts, um hinter dem
Schanktisch Deckung zu suchen, denn auf und über der Treppe knieten mehrere dunkle Gestalten, die alle tödliche Armbrüste hielten. Pikel warf sich über den langen Tisch und kam in dem schmalen Gang dahinter an ein paar Bierfässchen krachend zum Stehen. Zu seiner Überraschung war der Zwerg nicht allein. Er konnte Fredegar Harriman gerade noch überzeugen, dass er kein Feind war, bevor der entsetzte Wirt ihm eine volle Flasche Branntwein über den Kopf zog. Ein Bolzen prallte von Ivans Axtklinge ab, ein zweiter traf den Zwerg am Kopf und erschreckte ihn, obwohl sein guter Helm das Ding nach oben zwischen das Hirschgeweih ablenken konnte. Vielleicht war es dieser Bolzen, der den dickköpfigen Zwerg zur Besinnung kommen ließ, denn Ivan wich klugerweise zur Seite aus, rannte um die Treppe herum und ging darunter in Deckung. Dabei prallte er mit Wucht gegen eine der Treppenstützen und hing regelrecht fest. Bis er mitbekommen hatte, dass es nur ein gewöhnlicher Holzbalken war, kein lauernder Feind, hatte er den Balken bereits in Stücke geschlagen. Ivan wurde rot und kam sich unglaublich dämlich vor. Dann aber sah er sich um, bemerkte die anderen vier Stützen – noch eine auf seiner Seite, zwei auf der gegenüberliegenden Seite und eine in der Mitte –, und ein breites, böses Grinsen zog über sein Gesicht. Danica hielt sich an der schwachen Zierleiste an Cadderlys Balkon fest, und ihre starken Hände ließen nicht los, obwohl das Gewicht der Nachtmaske, die immer noch ihren Bauch umklammert hielt, an ihr zerrte. Die Frau wand sich heftig, bekam einen Fuß hoch, den sie dem hartnäckigen Mann immer wieder ins Gesicht trat. Der Angreifer, der nur ein Dutzend Fuß über dem Boden hing, ließ lieber los und kam schwer, aber unverletzt auf dem Pflaster auf.
Danica dachte nur einen kurzen Moment daran, wieder zu Cadderly auf den Balkon zu klettern, dann brach die dünne Leiste an einem Ende vom eigentlichen Rahmen ab, so dass Danica mit viel Schwung um die Balkonecke sauste. Instinktiv holte sie aus, sprang, bevor die Leiste ganz abriss, und landete auf einem Fensterbrett an der Hausecke. Da sie noch zuviel Schwung hatte, war Danica gezwungen, weiterzuspringen, noch weiter weg von dem Kampf, doch diesmal fand sie festeren Halt für Hände und Füße an einer Regenrinne, die gleich hinter der Ecke des Hauses an der Wand verlief. Als sie schließlich wieder um die Ecke spähen konnte, war der Balkon voller schwarz‐silbern gekleideter Assassinen: In dem Gewühl konnte sie Cadderly zunächst nicht ausmachen und konnte auch nicht lange genug warten, um ihn zu suchen, denn einer der Armbrustschützen hatte sie sofort entdeckt. Zwei der Assassinen kletterten über die Brüstung, um auf dem Sims entlang zur Regenrinne zu gelangen. Danica kletterte eilig gut zehn Fuß zum Dach hinauf. Erst als sie sich hinaufzog, merkte sie, dass sie sich irgendwo schlimm das Knie verrenkt hatte, wahrscheinlich bei dem Sturz vom Balkon. »Cadderly«, murmelte sie wieder und wieder. Diese Szene erinnerte sie lebhaft daran, wie sie den jungen Priester verlassen hatte, um sich der Schlacht um Shilmista anzuschließen. Damals hatte sie darauf vertrauen müssen, dass Cadderly auf sich selber aufpassen konnte. Sie wollte über das Dach laufen, direkt über den Balkon gelangen und mitten zwischen die Feinde springen. Doch dann drehte sie sich um, denn sie hörte die Regenrinne unter dem Gewicht eines Verfolgers ächzen. »Komm schon«, murmelte Danica grimmig. Sie hatte vor, den Trottel wegzutreten, sobald er seinen Kopf über den Rand des Daches streckte. Ihr kam gar nicht der Gedanke, dass diese gut vorbereitete
Bande vielleicht gleich jemanden aufs Dach gestellt hatte. Sie hörte die Armbrust hinter sich klicken. »Ein tapferer Kampf, Lady Maupoissant«, sagte eine Baritonstimme hinter ihrem Rücken, »aber vergeblich gegen die Kunst der Nachtmasken.« Cadderlys Wanderstab flog weg, als er gegen die Brüstung prallte. Der junge Gelehrte verlor beinahe die Fassung, als er nach hinten kippte, doch es gelang ihm noch, einen Arm um das Geländer zu schlingen. Das allerdings schien vergebliche Mühe, denn die Nachtmaske schlug gnadenlos mit ihrer Keule auf diesen Arm ein, entschlossen, den jungen Mann hinunterzubefördern. Cadderlys erster Gedanke war, sich einfach fallen zu lassen – der Sturz würde ihn kaum umbringen. Allerdings wurde ihm klar, dass unten ein anderer Assassine wartete, für den er eine leichte Beute sein würde, bis er sich vom Aufprall erholt hätte. Nichts davon schien noch eine Rolle zu spielen, als die zweite Nachtmaske, der Mann mit der Axt; sich der ersten an der Brüstung über ihm beigesellte. »Adieu, junger Priester«, sagte der Mann böse und hob seine grausame Waffe, um Cadderly den Kopf zu spalten. Cadderly wollte einen magischen Befehl sprechen, doch er bekam nur ein Stöhnen heraus, als die Keule wieder seine bereits verwundete Schulter traf. Der junge Priester schaute sich verzweifelt um. Ihm blieb nur noch ein winziger Moment. Er sah einen sehr schmalen Sims um das Gebäude ein paar Fuß weiter hinten, und aus irgendeinem unbegreiflichen Grund kam ihm Percival in den Sinn, das weiße Eichhörnchen. Es war ein Bild, wie Percival leicht und glücklich über Simse hüpfte, zumindest über den schmalen oben an der Erhebenden Bibliothek.
Kein Mensch hätte aus dieser verrenkten Lage den Sprung zu diesem Sims geschafft. Aber irgendwie war er plötzlich dort und klammerte sich nicht einmal verzweifelt an. Hand um Hand, Fuß um Fuß, rannte der junge Priester auf dem Sims entlang. »Holt ihn euch!« hörte er einen der frustrierten und erstaunten Assassinen von hinten schreien, dann rief der andere nach einer Armbrust. Cadderly hatte bald die Hausecke erreicht. Hier war die Gasse nur acht Fuß breit, aber an dem Gebäude gegenüber konnte er nur mehrere Fuß über seinem gegenwärtigen Standpunkt Halt finden. Bis er im immer noch düsteren Morgenlicht diese Tatsache bemerkte, war es jedoch zu spät für ihn, seinen Kurs zu ändern. Er sprang ab und flog unmöglich hoch, unmöglich weit. Kaum langsamer geworden, sah er sich mit Leichtigkeit an der Seite des anderen Gebäudes hochklettern und über die Dachkante verschwinden, noch ehe die Schützen unten auf dem Balkon auch nur den ersten Schuss lösen konnten. Als Pikel über den Tisch blinzelte, sah er, wie einer der Assassinen sich gerade auf ihn stürzte. Die anderen beiden lehnten sich über die jenseitige Treppenkante und versuchten, auf Ivan zu schießen. Der grünbärtige Zwerg sprang hoch, die Keule in der Hand und angriffsbereit. »Hier«, erscholl Fredegars Ruf hinter ihm. Pikel sah sich um. Die Branntweinflasche, die jetzt mit einem brennenden Lumpen zugestopft war, sauste auf ihn zu. »Ei, ei!« schrie Pikel, der viel zu überrascht war, um sie aufzufangen, wie Fredegar es eigentlich beabsichtigt hatte. Er löste jedoch schnell genug eine Hand von seiner Keule, um die Flasche nach oben abzulenken, fuhr sofort herum und zerschlug das nun langsame Geschoss mit seiner Keule. Es gab einen kleinen Feuerball,
der den angreifenden Assassinen mit Glasscherben und brennender Flüssigkeit empfing. »Ei, ei!« quietschte Pikel wieder, diesmal glücklich, als der Mann auf den Boden fiel und sich verzweifelt herumrollte, um die hartnäckigen Flammen an seinen Kleidern zu löschen. Der Zwerg hüpfte auf den Schanktisch, ließ sich dann aber wieder zurückfallen, weil die Schützen auf der Treppe ihn bemerkt hatten. Der einzige Fehler des schlauen Ivan war, dass er den Mittelpfeiler bis zuletzt aufgehoben hatte. Erst als er ihn mit einem einzigen mächtigen Axthieb wegschlug, wurde ihm klar, dass er genau unter der schweren Treppe stand. Die Treppe mit den zwei überraschten Nachtmasken darauf stürzte ein. Erst einer der Assassinen war wieder auf den Beinen, als es Ivan schließlich gelang, aus dem Stapel geborstener Bretter aufzutauchen. Brüllend kam der Zwerg hoch und versuchte, mit der Axt zuzuschlagen, deren Kopf jedoch leider in einem Balken feststeckte. Der Assassine, der mitgenommen, aber unverletzt war, grinste ihn an und zog sein Kurzschwert. Ivan zerrte gewaltig, riss die Axt frei und schlug so schnell zu, dass weder Zwerg noch Assassine die Bewegung auch nur mitbekamen, bis die Klinge den Angreifer getroffen und ihm sauber mitten durch den Bauch gesaust war. »Hat bestimmt weh getan«, murmelte Ivan mit hilflosem, beinahe beschämtem Schulterzucken. Wieder sprang Pikel auf den Schanktisch, und wieder überlegte er es sich anders, als er sah, wie zwei dunkle Gestalten aus Cadderlys Zimmer oben auf den Gang gerannt kamen, direkt zum Absatz der abgeschlagenen Treppe. Der frustrierte Zwerg stöhnte laut. Auch diese beiden trugen die
verfluchten Armbrüste. Dann erkannte er, dass nicht er das Ziel war. Es war Ivan, der nichtsahnend genau unter dem Absatz stand.
Schlagabtausch Nachtmasken. Das Wort traf Danica so sicher ins Herz, wie es der Armbrustbolzen tun konnte, der auf sie zielte. Nachtmasken. Die Bande, die ihre Eltern getötet hatte. Die verfluchten Assassinen aus Westtor, der Stadt, in der Danica aufgewachsen war. Die Fragen, die sich im Kopf der jungen Frau überschlugen (waren sie ihretwegen gekommen, arbeiteten sie für denselben Feind, der Barjin und die Armee in Shilmista geschickt hatte?), waren nichts gegen die bittere, rasende Wut, die in der jungen Frau aufstieg. Langsam drehe sie sich zu ihrem Gegner um und starrte ihm fest in die Augen. Er bot einen seltsamen Anblick, denn er blutete an vielen Stellen, war zur Seite gebeugt und bekam nur mühevoll Luft, weil die Hälfte seines Gesichts grotesk blau angeschwollen war. Holzsplitter staken aus seinen Haaren, im Gesicht und in den Armen. Und aus irgendeinem Grunde war der Mann barfuss. »Ihr braucht Euch gar nicht zu ergeben«, sagte der Assassine schleppend und bewegte seine Waffe. »Nicht, nachdem die Zwerge…« Er schüttelte die beängstigende Erinnerung an den Kampf im anderen Gasthaus ab, wobei eine Reihe Splitter auf das Dach fiel. »Das werde ich auch nicht«, versicherte Danica, die diese Worte kaum durch ihre gefletschten Zähne brachte. Mit einem Knurren warf sie sich auf das Dach und rollte los. Sie spürte, dass etwas sie in der Seite traf, aber sie war viel zu aufgebracht, um zu merken, wie schwer die Wunde war, oder auch nur den Schmerz zu fühlen. Sie kam dicht neben der Stelle hoch, wo der Mann gestanden hatte, um festzustellen, dass er die Flucht ergriffen hatte.
Nach wenigen Sätzen war Danica bei ihm. Er fuhr zu ihr herum. Sie warf sich auf ihn und griff fest zu. Ihr Knie zuckte wiederholt hoch und traf ihn jedesmal in die Lenden. Sie schlug ihn immer wieder, packte Haare und Ohren und riss seinen Kopf von ihr weg, dann wieder nach vorn gegen ihre Stirn, wobei sie dem Mann die Nase brach und mehrere Zähne ausschlug. Noch ein dutzendmal traf sie ihn mit dem Knie. Ihre Finger zerkratzten dem zerschundenen Mann das Gesicht, einen Finger stach sie ihm mitten ins Auge. Nachtmasken! Danica sprang von dem verlorenen Mann zurück, beschrieb einen kreisförmigen Tritt, der seinen Kopf heftig zur Seite schnappen ließ, und zwang ihn zu einer Reihe stolpernder Schritte. Irgendwie wollte er nicht umfallen, obwohl er sich seiner Umgebung kaum noch bewusst war. Danica sprang hinter ihm hoch, streckte sich in der Luft flach aus, stemmte beide Füße gegen den Rücken des Mannes und trat ihn über den Rand des Daches. Sie selbst kam wieder auf die Beine, um festzustellen, dass zwei weitere Männer an der Regenrinne auf das Dach geklettert waren, doch noch keiner von ihnen hatte den Mut zusammengebracht, die tobende Frau anzugreifen. Zu viele Gefühle bestürmten die erschöpfte, verwundete Kämpferin. Das Auftreten dieser Assassinenbande ließ in ihr Hunderte ferner Erinnerungen aufsteigen. Auch jüngere Erinnerungen wie den seltsamen Traum der vergangenen Nacht, in dem sie einen Augenblick lang das Bewusstsein ihres mentalen Angreifers betreten hatte. Was war aus Cadderly geworden? Danicas Angst hatte sich vervielfacht, nachdem sie wusste, wer die Mörder waren. Wollten ihr die Nachtmasken zum zweiten Mal alles nehmen, was sie liebte?
Mit Tränen in den Augen und Schmerzen in den Gliedern und in der Seite lief sie davon und sprang über die schiefen Dächer, die krummen Winkel, die schmalen Gassen. Die zwei Mörder verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Ivan sah nach unten, dicht neben sich, zu dem sauberen Loch, das der Armbrustbolzen in den Holzstapel gebohrt hatte. Langsam hob der Zwerg den Blick zu den Männern zehn Fuß über ihm, von denen einer über dem abgebrochenen Treppenabsatz lehnte und grimmig lächelnd mit angelegter Armbrust auf ihn zielte. Schiere Verzweiflung ließ die geistigen Fähigkeiten von Pikel Felsenschulter zu ganz neuen Höhen auflaufen. Ivan – sein Brüderchen! – würde sterben! Pikels Augen schossen nach allen Seiten und sahen seine schreckliche Umgebung wie surrealistisch. Schanktisch… toter Mann (Gedärme, igitt)… strampelnde Männer… Ivan… Treppenabsatz… Schützen… Kronleuchter… Kronleuchter? Kronleuchter über dem gebeugten Mann. Man musste das Ding herunterlassen, um die Kerzen anzuzünden, stellte Pikel fest. Der Zwerg warf den Kopf herum und blieb mit dem Blick an der Winde hängen, die sehr praktisch an der Rückseite des Schanktischs befestigt war. Der Assassine über Ivan wartete noch ab, um dem hilflosen Zwerg zum Abschied zuzuwinken. Pikel hätte einfach den Riegel aus der Winde ziehen können, damit das Seil abrollte, aber jetzt war nicht die Zeit für technische Feinheiten. Mit einem »Zack!«, um den Schützen noch einen Augenblick abzulenken, sprang der grünbärtige Zwerg vom Schanktisch zu den Borden an der Wand und schmiss scharenweise Krüge und Flaschen um, als die Borde unter seinem Gewicht abbrachen. »Oooooh!« heulte er, als er mit seiner Keule gegen die Winde
schlug. Die ganze Konstruktion brach aus der Wand, hing aber störrisch an einem einzigen Nagel fest. Pikel, der neben Fredegar kniete, guckte, als hätte der Nagel ihn betrogen, doch dann gab auch dieser mit einem lauten »Plopp« nach, und alles zusammen schoss in die Luft. »Was?« fragte der verwirrte Schütze. Sein Kumpan hinter ihm schnappte nach Luft. Der Kronleuchter erwischte den Schützen an der Schulter und warf ihn über den Treppenabsatz. Er knallte neben Ivan in den Holzstapel, wozu der Zwerg wie vom Donner gerührt einfach nickte. Als ob die Götter beschlossen hätten, einen makabren Witz zu machen, hörte Ivan einen Augenblick später das entscheidende Klicken, als die Armbrust des Gestürzten, die zwischen dem Mann und der zerbrochenen Treppe eingeklemmt war, losging. »Hihihi«, kicherte Pikel, der wieder stand, damit er das Schauspiel beobachten konnte. Er vergaß, dass die Winde über ihm sich rasch abwickelte und herunterfiel, und war wieder auf den Knien, nachdem sie von seinem Schädel abgeprallt war. »Oooh.« »Seil halten!« hörte er Ivan rufen. Pikel schüttelte seine Benommenheit ab, während er das Seil um seine Arme wickelte. Ivan nahm den Axtgriff zwischen die Zähne (was nicht einfach war!) und kletterte nach oben. Er bemerkte, dass der letzte Assassine in dem Haufen hinter ihm sich aufrichtete, darum sprang er auf das erhobene Ende einer Planke, die zwischen ihm und dem Mann lag. Ivans Ende klappte nach unten, das Ende unter dem krabbelnden Assassinen flog nach oben und traf den Mann unterm Kinn. Er stöhnte, fasste an seinen zerschmetterten Kiefer und rollte weg. Als das erledigt war, sprang Ivan wieder hoch. Starke Arme zogen das Seil hoch, bis er auf gleicher Höhe mit dem anderen Schützen
war. Drüben sah er Pikel ähnlich hochklettern. Ivan drehte sich um, so dass er den anderen Mann sehen konnte. Es war kein erfreulicher Anblick. Zum zweiten Mal in den letzten Minuten starrte Ivan Felsenschulter in das falsche Ende einer angelegten Armbrust. Pikel hatte es auf den Absatz geschafft und ließ das Seil los. Erst da erkannte er, dass er es unten nicht festgemacht hatte… Ivan fiel wie ein Stein. Der Bolzen flog harmlos über ihn hinweg. Und der zähe Assassine im Erdgeschoss, dessen Kiefer grotesk zerschmettert war, sah ein, wie dumm es gewesen war, unter dem kletternden Zwerg ans Seil zu treten. Als er auf dem Mann saß, auf den Brettern der zerbrochenen Treppe, fand Ivan vielleicht zum ersten Mal, dass es gar nicht so übel war, einen zerstreuten Bruder zu haben. Immer noch auf allen vieren hetzte der junge Priester schnell und sicheren Fußes am Rand des Nachbarhauses entlang. Seine Spindelscheiben hingen am Ende ihrer Schnur und knallten gegen die Hauswand. Cadderly nahm sie kaum wahr und hatte sowieso keine Zeit, innezuhalten und sie wegzustecken. Dem jungen Priester fiel auch nicht auf, dass der Schmerz in seinem verwundeten Bein verschwunden war. Er entdeckte Danica, die geschwächt und hinkend vor ihm lief, dann sah er die beiden schwarzgekleideten Verfolger, die der stolpernden Frau mit jedem Satz näher kamen. Cadderly kletterte an der anderen Seite des Gebäudes hoch, wo die Gasse rechtwinklig auf eine breite Straße mit Handwerkerläden mündete, den sogenannten Marktplatz. Zwei Händler, die sich im Morgengrauen für den kommenden Tag rüsteten, entdeckten den jungen Priester, starrten ihn an, dann zeigten sie nach oben und riefen etwas, das Cadderly gar nicht erst verstehen wollte. Zu aufgebracht, um auf seine Bewegungen zu achten, huschte er
kopfüber über die Hauskante, arbeitete sich Hand um Hand hinunter. Eine Fahne war als Wappen eines Geschäfts an dicken Seilen über die Gasse gespannt. Hand um Hand, Fuß um Fuß, rannte Cadderly über das straffe Seil. Er hörte einen ungläubigen Ruf unten auf der Straße, ohne auch nur zu registrieren, dass er gemeint war. Als er wieder auf dem verwinkelten Dach der »Drachenbörse« ankam, hetzte der junge Priester los, einzig und allein Danica im Sinn. Einen Augenblick später sah er sie – sie war über eine schmale Gasse auf das Nachbarhaus gesprungen – kopfüber über den First einer Dachgaube taumeln. Die beiden Männer sprangen sogleich hinterher. »Nein!« wollte der junge Priester ausrufen, aber es kam nur ein unverständlicher Schrei heraus. Ohne langsamer zu werden, die Augen stur geradeaus gerichtet, flog Cadderly über den kleinen Abgrund der Gasse. Einer der schwarzgekleideten Mörder flüchtete eilig aus dem Bereich, wo Danica abgetaucht war. Cadderly befürchtete, er käme zu spät. Der letzte Assassine lief in Cadderlys Zimmer und wehrte den Rauch und den Gestank nach verbranntem Fleisch ab, der in der Tür hing. Pikel griff wieder nach dem Seil, und Ivan begann zu klettern. Es half ihm, dass sein Bruder zu Cadderlys Tür hin zog. Pikel lief weiter, sehr erleichtert, als er sah, dass sein Bruder den Treppenabsatz fast erreicht hatte. Aber dann kamen vier Gestalten aus Cadderlys Zimmer. Instinktiv ließ Pikel das Seil los. Ivans Aufschrei und der dumpfe Aufprall, als er wieder auf dem Assassinen am Ende des Seils landete, ließen Pikel zusammenzucken. Doch man konnte nicht lange nachdenken, wenn vier Mordgesellen nur wenige Schritte entfernt standen.
Die Nachtmasken jedoch waren nicht länger auf Kampf aus. Da die Treppe verschwunden war, suchten sie einen anderen Fluchtweg. Einer griff nach dem Seil, und ohne überhaupt zu prüfen, ob es gesichert war, sprang er über die Treppe. Die anderen rannten in die andere Richtung den Gang entlang und kletterten dort über die Brüstung, wo sie auf Tische herunterspringen konnten. Pikel wollte sie zuerst verfolgen, doch er hielt inne, als er eine Tür quietschen hörte. Dann sang jemand. Das nächste, was der grünbärtige Zwerg wahrnahm, war, dass er mehrere Fuß weiter entfernt lag, einen scharfen, brennenden Schmerz in der Seite spürte und seine aufgeladenen Haare pausenlos knisterten. Brüderchen. Das Wort schallte wieder und wieder durch Pikels Kopf, eine Litanei gegen den wirbelnden Schwindel, eine Erinnerung, dass er hier nicht hilflos auf dem Boden liegenbleiben konnte. Ivan hörte den Mann schwer neben sich aufkommen und fühlte, wie der andere unter ihm sich langsam bewegte. Der Zwerg schlug ein Auge auf, nur um zu sehen, dass der Assassine mit dem Schwert in der Hand über ihm stand. Der Stoß kam, bevor er reagieren konnte, und Ivan glaubte, er wäre tot, doch der Assassine hatte zu tief gestochen und seinen Kollegen getroffen. Ivan fragte nicht nach, wie er zu diesem Glück gekommen war. Er richtete sich mühsam auf und suchte nach seiner Axt oder nach etwas anderem, das er zu seiner Verteidigung verwenden konnte. Zu spät. Der Assassine riss das Schwert wieder hoch. »Brüderchen!« schrie Pikel, der sich über den Treppenabsatz warf. Der Assassine wich aus, rollte beiseite, kam auf die Beine und rannte zur Tür, hinter seinen Kumpanen her. Pikel traf Ivan mit voller Wucht. Ivan stöhnte, während er geduldig wartete (er hatte keine Wahl), bis Pikel von ihm heruntergekrabbelt war. »Wenn du Dank
erwartest, kannst du lange warten«, grollte er. Cadderly kam zu spät zum Schauplatz des Gefechts – zu spät für den anderen Assassinen. Der junge Priester entspannte sich, sobald er den First des steilen Daches hinter sich hatte. Danica war unter ihm, in einem Tal zwischen zahlreichen Giebeln. Dort war auch der letzte Assassine, der vor Danica kniete. Seine Arme hingen schlaff an den Seiten herab, sein Kopf baumelte von einer Seite auf die andere, Blut spritzte in alle Richtungen, während Danica ihm immer wieder ins Gesicht schlug. »Er ist tot«, bemerkte Cadderly, als er seine Freundin erreichte. Danica schlug schluchzend noch einmal zu, so dass die zerschmetterten Überreste der Gesichtsknochen ihres Gegners unter dem Hieb knackten. »Er ist tot!« sagte Cadderly mit mehr Nachdruck, aber immer noch ruhig und ohne Anklage. Danica fuhr herum, ihr Gesicht in einer Mischung aus Leid und Wut verzerrt. Sie fiel ihm in die Arme. Cadderly starrte sie neugierig an, als er seine Arme um sie schlang, aber Danica wich zurück und starrte den jungen Priester ungläubig an. »Was ist das?« stammelte sie, während sie noch weiter zurückwich, doch Cadderly, der die Verwandlung jetzt zum erstenmal bemerkte, hatte keine Antwort für sie. Seine Arme und Beine waren von weichem Pelz bedeckt. Es waren die eines Eichhörnchens.
Mentor »Mach das weg«, bettelte Danica, in deren Stimme ein Anflug von Panik lag. Ihre Hände zitterten. Cadderly starrte hilflos auf seine Eichhörnchenglieder, ohne die leiseste Idee zu haben, wie er die Verwandlung rückgängig machen sollte. »Ich kann nicht«, gestand er. Hilflos sah er sie an, die grauen Augen vor ungläubigem Schrecken weit aufgerissen. »Ich kann nicht.« Störrisch stand Danica wieder auf, streckte jedoch eine Hand abwehrend aus, um ihren besorgten Geliebten fernzuhalten. »Das muss behandelt werden«, drängte Cadderly. »Mit Eichhörnchenarmen?« Danicas Vorwurf traf den jungen Priester tiefer, als sie beabsichtigt hatte. »Verwandele dich wieder in einen richtigen Menschen, Cadderly. Bitte!« Cadderly starrte seine Gliedmaßen lange durchdringend an, denn er fühlte sich getäuscht, als hätte sein Gott oder die Magie ihn in die Irre geführt. Danica stand vor ihm, brauchte ihn, und er hatte die Pfoten eines Nagetiers und konnte nichts für sie tun. Der junge Priester suchte in seinem Gedächtnis, blätterte eilig Seite für Seite im Buch der Universellen Harmonie durch. Nichts gab ihm einen offenen Hinweis darauf, was er getan hatte, wie er diese wundersame und verfluchte Verwandlung über sich gebracht hatte. Doch während Cadderly keine direkten Antworten fand, begann wieder jene ferne Harmonie, jenes süße, inspirierende Lied, bei dem alle Geheimnisse des Seins an ihm vorübertrieben, um ergriffen und entziffert zu werden. Das Lied spielte dem jungen Priester ein einziges Wort vor, den Namen der einen Person, die ihm helfen konnte, einen Sinn in alldem zu finden.
»Pertelope?« fragte Cadderly verständnislos. Danica, die immer noch ihr Gesicht verzog, starrte ihn an. »Pertelope«, sagte er wieder, fester. Er sah Danica an. Sein Atem ging in schnellen Zügen. »Sie weiß es.« »Sie weiß was?« fragte die junge Frau, der jedes Wort weh tat. »Sie weiß es«, war alles, was Cadderly zur Antwort geben konnte, denn in Wahrheit wusste er nicht wirklich, welche Informationen die Großmeisterin für ihn haben könnte. Er spürte nur, dass das Lied ihn nicht belog, dass es ihn nicht in die Irre führte. »Ich muss zu ihr.« »Sie ist in der Bibliothek«, wandte Danica ein. »Du brauchst drei …« Cadderly gebot ihr mit ausgestreckter Handfläche Einhalt. Er verschloss seinen Geist vor den Reizen um sich herum und konzentrierte sich wieder auf das Lied, fühlte, wie es die Meilen überwand, wie es ihn lockte einzutreten. Cadderly überließ sich dem Lied, ließ sich mitreißen. Die Welt veränderte sich wie im Traum, surreal, unwirklich. Er sah die Tore von Carradoon und die Weststraße, die in, die Berge führte. Bergpässe taten sich vor seinem Bewusstsein auf; dann sah er die Bibliothek rasch näher rücken, erreichte die efeubewachsenen Mauern und schritt mitten durch sie hindurch… in Pertelopes Zimmer. Cadderly erkannte den Wandbehang an der Rückseite, der Bettseite, denn den hatte er einmal gestohlen, damit Ivan ihn benutzen konnte, um die Drow‐Armbrust nachzubauen. »Ich habe schon darauf gewartet, dass du zu mir kommst«, hörte er Pertelope sagen. Das Bild des Zimmers veränderte sich. Die Großmeisterin saß auf der Bettkante und war wie immer in ihr langärmeliges, hochgeschlossenes, schwarzes Kleid gewandet. Sie riss die Augen auf, als sie ihn ansah, und Cadderly verstand, dass sie ihn mit seinen Nagetierbeinen sah, obwohl er seine körperliche Hülle
weit hinter sich gelassen hatte. »Hilf mir«, flehte er. Pertelope schenkte ihm ein warmes, tröstendes Lächeln. »Du hast Affinität gefunden«, erklärte die Großmeisterin, »eine machtvolle Übung und nicht ohne Gefahren.« Cadderly hatte keine Ahnung, wovon Pertelope sprach. Affinität? Er hatte noch nie gehört; dass dieses Wort in dieser Weise gebraucht wurde. »Das Lied spielt für dich«, bemerkte Pertelope, »oft ohne dein Zutun.« Cadderlys Gesicht verriet seine Verwirrung. »Ich wusste, dass es so kommen würde«, fuhr Pertelope fort. »Als ich dir das Buch der Universellen Harmonie gab, wusste ich, dass es beginnen würde, in deinem Geist zu spielen, und ich wusste, dass du bald soweit sein würdest, die Mysterien zu begreifen, die in seinen Tönen verborgen liegen.« »Das bin ich nicht«, protestierte Cadderly. »Ich meine, um mich herum passiert alles mögliche, und mir auch«, er sah hilflos an seinen Armen herunter, durchscheinenden Abbildern seiner körperlichen Gestalt, »aber ganz ohne mein Zutun, ohne meine Kontrolle.« »O nein, das stimmt nicht«, erwiderte Pertelope, die ihn von seinen verwandelten Gliedmaßen ablenkte. »Das Buch leitet die magische Energie, die von Deneirs Kraft zur Verfügung gestellt wird. Du rufst und lenkst diese Energie. Sie kommt, wenn du rufst, und unterwirft sich deinem Willen.« Cadderly sah hilflos und zweifelnd seinen verformten Körper an. Er wusste, dass Pertelope sein Problem sehen konnte, und fragte sich, ob es auch Danica, weit fort über den Dächern von Carradoon, so ging. Diese Eichhörnchenbeine widersprachen doch allem, was die Großmeisterin sagte, denn wenn Cadderly die Magie kontrollieren konnte, wie Pertelope behauptete, warum war er dann immer noch
ein halbes Tier? »Du hast noch nicht die vollkommene Kontrolle erlernt«, sagte die Großmeisterin zu ihm, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, »aber du bist schließlich immer noch ein Novize, ungeübt und bis an die Fingerspitzen voll mächtiger Energien.« »Energien von Deneir?« fragte Cadderly. »Natürlich«, antwortete Pertelope ruhig, als könnte nichts, was Cadderly sagte, sie schockieren. »Warum sollte Deneir mir solche Kräfte schenken?« fragte der junge Priester. »Was habe ich getan, um ein solches Geschenk zu verdienen?« Pertelope lachte ihn an. »Du bist sein Jünger.« »Das bin ich nicht!« sagte Cadderly. Sein Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an, als er merkte, dass er dies gerade einer Großmeisterin seines Ordens gestanden hatte. Wieder lachte Pertelope nur. »O doch, Cadderly«, sagte sie. »Du bist ein wahrer Jünger unseres Gottes und auch Oghmas, seines Bruders. Miss den Glauben nicht an Ritualen und der Beachtung von Pflichten. Miss ihn daran, was dir am Herzen liegt, was deine Moral und deine Liebe von dir verlangen. Du bist Gelehrter von Grund auf, von ganzem Herzen, mit deinem forschenden Geist. Ein gesegneter Gelehrter. Das ist das Maß des Glaubens an Deneir.« »Nicht in Averys Augen«, wandte Cadderly ein. »Wie oft hat er mir gedroht, mich ganz aus dem Orden zu werfen, weil ich die Rituale zu wenig beachtete, die du so leicht abtust!« »Er kann dich aus gar keinem Orden werfen«, gab Pertelope zurück. »Aus einer religiösen Berufung kann man nicht ›rausgeworfen‹ werden.« »Religiöse Berufung?« antwortete Cadderly. »Wenn man es so nennen muss, dann fürchte ich, ich bin noch nie Mitglied des Ordens gewesen. Ich bin nicht berufen.«
»Das ist absurd«, erwiderte Pertelope. »Ich habe nie jemanden kennengelernt, der so auf die Forderungen von Deneir eingestimmt wäre wie du. Das, mein junger Priester, ist es, was eine religiöse Berufung ausmacht! Zweifelst du an den Kräften, die du entfesselt hast?« »Nicht an den Kräften«, gab Cadderly mit seiner üblichen Sturheit zurück, »nur an ihrer Quelle.« »Das ist Deneir.« »Das sagst du«, antwortete Cadderly, »und es steht dir frei, dies zu glauben.« »Du wirst auch noch so weit kommen. Du bist ein Priester des Deneir; folgst einem Gott, der Unabhängigkeit, die Benutzung des freien Willens und geistige Arbeit fordert«, fuhr Pertelope fort, als ob sie Cadderlys Gedanken gelesen hätte. Er begann, sich zu fragen, ob Pertelope diese Szene vor vielen Jahren wohl selbst erlebt hatte. »Es wird von dir erwartet, dass du fragst – alles hinterfragst, selbst die Existenz der Götter und den Sinn des Lebens«, fuhr Pertelope fort, deren Haselaugen einen abwesenden, mystischen Blick annahmen. »Wenn du blind von Ritual zu Ritual laufen würdest, wärst du nicht besser als das Vieh und die Schafe auf den Feldern um Carradoon. Deneir will das nicht«, erklärte Pertelope ruhig und tröstend. Sie sah den verängstigten jungen Priester direkt an. »Er ist ein Gott der Künstler und Poeten, alles Freidenker, denn sonst wären ihre Werke nichts als Abklatsch von dem, was andere für ideal halten. Die Frage, Cadderly, ist stärker als die Antwort. Durch sie beginnt Wachstum – Wachstum zu Deneir.« Irgendwo tief drinnen betete Cadderly, dass Pertelope die Wahrheit sagte, dass die offensichtliche Weisheit ihrer Worte nicht nur die matte Hoffnung einer Frau war, die ebenso verwirrt und verzweifelt war wie er.
»Du bist erwählt«, fuhr Pertelope fort, um die Unterhaltung auf konkretere Themen zurückzulenken. »Du hörst das Lied, und mit der Zeit wirst du immer mehr Noten entziffern können, um deinen Platz in dieser verwirrenden Erfahrung, die wir Leben nennen, besser zu verstehen.« »Ich bin ein Zauberer!« »Nein!« Jetzt wirkte die Großmeisterin zum ersten Mal in diesem Gespräch ärgerlich, und Cadderly wehrte sich klugerweise nicht sofort. »Deine magischen Gaben sind klerikaler Natur«, versicherte Pertelope. »Hast du irgend etwas getan, was über die Magie anderer Priester hinausging?« Cadderly dachte lange und angestrengt nach. In Wirklichkeit war alles, was er bisher bewirkt hatte, zumindest eine Abwandlung von Klerikersprüchen gewesen. Selbst diese Affinität unterschied sich nicht so sehr von den gestaltwandlerischen Fähigkeiten der Waldpriester, der Druiden. Aber dennoch wusste Cadderly, dass seine Kräfte anders waren. »Ich bete nicht um diese Sprüche«, wandte er ein. »Ich stehe nicht morgens auf und nehme mir vor, dass ich heute Licht machen will oder dass es nötig wird, meine Hände in Eichhörnchenpfoten zu verwandeln. Ich bete eigentlich nie zu Deneir.« »Du liest das Buch«, überlegte Pertelope. »Das ist dein Gebet. Was das Aussuchen der Sprüche und das Einprägen der speziellen Lieder und Betonungen angeht, so hast du das nicht nötig. Du hörst das Lied, Cadderly. Du bist einer der Erwählten, einer der wenigen. Ich hatte das schon jahrelang vermutet und habe erst vor wenigen Wochen begriffen, dass du meinen Platz einnehmen wirst.« »Was redest du denn da?« fragte Cadderly, dessen Entsetzen sich nur noch verstärkte, weil Pertelope beim Sprechen begonnen hatte, ihr langes Kleid aufzuknöpfen. Cadderly riss vor Staunen den Mund auf, als die Großmeisterin ihre Kleider herunterzog und einen konturlosen Körper entblößte, dessen Haut der eines Haifischs
ähnelte. Diese Haut war rau wie Sandpapier. »Ich habe meine Kindheit an der Schwertküste verbracht«, begann die Großmeisterin müde, »nahe der See. Mein Vater war Fischer, und häufig fuhr ich mit ihm hinaus, um nach den Netzen zu sehen. Siehst du, ich habe eine Zuneigung zu den Haien gefasst wie du zu den Eichhörnchen – besonders zu Percival. Ich lernte, ihre anmutigen Bewegungen zu bewundern, die Perfektion dieser oft bösartigen Tiere. Ich habe dir schon erklärt, dass Affinität eine Praktik ist, die nicht ohne Gefahren ist«, fuhr Pertelope mit leisem, ironischem Lachen fort. »Siehst du, auch ich wurde ein Opfer des Chaosfluchs. Unter seinem Einfluss habe ich meiner Affinität nachgegeben, ohne auf Sicherheit oder irgendwelche praktischen Grenzen zu achten.« Cadderly schmerzte der Gedanke, dass diese wunderbare Frau, die ihm immer eine gute Freundin gewesen war, noch immer unter dem Fluch litt, den er über die Bibliothek gebracht hatte. In Pertelopes Stimme klangen weder Ärger noch Beschuldigungen durch, als sie weitersprach. »Die Veränderung, die ich hervorgerufen habe, ist von Dauer«, sagte sie und rieb mit einer Hand über ihren Arm, wobei die raue Oberfläche ihre menschliche Handfläche mehrfach blutig einritzte. »Es ist auch schmerzhaft, denn mein ganzer Körper ist teils Mensch, teils Fisch. Allein die Luft ist Gift für mich – genau wie es das Wasser der weiten See wäre. Auf dieser Welt gibt es keinen Ort mehr für mich, mein Freund. Ich sterbe!« »Nein!« »Ja«, erwiderte Pertelope schlicht. »Ich bin nicht jung, wie du weißt, und habe mich lange mit diesem verwirrenden Weg abgemüht, den wir Leben nennen. Der Fluch tötet mich, ohne Zweifel, und ich habe mich bemüht, für diesen einen Zweck durchzuhalten, nur für diesen Tag. Du, Cadderly, bist mein Nachfolger.«
»Das nehme ich nicht an.« »Du kannst nichts dagegen tun«, antwortete die Großmeisterin. »Wenn das Lied einmal beginnt, geht es nie mehr zu Ende. Nie mehr.« Diese Worte klangen für Cadderly wie ein Donnerschlag. Plötzlich entsetzte es ihn, welche Schrecken er durch die Seiten dieses erhabenen Buches entfesselt haben mochte. »Du wirst die Grenzen deiner Macht kennenlernen«, fuhr Pertelope fort. »Und es gibt tatsächlich Grenzen.« Beunruhigt sah sie ihre versehrten Arme an. »Du bist nicht unbesiegbar. Du bist nicht allmächtig. Du bist kein Gott.« »Ich habe nie behauptet –« »Demut wird dich schützen«, unterbrach Pertelope prompt mit scharfer Stimme. »Prüfe die Energien, Cadderly, aber prüfe sie voller Respekt. Sie werden dich auslaugen und etwas von dir mit sich nehmen, wann immer du sie rufst. Erschöpfung ist dein Feind, und wisse, dass die Ausübung von Magie unweigerlich an ihrem Urheber zehrt. Aber wisse auch, dass Deneir, wenn er dich erwählt hat, von dir fordern wird.« Pertelope lächelte voller Vertrauen, Herausforderung gewachsen sein würde.
dass
Cadderly
der
Leider sah sich Cadderly nicht imstande, ihren Optimismus zu teilen. »Wolltet Ihr irgendwohin?« wisperte Geist Bogo Rath zu, als er den jungen Zauberer im oberen Gang der »Drachenbörse« mit einem Sack in der Hand sah. Der Assassine trat aus Cadderlys Zimmer und winkte Bogo, ihm in sein eigenes Zimmer zu folgen. »Die Stadtwache ist alarmiert«, erklärte der Zauberer. »Sie werden hier überall herumschnüffeln.« »Und was werden sie finden?« erwiderte Geist mit höhnischem
Lachen, weil er seine Bemerkung für ironisch hielt, nachdem er gerade Brennans Körper in Cadderlys Raum geschleppt hatte. »Jedenfalls nichts, das auf einen von uns hindeutet.« »Ich habe den grünbärtigen Zwerg mit einem Blitzstrahl getroffen«, gestand Bogo. »Er hat Euch nicht gesehen«, schimpfte Geist. »Sonst wäret Ihr nämlich tot. Er und sein Bruder sind unten bei Fredegar. Sie wären schon längst wieder hier, um nach Euch zu suchen, wenn der blöde Zwerg vermuten würde, dass diese Magie von Euch kam.« Bogo entspannte sich etwas. »Sind Cadderly und Danica entkommen?« Geist zuckte die Schultern. Außer dem Blutbad, das bei diesem gewaltsamen Angriff herausgekommen war, hatte er wenig gesehen. »Zeitweise vielleicht«, antwortete er schließlich mit aller Überzeugung, die er aufbringen konnte. »Aber die Nachtmasken haben ihre Fährte aufgenommen. Sie werden nicht ruhen, bis der junge Priester tot ist.« »Dann kann ich also nach Burg Trinitatis zurückkehren«, überlegte Bogo hoffnungsvoll. »Wenn Ihr jetzt verschwindet, werdet Ihr nur Verdacht erregen«, erwiderte Geist. »Und falls Cadderly es geschafft hat, den Assassinen zu entwischen, wird er wahrscheinlich hierher zurückkehren. Hier ist immer noch der beste Platz im Spiel für alle, die den Mut haben, bis zum Ende mitzuspielen.« Die letzten Worte klangen deutlich nach einer Drohung. »Helft der Stadtwache bei ihren Ermittlungen«, fuhr Geist fort, über dessen Gesicht plötzlich ein ironisches Lächeln glitt. Er war der Künstler, erinnerte er sich insgeheim, der schon wieder neue Intrigennetze spannte. »Sagt ihnen, dass Ihr etwas von Magie versteht und dass Ihr glaubt, im oberen Gang wäre ein Blitzschlag losgegangen. Wenn der Zwerg Eure Geschichte bestätigt, wirft das
ein gutes Licht auf Euch.« Bogo beäugte den Assassinen zweifelnd, um so mehr, als er sich daran erinnerte, dass Kierkan Rufo Informationen hatte, die Bogo sicherlich verdammen konnten. »Was ist denn?« fragte Geist, der seine wachsenden Bedenken bemerkte. »Rufo.« Geist kicherte böse. »Der kann nichts sagen, ohne sich selbst zu belasten. Und nach all Euren Beschreibungen ist er dazu viel zu feige.« »Allerdings«, gab Bogo, zu, »aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es klug wäre, im Gasthaus zu bleiben. Wir haben Cadderly und seine Freunde anscheinend unterschätzt.« »Möglich«, stimmte Geist widerstrebend zu, »aber macht den Fehler nicht noch komplizierter, indem Ihr den Priester jetzt überschätzt. Nach allem, was wir wissen, dürfte Cadderly tot in einer Gasse liegen.« Bogo zögerte, dann nickte er. »Verschwindet«, wies Geist ihn an, »zurück in Euer Zimmer oder als Helfer zu den Ermittlungen, aber kein Wort zu Rufo. Besser, wenn der feige Priester allein in seiner Suppe aus Schuld und Schrecken schmort.« Wieder nickte Bogo, dann verschwand er. Geists Zuversicht verschwand, sobald er allein war. Dieser Besuch in Carradoon war kompliziert, war kein sauberer Mord gewesen. Selbst wenn Cadderly tot war, war der Preis astronomisch hoch, denn über die Hälfte der ausgeschickten Nachtmaskenbande war umgekommen. Geist war sich in Wirklichkeit gar nicht mehr so sicher, ob es für ihn oder Bogo gut sein würde, in der »Drachenbörse« zu bleiben, aber er fürchtete die Konsequenzen des Versuchs, sich davonzuschleichen,
wenn die Stadtwache und zwei unberechenbare Zwerge herumschnüffelten. Er ging zur Tür und zog sie einen Spalt auf, weil er neugierig war, was sich draußen wohl abspielte. Sorgfältig hielt er nach Rufo Ausschau, denn wenn der verräterische Priester etwas Gefährliches tat, würde er ihn vielleicht töten müssen. Nein, es war nicht ohne Komplikationen abgelaufen, aber das war doch Teil des Spaßes, oder? Es war eine neue Herausforderung für den Künstler, eine vielfältige Landschaft auf der voller werdenden Leinwand. Geist lächelte böse. Es tröstete ihn, dass er persönlich nicht in Gefahr war – nicht, solange er den Ghearufu hatte und Vander als hilfloses Tauschobjekt außerhalb der Stadt wartete. Cadderly war erleichtert, dass Danica immer noch stand, als er auf dem Dach der »Drachenbörse« wieder in seinen Körper zurückkehrte. Das Gesicht der jungen Frau war immer noch schmerzverzerrt. Ein Armbrustbolzen steckte in ihrer rechten Seite, umgeben von einem sich ausbreitenden dunkelroten Fleck. Cadderly ging nicht sofort zu ihr. Er schloss die Augen und zwang das Lied in seine Gedanken zurück. Die Töne trieben vorbei, bis er den Teil des Liedes, die Seite im Buch erkannte, die er drüben auf dem Balkon gehört hatte, als er seine Eichhörnchengestalt angenommen hatte. Danica flüsterte ihm leise etwas zu. Es klang, als wäre sie mehr um seine Sicherheit besorgt als um ihre eigene. Mit einiger Anstrengung schob Cadderly ihre Worte weg, um sich auf die Musik zu konzentrieren. Sein Mund bewegte sich in lautlosem Gebet, und als er schließlich die Augen aufschlug, bemühte sich Danica zu lächeln, und seine Arme und Beine waren wieder normal. »Du hast deine Antworten gefunden«, bemerkte die junge Frau. »Zusammen mit neuen Fragen«, erwiderte Cadderly. Er steckte
die Spindelscheiben ein und ging zu seiner Liebsten. »Du hast geredet«, sagte Danica zu ihm, »aber nicht mit mir. Es klang fast wie ein Gespräch; die andere Hälfte –« »War Pertelope«, erklärte Cadderly. »Ich – oder jedenfalls mein Bewusstsein – war oben in der Bibliothek.« Er nahm Danicas Staunen kaum wahr, denn er war mehr an ihrer verwundeten Seite interessiert. Als er diesmal das Lied zurückrief, klang es ferner und war nur mit Mühe zu erreichen. Pertelopes Warnungen vor Erschöpfung klangen in ihm nach, aber er verdrängte seine wachsenden Ängste. Danicas Gesundheit war wichtiger. Cadderly konzentrierte sich gleichermaßen auf den Pfeil wie auf die Wunde, die dieser verursacht hatte; seine Gedanken waren sowohl auf Zerstörung wie auf Heilung aus. Er presste sein Lied durch zusammengebissene Zähne. Danica stöhnte und zuckte zusammen. Schwarzer Rauch stieg aus ihrer Wunde auf. Bald hüllte eine kleine Rauchwolke ihre Seite ein. Der Bolzen war sein Feind, war Danicas Feind, beschloss Cadderly. Arme Danica, liebe Danica. Als der Rauch sich auflöste, waren auch der Bolzen und die Wunde verschwunden. Danica richtete sich auf und machte eine hilflose Geste, denn sie wusste einfach nicht, wie sie Cadderly für seine Hilfe danken sollte. »Bist du verletzt?« fragte sie besorgt. Cadderly schüttelte den Kopf und nahm ihren Arm. »Wir müssen verschwinden«, sagte er leise, als spräche er mehr mit sich selbst als mit Danica. »Wir müssen uns irgendwo allein zusammensetzen und versuchen, die augenblicklichen Wendungen unseres Schicksals zu durchschauen.« Er legte den Kopf schief und achtete mehr auf den zunehmenden Lärm in den erwachenden Straßen um die »Drachenbörse«, besonders auf das Hufgeklapper, das aus allen Richtungen erklang.
»Die Stadtwache kommt«, erklärte Danica. »Sie werden wissen wollen, was los war.« Cadderly zog sie weiter mit sich. »Wir können nirgendwohin«, widersprach Danica, als sie sich der Rückseite des Gebäudes näherten, wo auf dem Marktplatz viele Soldaten in Sicht kamen. Cadderly hörte nicht zu. Seine Augen waren wieder geschlossen, und er war mitten in einem Lied. Danicas Augen wurden noch einmal größer, als sie merkte, wie sie leichter wurde. Irgendwie hielt Cadderly sie weiter am Arm fest, und zusammen ließen sie sich einfach vom Dach forttreiben und ritten auf den Strömungen des Windes. Bogo Rath schlüpfte etwas später aus der »Drachenbörse«. Er lief einfach schnurstracks an den Zwergen und dem trauernden Wirt im Schankraum vorbei. Nach kurzer Überlegung hatte der verängstigte junge Zauberer beschlossen, dass Geists Spekulationen es nicht wert waren, dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen, und er hatte auch beschlossen, dass es unverdächtig wirkte, wenn man nach solch einer Tragödie das Wirtshaus verließ. Das einzige, was die Stadtwache von ihm verlangte, als er durch das Loch der früheren Eingangstür trat, war, dass er in der Stadt bliebe. Bogo nickte und zeigte auf ein Gasthaus einige Häuser weiter an der Promenade, obwohl der Zauberer nicht die Absicht hatte, noch sehr lange hierzubleiben. Er würde zu dem Gasthaus gehen und ein Zimmer nehmen, aber würde nur so lange in Carradoon verweilen, bis er sich die Sprüche eingeprägt hatte, die es ihm gestatteten, schnell zu verschwinden, ohne aufgehalten zu werden.
Wasserspiegelungen Der Morgen war immer noch jung, und der Nebel über dem Wasser des Impresksees hatte sich noch nicht gehoben. Die große, dreibögige Steinbrücke, die das Festland mit Carradoons Inselteil verband, ragte geisterhaft über Cadderly und Danica auf, als sie in einem kleinen Ruderboot dahintrieben, schweigend ihren Gedanken nachhingen und dem leisen Plätschern der Wellen am Bug lauschten. Das Wetter passte zu Cadderlys schlechter Laune. Er hatte einen Menschen getötet, ihn zu einer schwarzen Kugel verbrannt, und einen anderen vom Balkon gestoßen, den er ebenfalls für tot hielt. Er hatte kaum eine Wahl gehabt, das stimmte, aber er konnte seine Schuld nicht so einfach abtun. Was auch immer der Grund war, er hatte ein menschliches Wesen getötet. Er gab sich große Mühe, nicht an die Familie oder gar die Kinder des Mannes zu denken, die auf einen Vater warteten, der nie zurückkommen würde. Auch Danica saß schweigend, tief in Gedanken versunken, im Bug des kleinen Bootes. Da ihr das Kämpfen vertrauter war als ihrem unschuldigen Begleiter, sorgte sich die junge Frau mehr darum, was dem heimtückischen Angriff vorangegangen war. Was hatte die Nachtmasken auf sie und Cadderly aufmerksam gemacht? Cadderly nahm die Riemen auf, um die Richtung zu ändern und das Boot weiter von der imposanten Brücke wegzulenken. Er ließ sie wieder ins Wasser hängen und drehte sich auf der Bank um, damit er Danica ansehen konnte. »Nachtmasken«, murmelte Danica grimmig. Das sagte Cadderly nicht viel. »Aus Westtor«, erklärte Danica. »Sie gehören zu den gefährlichsten Banden der ganzen Welt. Wir haben Glück, dass wir
ihnen entkommen sind, und jetzt glaube ich, dass ich ihnen schon zweimal entgangen bin.« Cadderlys Miene verriet, dass er immer noch nichts verstand. »Auf unserem Weg von der Bibliothek hierher«, fuhr Danica fort, »wurden die Zwerge und ich von fünf Männern überfallen.« »In diesen unruhigen Zeiten sind viele Banditen auf den Straßen«, stellte Cadderly fest. Danica schüttelte den Kopf, denn sie war sicher, dass ein Zusammenhang zwischen dem Angriff unterwegs und dem im Wirtshaus bestand. »Warum sollte eine Assassinenbande aus Westtor hinter uns her sein?« überlegte Cadderly. »Uns?« wiederholte Danica. »Nein, ich fürchte, sie sind hinter mir her. Es waren die Nachtmasken, die vor Jahren meine Eltern getötet haben. Jetzt sind sie gekommen, um ihre Arbeit zu beenden.« Cadderly glaubte kein Wort von dieser Erklärung. Er spürte, dass – falls Danicas Theorien über die Identität der Mörderbande richtig waren – hier mehr am Werk war als die Erfüllung einer zehn Jahre alten Blutrache. Cadderly überdachte seine eigenen Erfahrungen der letzten paar Tage, dachte an seine Begegnung mit Rufo im Wirtsraum und an die Gegenwart des unsichtbaren Zauberers. Und was war eigentlich in jener Nacht in seinem eigenen Zimmer geschehen? Er sah Danica forschend an. »Ich habe dich zu Tode erschrocken auf dem Boden vorgefunden. Erzähl mir von deinem Traum.« »Ich kann mich nicht an sehr viel erinnern«, gab Danica zu, deren Stimme verriet, dass sie keinen rechten Sinn in seinem Anliegen sah. Cadderly jedoch war fest entschlossen. Er dachte kurz nach, dann holte er seine Spindelscheiben mit dem Kristallkern heraus. Er hielt sie vor Danicas Augen und ließ sie sich drehen. Selbst im schwachen Licht blitzte das gespiegelte Feuer der Kristalle. »Konzentrier dich«, bat Cadderly die Frau. »Lass den Kristall in
deinen Geist ein. Schließ mich jetzt bitte nicht mit irgendwelchen Meditationstechniken aus.« »Was soll dabei rauskommen?« wehrte sich Danica. »Es war doch nur ein Traum.« »War es das?« Danica zuckte die Achseln. Es war immerhin ein Traum, der irgendwie mit den Nachtmasken zu tun gehabt hatte. Dann entspannte sie sich und konzentrierte sich auf die Spindelscheiben. Cadderly schloss die Augen und dachte an das heilige Buch. Er hörte, wie das Lied die Worte eines einfachen Hypnosezaubers spielte. Danica sank tiefer, und ihre Schultern sackten sichtlich zusammen, als Cadderly leise sang. Seine Worte wurden bohrende Fragen, die Danica nur unterbewusst hörte. Auch Cadderly ließ sich in Hypnose sinken, um sich vollständig in Danica einfühlen zu können. Die Fragen rollten aus seinem Mund, obwohl er sich ihrer kaum bewusst war. Und Danica antwortete. Die Antworten lagen in ihrer Haltung und ihrem Gesicht, ebenso wie in ihren Worten. Danica öffnete zwinkernd die Augen; Cadderly tat es ihr nach. Keiner der beiden wusste, wieviel Zeit verstrichen war, doch nun verstand Cadderly ohne jeden Zweifel, dass Danicas nächtliche Erfahrung tatsächlich ein wichtiger Hinweis war. »Es war kein Traum«, erklärte er. Cadderly erinnerte sich an das, was Danica ihm unter Hypnose mitgeteilt hatte: das Gefühl, sich von einer schwarzen Kugel zu entfernen, die nach allem Wissen des jungen Priesters ihre Identität darstellte. Das Bild erinnerte den Priester lebhaft an seine eigenen telepathischen Erfahrungen mit dem Teufelchen Druzil und der Zauberin Dorigen. Ob diese beiden hinter alledem steckten? Cadderly schob eine Hand in die Tasche, um nach dem Amulett zu tasten, das er Rufo im Wald von Shilmista abgenommen hatte, ein
Amulett, das Druzil Rufo angesteckt hatte, um den telepathischen Kontakt zwischen den beiden zu stärken. Mit diesem Gegenstand war Cadderly dazu fähig gewesen, die Nähe des Teufelchens zu spüren, und es tröstete ihn, dass es seit vielen Wochen nicht auf Druzils Gegenwart hingewiesen hatte, seit der großen Schlacht im Wald. Aber wer dann? Dorigen blieb eine gewisse Möglichkeit. »Besitz ergreifen?« murmelte er, um dadurch Bewegung in seine Gedanken zu bekommen. Da kam Cadderly ein neues Bild, das Bild von Namenlos, dem Bettler auf der Straße, und den schrecklichen, schattenhaften Gestalten, die sich auf seiner Schulter gewunden hatten. Er erinnerte sich auch an jene Nacht, als Brennan mit derselben verschlagenen Aura in sein Zimmer gekommen war. Vielleicht hatte das Lied von Deneir ihn nicht belogen; vielleicht war der Versuch bei Danica nicht der erste Versuch des Feindes, jemanden in Besitz zu nehmen. Cadderly zuckte zusammen, weil ihm einfiel, dass er den jungen Brennan seit jenem Abend nicht mehr gesehen hatte. Er versuchte, sich an Hinweise zu erinnern, während er die Riemen zur Hand nahm, um einen neuen, einzelnen Schlag gegen die Strömung zu tun. »Was ist?« fragte Danica. »Sie sind nicht deinetwegen gekommen«, antwortete der junge Priester mit Bestimmtheit und warf einen Blick über die Schulter. »Sie waren schon vor dir hier, rund um mich, in meiner Nähe.« Cadderly atmete tief aus, denn er fürchtete um Brennan und Namenlos. Dann ließ er seinen Blick über das Wasser zur grauen Silhouette der großen Brücke schweifen. »Zu nahe.« Danica wollte etwas antworten – etwas Tröstendes sicher –, dann
brach sie ab und legte neugierig den Kopf schief. Cadderly verstand, dass etwas nicht stimmte, und fürchtete, dass die junge Frau mental angegriffen wurde. Danica fuhr herum, wodurch das Boot so unerwartet ins Schaukeln geriet, dass Cadderly, obwohl er fast in der Mitte saß, fast über Bord gegangen wäre. »Hartnäckig!« schrie Danica. Sie griff gerade noch rechtzeitig nach vorn, um das Handgelenk des Mannes zu ergreifen, der versucht hatte, ihr einen Dolch in den Rücken zu stoßen. Danica hielt ihn fest, sprang auf, streckte den Arm ihres Angreifers, so weit es ging, und zog ihn weiter über den Bootsrand. Sie verrenkte den Arm ihres Gegners mit einem schnellen, gewaltsamen Ruck und legte ihre freie Hand über seine Finger, um sie rückwärts zum Handgelenk hin abzuknicken. Cadderly versuchte, Danica in dem schaukelnden Boot zu Hilfe zu kommen, aber dabei stolperte er nur über die Mittelbank und schlug sich an einem der Riemengriffe den Kopf an. Ihm wurde jedoch klar, dass sein Stolpern ein Glück für ihn gewesen war, als ein Messer über den Bootsrand sauste und über seinen Kopf hinwegflog. Cadderly reagierte instinktiv auf die Drohung, fasste den Riemen mit dem Unterarm und löste ihn aus seiner Verankerung, so dass er dicht bei dem unsichtbaren Angreifer im Wasser versank. Der junge Gelehrte schlang seine Spindelscheiben an den Finger. Das Boot schaukelte. Als er zur anderen Seite sah, kletterte dort noch ein Assassine über die Bootswand. Danica hielt in dem schaukelnden Boot leicht das Gleichgewicht. Sie setzte den Druck auf die Hand ihres Gegners fort, bis er endlich den Dolch losließ. Sie war noch nicht mit ihm fertig. Nachtmasken! Danica hakte den Fuß hinter den Kopf des Mannes und zwang
sein Kinn über die Bugkante. Während sie ihn fest aufs Holz drückte, riss Danica seinen Arm zurück über das Wasser hinaus. Sie hielt seinen Ellenbogen so, dass er den Arm nicht beugen konnte, und drückte direkt nach unten. Die Augen des Mannes wurden starr, als die Bootskante ihm die Luft abdrückte. Cadderlys wackeliger Wurf traf tiefer, als der Priester gehofft hatte, aber während er den Kopf seines Angreifers nicht erwischte, traf er immerhin ein paar Finger – und die oberste Planke des Boots. Holz splitterte, der zweite Riemen riss ab, ebenso der Assassine, der seinen getroffenen Bauch umklammerte, während er in die See kippte. Das von seinem Gewicht befreite Boot schaukelte so weit zurück, dass Cadderly befürchtete, auf die andere Seite geschleudert zu werden – wo der Messerwerfer wartete. Der junge Priester erkannte, wie verwundbar er und Danica waren. Sie brauchten eine Ablenkung, etwas, das ihnen erlauben würde, wieder zu sich zu kommen. Dann drang wirklich Wasser ein, und zwar über die geborstene Bootsseite, als es wieder zurückschaukelte, aber Cadderly achtete nicht darauf, denn er war mit dem Verwundeten beschäftigt, der im Wasser an dem treibenden Riemen herumfummelte. Die Form des Riemens erregte Cadderlys Aufmerksamkeit. Mit einem Fuß in dem schaukelnden Boot verwurzelt und dem erstickenden Mann, der sich verzweifelt gegen sie wehrte, hielt Danica erstaunlich gut Balance. Der zappelnde Assassine versuchte, über die Seite zu klettern, doch Danica riss seinen Arm mit Macht herunter und renkte ihm die Schulter aus. Der Mann konnte bei diesem starken Schmerz nicht einmal das Gesicht verziehen. Es wurde ausdruckslos und seltsam gelöst. Danica verstand. Sie nahm ihren Fuß weg, ließ den Kopf des Mannes los,
und dieser glitt unter Wasser. Jetzt kam sie wieder zur Besinnung, denn ihre unglaubliche Wut über das Auftauchen der Nachtmasken war durch diesen Tod vorläufig besänftigt. Es waren noch andere da – es mussten noch andere da sein! Sie drehte sich um und sah zu ihrem Entsetzen, wie Cadderly von einem der Mörder unter Wasser gezogen wurde. Ein zweites Boot mit mehreren Männern darin näherte sich von hinten. Danica wusste nicht, ob es Freunde oder Feinde waren – bis ein Armbrustbolzen an ihrem Kopf vorübersauste. Instinktiv warf sie sich auf den Boden des Bootes. Sie wusste, dass sie zu Cadderly musste, aber wie? Wenn sie unter Wasser war, wie konnte sie dann hoffen, diese neue Bedrohung aufzuhalten? Ein Schrei ließ Danica herumfahren. Sie spähte über die zerbrochene Planke. Dort trieb die verwundete Nachtmaske, der Mann, den Cadderly mit seinen Spindelscheiben getroffen hatte. Er kämpfte verzweifelt gegen die Umklammerung einer Schlange, die ungefähr so lang und dick wie einer der Riefen war. Der Mann riss sich irgendwie los und begann, mit aller Kraft auf das nahende Boot zuzuschwimmen. Die Schlange nahm die Verfolgung auf und tauchte dabei unter Wasser ab. Trotz der Gefahr musste Danica lächeln. Sie wusste, dass das Auftauchen dieser Schlange kein Zufall war: Cadderly und seine mysteriöse Kraft hatten wieder einmal zugeschlagen. Danica kam auf die Knie hoch. Das andere Boot war jetzt näher. Sie konnte einen Mann im Bug sehen, der mit einer Armbrust auf sie zielte. Sie zuckte hoch, als ob sie aufstehen wollte, dann warf sie sich flach hin und hörte das Pfeifen eines heranfliegenden Bolzens. Jetzt hatte sie Gelegenheit, ins Wasser zu springen und Cadderly nachzutauchen. Bevor sie jedoch aus dem Boot sprang, tauchte eine Nachtmaske mit schreckverzerrtem Gesicht auf, denn die zweite Schlange – der zweite Riemen – wickelte sich um seine Brust und
Schulter. Der Mann griff nach dem Boot, schlug auf das Wasser und auf das Tier ein. Dann war er verschwunden. Wieder brodelte das Wasser, ein Stück weiter seitlich. Dort tauchte Cadderly auf, unglaublich schnell; sein Körper brach geradezu aus dem Wasser. Er stand auf dem Wasser! Und trug immer noch seinen Hut, auf dessen Vorderseite das heilige Symbol wie verrückt strahlte. Die junge Frau hätte beinahe gelacht, denn sie war zu überrascht für jede andere Reaktion. Cadderly holte ein paarmal tief Luft. Er wirkte noch überraschter als Danica. Er sah zu dem neuen Boot zurück, das der Schwimmer gerade erreicht hatte. Der Schütze bereitete einen neuen Schuss vor. »Rein mit dir!« schrie Danica, der Cadderly dort auf dem Wasser viel zu verwundbar vorkam. Der junge Priester schien sie nicht zu hören. Er murmelte, ja sang und winkte langsam mit einer Hand hin und her. Danica blickte zu dem anderen Boot zurück, sah den Mann die Armbrust anlegen – und sah Cadderly ungeschützt im Freien stehen. Sie warf sich zur Seite, griff nach einem Stück Bruchholz am Boden des Bootes. Dann kam sie hoch, warf das Holz… das dann einfach ein Dutzend Fuß neben dem anderen Boot ins Wasser platschte. Aber der Schütze hatte gezuckt, hatte in ihre Richtung gesehen. Ein plötzlicher Wasserschwall brach aus dem ruhigen See nahe der Stelle, wo Danicas Holz eingetaucht war. Das Wasser bäumte sich auf und rollte gezielt auf das feindliche Boot zu. Der Schütze hatte sich wieder auf Cadderly konzentriert, als die Welle gegen das Boot schlug. Da der Mann überhaupt nicht darauf gefasst war, kippte er über Bord und hätte beinahe seine Waffe verloren. Zuerst wunderte sich Danica, wie das kleine Stück Holz die stille Wasseroberfläche so hatte aufwühlen können. Dann aber erkannte
sie, dass dies kein Zufall war, und drehte sich zum wahren Urheber der Welle um. Cadderly, der immer noch ruhig dastand, sang leise sein Lied und winkte mit der Hand. Eine neue Woge stieg auf und krachte gegen das Boot ihrer Feinde, das sich nun zur Brücke hin drehte. Cadderly lächelte. Die nächste Welle trug das Boot zum Strand hin und von ihm weg. »Komm«, sagte er zu Danica und streckte die Hand aus. »Bevor sie wieder zu sich kommen.« Danica verstand ihn zunächst falsch, denn sie dachte, Cadderly wollte sich von ihr ins Boot helfen lassen. Doch er widerstand ihrem Zug und winkte sie zu sich. Der Assassine, der Cadderly unter Wasser gezogen hatte, trieb mit dem Gesicht nach unten an die Wasseroberfläche. Die Schlange, die sich um ihn gewickelt hatte, wurde auf Cadderlys Befehl hin wieder zum Riemen und trieb als harmloses Stück Treibholz dahin. »Komm«, wiederholte Cadderly. Danica sprang auf seinen Rücken und hielt sich gut fest. Cadderly sah sich um. Dann rannte er auf die Insel zu. Danica blickte über seine Schulter. Ihr fiel auf, dass das Wasser unter seinen Schritten nicht aufspritzte, er hinterließ eher Dellen in der Wasseroberfläche, die schnell wieder verschwanden, als liefe er über einen weichen Untergrund. Hinter ihnen hatte sich das feindliche Boot schließlich ausgerichtet, und der Armbrustschütze zog den Schwimmer herein. Der Riemen, der ihn gejagt hatte, tanzte auf den Wellen. Danica küsste Cadderly auf den Hals und legte ihren müden Kopf an seine Schulter. Die Welt war verrückt geworden. Als Cadderly das Ufer erreichte, murmelte er weiter vor sich hin. Er lief tapfer weiter, wurde unter dem Gewicht seiner Last jedoch langsamer, als er festen Boden betrat.
»Cadderly …« »Wenn das Profikiller sind«, sagte er, »müssen wir davon ausgehen, dass sie von unseren Feinden angeheuert wurden, vielleicht von Dorigen.« »Cadderly …« »Jemand hat die Verbindung zu uns hergestellt«, fuhr Cadderly uneingeschüchtert fort. »Jemand hat beschlossen, dass wir – oder wenigstens ich – eine Bedrohung darstellen, die beseitigt werden muss.« »Cadderly…« »Aber wie lange sind sie schon in meiner Nähe?« murmelte der junge Priester. »Oh, Brennan, ich bete, dass ich mich irre.« »Cadderly!« Zum ersten Mal, seit sie Land betreten hatten, sah Cadderly Danica an. »Was ist?« »Du kannst mich jetzt runterlassen«, meinte Danica. Sie rannte sofort weiter, griff nach Cadderlys Handgelenk und zog ihn mit sich. Durch das Gebüsch hinter ihnen hörten sie, wie das Boot der Feinde das Ufer erreichte. »Hartnäckig«, sagte Danica, die ernst über die Schulter schaute. Cadderly wusste, dass sie umkehren und den Kampf ausfechten wollte. »Nicht jetzt«, bat er. »Wir müssen ins Gasthaus zurück.« »Vielleicht haben wir unsere Feinde nie wieder so offen vor uns«, gab Danica zu bedenken. »Ich bin müde«, erwiderte Cadderly. Und das war der junge Priester wirklich. Das Lied spielte nicht mehr in seinem Kopf. Es war den schlimmsten Kopfschmerzen gewichen, die Cadderly je erlebt hatte. Danica nickte und hetzte weiter. Sie brachen durch eine Hecke in den Hinterhof eines der wohlhabenderen Anwesen von Carradoon.
Irgendwo in der Nähe schlugen Hunde an, aber Danica hielt unbeirrt die Richtung bei, lief durch eine andere Hecke und in einen weiteren Hof. Ein paar Leute, ältere Händler und deren Frauen, starrten das flüchtende Paar ungläubig an. »Geht in Deckung und ruft die Stadtwache!« rief Cadderly ihnen zu, während er Danica nachsetzte. »Diebe und Mörder verfolgen uns! Ruft die Stadtwache und schickt sie zur Brücke!« Das Paar brach durch eine weitere Hecke, landete auf einer breiten, ebenen Pflasterstraße und rannte zwischen neugierigen, gaffenden Leuten an schönen Herrenhäusern vorbei. Weder Pferd noch Wagen waren zu dieser frühen Stunde auf der Brücke zu sehen, was Cadderly ein wenig tröstete. Der junge Priester hätte es gehasst, wenn irgend jemand seinen tödlichen Verfolgern direkt in den Weg geraten wäre, und aus dem fortgesetzten Bellen der Hunde in der Ferne schloss er, dass die Nachtmasken die Jagd noch nicht aufgegeben hatten. Sie waren dicht hinter ihnen. Cadderly blieb abrupt stehen, als sie den höchsten Punkt des ersten Brückenbogens erreichten. Danica wollte nachfragen, doch sein verschwörerisches Lächeln hielt sie davon ab. »Du hältst Ausschau nach den Assassinen«, sagte er zu ihr, während er in die Knie ging. Mit seinem durchnässten Mantel malte er ein Viereck auf die Steine der breiten Brücke. »Die erste Seite, die ich in Großmeisterin Pertelopes Buch einst angesehen habe, hat mich immer wieder in Erstaunen versetzt«, erklärte er, ohne langsamer zu werden. »Ich wusste, dass es ein Zauber war, der einem aus Belisarius’ Buch ähnelte.« Als das Viereck fertig war – zwei nasse Linien verliefen parallel über das Bauwerk – , stand Cadderly auf und führte Danica ein paar Dutzend Schritte weiter weg. Cadderly begann zu singen. Diese Worte kannte er ganz genau.
Dennoch musste er abbrechen und sich die Schläfen reiben, um die Schmerzen zu lindern, die die gerufenen Kräfte verursachten. Immer, wenn du sie rufst, werden sie an dir zehren und etwas von dir mitnehmen, hatte Pertelope ihn gewarnt. Erschöpfung ist dein Feind… »Sie sind auf der Brücke!« hörte er Danica sagen, und er fühlte ihr Zerren an seinem Arm. Es half alles nichts. Cadderly bekämpfte den Schmerz und die Müdigkeit, zwang das Lied in sein Hirn und auf seine Lippen. Was ist das Band, das Steine hält? Ein Band, das Nässe bricht. Was bist du ohne dieses Band? Danica riss ihn zu Boden; er nahm kaum wahr, wie der Armbrustbolzen an ihnen vorbeizischte. Immer noch sang er vollkonzentriert. Triefe, Wasser, trief Durch das Band, so tief Der vorderste Assassine stolperte plötzlich, kippte nach vorn, als ob seine Füße in einer Schlinge steckten, fiel vornüber… und sank in den Schlamm, zu dem dieser Teil der Brücke geworden war. Danica und Cadderly hörten es unten platschen, als Schlamm und Steine in den See fielen. Ein weiterer Assassine betrat das Gebiet, konnte jedoch – knietief im Morast – noch zurückweichen. Der Mann, der kopfüber hineingelaufen war, schrie, als er unten herausfiel und gut zwanzig Fuß tiefer in den auf gewühlten See stürzte. Der ganze Teil, den Cadderly markiert hatte, stürzte hinter ihm ein.
Vier entgeisterte Assassinen standen am Rand der fünfzehn Fuß breiten Kluft, die sie von ihrem Opfer trennte, und starrten ungläubig hinunter. »Sie hat gesagt, Deneir würde etwas von mir fordern«, meinte Cadderly zu Danica, während er sich die pochenden Schläfen rieb. »Und das wird er wieder, sobald wir das Gasthaus erreichen.« »Hast du deinen Glauben wiedergefunden?« fragte Danica, als sie davonrannten und die Flüche der frustrierten Assassinen und das Hufgeklapper der Pferde der Stadtwache hinter sich ließen. Cadderly sah Danica an, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Dann beruhigte er sich achselzuckend, denn gegen ihre Logik kam er nicht an. Sie hörten die Rufe der Wachen und der Mörder, als die Assassinen, die nur noch einen Ausweg sahen, einer nach dem anderen ins schützende Wasser sprangen. Der Weg war frei, der ganze Weg zurück zur »Drachenbörse«, zu toten Feinden und toten Freunden.
Leid und heilige Freude Cadderly und Danica hörten die Schreie noch, nachdem sie die Brücke verlassen hatten und auf die Promenade zuhielten. Der Nebel verflog rasch, denn die heißen Strahlen der aufsteigenden Sonne lösten ihn auf. Carradoon war in hellem Aufruhr. Die Promenade war von neugierigen Bürgern und Stadtwachen verstopft. Cadderlys breitkrempiger Hut war triefnass, so dass es an allen Seiten von ihm heruntertropfte – und viele Köpfe sich nach dem jungen Priester und seiner Begleiterin umdrehten. Man zeigte mit den Fingern auf sie, und bald drängte sich eine berittene Stadtwache durch die Menge, um Cadderly aufzuhalten. »Seid Ihr ein Priester aus der Erhebenden Bibliothek?« kam die schroffe Frage der Wache. »Ich bin Cadderly aus dem Orden des Deneir«, antwortete der junge Priester. Er drehte sich zu Danica um und zuckte beschämt und fast entschuldigend die Schultern. »Wir sind auf dem Rückweg zur ›Drachenbörse‹, dem Wirtshaus von Fredegar Harriman«, erklärte Danica, die Cadderly einen vielsagenden Seitenblick zuwarf, »um nach den Freunden zu sehen, die wir zurücklassen mussten.« »Mussten?« Cadderly und Danica wussten, dass diese Frage eine Prüfung darstellte. Der Blick der Wache blieb forschend. »Ihr wisst, was geschehen ist«, erwiderte Cadderly, ohne zu zögern. Der Mann nickte ernst, denn die Erklärung stellte ihn offenbar zufrieden. »Dann kommt schnell«, gebot er und drängte mit seinem Pferd jeden beiseite, der das Vorankommen der beiden behinderte. Weder Cadderly noch Danica gefiel dieser Gang über die
Promenade, mussten sie doch fürchten, dass unter den vielen Zuschauern auch Feinde waren. Und noch beängstigender für die Freunde war – angesichts des ernsten Tonfalls der Wache – die Aussicht darauf, dass der Sieg im Gasthaus womöglich einen hohen Preis gefordert hatte. Ihre Ängste wurden nicht geringer, als sie an dem Gasthaus zwei Häuser vor der »Drachenbörse« vorbeikamen, in dem Ivan und Pikel abgestiegen waren. Die vordere Brüstung, das Fenster über der Tür und die Wand neben der Tür waren zerborsten. Der Wirt, der Glasscherben und Holzsplitter von seiner Veranda kehrte, beobachtete die beiden argwöhnisch, ohne den Blick abzuwenden oder nur einmal zu zwinkern, als sie vorbeiliefen. Cadderly blieb stehen und atmete tief durch, als die »Drachenbörse« in Sicht kam. Er sah den Balkon vor seinem Zimmer, dem Ort, den er in den letzten Wochen als Zuflucht vor der Grausamkeit der Welt angesehen hatte. Die vordere Brüstung lag auf der Straße; eine Leiste – die, an der Danica sich in Sicherheit gebracht hatte – hing in komisch schiefem Winkel herunter. Es lagen keine Leichen auf der Straße (den Göttern sei Dank!), aber Cadderly sah einen dunkelroten Fleck auf dem Pflaster unter seinem Zimmer und einen größeren ungefähr in der Mitte der breiten Straße. Danica, die sein Unbehagen bei diesem Anblick zu spüren schien, hakte ihn unter, um ihn zu stützen. Zu ihrer Überraschung zog Cadderly den Arm weg. Sie sah ihn an, um festzustellen, ob sie etwas falsch gemacht hatte, doch sein Blick enthielt keine Anklage. Hoch aufgerichtet stand er da, holte noch einmal tief Luft und straffte seine Schultern. Danica verstand die Bedeutung dieser Gesten, verstand, dass Cadderly diesmal akzeptiert hatte, wozu er gezwungen gewesen war. Diesmal würde er nicht davonlaufen wie in Shilmista; er würde der Drohung die Stirn bieten und jene schlagen, die ihn schlagen wollten. Aber konnte er das tun, ohne dass Gespenster wie Barjin ihn
den Rest seines Lebens verfolgten? Cadderly musste lächeln, als ein »Ei, ei!« aus der Tür der »Drachenbörse« erklang und Pikel Felsenschulter auf die Veranda trat. Der Zwerg hielt Cadderlys verlorenen Wanderstab hoch über den Kopf und winkte aufgeregt. Danica wartete noch, einen Augenblick und ließ Cadderly weit vorangehen, um über die deutliche Veränderung im Verhalten des jungen Priesters nachzudenken. Dieser fortwährende Strom gewaltsamer Ereignisse zwang Cadderly, erwachsen zu werden und sich sehr schnell ein dickeres Fell zuzulegen. Gewalt konnte etwas Betäubendes sein, das wusste Danica. Kein Kampf war härter zu akzeptieren und auszufechten als der erste, kein tödlicher Schlag wurde mit mehr Zurückhaltung geführt als der erste. Als sie sah, wie zuversichtlich ihr Geliebter zu Pikel ging, bekam die junge Frau es mit der Angst. Als Danica Cadderly einholte, stand er schweigend mit (zu ihrer Erleichterung) beiden Zwergen und einem verweinten Fredegar Harriman im Gasthaus. Danica hielt ihr Glück über Ivans und Pikels Wohlbefinden jedoch im Zaum, denn sie folgte Cadderlys Blick zu einem Tisch im Gastraum, auf dem Großmeister Averys Leiche lag. Seine Brust war weit aufgerissen, und wo das Herz hätte sein sollen, saß ein klaffendes Loch. »Mein Brennan«, sagte der gebrochene Fredegar. »Sie haben meinen armen Brennan umgebracht!« Cadderly ließ seinen Blick durch den verwüsteten Raum schweifen, zu der zerbrochenen Treppe, dem zerschmetterten Kronleuchter auf dem Holzhaufen, dem verkohlten Boden neben dem langen Schanktisch, dem jungen, unversehrten Körper, der friedlich neben diesem Tisch lag, und zu weiteren sechs Leichen. Von der einen stiegen trotz des Tuches, das über ihr ausgebreitet war, immer noch Rauchfäden auf.
»Mindestens vier von ihnen sind davongekommen«, informierte Ivan sie. »Einen könnt ihr noch auf dem Dach finden«, bemerkte Danica. »Vielleicht sind nur drei davongekommen«, stellte Ivan richtig. »Sieben sind entkommen«, sagte Cadderly abwesend, der an die drei Männer dachte, die ihn und Danica aus dem Wasser heraus angegriffen hatten, dazu die vier anderen in dem Verfolgerboot. Ivan schüttelte sein gelbbärtiges Gesicht, dann brummte er: »Tja, das ist ein Haufen Ärger für dich.« Cadderly hörte den Zwerg kaum. Der junge Priester ging langsam über den von Trümmern übersäten Boden zu der Leiche des Mannes, der bei ihm Vaterstelle eingenommen hatte, solange er denken konnte. Bevor er ihn jedoch erreichte, trat ihm ein Mann der Stadtwache in den Weg. »Wir haben ein paar Fragen«, erklärte er schroff. Cadderly sah ihn kühl an. »Die werden warten.« »Nein«, gab der Mann zurück. »Sie werden beantwortet, wann ich es sage. Und zwar vollständig! Ich werde keine –« »Geht.« Es war ein einfaches Wort, das ruhig und kontrolliert ausgesprochen wurde, doch den Wächter traf es wie ein Donnerschlag. Er richtete sich kerzengerade auf, sah sich neugierig um und ging auf die Eingangstür zu. »Kommt«, wies er die anderen Soldaten an, die widerspruchslos gehorchten, nachdem sie überraschte Blicke ausgetauscht hatten. Ivan wollte etwas zu Cadderly sagen, aber Danica legte dem Zwerg eine Hand auf die Schulter. Cadderly hätte Ivan sowieso nicht gehört. Der junge Priester trat zu Averys aufgerissenem Körper und wischte sich eine Träne aus den grauen Augen. Avery hatte einer Sache im Weg gestanden, die ihn eigentlich gar nicht betraf, vermutete Cadderly, und dieser Gedanke erweckte Abscheu in dem jungen Mann. Wieder eine neue Schuld zu
seiner wachsenden Last. Aber jetzt war Cadderly nicht von Schuld getrieben; es war Leid, eine tiefe Trauer, wie er sie noch nie erfahren hatte. So viele Bilder aus Averys Leben traten dem jungen Priester vor Augen. Er sah den behäbigen Großmeister auf der Straße vor der Erhebenden Bibliothek, wie er versuchte, einen sonnigen Frühlingstag zu genießen und von Percival, dem weißen Eichhörnchen, daran gehindert wurde, das ihm von oben Zweige an den Kopf warf. Er sah Avery bei der Mittagshymne des Bruders Chaunticleer, wenn das Gesicht des Großmeisters bei dem melodischen Lied an Averys geliebten Gott heiter und zufrieden wurde. Wie anders dieses väterliche Gesicht jetzt wirkte, den Mund zu einem letzten Schrei geöffnet, einem Ruf nach Hilfe, die nicht gekommen war. Am meisten erinnerte sich Cadderly an die Schelte, mit der der Großmeister ihn bedacht hatte; an Situationen, in denen Averys schwitzendes Gesicht knallrot anlief, weil die scheinbare Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit des jungen Mannes ihn zur Weißglut trieb. Erst durch den teuflischen Chaosfluch hatte der Großmeister schließlich seine wahren Gefühle für Cadderly eingestanden. Er hatte zugegeben, dass er Cadderly wie einen Sohn liebte. In Wahrheit hatte der junge Priester dies aber längst gewusst. Er hätte Avery nie so oft und gründlich auf die Palme bringen können, wenn der Großmeister sich nichts aus ihm gemacht hätte. Erst jetzt, wo er vor dem Toten stand, erkannte er jedoch, wie sehr er Avery geliebt hatte, diesen Mann, der ihm den Vater ersetzt hatte. Cadderly kam der Gedanke, dass Avery nicht so früh im Wirtsraum hätte sein dürfen, insbesondere so nachlässig gekleidet, so verwundbar. Diese Information verdaute er beinahe unbewusst, steckte sie zu den unzähligen sonstigen Fakten, die er seit seiner Flucht vor der Assassinenbande gesammelt und durchdacht hatte. »Mein Brennan auch«, schluchzte Fredegar, der neben Cadderly
trat und dem jungen Priester einen Arm um die Schulter legte, um sich auf ihn zu stützen. Cadderly war mehr als bereit, seinem sanftmütigen Freund die gewünschte Unterstützung zu geben, und folgte dem Wirt durch den Raum zum Schanktisch. Der Kontrast zwischen Brennans und Averys Körper war frappierend: Das Gesicht des Jungen verriet weder Entsetzen noch irgendeine Form der Überraschung. Auch sein Körper wirkte unversehrt. Es gab keine sichtbaren Wunden. Anscheinend war er einfach friedlich gestorben. Das einzige, was Cadderly einfiel, war Gift. »Sie konnten mir nicht sagen, wie«, jammerte Fredegar. »Die Wache sagt, er wurde nicht erstickt, und es ist nirgends Blut. Kein Hinweis am ganzen Körper.« Fredegar rang verzweifelt nach Luft. »Aber er ist tot. Mein Brennan ist tot!« Cadderly rutschte unter dem Gewicht zur Seite, als Fredegar sich an ihn hängte. Trotz seiner ehrlichen Trauer beim Anblick des Jungen warf dieser Tod ein Rätsel auf, das Cadderly nicht unbeantwortet lassen konnte. Er erinnerte sich an die schrecklichen Schatten, die er an jenem Abend beim Essen auf Brennans Schultern gesehen hatte. Er dachte an Danicas Geschichte, ihren Traum, und wusste ohne Zweifel, dass jemand oder etwas den jungen Mann in Besitz genommen und anschließend umgebracht hatte. Vielleicht gab es noch irgendeine Spur dessen, was geschehen war. Vielleicht saßen immer noch verräterische Schatten auf Brennans Schultern. Cadderly öffnete seinen Geist und ließ trotz des fortwährenden, schmerzhaften Pochens in seinem Kopf das Lied von Deneir in sein Bewusstsein strömen. Cadderly sah einen Geist. Brennans Seele hockte verloren auf dem Schanktisch und starrte
mitleidig auf den verzweifelten Vater und auf ihren eigenen, bleichen Körper. Brennan sah Cadderly an, und seine beinahe durchsichtige Miene verzog sich vor Überraschung. Die ganze materielle Welt um den Geist wurde schemenhaft, als Cadderly sich gestattete, tiefer in Brennans Zustand einzutauchen. Gift? fragte sein Geist die verlorene Seele, obwohl er wusste, dass er kein Wort gesagt hatte. Die Seele schüttelte den Kopf. Ich kann nirgendwohin. Die Antwort war für Cadderly so offensichtlich. Geh zurück zu deinem Vater. Brennan sah ihn verwirrt an. Das Lied in Cadderlys schmerzendem Kopf wurde lauter, seine Lautstärke ohrenbetäubend. Der junge Priester jedoch ließ nicht locker, nicht jetzt. Er sah, wie sich Brennans Seele zögerlich der Leiche näherte, ziemlich verwirrt, hoffnungsvoll, aber dennoch schrecklich verängstigt. In Cadderlys Augen wurde der Raum um die Seele dunkel. Alles wurde dunkel. »Bei den Göttern«, hörte Cadderly Danica flüstern. »Oooooh«, stöhnte Pikel. Ein Rums neben ihm auf dem Boden brachte den jungen Priester abrupt wieder zu sich. Er kniete auf dem harten Boden, aber Fredegar neben ihm war ohnmächtig geworden. Vor ihm setzte sich der junge Brennan auf und blinzelte ungläubig. »Cadderly«, hauchte Danica. Ihre zitternden Hände ergriffen die bebenden Schultern des Priesters. »Wie … geht es dir?« stammelte Cadderly, an Brennan gewandt. Brennans Kichern, das von Schluchzen und Lachen durchsetzt war, verriet sein Erstaunen. Er wusste einfach nicht, wie er die Frage beantworten sollte. Wie es ihm ging? Er lebte!
Der junge Mann sah seine Hände an und staunte, dass sie seine Wünsche wieder befolgten. Plötzlich ballte er die Fäuste und stieß sie in die Luft, während sich ein Urschrei von seinen Lippen löste. Diese Anstrengung kostete den Jungen allerdings seine gerade erst wiedergewonnene Besinnung, und er wankte und geriet ins Kippen. Ivan und Pikel rannten hin, um ihn aufzufangen. Cadderly straffte sich plötzlich. Sein Blick ging quer durch den Raum zu Großmeister Avery. Der entschlossene, junge Priester stand rasch auf, wehrte Danica ab und trat zu dem Leichnam. »Sie haben ihm das Herz herausgerissen«, sagte Danica matt zu ihm. Cadderly drehte sich verständnislos zu ihr um. »Das ist die übliche Methode«, erklärte die junge Adeptin, die mit den dunklen Praktiken der verfluchten Nachtmasken vertraut war. »Es erschwert das Zurückrufen der Seele.« Cadderly knurrte und drehte sich wieder zu Avery um, zu der Aufgabe, bei der er nicht versagen würde. Gewaltsam rief er das Lied zu sich, weil es nicht von selbst in seinen müden Geist strömte. Vielleicht sollte er ausruhen, bevor er weitermachte, dachte er, als die Noten einen disharmonischen Klang anschlugen. Vielleicht hatte er es mit der Magie heute übertrieben und sollte sich ausruhen, ehe er wieder in die spirituelle Welt eintauchte. »Nein!« sagte Cadderly laut. Er schloss die Augen und forderte das Spielen der Musik. Der Raum verschwamm. Averys Geist war nicht hier. Cadderly sah sich überall um, obwohl sein Körper sich äußerlich nicht bewegte. Er sah schwarze Zeichen und übernatürliche Schatten auf dem Boden neben den Körpern der toten Assassinen, wo er etwas lastend Böses spürte. Die Seelen waren verschwunden, und Cadderly bekam den Eindruck, dass ihre Reise erzwungen worden war, dass man sie weggerissen hatte.
Würden sie in einem zweiten Leben bestraft werden? Der Gedanke erweckte kein Mitleid in Cadderly. Er starrte die Pfützen mit der verbliebenen Schwärze durchdringend an. Er dachte daran, eine dieser verlorenen Seelen zurückzurufen, um sie nach Averys Geist zu befragen, verwarf den Gedanken jedoch. Das Schicksal, das diese Seelen erwartete, hatte nichts mit dem zu tun, was dem guten Großmeister bevorstand. Mit plötzlicher Einsicht griff Cadderly in Gedanken über die Grenzen des Raumes hinaus, sandte einen umfassenden Ruf nach dem verschwundenen Geist seines Mentors zum Himmel. Die Antwort, die er erhielt, kam nicht in Form von Worten oder auch nur Bildern. Ein Gefühl überschwemmte Cadderly, eine Emotion, die Großmeister Avery ihm mitteilte – er wusste, dass sie von Avery kam! Es war eine Ruhe, eine Zufriedenheit, die alles überstieg, was Cadderly je erfahren hatte. Etwas Heiliges. Ein helles Licht wich dem Nichts… Ivan und Danica halfen dem jungen Priester auf die Beine. Cadderly, der ganz aus seiner Trance auftauchte, sah Danica lächelnd an. »Er ist bei Deneir«, verriet Cadderly, und die Freude in seiner Stimme machte jede Antwort überflüssig. Cadderly merkte, dass seine Kopfschmerzen verflogen waren. Auch er hatte Zufriedenheit gefunden. »Was weißt du?« fragte Ivan, und Cadderly verstand, dass der Zwerg nicht nach Averys Schicksal fragte. Auch Danica sah den erleuchteten, jungen Priester neugierig an. Cadderly antwortete nicht sofort. Teile für dieses Puzzle schienen vom Himmel zu fallen. Cadderly sah zu den toten Assassinen hinüber, dann zu Brennan und Fredegar, die sich hemmungslos umarmten. Cadderly wusste, wo er weitere dieser wild verstreuten
Puzzleteilchen finden würde. Das Verstreichen der Stunden beruhigte Geist, der ruhig in seinem Zimmer saß und seinen Tag so normal wie möglich verbrachte. Massaker waren gewiss nicht alltäglich in Carradoon, aber es waren unruhige Zeiten, und Geist war zuversichtlich, dass die Neuigkeit schon bald ihren Reiz verlieren würde. Dann wäre der junge Cadderly wieder angreifbar. Bald, nachdem er erfahren hatte, dass Cadderly entkommen war – und viele Nachtmasken nicht –, war dem Assassinen der Gedanke gekommen, den Auftrag abzubrechen. Solche Gedanken verwarf er jedoch und verlegte sich statt dessen darauf, diesen Mord noch mehr zu seiner persönlichen Angelegenheit zu machen. Er würde Cadderly kriegen, und zwar über einen seiner Freunde, und der Tod des jungen Priesters würde um so süßer sein. Geist war ein bisschen verstimmt, als er Bogo abziehen sah, vor allem, weil er vorgehabt hatte, Bogo als Sündenbock hinzustellen, wenn Cadderly und seine Freunde der Wahrheit näher kamen. Der verschlagene Mann blickte aus dem Fenster. Auf dem ruhigen Impresksee spiegelte sich die Nachmittagssonne. Deutlich sah er die Brücke zur Insel, die Steinmetze, die dort auf Booten und auf dem Bauwerk selbst hockten und das breite Loch begutachteten. Geist schüttelte kichernd den Kopf. Er hatte bereits telepathisch mit Vander auf dem Hof Kontakt aufgenommen und wusste, dass Cadderly dieses Loch verursacht hatte. Vier Männer waren auf den Hof zurückgekehrt – vier von vierzehn. Geist starrte weiter auf die klaffende Lücke in der großen Brücke. Cadderly hatte sie geschlagen. Geist war beeindruckt. Aber er war unbesorgt. Jede Einzelheit des Kampfplatzes – Averys Anwesenheit im Wirtsraum, wo er nicht hätte sein sollen; die eigenartige,
fortwährende Abwesenheit von Kierkan Rufo, der nur kurz heruntergekommen war, um Averys Leiche zu identifizieren und die wenigen Fragen der Stadtwache zu beantworten; selbst der auffällige Brandfleck auf Pikels Tunika – wurde deutlich in Cadderlys Verstand gespeichert und trug zu dem umfassenden Bild bei, das er sich machte. Er redete mit Brennan, obwohl die Erinnerungen des jungen Mannes bestenfalls traumartig waren. Allein diese Tatsache bestätigte Cadderlys Verdacht bezüglich dessen, was Danica widerfahren war. Er schärfte Brennan nachdrücklich ein, sich nicht blicken zu lassen, und bat Fredegar, niemandem zu verraten, dass sein Sohn wieder lebte. »Wir müssen schnell zuschlagen«, erklärte Cadderly seinen drei Freunden, die sich in einem abseits gelegenen Zimmer um ihn geschart hatten. »Im Augenblick sind unsere Feinde verwirrt, aber sie sind hartnäckig und werden sich neu formieren.« Danica kippelte mit ihrem Stuhl nach hinten und stützte sich mit den Füßen am Tisch ab. »Du bist wahrscheinlich der müdeste von uns«, erwiderte sie. »Wenn du weitermachen kannst, können wir es auch.« »Ei, ei!« piepste Ivan, bevor Pikel Gelegenheit dazu bekam. Der gelbbärtige Zwerg zwinkerte seinem verdutzten Bruder überdeutlich zu, worauf Pikel Ivan prompt fest am Bart zog. Obwohl er und Danica einige Mühe hatten, die rauflustigen Brüder zu beruhigen, war Cadderly froh über die Ablenkung, welche die erschöpfende Spannung brach. »Hast du mit den Stadtwachen geredet?« fragte Cadderly Danica, als wieder Ordnung herrschte. »Wie du vermutet hast«, antwortete die junge Frau. Cadderly nickte. Noch ein Teil fand seinen Platz. »Der Zauberer wird nicht lange dort bleiben.«
»Aber bist du vorbereitet, ihn zu bekämpfen?« musste Ivan fragen. Cadderly lachte, stand auf und zog seine Hosen zurecht, die von seinem Sturz in den See immer noch feucht waren. »Das klingt ja, als müsste ich alleine gehen«, witzelte er. Augenblicklich war Ivan aufgesprungen und hatte seine riesige Axt über die Schulter geworfen. »Diesen Typen ist nicht zu trauen«, betonte der Zwerg. »Gefährliches Volk.« »Einem wütenden Priester ist auch nicht zu trauen«, gab Cadderly zurück, der seinen Wanderstab nahm und die Spindelscheiben ein paarmal kurz auf und ab laufen ließ. »Gefährliches Volk«, meinte Danica, und nach allem, was die junge Frau heute gesehen hatte, nach den gewaltigen, magischen Kräften, die Cadderly gezeigt hatte, lag in ihren Worten nicht einmal ein Anflug von Sarkasmus.
Hab’ ich doch gleich gesagt Bogo Rath marschierte unruhig in seinem kleinen Zimmer auf und ab. Er trat einen Korb weg und sah einen Kakerlak über den Boden huschen und im Schatten unter dem Bett Zuflucht suchen. »Flieh, du kleine Wanze«, meinte der junge Zauberer. Bogo warf sein strähniges braunes Haar zur Seite und fuhr mehrmals mit den Fingern hindurch. Er selbst war die kleine Wanze. Er blickte aus dem Fenster, das zu klein war, um einen guten Blick zu gewähren, aber ausreichte, um ihm zu verraten, dass das Nachmittagslicht endlich schwand. Bogo wollte sich verkleiden und die Stadt bei Dämmerung mit der Bettlerschar verlassen, die jeden Abend aus Carradoon abzog. Vor den Toren konnte er ein magisches Reittier herbeirufen und schnell und unbehindert nach Burg Trinitatis gelangen. Der Gedanke, sich weit von Carradoon, dem jungen Priester und seinen Gefährten zu entfernen, gefiel Bogo, aber der Gedanke, Aballister gegenüberzutreten, sagte ihm weniger zu. Was noch schlimmer war: Wenn Geist seine Aufgabe erfolgreich abschloss, würde die Rückkehr des Assassinen nach Burg Trinitatis ein ungünstiges Licht der Feigheit auf Bogo werfen. »Boygo«, murmelte er. An diesen Namen sollte er sich lieber gewöhnen. Aballister und Dorigen würden ihn seine Feigheit nicht so leicht vergessen lassen. Der einzige Trost für den jungen Mann war die Tatsache, dass er den Tod des Großmeisters der Bibliothek arrangiert hatte. Der Kakerlak huschte für einen Augenblick wieder heraus, sauste über den Boden und unter die Falten des überlangen Vorhangs.
»Das wird sie zum Schweigen bringen!« sagte Bogo zu dem Kakerlak. Besonders Dorigen, die im Wald von Shilmista so gedemütigt worden war. Ein Lächeln stahl sich auf Bogos angespanntes, jungenhaftes Gesicht. Er hatte einen Großmeister getötet! Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es Zeit war, zum Westtor aufzubrechen. Er wählte die Zauberzutaten aus, die seine Erscheinung verändern würden, und steckte sie griffbereit weg. Dann nahm er seine Sachen. Er legte sie gleich wieder hin, als er es im Gang singen hörte. »Feuer und Wasser«, sagte Cadderly mit durchdringender, monotoner Stimme. »Feuer und Wasser, Elemente des Schutzes. Feuer und Wasser.« Danica und Pikel standen vor dem jungen Priester, zwischen ihm und der Tür. Danica strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte zur Treppe, wo man den kahl werdenden Kopf des nervösen, geduckten Wirts sah. Hin und wieder spähte der Mann über die oberste Stufe, weil er um sein Haus fürchtete. Dennoch hatte Cadderly ihn leicht überzeugen können, die drei zu Bogos Zimmer hinaufzuführen. Danica sah wieder zu dem jungen Priester hin, der jetzt eindringlicher sang. Er hielt die Augen geschlossen und machte mit den Händen webende Bewegungen vor seinem Körper, als wollte er einen magischen Wandbehang schaffen. Cadderly hatte sich den Bart abrasiert, bevor sie die »Drachenbörse« verlassen hatten, und jetzt sah er sich selbst wieder viel ähnlicher. Oder auch nicht. Danica konnte es nicht erklären, aber irgendwie wirkte Cadderly mit jeder Bewegung selbstsicherer. Seine Begegnung – oder was sonst geschehen war – mit Averys Seele hatte dieser wachsenden Selbstsicherheit noch eine gewisse Ruhe hinzugeführt. Danica hatte nicht nachgefragt, aber sie spürte, dass Cadderly jetzt
in dem Bewusstsein handelte, dass sein Gott mit ihm war. »Feuer und Wasser«, sang Cadderly, »Elemente des Schutzes.« Mit der Hand spritzte er ein paar Tropfen heraufbeschworenes Wasser gegen die Tür. Mit der anderen, die sich gleich hinterher hob, warf er eine Flammenzunge. Das Feuer traf die nasse Tür mit einem Zischen, dem Signal für Pikel. »Ei, ei«, zirpte der Zwerg und schlug seine Keule wie einen Rammbock gegen die Tür. Die Waffe durchbrach das dünne Holz sauber und verursachte ein ziemlich großes Loch, doch die Tür war immer noch nicht offen. Als der Zwerg seine Keule zurückzog, erkannte Danica Pikels Fehler. Sie griff über den Zwerg hinweg an die Klinke und öffnete problemlos die Tür – nach außen. »Oh.« Bogos Singen von drinnen suchte Cadderlys fortgesetztes Gebet zu übertönen. Der Zauberer hielt einen kleinen Metallstab vor sich, ein leitendes Element, das Danica schon zuvor gesehen hatte. Auch Pikel hatte das, und er wie die Frau warfen sich zur Seite, weil sie einen Blitzschlag erwarteten. Cadderly bewegte sich nicht, zuckte nicht mit der Wimper. Ein fast durchsichtiges, leicht schimmerndes Energiefeld erschien in der Türöffnung. Bogos Angriff traf es mit voller Wucht. Der Blitz schlug heftig gegen die Barriere, knisterte, schleuderte vielfarbige Funken und ließ über dem ganzen Feld ein grün‐oranges Spinnennetz aus Energie entstehen, das schließlich auf der Türschwelle zusammenschmorte. Als es vorüber war, sah man eine winzige Wasserpfütze unterhalb des intakten Abwehrfelds. Mit weit aufgerissenen Augen begann der erschrockene Zauberer einen neuen Spruch – wie auch Cadderly. Bogo zog eine neue Zutat heraus und stimmte eilig seinen Gesang
an. »Nies«, befahl Cadderly. Bogo gehorchte, und sein Spruch war unterbrochen. Der hartnäckige Zauberer begann grollend von neuem. »Nies«, befahl Cadderly. »Oh, verflucht!« schrie Bogo und wischte sich das Gesicht. »Ihr könntet nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein«, erwiderte Cadderly ruhig. »Sollen wir das Spiel fortsetzen?« Das schimmernde Feld in der Tür verschwand, und Danica und Pikel stürmten herein. Bogo erkannte seinen Fehler. Er hätte »weiterspielen« sollen, wie der junge Priester es genannt hatte, Cadderly weiter zur Verteidigung zwingen und hoffen, dass sein Repertoire an Sprüchen das des Priesters überstieg. Danica rannte geradewegs auf ihn zu, ohne dass der überraschte Bogo überhaupt reagieren konnte. Er warf abwehrend die Arme hoch, und prompt schob die Adeptin ihre Arme zwischen die des Zauberers, zog sie herunter und umschlang Bogo fest. Immerhin konnte er ein Handgelenk verdrehen und eine blutige Linie in Danicas Ärmel schneiden. Ein unsichtbarer Dolch! Danicas Fuß schoss hoch und trat Bogo die Nase ein. Der benommene Zauberer leistete keinen Widerstand, als Danica seinen anderen Arm losließ, ihre freie Hand über die Rückseite seiner geballten Faust legte und seine Hand am Unterarm zurückriss, während sie gleichzeitig den Arm in die andere Richtung zog. Bogos Gesicht war schmerzverzerrt. Er versuchte, seine einzige Waffe zu halten, aber Danicas Fuß schoss wieder hoch; ihre Hand zog weiter. Einen Augenblick später schloss Pikel sich ihr an. »Oh«, sagte er trübsinnig, denn er war enttäuscht, dass der Spaß praktisch vorbei
war. Er hörte es klirren, als der unsichtbare Dolch auf den Boden fiel, und sah sich danach um. Neugierig kratzte er sich die grüngefärbten Haare. Cadderly lief zum Bett und winkte Danica, den Gefangenen dorthin zu führen. »Du kannst ihn loslassen«, erklärte der junge Priester. Danica ließ Bogos Arm nach einem schnellen, schmerzhaften Ruck los, stieß den Zauberer vorwärts und zwang ihn zum Hinsetzen. »Wir müssen uns unterhalten«, verlangte Cadderly ruhig. Bogo stierte ihn wütend an, eine lächerliche Drohung, aber Danica knuffte ihn dennoch ans Ohr. Stirnrunzelnd zeigte sie Cadderly ihren zerschnittenen Arm, um das Erstaunen auf seinem Gesicht zu beantworten. Das schien die Gewissensbisse des jungen Priesters zu dämpfen. »Dorigen hat Euch geschickt«, sagte Cadderly zu dem Mann. »Nein.« Cadderly sah ihn neugierig an. »Ich habe Mittel und Wege, herauszufinden, ob Ihr lügt«, warnte er. »Dann werdet Ihr nichts finden«, entgegnete Bogo. »Ihr wart mit den Nachtmasken zusammen, seid aber kein Mitglied ihrer Gilde«, stellte Cadderly fest. »Ihr werdet sterben«, versicherte Bogo, was ihm einen neuerlichen Knuff von Danica einbrachte. »Warum stellen sie mir nach?« fragte Cadderly. Da er keine Antwort erhielt, fügte er hinzu: »Ich könnte auch mit Eurer Leiche sprechen, wenn Euch das lieber ist.« Zum ersten Mal schien Bogo Angst zu haben. Die sichere Ruhe in Cadderlys Stimme verlieh seiner Drohung das Gewicht eines Versprechens, und weil Bogo lieber ein alter Zauberer werden wollte, antwortete er. »Ihr wart im Weg«, stammelte der junge Zauberer, »in der Bibliothek und im Wald. Ihr habt Abal –« Bogo brach abrupt ab.
»Wen?« hakte Danica nach, die ihr Gesicht genau vor Bogos brachte. »Aballister«, gestand Bogo, »Dorigens Mentor, meinen Mentor.« Cadderly sah Danica besorgt an. Dorigen war eine mächtige Gegnerin gewesen. Wie stark mochte ihr Mentor sein? »Ich bin nur als Beobachter mitgekommen«, fuhr Bogo fort, »wie mir geheißen wurde.« »Ach?« schnitt Pikel ihm das Wort ab, drängte Danica weg und zeigte das versengte. Loch in seiner Ledertunika, das Bogos Blitzschlag in der »Drachenbörse« hinterlassen hatte. Aus Bogos Gesicht wich alles Blut, und seine wachsende Verzweiflung zwang ihn zu einer verzweifelten Tat. Er schob eine Hand in die Tasche, griff eine Handvoll Kiesel und warf sie auf den Boden. Es gab eine Reihe kleiner, rasch aufeinanderfolgender Explosionen, bei denen bunte, Rauchwölkchen in die Luft schossen. Die Knaller konnten den Gefährten nichts tun, lenkten sie nur ab. Mit einem schnellen Singsang verkleinerte sich Bogo bis auf Katzengröße und schlüpfte zwischen Cadderly und Pikel hindurch. Cadderly wollte aufschreien, konnte sich aber nicht schnell genug entscheiden, ob er seinen Freunden zurufen sollte, Bogo aufzuhalten, oder dem Zauberer eine Drohung nachschreien sollte. Schließlich drängte sich Danica zwischen ihm und Pikel durch und folgte dem logischen Weg des Zauberers zur Tür. Sie hörten, wie die Tür zuschlug – der Rauch begann sich zu lichten –, und Bogo, der vor dem Zimmer wieder mannsgroß war, begann ein neues Lied. Danica blieb klugerweise stehen. Hinter der Tür hörten sie Bogo entsetzt aufschreien. Es folgten rasche Schritte, dann ein scheußlicher Schlag, dann etwas Schweres, das gegen die Tür fiel. Cadderly schüttelte den Kopf und sah weg. Die Spitze von Ivans Doppelaxt stak durch die Tür. Dunkelrote Tropfen fielen zu Boden.
Als ob das nicht schon makaber genug wäre, griffen die Finger des Zauberers hilflos zuckend durch das Loch, das Pikels Keule in die Tür geschlagen hatte. Gezogen von Bogos Gewicht, öffnete sich knarrend die Tür. Pikel ging an Danica vorbei, machte die Tür ganz auf, spähte um die Ecke und sagte: »Oh!«, als er den hängenden Zauberer anschaute. »Hab’ ich doch gleich gesagt, dass man einem Zauberer nicht trauen kann«, erklärte Ivan, der drei Schritt weiter unten im Gang stand. Er marschierte zur Tür und winkte die Gruppe aus dem Raum heraus. Der junge Priester warf unwillkürlich noch einen Blick auf den toten Zauberer, der wahrscheinlich jünger gewesen war als er selbst. »Wir haben ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt«, bemerkte Cadderly. Ivan trat die Tür zu, spuckte in die Hände und stellte einen Stiefel neben Bogo auf, tim ihn zu halten. »Willst du ihm was auf den Grabstein schreiben?« fragte er schroff. Danica beobachtete den jungen Priester genau auf irgendwelche Anzeichen von Schwäche. Diesmal jedoch schien Cadderly seine Gefühle zu kontrollieren und die Schuld zu akzeptieren. »Einfach so«, antwortete er Ivan und zuckte resigniert die Schultern, als ob er den Vorfall schon verdrängt hätte. »Zieht ihn wieder in das Zimmer«, wies Cadderly die Zwerge an. Kopfschüttelnd dachte er an seine Drohungen, mit denen er den Gefangenen nur hatte einschüchtern wollen. Er konnte wirklich mit Bogos Leichnam sprechen. Es gab nur noch den See und die leere Straße. Carradoon beruhigte sich deutlich, als die Dämmerung hereinbrach, und das Interesse an den ungeheuerlichen Vorgängen in der »Drachenbörse« war schnell verflogen. Nur wenige Gäste waren in dem verwüsteten
Gasthaus geblieben, und nachdem Cadderly und seine Gefährten das Haus verlassen hatten, war der Ort ruhig – zu ruhig für Kierkan Rufo. Der hagere Mann stand vor dem kleinen Fenster seines Zimmers. Viele Minuten verstrichen, ohne dass Rufo sich bewegte. Diesmal war er zu weit gegangen, erkannte er. Er hatte die Grenze zur dunklen Seite seines Wesens überschritten. Er bezweifelte, dass er den Schritt je rückgängig machen konnte. Jetzt stand er nachdenklich da und versuchte nachzuvollziehen, wie er in diese entsetzliche Lage geraten war. Es hatte in der Bibliothek begonnen, als er dem bösen Barjin begegnet war und auf seinen Befehl Cadderly die Stufen zu den versteckten Katakomben hinuntergestoßen hatte. Diese Übertretung konnte Rufo sich verzeihen, und auch alle anderen Mitglieder seines Ordens, einschließlich Cadderly, hatten ihm verziehen. Im Elfenwald hatte Rufo seine Gefährten erneut verraten, aber er hatte es wiedergutgemacht, indem er seine Begleiter schließlich doch mit den Informationen versorgt hatte, die sie für den Sieg brauchten. Wie in der Bibliothek hatten die Anstrengungen von Cadderly und den anderen eine Katastrophe verhindert und geholfen, Rufos Schwächen zu kaschieren. Jetzt lag Avery tot dort unten. Rufo hatte den Großmeister einer Assassinenbande ausgeliefert. Rufo hatte die Grenze überschritten. Er versuchte, seine Handlungen zu rechtfertigen, sagte immer wieder, dass er keine Wahl gehabt hatte, dass die Assassinen ihn getötet hätten, wenn er nicht mitgespielt hätte. Die Tatsachen sprachen gegen seine Ausrede. Cadderly, Danica und die Zwerge (wo waren denn die zwei eigentlich hergekommen?) hatten gesiegt und die Bande verjagt. Wenn Rufo gleich nach seinem ersten Treffen mit dem jungen Zauberer zu ihnen gegangen wäre, wäre ihr Sieg noch leichter gewesen. Avery würde leben. Der eckige Mann drehte sich wimmernd vom Fenster weg, denn er
kam sich plötzlich sehr angreifbar vor. »Er hat sein Schicksal verdient«, murmelte Rufo finster, während er sich daran erinnerte, wie Avery ihn seit den Vorfällen in Shilmista behandelt hatte. Avery hätte seinen Aufstieg im Orden des Deneir verhindert; der Großmeister hatte ihm sogar gedroht, ihn aus der Bibliothek zu werfen! Das war keine Gerechtigkeit, fand der empfindliche Rufo, denn schließlich hatte der Großmeister alle Macht, und Rufo konnte nur dastehen und sein Schicksal von Averys Lust und Laune bestimmen lassen. Bis Rufo das kleine Zimmer durchquert und sein Bündel ergriffen hatte, waren seine Schuldgefühle dem Zorn gewichen. Er hatte es Avery auf die einzige Art heimgezahlt, die ihm geblieben war, und jetzt war es geschehen. Keiner verdächtigte ihn. Sein Mitverschwörer, der Zauberer, war bereits geflohen, und die Fragen der Stadtwache hatte Rufo leicht abgewehrt. Was noch tröstlicher war: Cadderly hatte die Schlussfolgerungen der Wachen offenbar geglaubt, denn er hatte Rufo keine einzige Frage zu den tragischen Ereignissen gestellt. Rufo musste sein Lächeln unterdrücken, als er Fredegar (aus Averys Börse) die Zeit im Gasthaus bezahlte. Er erklärte dem gastlichen Wirt, dass er sofort in die Erhebende Bibliothek zurückkehren müsse, um von dem tragischen Verlust zu berichten. Draußen wurde es dunkel, als er die »Drachenbörse« verließ, dunkel wie der Pfad, den Kierkan Rufo hinabgestolpert war. Die vier Freunde verließen das andere Gasthaus kurze Zeit später. Cadderly warf dem ängstlichen Wirt noch einen Beutel Münzen zu, um für den Schaden und die Beseitigung von Bogos Leiche aufzukommen. »Wohin gehen wir?« fragte Ivan, der jetzt, wo er den möglichen Aufenthaltsort weiterer Feinde kannte, unbedingt weiterkämpfen wollte. »Zurück in die ›Drachenbörse‹«, erwiderte Cadderly schlicht. »Was machen wir, wenn wir dort sind?« fragte Ivan, den diese Entscheidung nicht besonders glücklich machte.
»Wir warten«, antwortete Cadderly, um den kampflustigen Zwerg zu beruhigen. »Wir haben heute schon genug getan und brauchen alle etwas Schlaf.« Cadderly glaubte, was er sagte. Er hatte heute auf so viel Magie zurückgegriffen, dass er ausgelaugt war, und er wollte wirklich nur noch ein paar Stunden Ruhe. Nach dem, was er von Bogos Geist erfahren hatte, war der junge Priester allerdings nicht besonders sicher, ob sich sein Wunsch erfüllen würde. Die Luft draußen war kühl, als die Nacht hereinbrach und die ersten Sterne am Himmel auftauchten. Es würde eine lange Nacht werden.
Lockvogel Pikel Cadderly achtete kaum auf das Geplänkel unter seinen Freunden. Er saß an seinem kleinen Tisch neben dem Buch der Universellen Harmonie und setzte weiter die Teile seines geistigen Puzzles zusammen, indem er jede verfügbare Erinnerung auswertete. Seine Gedanken drehten sich jedoch nicht nur um das Sammeln von Informationen. Cadderly dachte immer wieder an das Bild, das Gefühl, das ihm Averys Seele vermittelt hatte, die selige Freude, die der tote Großmeister jetzt gefunden hatte. Die Zweifel des jungen Priesters, die ihm sein ganzes spirituell leeres Leben lang gefolgt waren, konnten die heilige Barriere dieses Gefühls nicht durchdringen. Cadderlys Logik, die auf Informationen begründet war, die er sehen und mit eigenen Sinnen prüfen konnte, wirkte lächerlich, verglichen mit dem Lächeln in Averys Geist. Cadderly war bis in die Grundtiefen seiner Existenz erschüttert, und doch fühlte der junge Priester keine Reue und keinen Verlustschmerz. Ganz im Gegenteil. Das Geheimnisvolle an allem flößte Cadderly eine Hoffnung ein, die alles überstieg, was er je gekannt hatte. Statt abzustreiten, was er gespürt hatte, musste der junge Priester einfach nur seine Grundtiefen erweitern, um diese wunderbaren neuen Enthüllungen miteinzuschließen. Bei Cadderlys unwillkürlichem Lachen drehten sich Danica und Ivan, die auf dem Bett saßen, zu ihm um, und ihre Blicke rissen wiederum den jungen Priester aus seinen Gedanken. Cadderly zuckte die Schultern, ohne zu wissen, wo er anfangen sollte. »Menschen«, brummte Ivan, aber Danica nickte dem jungen Priester zu, als ob sie die Lösungen verstünde, zu denen Cadderly fand.
Liebste Danica, dachte Cadderly und zweifelte nicht daran, dass sie es wusste und guthieß. Pikel schlich durch das Erdgeschoss der »Drachenbörse« und hielt sich – auf der Suche nach den Vorratsschränken – im Schatten verborgen. Es war spät, und der Zwerg war hungrig, denn er hatte im Laufe dieses erschöpfenden Tages drei von vier Mahlzeiten versäumt. »Hihihi«, zwitscherte der Zwerg, als er Kekse und süßen Kuchenteig fand. Er steckte das Amulett, das Cadderly ihm gegeben hatte, in die Tasche und rieb sich eifrig die dicken Hände. Seine engelhaften Grübchen verrieten seine Begeisterung. Der Zwerg nahm einen Armvoll Essen mit, als er die neue Treppe zum Obergeschoss hochstieg. Jeder Tritt auf die Stufen, die er und Ivan wieder zusammengezimmert hatten, half ihm, seinen Raub zu rechtfertigen. Sein Lächeln verschwand jedoch, ehe er Cadderlys Zimmer wieder erreicht hatte, und als einen Augenblick später ein schmächtiger kleiner Mann auf ihn zukam, fiel ihm ein halber Keks aus dem Mund. Danica und Ivan rangen auf dem Bett. Zu Ivans ungläubigem Erstaunen bewies die junge Frau, dass ihre Konzentration den Zwerg daran hindern konnte, beim Armdrücken ihre Hand herunter zu zwingen. Der starke Zwerg, dessen knallrotes Gesicht von seinem gelben Bart umrahmt war, drückte und zog mit aller Kraft zur Seite, aber der Arm der Frau, der im Vergleich zu Ivans angespannten, geschwollenen Muskeln winzig aussah, gab keinen Fingerbreit nach. »Du hast einen Stärkeren gefunden«, meinte Cadderly zu Ivan, was den Zwerg nur noch mehr aufbrachte. Er sprang auf und drückte mit aller Kraft, wodurch das Bett ein Stück verrutschte. Danicas Haltung aber blieb unverändert.
Das plötzliche laute Scharren des Bettes ließ in Cadderly stille Alarmglocken ertönen. Der junge Priester hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er und seine Freunde wieder im Gasthaus waren, aber er wollte seinen möglichen Feinden nicht zu viele Informationen geben. »Ruhe!« flüsterte er heftig, und weil ihm Pikel einfiel, schloss er die Augen und suchte in Gedanken nach dem vermissten Zwerg. Er erwartete ähnliche Gefühle wie vorher – vor allem Hunger –, doch als Cadderly über das telepathieverstärkende Amulett Kontakt aufnahm, riss er die Augen weit auf. Die Gefühle waren vage, wie erwartet, aber statt entfernter Gedanken an Brötchen und Bier sah Cadderly geduckte, schwarze Schatten. Das war nicht Pikel am anderen Ende! Bilder vom toten Brennan und dem armen Namenlos durchsetzten Cadderlys wachsende Panik. Der junge Priester brach auf der Stelle den Kontakt ab und sprang vom Stuhl. »Ich krieg’ dich doch!« fauchte Ivan Danica an, ohne auf Cadderlys Erschrecken zu achten. Danica jedoch, die in Cadderlys Richtung blickte, entging sein Verhalten nicht. Ivan warf ihren Arm aufs Bett, als sie aus der Meditation kam, und knurrte siegreich, bis ihm auffiel, dass Danica ihn gar nicht beachtete. Die junge Frau kletterte über das Bett an Ivan vorbei. Als der Zwerg sich umdrehte, sah er sie und Cadderly den Raum verlassen und erkannte, dass das Problem wahrscheinlich seinen abwesenden Bruder betraf. Ohne auch nur seine Axt zu suchen, stürzte Ivan halb krabbelnd, halb rennend aus der Tür, um ihnen zu folgen. Der arme Pikel hatte sich noch nie so schwach gefühlt! Wie vom Donner gerührt starrte er an sich herunter – oder wenigstens seinem Körper oder was das auch für ein Monster war, das ihn gestohlen hatte. Während Geist den Körper des Schwächlings noch an der Kehle hielt, hörte er das Gepolter im Gang und erkannte, dass Pikels
Freunde bald bei ihm sein würden. Der Gedanke brachte ein böses Grinsen auf die Zwergenlippen. Er schlug Pikels knochigen Arm beiseite und griff in eine seiner Taschen, aus der er ein kleines Päckchen holte. »Oooh!« heulte Pikel und wurde fast ohnmächtig, weil er das Ding für schreckliche Magie hielt und davon ausging, dass sein Leben zu Ende war, als Geist das Päckchen zwischen sie hielt. Aber Geist zerbrach es statt dessen über sich selbst, über seiner Zwergenhülle. »He?« machte Pikel, denn das Gesicht des angeblichen Zwergs war blutüberströmt – von Blut aus dem Päckchen. Mit einem Arm hob Geist die winzige Gestalt vom Boden und schleuderte Pikel durch den Raum, bis er gegen eine Wand knallte und zu Boden sank. Auch Geist fiel zurück, lehnte schwer an der Wand gegenüber der Tür und stöhnte. Der erzürnte Ivan hielt sowohl Cadderly als auch Danica hinten an der Tunika fest und warf sich an ihnen vorbei, sobald er erkannte, wohin Cadderly sie führte. Ohne seinen Hirschgeweihhelm stieß der Zwerg die Tür mit dem Kopf auf und stürmte ins Zimmer. Pikel hob taumelnd einen zitternden Finger und zeigte anklagend durch den Raum auf die schmale, menschliche Gestalt, die an der Wand entlangkroch. »Brüderchen!« brüllte Ivan und stürmte mit ausgestreckten Händen vor, um den schwächlichen Mörder zu erdrosseln. Auch Danica folgte dem zitternden Finger des angeblichen Zwergs, doch Cadderly betrat den Raum langsamer und wachsam. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem scheinbar verwundeten Zwerg. Er hörte das Lied des Deneir in seinen Gedanken, sah die Schatten auf den Schultern des Zwergs – angeblich Pikels! »Ivan!« schrie er und schwang Pikel im Vertrauen auf das Lied die
Spindelscheiben aus Adamant ins Gesicht. Der Zwerg fiel rückwärts gegen die Wand. Echtes Blut vermischte sich mit dem vorgeblichen auf dem grüngefärbten Bart. »Ooooh«, stöhnte er. Auf der anderen Seite ließ Ivan den Schwächling los und kam angerannt, um sein neues Opfer zu würgen. Cadderly hatte seinen wissenden Blick nicht von dem Zwerg gelöst. Er sah die Schatten auseinanderbrechen und in Pikels Schultern verschwinden. Ivan packte seinen Bruder mit beiden Händen und riss ihn hoch, um ihn gegen die Wand zu drücken. »Ooooh!« stöhnte Pikel wieder. »Halt, Ivan«, sagte Cadderly ruhig. »Pikel ist wieder da, wo er hingehört.« Cadderly nickte Danica zu, die sich wieder zu dem Assassinen umdrehte, bereit, ihn jeden Moment anzuspringen. »Ihr könnt nirgendwohin«, sagte Cadderly zu Geist. Er stellte sich neben Danica. »Ich kenne Euch.« »Hätte die verdammten Scheiben nicht so gut machen sollen«, hörte Cadderly Ivan hinter ihm sagen, während Pikel immer noch stöhnte. Der junge Priester sah sich kurz um. Ivan kümmerte sich um Pikels blutiges Gesicht. Als er sich umdrehte, waren die Schatten von den Schultern des winzigen Assassinen verschwunden. Cadderlys Blick schoss durch den ganzen Raum, denn er fürchtete, dass der Mann wieder in einen seiner Freunde gefahren war. Seine drei Gefährten jedoch wirkten genau wie vorher, sahen ihn abwartend und mittlerweile verwirrt an, weil sie den plötzlichen Zwiespalt des Priesters bemerkten. »Wer seid Ihr?« murmelte Cadderly in sich hinein, als er sich zu dem schwachen Mann umdrehte. Er ließ das Lied von Deneir lauter durch seinen Kopf klingen, musterte die Aurora dieser neuen Identität.
Er fühlte einen kalten Wind, sah eine verlassene, felsige Küste vor turmhohen Bergen. Riesige Eisschollen übersäten die Bucht; Wellen brachen gegen ihre unverwundbaren Seiten, und ein gewaltiges Schiff lag im ruhigeren Wasser nahe der Küste und wartete auf die mächtigen Arme, die seine ernormen Riemen ziehen konnten. Cadderly blickte dem Schwächling ins Gesicht und sah echte Angst und unerwartete Resignation. Danica spürte, dass der winzige Kerl aus der Tür flitzen wollte, und bereitete sich auf den Sprung vor, der ihn daran hindern würde. Doch ein Flüstern drang ihr ins Ohr, eine magische Botschaft von Cadderly. Neugierig sah sie ihren Freund an. Der kleine Mann rannte durch die Tür. Danica lief ihm nach, ebenso Cadderly, so dass die beiden einander so praktisch behinderten, dass der Mann davonkam. Ivan ließ Pikel hart auf den Boden fallen, zuckte aber zusammen, als sein Bruder daraufhin stöhnte. »Halt!« schrie Cadderly, der dem Fliehenden nachsah. Der Befehl zielte jedoch nicht auf den Schwächling und hatte das Gewicht beträchtlicher magischer Energie. Ivan blieb unwillkürlich stehen, so dass der Mann hinausrennen konnte. Danica nahm halbherzig die Verfolgung auf, wie Cadderly es ihr aufgetragen hatte. Einige Augenblicke darauf kam sie aus der Vordertür der »Drachenbörse«, sah den Mann um eine Ecke biegen und lief absichtlich in die entgegengesetzte Richtung, um mit leeren Händen zurückzukehren, nachdem eine angemessene Zeit verstrichen war. Oben im Zimmer starrte Ivan Cadderly ungläubig an und tappte ungeduldig mit seinem schweren Stiefel auf den Dielenboden. »Weiter warten?« fragte der gelbbärtige Zwerg schroff. Cadderly lächelte und nickte. »Nicht zu lange«, versprach er, und er glaubte, was er sagte. Das Puzzle war fast vollständig.
Der Gegenschlag »Ja, da werd’ ich doch zum Goblin«, flüsterte Ivan, der über die rückwärtige Dachkante des Gebäudes neben der »Drachenbörse« spähte. Der Marktplatz war, wie immer um diese Tageszeit, gut besucht, doch eine Gestalt hatte der Zwerg eindeutig erkannt, einen schiefen, ungelenken Mann, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. Danica, die dem Fingerzeig des Zwergs folgte, fand Rufo augenblicklich und war auch schon über die Kante gesprungen, um in die Gasse hinunterzuklettern und den Mann unbemerkt zu verfolgen. »Ich hätte gedacht, der wäre schon längst weg«, meinte Ivan zu Cadderly, der weiter vom Rand entfernt saß, das Buch der Universellen Harmonie aufgeschlagen vor sich liegen hatte und die Augen geschlossen hielt. Der junge Priester schüttelte den Kopf. Er war nicht im mindesten überrascht. »Rufo würde sich nicht allein in die Berge wagen«, erklärte Cadderly, dasselbe Argument, das er benutzt hatte, als Fredegar den Freunden erzählt hatte, dass Rufo in die Bibliothek aufbrechen wollte. »Wahrscheinlich hat er in der Stadt eine Bleibe gefunden, vielleicht im Tempel des Ilmater.« Ivan und Pikel sahen einander schulterzuckend an, denn keiner von ihnen wollte Cadderlys Logik hinterfragen. Ihr junger Freund hatte sie durch diese fortwährenden Mysterien geführt, als ob er alle Antworten wüsste – oder zumindest, wo sie zu finden waren. Pikel zuckte abermals die Schultern und spazierte über das Dach, um die Promenade zu beobachten, während Ivan weiter den Marktplatz absuchte. Sie waren schon über einen Tag auf dem Dach, warteten mit aller Geduld, die von Zwergen erwartet werden durfte.
Ein paar Minuten später war Danica zurück. Mit Leichtigkeit kam sie an der Rückseite des Gebäudes hochgeklettert. »Er ist bei den Priestern des Ilmater«, berichtete sie. Cadderly nickte schweigend, ohne die Augen aufzuschlagen und die Trance zu unterbrechen, in der er seit Stunden schwebte. »Er wusste es«, bemerkte Ivan trocken. Allmählich kam sich der Zwerg wie ein Bauer auf dem Schachbrett eines anderen vor. Unhörbar flüsterte Ivan: »Dieser verdammte eitle Priester weiß alles.« »Noch nicht«, erwiderte Cadderly, was ihm ein weiteres ungläubiges Kopfschütteln von Ivan einbrachte. Cadderly hätte seine Bemerkung über zwanzig Fuß Entfernung unmöglich hören dürfen. Geschlagen ging Ivan wieder daran, nach dem geflohenen Assassinen Ausschau zu halten, nach Kierkan Rufo oder allem und jedem, der den Freunden einen Hinweis geben konnte. Nicht, dass er glaubte, dass Cadderly noch irgend etwas brauchte. Sobald er wieder Kontrolle über seinen Riesenkörper hatte, begann Vander, nervös in der Scheune auf und ab zu gehen und seine riesigen Arme zu recken. Er wäre beinahe gefangen worden, und ehrlich gesagt wusste der Firbolg nicht, wie er den Körper des Schwächlings schnell genug bewegt hatte, um aus dem Zimmer und dem Gasthaus zu entkommen. Er hatte eine üble Nacht auf den Straßen von Carradoon verbracht, in der er befürchtete, dass Geist ihm seine wahre Gestalt niemals zurückgeben würde, in der er dauernd über die Schulter blickte, immer in der Erwartung, dass Cadderly, die Frau oder die beiden wilden Zwerge sich auf ihn stürzen würden. Aber jetzt war er zurück auf dem Hof und in seinem vertrauten Körper. Er spähte aus der Tür zu dem stillen Haus und auf den leeren Hof, weil er nicht wusste, ob die vier verbliebenen Assassinen noch da waren.
Vier verbliebene Assassinen! Mindestens elf der Mörder waren tot, fünf andere vermisst. Nur Geist lief noch durch die Straßen von Carradoon, dazu vielleicht der Zauberer, Bogo Rath. Und Cadderly, der jetzt von mächtigen Verbündeten umringt war, war quicklebendig und hellwach. Bei ihrem letzten Seelentausch hatte Vander jedoch deutlich gespürt, dass Geist immer noch selbstsicher war und dass der kleine Mann tatsächlich die Herausforderung dieser schwierigen Jagd genoss. Geist war schon zuvor in Schwierigkeiten geraten, hatte ganze Banden verloren, nur um den Spieß dann doch noch umzudrehen und das Opfer zu erledigen. Er war selbstsicher und eingebildet wie ein wahrer Krieger. Natürlich wurde die Bewunderung des Firbolgs für den kleinen Mann durch das Wissen geschmälert, dass Geists Selbstsicherheit darauf begründet war, dass der Schwächling aus jeder Lage einen schnellen Ausweg hatte. Solange Vander in sicherer Entfernung vom Kampf ausharrte, hatte Geist immer einen schnellen, leichten Fluchtweg. Wie praktisch. »Was ist?« Danica stellte ihre Frage, kurz nachdem Cadderly zum erstenmal seit Stunden die Augen aufgeschlagen hatte. Der junge Priester hatte die Stadt abgesucht, hatte mit Suchsprüchen nach der speziellen magischen Ausstrahlung des seltsamen Gegenstands gefahndet, den der böse, kleine Assassine mit sich führte. »Eine Veränderung der Kraft«, erklärte Cadderly geistesabwesend, weil seine Gedanken immer noch fest auf den Ghearufu konzentriert waren. Ivan, der einige Fuß weiter stand, aber den Wortwechsel mitbekam, wackelte ungläubig mit dem Kopf. »Wenn du weißt, wo das
verdammte Ding steckt –«, fing er an. »Das weiß ich nicht«, unterbrach ihn Cadderly, »nicht genau. Unser Feind ist in der Stadt, irgendwo südlich von hier – oder ich sollte besser sagen, unser Feind ist gerade in die Stadt zurückgekehrt.« Danica legte neugierig den Kopf schief und strich die störrische Haarlocke aus ihrem Gesicht. »Er hat die Stadt verlassen, während wir ihn drüben im Zimmer in die Ecke getrieben haben«, versuchte Cadderly zu erklären. »Magisch. Der Mann, der vor uns davongerannt ist, oder jedenfalls die Seele des Mannes im Körper des Mörders war nicht dieselbe verschlagene Person, die Pikel in Besitz genommen hat.« Ivan wackelte wieder mit dem Kopf. Er war viel zu verwirrt, um irgend etwas anmerken zu können. »Jetzt ist er wieder in Carradoon«, fuhr Cadderly fort. »Und wir müssen ihn suchen?« stellte Danica fragend fest. Zu ihrer Überraschung schüttelte Cadderly den Kopf. »Was hätten wir davon?« fragte der junge Priester. »Unser Feind würde nur erneut fliehen.« »Und was sonst, hm?« grunzte Ivan, der Cadderlys unverständliche Andeutungen leid war. »Sollen wir hier sitzen und warten, bis die Mörder uns finden?« Wieder schüttelte Cadderly den Kopf, und diesmal war diese Geste von einem breiten, bösen Lächeln begleitet. »Wir ziehen los, um unseren trickreichen Freund von hinten zu erwischen«, erklärte er und dachte an den Hof, den Bogo Raths Geist ihm beschrieben hatte. »Seid ihr bereit für einen Kampf?« Ivans dunkle Augen flogen bei dieser unerwarteten Einladung weit auf, und seine Antwort beglückte seinen Bruder: »Hihihi.« »Da!« flüsterte Cadderly rau und zeigte auf ein Fenster unter den
langen Zweigen einer ausgedehnten Ulme. »Im Haus ist jemand an dem Fenster vorbeigelaufen.« Cadderly überblickte den Hof, denn er fragte sich, bis wohin Danica inzwischen heimlich vorgerückt war. Die junge Adeptin war nirgendwo zu sehen, war in den Schatten verschwunden. »Es wird Zeit«, sagte Ivan zu Pikel, während er seine große Axt hochnahm. Pikel griff seinem Bruder an die Schulter und maunzte. Er zeigte flehentlich auf den Baum. »Ich kletter’ nicht schon wieder einen Baum hoch«, knurrte Ivan, aber gegen Pikels mitleiderregenden Gesichtsausdruck kam sein Ärger nicht an. »Na gut«, gestand der schroffe Zwerg ihm zu. »Du kannst ja gehen.« Da hüpfte Pikel herum, und sein breites Lächeln verschwand unter seinem Helm, als der Kochtopf über sein Gesicht rutschte. Ivan rückte ihn grob wieder zurecht, setzte seinen eigenen Hirschgeweihhelm auf und stieß seinen Bruder vorwärts. »Ivan«, sagte Cadderly ernst, bevor sie auch nur zwei Schritte gemacht hatten. Der Zwerg warf dem jungen Priester einen säuerlichen Blick zu. »Es wird niemand getötet, wenn es zu vermeiden ist«, sagte Cadderly fest, »wie verabredet.« »Wie du mit dir selbst verabredet hast«, stellte Ivan richtig. »Ivan.« Der Nachdruck in Cadderlys Stimme rief ein Stirnrunzeln bei dem Zwerg hervor. »Das verdammte Jungchen gönnt uns gar keinen Spaß«, meinte Ivan zu Pikel, als die zwei sich umdrehten und wieder loszogen. Rutschend, hüpfend, krabbelnd und übereinanderpurzelnd erreichten sie schließlich irgendwie den Stamm der großen Ulme. Cadderly schüttelte ungläubig den Kopf. Eigentlich hätte der Krach der Zwerge das ganze Land auf sie aufmerksam machen müssen. Er
schüttelte weiter den Kopf, als Pikel auf Ivans Schultern kletterte, um vergeblich nach dem untersten Ast zu greifen. Der grünbärtige Zwerg hüpfte hoch, ließ Ivan seine Keule auf den Kopf fallen, konnte dann aber den Ast erwischen. So wie Pikel mit wild strampelnden Beinen an den Fingern hing, wäre er nie nach oben gekommen, wenn Ivan die Keule nicht prompt zurückgegeben hätte, indem er sie gegen Pikels Rumpf schlug und ihn fast über den dicken Ast warf. »Ooooh!« stöhnte Pikel leise, rieb sich das Hinterteil und nahm die Keule von Ivan entgegen. Cadderly seufzte tief. Die Zwergenbrüder waren begabter zur Verteidigung als für heimliches Anschleichen. Die Wache der vier verbliebenen Nachtmasken schüttelte ebenfalls ungläubig den Kopf, als sie die Eskapaden der Zwerge beobachtete. Der Mann hockte in dem engen, stinkenden Hühnerstall, ein Bein auf der Hockstange, die von Wand zu Wand verlief, und spähte durch eine Ritze in den alten Brettern, die gerade ausreichte, seine Armbrust anzulegen und zu zielen. Ivan hielt er für den stärkeren Gegner. Wenn er erst den Zwerg auf dem Boden erwischt hatte, würde der andere auf dem Baum ernste Schwierigkeiten bekommen. Zack! Die überraschte Nachtmaske fuhr hektisch herum und schoss, als sie wirbelnde Bewegungen sah. Die Luft war voller Hühner – eins weniger, das der Armbrustbolzen durchschossen hatte –, aber in dem düsteren, engen Stall wirkten die Vögel für den Mann wie ein bedrohlicher gefiederter Gegner. Zweimal wurde er getroffen, ins Gesicht und am Hals, und fühlte, wie Flüssigkeit über seine Tunika rann. Er tastete nach den Wunden, um den Blutfluss aufzuhalten. Der erleichterte Mann hätte fast laut aufgelacht, als er feststellte, dass das Blut in Wirklichkeit Eier waren… bis ihm klar wurde, dass jemand hinter der Barrikade flatternder Hühner sie nach ihm geworfen haben musste. Fauchend ließ er seine Armbrust fallen und zog einen schmalen Dolch.
Die Hühner beruhigten sich rasch. Der Assassine konnte keinen Feind im Stall entdecken. Die Bank, dachte er. Sein Gegner musste unter der Bank sein. Sein Lächeln verschwand, und sein Mund ging auf, als er sich bücken wollte. Unter der Bank – und vielleicht hinter ihm. Eine Hand schlug dem Mann über den Mund, die zweite ergriff seine Waffenhand. Er riss die Augen weit auf, dann schlossen sie sich fest angesichts des brennenden Schmerzes, als sein eigenes Messer seine Kehle durchtrennte, das Kinn durchbohrte und unbeirrt bis ins Hirn drang. Danica warf den Mann hin und drehte sich nach den Zwergenbrüdern um. Ivan war inzwischen unter dem Fenster angelangt, während Pikel sich genau über ihm im Baum vorarbeitete. Das musste mit einer Katastrophe enden, fürchtete Danica und beschloss, lieber wieder rauszugehen und sicherheitshalber einen neuen Platz zu suchen. Sie hielt inne, bevor sie über den toten Assassinen stieg, und dachte über den Mord nach. Cadderly hatte darauf bestanden, dass kein Mensch getötet werden sollte, sofern es zu vermeiden war, und obwohl Danica diese Übereinkunft genauso absurd fand wie Ivan, fühlte sie sich jetzt schuldig, weil sie gegen den Wunsch ihres Geliebten verstoßen hatte. Vielleicht hätte sie diese Wache überwältigen können, ohne sie zu töten. Dennoch empfand Danica kein Mitleid für den Mann, den sie umgebracht hatte. Von allen vier Freunden verstand sie die Motive und Methoden der Assassinengruppe am besten, und wer die silberschwarze Maske der unmoralischen Gilde anlegte, hatte von ihr keine Gnade zu erwarten. Ivan, der genau unter dem Fenster stand, blickte frustriert zu Pikel
hoch, der sich einen sicheren Platz auf den schwankenden, äußeren Zweigen des Baumes suchte. Ivan legte die Axtkante ans Haus und fuhr damit langsam über die Wand, kratzte an jeder Schindel entlang. Kurz darauf spähte ein neugieriges Gesicht neben dem Vorhang hervor. Der Mann, der ein Schwert in der Hand hielt, richtete sich auf, weil er nichts sah, und reckte sich immer weiter über die Fensterbank. »Ha!« rief er, als er Ivan erblickte. Über ihm knackte ein Zweig. »Brüderchen«, erklärte Ivan, der nach oben deutete. »Oh«, erwiderte der verwirrte Assassine. »Ooooooh!« brüllte Pikel, der wie ein Pendel herunterschwang und das dicke Ende seiner Keule wie eine fette Lanze angelegt hatte. Der Mann versuchte, sein Schwert vor sich zu bringen, wurde aber vor die Brust getroffen und flog nach hinten, als hätte er im Korb eines Riesenkatapults gesessen. »Komm schon!« schrie Ivan, der zum Fensterbrett hochsprang und sich neben seinen Bruder heraufzog, welcher kopfüber ins Fenster hing. Pikel zuckte hilflos die Schultern. Es war nicht ganz so gelaufen wie geplant. Der Ast war gebrochen, und Pikels dicker Knöchel steckte in einer Astgabel fest, von der er jetzt hilflos herunterbaumelte. »Komm schon«, sagte Ivan wieder, der inzwischen im Zimmer stand. Er ergriff Pikels freie Hand, zog daran und zerrte den Zwerg halbwegs in den Raum. »Eh, eh«, versuchte Pikel zu erklären. Weil Ivan seinen Bruder nur für störrisch hielt, ließ er seine Axt fallen, griff mit beiden Händen zu und riss mit aller Kraft. Pikel kam tatsächlich herein, doch er zog den geknickten, unnachgiebigen Ast mit sich.
Vander hielt das Scheunentor fest und drückte genau gegen seine Angeln, damit es nicht so laut knarrte, als er es vorsichtig einen Spalt aufstieß. Aus diesem Winkel konnte er den Kampf am Fenster nicht sehen, nur die zitternden Äste der Ulme über der Ecke des Hausdachs. Das und das vorherige Gackern der Hühner verriet dem Riesen ohne jeden Zweifel, dass Eindringlinge hier waren. Vander hielt inne, denn er starrte ungläubig auf einen Feuerball, der wenige Fuß über ihm vor dem Scheunentor schwebte. Der Firbolg spürte die Gefahr. Wenn er sich bewegte, würde die Magie über ihn hereinbrechen. Worauf wartete der Zauberer? Langsam wich Vander in die Scheune zurück. Ein Flammenstrahl zuckte brüllend aus dem Feuerball herunter und verbrannte den Boden vor den Füßen des Firbolgs. Vander warf sich auf den Scheunenboden und zog die Tür hinter sich fest zu, denn er fürchtete, dass die Magie ihm folgen würde. Schwarzer Rauch drang durch die Türritze. Alles wurde pechschwarz. Der störrische Firbolg stand auf, denn er wusste, dass er durch die Tür gehen und die Falle verlassen musste. Alles wurde völlig still. Vander knurrte und zwang einen Fuß vor den anderen auf die Tür zu. Er hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob die Flammen noch da waren, aber er musste es versuchen. Er hörte kein Geräusch, doch es kam ihm so vor, als stürzte der Boden ihm entgegen, denn wirbelnder Staub biss ihn in die Augen und zwang ihn zurück. Er stolperte über unsichtbare Kisten und krachte ohne Aufschrei auf die Erde. Einen Augenblick später konnte der Firbolg wieder etwas sehen, denn die magische Dunkelheit löste sich auf. Vander hörte Holz knacken, als unter seiner Hand eine Planke zerbrach, und er hörte auch ein schwirrendes
Geräusch über sich, das ihn hellwach werden ließ, bis er versuchte, sich aufzurichten. Hilflos starrte der Firbolg in die Luft, wo dicht über seinem Kopf plötzlich Bilder von magischen, wirbelnden Klingen zu sehen waren. Vander hörte, wie das Tor sich knarrend öffnete, und sah hinüber. Dort stand ein junger Mann mit breitkrempigem, blauem Hut. »Die Klingen sind scharf«, sagte der junge Mann ruhig. Der gefangene Vander zweifelte keine Minute daran. »Ooooooh!« Danica, die zur Rückseite des Bauernhauses unterwegs war, hörte Pikels Schrei, als der Ast, der den Zwerg festhielt, wieder aus dem Fenster schnellte. Als der biegsame Ast ganz zurückgeschwungen war und die Richtung änderte, löste sich Pikels Knöchel, und der Zwerg segelte mit einem perfekten zweieinhalbfachen Salto kopfüber in den Staub. »Ich hab’ doch gesagt, du sollst nicht loslassen!« rief ein frustrierter Ivan, der Pikels Keule hielt, aus dem Fenster. Pikel zuckte die Schultern, rückte seinen Kochtopf zurecht und rannte zurück zu seinem Bruder. Gemeinsam schlichen die Zwerge durch den kleinen Raum. Er hatte zwei Türen, die zum Glück beide geschlossen waren, eine an der Wand zur Rechten, die andere genau gegenüber dem Fenster. Sie führte in eines der vorderen Zimmer. »Macht sich gut als Teppich, der da«, meinte Ivan, der geradeaus ging und dazu über den Rücken der Nachtmaske steigen musste, die weit ausgebreitet mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Instinktiv wackelte Pikel, der offene Sandalen trug, mit seinen knorrigen Zehen, während er hinter Ivan über den Rücken des Mannes stieg. Der grünbärtige Zwerg nickte, denn er war
überrascht, was für einen guten Teppich ein am Boden liegender Feind abgab. »Ist dir klar, dass sie wissen, dass wir hier sind?« fragte Ivan, als er die Tür erreichte. Pikel zuckte kurz die Schultern, als ob das kaum etwas zählte. Ivan nickte zustimmend und sah zu der Holztür hin. Das Lächeln unter seinen gelben Haaren wurde breiter. »Weißt du noch, wie wir ins Gasthaus gestürmt sind?« fragte er schlau. Die Tür brach aus den Angeln, Armbrüste klickten, und Ivan und Pikel hinter ihrem Riesenschild lachten böse, als sie die zwei Bolzen aus dem Holz hervorragen sahen. »Die sind so berechenbar!« erklärte Ivan und warf die ausgehebelte Tür zur Seite, so dass die Zwergenbrüder erkennen konnten, dass sie eine Küche betreten hatten. Pikel bog nach links ab, zu einem Mann, der zwischen ihnen und der Wand gefangensaß und sich durch das schmale Fenster zu zwängen suchte. Ivan schoss nach rechts, um den anderen Assassinen zu erwischen, der auf das zunehmende Tageslicht hinter der offenen Tür zuhielt. Pikel betrachtete die prekäre Lage des zappelnden Mannes nur kurz, dann schlug er seine schwere Keule auf den oberen Fensterrahmen, um den Mann noch fester einzuzwängen. »Hihihi.« Ausgesprochen zufrieden zog der Zwerg den Küchentisch heran, band dem Mann die Stiefel auf und schnürte sie an einem der Tischbeine wieder zu. Der letzte Mann blieb urplötzlich stehen und schwang herum, um den verfolgenden Zwerg durch die unerwartete Änderung seiner Taktik zu überraschen. Ivan war zu erfahren für diesen einfachen Trick. Rutschend kam er zum Stehen und hob seine riesige Axt, um die heruntersausende Schwertklinge einfach abzulenken.
Der Assassine wirbelte mit seiner Waffe über dem Kopf herum und drang wieder wütend auf den Zwerg ein, zielte erst nach links, dann nach rechts, um Löcher in Ivans Abwehr zu bohren. Einmal traf er Ivan an der Seite, doch der drehte sich mit dem Schlag, drückte die Axtkante gegen die dünne Klinge und schlug sie gegen die Wand. Der Assassine wich zurück, denn er hielt nur noch das Heft und zwei Fingerbreit seiner zerbrochenen Klinge in der Hand. Ivan sah zu dem durchgeschnittenen Riemen an der Seite seiner Rüstung. Eine einzelne Metallplatte hing einen Fingerbreit heraus, aber der Treffer des Assassinen hatte die Zwergenrüstung nicht einmal annähernd durchstoßen. »War es das wert?« fragte Ivan ganz ernst. Der Assassine fauchte und warf sein zerbrochenes Schwert nach dem unverschämten Zwerg, drehte sich um und schoss aus der Tür. Ivan wehrte den Schwertgriff ab und stürmte hinterher. Er warf sich hin, um den Mann an den Füßen festzuhalten, landete jedoch zu kurz und rumpelte die Verandatreppe hinunter. Die Nachtmaske drehte sich gar nicht erst um, sondern rannte zum Stall, sprang auf ein ungesatteltes Pferd, spornte das Tier an bis aufs Blut und setzte über das Gatter. Ivan stöhnte verärgert, weil einer entkommen war, rollte auf den Rücken – und sah Danica mit angelegter, geladener Armbrust auf dem Dach des Hauses knien. »Hast du je so’n Ding benutzt?« fragte der erstaunte Zwerg. Danica feuerte. Der Kopf des fliehenden Assassinen schnappte vorwärts, als der Bolzen in seinen Hinterkopf eindrang. Er blieb noch einige Momente sitzen, dann kippte er seitlich vom Pferd und fiel in den Staub. Das Pferd rannte weiter. »Ha«, antwortete Pikel, der hinter Ivan aus der Tür trat.
Ein unwiderstehliches Angebot »Wo ist der Große?« fragte Ivan, als er, Danica und Pikel Cadderly im Hof vorfanden, wo er an einem jungen Baum lehnte. Cadderly zeigte auf die Scheune. »Der ist beschäftigt«, erklärte der junge Priester trocken, während seine Augenwinkel sich zusammen mit dem zufriedenen Grinsen seines Mundes verzogen. »Unverletzt, aber nicht in der Stimmung, sich zu wehren.« Danica nickte. »Dann war unsere Vermutung richtig«, bemerkte sie, und ihre Stimme verriet unmissverständlich ihren Abscheu. »Die Bande wurde von einem Riesen angeführt.« Cadderly erinnerte sich an die Bilder, die er in der »Drachenbörse« auf den Schultern des kleinen Assassinen gesehen hatte. Die Veränderung der Aurora hatte dem aufmerksamen jungen Mann viel verraten, ihm die Identität und – was wichtiger war – die Einstellung des riesigen Anführers der Assassinenbande enthüllt. »Toter Riese«, höhnte Ivan hoffnungsvoll. »Nein«, antwortete Cadderly. »Bald?« fragte Ivan. »Ich glaube nicht«, erwiderte Cadderly. Der junge Priester sah sich im Hof um, schaute zum Hühnerstall, zum Fenster am Baum und zu der Leiche, die auf der Straße lag. »Ich wollte nicht, dass diese Männer getötet werden«, stellte er scharf fest. Ivan sah Danica an. »Wir hätten den lieber davonkommen lassen sollen«, flüsterte der Zwerg mit offenem Sarkasmus. Cadderly hörte den Kommentar und musterte den gelbbärtigen Zwerg stirnrunzelnd.
»Das war ein Kampf, du… «, setzte Ivan zum Protest an, warf aber dann angewidert seine dicken Hände hoch, schnaubte »Pah!« und stapfte davon. Ein paar Schritte weiter, hinter der nächsten Hausecke, entdeckte er die einzige überlebende Nachtmaske, die im Küchenfenster feststeckte und sich nicht länger gegen das drückende Gewicht wehrte. »Na also, Kerlchen«, bellte der Zwerg. »Mein Brüderchen hat noch ein Herz für deine törichten Wünsche.« Die anderen drei gesellten sich zu Ivan, um nachzusehen, was der Zwerg gefunden hatte. »Was hast du mit ihm vor?« fragte Ivan Cadderly, als der junge Priester den gefangenen Mann sah. »Hast du noch irgendwelche Fragen an ihn? Oder willst du ihn der Stadtwache übergeben, du gnädiger Dummkopf?« Cadderly musterte den Zwerg neugierig, weil er Ivans Zorn nicht verstand. Seine anschließende Frage klang deutlich nach einer Anklage: »Bist du so wild aufs Töten?« »Was glaubst du denn, was die Stadtwache mit ihm anstellt?« bellte Ivan. »Hast du deinen fetten Freund schon vergessen, wie er mit rausgeschnittenem Herzen auf dem Tisch lag? Und was ist mit denen, die hier gewohnt haben? Ja, glaubst du etwa, der Bauer und seine Familie kommen bald nach Haus?« Cadderly wendete den Blick ab, denn die ehrlichen Worte hatten ihn getroffen. Er übte lieber Gnade, hasste es zu töten, aber er konnte Ivans Feststellungen nicht widerlegen. »Du bringst uns hier raus und sagst, wir sollen halbherzig kämpfen«, plusterte Ivan sich auf. An den Enden seines dicken Schnurrbarts glitzerten Spucketröpfchen. »Wenn du denkst, dass ich meinen Hals riskiere, um solchem Abschaum noch ein paar schöne Tage zu gönnen, dann denkst du falsch!« Verwirrung führte zu Cadderlys nächstem Zug. Er rief das Lied aus seinem Hinterkopf herbei, hörte den Fluss der Magie von Deneir und fand eine Stelle, wo er in diesen süßen Fluss einstimmen konnte. Er war schon
mehrfach ganz in die spirituelle Welt eingetreten – im Wald von Shilmista, um Elbereths edlem Pferd Lebewohl zu sagen, in der »Drachenbörse«, um Brennans verlorenen Geist zu finden und die Wahrheit über Averys Reise in den Himmel zu erfahren – und jetzt fiel ihm der kurze Schritt gar nicht schwer. Sobald er ankam, sobald die materielle Welt hinter ihm zu verwischtem Grau verschwamm, hörte er die verzweifelten Schreie verlorener Seelen. Während sein äußerer Körper bei seinen nichtsahnenden Freunden stehenblieb, führte Cadderly seinen Geist zu der Leiche auf der Straße, dem Mann, den Danica vom Pferd geschossen hatte. Doch der Weg des jungen Priesters endete abrupt, weil die Bilder ihn entsetzten. Geduckte Schattenwesen, die den Umrissen jener grollenden, dunklen Schatten glichen, die er auf den Schultern der schlechten Männer gesehen hatte, umringten den verdammten Geist des Assassinen. Da bemerkte der tote Mann Cadderly und blickte verzweifelt zu ihm hin. Hilf mir, erklang sein lautloses Flehen. Cadderly wusste nicht, was er tun sollte. Die knurrenden Schattenwesen zogen ihren Ring enger. Dunkle Klauen langten nach ihren Opfern. Hilf mir! Cadderly wollte zu dem Mann hingehen, doch etwas, vielleicht seine Ängste, vielleicht das Wissen, dass er sich nicht einzumischen hatte, bannte den Geist des jungen Priesters. Schatten griffen nach dem verdammten Assassinen. Er wand sich verzweifelt, aber der dunkle Griff ließ nicht nach, ließ ihn nicht los. Hilf mir! Der Schrei zerriss Cadderly das Herz, entsetzte ihn und erfüllte ihn gleichzeitig mit Mitleid. Die Schatten schmolzen in den Boden und nahmen die Seele des Mannes mit. Nur noch seine Beine blieben sichtbar, traten
vergeblich nach allen Seiten. Dann waren auch sie verschwunden, in die ewige Hölle gezogen. Cadderly fand sich in seinem eigenen Körper wieder. Seine Augen waren weit aufgerissen, von seiner Stirn perlte der Schweiß. »Was denkst du?« wollte Ivan wissen. »Vielleicht hatte ich unrecht«, gab Cadderly zu, der bei diesen Worten Danica ansah und nach einem Urteil in ihrem wissenden Blick suchte. Danica nahm seinen Arm und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sie verstand die Prüfung, der Cadderly sich gerade unterzogen hatte, die neuerliche Erkenntnis, dass ein Krieg grausame Taten heraufbeschwor, dass ihr Überleben gegen diesen gnadenlosen Gegner von ebenso grausamem Vorgehen abhing. »Aber er kehrt in die Stadt zurück«, fuhr Cadderly mit fester Stimme fort, während er auf den Gefangenen im Fenster zeigte. »Die Stadtwache wird über sein Schicksal entscheiden. Er kann uns jetzt nicht schaden, und wir haben keinen Grund, ihn zu töten.« Ivan, ein mörderischer Kämpfer, aber sicher kein gnadenloser Mörder, stimmte bereitwillig zu. Er und Pikel gingen sofort auf den Mann zu. »Nicht jetzt«, rief Cadderly ihnen zu, um sie umzudrehen. »Hält das Fenster?« Die Zwerge machten sich daran, das zerbrochene Fenster zu untersuchen. »Noch hundert Jahre«, befand Ivan. »Hihihi«, kicherte Pikel, der seine zuverlässige Keule streichelte. Die Anerkennung seines mächtigen Schlags ließ seine pausbäckigen, fusseligen Wangen rot werden. »Dann lasst ihn stecken«, sagte Cadderly zu ihnen. »Wir haben noch anderes vor.« Der junge Priester drehte sich um und nickte
zum Scheunentor hin, denn er wusste, dass sein Spruch mit den wirbelnden Klingen nicht mehr lange halten würde. Wenn sie nicht bald zu dem Riesen kamen, stand ihnen wahrscheinlich ein neuer Kampf bevor. Auf Cadderlys Befehl hin ergriffen Ivan und Pikel jeder einen Torflügel und zogen sie weit auf. Die Zwerge blieben hinter den Türen außer Sichtweite, denn Cadderly wusste, dass die meisten Riesen nicht gerade freundlich auf das bärtige Volk zu sprechen waren. Der Anblick der Brüder konnte den da drinnen leicht in solche Wut versetzen, dass erst sein Tod für Ruhe sorgen würde. Vander jedoch war nicht zum Kämpfen aufgelegt. Er war zu gar nichts aufgelegt. Hilflos lag er unter den magischen Klingen auf dem Rücken. Als er hörte, dass die Türen sich öffneten, hob der Firbolg den Kopf und schaute zu Cadderly und Danica, die ihn betrachteten. Cadderly besah sich den Riesen sehr genau, studierte die Zeichen auf Vanders Schultern. Wieder sah er die großen Berge, das große Schiff in der Bucht mit den Eisbergen, und er wusste, dass dies dasselbe Wesen (jedenfalls dieselbe Seele) war, mit dem der Assassine den Körper getauscht hatte, als Cadderly und die anderen den bösen, kleinen Mann in die Ecke getrieben hatten. »Ich werde dich freilassen«, versprach der junge Priester, »auf dein Wort, dass du weder mich noch meine Gefährten angreifst.« Vander grollte ihn an. »Soweit ich das sehe, haben wir mit dir keinen Streit, mächtiger Riese«, fuhr Cadderly fort, »und wir wünschen auch keinen. Vielleicht kann ich dir in deinem Kampf beistehen.« Das Grollen brach ab und wurde durch einen Ausdruck ehrlichen Erstaunens ersetzt. »Ihm helfen?« fluchte Ivan hinter der schützenden Tür. »Du hast nichts davon gesagt, dass wir irgendeinem blöden Riesen helfen!« Bevor Cadderly etwas tun konnte, stürmte der Zwerg mit der Axt in
der Hand um die Scheunentür. Pikel rannte von der anderen Seite herbei, um sich ihm anzuschließen. »Iwan!« fing Cadderly an, aber Pikels ehrliches »Ei, ei!« und Ivans erstaunte Miene brachten den jungen Priester schnell zum Schweigen. »Lass ihn aufstehen«, fauchte Ivan Cadderly an und versetzte ihm einen Stoß. »Du hast keinen Grund, einen von ihnen im Dreck liegen zu lassen!« »Glück auf, gute Zwerge«, sagte der Riese unerwartet. Danica und Cadderly sahen sich entgeistert und schulterzuckend an. Danica blies eine Locke ihrer Haare beiseite, und zwinkerte. »Lass ihn aufstehen, sage ich!« forderte Ivan, der Cadderly noch einen Puff versetzte. »Siehst du denn nicht seinen flammenden Bart?« Cadderly sprach die Worte schweigend nach, während er den liegenden Riesen betrachtete und sich fragte, was die rote Farbe seines Bartes mit Ivans offensichtlicher Wertschätzung des Ungeheuers zu tun hatte. Cadderly hatte Ivan und Pikel im Wald von Shilmista hemmungslos auf Riesen losgehen sehen. Was machte den hier so anders? »Das ist kein Riese«, erklärte Ivan. »Mir kommt er ziemlich groß vor«, bemerkte die ungläubige Danica. »Er ist ein Firbolg«, antwortete Ivan ungeduldig. »Ein Freund der Erde – und Freund der Elfen. Wir sehen ihm das nach, weil Firbolge und Zwerge sich auch gut vertragen.« Ivan schien zu einer langen Abhandlung über das Thema Firbolge ansetzen zu wollen, aber Cadderly gebot ihm Einhalt, denn er brauchte nichts weiter. Die Bilder, die Aurora dieses seltsamen Riesen, waren für Cadderly jetzt völlig eindeutig, und er verstand auch ohne jeden Zweifel, warum ein so ehrenhaftes Wesen wie er mit einem
Ausbund an Bosheit im Bunde war. Der Riese war ein Gefangener. Ein Wink von Cadderly ließ die magischen Klingen verschwinden. Vander grollte, nahm sein riesiges Schwert und stellte sich hin. Einen Augenblick glaubten Danica und Cadderly, das Monster würde angreifen, aber Ivan und Pikel nickten, lächelten, marschierten schnurstracks in die Scheune und begannen eine Unterhaltung – in einer lauten, knurrenden Sprache, die wie das Rollen von Felsen über einen felsigen Berghang klang. Der Riese, der mit den Zwergen redete, hielt sein Schwert aufrecht vor sich und wirkte noch nervöser, als Cadderly und Danica sich ihren Freunden beigesellten. »Er traut uns nicht«, flüsterte Ivan Cadderly zu. Dann verkündete er lauter: »Sein Name ist Vander.« »Wenn wir deinen Tod gewünscht hätten, hätte ich die Klingen gesenkt«, stellte Cadderly fest. Vanders dicke Lippen verzogen sich, so dass man seine weißen Riesenzähne durch die roten Zotteln seines Bartes schimmern sah. »Beleidige ihn bloß nicht!« warnte Ivan ärgerlich. »Sag nie zu einem Firbolg, du hättest ihn besiegen können, wenn du ihn nicht schon besiegt hast!« »Wo sind meine Begleiter?« fragte Vander, dessen riesiges Schwert nur wenige kurze Schritte vor den Gefährten aufragte. Da erkannte Cadderly, dass der Firbolg wahrscheinlich nur einen großen Schritt machen musste und ihn erschlagen konnte, bevor er auch nur an Verteidigung denken konnte – und welche Verteidigung konnte Cadderly überhaupt gegen ein so gewaltiges Ungetüm anbringen? »Sie sind tot, bis auf einen«, antwortete Cadderly, so fest er konnte, entschlossen, kein Zeichen von Schwäche zu zeigen, obwohl er nicht gerade sicher war, wie der Riese die Nachricht aufnehmen würde. Vander nickte, ohne sich allzusehr aufzuregen.
Das war ein gutes Zeichen, fand Cadderly, ein Puzzlestückchen, das genau passte. »Ich bin gekommen, um dich zu finden«, erklärte der junge Priester, »um mit dir über unseren gemeinsamen Feind zu reden.« Jetzt hatte er seine Karten aufgedeckt. Seine drei Freunde starrten ihn an, denn sie wussten immer noch nicht, was sie mit Cadderlys Enthüllungen anfangen sollten. »Geist«, erwiderte Vander. »Sein Name ist Geist.« Danica und die Zwerge sahen einander achselzuckend an. »Gemeinsam können wir ihn schlagen«, versprach Cadderly. Vander lachte höhnisch, ein wirklich komisches Geräusch, wenn es von dem Riesen kam. »Du weißt wenig von ihm, Cadderly«, gab er zurück. »Ich lebe noch«, betonte Cadderly, den es überhaupt nicht überraschte, dass der Riese seine Identität erraten hatte. »Kann man dasselbe von den meisten Gefährten von Geist behaupten?« »Du weißt wenig über ihn«, sagte Vander wieder. »Dann erzähl.« Cadderly bat seine Freunde, den Hof aufzuräumen und auf dem Haus Wache zu halten. Die Gefährten, besonders Danica, schienen nicht erpicht darauf, ihren Freund mit einem gefährlichen Riesen zurücklassen, aber Vander sagte in dieser Bergsprache etwas zu den Zwergen, worauf Ivan sofort Danicas Arm nahm. »Er hat mir sein Wort gegeben«, versicherte Ivan. »Ein Firbolg bricht niemals sein Wort.« Cadderlys Nicken beruhigte seine besorgte Freundin zusätzlich, so dass sie mit den Zwergen abzog, nicht ohne sich bei jedem Schritt umzublicken. »Du solltest auf der Hut sein«, sagte Vander, sobald die anderen verschwunden waren. Cadderly sah ihn neugierig an. Er fragte sich, ob der Riese ihm gerade gedroht hatte.
»Ich werde mein Versprechen nicht brechen«, versicherte ihm Vander, »aber Geist kann meinen Körper übernehmen, wann immer es ihm beliebt, und du wärst ein leichtes Opfer, wenn du nicht auf der Hut bist.« »Dann müssen wir schnell handeln«, erwiderte Cadderly, dessen Stimme nicht zitterte. »Ich weiß, dass Geist deinen Körper genommen und dich in seinen Stiefeln zurückgelassen hat, als wir ihn im Gasthaus gestellt hatten. Und ich weiß auch, dass diese Besitzergreifung aufzuhalten ist.« Vander schüttelte zweifelnd den Kopf. »Danica, die Frau, die du gerade gesehen hast, hat ihn aufgehalten«, entgegnete Cadderly. »Gemeinsam können wir zwei das auch. Ich habe Zaubersprüche und das hier.« Er hielt das Amulett hoch, das er Rufo im Wald von Shilmista abgenommen hatte, das dem jungen Priester gestattete, leicht mit anderen geistig in Kontakt zu treten. »Das Amulett macht es mir möglich, dir bei deinem Ringen beizustehen.« Vander beäugte ihn misstrauisch, aber Cadderly konnte sehen, dass er zumindest das Interesse des bedrängten Riesen geweckt hatte. Sie unterhielten sich noch ein wenig länger, dann gingen sie zum Haus, um mit den anderen die Verteidigung zu besprechen. Die Zwerge waren gerade dabei, mühsam die gefangene Nachtmaske aus dem zerbrochenen Fenster zu befreien. Schließlich rutschte der Mann auf den Küchenboden zurück, wo er zitternd stehenblieb. Er hätte keinen Widerstand geboten, da er so eindeutig unterlegen war, doch dann entdeckte er Vander im Augenwinkel, der draußen an der Tür stand. Mit einem Ruck riss sich der Mann aus Ivans halbherzigem Griff los, boxte den überraschten Zwerg gegen ein Auge und rannte zur Tür. »Meister!« rief er hoffnungsvoll. »Der macht uns noch Probleme«, murmelte Ivan.
Rasch sauste Vanders Schwert durch die Luft und hackte den Leib des Mannes glatt entzwei. »Glupp«, sagte Pikel zu Ivan. Selbst die beiden hartgesottenen Zwerge waren bei diesem grausigen Anblick zusammengezuckt. Vander zuckte die Schultern, als ihn von allen Seiten entgeisterte Blicke trafen. »Wenn ihr ihn so gut kennen würdet wie ich«, erläuterte der Firbolg in ruhigem Ton, »dann hättet ihr ihn schon längst getötet.« »Aber doch nicht so«, schimpfte Ivan, »doch nicht, wenn ich und mein Brüderchen dann alles aufräumen müssen!« Cadderly schloss die Augen und wich zurück auf den relativ sauberen, weiten Hof. Er fragte sich, ob er sich je so an diese Gewalt gewöhnen könnte wie seine dickhäutigen, kampfgestählten Freunde. Er hoffte es nicht. Vander nahm die Gefährten mit zu den Gräbern der ermordeten Bauernfamilie. Grimmig erzählte er, dass er die Assassinen gezwungen hatte, die Opfer wenigstens anständig zu begraben. Danica sah Cadderly fragend an. Der junge Priester wusste, dass sie sich fragte, ob er wohl den Geistern der Toten nachgehen wollte, um die Familie wieder auferstehen zu lassen. Cadderly schüttelte den Kopf, mehr für sich selbst als für Danica. So etwas war gar nicht so einfach, das wusste er, und er hatte keine Zeit für einen Versuch. Außerdem war Cadderly immer noch todmüde, nachdem er die letzten zwei Tage bis zur Erschöpfung auf seine Magie zurückgegriffen hatte. Er war entschlossen, die wenige Kraft aufzusparen, die ihm noch blieb. Da er sicher war, dass er bald wieder auf die Probe gestellt würde, beschloss der junge Priester, sich dem Lied nur noch zu öffnen, wenn es unbedingt nötig war. Außerdem waren die schrecklichen Erinnerungen an die Schattenwesen, die die verdammten Seelen der Assassinen in ewige
Qualen zerrten, zu frisch, als dass er schon wieder eine Reise ins Reich der Toten wünschte. An diesem Nachmittag war der Hof wieder ruhig. Nichts wies darauf hin, dass es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hatte. Cadderly, der den schnellen Lauf der Sonne im Westen beobachtete, führte den Firbolg in die Scheune zurück. Wenn Geist telepathisch oder körperlich nach Vander griff, konnte das leicht schon bald geschehen. Cadderly ließ seine Spindelscheiben kreisen, damit ihre kristallene Mitte das Lampenlicht einfing und in Myriaden tanzender Schatten und Lichtfunken verwandelte. Der willige Riese überließ sich dem Zugriff des hypnotisierenden Kristalls und gestattete Cadderly, in seine Gedanken einzudringen. Vander steckte eine Hand in die Tasche, um das Amulett zu umklammern, das Cadderly ihm gegeben hatte, als ob der engere Kontakt zu ihrer geistigen Verschmelzung beitragen könnte. Kurze Zeit später saß Cadderly ruhig außer Sichtweite in einem der kleinen Verschläge in der Scheune und freute sich an den majestätischen Bildern, die ihm der Firbolg von seiner frostigen, zerklüfteten Heimat zeigte.
Schichten des Verrats Der Ruf drang über die leisen Winde der Dimension, die nur der Geist beschreiten konnte. Er drang unweigerlich auf den Hof vor Carradoon und zu dem Firbolg, der diesem Rufer so lange als wartendes Gefäß gedient hatte. Cadderly spürte die Angst in dem Riesen, den er nicht sah, und wusste, dass Geist nach Vander rief. Ganz ruhig, teilte der junge Priester Vander telepathisch mit. Deine Angst oder Wut soll mich nicht von eurer Verbindung ausschließen. Cadderly wusste, dass die tiefe Angst, die weit über das hinausging, was er von einem stolzen, mächtigen Riesen erwartet hätte, nicht nachgelassen hatte, aber Vander griff mental auf ihn zurück und stärkte ihr Band. Geists Ruf trieb heran; Cadderly wehrte ihn ab. Vander? fragte der ferne Assassine. Wie ein Spiegel gab Cadderly keine Antwort, sondern ließ die telepathische Frage einfach auf den Winden umkehren. Vander! Zorn. Cadderly fühlte vor allem Zorn. Der junge Priester lächelte trotz der Wichtigkeit seiner Aufgabe, denn ihn freute die Bestätigung, dass er den kleinen Assassinen irgendwie beunruhigt hatte. Dann brach der Ruf ab, aber Cadderly vermutete, dass der Mörder, der so darauf versessen gewesen war, ihn zu verfolgen, diese wichtige Verbindung nicht so leicht aufgeben würde. Darum ließ seine Wachsamkeit nicht nach. Vander zischte. Cadderly hörte es deutlich. »Kämpfe!« schrie der junge Priester sowohl hörbar als auch unhörbar. Ivan und Pikel rannten kampfbereit zur Scheunentür, wie Cadderly geplant hatte. Falls der Assassine sich doch in Vander
einnisten würde, sollten die Zwerge sich auf ihn stürzen, bevor er sich überhaupt in seiner Umgebung zurechtfand. Aber Cadderly hatte nicht die Absicht, Geist einzulassen, nicht, solange der trickreiche Mörder seinen Körper in sicherer Entfernung in Carradoon hatte. Der junge Priester beschwor ein Bild der kreisenden Spindelscheiben, teilte es Vander mit, und gemeinsam konzentrierten sie sich auf den hypnotischen Tanz und erinnerten sich an die besonderen Verteidigungslieder, die Cadderly dem Riesen beigebracht hatte. Andere, bösere Gefühle griffen sie an, bedrängten ihren Raum mit dem Zorn eines fremden Willens. Cadderly betete, dass Geist die Vereinigung nicht verstand, dass er nicht erkannte, dass Vander einen Verbündeten neben sich hatte. Cadderly sah zu und sang, und der Firbolg schaffte es, weiter an Cadderly zu denken, obwohl sein Ärger gefährlich anwuchs. Gemeinsam vertrieben sie den Besetzer. »Du widersetzt dich mir?« fragte Geist in der dunklen Gasse. Der Assassine, der ohne Vander verwundbar war, konnte diese Art Trotz keinesfalls dulden. Vander war sein Fluchtweg, sein Notausgang aus jeder Lage. Er konnte nicht zulassen, dass der Firbolg irgendwie, irgendwoher die Kraft nahm, Geists Eindringen aus der Ferne abzuwehren. Irgendwie? Irgendwoher? Der kleine Assassine atmete tief durch. Was ging eigentlich auf dem Hof vor? Er befürchtete, dass Cadderly in die Sache verwickelt war, aber wie konnte das sein? Gewiss hätte Vander bei einem Angriff nach Geist gerufen. Ob Cadderly und seine Freunde den Hof so schnell eingenommen hatten, dass der Firbolg keine Chance hatte? Geist verwarf diesen Gedanken. Vander lebte noch, denn Geist hatte den Empfänger am anderen Ende seines telepathischen Rufs erkannt. Er sagte sich, dass er unter Verfolgungswahn litt, ein gefährlicher Zustand für einen Mörder, der auf dem Grat zwischen
Kunst und Katastrophe balancierte. Vander hatte sich ihm schließlich auch früher schon widersetzt, aus einer Entfernung, über die die Kraft des Ghearufu nicht richtig wirkte. In wenigen Stunden konnte Geist den Firbolg erneut rufen und wieder auf ihn eindringen. Vander würde seine geistige Verteidigung nicht sehr lange aufrechterhalten können. Ein böses Grinsen zog sich über das Gesicht des verschlagenen Mannes, als er die grenzenlosen Möglichkeiten der Bestrafung überdachte. Das Lächeln währte nicht lange. Sein Geist war voller Zweifel. Diesmal waren die Umstände zu ungewöhnlich, und für Geist stand einfach zuviel auf dem Spiel, als dass er einfach akzeptieren konnte, dass Vander einen starken Moment genutzt hatte, um ihn auszusperren. Der Assassine hatte Cadderly und dessen Freunde stundenlang nicht finden können. »Zum Hof«, beschloss er deshalb. Er würde Vander bestrafen und seine Leute neu gruppieren. Er schlüpfte aus der Gasse und näherte sich einem bewaffneten Mann, der gemütlich auf einem schönen Pferd saß. »Verzeihung, edler Herr«, sagte Geist unterwürfig zu der Stadtwache. Der Assassine trug seine zwei verschiedenfarbigen Handschuhe. Kein unnötiges Risiko. Mit der schwarzsilbern gewürfelten Maske, mit tief heruntergezogener, schwarzer Kapuze und in den unauffälligen Kleidern einer Nachtmaske saß Danica auf dem Dach des Bauernhauses und sah die Reiter – zwei Männer auf einem Pferd – unbeirrt die Straße entlangkommen. Die Adeptin legte die Armbrust an, als die beiden den Hof betraten. In dem hinteren Mann erkannte sie denselben Assassinen, den sie in der »Drachenbörse« entlarvt hatten. Danicas Instinkt und der erste Zorn forderten sie auf, den
Mann vom Pferd zu schießen, aber Cadderly hatte sie vor solchen Handlungen gewarnt, denn der Mann war vielleicht nicht der, als der er erschien. Noch etwas hielt Danica von ihrem Schuss ab: Der Mann, der das Pferd lenkte, trug die Uniform einer Stadtwache von Carradoon. »Er ist ein Freund«, rief der Assassine auf dem Pferderücken aus, als er Danica auf dem Dach entdeckte. Danica lächelte unter der Kapuze. Sie war froh, dass ihre Verkleidung die beiden offenbar getäuscht hatte. »Freund«, sagte der Mann in der Stadtwachenuniform. Er lenkte das Pferd in den Hof, sagte etwas zu dem anderen Mann, das Danica nicht hören konnte, und stieg ab, um genau auf die Scheune zuzuhalten. Danica war verwirrt und beunruhigt. Cadderly hatte erwartet, dass der Schwächling kommen und Vander zur Rede stellen würde, nicht, dass er eine Stadtwache mitbrachte. Sie hielt weiter ihre Armbrust fest, denn sie wollte dem bösen kleinen Mann immer noch einen Bolzen in sein geschlechtsloses Gesicht schießen. Zu ihrer weiteren Überraschung ging der Uniformierte nicht in die Scheune. Vielmehr lief er zu der Regenrinne an einer Ecke und begann, daran hinaufzuklettern. Er war schon halb oben, als der Mann auf dem Pferd ihm echte Beachtung schenkte. Danica fand seine Reaktion – große Augen und blasses Gesicht – sehr seltsam. »Was bei den Neun Höllen geht hier vor?« flüsterte die junge Frau leise. Sie sah sich im Hof um. Waren Ivan und Piken aus der Scheune geschlüpft? Wusste irgend jemand da drin von den eigenartigen Vorkommnissen im Hof? Die Stadtwache hatte den Rand des Dachs erreicht. Danica sah zu ihm hoch und zog die Kapuze enger, weil sie fürchtete, der Mann wäre nur dort hochgeklettert, um einen besseren Blick auf sie werfen zu können.
Doch er beachtete sie kaum. Er trug verschiedenfarbige Handschuhe und stand am Rand, von wo aus er seinen Begleiter ansah, der inzwischen vorn Pferd gestiegen war. »Jetzt bist du nicht mehr nützlich«, erklärte der Uniformierte. Er lachte wild, klatschte in die Hände und sprang kopfüber vom Dach. Das Lachen wurde zum Schrei, dann zum Stöhnen, als er aufkam, dann Schweigen. Danica keuchte auf, denn sie begriff einfach nicht, was sich gerade zugetragen hatte. Sie blickte zu dem Mann hinunter, der neben der toten Wache stand, sah, dass jetzt er die seltsamen Handschuhe trug. Er schaute zu ihr hoch, zuckte die Schultern und rannte zum Scheunentor. Bis er dort anlangte, waren die Handschuhe verschwunden. »Du hast dich meinem Ruf widersetzt«, sagte Geist zu Vander. »Wir haben schon zuvor darüber gesprochen.« »Dieser Mord ist … hässlich«, stammelte Vander zur Antwort, denn es machte ihn nervös, dem Mann gegenüberzustehen, der ihn schon so lange quälte. Der Firbolg nagte an seinen dicken Lippen unter dem buschigen, roten Bart und wünschte, seine neuen Verbündeten würden herausstürmen und diesem quälenden Alptraum ein Ende bereiten. »Ich rede nicht von dem jungen Cadderly!« gab Geist zurück. »Um den kümmern wir uns beizeiten, keine Sorge. Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden, da du es gewagt hast, dich meinem Ruf zu widersetzen!« »Ich habe nicht …« »Ruhe!« befahl Geist. »Du weißt, dass Widerstand bestraft werden muss. Ich kann meine Aufgabe nicht beenden, wenn ich hier draußen, in sicherer Entfernung von der Stadt, einen unwilligen Verbündeten sitzen habe.«
Unwilliges Gefäß, stellte Vander richtig, aber er behielt diesen Gedanken klugerweise für sich. Geist machte ein paar Schritte in die Scheune und spähte durch eine Ritze in den Seitenbrettern hinaus. »Erinnerst du dich an deinen Bruder?« höhnte er in Anspielung auf den Firbolg, den er getötet hatte, als Vander vor ihm davongerannt war, den ganzen Weg zurück zum fernen Grat der Welt. Der böse kleine Assassine drehte sich um und lächelte noch breiter, als er bemerkte, wie Vanders große Hände sich in hilfloser Wut ballten. Ivan blinzelte durch einen Spalt in der Wand des Verschlags, dann schaute er besorgt zu Cadderly und Pikel zurück. Der junge Priester, der sich auf seine telepathische Verbindung zu dem Firbolg konzentrierte, nahm keinerlei Notiz von dem Zwerg. Er spürte Vanders wachsenden Zorn, ein Gefühl, das ihr Band schmälerte und ihn ausschloss. Bisher war es weitgehend so gelaufen, wie Cadderly es erwartet hatte, aber er war sich nicht mehr sicher, wie er reagieren sollte. Selbst über die Meilen nach Carradoon war Geists Eindringen schwer genug abzuwehren gewesen. Wie würden er und Vander sich jetzt schlagen, nachdem der gemeine Assassine dicht vor dem Firbolg stand? Ruhig, redete er auf den Firbolg ein. Ganz ruhig bleiben. »Bestrafung«, gurrte Geist, der einen Finger an die gespitzten Lippen legte. In der anderen Hand befingerte er etwas Rundes, Goldenes, doch Vander konnte nicht genau erkennen, was es war. »Ich habe dir das noch nie gesagt«, fuhr der Assassine einschmeichelnd fort, »aber ich habe deinem Sohn mehr getan, als ihm nur den Arm abzureißen, dem armen Jungen.« Vander riss die Augen auf. Seine Riesenhände zuckten, bebten, und
sein Gebrüll erschütterte die Wände der Holzscheune. »Zeit für uns?« wagte Ivan unter dem Schutz des anhaltenden Grollens laut zu fragen. Cadderlys Kopf war von einer roten Mauer erfüllt, dem Bild von Vanders unkontrollierbarer Wut. Der junge Priester hatte keinen Kontakt mehr zu dem Firbolg, und bis es ihm wieder gelang, seinen Verbündeten zu erreichen, konnte die Katastrophe längst eingetreten sein. Er zog seine Beine unter sich hervor und ließ sich von Pikel auf die Füße ziehen. Weder seine Spindelscheiben noch sein verzauberter Wanderstab konnten ihn hoffen lassen, einen Riesen zu besiegen, deshalb ballte er die Faust, die Hand mit dem magischen Ring, und griff nach dem Stab in seinem Mantel. »Nein!« rief er aus und führte die Zwerge mitten in die Scheune. Cadderly beruhigte sich jedoch sofort, genauso wie Ivan und Pikel hinter ihm, als er die Szene sah, die Vander anscheinend gut im Griff hatte. Der Firbolg hielt den winzigen Assassinen keuchend und knurrend an der Kehle in die Luft und schüttelte ihn durch, obwohl der Mann offensichtlich schon tot war. »Vander«, sagte Cadderly leise, um den Riesen zu besänftigen. Der Firbolg achtete nicht auf ihn. Mit neuerlichem Wutgebrüll knickte er den Assassinen nach hinten und warf ihn gegen die Scheunenwand. »Er wird wiederkommen!« heulte der Riese. »Er kommt immer wieder zurück! Es gibt keinen Ausweg!« »Wie ein verdammter Troll«, bemerkte Ivan neben dem Firbolg. Aus seiner Stimme klang Mitgefühl für den bedrängten Riesen. »Troll?« flüsterte Cadderly, dem bei diesem Wort eine Idee kam. Der junge Priester streckte seine geballte Faust vor, sich aus, rief das Wort »Fete!« und sandte einen Feuerstrahl nach der Leiche. Er konzentrierte sich darauf, jede Regenerationskraft aus dem
Männchen herauszubrennen, damit Vander endlich frei wäre. Ein Seitenblick auf den Firbolg zeigte ihm Vanders zufriedene Miene und dann, seltsamerweise, dass Vander einen goldenen Ring trug. Wirklich seltsam, dachte Cadderly, als er sich zu dem verkohlten Körper umdrehte, denn er hatte gerade an dieser geschwärzten Gestalt nach einem solchen Gegenstand suchen wollen. Cadderly grub einen Augenblick in seinem Gedächtnis. Vander hatte keine Ringe getragen. Aurora. »Ivan!« schrie Cadderly, der die Flammen abbrechen ließ und herumfuhr. Auch der Riese bewegte sich, schwang sein riesiges Schwert, während der nichtsahnende Ivan genau neben ihm stand. Cadderly erwies sich als schneller. »Mas illu!« schrie er, während er den Zauberstab zog. Ein Farbwirbel barst in das Gesicht des Firbolgs. Der geblendete Riese fuhr mit seinem Hieb fort und zielte dorthin, wo Ivan gestanden hatte. Der Zwerg, der gewarnt und durch die Explosion geblendet war, wich zurück. Er hörte das schreckliche Brausen in der Luft, als das Schwert vorbeisauste, seinen Helm mitnahm und ihn so hart streifte, dass er nach hinten kippte. »Ich wusste, dass ich noch drankomme!« knurrte der zähe Zwerg, als er sich schließlich aufgerappelt hatte. Ivan, der vor keinem Kampf zurückscheute, nahm seine Axt und stürmte los. Danica schlüpfte in die Scheune, erriet augenblicklich, was vorging, und feuerte dem Firbolg einen Bolzen in den Bauch. Der Riese heulte auf vor Schmerz, ließ sich jedoch nicht davon abhalten, Pikels wilden Ansturm abzuwehren, indem er den Zwerg zur Seite warf, wo er gegen einen Balken fiel. Der Riese tat so, als wollte er mit dem Schwert zustoßen, trat statt dessen aber aus, um Ivan noch einmal aus dem Weg zu räumen. Wieder traf ihn ein Armbrustbolzen, diesmal in die Schulter, aber
wieder schien er kaum Notiz davon zu nehmen. Danica stand hinten an der Tür, Ivan und Pikel an beiden Seiten, so dass Cadderly das nächste Ziel war. Die erste Eingebung des jungen Priesters war, seinen Ring zu nehmen, um den Riesen mit einem Flammenstrahl zurückzudrängen, bis seine Freunde sich neu aufgestellt hatten. Er erkannte jedoch die schlimmen Folgen für Vander, den armen, stolzen Firbolg, der im Körper des Schwächlings gefangen gewesen und wie ein Stück Müll zur Seite geworfen worden war. Der magische Ring hatte nicht die Kraft, verbranntes Fleisch zu heilen, und wenn dieser Körper so verbrannt war wie die Leiche des Assassinen dort drüben, würde der Firbolg ihn nie wieder in Besitz nehmen können. Der Riese stürzte, denn Pikel hatte ihn mit seinem nächsten Angriff in die Kniekehle getroffen. Mit einem Grunzer griff das Ungeheuer nach hinten, packte den grünbärtigen Zwerg und hob ihn in die Luft. Pikel starrte in die blutunterlaufenen Augen des tobenden Riesen, dann stopfte er diesem prompt seinen Fuß in die wutschnaubende Nase und wackelte mit den knorrigen, stinkenden Zwergenzehen. Halb niesend, halb hustend schleuderte der angeekelte Riese Pikel gegen die jenseitige Wand und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Als er Cadderly wieder ansah, starrte er genau ins Ende des dünnen Stabs. Weil er einen neuen Angriff erwartete, kniff Geist fest seine Augen zu. »Illu«, sagte Cadderly ruhig, und die ganze Scheune war hell wie die Mittagssonne über freiem Feld. Cadderly hatte jedoch perfekt gezielt, und bald beschränkte sich der Glanz seines magischen Stabes auf das Gesicht des Firbolgs, besonders die Augen des Riesen. Weiß? Als Geist die Augen aufschlug, sah er nur blendendes, gleißendes Weiß. Die ganze verdammte Welt war weiß geworden! Oder, fragte sich Geist mehr verwundert als erschrocken, war er an einem fremden Ort gelandet?
Ein neuer Treffer eines Armbrustbolzens in seinen Bauch trieb ihm diesen Gedanken aus. Wieder erschütterte sein Gebrüll die Wände, als der geblendete Riese auf den unsichtbaren Schützen losstürmte und wild mit dem Schwert um sich schlug. Er traf den Rand der offenen Scheunentür, riss sie aus den Angeln und geriet ins Freie. Danica tänzelte davon. Ihre Rolle in diesem Kampf war klar. Ein neuer Bolzen bohrte sich in den Riesen und lockte ihn vorwärts. Geist spürte einen erneuten Keulenschlag gegen seine Kniekehlen, doch diesmal schob sich die Keule zwischen seinen langen Beinen hindurch und brachte ihn zum Stolpern, als er zum Gegenangriff herumfahren wollte. Der Riese ging zu Boden und riss dabei mit Armen und Gesicht einen Wassertrog um. Etwas Schweres, Scharfes, eine Axt vielleicht, fuhr in seinen Knöchel; ein Bolzen traf seine Schulter und brach sein riesiges Schlüsselbein. Irgendwie gelang es dem störrischen Gesellen, aufzustehen und vorzutaumeln. Sein bereits verwundeter Knöchel wurde von der schweren Keule getroffen. Er drehte sich um, wobei er sein Schwert vor sich hielt, aber der Zwerg war schon außer Reichweite, und die mächtige Waffe schlug fest gegen einen kleinen Baum, der dabei entwurzelt wurde. Wutschnaubend hörte Geist Füße scharren, als der Feind ihn weiter einkreiste. Er versuchte, den Ghearufu herbeizurufen, obwohl er wusste, dass sein eigener Körper nicht zur Verfügung stand. Und selbst wenn er sich lange genug konzentrieren konnte, um die Sachen aufzurufen, würde Cadderly den Bewegungen seiner Seele irgendwie folgen können. Er konnte den Ghearufu sowieso nicht benutzen, denn die Schläge kamen zu schnell von allen Seiten. Er zuckte herum, erst in eine Richtung, dann in die andere, folgte
beide Male seinem tiefgeschwungenen Schwert. Wut wurde seine einzige Verteidigung, und er traute sich genug Schnelligkeit zu, um seine Feinde in Schach zu halten. Nur Müdigkeit konnte ihn verlangsamen, und er hoffte, dass er seine blinden Angriffe so lange fortsetzen konnte, bis dieses verteufelte Geblendetsein nachließ. Noch ein Bolzen pfiff heran, und diesmal wurde der Riese in die Lunge getroffen. Geist hörte das Fiepen seines Atems, der durch ein blutiges Loch entwich. Wieder und wieder schlug er verzweifelt und benommen um sich. Er verlor das Gleichgewicht, brüllte, keuchte. Er versuchte, einen Schritt nach vorne zu machen, aber sein schwer getroffener Knöchel stützte ihn nicht länger, und er kippte um. Genau vor den wartenden Ivan. Die Axt biss sich in das Rückgrat des Firbolgs. Geist fühlte den brennenden Schmerz, dann fühlte er unterhalb der Gürtellinie nichts mehr. Sein Schwung trug ihn noch einen langen Schritt nach vorn, ein ungelenkes Schwanken auf steifen, haltlosen Beinen, dann brach er zusammen und landete schwer am Stamm der riesigen Ulme an der Seite des Hauses. Die Welt bestand aus Weiß, Schmerz und Taubheit. Geist hörte die drei Freunde neben ihn schlurfen, aber er hatte nicht die Kraft, schützend sein Schwert zu erheben. »Das wär’s«, stellte Ivan fest. Cadderly rannte zu seinen Freunden. »Sollen wir ihn fesseln, bevor du mit ihm redest?« Der junge Priester, der mit versteinertem Gesicht dastand, antwortete nicht, denn er begriff, dass der Verlust eines äußeren Körpers der Bedrohung durch Geists Bosheit kein Ende machte. Er stellte sich neben den hilflosen Riesen, nahm seine Spindelscheiben zur Hand und schleuderte sie mit aller Kraft gegen die Schläfe des Firbolgs. Das zerschlagene Monster zuckte einmal auf, dann rutschte es an dem Baum herunter.
Danica, die ihre Armbrust gesenkt hielt, blieb angesichts dieser untypischen Gnadenlosigkeit ihres Geliebten der Mund offenstehen. »Zieh deine Bolzen raus«, wies Cadderly sie an, »aber nehmt ihm nicht den Ring ab!« Das letzte Bild, das der junge Priester wahrnahm, waren seine Freunde, die verwirrte Blicke wechselten, doch er hatte keine Zeit für Erklärungen. Die Geister erwarteten ihn. Ohne zu zögern, folgte Cadderly dem Fluss von Deneirs Lied in die jenseitige Welt. Die materielle Welt um ihn verschwamm; seine Freunde wirkten wie unscharfe, graue Blasen. Wie erwartet sah der junge Priester die Seele von Geist neben dem Körper des gefällten Riesen sitzen – und zwar auf einem der unteren Zweige der Ulme. Der Kopf von Geist ruhte in seiner durchscheinenden Hand, während er geduldig darauf wartete, dass der magische Ring ihm das Gefäß für seine Rückkehr wieder öffnete. Cadderly wusste, dass er nur zwei Möglichkeiten hatte: zurückzugehen und dem Riesen den Ring abzuziehen, oder weiterzugehen und den rechtmäßigen Besitzer des bald wiederhergestellten Körpers zu finden. Er zwang sich in die Scheune, ließ seine körperliche Hülle teilnahmslos bei seinen Freunden stehen. Vanders Geist hockte in der Scheune, schrecklich verängstigt und verunsichert. Du auch? erklangen seine Gedanken an Cadderly. Ich bin nicht tot, erklärte Cadderly und winkte dem Firbolg, ihm zu folgen, zeigte seinem verlorenen Freund, was er tun musste. Gemeinsam wollten die beiden Seelen sich an Geist rächen. Sie konnten ihm keinen echten Schaden zufügen, doch sie drängten ihn mental davon, vereinten ihren Willen, um einen Geisterwind zu erschaffen, der die Entfernung zwischen ihm und dem sich
erholenden Körper vergrößerte. Ihr werdet mich nicht aufhalten, drohte ihnen die Seele des Assassinen, dessen Gedanken sich in ihren Verstand bohrten. Cadderly sah zurück, wo sich ein schimmernder Ring um die starke Gestalt des Firbolgs bildete. Geh, gebot er Vander. Die Seele des Riesen raste los; Geist folgte ihr rasch. Cadderly hob die Hand. Nein, befahl er, und Geist wurde so langsam, dass er fast stehenblieb, während er die mentale Sperre des jungen Priesters durchtrat. Cadderlys Geistarme schlangen sich um ihn, hielten ihn zusätzlich zurück, und der junge Priester – sein Körper wie seine Seele – lächelte, als Vanders Seele sich wie ein fliegender Pfeil zusammenzog und durch den schimmernden Ring die wartende Gestalt des Riesen betrat. Du bist verloren, erklärte Cadderly dem Assassinen, als er ihn losließ. Geist zögerte nicht. Er eilte auf das einzige andere, wartende Gefäß ohne Seele zu. »Rasiert mich, wenn der da nicht wieder am Leben ist!« knurrte Ivan, der seine Axt gefährlich dicht über den Kopf des Firbolgs hielt. »Soll er nur einen seiner dicken Arme heben, dann verpasse ich ihm eine Kopfnuss…« Danica ergriff den Zwerg am Arm, um ihn zu beruhigen und ihm zu erklären, dass der Firbolg – ob am Leben oder nicht – augenblicklich nicht in der Lage war, irgend jemanden zu bedrohen. Diese Versicherung ließ Pikel neben den Riesenkopf huschen. Der neugierige Zwerg bückte sich tief, um das Wiedererwachen zu beobachten. Ein seltsamer, maunzender Ton von Cadderly ließ alle herumfahren. Der Körper des jungen Priesters zitterte, ein Auge zuckte wild, und sein Mund verzerrte sich, als ob er etwas sagen wollte, aber sein Tun nicht kontrollieren konnte. Geist war zuerst
angekommen und in Cadderlys wartende Hülle geschlüpft. Cadderly kam direkt hinterher, spürte den brennenden Schmerz der Verkörperlichung und spürte auch, dass er nicht allein war. »Raus!« brachte er schließlich laut und telepathisch zugleich heraus. Geist antwortete nur, indem er gegen Cadderlys Seele drückte. Der junge Priester fühlte, wie das Brennen wieder begann, und wusste, dass dies bedeutete, dass er aus seinem Körper rutschte. Aber verdrängt zu werden hieße, für immer verloren zu sein. Cadderly rief sich seine mentalen Kämpfe ins Gedächtnis, seine Erfahrung mit dem Teufelchen Druzil damals im Wald. Und er rief das Lied von Deneir an, um in seinen Noten vielleicht einen Hinweis zu finden, der ihm einen Vorteil verschaffte. Aber auch Geist konnte auf Erfahrungen zurückgreifen – drei Leben, in denen er mit unwilligen Opfern die Seele getauscht hatte. Es ging um eine Prüfung der Willenskraft, eine Prüfung der mentalen Stärke. Geist hatte keine Chance. »Raus!« schrie Cadderly. Er sah seine Freunde einen Augenblick deutlich, dann trat er wieder in die jenseitige Welt ein, wo er Geists verblüffte Gestalt hilflos davontreiben sah. Du hast nicht gewonnen, versprach der trotzige Assassine. Deine Verbindungen sind jetzt weg, hielt Cadderly dagegen. Du hast keinen magischen Ring an einer Leiche, die dich in der äußeren Welt halten könnte. Ich habe den Ghearufu, gab der böse Geist zurück. Du ahnst nicht, wie stark er ist! Es wird andere Opfer geben, dummer Priester, Schwächlinge, die gegen mich verlieren. Und dann komme ich zurück! Wisse, dass ich zurückkommen werde! Diese Drohung bedrückte Cadderly wirklich, aber er hielt Geists Versicherungen für wenig wahrscheinlich. Ein schwarzer Fleck erschien auf dem Boden, begleitet von einem Knurren, das Cadderlys
Verdacht bestätigte. Deine Verbindungen zur materiellen Welt sind jetzt weg, wiederholte Cadderly, der die Verwirrung der anderen Seele sah. »Was ist das?« schrie Geist Cadderly zu. Seine Panik war deutlich zu sehen. Eine schwarze Hand schoss aus der Erde, ergriff den bösen Geist am Knöchel und hielt fest. Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen, und kam dabei immerhin ins Schwitzen. Schwarze Hände umklammerten seine Handgelenke; überall um ihn her erhoben sich grollende Schatten. Als Cadderly zwinkernd die Augen aufschlug, hielten ihn seine besorgten Freunde, Danica und Ivan, an den Armen fest, und Pikel musterte ihn forschend. Cadderly fühlte sich unsicher, gründlich ausgelaugt und war froh über die Unterstützung. »He?« flötete der grünbärtige Zwerg neugierig. »Alles in Ordnung«, versicherte Cadderly, obwohl seine zitternde Stimme diese Behauptung erheblich abschwächte. Er schaute Danica an, die ihn anlächelte, weil sie ohne jeden Zweifel wusste, dass wirklich Cadderly vor ihr stand. »Der Riese lebt wieder«, sagte Ivan staunend. »Es ist wirklich Vander«, versicherte ihnen Cadderly. »Er ist durch die Kraft des Rings zurückgekehrt.« Er holte tief Luft, denn immer noch verschwamm die Welt vor seinen Augen. Sein Kopf schmerzte schlimmer denn je. »In die Scheune«, wies er sie an, löste sich aus Danicas und Ivans Griff und machte einen Schritt vorwärts. Er fiel der Länge nach auf den Boden. Er konnte nicht mehr. Der Priester brauchte lange, bis er sich wieder orientieren konnte und
zur Besinnung kam. Er war in der Scheune, was er mehr an dem Gestank nach verbranntem Fleisch als an den unscharfen Bildern erkannte, die vor seinen halbgeöffneten Augen tanzten. Cadderly zwinkerte und rieb sich die müden Augen. Seine drei Freunde waren bei ihm. Ihm wurde klar, dass er nicht sehr lange ohnmächtig gewesen sein konnte. »Das da ist gerade aufgetaucht«, erklärte ihm Danica, die seinen Blick auf einige Dinge lenkte – einen kleinen, goldgerahmten Spiegel und verschiedenfarbige Handschuhe –, die den verkohlten, gebrochenen Körper an der Wand zierten. »Ghearufu«, sagte Cadderly, der sich an den Namen erinnerte, den Geist diesen Dingen gegeben hatte. Der junge Priester starrte die Dinge genau an und spürte etwas Lastendes, Hungriges, Böses. Besorgt sah er sich zu seinen Freunden um. »Hat einer von euch es berührt?« Danica schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht«, erklärte sie. »Wir haben beschlossen, dass es am besten ist, wenn wir die Sachen in die Erhebende Bibliothek bringen, damit sie dort untersucht werden.« Cadderly fand das nicht, doch er nickte, weil er jetzt keinen Streit wollte. »Ist der Firbolg aufgewacht?« fragte er. »Der wacht erst in ein paar Tagen auf«, antwortete Ivan. Wieder war Cadderly anderer Meinung. Er verstand die Regenerationskräfte des magischen Rings und war nicht überrascht, als einen Augenblick später Vander, der ihre Worte mit angehört hatte, in die Scheune trat. »Rasiert mich«, flüsterte Ivan unhörbar. »Ei, ei«, stimmte Pikel zu. »Willkommen im Leben«, begrüßte Cadderly den Riesen. »Du bist frei von Geist – das weißt du – und frei, deines Weges zu ziehen. Wir werden dich bis zu den Schneeflockenbergen begleiten.«
»Solch ein Angebot solltest du nicht so leichtsinnig machen«, unterbrach ihn die kräftige Stimme des Firbolgs. Cadderly fragte sich, ob er den Riesen falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht war Vander doch nicht so unschuldig? Die anderen dachten offenbar dasselbe, denn Ivan und Pikel legten ihre Hände an die Waffen und waren auf einen neuen Kampf gefasst. Vander lächelte nur. »Ich weiß, wo Burg Trinitatis liegt, euer wahrer Feind«, erklärte der Firbolg, »und ich zahle meine Schuld zurück.«
Epilog Die Tempelpriester sahen Cadderly und seine Freunde neugierig an, als diese geräuschvoll zu den Gästezimmern eilten. Rufo hörte den Lärm und machte die Tür auf, um zu sehen, was draußen vorging. »Tag auch«, knurrte Ivan ihn an, legte dem ungelenken Mann eine Hand vor die Brust und schob ihn in das kleine Zimmer zurück. Die anderen drei folgten dem Zwerg auf dem Fuß. Danica machte die Tür hinter sich zu. »Bist du überrascht, mich zu sehen? Lebend?« fragte Cadderly, der mit dramatischer Geste seinen blauen Umhang von den breiten Schultern zog. Rufo wollte stammelnd zu einer wortreichen Erklärung ansetzen, ohne recht zu wissen, wie er dieses unerwartete Gespräch anfangen sollte. Dutzende von Fragen und Ängsten bedrängten ihn und raubten ihm die Stimme. Wieviel wusste Cadderly? Was vermutete er? Wo waren der junge Zauberer und die übrigen Mörder? »Die Assassinen gibt es nicht mehr«, versicherte ihm Cadderly, als hätte er Rufos Gedanken gelesen. »Und auch der junge Zauberer ist tot.« »Den hab’ ich gut erwischt«, flüsterte Ivan seinem Bruder zu, und Pikel tätschelte die große Axt, die Ivan auf seinen Rücken gebunden hatte, respektvoll. »Tot«, wiederholte Cadderly, der das Wort vielsagend in der Luft hängen ließ, »wie Avery.« Rufos kreidebleiches Gesicht wurde noch blasser. Wieder versuchte er eine Erwiderung, irgendeine Lüge, eine Geschichte, die ihm ein Alibi für seine Verbrechen liefern würde.
»Wir wissen Bescheid«, versicherte ihm Danica, ehe er die ersten Worte über die dünnen, trockenen Lippen brachte. »Das hätte ich nicht von dir erwartet«, sagte Cadderly, der seinen Wanderstab in die Ellenbeuge hängte. »Selbst nach den Ereignissen in der Bibliothek und in Shilmista habe ich darauf vertraut, dass du wieder auf den rechten Weg finden würdest.« Rufo fuhr mit seinen knochigen Fingern durch sein verklebtes, schwarzes Haar. Seine dunklen Knopfaugen schossen in alle Richtungen. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, brachte er schließlich heraus. »Als Avery tot aufgefunden wurde, entschied ich, dass auch ich im Gasthaus nicht sicher wäre. Ich habe euch gesucht, aber ihr wart nicht zu finden, darum kam ich hierher, um bei meinen Freunden im Ilmatertempel zu bleiben.« »Du hattest Angst?« fragte Danica sarkastisch. »Hast du befürchtet, deine Genossen könnten dich betrügen?« »Ich verstehe nicht«, stotterte Rufo. Danica schlug ihm so fest ins Gesicht, dass er sich rückwärts aufs Bett setzte. Die Adeptin wollte sich auf ihn stürzen, doch Cadderly hielt sie schnell zurück. »Wovor solltest du sonst Angst haben?« fragte Cadderly, um Danicas letzte Bemerkung zu erklären. »Wenn nicht deine Genossen, wer sonst sollte dich bedrohen?« »Er wusste, dass wir ihn erwischen«, warf Ivan ein, der Rufos Arm mit eisernem Griff packte. »Ihr irrt euch!« stammelte Rufo verzweifelt. Die ganze Welt schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Ivans harte Hand fühlte sich an wie die Zangen einer Wolfsfalle. »Ich habe –« »Schweig!« Cadderlys Befehl brachte den sich aufplusternden Mann sofort zum Schweigen und trug ihm ungläubige Blicke seiner Freunde ein. Rufo sank in sich zusammen und schlug ergeben die
Augen nieder. »Du hast Avery in den Tod geführt«, klagte Cadderly ihn unverblümt an. »Du hast mich in der Bibliothek verraten, deine Freunde im Wald und jetzt Avery. Erwarte diesmal keine Vergebung, Kierkan Rufo! Der Großmeister ist tot – sein Blut klebt an deinen Händen. Du hast einen Bereich betreten, aus dem es kein Zurück gibt.« Bilder jener schrecklichen, grollenden Schatten bedrängten Cadderly. Er schloss die Augen und holte ein paarmal tief Luft, um sich zu stärken, doch er sah nur Rufos künftiges Schicksal vor Augen, die hungrigen, bösen Wesen, die den gefallenen Priester in ewige Qualen zerren würden. Cadderly erschauerte und öffnete die Augen wieder. »Haltet ihn fest«, wies er die Zwerge an. »Was habt ihr vor?« rief Rufo, als Pikel seinen anderen Arm ergriff, während Ivan weiter den ersten festhielt. Gemeinsam drückten sie ihn auf das Bett. »Meine Freunde werden es hören! Sie werden das nicht zulassen!« »Ilmater?« zweifelte Ivan. »Sind das nicht die, die sich dem Leiden verschrieben haben?« »Jawoll«, antwortete sein Bruder. »Also, bei dem Gezeter, das du ausstoßen wirst«, höhnte Ivan, dem die Bedrängnis des linkischen Mannes außerordentlich gefiel, »werden sie bestimmt eine Statue von dir aufstellen.« Rufo biss Pikel in den Arm, aber der zähe Zwerg grinste nur, ohne loszulassen. Augenblicklich war Danica um das Bett herumgesprungen. Sie griff Rufo in die Haare und riss seinen Kopf unsanft zurück. Auf diese Weise festgehalten, mit den Zwergen auf beiden Seiten, konnte Rufo nur noch zusehen und zuhören. Cadderly summte leise, während seine Hände bestimmte Bewegungen durchführten. Er streckte einen Finger aus und zeigte auf Rufo. Seine Fingerspitze war weißglühend vor Hitze.
»Nein!« schrie Rufo. »Lasst mich doch erklären!« »Keine Lügen mehr«, zischte Danica von hinten. Rufo kreischte und wand sich hilflos, während Cadderlys verzauberter Zeigefinger seine Stirn brandmarkte und in die Haut den Fluch des Deneir einbrannte – das Abbild einer einzelnen, abgeknickten Kerze über einem geschlossenen Auge. Innerhalb von Sekunden war alles vorüber. Danica und die Zwerge ließen Rufo los. Er kippte nach vorn und wimmerte – nicht so sehr wegen des andauernden Schmerzes (es tat nicht sehr weh), sondern wegen des Wissens, was Cadderly ihm gerade angetan hatte. Gebrandmarkt. Er roch den ekelerregenden Gestank und wusste, dieser würde ihn den Rest seines Lebens verfolgen und die Leute auf magische Weise vor ihm warnen. »Du darfst dieses Schandmal niemals verstecken«, sagte Cadderly zu ihm. »Du bist dir der Folgen bewusst.« O ja, das war Kierkan Rufo. Wer das rechtmäßige Brandzeichen von Deneir verhüllte, brachte das magische Zeichen dazu, sich tiefer in die Stirn einzubrennen und das Gehirn zu versengen, was einen entsetzlichen, qualvollen Tod zur Folge hatte. Rufo warf einen wütenden Blick auf Cadderly. »Wie kannst du es wagen?« grollte er mit jeder Unze Trotz, die er aufbringen konnte. »Du bist kein Großmeister. Du hast nicht die Macht –« »Ich hätte dich auch der Stadtwache übergeben können«, unterbrach Cadderly mit überzeugender Logik. »Selbst jetzt könnte ich ihnen noch von deinen Untaten erzählen, damit sie dich auf der Straße aufhängen. Ziehst du das vor?« Rufo wandte den Blick ab. »Wenn du meinen Rang im Orden anzweifelst«, fuhr Cadderly fort, »wenn du bezweifelst, dass ich die Macht habe, ein solches Urteil über dich zu verhängen, dann bedecke einfach das Zeichen. Wir werden bald erfahren, ob du recht hast.« Cadderly nahm seinen
breitkrempigen Hut ab und hielt ihn Rufo hin. »Lass es uns sehen«, drängte er selbstbewusst. Rufo schob den Hut weg und kam taumelnd auf die Beine. »Oberster Priester«, sagte er hoffnungsvoll, als die Tür aufging und ein hängewangiger, kahlköpfiger Priester mit der roten Schädelkappe, die auf seinen hohen Rang innerhalb des Ilmaterordens hindeutete, hineinspähte. Hinter dem Mann stand ein gutes Dutzend Jünger aus dem Tempel, die Rufos qualvolle Schreie aufgeschreckt hatten. »Sie haben sein Gekreische gehört und denken, er gehört jetzt zu ihnen«, flüsterte Ivan Danica und Pikel zu. Trotz der ernsten Situation konnten sich die drei das Grinsen nicht verkneifen. Der Imaterpriester schnüffelte, und sein Gesicht verzog sich angesichts des ekelhaften Gestanks. Er starrte Rufo und das Brandzeichen an, dann drehte er sich zu Cadderly um und fragte ohne Zorn in der Stimme: »Was ist vorgefallen?« »Sie haben mich verraten!« schrie Rufo verzweifelt. »Sie – er«, er zeigte auf Cadderly, »hat Großmeister Avery in den Tod geführt! Und jetzt will er mir die Schuld zuschieben, um von sich selbst abzulenken!« Cadderly regte sich gar nicht über die lächerliche Behauptung auf. »Hätte Deneir mir das magische Brandzeichen gewährt, wenn etwas Wahres an dieser Geschichte wäre?« fragte er den Ilmaterpriester. »Ist es echt?« fragte der hagere Priester mit einem Wink zu dem schrecklichen Zeichen. »Möchtest du es probieren?« fragte Cadderly und streckte Rufo wieder den Hut hin. Rufo starrte ihn lange an, besonders das heilige Symbol des Deneir in der Mitte, denn er wusste, dass er am Wendepunkt seines Lebens angelangt war. Er konnte den Hut nicht annehmen und aufsetzen – das würde ihm den sicheren Tod bringen. Aber abzulehnen stärkte Cadderlys Behauptungen und bewies, dass Rufo zu recht gebrandmarkt und ausgestoßen war. Er
wartete einen langen Moment, um eine neue Ausrede zu erfinden. Sein Zögern nahm ihm jede Chance einer Erklärung. »Kierkan Rufo, Ihr müsst von hier verschwinden«, forderte der Ilmaterpriester. »Nie wieder sollt Ihr in einer Halle des Ilmater willkommen sein. Nie wieder soll ein Priester unseres Ordens Euch Freundlichkeit oder Respekt erweisen.« Die Endgültigkeit dieser Worte klang wie ein Nagel, der in Rufos Sarg getrieben wurde. Er wusste, dass jeder Einwand zwecklos war. Die Entscheidung war endgültig. Er drehte sich um, als ob er zu der Truhe mit seinen Sachen gehen wollte, doch der Ilmaterpriester duldete keinen Aufschub. »Jetzt!« befahl der Mann laut. »Eure Habseligkeiten werden auf die Straße geworfen. Verschwindet!« Ivan und Pikel, die immer gern Hand anlegten, ergriffen Rufo an den Armen und schubsten ihn grob vorwärts. Von den vielen Zeugen wagte nicht ein einziger einen Protest. Gebrandmarkte Priester haben keine Verbündeten. Cadderly hatte nur noch eines zu erledigen, bevor er seinen Aufenthalt in Carradoon für beendet erklären konnte, und er fand Unterstützung bei einem Kleriker, der vor den hohen Mauern der Stadt am Sec lebte. Der betagte Priester führte Cadderly und seine vier Freunde – Vander reiste in magisch verkleinerter Form als rothaariger und rotbärtiger Barbarenkrieger – zu einem kleinen Grab auf dem Friedhof. Cadderly sank vor dem Grab in die Knie, nicht besonders überrascht, jedoch von Mitleid und Trauer erfüllt. »Arme Frau«, erzählte der freundliche, alte Priester. »Sie zog los, um ihren vermissten Mann zu suchen, und fand ihn tot am Straßenrand. Welch ein Unglück für Jhanine und ihre Kinder.« Der Priester wartete ein Weilchen, dann nickte er den Gefährten zu und
ging davon. »Du kanntest diesen Mann?« fragte die erstaunte Danica, die neben Cadderly hockte. Cadderly nickte langsam, ohne sie recht zu hören. Danica nahm Cadderlys Arm. »Wirst du ihn suchen gehen?« fragte sie voller Mitgefühl. Cadderly wandte sich ihr zu, aber seine Augen sahen in die Vergangenheit, zu seinem Wortwechsel auf der Straße mit dem unglückseligen Leprakranken. Könntet Ihr sie alle heilen? hatte Namenlos ihn gefragt. Sollen alle Leiden der Welt vor diesem jungen Priester des Deneir in die Knie gehen? »Das ist unsinnig und zeugt von wenig Ehrfurcht«, meinte Danica, die Cadderlys Schweigen missverstand. »Wohin anschließend? Zu den Gräbern der armen Bauern und der Stadtwache?« Cadderly schloss die Augen und entzog sich Danicas bestechender Logik. Insgeheim hatte er bereits versucht, die Bauern und die ermordete Stadtwache wiederzubeleben, bevor sie den Hof verließen. Die Seelen der Bauern waren nicht mehr zu finden, und die Wache wollte Cadderlys Ruf nicht folgen. Der Versuch hatte Cadderly viel gekostet, ihn erschöpft und einen kleinen Teil seiner Lebensenergie für immer verzehrt. »Wie viele tausend wird Cadderly noch zurückrufen, um die Welt zu bevölkern?« hörte er Danica sagen. Er wusste, dass ihr Sarkasmus nicht böse gemeint war, sondern rein praktische Bedenken verriet. Er wusste auch, dass Danica es nicht verstehen konnte. Diese Wiedererweckung hier wäre nicht so einfach wie jene, bei der Cadderly Brennan von den Toten zurückgeholt hatte. Cadderly hatte schmerzhaft erfahren, dass Wiedererweckung ein göttliches Geschenk war, kein Zauberspruch. Trotz aller Kräfte, die der junge Priester haben mochte, konnte er das Schicksal letztendlich nicht zunichte machen. Viele Bedingungen mussten zusammenkommen,
damit eine Wiedererweckung gewährt werden konnte, und viele weitere, ehe die Geister der Toten dem Ruf Folge leisteten und in die Welt zurückkehrten, aus der sie geschieden waren. So viele Bedingungen, und Cadderly konnte sie nicht einmal ansatzweise durchschauen, geschweige denn göttliche Entscheidungen hinterfragen, die über sein sterbliches Verständnis hinausgingen. Weise entschied er, Deneir nicht um diese Tat zu bitten. »Meine Kraft gehört den Lebenden«, flüsterte er, und Danica beruhigte sich, weil er offenbar verstanden hatte, was sein musste. Er sprach ein Gebet für Namenlos, eine Bitte an jeden Gott, der zuhörte, den verlorenen Mann gerecht zu beurteilen, ihm im Tod den Frieden zu gewähren, der ihm im Leben so grausam geraubt worden war. Cadderly hatte den wahren Namen des Bettlers nie erfahren – und er zog vor, dass es auch so bliebe. Er und seine Freunde kehrten zu dem Priester zurück, der ihnen das Grab gezeigt hatte. Sie brachten ihm eine ansehnliche Summe Gold, die sie für die notleidende Jhanine entbehren konnten, doch es war Vander, der das größte Geschenk gab: Aballisters Goldbörse, den Vorschuss, den die Nachtmasken für Cadderlys Hinrichtung erhalten hatten. »Hast du vor, alles Leid der Welt zu heilen?« fragte Danica Cadderly wieder, nachdem die Gefährten das kleine Haus des Priesters neben dem Friedhof verlassen hatten. Sie sah ihn flehentlich an, denn sie hatte Angst um ihren Geliebten, Angst, dass das Gewicht dieser neuen Verantwortung ihn zerbrechen könnte. »Ich werde tun, was ich kann«, erwiderte Cadderly störrisch. »Das ist das Höchste, das von uns verlangt werden kann, und das Geringste, wozu jeder von uns bereit sein sollte.« Ein kühler Westwind kam auf, eine Erinnerung, dass der Winter nicht fern war. Cadderly sah ihm entgegen, suchte die Linien der Wege im fernen Schneeflockengebirge, die Pfade, die zur Erhebenden Bibliothek führten.
Vielleicht war es an der Zeit, nach Hause zu gehen.
Autor Robert A. Salvatore, geboren 1959 in Massachusetts, ist der international erfolgreiche Autor der Saga um die Vergessenen Welten und der Dunkelelf‐Saga. R. A. Salvatore lebt mit seiner Frau Diane und ihren drei Kindern in Massachusetts.
R. A. Salvatore im Goldmann Verlag
Die Vergessenen Welten: Der gesprungene Kristall (24549) • Die verschlungenen Pfade (24550) • Die silbernen Ströme (24551) • Das Tal der Dunkelheit (24552) • Der magische Stein (24553) • Der ewige Traum (24554)
Die Saga vom Dunkelelf: Der dritte Sohn (24562) • Im Reich der Spinne (24564) • Der Wächter im Dunkel (24565) • Im Zeichen des Panthers (24566) • In Acht und Bann (24567) • Der Hüter des Waldes (24568) • Das Vermächtnis (24663) • Nacht ohne Sterne (24664) • Brüder des Dunkels (24706)
Die Drachenwelt‐Saga: Der Speer des Kriegers (24652) • Der Dolch des Drachen (24653) • Die Rückkehr des Drachenjägers (24654)
Das Lied von Deneir: Das Elixier der Wünsche (24703) • Die Schatten von Shilmista (24704) • Die Masken der Nacht (24705)
ISBN 3 ‐442‐24705‐5 Die amerikanische Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel »Forgotten Realm: Night Masks « bei TSR, Inc. Aus dem amerikanischen von Imke Broderson Deutsche Erstveröffentlichung 2/97 Copyright © 1992, 1996 TSR, Inc