FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI DIE KONZEPTION DES MESSIAS BEI MAIMONIDES UND DIE FRÜHMITTELALTERLICHE ISLAMISCHE PHILOSOP...
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FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI DIE KONZEPTION DES MESSIAS BEI MAIMONIDES UND DIE FRÜHMITTELALTERLICHE ISLAMISCHE PHILOSOPHIE
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S T UDI A JUDAICA F OR SC H U NGE N Z U R W I S S E N S C H A F T D E S JUDE N T U M S
B E G RÜ N D E T VON E. L. E H R L I CH H E R AU S G E G E B E N VON G. S T E M B E RG E R
BA N D X L I V
WA LT E R D E G R U Y T E R · B E R L I N · N E W YO R K
DIE KONZEPTION DES MESSIAS BEI MAIMONIDES UND DIE FRÜHMITTELALTERLICHE ISLAMISCHE PHILOSOPHIE VON F RA NC ES CA YA RD EN IT AL BE RTINI
WA LT E R D E G R U Y T E R · B E R L I N · N E W YO R K
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020636-4 ISSN 0585-5306 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Für Matthias Schollen (1960–2008)
VII
Danksagung Die vorliegende Arbeit konnte dank eines zweijährigen Forschungsstipendiums der Minerva-Stiftung (München) an der Jewish National and University Library der Hebrew University of Jerusalem (Israel) geschrieben werden. Unter den wissenschaftlichen Angestellten der Bibliothek in Jerusalem möchte ich im Besonderen Alisa Allon, Elona Avinezer, Zipora Ben-Abou, Ruth Flint und Nurit Harvey für ihre Hilfsbereitschaft und ihre kompetente Unterstützung danken. In der letzten Phase meiner Arbeit waren einige Forschungsaufenthalte an der Klau Library (Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion) in Cincinnati (Ohio, USA) nötig, um die Rezeption der frühmittelalterlichen islamischen Philosophie im jüdischen Denken zu untersuchen. Den erfahrenen und hilfsbereiten Angestellten der Klau Library (im Besonderen Israela Ginsburg, Daniel Rettberg und Arnona Rudavsky) unter der Leitung von Dr. David J. Gilner bin ich zu Dank verpflichtet. Mein Aufenthalt in Jerusalem fiel in eine sehr schwierige politische und soziale Situation, die ich nur mit der menschlichen bzw. wissenschaftlichen Hilfe vieler Freundinnen und Freunde sowie Kolleginnen und Kollegen überstehen konnte, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte: Prof. Dr. Gideon Freudenthal (Jerusalem/Tel Aviv), Prof. Dr. Steven Harvey und seiner Familie (Jerusalem/Bar Ilan), Prof. Dr. Warren Zev Harvey und seiner Familie (Jerusalem), PD Dr. Elisabeth Hollender und Ulrich Berzbach (Köln), Prof. Dr. Giora Hon (Haifa), Yael E. Jenner (Jerusalem), Prof. Dr. Sara Klein-Braslavy (Tel Aviv/Haifa), Dr. Rachel Livneh-Freudenthal und Aharon Bezalel (Jerusalem), Prof. Dr. Menachem Lorberbaum (Jerusalem/Tel Aviv), Prof. Dr. Paul Mendes-Flohr (Chicago/Jerusalem), Dr. Ithamar Raz (Hadassah Medical Center, Eyn Kerem), Ahuva und Yonathan Ofek (Jerusalem), Prof. Dr. Yossef Schwarz (Jerusalem/Tel Aviv) und seiner Familie, Lea Tsemel (Jerusalem) und ihrer Familie. Ich bin auch Dr. Dieter Adelmann (Wachtberg bei Bonn, 1936–2008), Simone Ambrosino (Rom), Dr. Ann und Johannes Baumgartner (Freiburg i. Br.), Dipl.-Psych. Susanne Beischer (Hamburg), Dr. Angelo Cei (Leeds), Dr. Alessandro De Losa (Rom), Dr. Emanuele D’Onofrio (Manchester), PD Dr. Gad Freudenthal (Paris), Prof. Sergio Lauricella (Rom), Prof. Dr. Matthias Lutz-Bachmann (Frankfurt a. M.), Dr. Gudrun Meinshausen (Freiburg i. Br.), Prof. Dr. Friedrich Niewöhner (1941–2005, Wolfenbüttel), Dr. Stefana Sabin (Frankfurt a. M.) und Prof. Dr. Giuseppe Veltri (Halle) zu Dank verpflichtet.
VIII
Danksagung
Ohne den ausgezeichneten Arabischunterricht von Yael Cohen (Jerusalem) und Omar Salah (Freiburg i.Br.) wäre meine Forschung nicht möglich gewesen. Warren Zev Harvey und Menachem Lorberbaum waren im Besonderen aufregende und geduldige Gesprächspartner. Selbstverständlich bin ich allein für den Inhalt des Buchs verantwortlich. Für die Revision sowie für die kritische Lektüre des Manuskriptes möchte ich mich bei Thomas Reichert (Stuttgart), Beate Ulrike Sayed (Potsdam/Berlin) und Dr. Micha H. Werner (Utrecht/Amsterdam) bedanken. Mein Ehegatte, Prof. Dr. Claus-Steffen Mahnkopf (Leipzig/Freiburg i. Br.), hat mir durch seine intellektuelle und menschliche Unterstützung geholfen, die im Laufe der Arbeit aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden. Es ist mir nicht möglich, meine Dankbarkeit ihm gegenüber in wenige Worte zu fassen. Prof. Dr. Hans Daiber (Frankfurt a M.) und Prof. Dr. Günter Stemberger (Wien) haben die wissenschaftlichen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen deutlich verbessert. Dieses Buch sei allen Yordim gewidmet, mit denen ich befreundet bin. Potsdam, im Oktober 2008 (Cheshwan 5769)
IX
Inhalt
Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Umschrift des arabischen Alphabets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Umschrift des hebräischen Alphabets . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIV Abkürungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 1. Kapitel: Moses Maimonides’ Briefe und der Messias . . . . . . . . § 1 Die Ausbildungsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Der Messias in Moses Maimonides’ Briefen . . . . . . . . . . 2.1 Iggeret ha-Shemad oder Maamar Qiddush ha-Shem (1160 oder 1161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Iggeret Teman oder „Brief in den Jemen“ (1172) . . . . 2.2.1 Der Messias und die messianische Zeit im Iggeret Teman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Maamar Tehyyat ha-Metim oder Traktat über die Auferstehung der Toten (1191) . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die politische und soziale Funktion der messianischen Zeit im Maamar Tehyyat ha-Metim . . . . . . . . . . . 2.4 Iggeret lehakhme Montpellier al gezerat ha-kokhavim oder Brief über die Astrologie (1194) . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Pereq Heleq und der Messias ausgehend von den frühislamischen Einflüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1 Pereq Heleq: Rolle und Bedeutung des Messias in den dreizehn Glaubensartikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Der karäische Einfluss auf Pereq Heleq: Sind die Maimonidischen Glaubensartikel Dogmen? . . § 3 Der Einfluss der Mu>taziliten und der Ash>ariten auf das jüdische Frühkaräertum bezüglich der ‚Prinzipien der Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Die theologische und philosophische Bedeutung der Glaubensartikel im Frühkaräertum (8.–12. Jahrhundert)
1 1 8 8 14 17 32 35 37
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42
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X
Inhalt
Al-Kitab al-Muhtawi . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 § 5 Die Glaubensartikel in Pereq Heleq . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1 Der erste Teil von Pereq Heleq als Schlüssel zur Interpretation der Glaubensartikel . . . . . . . . . . . . 70 5.2 Die ontologischen bzw. metaphysischen Glaubensartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.3 Legalistische bzw. politische Glaubensartikel . . . . . . 92 5.4 Die eschatologischen Glaubensartikel . . . . . . . . . . 107 § 6 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.1 4.2
3. Kapitel: Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda> . . § 1 Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Beziehung zwischen Philosophie und Gesetz in der Mishneh Torah: Einflüsse des islamischen Denkens . . a) Fari>a und fiqh in der mittelalterlichen islamischen Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erkenntnis und Gesetz im Sefer ha-Madda> . . . . . . c) Gesetz und Gemeinde, Gesetz und Ethik in der mittelalterlichen islamischen Rechtswissenschaft und im Sefer ha-Madda> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Erkenntnis, Gemeinde und >olam ha-ba in Hilkhot De>ot . . § 3 Studium der Torah und >olam ha-ba in Hilkhot Talmud Torah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Das >olam ha-ba in Hilkhot >Avodah Zarah we Hoqqot Ha-Goyyim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Die Lehre des >olam ha-ba und des Messias in den Hilkhot Teshuvah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Individuelle und gemeinschaftliche Dimension der Hilkhot Teshuvah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Nationale und übernationale Eschatologie in den Hilkhot Teshuvah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Problem des freien Willens in Bezug auf die mittelalterliche islamische Debatte und seine gemeinschaftliche Dimension in Hilkhot Teshuvah . . § 6 Das >olam ha-ba in bezug auf Aristoteles, Alfarabi und den Talmud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Glückseligkeit und Zeit in der Nikomachischen Ethik . 6.2 The Attainment of Happiness von Alfarabi . . . . . . . 6.3 Aristoteles–Alfarabi–Maimonides: Glückseligkeit und Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 120 125 130 136
141 151 165 171 173 185 194
207 215 216 227 244
Inhalt
6.4 Biblische und talmudische Vorstellung des >olam ha-ba § 7 Das >olam ha-ba in den Hilkhot Teshuvah . . . . . . . . . . . 7.1 Der Messias aus dem Hause Davids und die Tage des Messias (Yemot ha-Mashiah): Die Einheit der Erlösung bei Maimonides . . . . . . . . . . . § 8 Inhaltliche Verbindung und zeitliche Differenz zwischen dem Leben im >olam ha-zeh und dem Leben im >olam ha-ba § 9 Liebe, Erkenntnis und >olam ha-ba . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kapitel: Die frühmittelalterliche islamische Philosophie und der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem . . § 1 Das Sanhedrin: Die Anwendung der Gerechtigkeit . . . . . . 1.1 Die Struktur des Sanhedrin: Funktion des Richters und Funktion des Königs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Politische und ethisch-religiöse Aspekte der Funktion des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Der König als politische Gestalt in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem . . . . . . . . . . . 2.1 Prophetie und Politik: Die Lehre des Qur’an im Denken von Alfarabi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Gesetzgeber im Denken von Alfarabi: The Enumeration of the Sciences . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Gesetzgeber in The Book of Religion . . . . . . . . 2.4 Der Gesetzgeber und die Glückseligkeit in The Attainment of Happiness . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 The Philosophy of Plato and The Philosophy of Aristotle 2.6 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadla . . . . . . . . . 2.7 Der König-Philosoph in Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Die natürlichen Züge des Königs und seine Beziehung zum Gesetz im ’Ara’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Fusul al-Madani (The Aphorisms of the Statesman) . . . § 3 Die Monarchie im Tanakh und in der jüdischen Tradition . . 3.1 Der König-Philosoph in der Politeia . . . . . . . . . . . . § 4 Der König und der Messias: Die Verbindung beider Gestalten im Sefer Shofetim . . . . . . 4.1 Der König im Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem . . 4.2 Der Krieg bzw. ‚die Kriege‘ in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem und ihre Beziehung zum König-Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Der König-Messias bei Maimonides: eine eschatologische Figur? Einige Reflexionen ausgehend von der biblischen, mishnaischen und rabbinischen Tradition
XI
248 253
261 266 270
276 276 279 285 287 290 294 302 309 323 329 334 341 349 359 367 371 371
377
398
XII
Inhalt
§ 6 Natur und Funktion des König-Messias bei Maimonides . 6.1. Die politische Auslegung des König-Messias . . . . 6.2. Die nationale und übernationale Auslegung des König-Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Tage des Messias und die messianische Zeit bei Moses Maimonides . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 406 . . 409 . . 419 . . 427
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
XIII
Inhalt
Umschrift des arabischen Alphabets Konsonanten ا ’ ب b ت t ث t ج p ح h خ h د d ذ d ر r ز z س s ش sˇ ص s
ض ط ظ ع غ ف ق ك ل م ن و ي
d t z > g f q k l m n h w y
XIV
Inhalt
Umschrift des hebräischen Alphabets Konsonanten X ’ b v, B b g g d d h h v w z z x h u t y y k kh, K k l l
m n c i p j q r w w t
m n s > f, P p s q r s sh t
Vokale: Es werden nur die fünf Grundvokale a, e, i, o, u ohne Längen- und Kürzenzeichen angewandt. Shwa mobile wird als hochgestelltes e (e) wiedergegeben.
Abkürzungsverzeichnis
XV
Abkürzungsverzeichnis AJSR Review of the American Association for Jewish Studies AO Acta Orientalia AR Archiv für Religionswissenschaft AZGKJ Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden BBR Bulletin for Biblical Research BF Biblisches Forum BH Binah. Studies in Jewish History, Thought and Culture BIJS Bulletin of the Institute of Jewish Studies BR Bible Review CBQ Catholic Biblical Quarterly CCARJ Central Conference American Rabbis Journal CCM Cahiers de Civilisation Médiévale CL Clio Medica CS Cristianesimo nella Storia DJPK Daat. A Journal of Jewish Philosophy & Kabbalah EH El Ha’Ayin („Back to the Sources“). Materials for Bible Study Circles EIF Eclaireures Israelites de France EJ European Judaism ET Evangelische Theologie FJB Frankfurter Judaistische Beiträge FP Filosofia Politica FPJSCP Faith and Philosophy. Journal of the Society of Christian Philosophers HSE Henoch. Studi Storiofilologici sull’Ebraismo HS Hebrew Studies HTR Harvard Theological Review HUCA Hebrew Union College Annual ICHQR Islamic Culture. The Hyderabad Quarterly Review IHT Islam. History and Theology IJBT Interpretations. A Journal of Bible and Theology IJMES International Journal of Middle-East Studies IOS Israel Oriental Studies IS Islamic Studies JAJC Judaism. American Jewish Congress JAOS Journal of the American Oriental Society JBL Journal of Biblical Literature
XVI
Abkürzungsverzeichnis
JBVJ Judaica. Beiträge zum Verständnis des Judentums JCCAR Journal of the Central Conference of American Rabbis JHP Journal of the History of Philosophy JJGL Jahrbücher für Jüdische Geschichte und Literatur JJOS Journal of Jewish and Oriental Studies JJS Journal of Jewish Studies JLA Jewish Law Annual JPJ Journal of Progressive Judaism JPSR Jewish Political Studies Review JQR Jewish Quarterly Review JSAJ Journal of the Society for American Judaism JSR Journal for the Study of Religion JT Jewish Thought KS Knowledge and Society M Midstream MGRAI Materia Giudaica. Rivista dell’associazione italiana per lo studio del giudaismo MGWJ Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums MJ Modern Judaism Materia Giudaica. Rivista dell’associazione italiana per lo studio del giudaismo MJDJG Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte MJL Monatsschrift für jüdische Literatur MKNAW Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen MM Miscellanea Mediaevalia MS Maimonidean Studies MW Muslim World PAAJR Proceedings of the American Academy for Jewish Research PIASH Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities OS Orientalia Suecana OSAP Oxford Studies in Ancient Philosophy OTE Old Testament Essays RHPR Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses RQ Revue de Qumran SGL Solomon Goldman Lectures SHPR Studies in the History and Philosophy of Religion SI Studia Islamica SIJJS Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies SMAA Speculum. Medieval Academy of America SMJHL Studies in Medieval Jewish History and Literature SMJR Studies in Muslim-Jewish Relations SO Studia Orientalia
Abkürzungsverzeichnis
StS Studi Storici TMJ Torah U-Madda Journal TQJS Tarbiz. A Quarterly for Jewish Studies ZI Zionist Ideas
XVII
XVIII
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
XIX
Vorwort Als ich Anfang 2002 an ein Thema dachte, welches auch heute noch eine Herausforderung darstellt, war ich angezogen von der Geschichtsphilosophie der letzten zwei bis drei Jahrhunderte und im Besonderen den vielschichtigen philosophischen, religionsphilosophischen, politischen und theologischen Versuchen, ein Wert- bzw. Bedeutungssystem aus der Geschichte zu gewinnen. Die diesbezüglichen Ausgangsfragen sind bekannt: Welches ist die Beziehung zwischen Wahrheit – vor allem ‚welcher Wahrheit‘? – und Geschichte? Haben die Ereignisse einen Wahrheitswert an sich oder erhalten sie ihn lediglich durch unsere hermeneutischen Fähigkeiten? Gibt es einen ‚Zeitgeist‘ und, wenn ja, inwieweit hilft uns die Geschichte, die Quellen zu identifizieren, die für sein Verständnis und seine Bestimmung notwendig sind? Bedeutet ein wie auch immer gearteter ‚Zeitgeist‘ eine Entlastung des menschlichen Willens und des menschlichen Handelns gegenüber der Geschichte? Hermann Cohen – dem ich meine Dissertation widmete – hat unter dem Einfluss der Kantischen Philosophie in seinen religionsphilosophischen Werken (sowohl in den Jüdischen Schriften als auch im Begriff der Religion im System der Philosophie [1915] und in Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums [1919]) versucht, die Geschichte nicht nur als teleologisches System zu fassen, mithin als eine holistische, sich auf ein gewisses Ziel orientierende Laufbahn, sondern diese Laufbahn auch als gespannte Linie zwischen einem fixen Anfang (Schöpfung) und einem offenen Ende (Erlösung) zu untersuchen. Die Bedeutung des geschichtlichen Handelns liegt in der jeweiligen Reaktion auf das, was geschaffen wurde, jedoch ist die mögliche Wiederherstellung der von Gott am Anfang gesetzten Ordnung die Aufgabe des Menschen, die er freiwillig auf sich nehmen oder verweigern kann. Die Erlösung ist nicht eine großzügige und beliebige Gabe Gottes, welche das weltliche Ungleichgewicht aufheben wird, sondern die folgerichtige Konsequenz des menschlichen Handelns nach dem Gesetz Gottes in der Geschichte. Der Mensch und nicht Gott ist der Hauptakteur in der Geschichte, dessen Wirken freilich ist von der Erkenntnis des göttlichen Gesetzes nicht zu trennen, soll er in der Tat gemäß dem Gleichgewicht unter den Geschöpfen im Sinne der ‚Gerechtigkeit des Ursprungs‘ handeln. In diesem Sinne übersteigt die Wahrheit die Empirie und die Zeitenfolge, und es ist diese Wahrheit, an die sich der Mensch in der Empirie und in den Zeiten handelnd
XX
Vorwort
annähern kann. Selbstverständlich ist die Hermeneutik in jedem Bereich des Wissens (juristische Hermeneutik, Hermeneutik des Sozialen usw.) das einzige Instrument des Intellekts, um zwischen der Unveränderbarkeit der Wahrheit und der Vergänglichkeit der Geschichte zu vermitteln, aber solche Vermittlung ist nur ihre Funktion, ihr Zweck ist hingegen die Verwirklichung der Gerechtigkeit auf Erden durch die Bezugnahme auf die ‚Wahrheit‘ und die ‚Zeit‘. In diesem Zusammenhang wurde ich auf eine radikale Behauptung von Hermann Cohen aufmerksam, welcher die Konzeption des Messias von Moses Maimonides als eine Form von Sozialismus ante litteram definiert.1 Obwohl eine solche Behauptung übertrieben ist, führte mich das Nachdenken darüber zur Untersuchung des Politischen im Denken von Maimonides und zur Analyse der ersten Denker, welche ihre Arbeit diesem Aspekt in dessen Philosophie widmeten. Am Ende des 19. Jahrhunderts begann diese Untersuchung am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau (1854–1938), wo führende Intellektuelle und Lehrer wie David Kaufmann, Manuel Joël und Isaak Heinemann durch das Studium der politischen Werke der arabischen Welt zu einer neuen Interpretation von Maimonides’ Philosophie kamen.2 Die Wiederentdeckung des islamischen Denkens in der Moderne veränderte somit die Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen jüdischen Philosophie, und so widmete ich meine Forschung dieser Veränderung, ausgehend von der Auseinandersetzung mit modernen und zeitgenössischen Denkern, die sich mit dem politischen Aspekt der Maimonidischen Philosophie beschäftigten, im Besonderen Leo Strauss, Yeshayahu Leibowitz, Harry A. Wolfson, Charles E. Butterworth, Isadore Twersky, Ralph Lerner, David Hartman, Alexander Altmann, Shlomo Pines, Amos Funkenstein, Aviezer Ravitsky, Arthur Hyman, Joel L. Kraemer, Eliezer Schweid, Jeffrey Macy, Miriam Galston, Howard T. Kreisel, Warren Zeev und Steven Harvey, Menachem Lorberbaum, Jacob I. Dienstag, Ben Zion Bokser, S. Daniel Breslauer, Solomon Zeitlin, David Banon und Gabriel Danzig. Trotz der manchmal sogar radikalen Unterschiede zwischen diesen Gelehrten irritierte mich eine ihnen allen gemeinsame Tendenz: Sie führten eine politische Interpretation von Maimonides durch und gingen dabei von Fragen aus, die überhaupt nicht zu dessen zeitlichem oder sozialem Horizont gehörten. Dass ein mittelalterlicher Philosoph auch in die heutigen Diskussionen legitim einbezogen werden kann, sollte nicht dazu führen, seinen ge1 2
Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 19953, S. 361. Zur Zeit arbeitet Herr George Kohler an einem Dissertationsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Howard Kreisel und Prof. Dr. Gideon Freudenthal an der Ben Gurion University of the Negev (Beer Sheva, Israel), das der Rezeption von Maimonides am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau gewidmet ist.
Vorwort
XXI
schichtlichen und kulturellen Kontext zu missachten, schon gar nicht in dem Sinne, sein Denken mit ‚gegenwartsbezogenen‘ Projektionen zu interpretieren. Ich fragte mich, ob eine Untersuchung, welche die Vergangenheit dieses Philosophen in den Blick nimmt, zum selben Schluss führen konnte, zu dem die obengenannten Gelehrten gekommen waren. Eine solche ‚vergangenheitsbezogene‘ Untersuchung bedeutete einerseits das Verstehen der geschichtlichen, intellektuellen und religiösen Situation der sehr unterschiedlichen Kulturen, denen Maimonides im Laufe seines bewegten Lebens begegnete, und andererseits bedeutete es, der Versuchung zu widerstehen, unbedingt einen Beweis für die Modernität von Maimonides finden zu wollen. Das politische Denken Maimonides’ spricht selbstverständlich nach wie vor zu unserer Zeit, aber gerade sein Universalismus rechtfertigt keine Vernachlässigung des spezifischen ‚Sitzes im Leben‘. Die Gegenstände unserer Untersuchungen sollten niemals wie ‚Labels‘ wissenschaftlicher Schulen behandelt werden. Beispielsweise hat Leo Strauss uns zu überzeugen versucht, die Philosophie von Maimonides sei hauptsächlich eine Quelle von zu entziffernden Geheimnissen, während Shlomo Pines behauptete, das Denken von Maimonides sei nur von den Kategorien des Politischen her zu verstehen. Beide Positionen sind aber nur begründet, wenn sie gerade nicht als einzige Interpretationsweise angenommen werden. Damit sei kein Vorwurf gegen die obengenannten Gelehrten erhoben, freilich ist in der Sekundärliteratur eine gemeinsame Tendenz zu finden, mit der ich keineswegs übereinstimme: nämlich ‚unser‘ Konzept von ‚Moderne‘ auf Maimonides anzuwenden, anstatt seine eigene ‚Modernität‘ im Ausgang von den Primär- und Sekundärquellen zu untersuchen, eingeschlossen diejenigen, die scheinbar außerhalb des Horizontes von Maimonides liegen wie z.B. die karäische oder die qumranische Literatur. In bezug auf mein spezifisches Thema – die politische Konzeption des König-Messias – geht, so habe ich festgestellt, die generelle Tendenz der Gelehrten dahin, undifferenziert von ‚Messias‘ und ‚Messianismus‘ bei Maimonides zu sprechen. ‚Messianismus‘ ist aber genau betrachtet eine Strömung der Moderne3, welche die messianische Idee in den meisten Fällen gerade nicht mit einer bestimmten Figur identifiziert und sich hauptsächlich Zeittheorien verdankt (exemplarisch ist der Fall von Walter Benjamin), die nicht genuin ihren Ursprung in jüdischer Religionsphilosophie bzw. in einer Religionsphilosophie überhaupt haben. In der jüdischen Religionsphilosophie sowie in der jüdischen Religionsgeschichte kann man den häufigen Gebrauch von Begriffen wie ‚Messianismus‘, ‚messianischer Zeit‘ und ‚Utopie‘ feststellen, ohne dass dabei eine präzise terminologische Differenzierung 3
Siehe u.a.: Joseph Marie Hoëné-Wronski, Messianisme: union finale de la philosophie et de la religion, 2 Bde., Paris 1831–1839.
XXII
Vorwort
vorgenommen würde. Eine solche Untersuchung würde die Grenzen der vorliegenden Arbeit sprengen, jedoch halte ich es für notwendig, zumindest zu erklären, was man hier unter ‚Messias‘ versteht, damit keine Kluft zwischen dem jüdischen Verständnis dieses Begriffs und demjenigen meiner LeserInnen die Rezeption der vorliegenden Arbeit erschwert oder sogar verhindert. In Maimonides’ Werken findet man nicht so etwas wie einen ‚Messianismus‘, sondern eine bestimmte politische Lektüre der Figur des Messias als eines höchsten Leiters der Gemeinde. Während darüber hinaus der Messianismus danach strebt, auf den Anfang einer neuen Zeitgeschichte hinzuarbeiten, besitzt der Messias bei Maimonides keine apokalyptischen, überhaupt keine eschatologischen Charakterzüge. Mit dem Messias beginnt kein Zeitalter, das sich radikal von der Geschichte und von der Zeit – wie wir sie kennen und wahrnehmen – abhebt: Seine Aufgabe ist die Erfüllung des Gesetzes als Restauration der vorherigen Schöpfungsordnung und zugleich als Entstehung einer neuen Ordnung, die diesmal nicht von Gott, sondern vom Menschen selber eingerichtet wird. Im Fall von Maimonides gilt also die traditionelle Unterscheidung von Gershom Scholem zwischen einem restaurativen und einem utopischen Messianismus nicht, weil beide Elemente zugleich gegenwärtig sind. Zudem hat sich die moderne und zeitgenössische Sekundärliteratur hauptsächlich mit dem Verhältnis zwischen Prophetie und ‚Messianismus‘ beschäftigt und bevorzugt den Moreh ha-Nevukhim ins Zentrum ihrer Untersuchung gestellt. Da es nicht meine Absicht war, eine Sammlung der vorherigen Theorien anzubieten, habe ich das Thema der Prophetie – soweit es möglich war – hintangestellt und meine Aufmerksamkeit auf die Mishneh Torah gerichtet, in der die gesetzgebende Rolle, die Maimonides selber als Leiter der jüdischen Gemeinde in Kairo übernahm, mit seiner Konzeption vom Menschen, von Gott und der Welt angesichts des König-Messias konfluiert. Auf die Kritik einiger Kollegen (Hans Daiber u.a.), wie die Behandlung der messianischen Gestalt ohne die Behandlung der Prophetie möglich sein könnte, antworte ich mit der Erklärung des Hauptziels des vorliegenden Werkes: Ich habe keine Wiederholung von zahllosen bereits bekannten Thesen (darunter derjenigen über die Prophetie) vor, sondern die Vorstellung einer neuen Interpretation des Messias bei Maimonides ausgehend von der frühmittelalterlichen islamischen Philosophie. Dieses Thema wurde von der bisherigen Forschung noch nicht ausreichend untersucht, weswegen ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich darauf konzentrierte. Aus diesem Grund beschäftigte ich mich sehr kurz und nur angesichts spezifischer Aspekte meines Hauptziels mit der Prophetie. Durch meine Untersuchungsmethode war es mir möglich, eine direkte Verbindungslinie zwischen der talmudischen Tradition und Maimonides zu ziehen. Der Messias stellt nicht den Kern der talmudischen Lehre dar, und
Vorwort
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alle seine Erwähnungen haben eines gemeinsam: Sie betonen die Verantwortung des Menschen für die Ankunft des Messias. Beispielhaft ist eine von Martin Buber häufig erwähnte talmudische Erzählung, in der ein Rabbiner den Messias seinen Schülern als einen Mann darstellt, der an den Pforten von Rom wartet. Worauf wartet der Messias? „Auf dich“, war die Antwort von Martin Bubers Großvater, eine Antwort, die Buber erst viele Jahre später begreifen sollte. Der Messias ist nicht der Gesalbte, der uns von Gott zu einer bestimmten Zeit und aus unerforschlichen Gründen geschenkt wird: Der Messias kommt, um die Bedeutung des Gesetzes vollkommen verständlich zu machen, mithin, um ein Werk zu beenden, das der Mensch bereits angefangen haben muss. Der Messias verwirklicht sich somit in der zeitlichen und geschichtlichen Entwicklung der Menschheit sowie im verantwortlichen Handeln des Menschen gegenüber der ganzen Schöpfung. Die Achtung gegenüber dem Anfang (Schöpfung) und seiner ständigen Erneuerung endet nicht mit dem eschatologischen bzw. apokalyptischen Verfall der Geschichte, sondern mit der Vollbringung ihrer innerlichsten Bedeutung, die vom göttlichen Gesetz gestiftet wird. Diese politischen (in bezug auf die Gemeinde) und geschichtlich-philosophischen Aspekte des Messias erfahren bei Maimonides eine der tiefsten Ausarbeitungen während des jüdischen Mittelalters. Mit meiner Forschung wollte ich im Besonderen eine Lücke füllen, auf die viele Gelehrte bis heute immer wieder hingewiesen haben: Ich meine die politisch-philosophische Verbindungskette zwischen Platon, Al-Farabi und Maimonides in bezug auf den messianischen König, die sich mehr in Mishneh Torah (seines legalistischen Charakters wegen) als in Moreh haNevukhim zeigt. Meine Arbeit hebt deswegen mit den Griechen an, um von dort aus zu den frühmittelalterlichen islamischen Lehren vorzustoßen, die Maimonides beeinflussten. Ausgehend von den Denkstrukturen der jüdisch-islamischen Epoche zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert versuche ich, den politischen Charakter des König-Messias und die ‚moderne‘ Vorstellung in bezug auf das geistig-kulturelle Umfeld von Maimonides aufzuzeigen. Im Rahmen dieser Forschung – in deren Zentrum die Mishneh Torah steht – untersuchte ich zahlreiche Handschriften, die nicht nur den bereits bekannten Kontrast zwischen Maimonides und den Karäern zeigten, sondern auch belegen, wie stark Maimonides in der Schuld der Karäer sowie der frühen islamischen Theologen des Mittelalters steht. Diese Einflüsse sind im Besonderen in Kapitel 1 über den Messias im Briefwechsel von Maimonides und in Kapitel 2 über die Konzeption des Messias im Pereq Heleq herausgearbeitet. Für die Analyse der Mishneh Torah habe ich die Untersuchung des ersten Buchs (Sefer ha-Madda’ – Buch der Erkenntnis) und die des letzten (Sefer Shofetim – Buch der Richter, dessen letzte beide Kapitel dem König-
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Vorwort
Messias gewidmet sind) auf die Kapitel 3 und 4 verteilt, damit die Ähnlichkeit der untersuchten Themen (besonders kommende Welt und Messias) die entscheidenden Unterschiede nicht überdeckt. Diese Unterschiede sind für die Zielsetzung beider Bücher relevant, zusammengehalten werden sie von der beständigen Präsenz sowohl einer individuellen (der Mensch als Jude) als auch einer kollektiven Ebene (die Menschheit) sowie von dem logischen und systematischen Verhältnis zwischen Erkenntnis und König-Messias in der Mishneh Torah. Es ist unvermeidlich, dass auch meine Maimonidesdeutung diejenige einer modernen Leserin ist. Um nicht fremde Probleme von heute in sein Denken hineinzutragen, wird die Aktualität dieses politischen Denkens bei so brisanten Themen wie Krieg, Völkerrecht und Legitimität von Gerichten ausgeklammert. Dies möchte der Objektivität meiner Darstellung dienen. Deren Ziel ist es, Maimonides unter einer anderen Perspektive zu sehen. Denn er bleibt eine Herausforderung, unter anderem für unseren Begriff der Wahrheit wie dem der Geschichte: Wenn wir Maimonides heute weiterhin befragen, so zeugt das von seinem universalistischen Denken als Philosoph, Jurist, Naturwissenschaftler, Theologe, Rabbiner sowie Arzt, und auch für unsere kritische ‚Demut‘ als heutige Wissenschaftler. Meine Arbeit strebt vor allem nach einer Belebung der Forschung zum jüdischen und islamischen Mittelalter im deutschsprachigen Raum, der nach dem Krieg – nach der Ermordung und der Auswanderung der Intellektuellen, die sich damit beschäftigten – keine Fortführung vergönnt war.
Die Ausbildungsjahre
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1. Kapitel Moses Maimonides’ Briefe und der Messias § 1 Die Ausbildungsjahre Wer sich mit Moses Maimonides beschäftigt, ganz gleich in welcher Perspektive, sieht sich schnell vor die Frage gestellt, ob etwas Neues und Originelles zum umfangreichen Bestand vielfältiger Studien beigetragen werden kann, die insbesondere während der letzten beiden Jahrhunderte erschienen sind. Aus diesem Grund möchte ich von vornherein den Zweck der vorliegenden Arbeit klarstellen: Es handelt sich hier nicht um eine weitere Interpretation des Maimonidischen Werks, sondern vielmehr um die Analyse eines Paradigmas innerhalb des jüdischen Denkens, das in Maimonides einen seiner wichtigsten Repräsentanten hat, nämlich die Interpretation des Messias als politischer Figur. Ein solches Paradigma verbindet jüdische Philosophen, die zu unterschiedlichen Zeiten lebten und die unterschiedliche Interessen und Zwecke verfolgten. Gemeinsam war ihnen ihre tiefe Verwurzelung innerhalb ihrer Gemeinden und ihr leidenschaftlicher Einsatz für die Gemeinschaft sowie ihr politisches Engagement. Das trifft im besonderen Maße auf Maimonides zu, der als Leiter der jüdischen Gemeinde in Ägypten eine der schwierigsten Zeiten in der Geschichte des jüdischen Volks erlebte. Maimonides wurde im Jahr 1135 oder 1138 als Kind eines renommierten Gelehrten und Schülers von Joseph ibn Migash in Cordoba geboren, einer Stadt, die sich wie fast die ganze damalige iberische Halbinsel unter muslimischer Herrschaft befand. Im Mai oder Juni 1148 wurde Spanien von einer orthodoxen muslimischen Sekte besetzt, die bereits das nordwestliche Afrika erobert hatte. Diese von >Abdallah ibn Tumart (der sich für den legitimen Nachfolger des Philosophen Al-Ghazali hielt) gegründete Sekte, nämlich die Al-Muwahhidun (‚Diejenigen, welche die Einheit Gottes behaupten‘), zwang die lokale Bevölkerung, durch die öffentliche Anerkennung von Muhammad als Propheten Gottes zum Islam zu konvertieren.1 1
Für eine erste Orientierung siehe: Karen Armstrong, Kurze Geschichte des Islam, aus dem Englischen von Stephen Tree, Berlin 2001; Julian A. Clancy-Smith (Hrsg.), North Africa, Islam and the Mediterranean World: from the Almoravids to the Algerian War, London 2001; Gustav E. von Grunebaum, Der Islam in seiner klassischen Epoche 622–1258, Zürich 1966; Ira M. Lapidus, A History of Islamic Societies, Cambridge 2002
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Moses Maimonides’ Briefe und der Messias
Die Juden in Spanien, welche die Apostasie ablehnten, starben den Märtyrertod. Um zu überleben, wanderte die Familie von Maimonides von Ort zu Ort, bis sie sich im Jahr 1160 in Fez niederließ. Dort lebte Rabbi Judah ha-Kohen ibn Susan, dessen Ruhm als Gelehrter auch in Spanien wohlbekannt war und bei dem der damals fünfundzwanzigjährige Maimonides bis zu ibn Susans Tod im Jahr 1165 lernte (nach Sa>adyah ibn Danan2 wählte auch ibn Susan das Martyrium, um den jüdischen Glauben nicht ablegen zu müssen). Während dieser Zeit, nämlich vor der Auswanderung nach Palästina und dann nach Ägypten, schrieb Maimonides seinen ersten, von den geschichtlichen und gemeinschaftlichen Umständen der verfolgten Juden stark geprägten Brief: Iggeret ha-Shemad 3 (um 1160–1161, „Brief über die Apostasie“, auch Iggeret Qiddush ha-Shem, „Brief über die Heiligung des Göttlichen Namen“4, genannt). Maimonides folgte wahrscheinlich dem Beispiel seines Vaters Maimon, der den zur Apostasie gezwungenen Juden einen Iggeret ha-Nehamah schrieb („Trostbrief“5: viele Juden fühlten sich wegen ihrer Apostasie schuldig, weshalb Maimonides’ Vater ihnen garantierte, dass ein Jude, wenn er nur die kürzeste Form der Gebete ausspricht und gute Taten verwirklicht, auf jeden Fall Jude bleibt). Nach einem Aufenthalt in Palästina zog Maimonides nach Ägypten, wo er dank seines Bruders David, der mit Edelsteinen handelte, ohne finanzielle Sorgen lebte, so dass er sich der Veröffentlichung seiner bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Werke (er beendete seinen Kommentar zur Mishnah um 1168) und der religiösen und zivilen Leitung der dortigen Gemeinde widmen konnte. Da er die Idee ablehnte, Geld mit der Torah zu verdienen, entschied sich Maimonides dafür, sich nach dem Tod seines Bruders dem Beruf des Arztes zu widmen. Erst nach dem Jahr 1185, nämlich nachdem er von al-Fadil, dem Herrscher Ägyptens, nach der Abfahrt von Salah ad-din im Jahr 1174 als Hofarzt ausgewählt wurde, begann Maimonides’ Ruf sich zu verbreiten.
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Saiyid H. Nasr, Islam: Religion, History, and Civilization, San Francisco 2003; Nicolas Prouteau, Chrétiens et musulmans en Méditerranée médiévale (VIIIe–XIIIe siècle): échanges et contacts, Poitiers 2003; Eberhard Serauky, Geschichte des Islam: Entstehung, Entwicklung und Wirkung von den Anfängen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2003. Saadia ibn Danan, Seder ha-Dorot, in: Hemdah Genuzah, 30b. Leon D. Stitskin (Hrsg. und Übersetzer), Letters of Maimonides, New York 1977, S. 34ff. Im 15. Jahrhundert zitiert Rabbi Shimon ben Zemach Duran (Rashbaz) diesen Brief als Maamar Qiddush ha-Shem („Traktat über die Heiligung des Göttlichen Namens“). In seiner Übersetzung nennt Abraham Halkin diesen Brief The Epistle on Martyrdom (Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership. The Epistles of Maimonides, Philadelphia/New York/Jerusalem 1985, S. 13–45). The Letter of Consolation of Maimun Ben Joseph, herausgegeben aus dem einzigen Bodleian arabischen Manuskript und ins Englische übersetzt von L. M. Simmons: The Letter of Consolation of Maimun ben Joseph, in: Jewish Quarterly Review 2 (1890), S. 62–101; Eliezer Schlossberg, Die Einstellung von R. Maimon, dem Vater von Maimonides, zum Islam und zu den muslimischen Verfolgungen (auf hebräisch), in: Sefunot 5 (1920), S. 95–107.
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Die Jahre zwischen 1160 und 1190 waren die fruchtbarsten und arbeitsreichsten Jahre im Leben von Maimonides, die von der Niederschrift der Mishneh Torah6 (beendet um 1180), von Der Führer der Unschlüssigen7 (Dalalat al-Hairin, auf Hebräisch: Moreh ha-Nevukhim, beendet um 1190) und von einer intensiven Korrespondenz mit den jüdischen Gemeinden weltweit (mit der Ausnahme des deutschen Bereichs) bestimmt waren. Der folgende Abschnitt eines im September 1199 geschriebenen Briefes an den Übersetzer des Führers der Unschlüssigen, Samuel ben Judah ibn Tibbon, in dem Maimonides seine umfassenden Verpflichtungen beschreibt, um ibn Tibbon von einem Besuch bei ihm abzuraten, ist in der Sekundärliteratur sehr häufig zitiert worden, weil er Maimonides’ intensives politisches, religiöses und wissenschaftliches Engagement ausführlich beschreibt: „Ich wohne in Misr [Fostat] und der Sultan residiert in al-Qahira [Kairo]; diese zwei Orte sind zwei Shabbat Tagesreisen voneinander entfernt. Meine Verpflichtungen beim Sultan sind erheblich. Ich bin verpflichtet, ihn jeden Tag früh am Morgen aufzusuchen; wenn er oder eines seiner Kinder oder ein Insasse seines Harems indisponiert sind, wage ich nicht, al-Qahira zu verlassen, sondern muss für den größeren Teil des Tages im Palast bleiben. Es kommt auch häufig vor, dass ein oder zwei der königlichen Beamten erkranken, und ich mich um ihre Heilung kümmern muss. Deshalb begebe ich mich in der Regel sehr früh am Tag nach al-Qahira, und kehre selbst wenn nichts Ungewöhnliches passiert, nicht vor dem Nachmittag nach Misr zurück. Dann bin ich schon fast verhungert. […] Ich finde die Vorzimmer mit Menschen gefüllt, sowohl Juden als auch Nichtjuden, Adligen als auch einfachen Leuten, Richtern als auch Gerichtsdienern, Freunden als auch Gegnern – eine uneinheitliche Menge, die mich zur Zeit meiner Rückkehr erwartet. Ich steige von meinem Tier, wasche meine Hände, gehe zu meinen Patienten und ersuche sie, Nachsicht mit mir zu haben, während ich einige kleine Erfrischungen zu mir nehme, die einzige Mahlzeit, die ich in vierundzwanzig Stunden zu mir nehme. Dann begebe ich mich zur Betreuung meiner Patienten und schreibe Verordnungen und Anweisungen für ihre Einnahme. Patienten gehen bis zum Einbruch der Dunkelheit ein und aus, und manchmal sogar, so versichere ich Dir feierlich, bis zu zwei Stunden oder mehr in der Nacht. Ich unterhalte mich mit ihnen und verschreibe für sie, während ich mich aus reiner Müdigkeit niederlege; und wenn die Nacht anbricht, bin ich so erschöpft, dass ich kaum sprechen kann. Infolgedessen kann ein Israelit abgesehen vom Shabbat keine Unterredung mit mir haben. An diesem Tag kommt die gesamte Gemeinde, oder zumindest die Mehrheit der Mitglieder, nach dem Morgengottesdienst zu mir und ich unterweise sie hinsichtlich ihres Handelns während der gesamten Woche; bis zum Mittag stu6 7
In der vorliegenden Arbeit werde ich mich auf die englischsprachige Ausgabe der Yale University Press beziehen: The Code of Maimonides, 19 Bde., New Haven 1949–1972. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich mich auf die deutsche Ausgabe beziehen: Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen, ins Deutsche übertragen und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. Adolf Weiss, 2 Bde., Leipzig 1923. An dieser Stelle ist auch die neue hebräische Übersetzung von Michael Schwartz (Tel Aviv 2002) zu erwähnen.
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Moses Maimonides’ Briefe und der Messias
dieren wir ein wenig zusammen, dann entfernen sie sich. Einige kehren zurück und lesen mit mir nach dem Nachmittagsgottesdienst bis zum Abendgebet. Auf diese Art und Weise verbringe ich den Tag.“8
Diese kurzen Hinweise auf Maimonides’ Biographie9 dienen uns dazu, die zentrale Rolle seiner politischen und gemeinschaftlichen Verpflichtungen hervorzuheben und die These zu verdeutlichen, dass ein großer Teil von Maimonides’ Werk ohne die Beachtung dieser fundamentalen Dimension seines Lebens und seines Denkens nicht hinlänglich begriffen werden kann. Die Wichtigkeit des Politischen bei Maimonides wurde bereits von zahlreichen Gelehrten (obgleich mit unterschiedlichen Akzentuierungen und von unterschiedlichen Perspektiven aus) betont.10 Ihre differenzierten Forschungen haben sich prinzipiell auf die folgenden Aspekte des politischen Denkens von Maimonides konzentriert: das Gesetz in seiner Unterscheidung zwischen fiqh (legalistische Bedeutung des Gesetzes) und sˇari>a 8 9
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Leon D. Stitskin (Hrsg. und Übersetzer), Letters of Maimonides, op. cit., S. 134f (Übersetzung von F. Y. A.). Für eine Vertiefung der Biographie Maimonides’ vgl.: Moses ben Maimon: Sein Leben, seine Werke und sein Einfluss. Zur Erinnerung an den siebenhundertsten Todestag des Maimonides, hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung des Judentums durch Wilhelm Bacher u.a. Mitwirkung von Jacob Guttmann, Bd. 1, Leipzig 1908; Bd. 2, ebd. 1914 (Nachdr. in einem Band, Hildesheim/New York 1971); Leo Baeck, Maimonides: der Mann, sein Werk und seine Wirkung. Vortrag anlässlich der Gedenkfeier zur 750. Wiederkehr des Todestages des grossen Gelehrten Maimonides am 7. Juli 1954 in Düsseldorf, Düsseldorf 1954; Adolf Biach, Zur Erinnerung an den 700jähr.[igen] Todestag des jüdischen Geisteshelden Moses Maimonides, Brüssel 1907; Fred Gladstone Bratton, Maimonides: Medieval Modernist, Boston 1967; Hans Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, 2 Bde., Leiden 1999 (Suppl. 2007); Yves Djan, Maïmonide: le seconde Moïse, Paris 1997; Ismar Elbogen, Das Leben des Rabbi Mosche ben Maimon aus seinen Briefen und anderen Quellen, Berlin 1935; Isidore Epstein (Hrsg.), Moses Maimonides, 1135–1204, London 1935; Simon Federbush (Hrsg.), Maimonides: His Teachings and Personality. Essays on the Occasion of the 750th Anniversary of His Death, New York 1956; Max Felshin, Moses Maimonides (Rambam), New York 1956; David Feuchtwang/Samuel Krauss, Moses ben Maimon: Aus Anlaß der Wiederkehr seines Geburtstages, Wien 1935; Moritz Güdemann, Moses Maimonides, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 8 (1905), S. 93–106; Julius Guttmann (Hrsg.), Moses ben Maimon, sein Leben, seine Werke und sein Einfluss, 2 Bde., 1908–1914; Gérard Haddad, Maïmonide, Paris 1998; Maurice-Ruben Hayoun, Maïmonide ou l’autre Moïse, Paris 1997; ders., Maimonides: Arzt und Philosoph im Mittelalter. Eine Biographie, München 1999; Abraham J. Heschel, Maimonides: eine Biographie, Berlin 1935; Heinz Markstein, Der zweite Moses: Leben und Wirken des Moses ben Maimon, auch Maimonides genannt, Wien 1995; Ignatz Münz, Moses ben Maimon (Maimonides): Sein Leben und seine Werke, Frankfurt/M. 1912 (Nachdr. Zürich 1986); Felix Perles, Moses Maimonides, in: Ost und West 5 (1905), S. 289–300, 379–388; wiederabgedr. in: ders., Jüdische Skizzen, Leipzig 1912, S. 9–25; David Yellin/Israel Abrahams, Maimonides: His Life and Work, New York 1972; Arthur Weil, Moses Maimonides (Rambam) 1135–1204, 4895–4965: zur Erinnerung an seinen 750. Todestag, Basel 1954; Adolf Weiss, Moses ben Maimons Leben und Werke, in: Moses ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, op. cit., S. XI–CIV. Siehe S. VIII der vorliegenden Arbeit. Vgl. auch: Roland Goetschel, Maïmonide et le politique, in: Délivrance et fidélité. Textes du colloque tenu à l’Unesco en décembre 1985 à l’occasion du 850e anniversaire du philosophe, Paris 1985, S. 87–99. Im selben Werk siehe auch: Colette Sirat, Maïmonide, leader politique, S. 101–113.
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(Gesetz im eigentlichen Sinne) sowie zwischen schriftlichem und mündlichem Gesetz, die Differenzierung zwischen Befehl und Gesetz, die legislative Bedeutung der Prophetie, die Maimonidische Konzeption von Gemeinde (pumma> ), Staat (madina) und Gesellschaft11 (’iptima> ), ausgehend von AlFarabi und Averroes und von ihrer Interpretation der politischen Schriften Platons und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die Rolle der Providenz sowie den Unterschied zwischen Philosoph, Prophet, Gesetzgeber und König. Meine Untersuchungen zielen auf eine Auseinandersetzung und einen Vergleich mit den Positionen der obengenannten Forscher, die ich im Laufe der vorliegenden Arbeit ausführlich vorstellen werde, und zwar hinsichtlich eines Aspektes von Maimonides’ Denken, der relativ wenig thematisiert wurde, nämlich seiner Konzeption des Messias und der messianischen Zeit. Ohne die Rolle des Gesetzes und die Bedeutung des Politischen bei Maimonides zu begreifen, ist es meines Erachtens nicht möglich, seine Interpretation des Messias zu erfassen, weshalb man die von den oben genannten Forschern durchgeführten Studien im Rahmen einer solchen Analyse nicht außer acht lassen kann. Allein, weshalb nimmt die Figur des Messias lediglich einen äußerst kleinen Raum ein in der Sekundärliteratur über Maimonides als politischen Denker, im Vergleich zu Themen wie Prophetie, Gesetz und Gemeinde? Der Grundgedanke dieses Buchs ist die Abhängigkeit der Maimonidischen Messias-Konzeption von den politischen Aspekten seines Denkens. Ein Teil der Studien über Maimonides könnte von Gershom Scholems Stellungnahme in seinem Essay Towards an Understanding of the Messianic Idea in Judaism12 negativ beeinflusst worden sein. Obwohl auch Scholem der Meinung ist, dass das Interesse der jüdischen Tradition am Messianismus eine Konsequenz des politischen und geschichtlichen Lebens in der Diaspora ist, erkennt er den Messianismus nicht als ein Element der Philosophie von Maimonides: Der Rationalist Moses Maimonides, der sich gegen die apokalyptischen Darstellungen der Zukunft stellt, teile, so Scholem, die Konzeption der konservativen Halakhah, die sich nur um die Erhaltung der gefährdeten Grundprinzipien des Judentums in seinem jeweiligen geschichtlichen Milieu kümmert: „[S]ince the end of the individual life leads it anyhow to the threshold of the longed-for final state – which in reality is not a future world but an eternal present, the immanent logic of Maimonides’ general position does not in the least require an effort to bring about the end of world history in order for man to fulfill his task. Messianism, in fact, is not a postulate of his philosophical thought; regardless of 11 12
Obwohl der Begriff der ‚Gesellschaft‘ ein Produkt der modernen Theorie der Politik ist, trifft er am besten den weiten spekulativen Horizont, den das Wort ’iptima> umfasst. Gershom Scholem, The Messianic Idea in Judaism and Other Essays on Jewish Spirituality, New York 1970.
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how he may twist it to fit his rationalism, it remains even in this minimal state of utopianism a pure element of the stock of tradition. It is tied to the concerns of Maimonides’ systematic thought only via this earlier mentioned highly presumptuous identification of the contemplative life with the knowledge of God demanded by the prophets – but which in the prophetic sense always contained an active and moral element. The Messianic age eases the conditions under which the salvation of the soul can be found in the fulfillment of the Torah and the knowledge of God, but this facilitation is really all that here lends the restorative ideal a faint utopian shimmer. Maimonides regards the Messianic age as restorative and as a public event realized in the community. […] Maimonides did not attempt a purely philosophical justification of the Messianic idea on the basis of his ontology or ethics. Man is in principle completely capable of mastering his task and thereby mastering his future – in contrast to the apocalyptics who do not attribute this ability to man. The anti-apocalyptic vision of Maimonides says only that the Messianic age will strengthen man’s capability by favorable conditions of universal peace and universal happiness, but not that it will make possible that capability for the first time.“13
Meines Erachtens trifft die undifferenzierte Art, in der Scholem von Messias, Messianismus und messianischer Zeit spricht, die Position von Maimonides nicht wirklich.14 Nur wenn man unter Messianismus die Darstellung einer zukünftigen Gemeinde nach der Vollendung des göttlichen Gesetzes verstünde, hätte Scholem recht: Anders als Platon in der Politeia beschreibt Maimonides in keinem Werk die beste Regierung, auf die hin man sein Handeln ausrichten muss. Maimonides gibt keine Beschreibung der besten politischen Regierung als Konsequenz der messianischen Zeit. Vielmehr bleibt seine Darstellung sehr generell: Die messianische Zeit, wie sie z.B. in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem XI, 515 (Gesetze der Könige und ihrer Kriege – auch Scholem bezieht sich in Towards an Understanding of the Messianic Idea in Judaism16 auf diesen Abschnitt der Mishneh Torah) beschrieben wird, ist eine Zeit des Friedens unter den Nationen und der Prosperität, die dem Menschen gestattet, seinen endgültigen Zweck zu verwirklichen: dem kontemplativen Leben nachzugehen. Entscheidend ist aber 13 14
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Ibidem, S. 30f. Auch die folgenden Autoren sind der Meinung, dass nicht nur die Konzeption des Messias, sondern Maimonides’ gesamte Rechtsphilosophie mit der Halakhah nicht zusammenpassen kann: Yitzhak Baer, A History of the Jewish in Christian Spain, Philadelphia 1951, im Besonderen S. 96ff; Heinrich Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig 1891 (Nachdr. Darmstadt 1998, Bd. 6). The Code of Maimonides. Book Fourteen. The Book of Judges, übersetzt aus dem Hebräischen von Abraham M. Hershman, New Haven 1949, S. 242: „In that era there will be neither famine nor war, neither jealousy nor strife. Blessings will be abundant, comforts within the reach of all. The one preoccupation of the whole world will be to know the Lord. Hence Israelites will be very wise, they will know the things that are now concealed and will attain an understanding of their Creator to the utmost capacity of the human mind, as it is written: For the earth shall be full of the knowledge of the Lord, as the waters cover the sea (Is. 11:9)“. Im weiteren werde ich mich hinsichtlich der Konzeption des Messias ausführlich mit diesem Buch der Mishneh Torah beschäftigen. Gershom Scholem, Toward an Understanding, op. cit., S. 28–29.
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meines Erachtens, dass Maimonides’ Aufmerksamkeit weniger auf die Beschreibung der messianischen Zeit an sich gerichtet ist als auf die Rolle des Messias als führender politischer Figur für die Verwirklichung einer solchen Zeit. Dessen Erkennungszeichen, dessen Verpflichtungen, dessen Aufgaben und dessen Differenzierung von den Propheten bilden das Zentrum von Maimonides’ Interesse. Die Ablehnung der damaligen apokalyptischen Darstellungen bedeutet nicht die Ablehnung des Messianismus überhaupt. Ich bin überdies der Meinung, dass Scholem die Begriffe ‚Messianismus‘ und ‚Utopie‘ bei Maimonides nicht ausreichend differenziert: Maimonides’ Messias (zumindest, wie er in der Mishneh Torah skizziert wird) begründet eine Konzeption der Politik, die durch Gerechtigkeit und Prosperität die Bedingungen der Gotteserkenntnis schafft, wobei die Utopie, deren Darstellung man vor allem in Moreh ha-Nevukhim (3:11) finden kann, eine stark von Aristoteles geprägte Vision der Harmonie von praktischem und spekulativem Intellekt durch die Erkenntnis ist. Insofern zeigt Maimonides’ messianische Konzeption nicht nur einen restaurativen Charakter, wie Amos Funkenstein unterstrichen hat.17 An dieser Stelle will ich nicht Themen vorwegnehmen, mit denen ich mich im Laufe der vorliegenden Arbeit beschäftigen werde. Auch möchte ich hier keine Polemik gegen Gershom Scholem entwickeln. Ich möchte nur die Vermutung äußern, dass dessen scharfe Stellungnahme gegen den Messianismus als Element der Maimonidischen Philosophie einen gewissen Einfluss auf die beschränkte Beachtung dieses Aspektes seitens der Forschung ausgeübt haben könnte. Ein anderer Gesichtspunkt, der die Aufmerksamkeit der Gelehrten abgelenkt haben könnte, ist die nicht immer deutliche Differenzierung zwischen Messias und messianischer Zeit, ebenso die unterschiedlichen Nuancierungen in den Darstellungen des Messias in Maimonides’ gesamtem Lebenswerk, aufgrund deren sich dieses Thema an verschiedenen Orten und unsystematisch darstellt. Darüber hinaus spielt die politische Konzeption des Messias nicht nur in den legalistischen Werken, sondern auch in den Briefen eine wichtige Rolle, besser: Maimonides Briefe helfen uns, eine solche Konzeption deutlich zu begreifen, wobei sie und die anderen Werke normalerweise separat studiert wurden. Der Zweck meiner Untersuchung liegt darin, diese vielschichtige Dimension in Maimonides’ Denken zu analysieren, um zu belegen, dass die scheinbaren Widersprüche als Konsequenz der politischen Ausrichtung der jeweiligen Werke interpretiert werden können, die ihrerseits an unterschiedliche Adressaten gerichtet wurden. 17
Vgl. Amos Funkenstein, Teva. Historia hemehikhiut esel HaRambam, Jerusalem 1983. Vgl. auch die französische Übersetzung von Catherine Chalier: Maimonïde. Nature, histoire et messianisme, Paris 1988, S. 10.
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Moses Maimonides’ Briefe und der Messias
§ 2 Der Messias in Moses Maimonides’ Briefen 2.1 Iggeret ha-Shemad oder Maamar Qiddush ha-Shem (1160 oder 1161) Iggeret ha-Shemad („Brief über die Apostasie“) ist Maimonides’ erstes öffentliches Dokument, das sieben Jahre vor der Vollendung seines Kommentars zur Mishna (ca. 1168) erschien; der Autor war nur fünfundzwanzig Jahre alt.18 Gleichwohl zeigt dieser Brief dem Leser bereits Maimonides’ argumentative und wissenschaftliche Methode, die er auch in späteren, an andere Gemeinden gerichteten Briefen beibehielt. Diese Methode könnte man als ‚hermeneutisch‘ beschreiben. Zum ersten Mal wurde diese Vokabel (hermeneuein) bei Platon im Dialog Symposium (202d) gebraucht, um Eros’ vermittelnde Tätigkeit zwischen den Menschen und den Göttern zu beschreiben. In der Tat bedeutet hermeneuein ‚durch unterschiedliche Mittel und Instrumente vermitteln‘, nämlich eine Botschaft (nicht zufällig ist Hermes der Bote der Götter in der griechischen Mythologie) mittels unterschiedlicher Quellen und Diskursstrategien bekanntzumachen. ‚Vermittlung‘ ist also zugleich auch ‚Interpretation‘, nämlich die Betonung vielschichtiger Aspekte einer Botschaft durch die ausgewählten Quellen und die bevorzugte rhetorische Methodik. Es handelt sich nicht nur um ein Problem von exoterischer bzw. esoterischer Kommunikation, wie es von Leo Strauss vor allem in bezug auf den Führer der Unschlüssigen deutlich herausgestellt wurde19, sondern in den Briefen werden vielmehr die Quellen der jüdischen Tradition (häufig dieselben Quellen, die von Maimonides’ Gegnern verwandt wurden) benutzt, um sie auf den jeweiligen geschichtlichen und gemeinschaftlichen Zusammenhang des Empfängers bzw. der adressierten 18
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Das arabische Original ist leider verlorengegangen, und die Übersetzung ins Hebräische wurde von einem Unbekannten angefertigt. Zum ersten Mal erschien dieser Brief dank Abraham Geiger im Jahr 1850 auf der Grundlage eines Münchener Manuskripts. Sechs Jahre später erschien eine zweite Ausgabe in Königsberg durch Zvi Hirsch Edelman in dessen Werk Hemdah Genuzah (es basierte auf einem Manuskript der Bodleiana). Eine dritte Ausgabe wurde im Jahr 1859 [cf. Bibliography of the Hebrew Book] in Leipzig von Abraham Lichtenberg in seinem Qoves Teshuvot ha-Rambam v’Iggerotaw veröffentlicht (in dieser Ausgabe wurde der Brief Maamar Qiddush ha-Shem genannt). Für meine Untersuchung habe ich die hebräische Ausgabe benutzt, die in Mordecai Dov Rabinowitz’ Werk Iggerot haRambam enthalten ist (diese Ausgabe bietet auch wichtige Hinweise zu Aufbau und Struktur dieses Briefs an). Für eine Vertiefung der Position von Strauss siehe: Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002, im Besonderen das 4. Kapitel über „Die Kunst des doppeldeutigen Schreibens“, S. 110–147. Der hermeneutische Aspekt von Maimonides’ Denken wurde von Strauss vor allem in seinem Aufsatz On the Literary Character of the Guide of the Perplexed (in: Salo W. Baron, Essays on Maimonides. An Octocentennial Volume, New York 1941, S. 37–91) ausgearbeitet, um zu betonen, dass man die Empfänger von Maimonides’ Werken kennen muss, um seine philosophischen Absichten und seine didaktischen Zwecke zu verstehen.
Der Messias in Moses Maimonides’ Briefen
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Gemeinden anzuwenden und die von Maimonides vertretene Position durch die Autorität der überlieferten Tradition zu begründen. Diese Methode zeigt sich bereits im „Brief über die Apostasie“, der als Konsequenz bestimmter geschichtlicher und sozialer Umstände entstand. Schon im Jahr 1146, als die Al-Muwahhidun in Marokko und Spanien an die Macht kamen, wurden Christen und Juden vor die Alternative ‚Apostasie oder Tod‘ gestellt. Erst später wurde es ihnen erlaubt, das Land zu verlassen, wobei jedoch nur die Christen die Möglichkeit hatten, bei ihren Glaubensgenossen in Nordspanien Zuflucht zu finden. Diese dritte Alternative konnte von den Juden nicht genutzt werden. Viele wählten freiwillig das Martyrium, aber die Mehrheit nahm es auf sich, die islamische Formel „Es gibt keinen Gott außer Allah, und Muhammad ist sein Prophet“ auszusprechen, manchmal die Moschee zu besuchen, aber den jüdischen Glauben privat weiter zu praktizieren. An diese Juden schrieb Maimonides’ Vater einen Iggeret ha-Nehamah („Trostbrief“), voll von Verständnis und emotional sehr intensiv. Dieser Brief fand nicht die Zustimmung eines jüdischen Pietisten aus dem Maghreb, der einen unbekannten Rabbiner nach einer offiziellen halakhischen Stellungnahme zu diesem Brief fragte. Die Reaktion dieser unbekannten Autorität war dem Brief von Maimonides’ Vater radikal entgegengesetzt: Jedweder Jude, der sich in der Öffentlichkeit vor dem islamischen Glauben beuge, könne nicht mehr für einen Juden gehalten werden, auch wenn er privat den jüdischen Glauben weiter praktiziere. Die einzige Möglichkeit sei das Martyrium. Man kann sich gut vorstellen, welche Verzweiflung ein solches rabbinisches Urteil unter den „konvertierten“ Juden von Spanien und Marokko auslöste; viele entschieden sich sogar dafür, vollständig zum Islam zu konvertieren, weil sie psychisch nicht mehr imstande waren, ihre zwiespältige Situation zu ertragen.20 Iggeret ha-Shemad muss zuerst als deutliche Ablehnung der rabbinischen Intoleranz und Borniertheit verstanden werden, wenn man die unterschiedlichen Aspekte dieses Briefs begreifen möchte. Diese Ablehnung stützt sich auf die systematische Entfaltung geschichtlicher, gesetzlicher (nämlich halakhischer21) und theologischer Argumente, welche der Position jenes unbekannten rabbinischen Gerichts radikal widersprechen. 20
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Für eine ausführliche Ausarbeitung der Geschichte der Juden in Spanien siehe u.a.: Eliyahu Ashtor, The Jews of Moslem Spain, 2 Bde., Philadelphia 1975–1979; Abraham A. Neuman, The Jews in Spain: their social, political and cultural life during the Middle Ages, Philadelphia 1944. Halakhah (aus dem Stamm halakh, „gehen, wandeln“) ist das legalistische System des Judentums (Aggadah ist der Name des nicht-legalistischen corpus, im Besonderen die rabbinische Literatur), das die privaten, sozialen, nationalen und über-nationalen Beziehungen, Verhaltensweisen, Praktiken und Regeln des Judentums betrifft. Für eine erste allgemeine Einführung zu dieser Dimension des Judentums siehe: Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, S. 1156ff.
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Es ist interessant zu bemerken, dass diese Position Maimonides’ nicht von den späteren jüdischen Philosophen geteilt zu werden scheint, wobei keiner eine solche wichtige leitende Funktion wie Maimonides hatte. So meint etwa Yishak Abravanel (1437–1508), dass die Konvertierten (von ihm ‚Sünder‘ genannt) mit mehr Angst als die gläubigen Juden unter den Nationen lebten und an der Erlösung nicht auf dieselbe Art und Weise wie der Rest Israels teilnehmen würden.22 Maimonides’ Aufmerksamkeit gegenüber der geschichtlichen Situation der marokkanischen und spanischen Juden zeigt sich bereits am Anfang des Briefs, der nicht mit einer halakhischen Argumentation eröffnet wird, sondern mit einer präzisen Beschreibung des Problems der Zwangskonvertierten, so dass die Adressaten von vornherein das unmittelbare Verständnis des Absenders für ihre Lage spüren können. Erst vom zweiten Abschnitt an wird das Maimonidische Responsum mit talmudischen und biblischen Belegen unterstützt. Die Umkehr der traditionellen rabbinischen Argumentation (erst die Halakhah, dann das konkrete Faktum) scheint eine präzise hermeneutische Bedeutung zu haben: Die neue geschichtliche Situation wird das Instrument, um die Regeln der Halakhah anderes zu interpretieren – nicht um ihre Bedeutung zu ändern, sondern um sie zu erweitern. Wenn man die Halakhah von der Geschichte der Gemeinde abstrahierte, erreichte man als einziges Resultat Entfremdung sowie eine Abtrennung der Gemeinde von der überlieferten Weisheit Israels (in diesem Fall die totale Konversion der Juden, wenn sie auch bereit waren, ihren Glauben privat weiter zu praktizieren). Der Kern von Maimonides’ Argumentation bezieht sich darauf, dass die rabbinische Autorität zwischen einer erzwungenen und einer freiwilligen Konversion überhaupt nicht differenzierte. Wessen Leben bedroht sei, der dürfe nicht bestraft werden, wenn er sein Leben als höchste Gabe Gottes schütze. Im Babylonischen Talmud (>Avodah Zarah, 16b–18b) wird der Fall von Rabbi Eliezer ben Hyrcanus und von Rabbi Meir erwähnt, die während der römischen Verfolgung im 2. Jahrhundert ihre Identität als Juden ablegten, um ihr Leben zu retten. Deswegen wurden sie aber nicht von den Wei22
Für eine Vertiefung der Stellungnahme von Yishak Abravanel vgl.: Jacob Guttman, Die religionsphilosophischen Lehren des Isaak Abravanel, Breslau 1916; Abraham Heschel, Don Yizchak Abravanel, Berlin 1937; Ben Zion Netanyahu, Don Isaac Abravanel. Statesman & Philosopher, Ithaca 1998, im Besonderen S. 203. Derzeit arbeitet Frederic Skill Cohen unter der Leitung von Menachem Lorberbaum an der Universität Tel Aviv an einer Dissertation über den politischen Messianismus von Isaac Abravanel. Für eine ausreichende Bibliographie über Isaak Abravanel siehe auch u.a.: Alfredo Fabio Borodowski, Isaac Abravanel on Miracles, Creation, Prophecy, and Evil. The Tension between Medieval Jewish Philosophy and Biblical Commentary, New York 2003; Seymour Feldman, Philosophy in a Time of Crisis: Don Isaac Abravanel, Defender of the Faith, London/New York 2003; Eric Lawee, Isaac Abarbanel’s Stance Toward Tradition: Defense, Dissent, and Dialogue, New York 2001.
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sen als Häretiker oder Nicht-mehr-Juden denunziert. In der Hebräischen Bibel (Tanakh) sind auch häufig Fälle von Juden erwähnt, die von Gott bestraft wurden, weil sie Israel der Apostasie anklagten, wie z.B. Mose, Elijah und Jesaja (Num. 20:12; I Könige 19:18; Jes. 6:1–7; man denke auch an die talmudische Interpretation von Moses’ Bestrafung, der das Heilige Land nur aus der Ferne sehen durfte, weil er sich gegen die Apostasie Israels gewandt hatte: Shabbat 97). Entscheidend ist für Maimonides die Heiligung des Namens Gottes, die ein Jude privat und freiwillig durch seine Taten vollbringt. Maimonides zitiert Ahab ben Omri (I Kön. 1:21,29; Babyl. Talmud Ta>anit 25), der im Tanakh als Heide und Gottesleugner beschrieben wird: Nachdem er zweieinhalb Stunden im Namen Gottes fastete, wurde er für diese einzige gute Tat von Gott belohnt. Sogar Nebuchadnezzar, der viele Juden massakrierte und den Tempel zerstörte, wurde es erlaubt, so lange wie Salomon zu herrschen, weil er einmal den Namen Gottes heiligte. Im Babylonischen Talmud, Sanhedrin 96a, wird erzählt, dass Nebuchadnezzar ein Geschenk als Wunsch für eine baldige Genesung an König Hezekiah zusammen mit einer Botschaft schicken ließ, die drei Segnungen enthielt: „Friede dem König Hezekiah“, „Friede der Stadt Jerusalem“, „Friede Gott, dem Allmächtigen“. Nachdem Nebuchadnezzar über die Reihenfolge der Wünsche informiert wurde, rannte er hinter dem Boten her, um diese zu ändern und den Namen Gottes an die erste Stelle setzen zu lassen. Noch länger ist die Liste von biblischen, talmudischen und halakhischen Beispielen im Iggeret ha-Shemad, die sich alle auf denselben zentralen Punkt konzentrieren: Der freie Wille des Menschen ist entscheidend bei der Heiligung bzw. bei der Ablehnung des Namens Gottes (Qiddush ha-Shem bzw. Hillul ha-Shem). Eine solche Stellungnahme findet man auch in den Shemonah Peraqim (Acht Kapitel)23 von Maimonides, wobei die Betonung der menschlichen Freiheit einer der Kernpunkte sowohl der Torah als auch der Halakhah ist, die in allen legalistischen Werken von Maimonides wiederholt wird: „Wenn die Handlungen des Menschen unter Zwang ausgeführt würden, würden die Gebote und Verbote zunichte gemacht und sie wären alle vollkommen vergebens, da der Mensch keine Wahl in seinem Handeln hätte.“24
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Es handelt sich um die lange Einführung zu Pirqe Avot (Sprüche der Väter) im Kommentar zur Mishnah, dem auf Arabisch geschriebenen legalistischen Werk des Maimonides, an dem er in denselben Jahren wie an diesem Brief arbeitete. Ich beziehe mich hier auf die Übersetzung von Raymond L. Weiss und Charles E. Butterworth: Eight Chapters, in: Ethical Writings of Maimonides, New York 1975, S. 59–104. Vgl. auch die deutsche Ausgabe: Moses Maimonides, Acht Kapitel: eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis, arab. und dt. von Maurice Wolff, mit Einf. und Bibliogr. von Friedrich Niewöhner, Hamburg 19922. Ibidem, S. 84 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Maimonides lehnt jede Theorie der Notwendigkeit des Handelns in der Geschichte ab, die seiner Meinung nach das normative Gerüst des sinaitischen Bundes zwischen Gott und Menschen zerstören könnte. Er behauptet, dass keine biblische Vorhersage die Notwendigkeit der vorhergesehenen Handlungen bedeutet, weil kein Mensch gezwungen ist, als Konsequenz dieses Vorhergesagten auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln.25 Das implizierte nämlich, dass eine Einschränkung der Freiheit von außen den Wert und die Bedeutung der menschlichen Handlung auf Null reduzieren würde.26 Maimonides’ Interpretation zufolge wird ein Weiterleben, um den Namen Gottes privat und in einem freiwilligen Akt auch weiterhin zu ehren, von Gott höher geschätzt als der Tod als Glaubensbeweis, weshalb jenes Urteil des Rabbinats hinsichtlich des Iggeret ha-Nehamah nicht nur geschichtlich, sondern auch theologisch unbegründet sei. Maimonides, der sich seines Einflusses auf die jüdische Gemeinde trotz seines geringen Alters wohl bewusst war, will in diesem Brief nicht den verfolgten Juden ein heuchlerisches Doppelleben empfehlen oder eine vereinfachte Lösung für ein so vielschichtiges Problem wie die erzwungene Konversion anbieten. Der Appell an den freien Willen eines jedes Juden bedeutet auch und vor allem die Anregung, das Land zu verlassen, in dem es nicht mehr möglich ist, als Zeuge des Namens Gottes zu leben. Neben dem Verständnis für die Juden, die nicht stark genug für den Märtyrertod waren, zeigt Maimonides auch eine strenge ‚didaktische und erzieherische‘ Seite als Leiter und als Lehrer. Er verweist auf einen dritten Weg, um Jude zu bleiben, ohne die Apostasie begehen zu müssen. Meines Erachtens muss man aus dieser Perspektive den Schluss des Briefs sehen, der eine Ablehnung des Messianismus zu bedeuten scheint. Mehr als gegen den Messianismus richtet sich Maimonides’ Polemik m.E. gegen die Zeloten und die spanischen Mystiker, welche die Rückkehr ins Heilige Land von der Ankunft des Messias abhängig machten.27 Aber am Ort, wo es nicht mehr möglich ist, den Namen Gottes zu verehren, ergibt es für einen Juden keinen Sinn mehr zu bleiben. Wer sich unter solchen Umständen nicht für die >alyah28 entscheidet, zeigt eine Abhängigkeit von seinem materiellen Besitz, die grösser ist als die Konfession seines Glaubens als ethische, geschichtliche und existentielle Pflicht. Ein solcher Mensch be25 26 27
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Das ist auch die Interpretation des Nachmanides von Gen. 15:13. Später werde ich zeigen, wie diese Thematik eine zentrale Rolle auch im „Brief über die Astrologie“ (1194) spielt. Mordechai Akiva Friedman hat in seinem Werk über den Messianismus im Iggeret haShemad und im Iggeret Teman die Einflüsse des christlichen und des muslimischen Milieus ausführlich untersucht: Rambam ha-Mashiah be-Teman weha-Shemad (auf Hebräisch), Jerusalem 2002. Siehe auch: Esperanza Alfonso, Islamic Culture Through Jewish Eyes. AlAndalus from the tenth to the twelfth century, London/New York 2008, S. 105–110. Die Rückkehr nach Israel. Dieses Wort kommt vom Verb la>alot, das ‚hochsteigen‘ (bezogen auf die Lage Jerusalems) bedeutet.
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nutzt die Erwartung des Messias nur als Vorwand, um seine Verantwortung als Jude nicht übernehmen zu müssen. Maimonides lehnt den Glauben an den Messias nicht ab. So schreibt er beispielweise unmissverständlich: „Wenn Gott uns und unseren Nachkommen, nachdem wir unsere religiösen Pflichten erfüllt haben, das Privileg des Erlebens der Ankunft des Messias zugestünde, wäre es außerordentlich erfreulich.“29 Er hält es aber halakhisch und geschichtlich für unbegründet, dass die Beachtung des Gesetzes (und in diesem Brief wird die Heiligung des Namen Gottes als wichtigsten Punktes des mosaischen Gesetzes interpretiert) von der Ankunft des Messias abhängig sei. Eine solche Abhängigkeit würde nur eine totale Passivität und Verantwortungslosigkeit im Handeln und in der Leitung der Gemeinde bewirken. Die Juden würden die fundamentale Lehre der Torah aus den Augen verlieren, wenn sie sich nicht der Tatsache bewusst wären, dass die Vollbringung der miswwot an nichts anderem als der Heiligung des göttlichen Namens ausgerichtet ist: Dieser Dienst ist eine Ehre an sich und hat keinen versteckten ‚Nebenzweck‘ (etwa die Ankunft des Messias zu beschleunigen, Verdienste anzusammeln usw.). Leon D. Stitskin schreibt in seiner Einführung zu diesem Brief: „Diese Verlagerung des Schwerpunktes von einem Messias-zentrierten Judentum, welches die Strömungen des jüdischen Lebens und der Werte durchdringt und lenkt, zu einem Torah-orientierten Glauben stellte einen der Hauptbeiträge von Maimonides zur jüdischen Geschichte dar.“30 Diese Behauptung erscheint als übertrieben, doch zeigt der Schluss des Iggeret ha-Shemad, dass die Konzeption des Messias bereits bei dem jungen Maimonides von den politischen, geschichtlichen und gemeinschaftlichen Umständen der jüdischen Gemeinde stark geprägt ist und er zwischen der Gestalt des Messias und den unterschiedlichen messianischen Strömungen innerhalb des Judentums seiner Zeit deutlich differenziert.
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„If after we have fulfilled our religious duties, God would grant us and our offspring the privilege of witnessing the advent of the Messiah, it would be exceedingly gratifying.“ Leon D. Stitskin, Letters of Maimonides, op. cit., S. 67 (Übersetzung von F. Y. A.). In seinem Kommentar über denselben Brief widmet David Hartmann dieser Thematik kein Wort: Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership. Epistles of Maimonides, op. cit., S. 46–90. Dasselbe gilt auch für den Aufsatz von Haym Soloveitchik: Maimonides’ Iggeret Ha-Shemad. Law and Rethoric, in: Leo Landman (Hrsg.), Rabbi Joseph H. Lookstein Memorial Volume, New York 1980, S. 281–319. „This shift of emphasis from a Messiah-centered Judaism permeating and directing the currents of Jewish life and values to a Torah-oriented faith constituted one of the major contributions of Maimonides to Jewish history“. Ibidem, S. 39.
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2.2 Iggeret Teman oder „Brief in den Jemen“ (1172)31 Der Ruhm und die Autorität, die Maimonides nach dem Beginn seiner medizinischen und rabbinischen Tätigkeit in Ägypten erlangte, brachten den Leiter der jemenitischen Gemeinde, Ya>qub ben Natanel al-Fayyumi32, der gerade eine tiefe Krise innerhalb dieser Gemeinde bewältigen musste, dazu, Maimonides zu schreiben. Um 1150 kam eine fanatische muslimische Bewegung unter der Leitung von dem Schiiten >Ali ibn Mahdi an die Macht, welche die Existenz der dortigen jüdischen Gemeinde zu bedrohen begann. Die Lage verschlimmerte sich unter dessen Sohn >Abd al-Nabiy ibn Mahdi, der die Konversion aller Nicht-Muslime im Jemen forderte. Die Fragen, die Ya>qub Maimonides stellte, betrafen die Grundlagen des Lebens der jemenitischen Juden: Welches war die Bedeutung des aktuellen Leidens der Gemeinde? Wie musste man auf einen Konvertierten reagieren, der nun meinte, dass die Torah die Lehre von Mohammed vorwegnahm? Wie musste sich die Gemeinde gegenüber einem angeblichen Messias verhalten, der meinte, in den Jemen gekommen zu sein, um die Juden von ihren Verfolgern zu befreien?33 War es möglich, das Datum der Ankunft des Messias genau zu berechnen? Maimonides war sich bewusst, dass das weitere Leben der jemenitischen Gemeinde und dessen Qualität von seiner Antwort abhingen, weshalb er den Brief mit einem langen und poetischen Lob der jemenitischen Gemeinde und von deren Leiter eröffnete. Tatsächlich war die Kunde von der Weisheit der Gelehrten dieser Gemeinde und der regelmäßigen Erfüllung der von der Torah vorgeschriebenen ethischen Pflichten (darunter die Gastfreundschaft gegenüber Fremden und Glaubensgenossen) bereits zur Zeit von Maimonides über die Grenzen des Jemen gelangt.34 Das machte Maimo-
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Für die Analyse des arabischen Originals habe ich die folgende Ausgabe benutzt: Isaac Shailat (Hrsg.), Letters and Essays of Moses Maimonides. A critical edition of the Hebrew and Arabic letters, 2 Bde., Maaleh Adumim 1988. Ich habe die folgenden Übersetzungen berücksichtigt: Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 91–149; Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light. Popular Enlightment in an Age of Belief, Chicago 2000, S. 99–132 (Übersetzung von Joel L. Kraemer); Moses Maimonides, Der Brief in den Jemen. Texte zum Messias, übersetzt von Sylvia Powels-Niami und eingeleitet von Friedrich Niewöhner, Berlin 2002. Im Verlauf dieses Abschnitts werde ich mich auf die Übersetzung von Abraham Halkin beziehen. Es handelt sich um einen unbekannten Gelehrten (die einzigen Informationen, die man über ihn besitzt, stammen aus diesem Brief). Sein Vater Natanel, der die jemenitische Gemeinde vor seinem Sohn leitete, schrieb einen philosophisch-theologischen Traktat, der damals einen gewissen Ruhm erreichte: Garden of Intelligences (cfr. Joseph Kafih, Iggerot. Letters, Jerusalem 1972, S. 11). Man hat keine geschichtlichen Quellen, die sich auf diesen vermutlichen Messias beziehen. Zur ausführlichen Geschichte der jüdischen Gemeinde im Jemen vgl.: Yosef Tobi, The Jews of Yemen: Studies in their History and Culture, Leiden 1999.
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nides’ Aufgabe noch schwieriger, nämlich zu erklären, wieso Gott das Leiden gerade einer so frommen Gemeinde zuließ. Wie bereits im „Brief über die Apostasie“ verfolgt Maimonides eine subtile psychologische Strategie, um seine Nähe zu den Empfängern des Briefs erkennen zu lassen: Er beschreibt seine Lage als der der jemenitischen Gemeinde ähnlich, weil auch er Opfer der Verfolgung gewesen sei und deswegen die Zweifel und Verzweiflung der jemenitischen Gemeinde wohl verstehen und teilen könne: „Ich bin einer der bescheidensten Gelehrten Spaniens, dessen Ansehen im Exil gering ist. Ich widme mich immer meinen Pflichten, habe jedoch die Bildung meiner Vorfahren nicht erreicht, weil üble Tage und schwere Zeiten uns ereilt und wir nicht in Ruhe gelebt haben; wir haben gearbeitet, ohne Ruhe zu finden. Wie kann das Gesetz für einen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land Flüchtenden klar werden? Ich bin überall den Mähern nachgegangen und habe Getreideähren gesammelt, sowohl die festen und die vollen, als auch die verkümmerten und die dünnen. Erst kürzlich habe ich ein Zuhause gefunden.“35
Trotz aller Schwierigkeiten, die aus der Verfolgung der Juden in Spanien und Marokko entstanden, erfüllte Maimonides weiter seine Pflichten, er studierte weiter das Gesetz, und endlich gelang es ihm, ein Zuhause zu finden und eine Bezugsperson für alle zerstreuten jüdischen Gemeinden zu werden; er stellt sich hier als Beispiel nicht nur für die jemenitischen Juden dar, sondern für die Juden insgesamt, weshalb der Schluss des Briefs meines Erachtens mit dem Anfang eng verbunden ist: „Ich bitte dich, eine Kopie dieses Sendschreibens an jede Gemeinde in den Städten und kleinen Ortschaften zu senden, um die Menschen in ihrem Glauben zu stärken und zu ermutigen. Lies es bei öffentlichen Versammlungen und im Privaten, und du wirst damit ein öffentlicher Wohltäter werden. Triff angemessene Vorkehrungen [so das nicht] eine böse Person seinen Inhalt verbreitet und Unglück uns ereilt (Gott bewahre uns davor). Als ich diesen Brief zu schreiben begann, hatte ich einige diesbezügliche Befürchtungen36, aber sie wurden von meiner Überzeugung 35 36
Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 95 (Übersetzung von F. Y. A.). Wie ich im Laufe der Untersuchung dieses Briefs zeigen werde, ist der politische und soziale Zweck Maimonides wichtiger als persönliche philosophische und theologische Überzeugungen, weshalb er bereit ist, für das kollektive Interesse diese zurückzustellen. Maimonides’ Bezug auf seine persönliche Sicherheit könnte darauf hindeuten, dass seine Interpretation des Messias und der messianischen Zeit viele Gegner unter den jüdischen Gelehrten finden konnte. Diesbezüglich schreibt Jeshajahu Leibowitz: „The absoluteness of Maimonides’ own religious faith did not prevent him from observing the relativity of religious faith in different people, depending as it does on their intellectual ability and their psychological preparedness for religious faith. Maimonides took all this into account. When we attempt to discuss Maimonides the man and the thinker on the basis of his letters, we must always bear in mind the person to whom he addresses himself, and what he finds fit to tell the particular person, or group of persons, he is writing to. Sometimes he writes things which are not his true opinions as we know them well from his other writings.“ (The Faith of Maimonides, New York 1987, S. 19)
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aufgehoben, dass das öffentliche Wohlergehen37 den Vorrang vor der eigenen persönlichen Sicherheit hat. Darüber hinaus sende ich es einer Persönlichkeit wie dir: Der HERR ist denen Freund, die ihn fürchten [Ps. 25:14]. Unsere Weisen, die Nachfolger der Propheten, versicherten uns, dass Personen, die mit einer religiösen Mission befasst sind, kein Unheil zustoßen wird. Welche wichtigere religiöse Mission könnte es geben außer dieser! Friede sei mit ganz Israel. Amen.“38
Dieser Brief sollte als Antwort auf die tragische Lage einer Gemeinde gelesen werden, die gerade um die Erhaltung ihres Glaubens kämpfte: Wie und aus welchem Grund sollte diese Gemeinde ihrem Glauben treu bleiben, wenn zwei andere monotheistische Religionen (Islam und Christentum) in der Geschichte triumphierten? Wie konnte man unter diesen Umständen weiter an das Versprechen Gottes gegenüber Israel glauben? Diese Fragen zu beantworten bedeutete, die eigene Stellung hinsichtlich aller vielschichtigen Probleme der galut39 deutlich zu machen und die eigenen philosophischen, theologischen und halakhischen Betrachtungen zu diesen Problemen darzustellen. Eine solche Herausforderung war sogar für einen renommierten Gelehrten wie Maimonides nicht ohne Risiko: Eine so radikale und kompromisslose Stellungnahme angesichts entscheidender Fragen nach der jüdischen Identität und nach dem jüdischen Glauben konnte ihm mehr als einen Gegner unter den rabbinischen Gelehrten schaffen. Trotzdem lehnte Maimonides die Isolierung des halakhischen Philosophen nach dem Vorbild eines Philo von Alexandrien ab, und er ging das Risiko ein, in die platonische Höhle hinabzusteigen. Nicht zufällig benutze ich hier das Höhlengleichnis als Metapher für das Verhalten von Maimonides: Auch für Platon (Politeia) – ebenso wie für Aristoteles (zweiter Teil der Nikomachischen Ethik) – ist das Engagement für die eigene Gemeinde ein notwendiges Element der menschlichen Vollkommenheit, da es der Entfaltung von Moralität und politischer Verantwortung dient.40 Die Wichtigkeit der Gemeinde wurde von Maimo37
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Auf Arabisch: salah, dasselbe Wort, mit dem Maimonides im Moreh ha-Nevukhim das Wohlbefinden des Körpers und das der Seele beschreibt (der salah al-nafs, das Wohlergehen bzw. das Wohlfühlen der Seele, hängt von dem salah al-badan, dem Wohlfühlen des Körpers, ab). Das Wort salah bezieht sich hier auf das Wohlergehen einer ganzen Gemeinde, die als politisches und soziales System begriffen wird. Ibidem, S. 131 (Übersetzung von F. Y. A.). Das Leben der Juden im Exil nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n.c. Z. Diese Ähnlichkeit des Begriffs der Gemeinde bei Maimonides gegenüber demjenigen von Platon und Aristoteles wurde im Besonderen in den folgenden Werken ausführlich untersucht: Lawrence V. Berman, A reexamination of Maimonides’ statement on Political Science, in: Journal of the American Oriental Society 89 (1969), S. 106–111; Ben Zion Bosker, The Legacy of Maimonides, New York 1962; Leo Strauss, Maimonides’ Statement on Political Science, in: MJL (1976), S. 355–370; Miriam Galston, The Purpose of the Law According to Maimonides, in: The Jewish Quarterly Review 69 (1978), S. 27–51; David Hartman, Maimonides: Torah and Philosophic Quest, Philadelphia 1976; Joel L. Kraemer (Hrsg.), Perspectives on Maimonides, Oxford 1991; Howard T. Kreisel, Maimonides’ Political Thought, New York 1999; Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Wisdom in Plato, al-Farabi, and Maimonides, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks (Hrsg.), Studies in Islamic and Judaic Tra-
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nides auch in der Mishneh Torah (MT) betont, mit deren Niederschrift er in den Jahren, in denen er den Brief in den Jemen verfasste, angefangen hatte. In MT Hilkhot Teshuvah 3:20 liest man: „Derjenige, der sich von der Gemeinde absondert, selbst wenn er keine Verstöße begeht, sondern sich nur von der Gemeinde Israels fernhält, erfüllt nicht die religiösen Vorschriften, die er mit diesen Menschen gemein hat, erweist sich als gleichgültig, wenn sie in Bedrängnis sind, befolgt nicht ihr Fasten, sondern schreitet in seinem Weg fort, als wäre er ein Nichtjude und gehörte nicht zum jüdischen Volk – eine solche Person hat keinen Anteil an der kommenden Welt.“41
Die Aufgabe von Maimonides im Iggeret Teman ist eine zweifache: Einerseits soll er den Glauben einer Gemeinde in Not und in Lebensgefahr durch geschichtliche, halakhische und biblische Argumente stärken, andererseits die Gemeinde von dem einfachen Trost der Astrologie, des Aberglaubens oder gar der Konversion abhalten. Angesichts eines so umfassenden und vielschichtigen Zwecks ist es selbstverständlich, dass sich dieser Brief mit unterschiedlichen Themen beschäftigt: der Einzigartigkeit der Torah, der Anerkennung der echten Prophetie, der Sinnhaftigkeit des Leidens, der Theodizee, der Bedeutung des Judentums in der Geschichte, der Rolle von Christentum und Islam. Innerhalb des allgemeinen Ansatzes der vorliegenden Arbeit möchte ich mich nur mit einem Thema beschäftigen, das aber die anderen zugleich in sich fasst: der Interpretation des Messias und der messianischen Zeit im Iggeret Teman.
2.2.1 Der Messias und die messianische Zeit im Iggeret Teman Meines Erachtens ist es möglich, die Argumentation von Maimonides in drei Hauptabschnitte zu unterteilen: a.
die Kritik an Islam und Christentum hinsichtlich der Darstellung des falschen Messias und der Konzeption der Geschichte; b. die Berechnung der Ankunft des Messias und die Polemik gegen die Astrologie; c. die politische und führende Funktion des Messias.
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ditions, Atlanta 1986, S. 205–232. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Halakhah und politischer Philosophie bei Maimonides siehe im Besonderen: Warren Z. Harvey, Bein Filosofia Medinit le-Halakhah be-Mishnat Ha-Rambam [Politische Philosophie und Halakhah bei Maimonides], in: Iyyun (1980), S. 198ff (auf Hebräisch); Menachem Lorberbaum, Politics and the Limits of Law. Secularizing the Political in Medieval Jewish Thought, Stanford 2001; Isadore Twersky (Hrsg.), Studies in Jewish Law and Philosophy, New York 1982. Die Auffassung, dass die Torah zur ethischen und transzendentalen Vollkommenheit führt, wird von Maimonides besonders im Shemonah Peraqim sowie im Moreh ha-Nevukhim 2.39–40 und 3.27–28 ausführlich ausgearbeitet. Übersetzung von F. Y. A.
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Die Darstellungen von Christentum und Islam, die im Iggeret Teman enthalten sind, können meines Erachtens nicht von der Interpretation der monotheistischen Religionen getrennt werden, die man in der zwischen 1170 und 1180 geschriebenen Mishneh Torah findet: „Selbst über Jesus von Nazareth, der sich einbildete, er sei der Messias, aber von einem Gericht zum Tode verurteilt wurde, hatte Daniel geweissagt, wie es geschrieben steht: Auch werden sich Abtrünnige aus deinem Volk erheben und eine Weissagung erfüllen und werden fallen. [Dan. 11:14]. Hatte es nämlich jemals einen größeren Stolperstein als diesen gegeben? Alle Propheten versicherten, dass der Messias Israel erlösen, es retten, seine Verstreuten einsammeln und die Gebote bestätigen würde. Er aber verursachte, dass Israel mit dem Schwert zerstört, sein Überrest verstreut und gedemütigt wurde. Er war instrumentell in der Veränderung der Torah und verursachte, dass die Welt irrte und einem anderen außer Gott diente. Jedoch übersteigt es den menschlichen Verstand, die Pläne des Schöpfers zu ergründen; denn unsere Wege sind nicht seine Wege, noch sind unsere Gedanken seine Gedanken. All diese Angelegenheiten, die Jesus von Nazareth und den Ismaeliten Muhammad betreffen, der nach ihm kam, dienten nur dazu, den Weg für den König Messias zu ebnen, die ganze Welt darauf vorzubereiten, Gott im Einklang zu verehren. […] [W]enn der wahre König Messias erscheinen und erfolgreich gewesen, verherrlicht und erhoben sein wird, werden sie [Muslime und Christen] unverzüglich widerrufen und erkennen, dass sie von ihren Vätern nichts als Lügen geerbt, dass ihre Propheten und Vorfahren sie irregeführt haben.“42
Wenn man diesen Abschnitt der Mishneh Torah mit dem folgenden Abschnitt aus dem Iggeret Teman vergleicht, findet man tatsächlich Ähnlichkeiten, aber auch relevante Unterschiede: „Der erste, der diesen Plan einführte [Anspruch auf die Prophetie zu erheben und ein neues Gesetz zu gründen], war Jesus der Nazarener, mögen seine Gebeine zu Staub zerfallen. Er war ein Jude, weil seine Mutter eine Jüdin war, obwohl sein Vater ein Nichtjude war, und unser Grundsatz ist, das ein Kind einer Jüdin und eines Nichtjuden oder eines Sklaven, legitim ist. Nur im übertragenen Sinne nennen wir es ein illegitimes Kind. Er trieb Menschen dazu, zu glauben, dass er von Gott gesandt ward, um die Verwirrungen der Torah klarzustellen, und dass er der Messias sei, der von allen Propheten vorhergesagt ward. Sein Ziel war es, die Torah in einer Art und Weise zu interpretieren, die zu ihrer völligen Aufhebung, zu der Abschaf42
Moses Maimonides, The Book of Judges, übersetzt aus dem Hebräischen von Abraham M. Herschmann, New Haven 1949, S. xxiii-xxiv (Übersetzung von F. Y. A.). Dieser Abschnitt, den man am Ende der Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem in vielen Manuskripten und in einigen früheren Ausgaben findet (wie zum Beispiel der römischen Ausgabe, die vor dem Jahr 1480 veröffentlicht wurde), fehlt in den Ausgaben von Venedig (1524 und 1550–1551 von Bragadini und Giustiniani veröffentlicht) und in vielen Manuskripten der British Library. Es gibt auch große Unterschiede hinsichtlich dieses Abschnitts zwischen der römischen Ausgabe und den Manuskripten der Mishneh Torah in den Bibliotheken von Oxford und Cambridge. Für die detaillierte Geschichte dieses Abschnitts siehe: Lea Naomi Goldfeld, The Laws of Kings, Wars and the King Messiah according to Maimonides’ Mishneh Torah, in: Jesús Peláez Del Rosal (Hrsg.), Sobre la Vida y Obra de Maimonides. I Congreso Internacional (Córdoba, 1985), Cordoba 1991, S. 243–250.
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fung ihrer Gebote und zur Verletzung all ihrer Verbote führen würde. Die Weisen der gesegneten Erinnerung, die sein Ziel erkannten, bevor sich sein Ruf unter unseren Leuten verbreitete, entdeckten eine passende Bestrafung. Daniel hatte bereits auf ihn hingewiesen, als er den Untergang eines boshaften und häretischen Juden voraussagte, der nach der Zerstörung des Gesetzes trachten, Anspruch auf die Prophetie für sich selbst erheben, Wunder vortäuschen und behaupten würde, dass er der Messias sei, wie es geschrieben steht: Auch werden sich Abtrünnige aus deinem Volk erheben und eine Weissagung erfüllen und werden fallen. [Dan. 11:14]. Durchaus einige Zeit später gewann eine Religion an Popularität, welche auf ihn von den Nachfahren von Esau zurückgeführt wird. Obwohl dies das Ziel war, welches er zu erreichen hoffte, hatte er keinen Einfluss auf Israel, da weder Gruppen noch Individuen in ihrem Glauben unsicher wurden. Seine Ungereimtheiten waren für alle durchsichtig, wie auch sein Scheitern und seine Enttäuschung als er mit dem wohlbekannten Ende in unsere Hände fiel. Nach ihm erhob sich der Verrückte Muhammad43, der den Vorgänger nachahmte, der den Weg geebnet hatte. Er fügte jedoch das weitere Ziel der Herbeiführung von Herrschaft und Gehorsam hinzu und er erfand seine berüchtigte Religion. All diese Menschen wünschen, sich mit der göttlichen Religion zu vergleichen.“44
Was den Vergleich dieser beiden Abschnitte anbetrifft, bin ich nicht mit Hartman einverstanden, der in seinem Kommentar von Iggeret Teman behauptet: „Maimonides’ treatment of Christianity and Islam in „Kings and Wars“ is not part of a general theory of history, but rather a post facto explanation of existing conditions.“45
Ich bin überdies der Meinung, dass Maimonides weder in Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem noch in einem anderen Buch der Mishneh Torah eine Teleologie der Geschichte entwickelt (in diesem Sinne finde ich auch den Vergleich von Amos Funkenstein zwischen Maimonides und Hegel völlig unbegründet46, da man bei Maimonides keine dialektische Aufhebungsstruktur der Geschichte und keine List der Vernunft findet, obwohl eine präzise Konzeption der geschichtlichen Entwicklung in Bezug auf die messianische Gestalt definitiv vorhanden ist47).
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Abraham Halkin denkt, dass diese Bezeichnung von einem Kopisten in Maimonides’ Text eingefügt wurde, weil sich dieser Name für Muhammad erst später im jüdischen Bereich verbreitete. Siehe: Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 134 (Anm. 48). Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 98f (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 189. Amos Funkenstein, Maimonides’ Political Theory and Realistic Messianism, in: Miscellanea Mediaevalia 11 (1977), S. 81–103. Die starken Veränderungen, die Maimonides’ Haltung gegenüber der Rationalität der Torahgesetze sowie der rabbinischen Tradition in verschiedenen Phasen seines Lebens erfahren hat, sind mit der nahen Betrachtung des geschichtlichen Verlaufens verbunden.
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Im obengenannten Abschnitt stellt sich Maimonides ein übergeordnetes politisches Problem, das eigentlich mit der Teleologie der Geschichte eng verbunden ist: Obwohl man Gottes Absicht nicht begreifen kann, wäre eine Resignation darüber dem jüdischen Volk nicht nützlich. Sie würde weder den Glauben an das Versprechen Gottes stärken noch einen guten Grund gegen die Konversion zum Islam bzw. zum Christentum anbieten. Angesichts der zunehmenden Macht der anderen monotheistischen Religionen mehren sich die Fragen innerhalb der jüdischen Gemeinde nach der Rolle Israels in der Geschichte und nach der konkreten Erfüllung des Versprechens Gottes. In Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem sieht sich Maimonides der Notwendigkeit gegenüber, eine sinnvolle Darstellung des Ziels der Geschichte zu geben, die dem Wort der Heiligen Schrift nicht widerspricht. Deswegen hebt er (obgleich via negationis) die positive Funktion der anderen monotheistischen Religionen hervor: „All diese Angelegenheiten, die Jesus von Nazareth und den Ismaeliten Muhammad betreffen, der nach ihm kam, dienten nur dazu, den Weg für den König Messias zu ebnen, die ganze Welt darauf vorzubereiten, Gott im Einklang zu verehren.“48 Das Erkennen der falschen Prophezeiung stellt für Israel klar, durch welche Zeichen und aus welchen Prämissen es dem jüdischen Volk möglich sein wird, den echten Messias zu erkennen. Christentum und Islam erfüllen also eine ‚epistemologische Funktion‘, die den Juden gestatten wird, die Bedeutung des Bundes zwischen Gott und Israel zu enthüllen. Diese Bedeutung wird nicht nur Besitz des jüdischen Volks bleiben, da die ganze Welt nach der Ankunft des echten Messias Gott „im Einklang“ verehren wird.49 Maimonides versucht nicht, Christentum und Islam gegenüber der jüdischen messianischen Hoffnung abzuwerten; er versucht auch nicht, die drei monotheistischen Religionen in ein geschichtlich-dialektisches System einzuordnen. Vielmehr drückt er eine tiefe ‚hermeneutische‘ Sorge aus: Welche sinnvolle geschichtliche Interpretation kann man von Christentum und Islam geben, damit die Juden in ihrem Glauben nicht entmutigt werden? Aus diesem Grund werden Christentum und Islam in Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem mit positiven Bestimmungen dargestellt. Diese Bestimmungen fehlen völlig in Iggeret Teman (der jedoch nur wenige Jahre vor den Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem geschrieben wurde), weil dieser Text andere Empfänger und einen anderen Zweck hatte. Im oben zitierten Abschnitt aus dem Iggeret Teman findet man keine positive Charakterisierung von Christentum und Islam: Von Jesus wird sogar gesagt, dass seine Knochen mit Staub bedeckt werden müssten, während 48
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„All these matters relating to Jesus of Nazareth and the Ishmaelite Muhammad who came after him, only served to clear the way for King Messiah, to prepare the whole world to worship God with one accord.“ (Übersetzung von F. Y. A.). Hier findet man eine Verschiebung vom nationalen zum universalen Messianismus, mit dem ich mich innerhalb der Untersuchung der Mishneh Torah beschäftigen werde.
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Muhammad als ein besessener Mensch beschrieben wird. Das Ziel des Briefs war in der Tat, die jüdische Gemeinde vor der Faszination der falschen Messiasgestalten zu bewahren, die vor allem in einer Zeit der Verfolgung und Unsicherheit einen starken Einfluss auf die Massen gewinnen konnten. Diese Faszination betraf nicht nur den im Jemen tätigen angeblichen Messias, sondern auch den Messias der Christen und den Propheten der Muslime. Die messianische Hoffnung konnte viel besser von erfolgreichen monotheistischen Religionen als von dem unterdrückten Israel gefördert werden, weshalb Maimonides danach strebt, diese Hoffnung beim Islam und beim Christentum zu diskreditieren. Insofern teile ich die Interpretation von Hartman: „The focal point of his [Maimonides’] treatment of messianism in his legal works was what transpires after rather than before the coming of the Messiah. Since messianism in the epistle served as a category of hope, the events preceding and leading to the advent of the Messiah were deemed all-important. This is also why, conversely, the concept of the birth pangs of the Messiah is introduced in the epistle, though it is notably absent from his other works. The problem facing Maimonides in the Epistle to Yemen was not materialism or disregard for the spiritual goals of Judaism, but a community sinking into despair and disillusionment because of its suffering. Messianism, therefore, was not introduced in order to draw the community’s attention to the sublime purposes of Judaism, but simply to counteract hopelessness by interpreting suffering as evidence of approaching redemption.“50
Die geschichtliche Dimension dieser Sorge wird auch im Iggeret Teman nicht vernachlässigt: Aus dieser Perspektive stellt sich Maimonides die Aufgabe, das Überleben und den letztendlichen Triumph Israels zu garantieren, die aber nicht von der geschichtlichen Entwicklung an sich abhängig sind, sondern von dem Inhalt und dem Inbegriff des jüdischen Glaubens im Vergleich mit den anderen monotheistischen Religionen: „Der Unterschied zwischen unserer Religion und anderen Glaubensgemeinschaften, die sich mit uns vergleichen, ist wie der Unterschied zwischen dem lebendigen, rationalen Individuum und der geschickt aus Marmor, Holz, Silber oder Gold geformten Statue, die wie ein Mensch aussieht.51 […] Ebenso wird eine Person, die der Geheimnisse der offenbarten Bücher und der inneren Bedeutung unseres Gesetzes unkundig ist, dazu gebracht, zu glauben, dass unsere Religion etwas mit der etablierten Konfession gemeinsam hat, wenn er die beiden vergleicht. Denn er wird feststellen, dass es in der Torah Verbote und Gebote gibt, und das es Verbote und Gebote bei den anderen gibt; die Torah enthält positive und negative Vorschriften, Belohnungen und Bestrafungen, und die anderen enthalten positive und negative Vorschriften, Belohnungen und Bestrafungen. Wenn er jedoch die inneren Bedeutungen verstehen könnte, würde er erkennen, dass die Essenz der Torah in den tieferen Bedeutungen ihrer positiven und negativen Vorschriften liegt, von denen eine jede den Menschen in seinem Streben 50 51
Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 190. Denselben Unterschied findet man auch im Kuzari (3:9) von Jehuda ha-Lewi.
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nach Vervollkommnung unterstützt und jedes Hindernis für die Erlangung von Vollkommenheit entfernt. Sie werden die Masse52 und die Elite in die Lage versetzen, moralische und intellektuelle Qualitäten zu erlangen, jeder nach seinen Fähigkeiten. Deshalb wird die göttliche Gemeinde unübertroffen sein, indem sie eine doppelte Vollkommenheit erreicht. Mit der ersten meine ich das Führen eines menschlichen Lebens unter den gefälligsten und angenehmsten Bedingungen. Die zweite wird das Erreichen der Intelligiblen darstellen, für jeden in Übereinstimmung mit seinen natürlichen Kräften.“53
Die Torah macht die Vervollkommnung des aristotelischen praktischen und theoretischen Verstandes in der menschlichen Geschichte möglich, obwohl die Beschränkungen und die Differenzen unter den Menschen von ihr nicht negiert werden: Eine solche Vollkommenheit, die nach der Aristotelischen Lehre das einzelne Individuum betrifft, wird von Maimonides auf die ganze Gemeinde ausgedehnt und als Garantie des letztendlichen Triumphs von Israel vorgestellt. Maimonides benutzt nicht die apokalyptischen und emphatischen Darstellungen des Buchs Daniel, um den Vorrang Israels zu beweisen. Es stimmt zwar, dass er sich bei der Beschreibung der vier Reiche54, welche die Hoffnung der Gemeinde auf einen baldigen Abschluss der Verfolgung stärken konnte, auf Daniel bezieht, aber die Garantie des Vorrangs Israels wird von Maimonides philosophisch und politisch begründet. Die Verwirklichung der Vollkommenheit des theoretischen und praktischen Verstandes wird durch die rationale Bedeutung der Torah ermöglicht, die sich als Führer für das Leben und das Überleben der ganzen Gemeinde erweist. Es ist kein Zufall, dass Jesaja von diesem Punkt des Briefs an eine zentrale Rolle für die politische Interpretation des Messias spielt und als „Vorbote der nationalen Erlösung“55 bezeichnet wird. 52 53 54
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Das arabische Wort al->awamm bedeutet „Vielzahl von Menschen“. Hier könnte es als Synonym von al-pumhur („Pöbel“) benutzt werden. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 99ff. (Übersetzung von F. Y. A.). Laut dem 2. und 7. Kapitel von Daniel wird der Triumph des Gesetzes Gottes nach dem Erscheinen des vierten Reichs (die Reiche werden mit Babylon, Persien, Griechenland [Mazedonien] und Rom identifiziert) geschehen. Die Juden, die unter der islamischen Herrschaft lebten, identifizierten den Islam mit dem vierten Reich. „Herald of national redemption“ Ibidem, S. 105 (Übersetzung von F. Y. A.). Kraemer übersetzt den arabischen Ausdruck „baˇsir al-milla“ als „the herald of the community“ (S. 110), wobei er hier „milla“ im politischen Sinne interpretiert (er übersetzt den arabischen Ausdruck „pam>“ als „divine community“ und „>awamm“ als „common folk“). Aber er bleibt nicht immer seiner Übersetzung treu, weil er manchmal „milla“ nicht nur für das jüdische Volk, sondern auch als Synonym für die „Nation“ der gojim interpretiert (siehe S. 128). In beiden Fällen bleibt natürlich seine politische Konzeption des Wortes „milla“ bestehen. Eine andere Differenz zwischen Halkins und Kraemers Übersetzung ist hinsichtlich unseres Hauptthemas erwähnenswert: Der Ausdruck „al-qis“ wird von Kraemer als „the End of Days“ (S. 119) und bei Halkin als „the date of the final redemption“ (S. 116) übertragen.
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Im ganzen Iggeret Teman wird Jesaja 26 Mal erwähnt, während Joel dreimal, Malachias, Jeremia sowie Sacharja zweimal, einmal Obadja, einmal Josua, einmal Habakuk und einmal Amos erwähnt werden.56 Meines Erachtens ist die vorrangige Bedeutung Jesajas (im Besonderen des Deuterojesaja, Kap. 40–6657) im Vergleich mit den anderen Propheten kein Zufall, wenn man den starken politischen Ansatz Jesajas bedenkt.58 Während die Bücher Amos und Hosea uns über die sittlichen, religiösen und sozialen Zustände des Nordreichs Israel informieren, haben wir keine Quellen, wenigstens keine direkten, die ähnliche Berichte über den südlichen Staat Juda enthalten. Was wir über die politischen und sozialen Verhältnisse Judas wissen, stammt zum großen Teil aus dem Buch Jesaja und teilweise aus den Büchern der Könige: Dieselben Missstände in der Rechtspflege und in der Abwicklung der Geschäfte, die im Nordreich den Protest von Amos und Hosea hervorriefen, musste auch Jesaja geißeln, nämlich die Bestechlichkeit der Richter, die Unterdrückung der wirtschaftlich Schwachen, Latifundienwirtschaft, die Schwelgerei der Männer und die Sittenlosigkeit der Frauen. In religiöser Beziehung wird den Judäern von Jesaja sogar Götzendienst und Aberglauben vorgeworfen. Das ist bereits ein erster Punkt, der Maimonides’ Aufmerksamkeit auf Jesaja lenkt, nämlich die flammende Warnung vor anderen erfolgreichen Kulten (in Samaria, in Edom, in Moab, in Ägypten, bei den Philistern und bei den Phöniziern), welche dazu führen können, den jüdischen Glauben zu vernachlässigen oder sogar zu diskreditieren, ein Problem, das für Maimonides brennende Aktualität besaß. Wie Jesaja warnt auch Maimonides vor dem Niedergang derjenigen Juden, die sich auf andere Glaubensvorstellungen und auf falsche messianische Hoffnungen einlassen: Bei Jesaja und bei Maimonides geht es zugleich um eine Beurteilung der innerpolitischen und sozialen Verhältnisse innerhalb 56
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Diese Rechnung basiert auf der Übersetzung von Abraham Halkin. Nach der Übersetzung von Joel L. Kraemer ist die Rechnung geringfügig anders: neunundzwanzigmal Jesaja und dreimal Ezechiel. Selbstverständlich spielte ein solcher Begriff bei Maimonides keine Rolle, da die Aufteilung der redaktionellen Arbeit des Buchs Jesaja eine Entdeckung der modernen biblischen Exegese ist. Maimonides las Jesaja als ein einheitliches Buch. An dieser Stelle ist es nicht tunlich, eine ausführliche Bibliographie hinsichtlich der Bedeutung des Politischen bei Jesaja anzubieten, da eine solche Bibliographie mit unterschiedlichen Nuancierungen in jedem Kommentar enthalten ist. Nur für eine erste Orientierung vgl.: Walter Dietrich, Jesaja und die Politik, München 1976; Lucas H. Grollenberg, Zwischen Gott und Politik. Der Prophet Jesaja, in: Biblisches Forum 8 (1971), S. 45–76; Ernst Jenni, Die politischen Voraussagen der Propheten, Zürich 1956; Friedrich Küchler, Die Stellung des Propheten Jesaja zur Politik seiner Zeit, Tübingen 1906; Robert Martin-Achard, Ésaie et Jérémie aux prises avec le problèmes politiques, in: Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 47 (1967), S. 208–224; Friedrich Weinrich, Der religiös-utopische Charakter der ‚prophetischen Politik‘, Giessen 1932; Fritz Wilke, Jesaja und Assur. Eine exegetisch-historische Untersuchung zur Politik des Propheten Jesaja, Leipzig 1905.
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der Gemeinde und um eine Beurteilung der äußeren Politik, nämlich der Beziehung zu den anderen Völkern und zu den anderen Religionen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass sich Maimonides nirgendwo im Iggeret Teman auf Kapitel 53 des Buchs Jesaja bezieht, nämlich auf die Gestalt des leidenden Gottesknechts, die ein Teil der rabbinischen Tradition mit dem Messias identifiziert. Eine solche Unterlassung erscheint merkwürdig, da Maimonides den Gottesknecht als Metapher für den leidvollen Zustand der Juden unter der islamischen Herrschaft gebrauchen könnte, um auf diese Weise die Hoffnung auf eine immanente Ankunft des Messias zu stärken. Aber meines Erachtens will Maimonides eine solche Bestärkung gerade vermeiden. Wie er im zentralen Abschnitt des Briefs betont, kann keine astrologische Berechnung bzw. kein Zeichen in der Geschichte die Ankunft des Messias voraussagen. Ebenso wie im Iggeret ha-Shemad müssen die miswot als Gottesdienst an sich respektiert werden, muss man das Leiden der Gemeinde im Jemen als Bestärkung des Glaubens und der eigenen Identität als Zeuge Gottes verstehen. Was Maimonides befürchtet, ist eine Enttäuschung in der Gemeinde, falls nach einer langen Zeit von Schmerzen und Unterdrückung kein Zeichen des Messias sichtbar wird (ähnliche Enttäuschungen hatte es schon in der Vergangenheit gegeben, wie z.B. zur Zeit von Bar Kochba). Sein Schweigen über Kapitel 53 von Jesaja gewinnt aus dieser Perspektive eine politische und soziale Plausibilität. Im Unterschied zu Amos und Hosea bringen die Kap. 40–66 des Buchs Jesaja noch einen anderen ‚Vorteil‘ für Maimonides’ Absicht: Obwohl man nicht wissen kann, wann der Messias kommen wird und obwohl man kein geschichtliches oder astrologisches Zeichen als Kennzeichen dieser Ankunft interpretieren kann, betont Deuterojesaia, dass man den Glauben an und das Vertrauen auf das Versprechen Gottes nicht verlieren soll. Wenn die Gemeinde an dem Bund mit Gott weiter festhält, wird Gott sein Volk nicht vergessen. Die teleologische und theologische Zukunft der Geschichte sowie die Sinnlosigkeit der Astrologie (ein anderes Element, das bei Jesaja viel stärker als bei anderen Propheten betont und wiederholt wird) werden in den Zitaten aus Jesaja (und zumal aus Deuterojesaja) im Iggeret Teman deutlich: „Keine Waffe, wider dich geschmiedet, hat Glück, und jede Zunge, die wider dich klagt im Gerichte, überführst du des Unrechts.“ (Jes. 54:17)59; „Die werden zusammengesperrt in die Grube, wie man Gefangene einsperrt, und sie werden verschlossen in den Verschluss und nach vielen Tagen zur Strafe gezogen.“ (Jes. 24:22)60; „Du hast dich abgequält mit all deinen Ratgebern – sie mögen herzutreten! Es mögen dir helfen, die den Himmel einteilen, nach den Sternen schauen, die Neumond um Neumond kundtun, was über dich
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Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 97. Ibidem, S. 116.
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kommen wird.“ (Jes. 47:13)61; „Ich bin der Herr, der alles gemacht, der die Himmel ausgespannt ganz allein, der die Erde gegründet – wer war bei mir? – der die Zeichen der Lügner vereitelt und die Wahrsager zu Toren macht, der schafft, dass die Weisen abziehen müssen und ihr Wissen zur Narrheit wird; der das Wort seiner Knechte erfüllt und den Plan vollführt, den seine Boten verkünden; der zu Jerusalem spricht ‚Werde bewohnt!‘, und zu den Städten Judas ‚Werdet wieder gebaut‘, und ihre Trümmer richte ich auf [.]“ (Jes. 44:25–26)62; „[D]arum will ich auch fernerhin mit diesem Volke wunderbar verfahren, wunderbar und wundersam, und die Weisheit seiner Weisen wird zunichte werden, und der Verstand seiner Verständigen wird sich verbergen.“ (Is. 29:14)63; „Zion sprach: ‚Verlassen hat mich Gott, der Herr hat meiner vergessen.‘ Wird auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie gleich seiner vergässe, so will ich doch dein nicht vergessen.“ (Jes. 49:14–15)64; „Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; doch über dir strahlt auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir“ (Jes. 60:2).65 Die Tempora von Jesaja entsprechen für Maimonides der Zukunft des Versprechens Gottes und der messianischen Zeit, eine Interpretation, die dem Kommentar von Sa>adyah Gaon zu Kapitel 53 radikal widerspricht: Nach Sa>adyah Gaon ist die Vergangenheit das Tempus, das uns erlaubt, die Gestalt des Gottesknechtes zu verstehen. Diese Gestalt umfasst alle Propheten (Jeremia im Besonderen), die Jesaja vorangegangen sind. Es ist interessant festzustellen, dass diese Betonung der Vergangenheit, so Joseph Alobaidi, bei Sa>adyah Gaon eine politische Funktion hat, genauso wie meines Erachtens der Betonung der Zukunft bei Maimonides eine solche Bedeutung zukommt: „The Exilarchates’ importance and the social peace of the Jewish community, on one hand, and the Gaonate and all the talmudic legislation conferring religious and social authority to the rabbis, on the other, could be imperiled because of a utopian interpretation of such passages as Isaiah’s messianic chapters. Thus the preservation of a peaceful social condition, as well as the protection of the talmudic legislation, explain this backward-looking commentary, turning the expectation of the unknown to a settled certainty of the past. The messianic idea is the best weapon of the Rabbanites’ adversaries; R. Saadia’s commentary aimed to deprive them of it.“66 61 62 63 64 65 66
Ibidem, S. 117. Ibidem, S. 117. Ibidem, S. 117f. Ibidem, S. 121. Ibidem, S. 131. Joseph Alobaidi, The Messiah in Isaiah 53. The Commentaries of Saadia Gaon, Salmon ben Yeruham and Yefet ben Eli on Is. 52:13–53:12, Bern 1998, S. 26.
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Die Autorität von Jesaja zeigt sich auch in der Tatsache, dass sich Maimonides nur auf diesen Propheten bezieht, um die Vorrangigkeit des Messias im Vergleich zu Moses67 und zu allen anderen Propheten zu betonen und um die erfolgreiche Tätigkeit des Messias als führenden Leiters des jüdischen Volks zu unterstreichen: „Und sein [des Messias] Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn“ (Jes. 11:3); „Auf ihm [dem Messias] wird ruhen der Geist des Herrn“ (Jes. 11:2); „Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Lenden und Treue der Gurt seiner Hüften sein“ (Jes. 11:5).68 Im Licht dieser stark politischen Interpretation des Messias lassen sich auch die beiden anderen Hauptthemen des Iggeret Teman besser begreifen: die Ablehnung der Astrologie und die Bezeichnung des Messias als politischer Leiter der Gemeinde.69 Am Schluss dieser Untersuchung soll deutlich werden, warum ich in Maimonides’ Denken, zumindest wie es sich in diesem Brief zeigt, keine Theologie, Teleologie oder Philosophie der Geschichte sehe. In seiner grundsätzlichen Ablehnung der Astrologie und der Berechnung der Ankunft des Messias bezieht sich Maimonides vor allem auf Daniel (12:4–9) und auf Sanhedrin 97b: In beiden Texten findet man eine radikale Ablehnung aller Menschen, die versuchen, die Ankunft des Messias zu berechnen, aber es handelt sich um eine Ablehnung, die nicht deutlich und einheitlich begründet wird. Bei Daniel geht es um eine generellere Polemik gegen die Auguren, die unter den Heiden tätig waren, während die talmudischen Meister befürchten, wenn der Messias nicht zur berechneten Zeit komme, so könne das eine vollständige Ablehnung des Glaubens an den Bund mit Gott verursachen. Der Vergleich zwischen dem Buch Daniel und dem Talmud führt zu einer stärker soziologischen Begründung der Ablehnung seherischer Fähigkeiten: „Insofern als Daniel die Angelegenheit [die Ankunft des Messias] als großes Geheimnis verkündet hat, haben unsere Weisen die Berechnung der Zeit der zukünftigen Erlösung oder die Berechnung der Periode der Ankunft des Messias untersagt, weil die Menge irregeführt und verwirrt sein könnte, wenn der Messias nicht wie vorangekündigt erschiene. Die Rabbis flehten Gott an, diejenigen zu entmutigen und zerstören, die präzise die Ankunft des Messias zu bestimmen trachten, weil sie ein Stolperstein für die Menschen sind, und deshalb haben sie die 67 68 69
Später werde ich mich mit der herausragenden Bedeutung und der Einzigartigkeit der Prophezeiung Moses’ bei Maimonides beschäftigen. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 124f. Die Interpretationen von Gershom Scholem (The Messianic Idea in Judaism, New York 1971, S. 27) und von Yael Sagiv-Feldman (Living in Deferment. Maimonides vs. Nahmanides on the Messiah, Redemption and the World to Come, in: Hebrew Studies 20–21 [1979–1980], S. 107–116), die den Messias in diesem Brief nur als utopischen Wundermacher der apokalyptischen Tradition dargestellt finden, verstellten meines Erachtens den Blick für die politische Funktion des Messias als Hoffnungsträger der Gemeinde.
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Verwünschung ausgesprochen, ‚Mögen die Berechnenden der endgültigen Erlösung scheitern‘“.70
Maimonides’ Sorge bezieht sich auf die mögliche Reaktion von enttäuschten Massen, die sich zu einer Zeit der Verfolgung und Unterdrückung auch ihrer letzten Hoffnung beraubt sehen könnten. Angesichts des Scheiterns der Schriften bzw. der Interpreten der Schriften könnten sich die Gemeinden wohl für die Konversion oder wenigstens für die Ablehnung der Religion der Väter entscheiden. In diesem Sinne würden diejenigen, welche die Ankunft des Messias weissagen, für die Zerstörung Israels verantwortlich sein. An diesem Punkt seiner Argumentation begibt sich Maimonides auf ein sehr schwieriges Feld, weil der angesehene Sa>adyah Gaon im achten Kapitel seines Hauptwerks Emunot we-De>ot gerade versucht, das genaue Datum der Ankunft des Messias zu berechnen.71 Ein radikaler Angriff auf Sa>adyah Gaon hätte sicherlich die Rezeption des Briefs von Maimonides nicht nur im Jemen verhindert, weshalb er, immer noch von einer politischen Interpretation des Problems ausgehend, versucht, Sa>adyah Gaon zu entlasten: „Bezüglich Rabbi Saadiahs Berechnungen gibt es mildernde Umstände, obwohl er wusste, dass sie nicht gestattet waren. Denn die Juden dieser Zeit waren verwirrt und irregeführt. Die göttliche Religion wäre verschwunden, hätte er nicht die Verzagten und Verbreiteten, Verstreuten ermutigt und in mündlicher Form und mit dem Stift das Wissen ihrer grundlegenden Prinzipien propagiert. Er glaubte mit aller Ernsthaftigkeit, dass er mithilfe der messianischen Berechnungen die Menge mit Hoffnung zur Wahrheit begeistern könnte. Wahrlich, all seine Taten waren um des Himmels willen. Folglich muss man ihn angesichts der Redlichkeit seiner Absichten nicht für seine messianischen Berechnungen anprangern.“72
Man sieht sich hier mit einer Stellungnahme von Maimonides konfrontiert, die nur der Schluss des Briefs erklären kann: „Als ich diesen Brief zu schreiben begann, hatte ich einige diesbezügliche Befürchtungen, aber sie wurden von meiner Überzeugung aufgehoben, dass das öffentliche Wohlergehen den Vorrang vor der eigenen persönlichen Sicherheit hat.“73 Die Begründung der Position von Sa>adyah Gaon erscheint tatsächlich als sehr formal und scheint unvereinbar mit dem gesamten Ansatz des Iggeret Teman zu sein. Maimonides ist jedoch bereit, das Risiko, einen Meister der Tradition zu kritisieren, auf sich zu nehmen, um die Gemeinde vor den sich auf Berechnungen der messianischen Zeit berufenden Vorhersagen zu schützen. Ebenso 70 71
72 73
Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 116 (Übersetzung von F. Y. A.). Saadia Gaon, The Book of Beliefs and Opinions, übersetzt von Samuel Rosenblatt, New Haven 1948, v.a. S. 295–298. Vgl. auch die deutsche Ausgabe: Saadya Gaon, Emunot we-Dëot oder Glaubenslehre und Philosophie, aus dem Arabischen übers. von Julius Fürst, Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1845, Hildesheim 1970. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 116 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 131.
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wie in Platons Politeia und im zweiten Teil der Nikomachischen Ethik von Aristoteles wird die leitende und schützende Rolle des Philosophen als Garant der Integrität und des Überlebens der Gemeinde hervorgehoben.74 Ein anderes Problem ergibt sich daraus, dass das Studium der Astronomie unter Juden und Nicht-Juden auch den Einfluss der Astrologie stärkte (Maimonides selber studierte lange Zeit Astronomie, die damals ein wichtiger Teil der Ausbildung der Gelehrten war75). Das Risiko lag auf der Hand: sich innerhalb der Gemeinde zu isolieren und deshalb die Chance zu verspielen, den Zweck dieses Briefs zu erreichen – sich mit Autorität vor die verfolgten Juden des islamischen Reichs zu stellen. Maimonides’ Strategie enthüllt seine Fähigkeiten als Rhetor und als Politiker: Um glaubwürdig zu sein, musste er zunächst die Unbegründbarkeit der Stellungnahme der Weissager belegen, und um mit der Gemeinde kommunizieren zu können, bezieht sich Maimonides auf die hebräische Bibel, nämlich auf die Astrologen aus der Zeit von Moses, welche die Zerstörung Israels und den ewigen Zustand der Sklaverei in Ägypten vorhergesagt hatten. Die Astrologen hatten auch vorhergesagt, dass das Reich von Nebuchadnezzar eine Zeit anhaltenden Reichtums bedeuten würde, während seine Dynastie tatsächlich ausgerottet und zerstört wurde. Auf dieselbe Art und Weise wird Gott beweisen, dass die aktuellen Vorhersagen der Astrologen, nämlich dass Israel niemals eine selbständige Nation sein wird, grundlos sind: Der Messias wird das Versprechen Gottes verwirklichen, wie es bei Jesaja angekündigt worden ist, aber diese Verwirklichung ist nicht von der Konstellation der Planeten bzw. von der Sternenbewegung abhängig. Maimonides ist sich dessen bewusst, dass der lange Aufenthalt und das schwierige Überleben in der Diaspora die Ausbreitung des Aberglaubens begünstigen, aber „einer der grundlegenden jüdischen Glaubensartikel“76 ist die Überzeugung der Ankunft des Messias nach dem Willen Gottes, die kein endliches Wesen vorhersehen kann. An diesem Punkt seiner Argumentation scheint Maimonides eine radikale Umkehrung seines Denkens zu vollziehen. Während er bis dahin mit Zitaten aus der Hebräischen Bibel und aus der rabbinischen Tradition die Unmöglichkeit der Vorhersage der messianischen Zeit betont hat, sieht er in dieser Position aber auch eine große Gefahr, dass nämlich die Gemeinde ohne Hoffnung auf eine Begründung des Glaubens in der Geschichte bleibt und die Hoffnung nur durch die heiligen Schriften begründet werden kann. 74
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Eine ähnliche Interpretation findet man im Aufsatz von Friedrich Niewöhner: Are the Founders of Religions Impostors?, in: Shlomo Pines/Yirmiyahu Yovel (Hrsg.), Maimonides and Philosophy. Papers presented at the Sixth Jerusalem Philosophical Encounter, May 1985, Dordrecht 1986, S. 241. Seine Bemerkung über die Rechnung der Viertelkreise der Erde (S. 117ff) hat die Funktion, den Lesern bzw. den Hörern des Briefs seine Kompetenz in diesem Fach zu demonstrieren. Ibidem, S. 121 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Um dieses Risiko zu mindern, muss Maimonides noch einmal seine Überzeugungen als Philosoph und als Theologe beiseite lassen, um gewisse Zugeständnisse zu machen: „Anhand der Prophezeiungen von Daniel und Jesaja und den Aussagen unserer Weisen ist es deutlich, dass die Ankunft des Messias irgendwann im Anschluss an die weltweite Expansion des Römischen und Arabischen Reiches stattfinden wird, was tatsächlich heute ist. Dieser Umstand ist außer Frage oder Zweifel wahr. Daniel ist der letzte Prophet, der das Königreich der Araber, den Aufstieg von Muhammad und dann die Ankunft des Messias schildert. Ebenso gab Jesaja zu verstehen, dass die Ankunft des Messias nach dem Aufstieg des Verrückten Muhammad stattfinden wird […].“77
Noch verblüffender ist eine Zusicherung, die Maimonides der Gemeinde gibt: Auf der Grundlage einer langen Überlieferung, die er von seinem Vater, und dieser von seinem Vater usw., bekommen hat, wird die Wiedereinführung der Prophetie78 in Israel im Jahr 1216 der Schöpfungsära stattfinden. Wegen dieser radikalen Umstellung im Ton und im Inhalt des Briefs sind einige Gelehrte der Meinung, dass es sich hier um eine spätere Interpolation handelt. Ich teile diese Meinung aus drei Gründen nicht: 1. Wenn man den arabischen Text philologisch untersucht, gibt es keine Änderung im Stil des Briefs, die an eine ‚zweite Hand‘ denken lassen kann; 2. diese Stellungnahme passt zur Logik dieses Abschnitts des Briefs, welche die Gemeinde nicht einer Verzweiflung ohne Ausweg aussetzen will; 3. Maimonides bezieht sich nicht unmittelbar auf die Ankunft des Messias, sondern nur auf die Erneuerung der Prophetie im Gelobten Land. Im letzten Hauptabschnitt des Briefs ist Maimonides nicht daran interessiert, eine Darstellung der messianischen Zeit oder eine genauere Beschreibung der echten Prophetie zu geben, weshalb ich nicht glaube, dass man von einer Theologie bzw. von einer Philosophie der Geschichte im Rahmen des Iggeret Teman sprechen kann. Der letzte Abschnitt konzentriert sich auf die Hauptcharakteristika des Messias, um die Gemeinden vor dem Auftauchen eines falschen Messias, zumal in einer Zeit von Krise und Orientierungslosigkeit, zu schützen. Dabei ist es richtig, dass diese Charakteristika von der echten Prophetie nicht unabhängig sind: „Weißt du mein Bruder [Ya>qub, der Leiter der jemenitischen Gemeinde], dass der Messias ein sehr bedeutender Prophet ist, erhabener als alle Propheten nach Moses?“79
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Ibidem, S. 121 (Übersetzung von F. Y. A.). Für eine Vertiefung des Begriffs der Prophezeiung im Iggeret Teman siehe: Howard T. Kreisel, Prophecy. The History of an Idea in Medieval Jewish Philosophy, Dordrecht 2001, S. 205–221. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 123 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Die Einzigartigkeit der mosaischen Prophetie liegt darin, dass Moses mit seinem Verstand und mit seiner Einbildungskraft (also nicht nur im Traum oder in einem ekstatischen Zustand) den Willen Gottes, nämlich sein Gesetz, empfangen und weitergeleitet hat. Auch der ausgezeichnetste unter den Propheten hat keine gesetzgebende Rolle, er fügt nämlich dem göttlichen Gesetz nicht etwas hinzu oder zieht etwas von diesem ab.80 Auch der Messias wird kein neues Gesetz in Kraft setzen, aber durch die theoretische Weisheit, welche direkt von Gott kommt und die „a sine qua non for inspiration“81 ist, wird er Gottes Gesetz verwirklichen. Diese Verwirklichung geschieht durch überzeugende politische Handlungen: „Was die großen Fähigkeiten sind, die alle Propheten von Moses bis Maleachi dem Messias zuschreiben, kann anhand der verschiedenen Aussagen in den vierundzwanzig Büchern der Schrift geschlussfolgert werden. Die Bedeutendste von ihnen ist, dass der Bericht von seiner Ankunft Schrecken in den Herzen aller Könige der Erde erregen und ihre Königreiche fallen werden; noch werden sie in der Lage sein, gegen ihn Krieg zu führen oder zu revoltieren. Sie werden ihn weder diffamieren noch verleumden, denn die Wunder, die er vollbringen wird, werden sie zu völligem Schweigen ängstigen. Jesaja verweist auf die Unterwerfung der Könige unter ihn in dem Vers: Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten 80
81
Hinsichtlich der politischen Rolle der Prophetie bei Maimonides siehe: S. Daniel Breslauer, Philosophy and Imagination. The Politics of Prophecy in the View of Moses Maimonides, in: Jewish Quarterly Review 70,3 (1980), S. 153–171. Am Schluss seiner Untersuchung schreibt Breslauer: „Der Unterschied zwischen Philosoph und Prophet ist mit der Vorstellungskraft verknüpft, da Staatskunst und Bewusstsein für historische Notwendigkeit der Schlüssel für die neue messianische Welt sind, welche die Voraussetzung für jegliche zukünftige Prophetie ist. Die Ankunft des Messias wird die jüdische Politik als dynamische Realität begründen. Angesichts dieser Wirklichkeit ist ein prophetischer Leiter, welcher neue Reaktionen auf die neue Situation entwickeln kann, eine Notwendigkeit. […] Charismatische Leitung ist kein Angriff auf die rabbinische Autorität. Maimonides ist respektvoll gegenüber den Rabbinen und räumt ihnen eine besondere Stellung ein. Gleichzeitig legt seine Vorstellung des charismatischen Leiters nahe, dass eine solche Unterstützung der rabbinischen Macht begrenzt ist. Der charismatische Leiter ist keine Autoritätsgestalt, aber seine Existenz verweist auf eine höhere Autorität als die des Rabbinen – auf diejenige des Messias.“ [„The difference between philosopher and prophet is tied to imagination, since statesmanship and awareness of historical necessity are the key to the new Messianic world which is the prerequisite for any future prophecy. The coming of the Messiah will establish Jewish politics as a dynamic reality. Given that reality a prophetic leader who can generate new responses for the new situation is a necessity. […] Charismatic leadership is not an attack upon Rabbinic authority. Maimonides is respectful of the Rabbis and grants them a special status. At the same time his vision of the charismatic prophet suggests that such support of Rabbinical power is limited. The charismatic leader is not an authority figure but his existence does point to an authority higher than that of the Rabbi – that of the Messiah“] (S. 170f; Übersetzung von F. Y. A.). Vgl. diesbezüglich auch: Leonard S. Kravitz, The Revealed and the Concealed: Providence, Prophecy, Miracles, and Creation in the Guide, Central Conference of American Rabbis, Journal (Oktober 1969), S. 2–30; Alvin J. Reines, Maimonides’ Concept of Mosaic Prophecy, in: HUCA, XL–XLI (1969–1970), S. 325–361, und die Kritik an diesem Aufsatz von: Norbert Samuelson, Comments on Maimonides’ Concept of Prophecy, Central Conference of American Rabbis, Journal (Januar 1971), S. 9–25. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 124.
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[Jes. 52:15]. Er wird, wen er will, mit dem Wort seines Mundes erschlagen, niemand wird entkommen oder gerettet werden […].“82
Der im Jemen aufgetauchte vermeintliche Messias besitzt eine solche politisch-transzendentale Weisheit nicht, da er der irrigen Meinung ist, dass die Reichen ihren gesamten Besitz den Armen geben müssen, so dass sich das ökonomische Ungleichgewicht auf anderem Niveau wiederholt. Im Iggeret Teman bedeutet die messianische Zeit nicht die Begründung einer Art Eldorado, wo Armut und Krieg nicht mehr existieren werden: „Revolution und Krieg in der gesamten Welt von Ost nach West werden mit dem Beginn des messianischen Zeitalters nicht aufhören, sondern erst nach den Kriegen von Gog und Magog, wie es von Hesekiel angedeutet worden ist.“83
Aus diesem Grund stimme ich nicht mit Amos Funkenstein überein, wenn er meint, dass Maimonides in diesem Brief den ewigen Frieden als Konsequenz der vom Messias etablierten pax judaica skizzierte, in der man die Harmonie zwischen Geschichte und Utopie gemäß seiner Konzeption der messianischen Zeit erkennen könne: „Car la restauration de la royauté d’Israel, le rassemblement des exilés et la reconstruction du temple ne seron que les prémisses de l’œuvre du Messie. Ensuite, il fera régner l’hégémonie juive sur le monde, il instaurera une sorte de paix juive, un pax judaica, une paix pour ainsi dire éternelle qui permettra à l’ensemble des nations de reconnaître la primauté du peuple d’Israel. ‚Et un peuple ne portera plus la ruine à un autre‘. N’y a-t-il-pas, en effet, dans cette paix éternelle, un véritable changement dans l’ordre naturel, une mutation de la nature humaine?“84
Während Maimonides in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotekhem davon spricht, dass es weder Hungersnot noch Krieg gebe, leugnet er die Fortexistenz des Unterschieds zwischen Reichen und Armen nicht, auch wenn alle mit Würde leben werden. In der Mishneh Torah wie im Iggeret Teman führt der Messias keine Änderung in die Ordnung der Geschichte ein, sondern er interpretiert das göttliche Gesetz mit der Vollkommenheit des praktischen und theoretischen Verstandes, um die Existenz Israels unter den anderen Nationen zu garantieren. Er wird keinen Expansionskrieg gegen die anderen Völker führen, sondern nur gegen solche Könige, die das Überleben Israels bedrohen. Auch aus diesem Grund macht sich Maimonides Sorgen wegen der falschen Messiasgestalten, die in der Geschichte erschienen sind und erscheinen werden und vor denen bereits die Schrift (Daniel im Besonderen) warnt: Sie fördern nicht nur unbegründete Hoffnungen innerhalb der Gemeinde, sondern führen sie auch zu absurden und lebensgefährlichen Kriegen gegen 82 83 84
Ibidem, S. 125–126. Ibidem, S. 126 (Übersetzung von F. Y. A.). Siehe im Besonderen die Kap. 38–39 des Buchs Ezechiel. Amos Funkenstein, Maimonide, op. cit., S. 36. Auch die jüngste Forschung von Moshe Halberthal, die ich im Rahmen einiger Vorträge dieses Gelehrten erfahren habe, unterstützt die These von Funkenstein.
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die anderen Völker. Der Schluss des Iggeret Teman besteht aus einer Beschreibung der tragischen Konsequenzen, die von denjenigen Gemeinden zu tragen waren, die an einen falschen Messias glaubten. Iggeret Teman ist vielleicht derjenige Brief, in dem die politischen und juristischen Charakteristika des Messias am deutlichsten herausgestellt werden. Man findet eine deutliche politische Interpretation des Messias aber auch in zwei späteren Briefen (dem Traktat über die Auferstehung der Toten und dem Brief über die Astrologie), deren Differenzen und Ähnlichkeiten mit Iggeret Teman dargestellt zu werden wert sind.
2.3 Maamar Tehyyat ha-Metim oder Traktat über die Auferstehung der Toten (1191)85 Dieser Brief an die Gemeinde in Bagdad (aber auch in diesem Fall als Brief an alle unter der islamischen Herrschaft lebenden Gemeinden gedacht) wurde von Leo Strauss in seinem Werk Persecution and the Art of Writing86 als der wichtigste Kommentar zum Moreh ha-Nevukhim bezeichnet. Eine solche Behauptung könnte als unbegründet erscheinen, wenn man den Inhalt und den Zweck des Moreh ha-Nevukhim mit dem des Maamar Tehyyat ha-Metim vergleicht: Während der Moreh ha-Nevukhim danach strebt, „die Bedeutungen bestimmter Begriffe, die in den Büchern der Prophetie vorkommen, […] und die Wissenschaft des Gesetzes in ihrer wahren Bedeutung zu erklären“87, ist der Maamar Tehyyat ha-Metim die leidenschaftliche und in pathetischem Ton ausgedrückte Verteidigung eines Meisters der Torah und der Halakhah gegen die Anklage, er leugne die Auferstehung der To85
86 87
Für meine Untersuchung habe ich mich auf den arabischen Text bezogen: Maimonides’ Treatise on Resurrection (Maqala fi Tehyyat ha-Metim), mit einem kritischen Apparat von Joshua Finkel herausgegeben, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research, Bd. 9 (1938/1939), New York 1939, S. 57–105. Die Zitate stammen aus der englischen Übersetzung von Hillel G. Fradkin in: Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light, op. cit., S. 154–177. Siehe auch die Übersetzung von Abraham Halkin in: Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 211ff. Vgl. auch die Kommentare von Ralph Lerner (Hard Lessons for Slow Learners, in: ders., Maimonides’ Empire of Light, op. cit., S. 42ff) und David Hartman (Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 246ff. ). Vgl. auch: Jacob I. Dienstag (Hrsg.), Eschatology in Maimonidean Thought. Messianism, Resurrection and The World To Come, New York 1983. Für eine generelle Untersuchung des Problems der Auferstehung der Toten in der Hebräischen Bibel und in der jüdischen Tradition vgl. u.a.: Günter Stemberger, Der Leib der Auferstehung. Studien zur Anthropologie und Eschatologie des palästinischen Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (ca. 170 v. Chr. – 100 n. Chr.), Rom 1972; Rober H. Charles, Eschatology. The Doctrine of a Future Life in Israel, Judaism and Christianity, New York 1963, S. 82ff; Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1906, S. 308ff; Paul Volz, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba, Leipzig 1903, S. 32ff. und S. 129ff. Leo Strauss, The Persecution and the Art of Writing, Glencoe (Illinois) 1952, S. 73. Moses Maimonides, The Guide of the Perplexed, op. cit., S. 5 (Übersetzung von F. Y. A.).
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ten.88 Dieser Traktat besteht im wesentlichen aus drei Teilen: 1. Erklärung des Irrtums einiger Leser von Maimonides’ Frühwerken, die behaupteten, dass dieser die Auferstehung der Toten ablehne; 2. Verteidigung dieses fundamentalen Glaubens der jüdischen Lehre; 3. Bekräftigung dieses Glaubens gegen die objektive Tatsache, dass die Auferstehung der Toten nur wenig Bestätigung in der Hebräischen Bibel findet (nur in Dan. 12:2). Worin liegt, Leo Strauss zufolge, die Beziehung zwischen diesen beiden Werken? Die Erklärung von David Hartman ist meines Erachtens nicht ganz überzeugend: Er ist der Meinung, dass der Maamar Tehyyat ha-Metim die Grundlagen des politischen Engagements des Philosophen darstellt, der das Risiko eingeht, ‚in die Höhle hinunterzusteigen‘, um der Gemeinde den Weg zur Wahrheit zu zeigen. In diesem Sinne ist dieser Traktat auch ein Führer für die orientierungslosen und irrenden Menschen, also ein kleiner ‚Moreh ha-Nevukhim‘, dessen politischer Ansatz und Zweck deutlicher als in Maimonides’ Spätwerk betont wird.89 Diese Interpretation ist berechtigt, jedoch zitiert Strauss in Persecution and the Art of Writing den Maamar Tehyyat ha-Metim hinsichtlich des Unterschieds, den Maimonides zwischen den geheimnisvollen (nämlich den echten), auf der Vernunft gegründeten und den unechten, auf der Einbildungskraft gegründeten Lehren macht. Im Gegensatz zu Leo Strauss bin ich der Meinung, dass dieser Unterschied im Maamar Tehyyat ha-Metim deutlicher ist als im Moreh ha-Nevukhim: Um die Gemeinde in Bagdad und die Juden der galut überhaupt in ihrem Glauben an ein >olam ha-ba (die kommende Welt) zu stärken, die besser als diese Welt sein sollte, ist Maimonides gezwungen, Dinge zu lehren, die nicht nur kaum eine Grundlage in der Hebräischen Bibel haben, sondern die sogar der eigenen fundamentalen Lehre widersprechen. Das >olam ha-ba hat nichts mit materiellem Vergnügen zu tun, und Maimonides identifiziert es mit der >avodah leahava, nämlich der Welt der Freude als intellektuelle Liebe zu Gott. Das ist die geheime Lehre des Maimonides’, die er unter dem Glauben an ein materielles >olam ha-ba verbergen muss. Meine Interpretation wird von der argumentativen Spannung zwischen diesen entgegensetzten Konzeptionen des >olam ha-ba gestützt, die in allen drei Hauptschritten des Traktats gegenwärtig sind. Die Idee des >olam ha-ba als Welt der Vollkommenheit des menschlichen Verstandes und der intellektuellen Liebe zu Gott ist ein konstantes Element in Maimonides’ Frühwerken. In der Mishneh Torah Hilkhot Teshuvah 10:5 liest man: „Was ist die angemessene Liebe Gottes? Sie besteht darin, den Ewigen mit großer und übermäßiger Liebe zu lieben, so stark, dass die Seele des Einzelnen mit der 88 89
So könnte man die Anklage von Samuel ben Ali verstehen, dem damaligen Leiter der talmudischen Akademie (‚yeshiva‘) in Bagdad. Abraham Halkin/David Hartman, Crisis and Leadership, op. cit., S. 248f.
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Liebe Gottes verknüpft und er beständig davon hingerissen ist, wie ein Liebeskranker, dessen Verstand niemals von seiner Leidenschaft für eine bestimmte Frau frei ist, und der Gedanke an sie sein Herz jederzeit erfüllt, wenn er sich niedersetzt oder aufsteht, wenn er isst oder trinkt. Noch stärker sollte die Liebe Gottes in den Herzen derer sein, die ihn lieben. Und diese Liebe sollte fortwährend von ihnen Besitz ergreifen, wie er uns in dem Satz befohlen hat: von ganzem Herzen, von ganzer Seele [Deut. 6:5]. Salomon drückte dies allegorisch in dem Satz aus: denn ich bin krank vor Liebe [Hohelied 2:5]. Das gesamte Hohelied ist in der Tat eine allegorische Beschreibung dieser Liebe.“90
Diese Liebe ist das, was uns im >olam ha-ba erwartet. Diese Konzeption lehnt auch das >olam ha-ba als Welt von Bestrafung und Belohnung ab, die eine körperliche und materielle Darstellung dieser Welt und indirekt auch von Gott implizieren würde. Wer an eine solche Materialität des >olam ha-ba glaubt, wird in den Hilkhot Teshuvah 1:35 als Heuchler (min) bezeichnet und im Moreh ha-Nevukhim sogar als Feind Gottes. Das und nichts anderes ist Maimonides’ Lehre, die aber die Massen in einen Zustand von Hoffnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit versetzen könnte: Die Freude an der intellektuellen Liebe ist eine Perspektive, die für die in ihrer Existenz bedrohten Gemeinden keine religiöse, gemeinschaftliche und psychologische Unterstützung bringen kann. Aus diesem Grund erinnert Maimonides seine Gegner in diesem Brief daran, dass er bereits in seinen Frühwerken die Auferstehung der Toten erwähnt und als Glaubensartikel verteidigt hat. In seinem Kommentar zum zehnten Kapitel des Talmud-Traktates Sanhedrin (Pereq Heleq; dieser Name folgt aus dem ersten Wort des Kommentars: „Ganz Israel hat einen Anteil [heleq] an der kommenden Welt“) erscheint die Auferstehung unter den dreizehn Glaubensartikeln des Judentums, genauso wie man in Mishneh Torah Hilkhot Teshuvah 3:14 liest, dass die Leugner der Auferstehung „keinen Anteil an der kommenden Welt“ hätten, „sondern abgeschnitten sind und verderben und für immer für ihre große Boshaftigkeit und Sündhaftigkeit verdammt sind“. Aber in Maamar Tehyyat ha-Metim erklärt Maimonides, dass er in diese halakhischen Frühschriften lange philosophische Abschnitte eingefügt hat, um zu erklären, dass die Lehre von der Auferstehung nicht zum Glauben an die Körperlichkeit Gottes und des >olam ha-ba führen muss91: Die Ablehnung der Idolatrie, nicht die Ablehnung der Auferstehung steht im Zentrum der Sorge Maimonides’ als Halakhist und als Philosoph. Unter einem anderen Blickwinkel war sich Maimonides als Leiter einer Gemeinde der Schwierigkeit bewusst, die Massen zur Verehrung eines unkörperlichen Wesens zu bringen. Bereits in Pereq Heleq erwähnt Maimonides die Sorgen der Gemeinden lediglich hinsichtlich der materiellen Aspekte 90 91
Übersetzung von F. Y. A. Moses Maimonides, Treatise on Resurrection, in: Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light, op. cit., im Bes. S. 155.
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des >olam ha-ba (wie die Toten auferstehen werden, ob nackt oder angezogen usw.), um die Vollkommenheit der menschlichen Seele als Konsequenz des >olam ha-ba kümmerten jene sich nicht. Im zweiten Teil von Maamar Tehyyat ha-Metim verteidigt Maimonides die Auferstehung der Toten im >olam ha-ba, um für die Massen die Verehrung Gottes als unkörperliches Wesen zu vereinfachen, aber er gibt ebenso wenig wie in seinem Frühwerk eine genauere Darstellung der Auferstehung; diese wird unter die generelle Kategorie des Glaubens an das Wunder gestellt und ist mit der Freiheit des göttlichen Handelns verbunden. Das ist ein weiteres Zeichen für Maimonides’ Zwiespalt hinsichtlich dieses Themas. Die Auferstehung der Toten hat für Maimonides keine soziale oder politische Funktion bei der Leitung einer Gemeinde und gefährdet sogar den Glauben an die Unkörperlichkeit Gottes. Eben weil er auf die soziale und politische Dimension der Gemeinde achtet, widmet Maimonides der Beschreibung der messianischen Zeit im zweiten Teil des Maamar Tehyyat haMetim mehr Raum als dem Problem der Auferstehung der Toten.
2.3.1 Die politische und soziale Funktion der messianischen Zeit im Maamar Tehyyat ha-Metim Die Verwirklichung des Abbilds Gottes im Menschen92, d.h. des Verstandes, ist die fundamentale Bedingung für die Verwirklichung der Liebe zu Gott. Maimonides beschließt auch das Sefer ha-Madda> („Buch der Erkenntnis“, das erste Buch der Mishneh Torah) mit dieser Problematik und beendet die ganze Mishneh Torah, indem er das Verlangen nach einer Zeit der menschlichen Geschichte zum Ausdruck bringt, die zur intellektuellen Liebe zu Gott führt, wie sie im zweiten Kapitel von Hilkhot Yessode ha-Torah beschrieben wird. Aus dieser Perspektive dient der Messianismus als Bindeglied zwischen dem scheinbar individualistischen Ideal der intellektuellen Liebe zu Gott und dem kollektiven Gerüst der Halakhah. Maimonides stellt den Messianismus als eine Zeit von materiellen Umständen dar, welche es der Gemeinde erlauben werden, sich ohne weitere Sorgen der Erkenntnis und der intellektuellen Liebe Gottes zu widmen. Dies ist das zentrale Thema des zweiten Abschnitts von Maamar Tehyyat ha-Metim.93 Nach Maimonides verbindet die Vollbringung des Gesetzes Gottes das Wunder der Offenbarung mit der Liebe zu Gott als eschaton der Geschichte, 92 93
Genau mit diesem Problem, nämlich der Bedeutung des Menschen als selem Elohim (Abbild Gottes), eröffnet Maimonides den Moreh ha-Nevukhim. Moses Maimonides, Treatise on Resurrection, in: Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light, op. cit., bes. S. 166.
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einer Liebe, welche die Gemeinde in der intellektuellen Erkenntnis Gottes zu begründen hat. Diese Erkenntnis wird sich in der messianischen Zeit vollenden. Das bedeutet, dass die Auferstehung der Toten nicht als Zentrum der messianischen Zeit interpretiert werden muss: Maimonides lehnt diesen Glauben nicht ab, wohl aber dessen Vorrangigkeit im Gottesdienst und in der Seele der Gemeinde. Diesbezüglich schreibt er im Maamar Tehyyat haMetim: „[W]ir sagten, dass nicht über den Messias gedacht werden sollte, dass er Wunder vollbringt, wie beispielsweise die Teilung des Meeres, oder dass er wie durch ein Wunder einen Toten auferstehen lässt [hier ist eine Polemik gegen das Christentum enthalten], weil es nicht notwendig ist, dass er Wunder vollbringt, da die ersten Propheten, deren Prophezeiung wahr war, schon [sein Kommen] ausgesagt [wörtlich: versprochen] haben. Aus dieser Behauptung folgt nicht, dass Gott die Toten nicht auferstehen lassen wird, aber dass Er die Toten durch seinen Willen und durch seinen Wunsch auferstehen lassen wird, wann immer Er will und wen immer Er will, entweder in den Tagen des Messias oder vor ihm oder nach seinem Tode.“94
Die Auferstehung der Toten wird von Maimonides unter die generelle Kategorie der Wunder gestellt, die von Gott gemäß seines unerforschlichen Willens und seiner Freiheit vollbracht werden. Ein solches Wunder ist mitnichten mit der Ankunft des Messias verbunden, vor allem weil die Aufgabe des Messias nicht die eines Wundertäters ist. An dieser Stelle kann man mit aller Deutlichkeit den Unterschied zwischen dem jüdischen und dem christlichen Messias aufzeigen: Der christliche Messias ist göttlich und mit wundertätigen Kräften ausgestattet, wohingegen der jüdische Messias ein Mensch ist, der dank der Vollkommenheit seines praktischen und theoretischen Verstandes gemäß dem Gesetz Gottes handelt, das er völlig begriffen hat. Die Aufgabe des Messias, wie sie deutlich aus dem Maamar Tehyyat ha-Metim hervorgeht, ist die Verwirklichung von bestimmten materiellen Umständen als Konsequenz seines politischen und gemeinschaftsbezogenen Handelns, so dass sich die von den materiellen Sorgen befreite Gemeinde vollständig der Erkenntnis Gottes und der intellektuellen Liebe zu ihm widmen kann. Entsprechend interpretiert Maimonides Jes. 11:6 (nach Luthers Übersetzung: „Die Wolffe werden bey den Lemmern wonen“) als die Beschreibung der messianischen Zeit als einer Zeit universellen Friedens, welche die Bedingungen für die Erkenntnis Gottes schaffen wird. Im Licht dieses hohen Zwecks der messianischen Zeit werden die durch den Willen Gottes entstandenen Wunder absolut zweitrangig, auch wenn ihre Wahrheit und ihre Bedeutung innerhalb des jüdischen Glaubens von Maimonides nicht bestritten werden. 94
Ibidem, S. 166 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Mit einem messianischen Thema beschäftigt sich Maimonides auch in seinem letzten öffentlichen Brief, in dem man die politische Interpretation des Messias und der messianischen Zeit genauso deutlich wie in den anderen Briefen erkennen kann, auch wenn das Hauptthema in eine ganz andere Richtung zu gehen scheint: die Polemik gegen die Astrologie.
2.4 Iggeret lehakhme Montpellier al gezerat ha-kokhavim oder Brief über die Astrologie (1194)95 Im Jahr 1193 schrieb die jüdische Gemeinde von Montpellier an Maimonides, um ihn um eine Stellungnahme zur Astrologie als Erkenntnisquelle und zur Ankunft des Messias zu bitten. Vor allem bezüglich der Astrologie war die Gemeinde orientierungslos: Trotz der häufigen Erwähnungen im Talmud96 und der Bestimmung der Astrologie als hokhmat ha-nissayon (Wissenschaft der Prognose)97 bei zahlreichen mittelalterlichen Philosophen konnte sie von ihrem heidnischen Charakter, der mit ihrer Entstehung in der griechischen Welt eng verbunden war, nicht vollständig befreit werden. Maimonides konzentriert seine Kritik an der Astrologie auf deren Charakter einer Idolatrie, den er bereits in seinem Werk Mishneh Torah (Gesetz bezüglich der Idolatrie und der Verordnungen für die Nichtjuden) herausgearbeitet hatte, und auf ihre Unbegründbarkeit sowohl unter einem wissenschaftlichen als auch unter einem biblischen Blickwinkel. Nach Maimonides gibt es nur drei mögliche Grundlagen, um eine Sache als vertrauenswürdig zu akzeptieren: den Schluss aufgrund eines gültigen rationalen Beweises wie 95
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Bei meiner Untersuchung dieses Briefs habe ich mich auf den hebräischen Text bezogen, der von Alexander Marx herausgegeben worden ist: Alexander Marx, The Correspondence between the Rabbis of Southern France and Maimonides about Astrology, in: Hebrew Union College Annual 3 (1926), S. 311–358. Die englischen Zitate stammen aus der Übersetzung von Ralph Lerner in: Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light, op. cit., S. 178ff. Siehe auch die Übersetzung von Leon D. Stitskin in: ders. (Hrsg.), Letters of Maimonides, op. cit., S. 113ff. Im BT Shabbat 146a liest man (ich zitiere aus der englischen Soncino-Ausgabe, weil sie in diesem Fall m.E. richtiger als die deutsche Übersetzung von Goldschmidt ist): „Every person had a particular star as a guardian spirit with which his fate was closely interwoven“. Im Traktat Megillah 3a wird die plötzliche grundlose Angst eines Menschen als Zeichen interpretiert, dass sein Stern eine Gefahr für ihn vorhersieht. Noch im Traktat Ta>anit 25a wird erzählt, dass Gott El’azar ben Pedat sagt, dass seine Geburt unter einem schlechten Stern steht und er deshalb Unglück zu erwarten habe. Solomon ben Judah ibn Gabirol (ca. 1020–1057), Abraham ibn Ezra (1092–1167), Yehudah ha-Lewi (1075–1141), Abraham ibn Daud (ca. 1110–1180) und auch später Yishak Abravanel (1437–1508) akzeptierten den Einfluss der Sterne. Abraham bar Hiyya, auf den sich Maimonides meines Erachtens in diesem Brief bezieht, billigte niemals der Astrologie den Rang einer Wissenschaft zu (siehe im Besonderen sein Werk Sefer Heshbon mahlekot ha-kokhavim [Buch über die Berechnung der Sternbewegung]).
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im Fall der Mathematik, der Geometrie und der Astronomie, die direkte Sinneswahrnehmung und schließlich die Berichte der Propheten und der Gerechten. Die Astrologie fällt unter keine dieser Kategorien, weil sie nur in der Leichtgläubigkeit der Massen, die von der Aura der Weissager verzaubert werden, ihre Grundlage hat. Ein Mangel an kritischem Urteilsvermögen ist verantwortlich für die Stärke der Astrologie, deren Weissagern Fähigkeiten zugeschrieben werden, die der Schrift widersprechen: Das Wirken der Menschen, also das Wirken des höchsten Geschöpfs (es ist selem elohim dank seines Intellekts), kann nicht von den niedrigeren Elementen der Schöpfung bestimmt werden. Die Freiheit des menschlichen Willens, welche es den Menschen gestattet, ihr Handeln zum Guten oder zum Bösen hin zu orientieren, ist eine Konsequenz der Übung ihres Verstandes, nämlich eine Konsequenz ihrer Entwicklung zur intellektuellen Vollkommenheit. Es bedeutet auch, dass ihr Leben nicht vorherbestimmt werden kann.98 Wenn ein Mensch Opfer eines negativen Schicksals wird (Maimonides führt als Beispiel den Tod eines Kindes an), so ist dies aus philosophischer Perspektive Konsequenz des Zufalls und kann nicht durch die Position der Sterne im Moment der Geburt dieses Menschen beeinflusst worden sein. Da ich bis dahin die Position des Maimonides mit einem an Kant angelehnten Wortschatz99 erläutert habe, sei es erlaubt, auch den Wortschatz Heideggers zu bemühen: Das ‚Offene-Mögliche‘, das mit jedem Menschen in der Schöpfung beginnt, liegt in der Hand des Menschen, nicht der Sterne. Nicht einmal der Zufall, den die Philosophen als Ursache des Glücks oder des Unglücks des Menschen ansehen, ist für Maimonides unter einem religiösen Blickwinkel akzeptabel: Wenn Gott (nicht der Zufall!) einen Menschen mit der Armut oder mit dem Tod der Kinder bedenkt, hat dies einen präzisen Zweck, nämlich den betreffenden Menschen zu veranlassen, über seine Ungerechtigkeit und seine Sünde zu reflektieren, damit er seinen Weg anders ausrichtet. Maimonides gibt zu, dass die Wege des Willens Gottes unerforschlich und nicht immer gemäß der Dialektik von Sünde und Strafe verständlich sind, aber das ist eine Konsequenz der Beschränktheit des menschlichen Verstandes und nicht ein Zeichen der Willkürlichkeit des Handelns Gottes. 98
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Hinsichtlich dieser Problematik im Denken von Maimonides vgl.: Yeshayahu Leibowitz, Choice and Providence I, Choice and Providence II, Choice and Providence III, in: ders., The Faith of Maimonides, Tel Aviv 1989, S. 71ff. Vgl. auch die Auseinandersetzung zwischen Amos Funkenstein und Aviezer Ravitzky hinsichtlich der deterministischen bzw. nichtdeterministischen Konzeption der Natur bei Maimonides: Amos Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung: Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters, München 1965; Aviezer Ravitzky, History and Faith: Studies in Jewish Philosophy, Amsterdam 1996. Vgl. den provokativen Aufsatz von Friedrich Niewöhner: Maimonides und Kant, oder woher kannte Kant Maimonides?, in: EIF 4 (1976), S. 11–19.
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Die philosophische und religiöse Ablehnung der Astrologie geht über die Positionen vieler islamischer Philosophen hinaus, welche vor Maimonides die Astrologie als Form von Idolatrie angegriffen haben. In seinen Beiträgen zur Geschichte der theologischen Bewegungen im Islam zitiert Martin Schreiner eine Behauptung, welche die islamische Tradition auf Mohammed zurückführt: „Ich fürchte für meine Gemeinde drei Dinge: die Ungerechtigkeit der Imâme, den Glauben an die Sterne und die Leugnung der Vorherbestimmung“.100 Diese Tradition wollte mit der Lehre von der Willensfreiheit auch die Astrologie von Seiten der Propheten verurteilt wissen.101 Maimonides lehnt nur den Glauben an die Sterne ab, aber nicht die menschliche Willensfreiheit als Pendant der göttlichen. Es wäre vielleicht möglich – wie einige Gelehrte (Ignaz Goldziher u.a.) es vor mir versucht haben – diesen Aspekt des Denkens von Maimonides auf den Einfluss der Mu>taziliten102 zurückzuführen. Der Dissens der Mu>taziliten mit der älteren Generation der Karäer, welche die Freiheit des Willens ablehnten, hängt mit deren Gottes- und Offenbarungsbegriff zusammen. Für die Mu>taziliten war es entscheidend, den Gottesbegriff vor jeder Trübung des geistigen Monotheismus zu bewahren, die Konkurrenz des göttlichen Gesetzes mit dem göttlichen Wesen abzulehnen und den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes nicht durch den Schein fatalistischer Willkür und Grausamkeit verdunkeln zu lassen. Deswegen nannten sie sich ‚Leute der Gerechtigkeit und Gotteseinheit‘ (’ashab al->adl wal-tauhid). Die Behauptung der menschlichen Frei-
100 Martin Schreiner, Beiträge zur Geschichte der theologischen Bewegungen im Islam, in: ders., Gesammelte Schriften. Islamische und jüdisch-islamische Studien, herausgegeben und eingeleitet von Moshe Perlmann, Hildesheim/Zürich/New York 1983, S. 366–413. 101 Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe den Abschnitt 4 („Das Handeln des Menschen“) im 4. Kapitel des Werks von Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994, S. 110ff. Siehe auch: William Montgomery Watt, Free Will and Predestination in Early Islam, London 1948. 102 „Die ältesten Mutakallimûn [Sprecher] traten den orthodoxen Lehrern mit ihren Zweifeln und Einwürfen entgegen und erklärten vom Standpunkt des Glaubens an die göttliche Gerechtigkeit aus nicht alles in Ordnung, was und wie es diese zu bekennen auftrugen. Die ersten Keime ihrer den Anschauungen der breiten Orthodoxie zuwiderlaufenden Gesinnung wurzeln noch nicht in philosophischen Erwägungen. Vielmehr sind es zunächst r e l i g i ö s e M o t i v e , die ihren Widerspruch gegen die hergebrachten Lehren hervorriefen. Ihre ältesten Vertreter waren frommgesinnte Leute, Asketen, mu’tazila d.h. sich (vom Irdischen) Zurückziehende. Ihr religiöser Sinn sträubte sich gegen die groben Vorstellungen der traditionellen Orthodoxie. Daher der Name M u ’ t a z i l i t e n für die aus diesen Keimen sich entwickelnde dialektische Schule.“ (Ignaz Goldziher, Die islamische und die jüdische Philosophie des Mittelalters, Leipzig 1922, S. 302f) Hinsichtlich der Konzeption des freien Willens bei den Mutaziliten siehe im bes.: Arthur Hyman, Aspects of the Medieval Jewish and Islamic Discussion of ‚Free Choice‘, in: Charles H. Manekin/Menachem M. Kellner (Hrsg.), Freedom and Moral Responsibility. General and Jewish Perspectives, University Press of Maryland 1997, S. 133–152; Majid Fakhry, Some Paradoxical Implications of the Mu’tazilite View of Free Will, in: ders., Philosophy, Dogma and the Impact of Greek Thought in Islam, Aldershot 1994, S. 95–109.
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Moses Maimonides’ Briefe und der Messias
heit (iötiyar) und von deren Wirkung (qadar) hatte bei den Mu>taziliten den Zweck, Gott von der Verantwortung für das böse Handeln des Menschen zu befreien und zugleich die Gerechtigkeit Gottes zu bewahren. Die ethische Aussage ‚Der Mensch ist der Schöpfer seiner Taten‘ führt jedoch unvermeidlich zu einer Inkompatibilität mit der Einheit Gottes, die von der Herrschaft Gottes über die Welt nicht getrennt werden kann. Gerade diese Inkompatibilität wurde von den Gegnern dieser Bewegung, den Ash>ariten, streng kritisiert, aber ihre Lösung ging nicht in die Richtung einer Vermittlung zwischen den zwei Prinzipien (Freiheit des Menschen/einheitliche Allmächtigkeit Gottes), sondern die Ash>ariten „found it impossible to assign to man any but a nominal role in the ethical drama.“103 Ich werde im weiteren zeigen, dass Maimonides sowohl in Pereq Heleq als auch im Sefer ha-Madda> gerade versucht, auf die mutazilitische Herausforderung, was den freien Willen des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes anbetrifft, nicht via negationis zu antworten. Der Schluss des Iggeret Teman konzentriert sich nicht auf dieses Thema, sondern auf die Frage nach dem Messias; nicht zufällig ist dieser Schluss sehr kurz und deutet am stärksten auf den Brief in den Jemen zurück: „Ich bangte um die Juden, die dort [im Jemen, wo ein vermutlicher Messias erschienen war] waren und verfasste drei oder vier Stücke für sie zum Thema des Messias und seiner Zeichen und der Zeichen der Zeit, in der er erscheinen soll.“104
Maimonides sieht keine Notwendigkeit, dieselben Argumente zu wiederholen, mit denen er sich bereits vor zweiundzwanzig Jahren beschäftigt hatte105, aber er möchte noch einmal betonen, dass der Mensch, so wie er sein Leben nicht von der Interpretation gewisser astrologischer Zeichen bestimmen lassen kann, auch nicht imstande ist, die Ankunft des Messias vorherzusehen. Eine Rechnung, die auf einer Pseudo-Wissenschaft wie der Astrologie basiert und die keine Bestätigung in der Hebräischen Bibel hat, kann der Gemeinde nur Leiden bringen, wie dies in der Vergangenheit geschehen ist. Genauso wie im Iggeret Teman beendet Maimonides diesen Brief auch mit einer Beschreibung der Katastrophen, welche die Juden betrafen, die nach der Interpretation gewisser Zeichen glaubten, den Messias erkannt zu haben: „Umgehend töteten sie [die Araber] den armen Burschen [den vermutlichen Messias] (möge sein Tod eine Sühne für ihn und für ganz Israel sein) und die Juden in den meisten Orten wurden mit Bußgeldern bestraft.“106 103 Majid Fakhry, Some paradoxical implications of the Mu’tazilite view of free will, op. cit., S. 95. 104 Moses Maimonides, Letter on Astrology, in: Ralph Lerner, Maimonides’ Empire of Light, op. cit., S. 186 (Übersetzung von F. Y. A.). 105 Er meint auch, sehr beschäftigt mit den Gojjm zu sein und deswegen nicht viel Zeit für eine längere Antwort zu haben (S. 187). 106 Ibidem, S. 186 (Übersetzung von F. Y. A.).
Der Messias in Moses Maimonides’ Briefen
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Die letzte Perikope des Briefs soll eine Warnung sowohl vor dem Glauben an die Sterne als auch davor sein, die Ankunft des Messias berechnen zu wollen: Die Gemeinde muss in ihrem Leben ‚den Baum der Erkenntnis pflanzen‘, nämlich einen Baum, der es ihr gestattet, durch die Verwendung des Verstandes zwischen Gutem und Bösem zu unterscheiden. Maimonides ist sich bewusst, dass die Gemeinden in einer Zeit von Krise und Lebensbedrohung für jede Form von Aberglauben sehr empfänglich sind, weshalb er als politischer und religiöser Leiter die Aufgabe hat, ihre Aufmerksamkeit auf die einzige Grundlage und auf die einzige Möglichkeit für ein Überleben zu konzentrieren: den Weg der Torah zur Erkenntnis Gottes als intellektuelle Liebe zu ihm. Diese Position ist meines Erachtens auch der Schlüssel, um die Einleitung zum zehnten Kapitel des ersten halakhischen Werks von Maimonides, des Kommentars zur Mishnah (Perush ha-Mishnah, ca. 1170–1180), und im Besonderen seine Darstellung der dreizehn Glaubensartikel des Judentums zu verstehen.
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Pereq Heleq und der Messias
2. Kapitel Pereq Heleq und der Messias ausgehend von den frühislamischen Einflüssen § 1 Pereq Heleq1: Rolle und Bedeutung des Messias in den dreizehn Glaubensartikeln Der Traktat Sanhedrin der Mishnah beschäftigt sich mit Macht, Autorität und der Verantwortung der Gerichte gemäß dem jüdischen Gesetz, und eines der am häufigsten behandelten Themen ist die Hinrichtung. Im zehnten Kapitel2 dieses Traktats wird behauptet, dass auch die von einem jüdischen Gericht zum Tode verurteilten Israeliten Anteil (heleq) an der kommenden Welt haben: „„Ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt [Kol Israel yesh lahem heleq la>olam ha-ba], wie es heißt (Jes lx. 21), „Und dein Volk soll rechtschaffen sein; sie sollen das Land für immer erben“. Folgende haben keinen Anteil an der kommenden Welt: a. Derjenige, der die Auferstehung der Toten leugnet. b. Derjenige, der den göttlichen Ursprung der Torah leugnet. c. Der Ungläubige [’epiqoros].3 1
2 3
Im Rahmen unserer Untersuchung verwenden wir den arabischen Text, den man zusammen mit der Übersetzung von Solomon ben Joseph ibn Jacob in: Jerzy Holzer, Moses Maimunis Einleitung zu Cheleq (Berlin 1901) findet. Vgl. auch die Übersetzung in Modernhebräisch und die Anmerkungen von M. Gottlieb, Perush ha-Mishnah la-Rambam, Massekhet Sanhedrin, Hannover 1906; M. D. Rabinowitz, Haqdamot le-Perush ha-Mishnah, Jerusalem 1961; den Text der dreizehn Artikel in: Isaac Yishak Abravanel, Rosh Amanah, Tel Aviv 1958; eng. Übersetzung: Isaac Abravanel, Principles of Faith (Rosh Amanah), hrsg. und übers. von Menachem M. Kellner, London/Toronto 1982. In diesem Werk schreibt Abravanel die Übersetzung der dreizehn Artikel Samuel ibn Tibbon zu. Gottlieb (S. 82ff) ist der Auffassung, dass Abravanel eine kombinierte Übersetzung von zwei früheren Übersetzungen (einer von Samuel ibn Tibbon und einer von Judah al-Harizi) benutzt. Für eine weitere Diskussion über die hebräischen Übersetzungen siehe auch Holzer (S. 19ff., dt.). Der arabische Text von Pereq auch in: Israel Friedländer (Hrsg.), Selections from the Arabic Writings of Maimonides, Leiden 1951 (Nachdruck der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1909). Für die englische Version siehe: Joshua Abelson in: Maimonides on the Jewish Creed, Jewish Quarterly Review 19 (1907), S. 24–58. Siehe auch die meines Erachtens fragwürdige Übersetzung von Fred Rosner: Maimonides’ Commentary on the Mishnah. Tractate Sanhedrin, New York 1981, S. 134ff. In den Druckausgaben des Babylonischen Talmuds ist es das elfte, nicht das zehnte Kapitel. Das Wort ’epiqoros ist von dem Namen Epikur abgeleitet, aber in der rabbinischen Literatur wird dieses Wort als Synonym für einen zügellosen Menschen gebraucht und nicht immer auf
Rolle und Bedeutung des Messias in den dreizehn Glaubensartikeln
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Rabbi Akiba sagt: Auch derjenige, der häretische Bücher liest. Und derjenige, der einen Zauber über einer Wunde flüstert und sagt: „So will ich dir keine der Krankheiten auferlegen, die ich den Ägyptern auferlegt habe; denn ich bin der HERR, dein Arzt“ (Ex. 15, 26) Abba Saul sagt: Auch derjenige, der die Buchstaben des Tetragramms spricht.“ a. b.
Der Inhalt dieses Kapitels scheint Solomon Schechter zu widersprechen, welcher meint, dass „In speaking of dogmas it must be understood that Judaism does not ascribe to them any saving power“.4 Der Gebrauch des Wortes ‚Dogma‘ erscheint sehr merkwürdig, wenn man daran denkt, dass dieser Begriff in der hebräischen Bibel gar nicht vorkommt. In der Tat fehlt er sogar in der Encyclopedia Judaica, wo man stattdessen die folgende Bestimmung des Begriffs „belief“ (Glauben) findet: „In the Bible there are no articles of faith or dogmas in the Christian or Islamic sense of the terms. […] [T]he verb he’emin (]ymXh , to believe), the noun ’emunah („belief“), and other forms derived from the stem ’men (]mX ) mean to trust, have confidence; and faithfulness [.] […]“5
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die Epikuräer bezogen. Die Epikuräer schließen die göttliche Vorsehung aus dem menschlichen Leben und der Ordnung und der Entwicklung der Welt aus. In seinem Kommentar zu San. X, 1 meint Maimonides, dass dieses Wort vom semitischen Stamm paqar abgeleitet sei. Dieser Stamm wird in der rabbinischen Literatur im Sinne von „Verzicht auf Eigentum“ sowie von „sich moralischen und religiösen Fesseln befreien“ gebraucht. Obwohl eine solche Erklärung etymologisch schwer zu begründen ist, werde ich später erklären, warum Maimonides ’epiqoros in diesem Sinne versteht (die Erklärung, dass er vielleicht damals von den Epikuräern nichts wusste, ist bei einem solchen Gelehrten der rabbinischen Literatur, obwohl damals noch relativ jung, kaum zutreffend). Für eine Vertiefung des Gebrauchs dieses Worts in der rabbinischen Literatur und im besonderen bei Maimonides siehe: Claudia Setzer, ‚Talking their Way into Empire‘: Jews, Christians, and Pagans Debate Resurrection of the Body, in: Carol Bakhos (Hrsg.), Ancient Judaism in Its Hellenistic Context, Leiden/Boston 2005, S. 155–175; Giuseppe Veltri, Platonische Mythen und rabbinische exegetische Entwicklungen, in: ders., Gegenwart der Tradition. Studien zur jüdischen Literatur und Kulturgeschichte, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 195–233; Louis Jacobs, Principles of the Jewish Faith, Northvale (New Jersey) 19882, S. 11ff. Solomon Schechter, The Dogmas of Judaism, in: ders., Studies in Judaism. Essays on Persons, Concepts, and Movements of Thought in Jewish Tradition, New York 1958, S. 73–104. Vgl. auch: Marc B. Shapiro, Maimonides’ Thirteen Principles. The Last Word in Jewish Theology?, in: Torah u-Maddah Journal 4 (1993), S. 187–242. Encyclopedia Judaica, Bd. 4, S. 429. Hiermit möchte ich auch auf die Stellungnahme von Samson Raphael Hirsch aufmerksam machen, des wichtigsten Repräsentanten der Neuorthodoxie im deutschsprachigen Judentum des 19. Jahrhunderts: „Das Judenthum habe von seinen Anhängern nie ein bestimmtes Glaubensbekenntnis verlangt, noch weniger sie auf ein solches verpflichtet. Bedeutende rabbinische Autoritäten hätten die Aufstellung von Grundlehren lebhaft bekämpft und darum sei, wie schon Mendelssohn dargethan, der Begriff der Orthodoxie, d. i. der Rechtgläubigkeit im kirchlichen Sinn, auf den israelitischen Lehrbegriff nicht anwendbar. […] Die rabbinischen Autoritäten bekämpften das Aufstellen von jüdischen Glaubensartikeln, nicht weil es im Judenthum überhaupt keine Grundsätze gebe, sondern, weil im Judenthum Alles grundsätzlich sei, weil das Judenthum nicht 13 und nicht drei Religionsgrundsätze kenne, sondern jedes Gebot und jedes Verbot ein Religionsgrundsatz sei
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Pereq Heleq und der Messias
Wie soll man also nicht nur die dreizehn Glaubensartikeln interpretieren, mit denen Maimonides seinen Kommentar zum 10. Kapitel des Traktats Sanhedrin schließt, sondern auch die Versuche einer Darstellung der ‚jüdischen Dogmen‘, die vor und nach Maimonides unternommen wurden? An dieser Stelle beabsichtige ich nicht, einen Überblick über diese Problematik innerhalb der jüdischen Philosophie des Mittelalters zu geben, erstens weil viele andere Gelehrte vor mir eine solche Arbeit erfolgreich unternommen haben6 und zweitens weil ich meine Argumentation im Kern auf die Konzeption der Glaubensartikel bei Maimonides konzentrieren möchte. Meines Erachtens ist eine solche Darstellung notwendig, um die politische und theologische Absicht Maimonides’ in diesem Kommentar klarzustellen und um die unterschiedliche Darstellung der dreizehn Artikel im Sefer ha-Miswot, in der Mishneh Torah und im Moreh ha-Nevukhim im Vergleich zum Perush ha-Mishnah verstehen zu können.
§ 2 Der karäische Einfluss auf Pereq Heleq: Sind die Maimonidischen Glaubensartikel Dogmen? Wenn man einen kurzen Exkurs in die Geschichte der Glaubensartikel vor Maimonides unternehmen möchte, muss man auf Philon von Alexandria zurückgehen, der als Zusammenfassung der Lehre des ersten Kapitels des Buchs der Schöpfung in De opificio mundi schreibt: „Mit seiner Darstellung der Erschaffung der Welt, von der wir gesprochen haben, lehrt Moses uns neben vielen anderen Dingen auch fünf, welche die schönsten und besten sind. Erstens, dass die Gottheit ist und von Ewigkeit an war. […] Zweitens, dass Gott einer ist. […] Drittens, wie ich bereits gesagt habe, dass die Welt erschaffen wurde. […] Viertens, dass die Welt eine ist wie ihr Schöpfer, der sein Werk wie sich selbst in seiner Einzigartigkeit geschaffen hat, der für die Erschaffung des Ganzen alles existierende Material verwendete […]. Fünftens, dass Gott auch Vor-
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und die Leugnung auch nur Eines der 613 Gebote und Verbote außer dem Judenthum setze.“ (Samson Raphael Hirsch, Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt. Von einem Schwarzen, Frankfurt/M. 1854, S. 6–7) Vgl. u.a.: Solomon Schechter, The Dogmas of Judaism, op. cit., S. 85ff; Louis Jacobs, Principles, op. cit., S. 8ff; Menachem Kellner, Dogma in Medieval Jewish Thought. From Maimonides to Abravanel, New York 1986; Melvin Granatstein, Are the Ikkarim [of Maimonides] Truly Intelligible?, in: Tradition 10,4 (1969), S. 15–21; Aron Eisenstein, Moses Maimonides’ Begründung der biblischen Gesetzgebung, Cieszyn 1935; David Neumark, Toledot ha-Ikkarim be-Yisrael, 2 Bde., Odessa 1919 (1. Bd.) und 1921 (2. Bd.). Siehe auch die Ausarbeitung dieser Problematik in: Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums, München 1933; David Neumark, Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters, 1. Bd., Berlin 1907. In diesen Werken fehlt aber die Rekonstruktion des Begriffs ‚Glaubensartikel‘ sowohl in der islamischen als auch in der karäischen Tradition. Ich ziehe den Begriff ‚Glaubensartikel‘ dem Begriff ‚Dogma‘ vor, weil er keine christliche Konnotation hat, die im Zusammenhang meiner Untersuchung irreführend sein könnte.
Der karäische Einfluss auf Pereq Heleq
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sehung im Hinblick auf die Welt ausübt. Derjenige, der begonnen hat, diese Dinge mit seinem Verstand und nicht nur mit seinem Gehör zu lernen und seiner Seele solch wunderbare und unschätzbare Eindrücke der Wahrheit eingeprägt hat, sowohl dass Gott ist und von Ewigkeit an ist, als auch, dass er einer ist, und dass er die Welt erschaffen und als eine Welt erschaffen hat, so einzigartig wie er selbst einzigartig ist und dass er immer Vorsehung übt, so dass seine Schöpfung ein Leben in Glück und Seligkeit führt, weil er ein durch die Wahrheiten geprägtes Wesen hat, welches Frömmigkeit und Heiligkeit verstärken.“7
Die Absicht von Philon ist nicht, eine Klassifizierung der jüdischen Prinzipien der Schöpfung aufzustellen, sondern er will die inhaltliche Verknüpfung zwischen der Lehre der Hebräischen Bibel und den Grundprinzipien der Platonischen und der Aristotelischen Philosophie (Einheit des Demiurgos, Providenz, das Gestalten der Materie) spekulativ begründen. Sein Augenmerk richtet sich nicht darauf, in einer von der griechischen Philosophie bestimmten Welt den Glauben der Juden zu retten, sondern auf die Untersuchung der intellektuellen Verwandtschaft zwischen Logos und Lehre der Bibel, die Philon sogar als allegorisches Werk interpretiert. In diesem Sinne kann man Philon nicht als jüdischen Philosophen bzw. jüdischen Theologen bestimmen, wenn man darunter einen Denker versteht, der sich angesichts einer geschichtlichen und gemeinschaftlichen Notsituation seiner Gemeinde als Retter und Begründer des Glaubens präsentiert. Darüber hinaus hat Philon sich nicht mit der ‚Konkurrenz‘ und der Gefahr von Seiten dogmatischer Systeme auseinandergesetzt, die viel später ein Problem für das Überleben der jüdischen Gemeinden in der christlichen und muslimischen Welt werden sollten. Die Karäer8 waren die ersten, die mit solchen dogmatischen Systemen in engen Kontakt kamen, und genau innerhalb dieser vielschichtigen Sekte 7 8
Philon, De opificio mundi LXI: Loeb Classical Library, Philo vol. I, London 1949, S. 135f. Übersetzung von F. Y. A. Die Karäer waren eine jüdische Sekte, die sich am Anfang des 8. Jahrhunderts entwickelte. Ihre Grundlehre basiert auf Ablehnung der talmudisch-rabbinischen Tradition. Hinsichtlich des Namens dieser Sekte liest man in der Encyclopedia Judaica: „The accepted meaning of the name of the sect – Kara’im, Ba’alei ha-Mikra („people of the Scriptures“) – is assumed to imply the main characteristic of the sect, the recognition of the Scriptures as the sole and direct source of religious law, to the exclusion of the Oral Law. There is, however, another interpretation of the name Kara’im, defining it as „callers“ or „propagandists“, in the sense of the Arabic word du’at by which the Shi’ite Muslim sect designated propagandists on behalf of Ali. Since a religion based on revelation cannot tolerate the complete exclusion of tradition, either in principle or in practice, the Karaite demand for a return to Scripture should be taken as theoretical watchword, directed not against all tradition, but specifically against the rabbinical tradition. As a matter of fact, the Karaites also developed a tradition of their own, described by them as sevel ha-yerushah („yoke of inheritance“), consisting of doctrines and usages which, altough not found in the Bible, were accepted as binding by the entire community (the kibbutz or edah, corresponding to the Muslim ijma, „consensus“). A large number of these had come down from the Jews who had returned from the Babylonian exile (those designated as the „good figs“, Jer. 24:5).“ (Enc. Jud., Bd. 10, S. 761f). Vgl. auch: Imran A. Niazi,
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Pereq Heleq und der Messias
erscheinen die ersten Auflistungen von Dogmen in der Geschichte des Judentums. Was ich zu zeigen beabsichtige, ist die geschichtlich-philosophische Kette, welche in der Problematik der Glaubensartikel von den frühislamischen Bewegungen (vor allem bei den Mu>taziliten und bei den Ash>ariten) über die Karäer (Al-Basir im Besonderen) bis zu Maimonides führt. Die nachfolgende Analyse will zeigen, dass Pereq Heleq von der karäischen Glaubenslehre stark beeinflusst wurde, wobei sich die Forschung bis heute am meisten auf die karäischen Einflüsse auf Sa>adyah Gaon und Yehudah haLewi konzentriert hat9, darüber hinaus mit einem stärker geschichtlichen als philosophisch-theologischen Interesse.
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The Karaites. Influence of Islamic Law on Jewish Law, in: Islamic Studies 32,2 (1993), S. 137–147; Nathan Schur, History of the Karaites, Frankfurt a. M. u.a. 1992; Julius Fürst, Geschichte des Karäerthums, Leipzig 1862 (1. Bd.), 1865 (2. Bd.), 1869 (3. Bd.); William H. Rule, The History of the Karaite Jews, London 1870. Siehe auch die Bibliographie im unveröffentlichten Aufsatz von Gotthard Deutsch: Karaites, American Jewish Archives, Hebrew Union College (Cincinnati, Ohio), Manuscript Collection No. 123, Box 12. Vgl. u.a.: Hartwig Hirschfeld, Antikaräische Polemik in Saadias’ Religionsphilosophie, Berlin 1912; Samuel A. Poznanski, The Anti-Karaite Writings of Sa’adiah Gaon, in: Philip Birnbaum, Karaite Studies, New York 1971, S. 89–127; ders., The Karaite Literary Opponents of Sa’adiah Gaon, in: Philip Birnbaum, Karaite Studies, op. cit., S. 129ff; Daniel J. Lasker, Judah Halevi and Karaism, in: Jacob Neusner/Ernest S. Frerichs/Nahum M. Sarna (Hrsg.), From Ancient Israel to Modern Judaism. Intellect in Quest of Understanding. Essays in Honor of Marvin Fox, 3. Bd., Atlanta (Georgia) 1989, S. 111–125; Haggai Ben-Shammai, Kalâm in Medieval Jewish Philosophy, in: Daniel H. Frank/Oliver Leaman, History of Jewish Philosophy, London 1997, S. 115–148, im besonderen S. 127ff. Für meine Untersuchung haben auch die folgenden Aufsätze von Ben-Shammai eine wichtige Rolle gespielt: Between Ananites and Karaites. Observations on early Medieval Jewish sectarianism, in: Studies in Muslim-Jewish Relations I (1993), S. 19–29; Harry A. Wolfson, The Philosophy of the Kalâm, Cambridge (Mass.) 1976; Harry A. Wolfson, Repercussions of the Kalam in Jewish Philosophy, Cambridge (Mass.) 1979; Michael Schwartz, On Harry Austryn Wolfson’s „Repercussions of the Kalam in Jewish Philosophy“ (1979), in: IJMES 13,3 (1981), S. 374–376; Haggai Ben-Shammai, Return to the Scriptures in ancient and medieval Jewish sectarianism and in early Islam, in: Evelyne Patlagean/Alain Le Boulluec (Hrsg.), Les retours aux Écritures: fondamentalism présents et passés, Leuven 1993, S. 319–339; ders., The attitude of some early Karaites towards Islam, in: Studies in Medieval Jewish History and Literature 2 (1984), S. 3–40; Gerald Blidstein, Maimonides’ Approach to the Karaites, in: Techumin 8 (1987), S. 501–522; Haggai Ben-Shammai, The Karaite controversy. Scripture and tradition in early Karaism, in: Bernard Lewis/Friedrich Niewöhner (Hrsg.), Religionsgespräche im Mittelalter, Wiesbaden 1992, S. 11–26. In seinem Artikel über Maimonides’ Influence on Karaite Theories of Prophecy and Law skizziert Daniel J. Lasker den karäischen Einfluss auf Maimonides nur hinsichtlich des Problems der Prophetie (in: Arthur Hyman [Hrsg.], Maimonidean Studies, 1. Bd., New York 1990, S. 99–115). Eine Auswahl aus den karäischen Werken findet man in: Karaite Anthology. Excerpts from the Early Literature, aus dem Arabischen, Aramäischen und aus den Hebräischen Quellen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Leon Nemoy, New Haven 19633.
Der Einfluss der Mu>taziliten und der Ash>ariten auf das jüdische Frühkaräertum
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§ 3 Der Einfluss der Mu>taziliten und der Ash>ariten auf das jüdische Frühkaräertum bezüglich der ‚Prinzipien der Religion‘ Der arabische Ausdruck ’usul al-din wird mit ‚Prinzipien der Religion‘ übersetzt, wobei es allerdings im Qur’an keine Gebotsliste10 gibt und wobei din nicht eigentlich ‚Religion‘, sondern vielmehr ‚Verpflichtung, Ausrichtung, Unterwerfung, ausgleichende Gerechtigkeit‘ bedeutet. ‚Religion‘ evoziert zunächst, dass Gott und Menschen verbunden sind (re-ligere), während din der Zusammenhang von Verpflichtungen ist, die der Schöpfer seinen vernünftigen Geschöpfen (’ashab >aqul gemäß der Definition des Qur’an, welche die Tiere ausschließt) aufgibt. In diesem Sinne sind die ’usul keine Dogmen und haben tatsächlich im Qur’an mehr eine juristische als eine theologische Bedeutung. Im heiligen Text des Islam findet man nur ein Prinzip, das dem christlichen Dogma ähnlich ist, nämlich den sogenannten tauhid, den Akt, mit dem die Einzigkeit Gottes (ilah wahid) behauptet wird: la ’ilaha illa allah („Allah ist der einzige Gott“). Die zentrale Stellung des tauhid wird durch seine Insistenz betont: Er ist das einzige Prinzip, das 13 Mal wiederholt wird, und sogar 29 Mal wird die monotheistische Formulierung wiederholt, die dem Shema Israel 11 ähnlich ist. Der tauhid ist in der Tat das einzige Prinzip, über das sich die unterschiedlichen theologischen muslimischen Schulen niemals gestritten haben. Der große Unterschied zwischen den Schulen betrifft die Beweise (dala’il) der anderen ’usul und ihre dementsprechende Akzeptanz bei den Menschen: die Schaffung der Körper (hudu© al-’apsam), die Ablehnung der Ewigkeit der Zeit (dahr12), die Existenz eines Schöpfers (muhdi©), seine Ewigkeit, sein Wissen, seine Lebendigkeit und seine Macht, worin der Schöpfer keinem Ding ähnlich sei (la yuˇsabbihu >l-’aˇsya), seine Unkörperlichkeit, seine Gerechtigkeit, sein freier Wille (iötiyar), die Belohnung bzw. die Bestrafung des Menschen gemäß seinem Handeln. Die muslimischen Schulen klassifizieren die ’usul gemäß der Art des Beweises, mit dem man für sie argumentieren kann: die sam>iya oder sˇar>iya (die offenbarten Prinzipien) und die >aqliya (die rationalen Prinzipien). Obwohl alle ’usul für die endgültige Rettung geglaubt werden müssen, ist die Art und Weise dieses Glaubens für jede Schule (und in vielen Fällen sogar für die
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Vgl. William M. Brinner, An Islamic Decalogue, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks, Studies in Islamic and Judaic Traditions. Paper presented at the Institute for Judaic Studies, Atlanta (Georgia) 1986, S. 67–84. Shema Israel, Adonay Eloheinu, Adonay Ehad: „Höre zu, Israel, Adonay ist unser Herr, Adonay ist einzig“. Auf Arabisch gibt es zwei Wörter, die das Wort „Zeit“ übersetzen: dahr und zaman. Das erste bezeichnet eine bestimmte Zeitdauer, das zweite eine unbestimmte Zeit.
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Pereq Heleq und der Messias
Mitglieder einer und derselben Schule) anders, weil die ’usul in den Schulen auf verschiedene Weise bewiesen werden.13 Konsequenterweise bedeutet das auch und vor allem, dass sich die auf diese Prinzipien gegründeten legalistischen Systeme und die Gerichtsurteile dieser Schulen radikal unterscheiden. Entsprechend betrifft der Begriff des Beweises im Islam nicht das ontologische Wesen Gottes, das hingegen das Hauptthema der christlichen Scholastik ist, sondern die Begründbarkeit jener gemeinschaftlichen Gesetze, die man auf der Grundlage des islamischen Glaubens erzeugt und nach denen man eine Gemeinde juristisch und politisch leitet. Bereits in der Frühphase der Entwicklung des Islam kann man vier Quellen für die Entstehung des Gesetzes identifizieren: der Qur’an, die Tradition (sunna), die logische Untersuchung der ’usul (qiyas) und die Praxis des kollektiven Lebens (’ipma> ). Von hierher ist es wichtig hervorzuheben, dass ’islam und ’iman (Glauben) im Qur’an nicht Synonyme sind, obwohl diese Begriffe in der muslimischen Tradition häufig als solche gebraucht worden sind: ’islam bezeichnet den Akt des Sich-Gott-Unterwerfens und ist ein Wort, das nur acht Mal im Qur’an erscheint14, während ’iman der Glaube an der Begründbarkeit dieser Unterwerfung ist. Der Stamm ’mn bedeutet ‚sicher sein, sich einlassen auf, sich wenden an‘ und ist der am häufigsten vorkommende Stamm im koranischen Wortschatz.15 Die theologische Bedeutung dieser Häufigkeit liegt 13
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Für eine Vertiefung des Unterschieds zwischen den muslimischen theologischen Schulen im Lauf der Zeit siehe u.a.: Louis Gardet/George C. Anawati, Introduction à la theologie musulmane, Paris 1948; W. Montgomery Watt, Islamic Philosophy and Theology. An Extended Survey, Edinburgh 19852. Diese Problematik wird selbstverständlich in jedweder Geschichte der arabischen Philosophie ausführlich behandelt. Siehe u.a.: Majid Fakhry, A History of Islamic Philosophy, New York 1970; Thérèse-Anne Druart, Medieval Islamic Philosophy and Theology. Biographical Guide (1994–1996), in: Bulletin de philosophie médiévale, 39 (1997), S. 175–202; Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra: eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, 6 Bde., Berlin 1991–1997; Henry Corbin, History of Islamic Philosophy, von Liadain und Philip Sherrad aus dem Französischen übersetzt, London 1993; Seyyed Hossein Nasr/Oliver Leaman (Hrsg.), History of Islamic Philosophy, 2 Bde., London 1996; Richard Hovannisian/Georges Sabagh (Hrsg.), Religion and Culture in Medieval Islam, Cambridge 2000; Oliver Leaman, An Introduction to Classical Islamic Philosophy, Cambridge University Press 2001; John Inglis, Medieval Philosophy and the Classical Tradition in Islam, Judaism and Christianity, London 2002; Peter Adamson/Richard C. Taylor, The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge University Press 2005; Seyyed Hossein Nasr, Islamic Philosophy from Ist Origin to the Present: Philosophy in the Land of Prophecy, State University of New York Press 2006; Josef van Ess/Jane Marie Todd, The Flowering of Muslim Theology, Harvard University Press 2006; Hans Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, 2 Bde., Leiden 1999 (Suppl. 2007); Peter Adamson (Hrsg.), Classical Arabic Philosophy: Sources and Reception, London 2007; Peter S. Groff, Islamic Philosophy A-Z, Edinburgh University Press 2007. Für eine Vertiefung der Bedeutung von ’islam siehe The Encyclopaedia of Islam, 4. Bd., S. 171ff. Für eine Vertiefung der Bedeutung von ’iman siehe The Encyclopaedia of Islam, 3. Bd., S. 1170ff.
Der Einfluss der Mu>taziliten und der Ash>ariten auf das jüdische Frühkaräertum
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darin, dass der Glaube an die Begründbarkeit der menschlichen Unterwerfung unter Gott nach der koranischen Lehre viel wichtiger als der Akt der Unterwerfung an sich ist. Diese gesetzliche, politische und theologische Implikation des Begriffs ’iman spielt eine wichtige Rolle für den Ursprung der ’ilm al-kalam („Wissenschaft des Kalam“), die genau in der komplexen geschichtlichpolitischen Situation ihre Wurzeln hat, in der sich der Islam in der Mitte des 8. Jahrhunderts befand: Die politische Auseinandersetzung zwischen den Propagandisten der ’Abbasiden-Opposition und der Regierung der Umayyaden hatte die Stabilität der muslimischen Gesellschaft stark gefährdet und die Führungsschichten sowie die Masse sehr aufnahmebereit für die Einflüsse des Christentums und der griechischen Philosophie gemacht. Das Christentum, mit dem der Islam in seiner expansionistischen Phase in Kontakt kam, stellte eine große Herausforderung für den muslimischen Glauben dar: Die christlichen Führungsschichten, welche mit der griechisch-philosophischen Methode des untersuchenden Dialogs (Fragen/Antworten) vertraut waren (die ersten Übersetzungen der philosophischen Werke wurden im ost-christlichen Bereich auf Syrisch erstellt), fragten die Muslime nach der Begründbarkeit ihres Glaubens, um selbst plausible Motive für eine Konversion zur Religion Muhammads zu erhalten. Als Reaktion auf eine solche politische und philosophische Herausforderung, wogegen die legalistische Tradition (fiqh) keine geeigneten Mittel hatte, entstand der kalam. Dieses Wort bedeutet generell ‚Rede, gesagte Sache, Diskussion‘, und erst ab der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde es in spezifischerer Weise benutzt, um eine Diskussionsmethode angesichts theologischer und philosophischer Themen, aber auch politischer Fragen zu bezeichnen, die mehr in den Prinzipien der Vernunft als in der Autorität der Tradition und des Qur’an gründete. Die Mitglieder dieser Schule wurden deswegen mutakallimun genannt; im Laufe der Zeit wurde dieses Wort zu einer Bezeichnung für jene Menschen, für welche die Erkenntnis kein Zweck an sich, sondern ein Instrument ist, um die politische und religiöse Lehre des Islam zu verteidigen.16 Unter den ersten Bewegungen des kalam waren die Mu>taziliten, die ab dem 8. Jahrhundert aktivste Gruppe unter den Umayyaden waren; diese Sekte entstand bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts in Basra und verbreitete sich sehr schnell (Baghdad war ihr wichtigstes Zen-
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Für meine Untersuchung ist es wichtig, die mutakallimun nicht mit den (christlichen oder muslimischen) falasifa zu verwechseln. Die falasifa fühlten sich der griechischen Philosophie verpflichtet (hauptsächlich einer neoplatonischen Interpretation des Aristotelismus) und erklärten die Erwerbung wahrer Erkenntnis um ihrer selbst willen als Mittel zur tatsächlichen Verwirklichung der Vollkommenheit.
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trum).17 Ihre Lehre wurde unter dem ’Abbasidischen Kalifen al-Ma’mun (813–833), unter seinen Nachfolgern al-Mu>tasim, al-Wa©iq und al-Mutawakkil zur offiziellen Theologie des Islam und bliebe dies bis zum Jahr 850. Mu>tazila bedeutet ‚wer sich zurücksetzt‘ und bezieht sich auf die Ablehnung der traditionellen Orthodoxie zugunsten einer rein rationalen Begründung der Prinzipien des Islam sowie der Gesetze, die man aus diesen Prinzipien ableiten kann. Eine Systematik ihrer Prinzipien wurde jedoch erst Anfang des 9. Jahrhunderts eingeführt, nämlich als Konsequenz der wachsenden dogmatischen Tendenz im Christentum. Aber während die christlichen Dogmen als unantastbare Wahrheiten mit der Konzeption der religiösen Prinzipien als Glaubensakte verbunden sind, basieren die fünf Prinzipien der Mu’taziliten trotz ihrer scheinbar ausschließlich theologischen Bedeutung auf der rationalen Begründung der Gesetze, welche das individuelle und kollektive Leben reglementieren müssen: 1) die Einzigkeit Gottes (tauhid); 2) die göttliche Gerechtigkeit (’adl); 3) Belohnung und Bestrafung (al-wa>d wa-’l-wa>id, wörtlich: Versprechen und Bedrohung); 4) die ‚Zwischenposition‘ (al-manzila baina al-manzilatain), nämlich die Unmöglichkeit, zu entscheiden, ob ein Mensch ein Gläubiger oder ein Ungläubiger ist (die Sünde ist nur eine Zwischenstufe); 5) sich auf das Gute einlassen und das Böse vermeiden (al-’amr bi-l-ma>ruf wa-n-nahiy’an almunkar). Wenn man diese theologischen Prinzipien im Lichte ihrer politischen Bedeutung untersucht, wird ihre gegenseitige innere Abhängigkeit deutlicher. Das Prinzip der Einzigkeit Gottes garantiert die Übereinstimmung, Ordnung und Nicht-Widersprüchlichkeit der Schöpfung, die nicht Konsequenz eines Zufalls ist, sondern dem Zeichen eines Willens entspricht, dessen Zwecke der Mensch als einziges vernünftiges Wesen durch die Lehre der Belohnung und der Bestrafung verstehen kann. Die Klassifizierung seiner Handlungen ist das Schema, um sein Verhalten sich selbst und den anderen Menschen gegenüber gemäß dem göttlichen Willen, aber im Respekt vor der menschlichen Freiheit auszurichten, wobei man aber wegen der Endlichkeit seiner Fähigkeiten nicht immer imstande ist zu beurteilen, wer richtig oder unrichtig handelt (einige Gelehrte18 sprechen von diesem Prinzip als dem politischsten innerhalb der mu>tazilitischen Schule, weil es erlaubt, viele Situationen unentschieden zu lassen, falls eine positive bzw. eine negative Beurteilung schwierige Konsequenzen für das Kollektiv insgesamt haben könnte). Der Zweck des individuellen und kollektiven Lebens soll auf jeden 17
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Das erste Werk der Neuzeit, welches das Interesse an der Geschichte dieser Sekte weckte, war das Buch von Heinrich Steiner: Die Mu’taziliten oder die Freidenker im Islâm. Ein Beitrag zur allgemeinen Culturgeschichte, Leipzig 1865, obwohl es eine radikale Tendenz zeigt, die Mu>taziliten mit den Kategorien der deutschen Aufklärung zu interpretieren. Vgl. u.a.: W. Montgomery Watt, Islamic Philosophy and Theology, op. cit., S. 52; Henry Corbin, History of Islamic Philosophy, op. cit., S. 111.
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Fall sein, ‚sich auf das Gute einzulassen und das Böse zu vermeiden‘, als logischer Schluss aus den fünf Prinzipien. Wenn eine politisch-soziale Lektüre die innere Harmonie dieser Prinzipien betont, ist ihre epistemologische Interpretation sehr problematisch, aber dessen waren sich auch die ersten Mu’taziliten bewusst, als sie die aus diesen Prinzipien abgeleiteten Gesetze inhaltlich in zwei Kategorien aufteilten: in die rationalen und die geoffenbarten (welche die rationalen und welche die geoffenbarten sind, war eines der am meisten umstrittenen Themen innerhalb der unterschiedlichen mu’tazilitischen Strömungen). Während die rationalen Gesetze von Gott in der epistemologischen Fähigkeit (’ilm) des Menschen ‚implantiert‘ sind und sie ohne weiteren Beweis durch die rationale Spekulation (nazar) evident sind, haben nur wenige Menschen durch Hören oder Aussprechen die offenbarten Gesetze erworben. Die Gesetze, die aus diesen Prinzipien stammen, implizieren eine unterschiedliche Konzeption der Erkenntnis: eine Form menschlicher Erkenntnis ist nämlich unmittelbar, während die andere erworben ist. Eine solche Unterscheidung hat relevante Konsequenzen in bezug auf die Ethik und die Theologie: Wie kann man von der Gerechtigkeit Gottes sprechen, wenn einige Menschen wegen ihrer natürlichen Beschränktheit von gewissen Wahrheiten ausgeschlossen sind? Wieso werden diese Menschen trotzdem von Gott bestraft? Wie soll man in diesem Fall den göttlichen Willen interpretieren? Was ist die theologische und moralische Bedeutung der Rettung (die aber als spezifisches Problem bei den Mu>taziliten nicht ausgearbeitet wird)? Diese Problematik ist nicht mit dem islamischen Qadaritismus (al-qadar ist ein koranisches Wort, um den unbegrenzten Willen Gottes zu bezeichnen, wobei das Wort „Qadariten“ genau die Gegner dieses Prinzips meint) – der einen grossen Einfluss auf die Karäer ausüben wird – sondern mit der Akzentuierung des freien menschlichen Willen bei den Mu>taziliten verbunden. Im 8. Jahrhundert entstand die folgende Geschichte, auf welche die Ash>ariten sich häufig bezogen, um zu begründen, dass sie sich von den Mu>taziliten entfernten und zur Autorität der Schrift zurückkehrten: Von drei Brüdern war einer gut, einer bösartig und einer starb als Kind. Der erste kam ins Paradies, der zweite in die Hölle, und der dritte ging dorthin, wo man keine Belohnung und keine Bestrafung erhält. Der dritte Bruder beschwerte sich vor Gott, weil dieser ihm nicht die Möglichkeit gab, sich durch seinen Gehorsam das Paradies zu verdienen (nach der islamischen Lehre sind die Kinder bis zur Pubertät für ihre Handlungen nicht verantwortlich). Darauf antwortete Gott, dass er vorhersah, dass dieser Bruder das Gesetz nicht respektieren würde, so dass er ihn in einem Akt von Gerechtigkeit, nämlich um ihm die Hölle zu ersparen, als Kind sterben liess. An diesem Punkt beschwerte sich aber auch der zweite Bruder: Wieso wurde er nicht wie der dritte Bruder behandelt? In der mu>tazilitischen Tradition ant-
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wortet Gott auf diese Frage nicht; deswegen glaubt man, dass diese Geschichte in Wahrheit eine Erfindung der Ash>ariten oder der Mu>taziliten von Basra ist, die gegen Baghdad gerichtet wurde. Die geschichtlich-philologische Forschung scheint sich mit dem Grund und der Bedeutung dieses Schweigens Gottes nicht beschäftigt zu haben, ein Schweigen, das meines Erachtens sehr merkwürdig ist, wenn man daran denkt, dass die Absicht der Mu>taziliten der rationale Beweis ihrer Prinzipien, darunter die Gerechtigkeit Gottes, war. Die Erklärung könnte wieder durch eine politische Interpretation der mu>tazilitischen Prinzipien gefunden werden: Ihr Ziel war es nicht, eine dogmatische Zusammenfassung ihrer Positionen zu geben, um auf die theologisch-ontologischen Probleme hinsichtlich der Natur und des Wirkens Gottes zu antworten, sondern ein ‚rationales Handbuch‘ für das Verhalten des Menschen in der Gemeinde und für die Begründung seines Glaubens bereitzustellen. Aus diesem Grund werden bei allen Strömungen der Mu>taziliten alle theologisch umstrittenen Punkte – verglichen mit anderen damaligen muslimischen Sekten – stark vernachlässigt, und deswegen wird die Aristotelische Theorie des ‚goldenen Mittels‘ sogar als ’asl (Grundlage, Prinzip des Glaubens) ausgearbeitet. Solche theologischen Probleme (besonders das der menschlichen und göttlichen Freiheit und das der endgültigen Rettung) spielen hingegen eine wichtige Rolle bei den Ash>ariten, eine Rolle, die bereits in der Bestimmung ihrer Prinzipien deutlich zu erkennen ist. An dieser Stelle werde ich mich nicht mit der langen und differenzierten Geschichte dieser muslimischen Sekte aufhalten, sondern nur auf die Lehre ihres Begründers, ’Abu al-Hasan >Ali ibn ’Isma>il al-Ash>ari (873–915)19 eingehen; die Grundausrichtungen dieser Lehre sind meines Erachtens in den Positionen vieler Repräsentanten des Frühkaräertums gegenwärtig. Es wäre ein Fehler, die Theologie von al-Ash>ari als eine Form von ‚Restauration‘ innerhalb des Islam zu bezeichnet, vor allem weil er bis zum 40. Lebensjahr ein überzeugter Mu>tazilite war und niemals die rationalistische Methode dieser Sekte ablehnte. Er setzte sich zwar dem extremen Rationalismus der Mu>taziliten entgegen, aber er strebte auch danach, seine Position mit rationalen Beweisen zu begründen. Das gilt sowohl für sein Hauptwerk „Perspektiven über die islamischen Sekten“ (Maqalat al-islamiyyin) als auch für zwei kürzere Werke, die seine Theologie sehr deutlich wiedergeben: Kitab al-’Ibana und Kitab al-Luma>. Obwohl ’Ibana eine
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Für eine Vertiefung seiner Theologie siehe u.a.: Richard J. McCarthy, The Theology of alAsh’arî, Beirut 1953 (dieses Buch enthält auch Texte und Übersetzungen von wichtigen Werken von al-Ash>ari, darunter auch das Luma’); George Makdisi, ’Ash’arî and the Ash’arites in Islamic Religious History, in: Studia Islamica xvii (1962), S. 37–80; Michel Allard, Le problème des attributs divins dans la doctrine d’ al-As’arî et de ses premiers grands disciples, Beirut 1965, im besonderen S. 173ff.
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Polemik gegen die Hanbaliten20 und Luma> eine Polemik gegen die Mu>taziliten ist, helfen beide Werke uns, ein allgemeines Bild von Al-Ash>aris Theologie zu machen, die man in den folgenden Prinzipien zusammenfassen kann: 1) Der Qur’an ist nicht geschaffen und ist echte Rede Gottes, und wie die anderen Attribute Gottes ist er ewig, aber vom Wesen Gottes unterschieden; 2) die anthropomorphen Ausdrücke im Qur’an dürfen ohne weitere Spezifizierung (bi-la kaif) akzeptiert werden; 3) die eschatologischen Stellungnahmen des Qur’an müssen nicht als Metaphern interpretiert werden (das war die Position der Mu>taziliten, die kein Interesse an der Lehre des Qur’an vom Jenseits zeigten); 4) Ablehnung der mu>tazilitischen Lehre vom menschlichen freien Willen und Akzeptanz der Lehre der Erwerbung (kasb, iktisab) (Gott erschafft nur die Handlungen der Menschen, aber jeder Menschen erwirbt sie: die Handlung ist Gottes Schöpfung, und in diesem Moment allein erschafft er in den Individuen die Macht zu handeln); 5) der Glaube (’iman) besteht aus Wort und Handeln, er ist nämlich zugleich Glaubensbekenntnis und Vollbringung der vorgeschriebenen Pflichten. Um die Relevanz dieser Position für die Karäer (wobei sich Al-Ash>ari in seinen Schriften auch gegen diese wandte) und den Unterschied zu den Mu’taziliten zu zeigen, konzentriere ich mich hier auf die Stellungnahme Al-Ash>aris hinsichtlich der Konzeption des Glaubens, des Nicht-Geschaffenseins des Qur’an und der Negation der menschlichen Freiheit. Zu diesem letzten Problem schreibt Al-Ash>ari in ’Ibana: „Wir glauben, dass Gott alles erschaffen hat, indem er es einfach geboten hat: Sei, wie Er sagt [in Koran 16,42]: „Wenn Wir ein Ding wollen, ist Unser einziges Wort, das Wir zu ihm sprechen: „Sei!“, und es ist.“ Und es gibt nichts Gutes oder Böses auf der Erde, es sei denn, Gott hat es vorherbestimmt. Wir behaupten, dass alles durch Gottes Willen ist und dass niemand etwas tun kann, bevor er es tatsächlich getan hat, oder es ohne Gottes Hilfe tun oder dem Wissen Gottes entkommen kann. Wir behaupten, dass es keinen Schöpfer außer Gott gibt und dass die Handlungen seiner Geschöpfe von Gott erschaffen und vorherbestimmt sind, wie Er gesagt hat [in Koran 37, 96]: „Obwohl Allah euch erschaffen hat, und das Werk eurer Hände“ … Wir behaupten, dass Gott den Gläubigen hilft, Ihm zu gehorchen, dass er sie bevorzugt, dass er gnädig zu ihnen ist, sie bessert und anleitet; während er die Ungläubigen irreführt, sie nicht anleitet oder durch Zeichen bevorzugt, wie die ungläubigen Häretiker behaupten. Würde Er sie jedoch bessern und bevorzugen, wären sie rechtschaffen, und hätte er sie geleitet, hätte Er sie rechtgeleitet … Aber es war sein Wille, dass sie gottlos [Singular: kafir] seien, wie er es vorhergesehen hatte. Dementsprechend wandte er sich von ihnen ab und verschloss ihre Herzen. 20
Die Hanbaliten waren die Anhänger einer theologischen Schule, die von ’Ahmad bin Hanbal (im Jahr 855 gestorben) gegründet wurde. Die Hanbaliten waren heftige Gegner der spekulativen Theologie und des exoterischen Sufismus. Sie erkannten den Qur’an und die Tradition als einzige Quellen des Glaubens an. Für eine Vertiefung ihrer Theologie siehe den Aufsatz Öanâbila in The Encyclopaedia of Islam, Bd. 3, S. 158ff. Siehe auch: Abdul Hakim I. Al-Matroudi, The Hanbali School of Law and Ibn Taymiyyah: Conflict or Conciliation?, London 2006.
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Wir glauben, dass Gut und Böse die Folge von Gottes Beschluss und Vorherbestimmung [qada wa qadar] sind: gut oder böse, süß oder bitter, und wir wissen, dass das, was uns nicht getroffen hat, uns nicht treffen konnte, oder was uns getroffen hat, nicht an uns vorbeigehen konnte, und das Geschöpfe nicht profitieren oder sich selbst verletzen können ohne Gott.“21
Al-Ash>ari betont in diesem Abschnitt zwei relevante theologisch-ethische Probleme, ausgehend von der Aristotelischen Differenz zwischen actus und potentia: Jedwede Handlung des Menschen wurde bereits von Gott durch seine absolute und unbegrenzte Macht in potentia geschaffen, deswegen ist die Handlung des Menschen nur Ausdruck dieser Macht, deren leitender Wille unerforschlich ist. Die Freiheit des Menschen implizierte eine zweite Macht in der Schöpfung, welche die Konzeption der Einzigkeit Gottes dramatisch gefährdete. Darüber hinaus würde die Freiheit des Menschen ein Element von Unwissenheit in der allmächtigen Kenntnis Gottes bedeuten, weil er dann nicht vorhersehen könnte, wer in seinem Leben zum Guten und wer zum Bösen handeln wird. Die Gerechtigkeit Gottes wäre nicht mehr mit seiner Kenntnis gleich, und das würde ein Element von Unvollkommenheit im Wesen Gottes bedeuten. Glauben als Bekenntnis bedeutet, zu akzeptieren, dass Gott, wenn er einige Menschen zum Bösen und andere zum Guten führt, dies ausgehend von seiner Kenntnis und seiner Gerechtigkeit tut, welche der Mensch nur durch die Vorschriften des Qur’an kennen kann (deswegen ist der Qur’an nach AlAsh>ari Manifestation Gottes, obwohl die Heilige Schrift mit seinem Wesen nicht identisch ist). Trotz dieser Position ist Al-Ash>ari nicht mit den Traditionalisten einverstanden, welche eine Rolle des Menschen in der Ethik total ablehnen. In seiner Lehre des al-kasb (Erwerb von Verdienst oder NichtVerdienst durch die eigenen Taten) sucht Al-Ash>ari nach einem Ausweg, um die menschliche Verantwortung einerseits und die Allmacht Gottes andererseits zugleich zu bewahren. Willensakte sind von Gott geschaffen, aber sie werden vom Menschen erworben oder ihm zugeschrieben. Die Schaffung unterscheidet sich von der Erwerbung, weil die erste aus der ewigen Macht Gottes entsteht, während die zweite eine geschaffene Macht des Menschen ist, so dass man sagen muss, dass eine und dieselbe Handlung zugleich von Gott geschaffen und vom Menschen erworben ist. Mit anderen Worten: man erwirbt Kredit oder Misskredit für die von Gott geschaffene Tat, da es unmöglich ist, dass Gott etwas in der Zeit erwerben kann, da Er zeitlos ist und für die Ewigkeit schafft. Auf diesem sprachlichen Unterschied zwischen dem ‚Erworbenen‘ und dem ‚Geschaffenen‘ basiert nach Al-Ash>ari der Unterschied zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Handeln sowie derjenige zwischen Verdienst und Nichtverdienst. Der Mensch als Träger des erworbenen Handelns ist dafür verantwortlich, während er für sein unfreiwilliges 21
Richard J. McCarthy, The Theology of al-Ash’arî, op. cit., S. 238f. Übersetzung von F. Y. A.
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Handelns wie z.B. Stürzen oder Zittern völlig ohne Verantwortung ist. Nach Al-Ash>ari und seinen Nachfolgern ist sich der Mensch intuitiv des Unterschieds zwischen den zwei Arten von Handlungen bewusst. Statt die von den radikalen Deterministen geleugnete Freiheit für den Menschen wiederherzustellen, pointiert Al-Ash>ari das ‚Bewusstsein‘ (um da ein modernes Wort zu verwenden) des Menschen. Interessanterweise betont Al-Ash>ari den Unterschied zwischen Bewusst-Sein und Nicht-bewusst-Sein, wobei die Mu>taziliten hinsichtlich derselben Problematik eine differenzierte Konzeption der Erkenntnis haben, wie ich oben zeigen konnte. Drei relevante Probleme bleiben vor allem offen, und dies sind genau die Probleme, welche von den Karäern wie auch von den Gegnern des Ash>arismus in ihrer Lehre betont und herausgearbeitet wurden: Wenn man die Freiheit des Menschen ausschließt, wie ist es dann möglich, die Konzeption der Gerechtigkeit Gottes mit der Rettung zu vereinbaren? Was ist die Rolle der Vorschriften bei der Begründung des Glaubens? Wenn der heilige Text nicht geschaffen ist, wie ist es dann möglich, gesetzliche (nämlich geschichtliche) Urteile aus seinen Grundlagen abzuleiten?22 Die offenen Fragen zu den Glaubensprinzipien, die sich im Ausgang von der mu>tazilitischen und ash>aritischen Lehre stellen und die ich hier nur in ihren wichtigsten Implikationen für mein Thema skizziert habe, blieben nicht auf den muslimischen Bereich begrenzt, sondern fanden einen starken theologischen und philosophischen Widerhall (auch) in der Lehre der jüdischen Sekte der Karäer, die genau zur selben Zeit und in derselben Gegend entstand und welche die begrifflichen Instrumente ihres Milieus benutzte, um das Recht auf die eigene Existenz zu begründen. Angesichts des Einflusses dieser Sekte in Ägypten, wohin die Karäer nach der Ankunft der Kreuzfahrer (1099) flohen, scheint es mir nicht plausibel anzunehmen, dass Maimonides von den Karäern unbeeinflusst blieb; dies heißt ja nicht, ihm abzusprechen, dass er einer der wichtigsten Repräsentanten des Rabbinismus seiner Zeit war. Diesen Einfluss möchte ich in den vier folgenden Schritten nachweisen: 1) Konzeption der Glaubensprinzipien im Frühkaräertum; 2) Einflüsse der Mu>taziliten und der Ash>ariten auf die Karäer hinsichtlich der Konzeption der geoffenbarten und der rationalen Gesetze, der Konzeption der Strafe und der Belohnung, der Beziehung zwischen menschlicher Freiheit und göttlichem Willen; 3) Darstellung dieser Prinzipien in der Theologie von Yusuf al-Basir (al-Kitab al-Muhtawi und vor allem seine ‚katechetische‘ Reduktion im Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab); 22
Für die Analyse der Verankerung dieser Fragen im Qur’an siehe das 6. Kapitel von Louis Gardets Werk: Islam, Köln 1968, S. 93ff.
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4) Darlegung, wie sich die Problematik al-Basirs in der Struktur der Maimonidischen Glaubensartikel widerspiegelt, mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Rolle des Messias. Selbstverständlich will ich nicht zeigen, dass Maimonides das al-Kitab alMuhtawi bzw. das Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab zum Vorbild für Pereq Heleq genommen hatte: Dies lässt sich weder geschichtlich noch philologisch belegen. Ich bin vielmehr daran interessiert, philosophisch und theologisch zu zeigen, dass und wie das Denken des frühen Maimonides auf dem Hintergrund der gegenseitigen Beeinflussung von Ideen und theologisch-philosophischen Modellen im islamisch-jüdischen Bereich, zwischen Jerusalem und Kairo, vom 8. bis zum 12. Jahrhundert sowie im besonderen der theologischen Lehre des Frühkaräertums in neuem Licht gesehen werden kann.
§ 4 Die theologische und philosophische Bedeutung der Glaubensartikel im Frühkaräertum (8.–12. Jahrhundert) Wenn man die Geschichte des Karäertums von seinem Anfang (erste Hälfte des 8. Jahrhunderts) bis zum 12. Jahrhundert betrachtet, ist es, wie ’Abu Yusufu Ya>qub al-Qirqisani in seinem Kitab al-’anwar wal-maraqib („Buch der Lichter und der Wachttürme“, ca. 937) betont, unmöglich, zwei Karäer mit derselben Meinung zu finden. Das bedeutet aber meines Erachtens nicht, dass es sinnlos wäre, unter theologischem und philosophischem Blickwinkel die gemeinsamen Elemente des karäischen Glaubens herausfinden zu wollen, um die Bedeutung der Glaubensprinzipien für diese in sich sehr differenzierte Sekte zu zeigen. Von anderen jüdischen Sekten, die zur selben Zeit im muslimischen Milieu des Nahen Ostens entstanden, unterscheiden sich die Karäer zunächst durch die zentrale Stellung der Glaubensprinzipien in der Theologie. Die Notwendigkeit dieser Prinzipienauflistung ergab sich in der Auseinandersetzung mit dem Rabbinat, aber die begriffliche Strukturierung der karäischen Glaubensprinzipien und der Gesetze, die aus diesen Prinzipien stammten, zeigt einen starken Einfluss des Islam23 und im besonderen der mu>tazilitischen und ash>aritischen Lehre. Die wichtigsten theologischen karäischen Werke, die bis zum 14. Jahrhundert nach der Übersiedlung dieser Sekte auch in Ägypten einen großen Einfluss ausübten, konzentrieren sich vor allem genau auf die Bestimmung 23
Siehe u.a.: Daniel J. Lasker, Islamic Influences on Karaite Origins, in: William M. Brinner/ Stephen D. Ricks, Studies in Islamic and Judaic Traditions II, Atlanta (Georgia) 1989, S. 23–47.
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der Glaubensartikel und der Gebote in ihrer theologischen und gesetzlichen Bedeutung. Außer dem Sefer ha-Miswot von Anan ben David, dem Begründer dieser Sekte (er soll diese Sekte zwischen 754 und 775 gegründet haben, aber die biographischen Informationen, die wir zur Verfügung haben, stammen aus den Hagiographen dieser Sekte, weshalb sie geschichtlich nicht glaubwürdig sind), sind auch zu erwähnen: das obengenannte Werk von Al-Qirqisani, das Sefer Ha-Miswot von Yafet Halewi (zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts), das al-Kitab al-Muhtawi (ca. 930) von Yusuf al-Basir (erste Hälfte des 11. Jahrhunderts) und das Eshkol ha-Kofer (1148) von Judah ben Eliyah Hadassi (Konstantinopel, Mitte des 12. Jahrhunderts; dieses Werk war der erste Versuch einer Vereinigung und Harmonisierung der karäischen Lehre, die Eliyah Bashyazi am Ende des 15. Jahrhunderts dann gelang). In diesen Werken, die ganz unterschiedlichen karäischen Strömungen angehören, kann man zunächst die Verwendung der vier islamischen Prinzipien, bezogen auf den hermeneutischen Entstehungsprozess des Gesetzes, erkennen: 1) die buchstäbliche Bedeutung der hebräischen Bibel (ketav, mishma); 2) die Abhängigkeit von der Tradition bei der Erklärung und die Verwendung der Glaubensprinzipien (sevel ha-yerushah, „Das Joch des Erbes“); 3) der Konsens (consensus), aus dem praktischen Leben der Gemeinde (>edah, kibbus) heraus; 4) der rationale Schluss, ausgehend von der logischen Untersuchung der in der Bibel enthaltenen Glaubensprinzipien (heqqesh).24 Die Karäer benutzen die islamische juristische Hermeneutik, um ihre Position gegen das Rabbinat zu begründen: Obwohl die Tradition (nämlich das mündliche Gesetz) nicht abzulehnen ist, muss sie der buchstäblichen Bedeutung der Bibel unterworfen werden, weshalb es für die Karäer ebenso wie für die Mu>taziliten fundamental war, durch die logischen Instrumente der Vernunft die Widersprüche bzw. undeutlichen Prinzipien der Heiligen Schrift zu erklären und ihre innere Harmonie und ihr inneres Gleichgewicht hervorzuheben. Ausgehend von dieser Notwendigkeit unterschieden die Karäer wie die Mu>taziliten zwischen rationalen und geoffenbarten Geboten (al->aqliyyat wa-’l- sama>iyyat). Yoram Erder schreibt diesbezüglich: „They [die Karäer] agreed unanimously that the rational commandments had existed from time immemorial, while the divergent opinions relate to the revealed commandments. […] Wisdom and intelligence obligate us to perform these commandments [die rationalen Gebote], therefore, all of mankind since Adam was required to fulfill them. Because they were planted in our consciousness, there was no need to hand them by down by prophetic revelation. […] In contrast, we would have been unaware of the existence of the revealed, non-rational commandments had they not been given by God through prophecy. […] There is no doubt that this 24
Die auf der menschlichen Vernunft und der Intelligenz basierende Erkenntnis (hokhmat hada>at) möchte ich in diese Liste nicht aufnehmen, weil sie von zu vielen karäischen Strömungen nicht bzw. nur mit großen Einschränkungen akzeptiert wurde.
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division echoes the mu’tazilite debate on this issues; it is further evidence of the extent to which the Karaite polemic on whether the commandments predated the revelation of the Torah was influenced by the world of Muslim thought in which they lived.“25
Während dieser Unterschied seine Wurzeln in der mu’tazilitischen Welt hat, zeigt sich in der Betonung des Bewusstseins und in der Anerkennung der rationalen Gebote ein starker Einfluss der Ash>ariten, der von Erder nicht gesehen wird: Wie ich oben bereits gezeigt habe, spielt das Bewusstsein bei den Ash>ariten eine zentrale Rolle bei der Anerkennung der Rationalität der Gebote, weil es nur dadurch möglich ist, die Verwirklichung der Gebote mit der Verantwortung des Menschen einerseits und mit der Lehre von Belohnung und Bestrafung andererseits zu verknüpfen. Das Problem der Existenz der Glaubensprinzipien und ihrer Befolgung auch vor der Offenbarung hängt nicht nur mit der mu>tazilitischen Lehre des nasö (Abschaffung einiger Prinzipien im Qur’an, nämlich das Problem der Gültigkeit von Prinzipien, die ihre Funktion und Bedeutung nach der Offenbarung verloren haben), sondern auch mit dem ash>aritischen Problem der Erschaffung der Bibel bzw. des Qur’an in der Zeit oder außerhalb der Zeit zusammen. Bei Al-Ash>ari hatte sich die Frage gestellt, wie es möglich ist, Verdienste und Nicht-Verdienste in der Zeit zu erwerben, wenn der heilige Text als ewig erschaffen gilt, und wie man die göttliche Gerechtigkeit zu begreifen hat, wenn die vor Muhammad geborenen Menschen den Willen Gottes nicht kennen konnten und deswegen nicht dementsprechend handeln konnten. Diese im Rahmen der ash>aritischen Lehre entstandene Schwierigkeit verschärft sich bei allen karäischen Strömungen, ausgehend von der Problematik des nasö, weil sie sich mit dem Problem der Begründbarkeit der Glaubensprinzipien verbindet: Wenn die Glaubensprinzipien der Schrift von einer rationalen Logik diktiert worden sind, müssen sie einerseits den göttlichen Willen ausdrücken, andererseits aber auch für den menschlichen Willen und für den Zweck der menschlichen Handlung begreifbar sein (es handelt sich um eine in der ganzen mu>tazilitischen Tradition verbreitete Idee). Wenn Gott gerecht ist, hat er Prinzipien gegeben, die innerhalb der menschlichen Möglichkeiten liegen und nicht von dem Vergehen der Zeit abhängig sind.26 25
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Yoram Erder, Early Karaite Conception About Commandments Given Before the Revelation of the Torah, in: Nahum M. Sarna (Hrsg.), Proceedings of the American Academy for Jewish Research LX (1994), S. 101–140. Die zentrale Stellung des Problems der Gerechtigkeit Gottes bei den Karäern zeigt sich im Al-Qirqisanis Kommentar zu Hiob (Tafsir ’Ayyub) und in der Rolle von Hiob in dem Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab von al-Basir. Inwieweit die karäische Lektüre vom Buch von Hiob die Interpretation von Hiob im Moreh ha-Nevukhim beeinflusst hat, ist ein Thema, das ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersuchen kann.
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Die Rettung und die Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit sind die zwei theologischen Elemente, welche die Karäer, ausgehend von den Ash>ariten, besonders hervorheben und problematisieren, weshalb bei den karäischen Glaubensartikeln die Einfügung der folgenden Prinzipien – im Unterschied zu den Ash>ariten – hinzugefügt sind: 1) Gott belohnt jeden Menschen nach seiner Lebensführung sowie nach seinem Handeln (individuelle Vorsehung, Willensfreiheit, Unsterblichkeit der Seele, Belohnung im Jenseits); 2) am Tag des Gerichts wird Gott die Toten auferstehen lassen ; 3) Gott verachtet nicht diejenigen, die im Exil leben, sondern möchte sie auf Grund ihres Leidens zusammenführen, so dass sie jeden Tag auf die Hilfe Gottes sowie auf die Ankunft des – von David abstammenden – Messias hoffen können. Hinsichtlich dieses letzten Punktes ist es wichtig, zu betonen, dass die Lehre vom Messias nur in wenigen frühkaräischen Schulen fehlt, während alle sich mit dem Problem des >olam ha-ba beschäftigen. Der Denker, welcher den größten theologischen und philosophischen Einfluss auf alle karäischen Strömungen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts ausübte und den man wegen der Ausbreitung und umfassenden Rezeption seiner Werke als den ‚Maimonides des Karäertums‘ bezeichnen könnte27, der zugleich das Ziel schlechthin der anti-karäischen Polemik von Sa>adyah Gaon war, ist Yusuf al-Basir; auf ihn werde ich mich beziehen, um zu zeigen, wie Elemente des karäischen Denkens in den Glaubensartikeln des Maimonides gegenwärtig sind. Ich werde auch zeigen, wie die Behandlung der Glaubensartikel in seinem Hauptwerk und in seiner ‚katechetischen‘ Reduktion eine verblüffende Ähnlichkeit mit derselben Differenz zwischen Pereq Heleq und Mishneh Torah bei Maimonides hat.
4.1 Al-Kitab al-Muhtawi Beim Hauptwerk von al-Basir, Al-Kitab al-Muhtawi („Allgemeiner Traktat“; die hebräische Übersetzung von Tobia ben Moshe hat den Titel: Sefer Ne>imot, „Buch der Kostbarkeiten“, als Bezug auf Ps. 36:11, wo das Wort „Kostbarkeiten“ „beatitudo aeterna“ bedeutet)28, möchte ich sowohl einige mu>tazilitische als auch einige ash>aritische Einflüsse herausarbeiten, wobei
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Eine umfangreiche Darstellung seines Gesamtwerks und seines Denkens kann man bei Julius Fürst (Geschichte des Karäerthums, op. cit., 2. Bd., S. 50ff) finden. David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muötawî de Yûsuf al-Basîr, Texte, Übersetzung und Kommentare von Georges Vajda, Leiden 1985. Die bibliographischen Ungenauigkeiten dieser Ausgabe wurden von Bruno Chiesa korrigiert: Bruno Chiesa, Due Note di Letteratura Caraita, in: „Henoch“ 10,3 (1988), S. 355–376.
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Pereq Heleq und der Messias
sich die Forschung29 bis dahin nur auf den Einfluss der mu’tazilitischen Strömung konzentriert hat.30 Es würde die Grenzen der vorliegenden Arbeit überschreiten, eine ausreichende Darstellung der ganzen theologischphilosophischen Problematik dieses Werks zu geben, weshalb ich nur jene Aspekte untersuchen werde, die sich meines Erachtens in Pereq Heleq widerspiegeln. Al-Basir eröffnet sein Werk mit einer typisch mu’tazilitischen Argumentation, nämlich der Notwendigkeit der rationalen Untersuchung des Glaubens (nazar), womit aber unmittelbar Gedanken der Ash’ariten verbunden sind: Die Notwendigkeit des nazar kommt daher, dass es nur durch einen begründeten Glauben (i>tiqad31) möglich ist, dass der Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist. Die Notwendigkeit des nazar (mu>tazilitische Thematik) wurde von Gott im Bewusstsein (ash>aritische Thematik) des Menschen ‚eingepflanzt‘, damit er die Lehre von Strafe und Belohnung nicht als Konsequenz der willkürlichen Entscheidung Gottes (mu>tazilitische Thematik) interpretiert. Nach al-Basir ist der nazar nicht ein Zweck an sich, sondern ein Mittel zur Erkenntnis Gottes (die Erkenntnis Gottes als Zweck des menschlichen Lebens wird häufig auch von al-Ash>ari in ’Ibana hervorgehoben). Nur durch diese Erkenntnis ist es für den Menschen möglich, die Legitimität und
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Vgl. u.a.: David E. Sklare, Yûsuf al-Basîr: Theological Aspects of his Halakhic Work, in: Daniel Frank (Hrsg.), The Jews of Medieval Islam. Community, Society, and Identity, Leiden 1995, S. 249–270. Für eine Vertiefung der Einflüsse der mu’tazilitischen Strömung auf die Karäer siehe u.a.: Wilferd Madelung/Sabine Schmidtke, Rational Theology in Interfaith Communication: Abu l-Husayn al-Basri’s Mu’tazili Theology among the Karaites in the Fatimid Age, Leiden 2006. In seinem Kitab al-Amanat wa’l-I>tiqadat (Emunot we De>ot nach der Übersetzung von Ibn Tibbon) gibt Sa>adyah Gaon die folgende Definition von i>tiqad, welche den karäischen Einfluss auf seine Philosophie zeigt: Saadya Gaon, The Book of Doctrines and Beliefs, abridged edition translated from the Arabic with an introduction and notes by Alexander Altmann, Oxford 1946, S. 34: „We affirm that this [belief; i>tiqad] is an idea arising in the souls as to what an object of knowledge really is: when the idea is clarified by speculation, reason comprehends it, accepts it, and makes it penetrate the souls and become absorbed into it; then man believes this idea which he has attained, and he preserves it in his soul for another time or other times […].“ Interessanterweise gibt Sa>adyah keine Definition von ’amana, nämlich vom Glauben an jene Lehren, die man nur durch die Instrumente der Vernunft nicht begründen und akzeptieren könnte. Maimonides gibt die folgende Definition von i>tiqad am Anfang des 50. Kapitel des ersten Teils des Moreh ha-Nevukhim: „Belief is not the notion that is uttered, but the notion that is represented in the soul when it has been averred of it that it is in fact just as it has been represented.“ Für eine Vertiefung dieses Begriffs bei Maimonides vgl.: Avraham Nuriel, Maimonides and the Concept of Faith, in: Daat 2–3 (1979), S. 43–47 (auf Hebräisch); ders., Remarks on Maimonides’ Epistemology, in: Shlomo Pines/Yirmiyahu Yovel (Hrsg.), Maimonides and Philosophy, Dordrecht 1986, S. 36–51; Shalom Rosenberg, The Concept of „Emunah“ in PostMaimonidean Philosophy, in: Isadore Twersky (Hrsg.), Studies in Medieval Jewish History and Literature, Cambridge (Mass.) 1984, S. 273–307.
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Begründbarkeit des Gesetzes zu begreifen. In seinem Kommentar am alMuhtawi schreibt Georges Vajda diesbezüglich: „La connaissance en question (et donc la réflexion qui en ouvre l’accès) est condition nécessaire de l’accomplissement correct des préceptes de la Loi révélée grâce á quoi l’homme obtient la récompense.“32
Was Vajda in seinem Kommentar nicht zeigt, ist die verblüffende Modernität des Denkens von al-Basir, ausgehend von der ash>aritischen Lehre der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes: Nur durch den Glauben an diese Weisheit und an diese Gerechtigkeit, deren Existenz im Bewusstsein des Menschen es gestattet, sie logisch zu unterstreichen, kann man den Fehler und die Täuschung innerhalb des göttlichen Gesetzes ausschließen. 600 Jahre später wird Descartes sich hinsichtlich der Wahrhaftigkeit des Erkenntnisprozesses in seiner ersten Meditation demselben Problem widmen: Wie kann man die Existenz eines esprit trompeur ausschließen? Was oder wer kann uns garantieren, dass wir als erkennende und handelnde Subjekte keine Opfer einer willkürlichen Täuschung des Schöpfers sind? Die Antwort von al-Basir verbindet sich mit der mu>tazilitischen Konzeption des Gesetzes und wurde von Vajda wie folgt zusammengefasst: „La réponse est contenue dans deux doctrines mu’tazilites: l’universelle validité de la loi morale et l’inconcevabilité pour un sujet conscient de la ‚mauvaiseté‘ du mal de le perpétrer si ce n’est pour s’assurer un avantage ou repousser ce qui pourrait lui porter préjudice. Or il est évident […] qu’un tel sujet doit posséder une science absolument sans faille, dont être ‚sachant‘ par essence et non par science surajoutée à son essence, et se suffire à lui-même, être ‚autarcique‘. Or il est démontré que ces attributs appartiennent exclusivement au Dieu un.“33
Die Einzigkeit Gottes ist das Glaubensprinzip, das al-Basir durch die atomistische Lehre der Mu>taziliten am Anfang seines Werks begründet, um die absolute Weisheit und nicht widersprüchliche Gerechtigkeit des Gesetzes zu fundieren: Wenn zwei Schöpfer, nämlich zwei unterschiedliche Wesen mit zwei dementsprechenden Willen existierten, wüsste man nicht, in welche Richtung man sein Handeln wenden solle; die ganze Lehre von Strafe und Belohnung wäre sinnlos, weil man zwei miteinander kollidierende Gesetze und zwei unterschiedliche Begriffe von Weisheit und Gerechtigkeit hätte: Die Verantwortung des Menschen angesichts einer solch zwiespältigen Situation könnte nicht mehr auf eine einzige rationale Erkenntnis gegründet werden. Genauso wie Maimonides im ersten Glaubensprinzip von Pereq Heleq entwickelt al-Basir, ausgehend von der Einzigkeit Gottes, keine Schöpfungslehre, sondern den ontologischen Beweis für die kontingente Existenz
32 33
David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muötawî, op. cit., S. 22. Ibidem, S. 23.
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alles Seienden und die kontingente Existenz seiner Wirkensmöglichkeit auf der Grundlage einer einzigen Ursache. Al-Basir schreibt diesbezüglich: „[…] Dieser Zustand der Dinge ist eines der Indizien dafür, dass unsere Taten von uns abhängen. Ihre Abhängigkeit von uns besteht darin, dass sie von uns aus zum Sein kommen.
Was sich gemäß unserem Plan und aufgrund der Motive, die uns antreiben, verwirklicht, ist die bloße Tatsache der Herstellung. Allerdings hängen ihr Nicht-Sein sowie ihre Dauer nicht von unserem Plan und von den Triebfedern ab, die uns beleben. Daher – auch wenn wir zugeben, dass sich, was dem Ins-Sein-Kommen folgt, nach den angesprochenen Wünschen und Triebfedern verwirklicht, ist dieser Zustand der Dinge am meisten und nichtsdestoweniger auf dieses Ins-Sein-Kommen zurückführbar. Eigentlich könnte sich das Danachkommende nicht verwirklichen, wenn nicht dank diesem Ins-Sein-Kommens; das ist wie die Wurzel im Bezug auf das, was folgt.“34 Der Übergang vom Nicht-Sein zum Sein unserer Handlungen ist nur als Konsequenz einer ursprünglichen Ursache möglich, welche diese ontologische Bewegung als solche erzeugt und hergestellt hat, die nämlich das schlechthinnige und einzige Sein, die raison nécessaire et suffisante der empirischen Seienden und deren Handlungen ist, obwohl es von diesen Seienden getrennt bleibt. Die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen ist möglich, weil der Mensch durch die epistemologische Fähigkeit, die in seinem Bewusstsein liegt, die Attribute Gottes (ash>aritisches Element, da die Mu>taziliten die Attributenlehre heftig ablehnten) erkennen kann. Die erkenntnistheoretische Natur dieser Beziehung schließt einerseits die Teilnahme Gottes an der Materialität wie auch an der Vielfältigkeit der Seienden aus, aber andererseits garantiert sie das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Auch in Pereq Heleq ist mit dem Glaubensprinzip der Einzigkeit Gottes unmittelbar das von der Einheit und Immaterialität verbunden, weil auch Maimonides sich des Risikos bewusst war, das der Behauptung der Einzigkeit Gottes innewohnt: In der Tat, ein solches Prinzip setzt sich leicht dem Vorwurf des Pantheismus und des Polytheismus aus. Das zweite Glaubensprinzip, das al-Basir untersucht (und das ich nicht ausführlich darstellen kann), betrifft gerade den Beweis der Attributenlehre (Gott ist lebendig, existent, wissend, mächtig und ewig, wobei diese Attribute mit seinem Wesen nicht gleich sind), wodurch Gott seinen Willen als vernünftiges Gesetz in der Welt zeigt. Das Problem des göttlichen Willens ist der Verbindungspunkt zwischen tauhid (Einzigkeit/Einheit Gottes; im 16. und 17. Kapitel des al-Muhtawi,
34
Ibidem, S. 59. Übersetzung von F. Y. A.
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die den Glaubensprinzipien des Willens und der Autarkie Gottes gewidmet sind, zeigt sich die Koexistenz von mu>tazilitischen und ash>aritischen Elementen im Denken von al-Basir, wobei seine Argumentation allerdings eine deutliche Präferenz für die mu>tazilitische Akzentuierung der menschlichen Freiheit erkennen lässt) und >adl (Gerechtigkeit Gottes); hierauf werde ich in meiner Untersuchung des Pereq Heleq zurückkommen. Die Kapitel 37–40, welche der Lehre von Strafe und Belohnung gewidmet sind und logisch an die Ausarbeitung der Gerechtigkeit Gottes anschließen, sind nach der Struktur der Erwiderung/Antwort gebildet; nach der karäischen Methode der Berufung auf die Autorität der Heiligen Schrift (Deuteronomium, Psalmen und Exodus im besonderen) untersuchen sie die logische Begründbarkeit der Strafe und die Notwendigkeit der Bekehrung. Der Leser, der an einer theologischen bzw. ethischen Ausarbeitung dieser Thematik interessiert ist, wird sicherlich von den Schlusskapiteln des alMuhtawi enttäuscht sein, weil sie eine rein legalistische und spekulative Begründung der Bestrafungslehre darstellen: das Gleichgewicht zwischen Schuld und Verdienst, die Rolle der menschlichen Verantwortung, die Modalitäten der Erinnerung und der Beurteilung der eigenen Taten am Ende des Lebens und sogar das Ende des Lebens an sich werden von al-Basir als logisch-juristische Probleme untersucht, die eine wichtige Abhängigkeit von der Autorität der Heiligen Schrift (ash>aritischer Einfluss) und vom freien Handeln des Menschen in seiner Beziehung zur Rationalität des Gesetzes (mu>tazilitischer Einfluss) zeigen. Wer an einer differenzierten Darstellung dieser Prinzipien interessiert ist, sollte zu einem anderen Werk von al-Basir greifen, das des Publikums wegen, an das es sich wendet, völlig anders strukturiert ist, nämlich zu Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab.
4.2 Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala wa-al-Pawab Die kurze Darstellung der wichtigsten Glaubensprinzipien im al-Muhtawi hat gezeigt, dass dieses Werk – wie auch das andere wichtige Werk von alBasir, Kitab al-Mansuri, mit dem ich mich an dieser Stelle nicht beschäftigen kann – als theologischer, philosophischer und juristischer Traktat gedacht war, um die Position des Verfassers, ausgehend von der mu’tazilitischen und den ash’aritischen Lehre, hinsichtlich der Grundlagen des Glaubens klarzustellen. Wie man gesehen hat, wird für jedes Prinzip eine komplexe dialektische und spekulative Begründung gegeben, deren Verständnis intellektuelle Prämissen erfordert, die sicherlich nicht der Mehrheit der Mitglieder der damaligen jüdischen Gemeinden zur Verfügung standen. Meine These ist, dass das Kitab al-’Usul al-din >ala Tariq al-Mas’ala waal-Pawab (Das Buch von den Wurzeln des Glaubens in Fragen und Antwor-
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Pereq Heleq und der Messias
ten; später gab ihm der Karäer Jerachmiel Jirid den Titel Dreizehn philosophische Gutachten35, während Tobia ben Moshe ihm in seiner Übersetzung ins Hebräische den Titel She’elot we Teshuvot – Fragen und Antworten – gab) in seiner Struktur und seinem Inhalt als eine Art von ‚Handbuch der Glaubensprinzipien nach der karäischen Lehre‘ geschrieben wurde.36 Unter einem theologischen und philosophischen Blickwinkel bringt al’Usul tatsächlich im Vergleich zu den zwei großen Traktaten al-Basirs nichts Neues, vielmehr erscheint es als ein sehr elementarer ‚Katechismus‘ (wegen seines Umfangs und seiner tabellarischen Struktur spricht Vajda sogar von einem „opuscule“37) mit einem Lehrinhalt. Relevant für meine Untersuchung ist aber nicht der Inhalt dieses Werks, sondern die Ordnung, nach der die Glaubensprinzipien vorgestellt werden, und vor allem das Vorkommen von Glaubensprinzipien, die im al-Muhtawi und al-Mansuri nicht erwähnt sind. Die Liste der Glaubensartikel beginnt nicht mit der Behauptung der Einzigkeit Gottes, sondern mit dem gemäß dem System des mu>tazilitischen nazar demonstrierten Prinzips, dass das Böse nicht von Gott kommt, sondern von der menschlichen Freiheit. Während die elf nachfolgenden Behauptungen die Einheit Gottes und seine Gerechtigkeit betreffen, hat das erste Prinzip mit der Untersuchung des ontologischen Wesens und des handelnden Willens Gottes nichts zu tun: Von Anfang an ist der ethische Charakter dieses „opuscule“ viel stärker ausgeprägt als im al-Muhtawi, weil die mu>tazilitische rationale Argumentation hauptsächlich der Begründung der Güte Gottes und von dessen Taten dient. Auch ein ash>aritisches Element ist stark vorhanden: Man kann nicht wissen, wieso Gott einige Menschen mit einem schwächeren und andere mit einem stärkeren Willen schafft, um seinem Gesetz zu gehorchen, aber diese Unfähigkeit bzw. Beschränktheit in der Erkenntnis führt nicht zur Behauptung der Ungerechtigkeit Gottes oder sogar zur Behauptung, dass Gott Schöpfer des Bösen sei. Es wird keine Erklärung und keine Definition des Bösen gegeben, sondern es wird von al-Basir nur ausgeschlossen, dass Gott zugleich Schöpfer des Bösen und 35
36
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In Wahrheit gibt es 21 Gutachten in dem Werk. Vielleicht wollte Jirid die ersten dreizehn Glaubensprinzipien hervorheben. Da Jirid weder in der Encyclopedia Judaica noch in The Karaite Encyclopedia von Nathan Schur (Frankfurt a. M. u.a. 1995) erwähnt wird, konnte ich keine biographischen Informationen über ihn sammeln und deshalb nicht herausfinden, ob sich dieser Titel polemisch auf Pereq Heleq bezieht. Dieser Titel wird von Fürst genannt: Julius Fürst, Die Geschichte des Karäerthums, op. cit., 2. Bd., Anm. 344, S. 27 des Abschnitts Anmerkungen und Nachweise. Eine genaue Datierung des Werks ist leider nicht möglich. Für meine Untersuchung beziehe ich mich auf das Manuskript Paris B.N. Hébreu 670 (erste Serie, Fol. 121–131; zweite Serie Fol. 113–134), das auf das Jahr 1754–1755 zurückgeht. Vajda datiert das Werk nach den zwei großen Traktaten al-Basirs, während Fürst, der ein Manuskript an der Leidener Universitätsbibliothek untersuchte, es auf das Jahr 933 datiert. Al-Muötawî, op. cit., S. 28.
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Schöpfer des Guten ist. Andernfalls müsste man eine Dualität im Wesen Gottes und einen Zwiespalt in seinem Willen annehmen, was der Lehre der Einheit und der Gerechtigkeit Gottes widersprechen würde. Von den elf nachfolgenden ‚Gutachten‘, um den Ausdruck von Jidir zu benutzen, widmet sich die Mehrzahl dem Problem der Gerechtigkeit Gottes; in den zwei Traktaten von al-Basir, und im besonderen in al-Muhtawi, beschäftigen sich die längsten und dialektisch kompliziertesten Kapitel mit der Einzigkeit Gottes. Bei der Betonung der Gerechtigkeit Gottes ist es kein Zufall, dass die Abschnitte 13, 14 und 15, die sofort auf das Problem der Gerechtigkeit Gottes folgen, sich mit der konkreten Darstellung dieser Gerechtigkeit beschäftigen, über die man in den zwei theologischen Traktaten kein Wort findet (im al-Muhtawi gibt es z.B. die generelle Erwähnung der Belohnung für die Gläubigen, ohne weitere Spezifizierung des Inhalts einer solchen Belohnung): mit der Auferstehung der Toten, des >olam ha-ba und der Ankunft des Messias.38 Während das >olam ha-ba bei allen früh- und spätkaräischen Schulen ein sehr häufiges Thema war, kann man dasselbe für die Auferstehung der Toten und für die Ankunft des Messias nicht behaupten. Vor allem die Erwähnung der Auferstehung der Toten erscheint innerhalb eines karäischen ‚Katechismus‘ als sehr merkwürdig, da die Bibel (mit der Ausnahme des Buchs Daniel) eine solche Glaubenslehre nicht begründet. Al-Basir versucht auch nicht, eine solche Lehre durch die rationale Untersuchung der Heiligen Schrift zu legitimieren, sondern löst das Problem durch eine ethische Argumentation: Die Gerechtigkeit Gottes hat als Konsequenz die Tatsache, dass das Ende des Lebens für die Gläubigen, nämlich für diejenigen, welche das göttliche Gesetz respektieren, nur ein vorläufiges Zwischenstadium ist. Während der al-Muhtawi das Ende des Lebens als Anlass für eine permanente Reflexion und die Beurteilung der eigenen Taten versteht, ohne Fragen über das Schicksal des Leibs und der Seele nach dem Tode zu stellen, scheint der al-’Usul eine tröstliche und hoffnungsvolle Aufgabe erfüllen zu müssen. Über die Modalitäten (werden die Körper nackt oder angezogen sein? Werden auch die Kinder auferstehen usw.?) der Auferstehung wird nichts Spezifisches gesagt, sondern es wird nur ihre Begründbarkeit als logische Konsequenz der Gerechtigkeit Gottes betont. Unter einer solchen ethischen Perspektive verstehe ich auch die Versuche al-Basirs, die ‚Erlösbarkeit‘ der Welt und die Ankunft eines Erlösers zu begründen: Obwohl die Argumentation viel schwächer als in den Traktaten ist, glaube ich nicht, dass es das Ziel des Verfassers war, einen logisch-philosophischen Beweis dafür zu geben, sondern es geht ihm um die Gewissheit
38
Die Prophetie ist nur im zweiten Teil des Werks erwähnt, und ihre Ausarbeitung ergibt im Vergleich zu den theologischen Traktaten von al-Basir keine neuen Aspekte.
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Pereq Heleq und der Messias
der endgültigen Verwirklichung der Gerechtigkeit Gottes im Diesseits durch den Messias und im Jenseits durch die Auferstehung. Das Publikum eines ‚Katechismus‘ erwartet nicht eine Vorlesung ex cathedra über das ontologische Wesen und den unerforschlichen Willen Gottes, vielmehr sucht es nach einer existentiellen Begründbarkeit seines Glaubens: Es sucht in den Glaubensprinzipien nach dem Zweck und der Orientierung des eigenen Lebens und nach der Bedeutung seines Endes. Solchen Fragen dient ein theologisch-philosophischer Traktat nicht. Es ist kein Zufall, dass die ‚katechetischen Versionen‘ vieler theologischphilosophischer Werke im islamischen, christlichen und jüdischen Mittelalter eine größere Verbreitung innerhalb der Gemeinden hatten als die Traktate, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Im Islam und konsequenterweise im Judentum (die frühmittelalterlichen jüdischen Philosophen waren auf den theologischen Wortschatz und begrifflichen Horizont des Islam angewiesen) findet man nichts, was der christlichen Dogmatik ähneln würde. Das Dogma ist eine Glaubensbehauptung, die durch eine säkulare Institution als göttliches Dekret Geltung erlangt und mit einem Glaubensakt zu akzeptieren ist, wobei i>tiqad, im besonderen im mu>tazilitischen und ash>aritischen Bereich, wie ich bereits gezeigt habe, das Resultat einer begründeten Überzeugung ist. Die Notwendigkeit, diese Überzeugung zu begründen, spiegelt sich in der Welt des Frühkaräertums und im besonderen im Denken al-Basirs als seines wichtigsten Theologen und Philosophen, der in seinen Traktaten das arabische Wort qa>ida (‚Basis, Grund, Fundament‘) benutzt, um sich auf die Glaubensprinzipien des Judentums zu beziehen. Obwohl al-Basir unter diesem Blickwinkel kein ‚isolierter Fall‘ ist und die Präsenz sowohl von mu>tazilitischen als auch von ash>aritischen Elementen in seinem Werk die Kohärenz der Argumentation häufig auf eine harte Probe stellt, kann sein Denken gut als Beispiel dienen, um den Einfluss der islamischen Konzeption von Glauben auf die karäische Sekte zu untersuchen und auch zu zeigen, wie dieser Einfluss in Pereq Heleq wirksam ist.39
§ 5 Die Glaubensartikel in Pereq Heleq Maimonides schreibt Pereq Heleq in einer geschichtlichen und sozialen Notsituation, die es bislang nicht gab: Der Erfolg der anderen monotheistischen Glaubensrichtungen führte dazu, dass innerhalb der zerstreuten jüdi39
Hinsichtlich des philologischen Nachweises eines solchen Einflusses vgl.: Karin Almbladh, Islamic Terms in the Introduction to the Commentary on Pereq Heleq by Moses Maimonides, in: Orientalia Suecana 50 (2001), S. 4–12.
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schen Gemeinde fundamentale Fragen nach dem Sinn und der Bedeutung des Judentums und vor allem Zweifel an der eigenen zukünftigen Existenz ausgelöst und verstärkt wurden. Zur Zeit von Maimonides gilt, was Max Wiener am Anfang seines Buchs Jüdische Frömmigkeit und religiöses Dogma schreibt: „Das geschichtliche Schicksal hat die Juden dazu bestimmt, eine Gemeinschaft der Wenigen unter den Vielen zu sein [.] […] Dieser Reichtum der nach allen Seiten hin sich verästelnden Beziehungen erschwert den Weg zur Erkenntnis des eigenen Wesens. Denn jede Erkenntnis, jede Beurteilung eines Gegenstandes setzt einen übergeordneten Begriff voraus, unter den er zu subsummieren ist, verlangt zugleich, um Eigenart und Unterschied zu bestimmen, die Möglichkeit des Vergleichens vergleichbarer Dinge. […]
Aber neben dieser v e r s a c h l i c h e n d e n Betrachtung gibt es eine andere, die nicht den Blick auf die Fülle des gesamten Kulturgutes spannt, dessen Quantität gleichsam in verschieden grosse Teile zerstückend und seinen Trägern, die es erarbeitet haben und pflegen, auf die Rechnung setzend. Das ist die nach i n n e n g e k e h r t e S c h a u d i e s e r K u l t u r s u b j e k t e selber, das nationale Selbstbewusstsein, welches in sich ruht, das eigene Leben als etwas Unbedingtes empfindet, seinen Wert nicht von einem ausserhalb gelegenen Maßstab ableitet, es nicht als Mittel, sondern als den Endzweck selbst begreift. […] Der moralische Anspruch der Persönlichkeit auf das eigene S e i n kommt ihnen zu gute, und die Frage nach dem S i n n dieser Selbstständigkeit wird von einem Lebensgefühl zum Schweigen gebracht, das, in sich gegründet, keine jenseitigen Zwecke verfolgt, sich aber auch keinen, die es von außen her gegen sich gekehrt sieht, aufopfern kann.“40 Dieses Recht auf das Sein des Judentums in seiner Besonderheit unter den anderen erfolgreichen und herrschenden monotheistischen Religionen versucht Maimonides zu begründen und zu verteidigen. Selbstverständlich benutzt er aus rhetorischen Gründen angesichts seiner Gegner (Christen und Muslime) und aus psychologischen Gründen angesichts der jüdischen Gemeinde („auch wir begründen unsere Existenz auf bestimmten Prinzipien“) dasselbe theologische Instrument wie das Christentum und der Islam, nämlich die Aufzählung von Glaubensartikeln. Aber genau wie in der muslimischen Lehre haben diese Artikel nicht die Bedeutung und die Funktion von ‚Dogmen‘. Wenn es stimmt, was die rabbinische Tradition, auf die Maimonides sich bezieht, überliefert, nämlich dass huqqim (Offenbarungsgebote) und mishpatim (Vernunftgebote) in der Torah eine Einheit bilden (und bereits diese Unterscheidung von der islamischen Differenz zwischen sam>iya oder sˇar>iya – den offenbarten ’usul – und den >aqliya – den rationalen ’usul – ab40
Max Wiener, Jüdische Frömmigkeit und religiöses Dogma, Berlin 1924, S. 5f.
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Pereq Heleq und der Messias
hängt), dann stellt sich hier für Maimonides das Problem, die Fundamente von beiden einer Gemeinde darzustellen, deren Identität von außen und von innen bedroht ist. Das bedeutet nicht, dass man in bezug auf Pereq Heleq sagen kann, was Wiener in bezug auf die Mishneh Torah zu Maimonides schreibt: „Monotheismus […] ist eine lehrbare, womöglich gar beweisbare Wahrheit, ein Satz des G l a u b e n s , wenn wir sie auf die Offenbarungsquelle zurückleiten, ein Gegenstand w i s s e n s c h a f t l i c h e r Erkenntnis, wenn wir die von selbst einleuchtende, aber durch Demonstration aufzuhellende Gewissheit in den Blickpunkt stellen.“41
Man sollte nicht aus den Augen verlieren, für wen Pereq Heleq wie auch al-Basirs Werk al-’Usul geschrieben wurde: nicht für ein Publikum von Gelehrten (deswegen ist Arabisch als Sprache gewählt und nicht das intellektuelle mishnaische Hebräisch der späteren Mishneh Torah), sondern für ein Kollektiv, dessen Hoffnung einerseits durch das Wort der Heiligen Schrift hinsichtlich der aktuellen geschichtlichen, politischen und sozialen Lage verstärkt werden musste (ohne aber deshalb falsche Erwartungen an eine baldige Verbesserung des materiellen Zustands zu wecken) und dessen gefährdeter Glauben andererseits ein starkes transzendentes Fundament brauchte. Der Appell an den Glauben allein, nämlich der Schwerpunkt auf jedwedem Dogma bzw. jedweder dogmatischen Lehre, konnte unter einer solchen Notlage keine Hilfe für die Absicht Maimonides’ sein. In diesem Sinne stimme ich nicht mit jenen Forschern überein, welche hinsichtlich Pereq Heleq42 von der Ausarbeitung einer ‚jüdischen Dogmatik‘ sprechen43. Meine Kritik betrifft nicht die zahlreichen möglichen Interpretationen dieser Glaubensartikel44, sondern die grundsätzliche Bestim41 42
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44
Max Wiener, Jüdische Frömmigkeit, op. cit., S. 45. Eine solche Problematik sollte auch in bezug auf die anderen jüdischen mittelalterlichen Philosophen vor und nach Maimonides, die sich mit der Fixierung von Glaubensartikeln beschäftigt haben, untersucht werden. Für eine Analyse dieser jüdischen Philosophen (im besonderen Abba Mari, Shem Tov Falaquera, David ben Samuel Kochavi d’Estella, Yom Tov ibn Bilia, Shemariah ben Eliyah ben Yaqov ha-Ikriti aus Negropont, Shimon ben Zemah Duran, Hasdai Crescas, Yosef Albo, Abraham Shalom, Isaac Arama, Yosef Yavez, Abraham Bibago, Isaac Abravanel u.a.) und von deren unterschiedlichen Positionen diesbezüglich siehe im besonderen: Menachem Kellner, Dogma, op. cit., S. 66ff; Solomon Schechter, The Dogmas, op. cit., S. 88ff. Diese Position wird auch von Moses Mendelssohn in Jerusalem vertreten (siehe: Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum. Vorrede zu Manasseh ben Israels ‚Rettung der Juden‘, nach der ersten Ausgabe neu ed. von David Martyn, Bielefeld 2001). Eine sehr präzise Darstellung dieser Interpretationen findet man in: Arthur Hyman, Maimonides’ „Thirteen Principles“, in: Alexander Altmann (Hrsg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge (Mass.) 1967, S. 119–144. Hyman strebt danach, eine rein metaphysische Interpretation der dreizehn Glaubensartikel zu geben.
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mung ihres Inhalts und ihrer Struktur als ‚dogmatisch‘: Die Notwendigkeit der Begründbarkeit der Glaubensartikel im Islam, die Maimonides durch die Karäer übernimmt, stellt Pereq Heleq noch nicht unter die theologische Kategorie des ‚Dogmatismus‘, obwohl dieser Kommentar auch eine ‚katechetische Funktion‘45 zu erfüllen hatte. Die ‚katechetische Funktion‘ zeigt sich in der Struktur der dreizehn Prinzipien, während sich in ihrer inhaltlichen Darstellung die theologische und ethische Problematik des Frühkaräertums widerspiegelt. Diese Darstellung zeigt, dass alle Interpretationen, die bis dahin mit unterschiedlichen Akzentuierungen (metaphysisch, legalistisch, politisch, eschatologisch usw.) gegeben wurden, akzeptabel sind, dass aber keine von ihnen eine abschließende Gültigkeit hat: a) Ontologische bzw. metaphysische Glaubensprinzipien: 1) die Existenz Gottes; 2) Glaube an die Einheit Gottes; 3) die Unkörperlichkeit Gottes; 4) Glaube an die Ewigkeit Gottes; 5) die alleinige Verehrung Gottes. b) Gesetzliche bzw. politische46 Glaubensprinzipien: 6) die Prophetie; 7) Glaube an Moses als den größten Propheten; 8) Glaube an den göttlichen Ursprung des Gesetzes (Torah); 9) die Torah ist ewig und unverändbar. c) Eschatologische Glaubensprinzipien: 10) Gott kennt die Taten der Menschen; 11) Lehre von Strafe und Belohnung; 12) Glaube an die Ankunft des Messias; 13) Glaube an die Auferstehung der Toten.47 Ich beabsichtige nicht, die langjährige Diskussion über die Bedeutung der Ordnung dieser Struktur fortzuführen, und will hier auch nicht die Interpretationsgeschichte dieser Glaubensartikel nachzeichnen. Meine philosophische Untersuchung konzentriert sich auf die Betonung der karäischen Elemente des Pereq Heleq, um die Rolle und die Bedeutung der Gestalt des Messias hervorzuheben. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, zunächst die ganze Einführung zu Pereq Heleq zu untersuchen, dessen Glaubensartikel nur der Schlussabschnitt sind.
45
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Diese katechetische Funktion ergibt sich aus der Tatsache, dass die dreizehn Glaubensprinzipien in die Liturgie als Dichtung Yigdal und als Doxologie Ani ma’amin ins Gebetsbuch Eingang fanden. Yigdal wurde wahrscheinlich am Anfang des 14. Jh. von Daniel ben Judah aus Rom geschrieben. Der Verfasser des Ani ma’amin, im Jahr 1517 zum ersten Mal erschienen, ist unbekannt. Ich werde im Laufe dieses Paragraphen zeigen, dass die Kategorie ‚politisch‘ auch für die letzten drei Glaubensprinzipien benutzt werden kann. Das Wort „Glaube“ wird von Maimonides nur für die Artikel 7, 8, 12 und 13 benutzt.
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Pereq Heleq und der Messias
5.1 Der erste Teil von Pereq Heleq als Schlüssel zur Interpretation der Glaubensartikel Der erste Teil von Pereq Heleq ist meines Erachtens nicht nur eine Einführung in den Kommentar zum zehnten Kapitel des Traktats Sanhedrin, sondern auch eine Einführung in das Verständnis der Glaubensartikel. Maimonides behauptet gleich zu Anfang, dass er sich in diesem ersten Teil nur mit den Prinzipien jener Glaubensartikel beschäftige, die von großer Bedeutung sind48. Diese Stellungnahme scheint jenen Interpretern recht zu geben, welche die Glaubensartikel als eine ‚aufsteigende Treppe‘ lesen, deren Endpunkt die Begründbarkeit der eschatologischen Bedeutung des Glaubens ist. In der Tat untersucht Maimonides im ersten Teil von Pereq Heleq nur die Grundlagen der folgenden Glaubensartikel: die kommende Welt (>olam ha-ba), die Lehre von Strafe und Belohnung, die Tage des Messias, die Auferstehung der Toten. Ich habe bereits betont, dass Julius Fürst den sadduzäischen Einfluss auf das Frühkaräertum in der Hervorhebung der Lehre der kommenden Welt, in der Lehre von Strafe und Belohnung und in der Auferstehung der Toten zu erkennen glaubt (tatsächlich kommen diese Elemente in allen karäischen Strömungen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts vor); unter einem theologischen Blickwinkel bekommen diese Themen ab dem 8./9. Jahrhundert einen neuen starken Impuls durch den Streit in der islamischen Welt zwischen Mu’taziliten und Ash’ariten hinsichtlich der Gerechtigkeit Gottes und des Handelns des Menschen, einen Impuls, auf den sich Fürst in seiner Geschichte des Karäertums nicht bezieht. Fürst behauptet zwar, die theologischen Diskussionen zwischen Mu>taziliten und Ash>ariten hätten die Entwicklung des Karäertums beeinflusst, ohne aber diesen Einfluss im Detail zu untersuchen.49 Als die Karäer während des ersten Kreuzzugs zu einem ‚zweiten Exil‘ in Ägypten gezwungen wurden, verstärkten sich die theologischen Diskussionen innerhalb dieser Sekte gerade hinsichtlich der Gerechtigkeit Gottes, der Bedeutung des Handelns des Menschen und des Schicksals des Gläubigen und des Ungläubigen nach dem Tode. Darüber hinaus wurden bereits am Ende des 10. Jahrhunderts innerhalb der jüdischen Gemeinden, die im muslimischen Bereich lebten, die ersten Fragen hinsichtlich der Ankunft des Messias härter und prägnanter gestellt50, Fragen, welche durch die Auswanderung nach Ägypten drängender wurden. 48 49
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Übersetzung von Joshua Abelson, Maimonides on the Jewish Creed, op. cit., S. 29. Julius Fürst, Die Geschichte des Karäerthums, op. cit., 1. Bd., im besonderen S. 93. In diesem Abschnitt erwähnt Fürst nur kurz den Einfluss der Mu’taziliten auf Yehudah ha-Lewi, Maimonides und Aron ben Elija. Ich habe diese Problematik nur in bezug auf al-Basir als größten karäischen Theologen gezeigt, allerdings spielt der Messias auch am Ende des 10. Jahrhunderts in den biblischen Kom-
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Von dieser theologischen und die Gemeinschaft betreffenden Problematik ist Pereq Heleq stark beeinflusst, obwohl Maimonides im ersten Teil von Pereq Heleq seine Kritik auch und vor allem gegen die Karäer richtet. Nur dieser Hintergrund kann meines Erachtens erklären, wieso Maimonides in Pereq Heleq ein so starkes Interesse an der messianischen Problematik zeigt, vor allem wenn man daran denkt, dass der Messias in der Welt der Mishnah so gut wie keine Rolle spielt.51 Jacob Neusner schreibt diesbezüglich: „The Mishnah presents no large view of history. It contains no reflection whatever on the nature and meaning of the destruction of the Temple in 70 C.E., an event which surfaces only in connection with some changes in the law explained as resulting from the end of the cult. The Mishnah pays no attention to the matter of the end time. The word ‚salvation‘ is rare, ‚sanctification‘ commonplace. More strikingly, the framers of the Mishnah are virtually silent on the teleology of the system; they never tell us why we should do what the Mishnah tells us, let alone explain what will happen if we do. Incidents in the Mishnah are preserved either as narrative settings for the statement of the law, or occasionally, as precedents. Historical events are classified and turned into entries on lists. But incidents in any case come few and far between. True, events do make an impact. But it always is for the Mishnah’s own purpose and within its own taxonomic system and rule-seeking mode of thought. To be sure, the framers of the Mishnah may also have had a theory of the Messiah and of the meaning of Israel’s history and destiny. But they kept it hidden, and their document manages to provide an immense account of Israel’s life without explicitly telling us about such matters. To what may be implicit I confess myself blind and deaf: I see and hear only thin echoes of a timeless eternity governed by orderly rules.“52
51
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mentaren von Daniel al-Qumisi eine große Rolle, im besonderen in seiner Interpretation des Buchs Daniel (siehe: Daniel al-Kûmisî, Commentary on Daniel, in: Leon Nemoy (Hrsg.), Karaite Anthology, op. cit., S. 39–41). Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe u.a.: Jacob Neusner, Messiah in Context: Israel’s History and Destiny in Formative Judaism, Philadelphia 1984; ders., Foundations of Judaism, Philadelphia 1989, im besonderen S. 36ff (The Mishnah’s Doctrine of the Messiah and of History); Joseph Sarachek, The doctrine of the Messiah in Medieval Jewish Literature, New York 1932; Joseph Klausner, The Messianic Idea in Israel from Its Beginning to the Completion of the Mishnah, Übersetzung der dritten hebräischen Ausgabe von W. F. Stinespring, London 1956, im besonderen S. 387ff (The Messianic Idea in the Period of the Tannaim). Ich stimme mit der Kritik von Philip S. Alexander am Werk von Klausner überein: „The reader of Klausner gets the strong impression that messianism was fundamental to Tannaitic Judaism, and that there is an abundance of Tannaitic messianic material. However, closer inspection of his evidence reveals that it overwhelmingly consists of baraitot, that is to say of supposedly Tannaitic material quoted in the Gemara, but not actually recorded in the Mishnah. Even if all these baraitot are genuine (a highly debatable assumption), the question can still be raised why, if it was so important, this material was not included in the Mishnah. Messianic Judaism and Mishnaic Judaism are pulling in opposite directions.“ (Philip S. Alexander, The King Messiah in Rabbinic Judaism, in: John Day (Hrsg.), King and Messiah in Israel and the Ancient Near East. Proceedings of the Oxford Old Testament Seminary, Sheffield 1998, S. 456ff. Jacob Neusner, Foundations of Judaism, op. cit., S. 41f.
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Pereq Heleq und der Messias
Ich bin der Meinung, dass das Schweigen der Mishnah, also des rabbinischen Judentums, hinsichtlich der Bedeutung der Geschichte und des Messias unter einem politischen Blickwinkel verstanden werden kann, der von Philip Alexander wie folgt zusammengefasst wurde: „The Talmudic period opens with two bitter and disastrous wars, both of which took on a messianic tinge. I have little doubt that Bar Kokhba did proclaim himself as Messiah and that Rabbi Aquiva endorsed that claim. The rabbinic innovation of the slain Messiah ben Joseph, who heralds the coming of the Messiah ben David, probably arose in a desperate attempt to salvage faith after the debacle of Betar. The Rabbis were level-headed enough to realize that Messianism spelt trouble.“53
Aus welchem Grund also beschäftigt sich Maimonides in seinem Kommentar zur Mishnah mit einem Thema, das offenkundig vom rabbinischen Judentum nicht behandelt und vor allem nicht im zehnten Kapitel des Traktats Sanhedrin erwähnt wird? Als eschatologisches Moment ist dort nur von der Auferstehung der Toten die Rede: Wie und warum leitet Maimonides die Gestalt des Messias aus der Lehre der Auferstehung ab, die im ersten Teil von Pereq Heleq zwar kurz dargestellt wird, aber in den Glaubensartikeln nicht weiter erklärt bzw. begründet wird? Grund für die Ausarbeitung eines solchen Themas ist für Maimonides wahrscheinlich nicht der innere Gehalt des zu kommentierenden Textes, sondern äußerer Druck: Während die Karäer die aktuelle schwierige Lage der Gemeinde durch die Untersuchung der Heiligen Schrift zu begründen versuchten, beschäftigte sich das Rabbinat mit legalistischen und rationalistischen Fragen, die keinen Widerhall im Leben der Gemeinde haben konnten. In diesem Sinne teile ich die Meinung von Ahad Ha-’am: „He [Maimonides] understood what they failed [Propheten und Rabbinen] to understand – that a people cannot live on logic, that without a hope for the future even the Law, with all its logical principles would sink into oblivion, and that all the signs of history and all the proofs of scholasticism would not avail to save the Law – and its people – from death.“54
Es ist also kein Zufall, dass Maimonides den ersten Teil von Pereq Heleq mit einer starken Kritik an fünf Gruppen von Theologen und Denkern eröffnet, die sich mit den Prinzipien der Glaubensartikel von großer Bedeutung beschäftigen. Dabei konzentriert sich die Kritik von Maimonides nur auf einen 53 54
Philip S. Alexander, The King Messiah in Rabbinic Judaism, op. cit., S. 469f. Ahad Ha-’am, Selected Essays, Übersetzung aus dem Hebräischen von Leon Simon, Philadelphia 1912, S. 87. Das bedeutet nicht, dass ich mit der radikalen Stellungnahme von Salomon Zeitlich einverstanden bin: „He [Maimonides] regarded the coming of the Messiah only as a means to a final goal just as he regarded Resurrection only as a means of reaching the Olam Haba, the Future World. The final goal that he looked for was the establishment of the Jewish people as a nation in Palestine, free from persecution, and able to develop their culture – the Torah. We may say that he anticipated the entire national and cultural movement which has found voice in modern Jewish History in Herzl and Ahad-Haam.“ (Solomon Zeitlich, Maimonides: A Biography, New York 19552, S. 154)
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Punkt: die Interpretationen des >olam ha-ba als Konsequenz des Handelns sowohl des Einzelnen als auch des Kollektivs, wobei sich Maimonides zugleich auf das Problem der Konzeption von Gute und Böse, auf das Problem der Gerechtigkeit Gottes und auf das Problem von Lohn und Strafe bezieht (die Hauptthemen des Karäertums). Maimonides hat nicht die Absicht, in eine theologische und philosophische Diskussion nur für Fachleute einzusteigen, sondern er nennt sofort sein soziales Ziel55: „Ihre [d.h. dieser Denker und Theologen] Unterschiede bezüglich dieser Fragen sind sehr groß und im Verhältnis zu den Unterschieden ihres jeweiligen Verstandes. In der Folge sind die Meinungen der Leute solch großer Verwirrung anheimgefallen, dass man kaum irgendwie jemand finden kann, der klare und zuverlässige Vorstellungen zu diesem Thema hat; noch kann man irgendeinen Teil davon finden, der irgend einer Person ohne zahlreiche Fehler übermittelt wurde.“56
Obwohl explizit kein Name genannt wird, ist es deutlich, dass sich Maimonides sowohl auf rabbinische als auch auf karäische Strömungen bezieht, welche, mit der dementsprechenden Akzentuierung bald der Schrift bald des mündlichen Gesetzes, eine materialistische Konzeption des >olam ha-ba innerhalb der Gemeinde verbreiten: „Eine Gruppe von Denkern behauptet, dass das erhoffte Gute der Garten Eden sein wird, ein Ort, an dem Menschen ohne körperliche Mühe oder Schwäche essen und trinken. […] Die zweite Gruppe von Denkern glaubt fest und stellt sich vor, dass das erhoffte Gute die Tage des Messias (möge er bald erscheinen!) sein werden. Sie denken, dass alle Menschen für immer Könige sein werden, wenn diese Zeit kommt. Ihre körperlichen Ausmaße werden mächtig sein und sie werden die gesamte Erde bis in die Ewigkeit bewohnen. […] Die dritte Gruppe ist der Meinung, dass das begehrte Gute in der Auferstehung der Toten bestehen wird. […] Die vierte Gruppe ist der Meinung, dass das Gute, welches wir durch Befolgung des Gesetzes erlangen werden, in der Untätigkeit des Körpers und der Erlangung aller weltlichen Wünsche in dieser Welt besteht, wie zum Beispiel der Fruchtbarkeit des Landes, Reichtum im Überfluss, einer Fülle von Kindern, einem langen Leben, körperlicher Gesundheit und Sicherheit, dem Genuß der Herrschaft eines Königs und dem Sieg über den Unterdrücker. […] Die fünfte Gruppierung von 55
56
Hinsichtlich dieser Doppelebene der Eschatologie von Maimonides schreibt Daniel Krochmalnik: „Sie [die Eschatologie Maimonides’ in Pereq Heleq] lässt sich schematisch in einem Koordinationssystem mit zwei Achsen darstellen. Auf der horizontalen, immanenten Achse – der zeitlichen, historischen, sozialen, politischen Dimension – sind zu bestimmten Zeiten natürlich oder übernatürlich Ereignisse wie der Beginn des messianischen Reiches oder die Auferstehung der Toten eingezeichnet. Auf der vertikalen, transzendenten Achse – einer individuellen, psychischen, philosophischen Dimension – ist die geistige Entwicklung der einzelnen Seele dargestellt […] Der kategoriale Fehler der religiösen Eschatologie besteht nach Maimonides darin, die diesseitigen Bilder auf das Jenseits zu projizieren und mithin das Jenseits auf das Diesseits zu reduzieren. Im eschatologischen Prozess sind beide Zeitachsen gleichwohl verknüpft.“ (Vgl.: Daniel Krochmalnik, Die zweidimensionale Eschatologie des Maimonides, in: Judaica. Beiträge zum Verständnis des Judentums 52,2 (1996), S. 116–130, im besonderen S. 121f). Joshua Abelson, Maimonides on the Jewish Creed, op. cit., S. 29. Übersetzung von F. Y. A.
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Denkern ist die größte. Ihre Mitglieder kombinieren alle vorherigen Meinungen und erklären, dass die erhofften Dinge [folgende] sind: die Ankunft des Messias, die Auferstehung der Toten, ihr Eingang in den Garten Eden, ihr dortiges Essen, Trinken und Leben in Gesundheit solange Himmel und Erde Bestand haben.“57
Maimonides ist nicht daran interessiert, diesen unterschiedlichen Stellungnahmen Punkt für Punkt zu widersprechen (es ist auch schwierig, die eigenen Ziele der Maimonidischen Polemik zu bestimmen), sondern daran, ihren gemeinsamen Schwachpunkt zu zeigen: Keine dieser Strömungen unterscheidet zwischen dem gewünschten Ziel und dem Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, bzw. sie stellen sich diese Frage gar nicht. Ihre Fragen konzentrieren sich auf materielle Aspekte des >olam ha-ba (Werden die Toten nackt oder angezogen auferstehen? Wird der Unterschied zwischen Reichen und Armen nach der Ankunft des Messias noch existieren?), die über die theologische, ethische und gesetzliche Struktur der zu kommenden Welt nichts aussagen. Solche materiellen Fragen unterstellen einen Zweck, der mit dem Streben, ein echter >eved meahava („Diener aus Liebe“) zu sein, nichts zu tun hat: Der Glaube wird ein Instrument zur Erwerbung und zum Genuss gewisser Vorteile, aber er wird nicht als Zweck an sich bekannt, genauso wie ein Schüler die Lektion des Tages nur lernt, um die vom Lehrer versprochene Belohnung zu bekommen. Ein solcher Schüler wird nie die Erkenntnis an sich als Belohnung annehmen. Die damaligen Darstellungen des Jenseits, der Auferstehung der Toten und der Tage des Messias werden nicht als solche von Maimonides kritisiert – er will nicht in Pereq Heleq ihren angeblich ‚wahren‘ Gehalt beschreiben –, sondern er kritisiert die Funktion, die sie normalerweise haben: den Glauben auf die Erwerbung materieller Privilegien zu gründen, statt nach der Vollendung der Vollkommenheit des menschlichen Intellekts58 durch die >avoda meahava zu streben. Maimonides versucht nicht, die Wichtigkeit des Jenseits, der Auferstehung der Toten und der Tage des Messias für den Glauben der Gemeinde zu diskreditieren, weil diese Themen vor allem zu geschichtlich und sozial schwierigen Zeiten eine Bedeutung für das Weiterbestehen von Hoffnung und das Überleben der Gemeinde haben. Diese ‚politische‘ Funktion des Jenseits, der Auferstehung der Toten und der Tage der Messias darf aber nicht als Zweck des Glaubens angesehen werden, weil nur die Erkenntnis der >avoda meahava und ihre Grundlage in der Vollkommenheit des menschlichen Intellekts ein solcher Zweck ist. 57 58
Ibidem, S. 29f. Übersetzung von F. Y. A. Die Definition des vollkommenen Intellekts, die man im Moreh ha-Nevukhim (3:54) findet, gilt meines Erachtens für alle Werke von Maimonides: „[N]ämlich wenn der Mensch die geistigen Vorzüge erlangt, d.h. die Vorstellung der abstrakten Dinge [ma>qulat], um daraus inbetreff der wirklichen Dinge wahre Glaubensmeinungen [’ara’ sahihat] abzuleiten.“
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Hinsichtlich des menschlichen Intellekts betont Maimonides, dass die Erkenntnis der >avoda meahava nicht allen Menschen in demselben Maß zukommt, weil nicht alle die Worte der Weisen verstehen können. Diesbezüglich unterscheidet er zwischen drei theologischen Bewegungen, die aber nicht explizit erwähnt werden: „Wir müssen nun zu dem Punkt kommen, den du notwendig kennen musst, das ist, dass die Menschen hinsichtlich ihrer Auffassungen bezüglich der Worte der Weisen in drei verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Die erste Kategorie ist […] die größte im Hinblick auf ihre Anzahl und die Zahl ihrer Schriften […]. Die Mitglieder dieser Gruppe übernehmen die Worte der Weisen wörtlich und geben keinerlei Interpretation. Für sie sind alle Unmöglichkeiten notwendige Erscheinungen. Dies ist [der Tatsache] geschuldet, dass sie der Wissenschaft unkundig und weit entfernt vom Wissen sind. […] So wahr Gott lebt, ist es diese Gruppe von Denkern, die unsere Religion ihrer Schönheiten beraubt, ihren Glanz verdunkelt, und das Gesetz Gottes Bedeutungen gegensätzlich zu den beabsichtigten ausdrücken lässt. […] Die zweite Gruppe der logisch Denkenden ist ebenfalls zahlreich. Sie sehen und hören die Worte der Weisen und nehmen sie in ihrer wörtlichen Bedeutung, im Glauben, dass die Weisen nur das meinten, was die wörtliche Auslegung anzeigt. Infolgedessen bemühen sie sich, die Schwäche der rabbinischen Aussage zu zeigen, ihren anstößigen Charakter und um das von Tadel Freie zu verleumden. […] Die Mehrheit derjenigen, die diesem Glauben verfallen, besteht aus denen, die Kenntnis der Medizin vorspiegeln, und denen, die über die Anordnung der Sterne schwadronieren. […] Die dritte Kategorie von Denkern ist (so wahr Gott lebt!) von so geringer Zahl, dass man sie nur in dem Sinne eine Gruppe nennen würde als die Sonne als eine Art bezeichnet wird (obwohl sie eine Einzelsache ist). Sie sind die Männer, welche die Größe der Weisen und die Vortrefflichkeit ihrer Gedanken, wie sie in der Gesamtheit ihrer Ausführungen zu finden ist, wo jedes Wort auf ein wahres Thema verweist, als eine bewiesene Tatsache anerkennen. […] Die Mitglieder dieser Gruppe sind auch überzeugt von der Unmöglichkeit des Unmöglichen und der notwendigen Existenz dessen, was existieren muss. Denn sie wissen, dass sie (Friede sei mit ihnen) miteinander nicht über Unsinnigkeiten sprechen würden. Und sie sind ohne Zweifel überzeugt, dass ihre Worte sowohl eine innere als auch eine äußere Bedeutung haben, und dass alles, was sie über unmögliche Dinge sagten, in Form von Rätseln und Parabeln war.“59
Für Maimonides ist es nicht möglich, die Erkenntnis der Lehre der Weisen von einer hermeneutischen Tätigkeit des Intellekts zu trennen: ‚Interpretation‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, eine doppelte Ausrichtung der Bedeutung (eine äußere und eine innere) anzunehmen, sowie die Harmonisierung der Lehre der Weisen mit der Vernunft und dem Anpassen dieser Lehre an das Wort der Heiligen Schrift (nämlich an die Wahrheit). Wie man die materielle und unmittelbare Dimension der Sinne überschreiten muss, um die spekulative und theologische Bedeutung der kom59
Ibidem, S. 35f. Übersetzung von F. Y. A.
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menden Welt, der Auferstehung der Toten und der Tage des Messias zu begreifen, so ist auch für das Verständnis der Lehre der Weisen die Überwindung der unmittelbaren und sinnlichen Wahrnehmbarkeit des Wortes notwendig. Erst nach diesen fundamentalen Spezifizierungen (Bestimmung des geistigen Zwecks des Glaubens und Bestimmung der hermeneutischen Orientierung des Gläubigen) kann Maimonides auf den ursprünglichen Zweck von Pereq Heleq zurückkommen, nämlich die Vollendung der kommenden Welt durch die Erkenntnis Gottes. Hier findet man die dritte Überschreitung der materiellen Konzeption des Jenseits und des Ziels des Glaubens: „‚In der kommenden Welt wird es kein Essen und Trinken, kein Waschen und kein Salben und keine Heirat geben; sondern die Rechtschaffenen werden nur mit Kronen auf ihren Häuptern sitzen und die Pracht der Schechinah genießen.‘ (Berakhot 17a) […] Und so besteht die Glückseligkeit und der Endzweck im Erreichen dieser erhabenen Gesellschaft und im Erlangen dieser hohen Stufe. Die Fortdauer der Seele ist, wie wir dargelegt haben, endlos, wie die Fortdauer des Schöpfers (gelobt sei Er!), welcher dadurch dass sie ihn versteht der Grund ihrer Fortdauer ist, wie in der Elementarphilosophie erklärt ist. Das ist das große Glück, dem kein Glück gleicht und mit dem kein Vergnügen verglichen werden kann.“60
Nur wenn der Zweck des Glaubens festgestellt wird, ist es für Maimonides möglich, die Bedeutung der Lehre von Strafe und Belohnung hervorzuheben: „Das vollkommene Übel (der Bestrafung) besteht im Abtrennen der Seele, ihrem Dahinscheiden und ihrem Versagen Dauerhaftigkeit zu erlangen. Das ist die Bedeutung von trk „Abtrennen“, das in der Torah erwähnt wird. Die Bedeutung von trk ist das Abtrennen der Seele […]: trkh „Abtrennen in dieser Welt“ (Sanhedrin 64b und 90b), trkt „Abtrennen in der kommenden Welt“ (I Sam. 25:29).“61
Interessanterweise bezieht Maimonides sich nicht nur auf den Ausschluss der Seele vom Jenseits, sondern auch vom Diesseits: Nach der talmudischen Lehre ist das die Strafe für die Idolatrie, die, wie man aus der Lektüre des von Maimonides erwähnten talmudischen Abschnittes Sanhedrin 64b ableiten kann, die Stabilität des Glaubens und damit die der ganzen Gemeinde gefährdet. Auch die Lehre von Belohnung und Strafe hat unter diesem Blickwinkel also eine entscheidende ‚politische‘ Funktion. Von der kommenden Welt wird jeder Mensch ausgeschlossen, der nicht nach der Vollkommenheit der Seele als Vollkommenheit des menschlichen Intellekts (einzige Vorbedingung für die Erkenntnis Gottes!) sucht, sondern nach der Verwirklichung der sinnlichen Lust strebt: 60 61
Ibidem, S. 39f. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 40. Maimonides zitiert dieselben Verse aus dem Buch Samuel auch in Moreh haNevukhim I; 41, wenn er sich auf den nach dem Tode weiterlebenden intellektuellen Geist bezieht. Übersetzung von F. Y. A.
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„All diejenigen, die sich körperlichen Freuden hingeben, die Wahrheit ablehnen und die Unwahrheit wählen, sind abgetrennt von der Teilhabe an jenem erhabenen Zustand der Dinge und bleiben einzig als losgelöste Materie. ‚O Gott, außer Dir, hat kein Auge gesehen, was für den vorbereitet ist, der auf Ihn wartet.‘ (Isa. 54; 3) hat deutlich gemacht, dass die kommende Welt nicht durch die körperliche Sinneswahrnehmungen verstanden werden kann. Die Weisen sagten diesen Satz interpretierend: ‚Alle Propheten prophezeien nur hinsichtlich der Tage des Messias, aber die kommende Welt hat niemand gesehen außer Gott‘.“62
Mit diesem letzten Zitat aus Berakhot 34b verbindet Maimonides die Lehre von Strafe und Belohnung und der kommenden Welt einerseits und die Gestalt des Messias andererseits: Wenn auch der Erwerb von sinnlichen Genüssen nicht der Zweck der kommenden Welt ist, so kann doch der Betende Gott nicht verehren, wenn er in einem Zustand der Not ist. Die Erfüllung der Vorschriften bedeutet, dass alle Hindernisse für ihre Verwirklichung allmählich abgeschafft sein werden, aber die endgültige Belohnung für diese Erfüllung besteht nicht in der kommenden Welt. Erfüllung der Vorschriften und kommende Welt bleiben bei Maimonides zwei völlig getrennte Begriffe: Die Erfüllung der Vorschriften ist bereits die Belohnung für den Gläubigen. Maimonides schreibt diesbezüglich: „Denn es ist für einen Menschen unmöglich, Gott zu dienen, wenn er krank oder hungrig oder durstig oder in Schwierigkeiten ist, und deshalb verspricht die Torah die Aufhebung all dieser Unzulänglichkeiten und verspricht dem Menschen auch Gesundheit und Ruhe bis zu dem Zeitpunkt an dem er die Vervollkommnung des Wissens erlangt hat und das Leben der kommenden Welt verdient. Der Endzweck der Torah ist nicht, dass die Erde fruchtbar sein sollte, die Menschen lange leben und die Körper gesund sein sollten. Sie hilft uns nur bei der Ausführung ihrer Vorschriften, indem sie uns das Versprechen dieser Dinge vorhält. In ähnlicher Weise wird die Bestrafung von Menschen, die Übertretungen begehen, darin bestehen, dass all diese Behinderungen entstehen, die sie machtlos machen, rechtschaffen zu sein. […] ‚Die Belohnung einer Vorschrift ist eine Vorschrift und die Belohnung einer Übertretung eine Übertretung.‘ (Sprüche der Väter 4, 2).“63
Unter diesem Blickwinkel fallen auch die Tage des Messias mit der kommenden Welt nicht zusammen. Ihre Bedeutung ist ausschließlich ‚politisch‘ im Rahmen sowohl der ‚Außen-‘ als auch der ‚Innenpolitik‘ von eres israel; sie kündigen keine Ende der Geschichte, keine Verwirklichung eines Paradieses auf der Erde sowie kein Verschwinden des sozialen und ökonomischen Unterschieds zwischen Reichen und Armen an (obgleich dieser Unterschied nicht mehr so relevant sein wird). Maimonides schreibt diesbezüglich: „Die Tage des Messias werden die Zeit sein, in der das Königtum nach Israel zurückkehren wird, welches in das Heilige Land zurückkehren wird. Der König, der dann regieren wird, wird Zion als Hauptstadt seines Reiches haben. Sein Name wird groß sein und die Erde bis zu ihren äußersten Grenzen erfüllen. Es wird ein 62 63
Ibidem, S. 40. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 40f. Übersetzung von F. Y. A.
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Pereq Heleq und der Messias
größerer und mächtigerer Name sein als der von König Salomon. Die Völker werden Frieden mit ihm schließen und die Länder werden ihm gehorchen aufgrund seiner großen Rechtschaffenheit und der Wunder, die durch sein Vermögen ans Licht kommen werden. Jeden, der sich gegen ihn erhebt, wird Gott zerstören und in seine Hände fallen lassen. Alle Verse der Schrift bezeugen sein Wohlergehen und unser Wohlergehen durch ihn. […] In seinen Tagen wird es sowohl Starke als auch Schwache im Vergleich mit anderen geben. Aber tatsächlich wird das Erlangen ihres Auskommens in diesen Tagen so einfach für die Menschen sein, dass sie die leichtestmögliche Arbeit verrichten und großen Gewinn erlangen.“64
Der Messias erscheint in Pereq Heleq wie der König-Philosoph in der Politeia von Platon: Dank seiner Weisheit garantiert er Frieden und Reichtum im Land, aber es handelt sich um keine göttliche Gestalt. Maimonides ist sich des Risikos bewusst, aus dem Messias einen Gott zu machen: Dann aber würde Israel ein Volk von Götzenverehrern, und zudem würde die Erscheinung eines charismatischen falschen Messias das ganze Volk in den Verfall führen. Deswegen fügt Maimonides seiner Interpretation des Messias eine wichtige Präzisierung hinzu: „‚Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben.‘ (Micha 4, 3). Große Vollkommenheit wird demjenigen zukommen, der in diesen Tagen lebt und er wird dadurch erhöht werden zum […] ‚Leben der kommenden Welt‘. Aber der Messias wird sterben und sein Sohn und sein Enkel werden an seiner Stelle herrschen.“65
Obwohl Maimonides sofort, als Ermutigung für die Gemeinde, hinzufügt, dass das Reich des Messias unzählige Jahre andauern wird und die Langlebigkeit der Menschen als Folge der Sorgenlosigkeit und des Reichtums garantiert sein wird, bleibt der Messias stets nur ein Mensch, dessen Lebenszweck nicht schon darin besteht, dass er bloß erscheint. Dieser Zweck bleibt die Verwirklichung der kommenden Welt, an der alle Israeliten teilhaben werden und sollen. Dieses Sollen verwirklicht sich in der Erfüllung der Gebote als allmähliches Vertiefen der Erkenntnis Gottes im Menschen: „Und wenn ein Mensch den Punkt der Vervollkommnung erreicht, gehört er zu den Menschen, die keine Hürde daran hindert, das intellektuelle Element in der Seele nach dem Tod weiterleben zu lassen. Das ist die kommende Welt […].“66 Wie der platonische König-Philosoph den Menschen das Licht in die Höhle bringen muss, so muss auch der König-Messias alle Hindernisse entfernen, welche es den Menschen unmöglich machen, die Vorschriften zu verwirklichen: Hunger, Krieg, Not, Staatenlosigkeit. Die Befriedigung dieser materiellen Aspekte, deren Wichtigkeit Maimonides nicht herabsetzen
64 65 66
Ibidem, S. 42f. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 43. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 45. Übersetzung von F. Y. A.
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will, ist eine Voraussetzung der intellektuellen Vollkommenheit als ewiges Leben in der kommenden Welt. Die zentrale Stellung der intellektuellen Vollkommenheit als Kern der kommenden Welt und die Akzentuierung der geistigen Qualitäten des König-Messias für die Verwirklichung einer solchen Vollkommenheit bei jedem Menschen lassen uns verstehen, aus welchem Grund die Auferstehung der Toten im ersten Teil von Pereq Heleq sowie in den dreizehn Glaubensartikeln kaum ausgearbeitet wird. Die Torah bezieht sich ganz selten und dann nur knapp auf die Auferstehung der Toten, und ihre Darstellungen sind mehr an den materiellen Aspekten der Auferstehung als an ihrer theologischen Bedeutung interessiert. Wenn sich etwa die Aufmerksamkeit auf das Schicksal des Körpers nach dem Tode richtet, so konnte dies selbstverständlich keinen positiven Widerhall im Denken von Maimonides finden. Maimonides bestätigt die Wichtigkeit dieser Lehre innerhalb des Judentums („Die Auferstehung der Toten ist eine der Hauptlehren des Gesetzes von Moses.“67), verknüpft sie aber unmittelbar mit der Lehre von Strafe und Belohnung sowie mit der ethischen Lehre von Gut und Böse („‚Die großen Vorteile des Regens gibt es sowohl für den Rechtschaffenen als auch den Verdorbenen, aber die Auferstehung der Toten gibt es nur für den Rechtschaffenen‘ […]. ‚Die Verdorbenen werden sogar während ihres Lebens tot genannt, aber die Guten werden sogar nach ihrem Tod lebend genannt.‘ [Berakhot 18a]“68). Diese kurze Beschreibung kann die spätere Kritik und die Vorwürfe hinsichtlich einer radikalen Ablehnung der Auferstehung in den Schriften von Maimonides besser erklären. Eine ebenso kurze Darstellung der Auferstehung der Toten wie auch der führenden Rolle des Messias findet man auch in Al-Basirs Kitab al-’Usul. Der vierzehnte Glaubensartikel betrifft die Lehre der Auferstehung der Toten, ohne diese Auferstehung aber genauer zu beschreiben und ohne zu erklären, ob der Mensch danach auch ein leibhaftes ewiges Leben haben wird. Wenn er diese Glaubensartikel behandelt, scheint es Al-Basir auch nur darum zu gehen, dass die Auferstehung nicht der Zweck der kommenden Welt ist. Um die Stellungnahme von Al-Basir verstehen zu können, muss man sich die Ordnung dieser Glaubensartikel im Kitab al-’Usul vor Augen führen: 13. Die Erlösbarkeit der Welt und die Erfüllung der kommenden Welt; 14. die Auferstehung der Toten; 15. die Ankunft des Erlösers.69
67 68 69
Ibidem, S. 42. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 42. Übersetzung von F. Y. A. Auf Arabisch: mahdiy, ein Begriff, der stets eine starke politische Konnotation hat.
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Pereq Heleq und der Messias
Die Gläubigen müssen sich in ihrem Bemühen um die Vollbringung der Vorschriften dessen gewiss sein, dass die Welt die Möglichkeit ihrer Erlösung in sich trägt. Wenn der Mensch diese Garantie nicht hätte, würde er sein Handeln als endliches Wesen für sinnlos (und umsonst) halten. Aber Al-Basir ist sich auch der Tatsache bewusst, dass diese Garantie nur für eine winzige Minderheit der Menschen genügt. Die Massen benötigen eine Sicherheit, dass sie durch die Erfüllung der Vorschriften als Lohn die materielle Überwindung des Todes und den Genuss von körperlichen Lüsten zugleich erwerben werden. Die kurze Besprechung der Auferstehung der Toten scheint also von derselben Sorge wie später bei Maimonides motiviert zu sein. Auch die Überlegungen zum Erlöser zeigen bei Al-Basir einen stark politischen Aspekt: Im 15. Glaubensartikel bemüht sich Al-Basir, die Existenz des Mahdiy zu beweisen, damit die Vorbedingungen für die Erfüllung der Vorschriften in der Welt geschaffen werden können. Obwohl es Al-Basir mehr um den logischen Beweis der Existenz des Mahdiy geht als um seine politische Funktion, spielt diese Gestalt eine führende Rolle für die ganze Gemeinde, genauso wie die Gestalt des Messias in Pereq Heleq. Durch die detaillierte Analyse der Maimonidischen Glaubensartikel will ich die Ähnlichkeiten und die Differenzen im Vergleich zur karäischen Theologie noch eingehender zeigen.
5.2 Die ontologischen bzw. metaphysischen Glaubensartikel Der erste Maimonidische Glaubensartikel ist einmalig im Rahmen der Glaubensauflistungen, weil es weder in der islamischen noch in der karäischen Tradition vorkommt: Während die islamischen und karäischen Glaubensauflistungen mit der Behauptung der Einheit Gottes beginnen, findet man in Pereq Heleq zunächst die Behauptung der Existenz Gottes gemäß einer Argumentation, die der von Anselm von Canterbury sehr ähnlich ist. Ein solcher Anfang ist meines Erachtens mit dem politischen und philosophischen Charakter des ganzen Pereq Heleq verbunden. Die Bedeutung der beiden Adjektive ‚politisch‘ und ‚philosophisch‘ wird klar, wenn man sich den Ausgangspunkt von Maimonides vor Augen führt, nämlich den ersten rationalen Beweis für die Existenz Gottes in der Geschichte des spekulativen Denkens: das 10. Buch der Gesetze von Platon.70 Obwohl man nicht beweisen kann, dass Maimonides die arabische Version des 10. Buchs des Gesetzes kannte, möchte ich an dieser Stelle auf eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Maimonides und Platon sowie zwischen Maimonides und Al-Basir aufmerksam machen. 70
Für meine Untersuchung habe ich mich auf die folgende Ausgabe bezogen: Platon, Timaios/ Kritias/Gesetze X, ins Deutsche übertragen von Otto Kiefer, Jena 1909, S. 161ff.
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Im 10. Buch der Gesetze will der Athener Kleinias zeigen, dass die göttliche Existenz nicht bloß aufgrund des Befehls des Gesetzgebers zu glauben ist, sondern als „Erzeugnis der Vernunft“.71 Für einen solchen Beweis, nämlich für den rationalen und logischen Beweis der Existenz des Daseins Gottes, ist es notwendig, überzeugend den Vorrang der Seele im Vergleich zum Körper und zur Natur zu zeigen: „Der Athener: Worin besteht nun der Begriff dessen, das den Namen Seele führt? Kann er [der Begriff von ‚Seele‘] nach dem Vorausgegangenen etwas anderes sein als das, was sich selbst bewegen kann? Kleinias: Deine Behauptung ist also: es ist einerlei, ob wir das Wesen, das wir Seele nennen, mit dem Namen Seele oder mit dem Begriff des sich selbst Bewegenden bezeichnen? Der Athener: Das behaupte ich allerdings. Ist dies aber so, was vermissen wir dann noch zum genügenden Beweis dafür, dass die Seele nichts anderes ist als das Prinzip der Entstehung und Bewegung alles dessen, was da ist, war und sein wird und ebenso auch alles dessen, was dem entgegengesetzt ist; denn sie hat sich ja auch als die Ursache aller Veränderung erwiesen? Kleinias: Nichts fehlt mehr, sondern es ist unwiderleglich bewiesen, dass die Seele wirklich das Prinzip der Bewegung und damit auch das Ursprünglichste von allem ist. […] Der Athener: „Und wenn die Seele alles durchwaltet und allem, was irgendwo sich bewegt, innewohnt, muss man da nicht annehmen, dass auch das ganze Weltall von einer Seele durchwaltet werde?“72
Den Schluss dieser Betrachtung Platons versteht man von selbst: Wenn die Gesamtbewegung der Welt und der Umschwung aller einzelnen Himmelskörper von ähnlicher Beschaffenheit sind wie die Bewegung, der Umschwung und die Gedanken der Vernunft, dann muss man notwendigerweise behaupten, dass die beste Seele für das Weltall sorge und es eben jenen Weg führe. Aber von welcher Beschaffenheit ist die Bewegung der Vernunft? Für Platon ist die Kreisbewegung der Vernunft mit der einer wohlgerundeten Kugel vergleichbar, die alles gemäß einer Ordnung und eines Plans zusammenhält: „Der Athener: Nun, wie dies auch sein mag, ob diese Seele die Sonne wie einen Wagen lenkt und so ihr Licht durch das Weltall verbreitet, ob sie sie von außen her oder sonst irgendwie leitet, das steht fest: sie ist ein höheres Wesen als die Sonne, und jedermann wird sie für einen Gott halten müssen […].“73
In diesem Sinne sorgt sich das göttliche Wesen um alle Dinge, vom größten bis zum geringsten, ohne aber damit vergleichbar zu sein: Die Götter wissen, sehen und hören alles, und ihnen bleibt nichts verborgen. Sie sind wie ein Arzt, der sich um die Ganzheit eines Körpers kümmert, damit die ein-
71 72 73
Ibidem, S. 173. Ibidem, S. 184ff. Ibidem, S. 191.
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zelnen Teile gut zusammen funktionieren können. Aber die Teile sind nicht mit dem Wesen und mit dem Dasein des Ganzen identisch. Das kosmologisch-theologische Interesse Platons wird an dieser Stelle deutlich: Einerseits will er die Allmacht und Allwissenheit des göttlichen Wesens als des Wesens, das die Natur erhält, beweisen, ohne aber andererseits die einzelne und unabhängige Existenz der unterschiedlichen Elemente der Natur zu leugnen: „Arbeitet doch auch jeder Arzt, jeder verständige Künstler immer auf ein Ganzes hin, und sein Streben ist auf eine allseitige Vollendung dieses Ganzen gerichtet, er vollendet den Teil zum Zweck des Ganzen, aber nicht das Ganze zum Zweck des Teiles.“74
Zum Thema der Gerechtigkeit der Götter und der Tatsache, dass sie sich durch die Verehrung des bösartigen Menschen nicht bestechen lassen, kehre ich später bei meiner Interpretation des 5. und des 9. Glaubensartikels zurück. Im Moment ist es mir wichtig hervorzuheben, dass das kosmologischtheologische Argument Platons wieder im ersten Glaubensartikel von Pereq Heleq als ontologisches Argument für den Beweis der Existenz Gottes auftaucht. Auch bei Maimonides gibt es eine ‚politische‘ Notwendigkeit für einen solchen Beweis: Wenn die Menschen kein rationales Mittel zur Verfügung haben, um die Existenz Gottes als grundlegendes Prinzip zu begreifen (und der Glaube allein genügt nur für eine winzige Minderheit), verlieren alle miswot und alle anderen Glaubensprinzipien ihre Grundlage. Die Gemeinde würde dann keinen Sinn mehr sehen, Prinzipien und Gesetze zu respektieren, die von einem Gesetzgeber angeordnet worden sind, dessen Existenz fraglich ist. Zugleich hat Maimonides auch ein kosmologisches Interesse daran, dass die Behauptung der Existenz Gottes das Recht auf die Existenz der endlichen Einzelnen nicht gefährdet. Dieses Interesse wird noch einmal zu Beginn der späteren Werke Sefer ha-Miswot und Hilkhot Yessode haTorah (Teil der Mishneh Torah) deutlich: „Das erste Gebot [miswah] ist, dass uns befohlen wurde, an die Gottheit zu glauben. Das bedeutet, dass wir glauben müssen, dass es einen Beweger und eine Ursache gibt, die alle Dinge erschaffen hat. Das bedeutet es, wenn er sagt, möge er erhoben sein: „Ich bin der Herr Dein Gott.“ (Sefer ha- Miswot I) „Die Grundlage der Grundlagen und die Stütze der Weisheit ist es, zu wissen, dass es ein erstes Wesen gibt, und dass Er es ist, der alles erschaffen hat und das alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde ihre Existenz Seiner wahren Existenz verdanken.“ (Mishneh Torah, Hil. Yessode ha-Torah, I.1)
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Ibidem, S. 199f.
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Wenn man diese Sätze von dem Hintergrund des 10. Buchs der Platonischen Gesetze versteht, findet man sich nicht mit dem absurden Anspruch konfrontiert, an die Existenz eines unendlichen und unsichtbaren Wesens glauben zu müssen, weil der Gesetzgeber dies so festgelegt hat: In Pereq Heleq zeigt Maimonides, dass eine solche Existenz ontologisch bewiesen werden kann, ohne die Existenz aller Seienden zweitrangig oder sogar überflüssig zu machen. Im ersten Glaubensprinzip liest man: „Die erste Grundlehre betrifft die Existenz des Schöpfers – erhoben sei ER! Das heißt, daß etwas in höchster Vollendung existiert, das die Ursache von allem ist, was existiert; in Ihm gründet ihre Existenz, und von ihm geht ihr Bestand aus. Dächten wir seine Nichtexistenz, so wäre die Existenz jedes (sonst) Existierenden aufgehoben, nichts würde übrigbleiben, das in selbstständiges Existenz bestehenbliebe. Dächten wir hingegen das Nichtsein aller außer Ihm existierenden Dinge, dann wäre Seine Existenz – erhoben werde Er! – nicht aufgehoben und es würde für ihn keinen Mangel bedeuten. Denn Er – erhoben werde ER! – bedarf keiner Sache und ist unabhängig in Seiner Existenz. Alles, was von ihm abgesehen existiert von den Intellekten, d.h. den Engeln, Sphärenkörpern, und was (in diesen sich befindet und) unterhalb von diesen ist, alle diese bedürfen Seiner in ihrer Existenz. Das ist die erste Grundlehre, auf die das Gebot (Ex 20,2) Ich bin JHWH, dein Gott ['yhlX ´´ h ybnX ] hinweist.“75
Der ontologische Beweis einer oberen Instanz, welche die Existenz alles Seienden begründet, so dass nur eine neoplatonische Beziehung der Emanation zwischen Sein und Dasein möglich ist, zeigt uns, dass die Vorwürfe vieler Interpreten, die Schöpfung sei im Pereq Heleq abwesend, unberechtigt sind. Die Schöpfung wird allerdings von Maimonides nicht gemäß der biblischen Erzählung beschrieben, sondern als ontologisches Wesen: Die Seienden benötigen ein existierendes Sein als ursprüngliche Ursache für ihre Existenz, so dass sie ihr autonomes und einzelnes Dasein ertragen können. Das gilt für die obersten Engel als auch für die niedrigsten Wesen (die Wesen unter den Himmelssphären) der Schöpfung. Diese ontologische Spezifizierung ist Maimonides wichtig, um bei den nachfolgenden drei Glaubensartikeln jedwedes mögliche Missverständnis hinsichtlich einer pantheistischen bzw. materialistischen Konzeption Gottes zu vermeiden. Der zweite Glaubensartikel von der Einheit Gottes zeigt eine verblüffende Analogie zum Prinzip der Einheit, wie man es im al-Muhtawi von Al-Basir findet. Beide betonen die Besonderheit der Einheit Gottes im Vergleich zur allgemeinen Bedeutung und zum allgemeinen Gebrauch dieses Begriffs. Im dreizehnten Kapitel von al-Muhtawi schreibt Al-Basir:
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Johann Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Freiburg i. Br. 19922, S. 399.
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Pereq Heleq und der Messias
„(Gott ist einzig). Damit wollen wir zuerst sagen, dass die Attribute, die man ihm notwendigerweise zuschreiben muss, ihm allein zugehören, und [kein anderes Wesen] daran teilhat; das unterscheidet seine Einheit von der allgemeinen Einheit, an deren wesentlichen Attribute (Individuen) in unendlicher Zahl teilnehmen, die alle endlichen Zahlen übertrifft.“76
Und im zweiten Glaubensartikel von Pereq Heleq liest man diesbezüglich: „Die zweite Grundlehre betrifft die Einheit Gottes – erhoben werde ER! Das heißt, daß Er, die Ursache von allem, EINER ist, und zwar nicht einer von einer Art oder einer von einer Gattung und auch nicht wie ein Einzelding, das zusammengesetzt und in viele Teile teilbar ist, und auch nicht wie ein Einzelkörper einzig der Zahl nach ist und dabei unendlicher Teilbarkeit unterliegt, sondern Er – erhoben werde ER! – ist EINER nach einer Einheit, die ihresgleichen nicht hat. Auf diese zweite Grundlehre weist der Vers (Dtn 6,4): Höre Israel JHWH, unser Gott, JHWH ist EINER. [ lXrsy imw dxX ´´ h ´´ lX ´´ h .]“77
In beiden Texten findet man das arabische Wort wahid (‚einzig, einheitlich‘), das in der Bedeutung dem hebräischen ehad ähnlich, aber nicht vollkommen mit ihm identisch ist: wahid kann nur von Gott prädiziert werden, weil sich dieses Adjektiv auf eine Einheit bezieht, die nicht aus einem Zusammenhang von mehreren Elementen besteht. Sowohl bei Al-Basir als auch bei Maimonides schließt dieser Begriff die Idee eines zweiten Gottes aus, da zwei einheitliche Wesen einander aufheben würden. Die Einheit des einzigen Gottes ist – genauso wie bei den Mu>taziliten – die logische und ontologische Garantie der Einstimmigkeit, Ordnung und Nicht-Widersprüchlichkeit der Schöpfung: Sie allein beweist – entsprechend dem 10. Buch der Gesetze – die Gerechtigkeit Gottes. Eine solche Einheit, die nicht aus Bestandteilen zusammengesetzt ist, obwohl sie Garantie und Grundlage für die Existenz der einzelnen Seienden ist, impliziert die Notwendigkeit, die Idee der Materialität aus dem Begriff Gottes auszuschließen: Die Einheit beweist als ihre Konsequenz die Gerechtigkeit Gottes und nicht seine Teilhabe an der Welt der Konkretheit. Das könnte an die Position der Ash>ariten erinnern, für welche die anthropologischen Ausdrücke im Qur’an als solche ohne weitere Spezifizierungen akzeptiert werden müssen. Im Gegensatz dazu versucht Maimonides, wie auch Al-Basir im 14. Kapitel von al-Muhtawi, die anthropomorphen Attribute Gottes von seiner Einheit zu unterscheiden. Hierzu liest man im dritten Glaubensartikel: „Die dritte Grundlehre betrifft den Ausschluß der Körperlichkeit in Bezug auf Ihn. Das heißt, daß jener EINE weder ein Körper ist noch eine Kraft in einem Körper, und daß ihm Eigenschaften der Körper wie die Bewegung und das Ruhen nicht zukommen, weder von seiten des Wesens noch als Akzidens. Darum ver-
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Al-Basîr, Al-Kitâb al-Muötawî, op. cit., S. 123. Übersetzung von F. Y. A. J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 399.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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neinten sie (die Weisen) – Friede über ihnen! – in Hinblick auf Ihn auch Verbindung und Trennung […]. So klingt (zwar) auch all das, was in den Heiligen Schriften an Beschreibungen mit körperlichen Attributen vorkommt, wie Gehen und Stehen, Sitzen und Reden und dergleichen, aber das ist alles übertragene Rede, wie auch (die Weisen) gesagt haben (bBer 31b): [hrvt hrbd ,dX ynb ]v>lb ] Die Torah spricht in der Sprache der Menschen“; und überhaupt hat man [Leute78] über dieses Kapitel schon viel gesagt. Auf diese dritte Grundlehre weist hin, was da gesagt ist (Dtn 4,15): [Xl yb hnvmt lb ,tyXr ] Aber keinerlei Bild habt ihr gesehen; das heißt: Ihr habt Ihn nicht als bildliche Erscheinung79 wahrgenommen, entsprechend dem, daß Er wie wir gesagt haben, kein Körper ist und auch keine Kraft in einem Körper.“80
Die Körperlichkeit impliziert Materie und Form, damit einen Dualismus, der mit der Einheit Gottes kollidiert. Die Notwendigkeit, einen solchen Artikel hinzuzufügen, ist mit der Tatsache verbunden, dass viele jüdische (darunter auch karäische) Bewegungen als Konsequenz des ash>aritischen Einflusses daran glaubten, dass ein Jude die buchstäbliche Bedeutung der Heiligen Schrift verteidigen müsste. Selbstverständlich benutzt die Hebräische Bibel Ausdrücke, die für die endliche Vernunft des Menschen verständlich sind, deren Bedeutung und Gebrauch aber nicht der Sprache des Menschen entsprechen. Die meta-linguistische Bedeutung der Hebräischen Bibel, auf die sich Maimonides an dieser Stelle bezieht, gestattet uns, Zeugung und Verweisung bei Gott auszuschließen: Nach der Maimonidischen Interpretation ist Gott außerhalb der Zeit und außerhalb der Geschichte. In der Antike hatten Platon und Aristoteles zwei unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich der Schöpfung der Welt. Platon war der Meinung, dass Gott die Welt aus einer materiellen Substanz schuf. Die Welt hat also einen Anfang in der Zeit, und die Zeit selbst ist eine Schöpfung Gottes, aber die Welt wird kein Ende haben. Im Gegensatz dazu lehnt Aristoteles die ganze Lehre der Schöpfung ab: Für ihn ist die Welt ko-existent mit Gott und ewig, aber sie ist von Gott als erster Ursache abhängig. Diese zwei unterschiedlichen Positionen übten großen Einfluss auf die jüdische mittelalterliche Philosophie aus, obwohl sich die Rabbinen sowohl Platon als auch Aristoteles entgegenzustellen scheinen: In der rabbinischen Literatur ist nur Gott ewig, und die Welt ist seine Schöpfung. Maimonides, der sich mit diesem Problem vor allem im zweiten Teil des Moreh ha-Nevukhim lange beschäftigt, scheint die Position von Platon hinsichtlich der Ewigkeit der Welt zu teilen, allerdings mit einem wesentlichen
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Das judäo-arabische Wort ,XnlX (‚Leute, Menschen‘) wurde mit ,ymkxh (‚die Weisen‘) ins Hebräische übersetzt. Zu diesem Problem kehrt Maimonides im ersten Kapitel des ersten Buchs von seinem Moreh ha-Nevukhim zurück, wenn er vom Menschen als Abbild Gottes spricht. Ibidem, S. 399f.
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Pereq Heleq und der Messias
Unterschied: Für Maimonides gibt es keine materielle Substanz, aus der Gott die Welt schuf. Im vierten Glaubensartikel beschäftigt sich Maimonides mit dieser Problematik nicht in bezug auf die Schöpfung der Welt, sondern auf die Zeitlichkeit Gottes. Dieses Thema findet man nicht in den Glaubensartikeln der islamischen und der karäischen Tradition, und in der kurzen Darstellung des vierten Glaubensartikels in Pereq Heleq bleiben viele Fragen offen. Auf welchen Begriff von Zeit bezieht sich Maimonides in Pereq Heleq? Oder besser: auf welchen Begriff von Ewigkeit? Im vierten Glaubensartikel sind beide Begriffe voneinander unabhängig: Die Ewigkeit Gottes ist außerhalb der Zeit, sonst müsste man Änderung und Korruption in den Begriff Gottes einfügen. Die Zeit in ihrer unendlichen Folge von Momenten charakterisiert die Ewigkeit der Welt, die aber ontologisch von der göttlichen getrennt und völlig unterschieden ist. Nur die Ewigkeit der Welt kennt Änderung, Korruption, Degeneration und Transformation, während die Ewigkeit Gottes als unendliches Wesen außerhalb dieses Flusses (und damit auch außerhalb der Geschichte) ist. Ich bin der Meinung, dass auch der fünfte Glaubensartikel als ‚metaphysisch-ontologisch‘ betrachtet werden muss, obwohl sein Inhalt nicht explizit das Wesen Gottes, sondern das Verbot der Idolatrie betrifft: „Die fünfte Grundlehre besteht darin, daß es sich geziemt, Ihm – erhoben werde er! zu dienen, ihn groß zu nennen und seine Größe kundzutun und Seine Gebote zu erfüllen, und daß man es nicht so hält mit etwas, das existenzmäßig unter Ihm steht, (etwa) von den Engeln, (den Sternen), den Sphären und den Elementen, oder was aus diesen zusammengesetzt ist. Denn diese alle sind in bezug auf ihre Tätigkeiten naturbestimmt, und ihnen kommt keine Urteilsfähigkeit und keine Wahlfreiheit zu, sondern nur allein Ihm – erhoben werde Er! Daher geziemt es sich auch nicht, sie zu verehren als Vermittler, sondern nur auf Ihn – erhoben werde er! – allein soll man die Gedanken richten, und alles außer acht lassen, was unter ihm ist. Diese fünfte Grundlehre wird angezeigt in dem Verbot des Fremdenkultes, und in bezug auf sie ermahnt der größte Teil der Torah.“81
Louis Jacobs82, Alexander Süsskind83, Max Friedländer84 und Zwi Werblowsky85 sind der Meinung, dass dieser Glaubensartikel sich nur auf die Wirksamkeit und den Inhalt des Gebets fokussiert: Nachdem man den Glauben an den einzigen, immateriellen und ewigen Schöpfer und Gesetzgeber festgestellt hat, muss man bekennen, dass man daran glaubt, dass nur Gott imstande ist, den Inhalt der Gebete zu hören und zu erfüllen. Deswegen beto-
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Ibidem, S. 400. Louis Jacobs, Principles of Jewish Faith, op. cit. Alexander Süsskind, Yesod we-Shoresh ha-Habodah, Jerusalem 1972. Max Friedländer, The Jewish Religion, London 19002. Zwi Werblowsky, Magie, Mystik, Messianismus: vergleichende Studien zur Religionsgeschichte des Judentums und des Christentums, Hildesheim 1997.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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nen die obengenannten Gelehrten die folgenden drei Aspekte als wichtigste Punkte des vierten Glaubensartikels: 1) Gott muss verehrt werden; 2) Gott ist nicht durch eine vermittelnde Gestalt zu verehren; 3) kein weiteres Wesen darf verehrt werden. Zwar sind alle diese Elemente im vierten Glaubensartikel enthalten, aber ich bin der Meinung, dass hier auch ein metaphysisch-ontologischer Aspekt der >avodah (Gottesdienst) eine zentrale Rolle spielt, ein Aspekt, der aus der ash>aritischen und karäischen Lehre stammt: Warum dürfen andere Wesen nicht verehrt werden? Die Antwort von Maimonides ist deutlich: weil die anderen Wesen (Engel, Sphären usw.) keinen freien Willen und keine Urteilskraft haben. Es ist bereits gezeigt worden, wie der menschliche freie Wille bei den Ash>ariten abgelehnt wird. Gott erschafft nur die Handlungen, die jeder Mensch dann erwerben soll: Die Handlung ist Gottes Schöpfung, genauso wie die Macht des Individuums zum Handeln. Jede Handlung des Menschen wird bereits von Gott durch seine absolute und unbegrenzte Macht in potentia geschaffen, deswegen ist die Handlung des Menschen nur Ausdruck dieser Macht, deren leitender Wille unerforschlich ist. Die Freiheit des Menschen würde eine zweite Macht in der Schöpfung bedeuten, welche mit der Konzeption der Einzigkeit Gottes unvereinbar ist. Darüber hinaus würde die Freiheit des Menschen ein Element von Unwissenheit in die allmächtige Kenntnis Gottes einführen, weil er nicht mehr vorhersehen könnte, wer sich auf das Gute und wer sich auf das Böse ausrichten wird. Die Gerechtigkeit Gottes wäre nicht mehr mit seiner Kenntnis gleich, und das würde ein Element von Unvollkommenheit im Wesen Gottes bedeuten. Im vierten Glaubensartikel des Pereq Heleq scheint Maimonides eine Lösung für dieses Problem vorzuschlagen: Der Wille Gottes kann nur durch das Gebet und die >avodah erfahren werden. Das Gebet wird zur einzigen Möglichkeit, den freien Willen Gottes zu erfahren; nur durch das Gebet und durch die >avodah als Vollbringung der Vorschriften und der Glaubensartikel hat man nämlich die Möglichkeit, seine Handlung zum Guten zu orientieren. Das Problem, wie der menschliche freie Willen mit dem freien Willen Gottes, und das Problem, wie die Lehre von der Rettung mit der Gerechtigkeit Gottes (Themen, mit denen sich schon die Gegner der Ash>ariten lange beschäftigten) zusammenpasst, tauchen in den letzten drei Glaubensartikeln wieder auf. Sind also die Artikel sechs bis neun ein Fremdkörper, eine Zäsur in der Maimonidischen Argumentation, oder sind sie auch mit dem Problem des freien Willens und der Urteilskraft Gottes verknüpft? Meines Erachtens besteht unter diesen Themen dieselbe theologisch-philosophische Verbindung, die man bereits in Al-Basir Werk al-Muhtawi finden kann. Das Problem des göttlichen Willens ist der Verbindungspunkt zwischen tauhid (im 16. und im 17. Kapitel des al-Muhtawi, die den Glaubensprinzi-
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Pereq Heleq und der Messias
pien des Willens und der Autarkie Gottes gewidmet sind, zeigt sich die Koexistenz von mu>tazilitischen und ash>aritischen Elementen im Denken von Al-Basir, wobei seine Argumentation eine deutliche Präferenz für die mu>tazilitische Akzentuierung der menschlichen Freiheit erkennen lässt) und >adl (Gerechtigkeit Gottes): Gott als einziges Sein hat unserem Bewusstsein (ash>aritisches Element) einen Willen gegeben, damit wir (mu>tazilitische Hervorhebung der Freiheit des Menschen) in potentia sein Gesetz, ausgehend vom Beweis seiner Vernünftigkeit, respektieren können. Einerseits haben wir die Garantie, dass der Mensch willkürlich handeln kann, und andererseits die vernünftige Begründbarkeit seiner Unterwerfung (auf Arabisch: taklif) unter das göttliche Gesetz (diese Themen werden vor allem im 37. und 38. Kapitel des al-Muhtawi untersucht). Wenn der Mensch nicht die Freiheit zum Ungehorsam hätte, wäre die Lehre von Strafe und Belohnung vollkommen sinnlos, aber andererseits stellt diese Freiheit Fragen an die Gerechtigkeit Gottes, die von Vajda wie folgt zusammengefasst worden sind: „[S’] il [der Mensch] est libre d’obéir et de désobéir, choix dont le résultat échappe à la puissance, mais non à la science de Dieu, l’Auteur de toutes choses est-il en droit d’imposer à sa créature une loi dont l’inobservance éventuelle précipiterait l’assujetti dans sa perte?“86
Die Argumentation von Al-Basir, die eine Harmonisierung unter den verschiedenen mu>tazilitischen Positionen der Schulen von Baghdad und von Basra zu erreichen versucht, kann in vier Schritten zusammengefasst werden: 1) Der Mensch ist frei, da er sonst für seine Handlungen nicht als verantwortlich gelten könnte. 2) Als Konsequenz dieser Freiheit sind seine Handlungen außerhalb der Macht, aber nicht außerhalb der Kenntnis Gottes. 3) Entspricht es der Gerechtigkeit Gottes ausgehend von diesen Prämissen, dass der Mensch, von dem Gott weiß, dass er aufgrund seiner Schwäche ungehorsam sein wird, trotzdem zu strafen ist? 4) Wieso legt Gott nicht aufgrund seiner Allmacht den taklif (‚göttliche Verpflichtung‘) fest, damit alle Menschen gerettet werden können? Die Antwort auf diese letzte Frage liegt in der Natur des taklif selber: Es handelt sich nicht um einen despotischen Akt eines Schöpfers, der durch eine Setzung die Freiheit seiner Geschöpfe annullieren würde. Der taklif ist die geschaffene und prä-existierende Möglichkeit, durch die Vernunft das Gute und das Böse (hasan/qabih) zu begreifen. Das Problem, das der taklif für die allmächtige Erkenntnis Gottes bedeutet, wird von Al-Basir nicht untersucht: Wenn der taklif eine Möglichkeit ins Gesetz Gottes einführt, näm-
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Ibidem, S. 397f.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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lich die Möglichkeit des Ungehorsams, kann Gott nicht vorhersehen, wer Gläubiger und wer Ungläubiger sein wird. Im Gegenteil, wenn Gott das schon wüsste, wäre die menschliche Freiheit nur Schein, weil ein Mensch, der zum Unglauben prädestiniert wäre, nicht die Möglichkeit der Umkehr und der Rettung hätte. Das von Al-Basir eingeführte Prinzip der „assistance bienveillante“87 („wohlwollender Beistand“, 35. Kap.) Gottes im menschlichen Handeln ist konzeptuell zu schwach, um diese Schwierigkeit zu lösen, und vor allem antwortet es nicht auf die fundamentale Frage, die sowohl im mu>tazilitischen als auch im ash>aritischen theologischen Milieu eine zentrale Bedeutung hat, nämlich die Frage nach dem ‚erfolglosen‘ Leiden des Gläubigen, der sich trotzdem dem taklif unterwirft. Al-Basir schreibt diesbezüglich: „Früher haben wir festgestellt, dass Gott, indem er den Unterworfenen in die Lage versetzt, den Vorteil [bezüglich seines Handelns] zu verwirklichen, zugleich eine Verpflichtung übernommen hat, von der man nicht bestimmen kann, dass sie ihm zufallen würde, wenn er ihn [diesen Vorteil] aus großzügiger Initiative gewährt hätte. Aber sobald Gott aus Großzügigkeit den Menschen dem göttlichen Gesetz [tafaüü ala bil-taklîf] unterwirft, muss Gott wohlwollenden Beistand leisten und hat die Pflicht, den gehorchenden Unterworfenen zu belohnen. Somit ist die Unterwerfung ein Akt der Großzügigkeit, und der wohlwollende Beistand ist ein Akt moralischer Pflicht; durch diesen Akt der Großzügigkeit werden wohlwollender Beistand und Belohnung Gott als verpflichtende Akte auferlegt. Wenn Gott nicht diesen Beistand leistete, würde er das Ziel der Unterwerfung verfehlen, und wenn Gott den Menschen nicht belohnte, würde er mit Ungerechtigkeit seinem Diener gegenüber handeln. […] Wenn Gott die Initiative ergreift, den Menschen zu schaffen, ihm das Gesetz aufzuerlegen und ihm die Macht zu geben, vom angestrebten Objekt Besitz zu nehmen, handelt Gott aus einer Großzügigkeit, welche die menschliche Dankbarkeit verdient.“88
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So übersetzt Vajda das arabische Wort lutf. Dieses Wort bezeichnet genau „l’acte qui engage l’assujetti à accomplir ce qui lui est imposé, qui [le devoir à accomplir] soit avantageux ou dommageable ou ni l’un ni l’autre. Il y a là une application particulière du sens général du mot. En effet, lorsq’un (père) bat son enfant afin d’obtenir de lui qu’il fasse ce qu’il désire, cela ne s’appelle pas lu©f ; ce terme convient au contraire lorsqu’il s’y prend en faisant à l’enfant de belles promesses, en lui parlant avec gentilesse, en le traitant affectueusement, en lui souriant. Du moment que le détriment engage parfois à l’acte tout comme le fait l’avantage et que la menace peut servir de motif au même titre que la promesse, les Mutakallimûn qualifient tout cela comme étant lu©f, puisqu’il est connu que, soutenu par lui, l’assujetti ne laissera pas d’obéir. Le lu©f est en même temps expédient, car même s’il est détriment, il a le statut d’avantage du moment qu’il conduit à l’avantage immense [die ‚beatitudo aeterna‘]. Voilà pourquoi nous ne devons pas appliquer sans réserve le terme détriment aux maladies, étant donné qu’elles sont [le cas échéant] lu©f, contrairement à ce que nous faisons pour le châtiment [éternel] qui est [, lui,] pur détriment. Lorsque la maladie est lu©f, elle est, sous cet aspect, utile et expédiente, car on en profite plus qu’on n’en souffre“; (David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muötawî de Yûsuf al-Basîr, Texte, Übersetzung und Kommentare von Georges Vajda, op. cit., S. 502f.) Ibidem, S. 512f. Übersetzung von F. Y. A.
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Pereq Heleq und der Messias
Für meine Untersuchung ist es nicht relevant, die offenen ethisch-theologischen Probleme der Lehre von lutf und taklif zu behandeln, sondern zu zeigen, dass Al-Basir diese Lehre im 36. Kapitel seines Werks mit der politischen Mission der Propheten verknüpft: „Durch die Gabe seines wohlwollenden Beistands zielte Gott auf das Gute der Menschen, da dieses Ziel (für ihn) verpflichtend ist, und zwar durch die Sendung der Propheten, gemäß dem, was er für sie als heilsam kannte. Das ‚Beste‘ (’aslaö) ist somit im Bereich der Religion obligatorisch. Das ist der Grund, warum man zwischen zwei Taten, von der eine für eine einzige Gruppe von Menschen und die andere für mehrere Gruppen gut ist, auf die erste Tat verzichten muss, um vielmehr die zweite zu verwirklichen, weil sie die gesündeste [für die größte Menschenzahl] ist. Wiederum ist das ‚Beste‘ in bezug auf die profane Welt nicht verpflichtend. Aus diesem Grund – wenn nur ein Teil des Volks von der Aufgabe des Propheten profitiert, während das ganze Volk von der Aufgabe eines anderen Propheten profitieren könnte, hat Gott nicht das Recht, die Aufgabe dieses zweiten Propheten beiseite zu lassen. Vielmehr muss Gott zunächst diese Aufgabe verwirklichen [bzw. verwirklichen lassen], weil das von ihr angestrebte Ziel das vollkommenste ist.“89
In diesem Kapitel führt Al-Basir eine wichtige Differenz zwischen der von der Vernunft diktierten Unterwerfung und der von der Offenbarung diktierten Unterwerfung an. Der mu>tazilitische Unterschied zwischen geoffenbarten und vernünftigen Prinzipien wird von Al-Basir auf die Lehre des taklif angewendet, um die Unterwerfung der Propheten von dem der anderen Menschen zu unterscheiden: Der taklif ist nicht nur moralisch gut, sondern auch verbindlich. Diese Unterwerfung ändert in der Tat nicht nur das Leben des betroffenen Menschen, sondern das Leben einer ganzen Gemeinde, weshalb die Freiheit der Propheten stärker eingeschränkt sein muss als die Freiheit der anderen Menschen. Aus diesem Grund schreibt Al-Basir: „[…] Außerdem zeigt der Prophet durch sein Verhalten den Verzicht und die Abwendung (zuhd, inqi©â’) von allen Vorteilen und aller Pracht der Welt und erlegt [dem Geist] auf, dass sein Ziel der Vorteil derjenigen ist, zu denen der Prophet gesandt worden ist, oder zumindest ist diese die Vermutung [des prophetischen Verhaltens]. Das verpflichtet die Empfänger seiner Botschaft dazu, die Ehrlichkeit seiner Botschaft zu vermuten, und diese Vermutung zwingt sie zum Nachdenken, weil sie wissen, dass das Nachdenken über sein Zeichen – wenn der Prophet wahrhaft ist – ihnen ein sicheres Wissen über seine Wahrhaftigkeit vermitteln wird. Das ist der Grund, warum diese Empfänger nicht das Recht haben, an der Vermutung festzuhalten, wenn das sichere Wissen in ihrer Reichweite ist.“90
Genauso wie für Maimonides in Pereq Heleq und in der Einführung zu seinem Kommentar zur Mishnah stellt sich für Al-Basir nicht nur das Problem des Sonderstatus der Propheten und der für die Gemeinde gegebenen Notwendigkeit, sein Wort zu hören, sondern vor allem das Problem, die Zeichen
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Ibidem, S. 517. Ibidem, S. 521f. Übersetzung von F. Y. A.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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der Propheten durch die nazar zu überprüfen, damit die Wahrhaftigkeit der prophetischen Botschaft begründet werden kann und die Gemeinde nicht zum Opfer eines falschen Propheten wird. Al-Basir behauptet sogar91, dass die Anwendung des nazar für die Anerkennung der echten Prophetie genauso wichtig ist, wie sie es für die Erkenntnis Gottes ist. Als Begründung einer solchen Behauptung nennt Al-Basir das Beispiel von Moses (und Maimonides widmet der Besonderheit der Mosaischen Prophetie den siebten Glaubensartikel in Pereq Heleq); aufgrund dieses Beispiels ist es allerdings nicht möglich, den Moses von Maimonides an dieser Stelle zu erwähnen, weil sich Al-Basir auf andere Werke von ihm bezieht, die wahrscheinlich verlorengegangen oder noch nicht entdeckt worden sind: „Wir wissen […], dass [Moses] – möge der Friede mit ihm sein – die Eigenschaft der Propheten beanspruchte; er lud die israelitische Nation dazu ein, seine prophetischen Zeichen zu überprüfen, er erklärte seine Gegner zu Ungläubigen und behauptete, dass ihre Bestrafung seine Wahrhaftigkeit sowie die vollständige Echtheit seiner Aufgabe erkennen lassen wird. Anderswo haben wir bereits die Methode erklärt, die uns gestattet, von der Echtheit der mosaischen Wunder überzeugt zu sein.“92
Ausgehend vom Zusammenhang dieses Kapitels von al-Muhtawi, könnte man vielleicht ableiten, dass die Prophetie des Moses nach Al-Basir aus zwei Gründen die wahrhaftigste schlechthin ist: Moses beansprucht die rationale Prüfung seiner Botschaft (nämlich die rationale Prüfung des göttlichen Gesetzes) und hebt die Strafe als Instrument Gottes hervor, um seinen Willen zu manifestieren. Da die Prophetie des Moses nicht durch weitere Bestimmung beschrieben wird, ist eine ausführliche Analyse hier nicht möglich. Es ist wichtig, hervorzuheben, dass die Strafe als Instrument für die Manifestation des Willens Gottes auch am Schluss von al-Muhtawi eine wichtige Rolle spielt; hier versucht Al-Basir die vernünftige Begründbarkeit und die Berechtigung der Strafe (istihqaq al->iqab) in bezug auf die Lehre der ausgleichenden Gerechtigkeit und auf die Pflicht zur Reue (taub) zu beweisen: „Wir wissen aufgrund zwingenden Wissens, dass das Böse Tadel verdient, und wir wissen aufgrund gleichermaßen zwingenden Wissens, dass die Reue das Böse auslöscht und aufhören lässt. Wir haben bewiesen, dass dieses ein Zeichen der Legitimität der Bestrafung ist. Ebenso [haben wir bewiesen, dass] unsere Annahme dieser Legitimität das Wissen verpflichtenden Charakter der Reue impliziert. […] Wenn wir dieselben Gefühle bezüglich der Strafe empfinden und wenn wir [durch sicheres Wissen] wissen, dass die Reue uns davon fernhält, muss die Reue genauso wie die rationale Reflexion verpflichtend sein.“93 91 92 93
Ibidem, S. 523. Ibidem, S. 523. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 548.
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Pereq Heleq und der Messias
In der engen Verbindung zwischen Einzigkeit Gottes, göttlichem bzw. menschlichem freiem Willen, Gerechtigkeit Gottes und politischer Funktion der Prophetie im al-Muhtawi zeigt sich dieselbe Denkstruktur, die man ab dem sechsten Glaubensartikel in Pereq Heleq findet.
5.3 Legalistische bzw. politische Glaubensartikel Die Glaubensartikel 6 bis 9 (6. die Prophetie; 7. Glaube an Moses als den größten Propheten; 8. Glaube an den göttlichen Ursprung des Gesetzes [Torah]; 9. Torah als ewig und unverändbar) stellen die politische und gesetzliche Grundlage für das Verständnis derjenigen Glaubensartikel dar, welche die Gerechtigkeit Gottes, das menschliche Handeln, die Lehre von Strafe und Belohnung sowie die Tage des Messias betreffen. Die politische Bedeutung der Glaubensartikel über die Prophetie kann besser gezeigt werden, wenn man ihren Inhalt mit der Einführung von Maimonides zum Mishnah-Kommentar94 vergleicht. Eine solche Untersuchung ist wichtig, um auch die politische Bedeutung des Glaubens an Moses, an den göttlichen Ursprung des Gesetzes und an die Ewigkeit und Unveränderbarkeit der Torah zu begreifen. An dieser Stelle möchte ich nicht Mishneh Torah und Moreh haNevukhim hinsichtlich des Problems der Prophetie und der Bedeutung der Prophetie Moses’ vergleichen: Diese Untersuchung wurde bereits von zahlreichen Gelehrten95 durchgeführt, und betrifft vor allem nicht den Hauptzweck meiner Analyse, nämlich die politische Funktion der Prophetie und der Tage des Messias innerhalb von Pereq Heleq herauszuarbeiten. 94 95
Fred Rosner (Hrsg,), Maimonides’ Introduction to his Commentary on the Mishnah, Northvale 19952. Vgl.: Howard Kreisel, Prophecy. The History of an Idea in Medieval Jewish Philosophy, Dordrecht 2001, im besonderen, S. 167ff.; Giuseppe Laras, La dottrina di Maimonide sulla profezia, in: Cristianesimo nella storia 17,2 (1996), S. 335–347; Youde Fu, Maimonides on Prophecy. Synthesis and reconciliation, in: Journal of Progressive Judaism 3 (1994), S. 15–38; David Banak, Maimonides on Prophecy, Northvale 1991; Bohumil Surmar, Die Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten. Eine Untersuchung aufgrund der Lehre des Rabbi Moses Maimonides auf dem Hintergrund der rabbinischen Lehren, der griechischen und arabischen Philosophie und der Prophetologie des Islam, Bern u.a. 1986; Kalman P. Bland, Moses and the Law According to Maimonides, in: Jehuda Reinharz/Daniel Swetschinski (Hrsg.), Mystics, Philosophers, and Politicians. Essays in Jewish Intellectual History in Honor of Alexander Altmann, Durham 1982, S. 49–66; Alexander Altmann, Maimonides and Thomas Aquinas: Natural or Divine Prophecy?, in: AJS Review 3 (1978), S. 1–19; Menachem Kellner, Maimonides and Gersonides on Mosaic Prophecy, in: Speculum 52 (1977), S. 62–79; Alvin J. Reines, Maimonides’ Concept of Mosaic Prophecy, in: HUCA 40 (1969), S. 325–361; Jacob Levinger, Maimonides and Abrabanel on Prophecy, Cincinnati 1970; ders., Die Prophetie von Moses nach der Lehre von Maimonides, in: Proceedings of the Fourth World Congress of Jewish Studies, 2. Bd., Jerusalem 1968, S. 335–342 (Aufsatz auf Hebräisch); Alvin J. Reines, Maimonides’ Concept of Mosaic Prophecy, in: HUCA 40 (1969), S. 325–361.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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Im sechsten Glaubensartikel liest man: „Die sechste Grundlehre betrifft die Prophetie. Das heißt: Man soll erkennen, daß es eine Art von Menschen gibt mit überragenden Anlagen und Verhaltensweisen und von großer Vollkommenheit, so daß deren Seelen schließlich bereit sind, die Form des Intellekts anzunehmen und darnach dieser menschliche Intellekt mit dem Aktiven Intellekt in Verbindung tritt, der von sich aus auf ihn seinen hohen Einfluß ausübt. Das sind die Propheten, das ist die Prophetie, und das ist ihr Wesen. Eine vollständige Erläuterung dieser Grundlehre wäre sehr langwierig, und es steht nicht in unserer Absicht, für jeden einzelnen Lehrsatz daraus einen Beweis zu erbringen oder eine Erklärung des Wesens ihrer (nämlich der Prophetie) Erlangung, weil dies den Einschluß sämtlicher Wissenschaften bedeuten würde; wir werden sie lediglich nebenbei mitteilend erwähnen. Von den Stellen der Heiligen Schriften legen viele Zeugnis ab über die Prophetie der Propheten.“96
Nach einer ersten Lektüre scheint dieser Glaubensartikel nicht nur keine Beziehung zur politischen Dimension der Prophetie zu haben (hier wird weder die Mitteilung einer Botschaft von Gott an den Propheten noch überhaupt eine prophetische Mission erwähnt), sondern er scheint auch für die große Zahl der Gläubigen unverständlich zu sein.97 Begriffe wie ‚Emanation‘, ‚aktiver Intellekt‘ usw. gehören zur aristotelischen und neoplatonischen Philosophie, aber sie haben keine Basis in der Hebräischen Bibel bzw. in der rabbinischen Tradition. Nach Maimonides ist die Prophetie eine Form der Vollkommenheit des menschlichen Intellekts, die eine bestimmte Prädisposition und bestimmte Fähigkeiten verlangt.98 Erst im zweiten Teil dieses Glaubensartikels versucht Maimonides, die Massen zu beruhigen: Die Prophetie wird so häufig in der Torah erwähnt, dass es nicht möglich ist, alle Erwähnungen zu zitieren; ihre häufige Präsenz in der Hebräischen Bibel ist der beste Beleg für ihre Legitimität als Glaubensartikel. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass für das Verständnis der Prophetie bei Maimonides wissenschaftliche Kenntnisse notwendig sind. Vielleicht erwähnt Maimonides auch deswegen das Wort ‚Glauben‘ nicht in diesem Glaubensartikel, so wie dieses Wort auch hinsichtlich der Ewigkeit und Unveränderbarkeit der Torah fehlt. 96 97
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J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 400. Zu den ‚zwei Ebenen‘ von Pereq Heleq – das Werk wendet sich zugleich an die Massen und an die Philosophen – vgl.: Eliezer Schweid, Halevi and Maimonides as Representatives of Romantic versus Rationalistic Conceptions of Judaism, in: Eveline Goodman-Thau et al. (Hrsg.), Kabbalah und Romantik, Tübingen 1994, S. 279–292, und Barry Mesch, Principles of Judaism in Maimonides and Joseph ibn Caspi, in: Jehuda Reinharz/Daniel Swetschinski (Hrsg.), Mystics, Philosophers, and Politicians, op. cit., S. 85ff. Im Gegensatz zu Yehuda ha-Lewi, für den die Prophetie eine ausschließliche Charakteristik des jüdischen Volks ist (er wollte mit einer solchen Argumentation die Autorität des Christentums diskreditieren), ist die Prophetie nach Maimonides für jeden Menschen mit den geeigneten intellektuellen Fähigkeiten erfahrbar. Die Universalität des menschlichen Verstandes ist bei Maimonides wichtiger als ‚nationalistische‘ Auseinandersetzungen mit den anderen monotheistischen Religionen.
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Ich stimme Howard Kreisel zu, dass diese Definition der Prophetie bei Maimonides von Al- Farabis Interpretation der Offenbarung stark beeinflusst wurde, und genau dieser Einfluss gestattet es uns, den politischen Hintergrund des sechsten Glaubensartikels deutlich zu machen. In Alfarabis Der Musterstaat liest man diesbezüglich: „Der ohne Einschränkung oberste Herrscher ist derjenige, der niemanden benötigt, um ihn irgendwie zu regieren, sondern tatsächlich die Wissenschaften und jede Art von Wissen erworben hat und keines Menschen bedarf, ihn irgend anzuleiten […]. Er ist in der Lage, alle anderen zu allem anzuleiten, in dem er sie unterrichtet, alle dazu einzusetzen, die Handlungen ausführen, für die sie ausgestattet sind, und diese Handlungen zu bestimmen, festzulegen und auf die Glückseligkeit auszurichten. Dies kann nur in demjenigen gefunden werden, der große und ausgezeichnete natürliche Veranlagungen hat, wenn seine Seele in Verbindung (ittisal) mit dem Aktiven Intellekt ist. Er kann dies nur erlangen, indem er zuerst den passiven Intellekt erwirbt, dann den so genannten „erworbenen“ Intellekt […]. Denn der Mensch erhält die Offenbarung (wahy) nur, wenn er diesen Grad erreicht, dass heißt, wenn es keine Vermittlung mehr zwischen ihm und dem Aktiven Intellekt gibt: denn der passive Intellekt ist wie Materie und die Basis für den erworbenen Intellekt, und der letztere ist wie Materie und die Basis für den Aktiven Intellekt. Dann strömt die Kraft, die es dem Menschen ermöglicht zu verstehen, wie die Dinge und Handlungen festzulegen und auf die Glückseligkeit auszurichten sind, vom Aktiven Intellekt zum passiven Intellekt. Diese Emanation erfolgt vom Aktiven zum passiven Intellekt durch die Vermittlung des erworbenen Intellektes, das ist Offenbarung. Weil nun der Aktive Intellekt von dem Wesen der ersten Ursache ausströmt, kann aufgrund dessen gesagt werden, dass die erste Ursache diesem Menschen Offenbarung durch die Vermittlung des Aktiven Intellektes zukommen lässt. Die Herrschaft dieses Menschen ist die höchste Herrschaft; alle anderen Formen menschlicher Herrschaft sind ihr untergeordnet und von ihr abgeleitet. Dies ist sein Rang.“99
Der Prophet bei Maimonides hat im Wesentlichen dieselben Eigenschaften wie der Gesetzgeber bei Alfarabi: Er ist mit dem aktiven Intellekt verbunden und ist deshalb imstande, die anderen Menschen zu führen, weil er den Inhalt der Glückseligkeit und die Mittel zu ihrer Verwirklichung dank dieser Verknüpfung kennt. Diese Verbindung hat mit wundertätigen Wirkungen Gottes auf den Menschen nichts zu tun: Es handelt sich nicht um ein vom unerforschlichen Willen Gottes ausgehendes Wunder, das einen ausgewählten Menschen beträfe, sondern die Prophetie ist mit der intellektuellen Entwicklung des Individuums verbunden. Nach der Konzeption der arabischen Aristoteliker, auf die sich Maimonides im Pereq Heleq deutlich bezieht, gibt es zehn Intelligenzen, nämlich zehn immaterielle Seiende, durch die Gott seine Kontrolle auf das Universum ausübt. Jede Intelligenz besitzt eine Sphäre, und die niedrigste ist die des aktiven Intellekts (auf Hebräisch: sek99
Vgl.: Ralph Lerner/M. Mahdi (Hrsg.), Medieval Political Philosophy: A Sourcebook, Ithaca 1972, S. 36f. Übersetzung von F. Y. A.
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hel ha-po>el), eine Sphäre der materiellen Welt, aus der die menschliche Seele entsteht. Zunächst aber hängt die Seele des Menschen von seinem Leib ab, weshalb seine rationalen Fähigkeiten eine Entwicklung durch die intellektuelle Wahrnehmbarkeit benötigen. Durch die allmähliche Befreiung vom Leib kann die Seele mit dem ursprünglichen aktiven Intellekt wieder vereinigt werden: An diesem Punkt hat der Mensch die Stufe der Prophetie erreicht und ist imstande, eine führende Position innerhalb der Gemeinde einzunehmen. Der Ausschluss des Wunders aus der Prophetie ist bereits in der Einführung zum Perush ha-Mishnah betont, in welchem das Wunder als Merkmal der Prophetie sogar als Idolatrie bezeichnet wird.100 Als Strafe für die Prophetie als Idolatrie schlägt Maimonides sogar die Hinrichtung vor: Der Grund für solch eine radikale Strafe ist aber meines Erachtens nicht die Sünde der Idolatrie, sondern die Tatsache, dass ein solcher Prophet das gemeinschaftliche und politische Leben der ganzen Gemeinde gefährden kann. Maimonides schreibt diesbezüglich: „Wir sollten weder seinen [des vermutlichen Propheten] Anspruch auf Prophetie untersuchen, noch sollten wir ihn um ein Wunder bitten. Selbst wenn er wundersamere Wunder vollbrächte als wir jemals gehört haben, um seine Prophetie zu begründen, sollte er dennoch durch Strangulierung bestraft werden. Man sollte diese Wunder nicht beachten, weil der Grund für das Vorkommen dieser Wunder so ist, wie in der Schrift erwähnt: Denn der HERR, euer Gott, versucht euch (Deut. 13; 4). Denn das Zeugnis des Intellekts, welches diese Prophetie Lügen straft, ist verlässlicher als das Zeugnis des Auges, welches dieses Wunder sieht, weil es für intelligente Menschen klar ist, dass man niemand verehren oder anbeten sollte außer dem Einen, der alles Existierende verursacht und der Eine der einzig vollkommen ist [d.h. Gott].“101
Nach Maimonides müssen auch diejenigen Propheten hingerichtet werden, die zwar im Namen Gottes prophezeien, die aber danach streben, dem Gesetz etwas hinzufügen oder etwas zu streichen, ohne einen rationalen Grund dafür anzugeben. Tatsächlich wäre es falsch, zu glauben, dass sich Maimonides gegen die hermeneutische Interpretation des Heiligen Texts stellt: Ein solches Verhalten würde bedeuten, die ganze rabbinische Tradition, nämlich das mündliche Gesetz, abzulehnen. Selbstverständlich geht es Maimonides nicht darum, diese Tradition abzulehnen, sondern um die Ablehnung von Änderungen oder Interpretationsausrichtungen des Gesetzes, die keine Grundlage in der menschlichen Vernunft haben: „In euren Herzen bezieht sich auf Gesetze, die mithilfe logischen Herleitens durch Studium, welches eine der Fähigkeiten des Herzens ist, abgeleitet werden.“102 100 Fred Rosner (Hrsg.), Maimonides’ Introduction to his Commentary on the Mishnah, op. cit., S. 13f. 101 Ibidem, S. 15ff. Übersetzung von F. Y. A. 102 Ibidem, S. 17. Übersetzung von F. Y. A.
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Wer ist also der echte Prophet, dem die Gemeinde gehorchen muss? Nach Maimonides darf nur dem Propheten, dessen Taten der Überprüfung durch die Vernunft standgehalten haben, gehorcht werden: „[…] weil wir von der kleinsten bis zur größten Aufgabe alles befolgen müssen, was von jemand geboten wurde, dessen prophetischer Anspruch bewiesen ist. […] Die Begründung des Anspruchs eines Propheten wird so erreicht, wie ich hier beschreiben werde: wenn eine Person beansprucht, Prophet zu sein, wie wir es dargelegt haben, und er ist dafür geeignet, dass heißt, wenn er ein Mann des Lernens, der Rechtschaffenheit, Mäßigung, Weisheit und angenehmen Eigenschaften ist, wie es für uns grundlegend ist, denn Prophetie kann sich auf keinen anderen denn auf einen Mann stützen, der weise, stark und reich ist.“103
Diese Verwurzelung der Legitimität der Prophetie in der Vernunft ist auch das entscheidende Element, das den Propheten vom Astrologen und vom Wahrsager unterscheidet: Die Verkündigung der Wahrheit und nicht die Vorhersage zukünftiger Ereignisse ist die politische und soziale Aufgabe des Propheten, weshalb es dem echten Propheten sogar erlaubt ist, Änderungen in das Gesetz einzuführen (selbstverständlich wenn diese Änderungen rational begründbar sind), den Bruch des Gesetzes zu verlangen, Vorschriften abzuschaffen. Wenn er im Lichte der Vernunft und im Sinne der Vollbringung der göttlichen Aufgabe handelt, ist die ganze Gemeinde verpflichtet, auf sein Wort zu hören. Diese politisch-hermeneutische Funktion des Propheten stellt ihn nicht außerhalb des Gesetzes Gottes, vielmehr hat Gott ihm als ‚Instrument‘ für die Vollbringung dieses Gesetzes in den unterschiedlichen geschichtlichen Momenten des Gemeindelebens die Autorität gegeben, sein Gesetz zu interpretieren und den jeweiligen Situationen anzupassen: „Wenn die Prophetie eines Propheten zufolge der soeben errichteten Prinzipien erfüllt wird […], hat dieser Prophet das Recht, etwas mit der Torah zu tun, das kein anderer Mensch kann, wie ich erklären werde. Wenn er vorschreibt, eine Vorschrift der positiven Gebote abzuschaffen, oder wenn er verfügt, eine verbotene Sache der negativen Gebote [zeitlich, infolge besonderer Umstände] zu gestatten, obliegt es uns, all seine Worte zu befolgen. Und jeder der dieses Gebot übertritt, ist durch göttliche Verfügung des Todes schuldig […]. Diese Regel gilt nur unter der Bedingung, dass seine Verfügung keine beständige ist und, dass er nicht sagt, der Heilige, gesegnet sei Er, hat geboten, dieses und jenes für alle Generationen zu tun; vielmehr verfügte er die Abschaffung dieses Gesetzes zeitlich aus einem guten Grund.“104
Die Autorität des Propheten als Gesetzgeber ist nicht ewig (ewig ist nur das Gesetz als Ausrichtung des menschlichen Handelns, aber nicht seine zahllosen, von der Zeit abhängigen Interpretationen), und sie muss jedesmal durch eine rationale Notwendigkeit begründet werden. Diese offene politische Interpre103 Ibidem, S. 19. Die letzten Worte beziehen sich auf den Traktat Shabbat 92a: Stark in seinem Charakter und reich in seinem zufriedenstellenden Besitz. Übersetzung von F. Y. A. 104 Ibidem, S. 28. Übersetzung von F. Y. A.
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tation des Gesetzes und des Propheten als Gesetzgeber garantiert in primis, dass der Prophet kein Tyrann innerhalb der Gemeinde wird, und in secundis, dass die ganze Gemeinde das Handeln des Propheten stets überprüfen und kontrollieren kann. Diese Überprüfung wird dadurch möglich, dass das Handeln des Propheten „durch Herleiten und logisches Denken erlangt wird“105 Maimonides schreibt diesbezüglich: „In dieser Art solltest du alles bewerten, was ein Prophet dir gebieten mag und alles, was du in der Schrift hinsichtlich eines Propheten findest, der eine der Vorschriften der Gebote der Torah bestreitet. Dieses Prinzip ist der Schlüssel zu diesem ganzen Thema. Nur in diesem unterscheidet sich ein Prophet von anderen Menschen in der Angelegenheit der Gebote. Jedoch ist er hinsichtlich Ableiten, Argumentation und Verstehen der Gebote der Torah wie alle anderen Weisen, die nicht Propheten sind. […] Selbst wenn tausend Propheten von der Bedeutung eines Elia oder Elischa einer Meinung wären und tausend und ein Weiser die gegenteilige Meinung hätten, muss man der Mehrheit folgen (Ex. 23, 2) und der endgültige Beschluss ist in Übereinstimmung mit den tausend und einem Weisen und nicht in Übereinstimmung mit den verehrten Propheten.“106
Maimonides beabsichtigt nicht, die Autorität des echten Propheten der Autorität des Sanhedrin zu entziehen: Die Meinung der Mehrheit der Weisen der Gemeinde ist vorrangig, weil „die Weisen jeder Generation die Lehren ihrer Vorgänger als fundamental erachten und von ihnen ihre Texte lernen und neue Ideen entwickeln würden. Die wesentlichen Grundlagen waren niemals Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten. Die Überlieferung der Lehren der Torah wurden in dieser Art bis zur Zeit der Männer der Großen Versammlung vorgenommen.“107 Sogar ein echter Prophet kann die Autorität der rabbinischen Tradition, nämlich der Meinungen der Weisen, nicht aufheben (an dieser Stelle findet man wahrscheinlich eine Polemik gegen die Karäer): Seine hermeneutische Fähigkeit hat die Meinung der Mehrheit der Weisen des Sanhedrin zur Begrenzung, wenn sie glauben, dass die vom Propheten vorgeschlagene Änderung des Gesetzes nicht im Einklang mit der Vernunft und mit den Erfordernissen der Gegenwart steht. Dies bedeutet aber nicht, dass der echte Prophet seiner Autorität beraubt oder als falscher Prophet verurteilt wird. Einerseits zeigt Maimonides die Notwendigkeit, Regeln für die echte Prophetie und für die Anerkennung des die Gemeinde führenden Propheten als Gesetzgeber festzulegen, andererseits will er aber auch die Autorität der Weisen und damit die Autorität des schriftlichen und des mündlichen Gesetzes nicht gefährden. Auch um die Interpretationen des Gesetzes durch die Weisen zu verstehen, ist es notwendig, einen geübten Intellekt zu haben, genauso wie für das Erkennen der Vernünftigkeit des Befehls des Propheten: 105 Ibidem, S. 32. 106 Ibidem, S. 33. Übersetzung von F. Y. A. 107 Ibidem, S. 35. Übersetzung von F. Y. A.
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„[…] Aus diesem Grund sprechen die Weisen gesegneten Andenkens in Anspielungen von göttlichen Dingen. Wenn eine Person einen ihrer Sprüche findet, der seinem Verständnis zufolge dem gesunden Menschenverstand widerspricht, sollte er deshalb das Unvermögen diese Dinge zu verstehen, nicht als einen Mangel dieser Dinge selbst erachten; man sollte das Unvermögen vielmehr auf die Unzulänglichkeit des eigenen Intellekts zurückführen. […] Denn der Intellekt verschiedener Menschen ist ebenso verschieden wie ihr jeweiliges Naturell verschieden ist; ebenso wie das Naturell einer Person gut und näher am Durchschnitt als das Naturell einer anderen Person ist, so ist auch der Intellekt einer Person korrekter und vollkommener als der Intellekt einer anderen Person. Und es gibt keinen Zweifel, dass der Intellekt von jemand, der eine wichtige Sache versteht, nicht so ist wie der Intellekt dessen, der diese Sache nicht versteht. Der Erstere besitzt „wirklichen Intellekt“ und der Letztere nur „potentiellen Intellekt“.“108
Wenn man alle Interpretationen des Gesetzes von Seiten der Weisen begreifen will, muss man in allen Wissenschaften so kompetent sein wie die Weisen, der potentielle Intellekt muss nämlich ‚wirkend‘ werden. Maimonides schließt keinen Menschen von dieser Möglichkeit aus, genauso wie er keinen Menschen von der Möglichkeit ausschließt, Prophet zu werden: „Denn der Mensch ist, bevor er Wissen erwirbt, nicht besser als ein Tier, denn er unterscheidet sich nur durch seine Vernunft von anderen Arten von Tieren. Er ist ein vernünftiges Lebewesen. Das Wort vernünftig bedeutet die Erlangung rationaler Begriffe. Der größte dieser rationalen Begriffe ist das Verstehen der Einheit des Schöpfers, gesegnet und gepriesen sei Er, und alles was diese göttliche Angelegenheit betrifft. Alle anderen Wissenschaften109 dienen nur dazu, einen auf die Erlangung des göttlichen Wissens vorzubereiten.“110
Nach Maimonides liegt der Hauptzweck des Gesetzes darin, die Menschen auf die Erwerbung der Erkenntnis Gottes vorzubereiten111, und diesen Zweck verfolgen sowohl die Propheten als auch die Weisen, weshalb der Mensch ihre Worte hören und ihre Befehle gehorchen muss. Nur durch die
108 Ibidem, S. 86f. Übersetzung von F. Y. A. 109 Der arabische Ausdruck bedeutet: ‚Kenntniskörper‘ im Sinne von ‚Gegenständen der Kenntnis‘. 110 Ibidem, S. 97. Übersetzung von F. Y. A. 111 Maimonides ist sich dessen bewusst, dass es viele Menschen gibt, die total bar von Kenntnissen sind und ihre Mühe nur auf die sinnliche Lust fokussieren. Nach Maimonides wurden diese Menschen aus den folgenden Gründen geschaffen: 1. Wenn alle Menschen Philosophen oder Weise wären, wäre die Welt bald zerstört, weil diese Menschen nicht imstande sind, sich um die praktischen Bedürfnisse der Welt zu kümmern („Deshalb wurde all jene Menschen geschaffen, um die Handlungen auszuführen, welche die Welt benötigt, wohingegen der gebildete Mensch für sich selbst geschaffen wurde“, S. 101); um die Welt erhalten zu können, hat Gott nur wenige gebildete Menschen geschaffen („Es ist deshalb aufgrund dessen, was wir gesagt haben klar, daß das Ziel von allem Existierenden in der diesseitigen unvollkommenen Welt darin besteht, dem vollkommenen Menschen zu dienen, der aus Weisheit und guten Taten besteht, anhand der eindeutigen oder nur angedeuteten Lehren der Weisen kennen wir die Richtigkeit ihrer Aussage, dass „der Heilige, gesegnet sei er, in Seiner Welt nur die vier Ellen Halakhah hat.“ [Traktat Berakhot 8a]“, S. 105).
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Verwirklichung des Hauptzwecks des Gesetzes kann man die >avodah (den Dienst für Gott) erfüllen und am >olam ha-ba teilhaben. Am Schluss seiner Einführung in den Perush ha-Mishnah betont Maimonides expressis verbis, dass der ganze Zweck seiner Arbeit gesetzlich ist, nämlich die Grundlagen jedweder legalistischen Entscheidung der Weisen zu erklären, so dass sein Werk sowohl als Handbuch für Studenten wie auch als ‚Erinnerungsbuch‘ für gebildete Menschen nützlich sein kann. Die Tatsache, dass die Mishnah aus Entscheidungen der Weisen besteht, bedeutet aber nicht, dass die legalistische Funktion des Propheten für zweitrangig zu halten ist: Die Propheten repräsentieren den höchsten Grad des Intellekts, den ein Mensch in seinem Leben durch das Studium und die Erfüllung der Vorschriften erreichen kann. Die Propheten sind nicht ‚Konkurrenten‘ der Weisen in der Interpretation und Anwendung des Gesetzes, sondern führen zur Verwirklichung des Gesetzes: Sie haben ihre Seele vorbestimmt, um sich mit dem aktiven Intellekt als höchstes Niveau der menschlichen Kenntnisse zu vereinigen. Ihre Funktion als Gesetzgeber und als führende Leiter der Gemeinde besteht darin, die Menschen (jeden gemäß seiner Fähigkeit) zum höchstmöglichen Niveau zu bringen oder zumindest diesem Ziel anzunähern. Im Hinblick auf die gesetzgeberische und führende Rolle des Propheten ist es folgerichtig, dass sich der siebte Glaubensartikel mit dem Propheten und Gesetzgeber schlechthin beschäftigt, nämlich mit Moses und mit der Besonderheit seiner Prophetie: „Die siebte Grundlehre betrifft die Prophetie unseres Lehrers Moses. Das besagt, daß man glauben soll, er sei der Vater aller Propheten, die vor ihm gewesen waren und die nach ihm aufgetreten sind. Sie alle stehen im Rang unter ihm, und er war der Auserwählte Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht, der von Seiner – erhoben werde Er! – Erkenntnis mehr erlangt hat als alle Menschen, die früher existiert haben und die noch existieren werden; und daß er – Friede über ihn! – in seiner Erhebung über die menschliche Stufe hinaus bis zur engelhaften Stufe gelangt ist und er in den Rang der Engel einbezogen wurde. Kein Vorhang blieb, den er nicht durchdrungen hätte, kein körperliches Hindernis behinderte ihn, keinerlei Mängel stellten sich an ihm ein, ob gering oder groß, und die imaginativen und sinnlichen Kräfte wurden bei ihm aufgehoben in seinen Erkenntnisakten, und seine appetitive und begehrende (Seelen-) Kraft ausgeschaltet, so daß allein der Intellekt für sich allein blieb. In bezug darauf wurde gesagt, daß er mit Gott ohne Vermittlung von Engeln gesprochen hat. […] Erstens, daß mit jedem Propheten, der einmal war, Gott nur durch ein Medium gesprochen hat, mit Mose aber ohne Medium […]. Der zweite Punkt ist, daß auf jeden (anderen) Prophet die Prophetie nur mit dem Schlaf kommt […]. Der dritte Punkt ist, daß dem Propheten, wenn die Prophetie über ihn kommt, obgleich es im Gesicht geschieht und durch einen Engel, die Kräfte schwinden und daß er seine Haltung verliert, da ihn eine gewaltige Furcht überkommt, so daß er beinahe stirbt […].
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Der vierte Punkt besteht darin, daß über alle (anderen) Propheten die Prophetie nicht nach ihrem Willen kam, sondern nach dem Willen Gottes. Denn siehe, es konnte geschehen, daß der Prophet tagelang oder jahrelang ohne Prophetie blieb, und wenn man darum bat, er möge etwas durch Prophetie mitteilen, mußte er tagelang oder monatelang warten, bevor er als Prophet sprechen konnte, oder erreichte überhaupt nichts. […]“112
Nach der jüdischen Lehre hat Moses nicht nur das schriftliche, sondern auch das mündliche Gesetz auf dem Sinai erhalten, weshalb es ein Mittel der Verteidigung gegen die Karäer und gegen alle Feinde des Rabbinats ist. Die absolute Einzigartigkeit der mosaischen Prophetie stellt auch die Einheit und Unveränderbarkeit der Torah als göttlichen Gesetzes dar: Aus diesem Grund gibt es im siebten Glaubensartikel keine reine naturalistische Annäherung an das Thema – anders als in den anderen Glaubensartikeln von Pereq Heleq – sondern eine Kombination von natürlichen und übernatürlichen Elementen. Auch die nicht-mosaische Prophetie enthält ein übernatürliches Element, weil der Erwerb der Prophetie von Gottes Willen abhängig ist: Obwohl ein Mensch an der Vollkommenheit seines Intellekts arbeitet und zu einem gewissen Zeitpunkt in seiner Existenz ein solches Niveau erreicht, dass er die Prophetie empfangen kann, entscheidet Gott allein, ob und wann er dem Propheten seine Botschaft geben will. In den ersten fünf Glaubensartikeln, die Gott betreffen, sagt Maimonides nicht, in welcher Weise der Inhalt der Glaubensartikel aufzufassen ist (ob er etwa rational erkannt oder geglaubt werden soll). Nur in bezug auf die Prophetie im Allgemeinen verwendet Maimonides das Wort >ilm, das sich auf die rationale Kognition bezieht. Hinsichtlich der Prophetie des Moses benutzt Maimonides das Wort i>tiqad, das neutraler als >ilm ist und das sich sowohl auf die rationale Kognition als auch auf die Akzeptanz auf der Grundlage der Autorität bezieht; Das bedeutet, dass der arabische Begriff i>tiqad sowohl in bezug auf eine philosophische Lehre als auch in bezug auf die aufgrund der Tradition entstandenen Lehren gebraucht werden kann.113 Maimonides stellt sich im siebten Glaubensartikel ein zugleich politisches und philosophisches Problem; er muss die Einzigartigkeit der mosaischen Prophetie darlegen, obwohl dafür in Bibel und Tradition kein philosophischer bzw. theologischer Grund zu finden ist. Worin besteht denn der Unterschied zwischen Moses und den von Alfarabi beschriebenen Gesetz-
112 J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 400ff. 113 Zum Gebrauch des Begriffs i>tiqad bei Maimonides vgl.: Simon Rawidowicz, On Maimonides’ Sefer ha-Madda, in: Isidore Epstein/Ephraim Levine/Cecil Roth (Hrsg.), Essays in Honour of the Very Rev. Dr. J. H. Hertz, London 1942, S. 331–339 (dieser Aufsatz wurde in dem folgenden Werk wiederveröffentlicht: Simon Rawidowicz, Studies in Jewish Thought, von Nahum Glatzer herausgegeben, Philadelphia 1974, S. 317–323); Avraham Nuriel, Maimonides and the Concept of Faith, op. cit.
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gebern, welche ihre ideale Gesetzgebung als Konsequenz einer Offenbarung (wahy) ansahen?114 Der Unterschied ist der: Maimonides erwähnt hinsichtlich der Prophetie des Moses nur die rationale Fähigkeit. Kein Wort wird über die Einbildungskraft gesagt, die im Hinblick auf die allgemeine Prophetie eine wichtige Rolle spielt.115 Auch nach Alfarabi ist die vollkommene Einbildungskraft eine der Qualitäten des idealen Gesetzgebers. Der ideale Gesetzgeber muss sensibilia ausüben, um mit den einzelnen Gesetzen umzugehen, aber er muss aus pädagogischen Gründen auch die Intelligiblen in verständliche Bilder umwandeln. Die Massen sind nicht imstande, abstrakte Wahrheiten zu erkennen, weshalb sie verständliche Bilder benötigen, um zur Glückseligkeit zu gelangen. Zudem entwickelt Alfarabi keine Theorie eines einzelnen idealen Gesetzgebers: Im Laufe der Geschichte können mehrere ideale Gesetzgeber, je nach dem Bedürfnis der Zeit erscheinen. Wie die Untersuchung der Einführung des Maimonides in seinem Perush ha-Mishnah bereits gezeigt hat, ist der Prophet kein Gesetzgeber, sondern ein Interpret und Erfüllender des Gesetzes: Nur unter besonderen Umständen darf der Prophet das Gesetz ändern (nämlich etwas einfügen oder aufzuheben), aber das immer nur bei rationaler Überprüfung durch die Weisen als Repräsentanten der Interessen der Gemeinde. Obwohl Maimonides nur im Moreh ha-Nevukhim116 deutlich zum Ausdruck bringt, dass nur die Prophetie von Moses auf göttlicher Gesetzgebung beruht, kann man bereits im siebten Glaubensartikel von Pereq Heleq kann den politischen Ansatz Maimonides’ erkennen. In diesem Glaubensartikel spielt die Einbildungskraft keine Rolle, weil Moses nur durch das von ihm erworbene höchste Niveau an theoretischem Intellekt die metaphysische Wahrheit begreifen konnte. Howard Kreisel schreibt diesbezüglich: „The other prophets did not attain the level of perfection of the theoretical intellect attained by Moses. This is evidenced by the fact that their imagination continued to play a role in the illumination they received of the metaphysical reality. The overflow to the imagination was not only important in enabling the prophet to communicate speculative truths to society. It also helped the prophet grasp metaphysical reality in a more unified and penetrating manner than the philosopher,
114 Vgl.: Alfarabi, Aphorisms of the Statesman, herausgegeben und übersetzt von Douglas M. Dunlop, Cambridge 1961, S. 54; ders., The Political Regime, übersetzt von Fauzi M. Najjar, in: Ralph Lerner/Muhsin Mahdi (Hrsg.), Medieval Political Philosophy, op. cit., S. 37. Für eine Vertiefung dieser Problematik vgl.: Howard Kreisel, Maimonides’ Political Thought. Studies in Ethics, Law, and the Human Ideal, New York 1999, S. 79ff. 115 Zur Rolle der Einbildungskraft bei Alfarabi und Maimonides vgl.: Hans Daiber, Das FarabiBild des Maimonides. Ideentransfer als hermeneutischer Weg zu Maimonides’ Philosophie, in: Georges Tamer (Hrsg.), The Trias of Maimonides/Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge/Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Berlin/ New York 2005, S. 199ff. 116 Moreh ha-Nevukhim 2:39.
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whose knowledge is discursive in character. The prophets, in Maimonides’ famous parable in the introduction to the Guide, view metaphysical reality directly as though illumined by a flash of lightning at night. The philosophers are inferior to the prophets, insofar as they are like those staring at a polished stone as the lightning flashes, allowing them to see only a reflection. Moses, however, reached such a high level of intellectual perfection that he was able to dispense with the service of the imagination completely in grasping metaphysical truth, and attain a purely intellectual vision.“117
In diesem Unterschied zwischen Moses und den anderen Propheten ist auch ein weiterer politischer Zweck enthalten, nämlich das göttliche Gesetz von den anderen Gesetzen zu unterscheiden, weil allein das göttliche Gesetz auf die Vollkommenheit des Intellekts abzielt: Es führt die Menschen zur gemeinschaftlichen Ordnung sowie zum ethischen Leben. Auch andere Formen der Gesetzgebungen wollen wohlgeordnete Gemeinden führen, aber sie haben nicht die Erkenntnis von Gut und Böse als Hauptzweck.118 Der wichtigste Unterschied zwischen Moses und den anderen Propheten ist der: dass die Prophetie von Moses kein vermittelndes Wesen (keinen Engel) braucht, eine Vermittlung (in der traditionellen Literatur wird der aktive Intellekt häufig als Engel geschrieben), die im Fall der anderen Prophetien notwendig ist. Maimonides unterstreicht damit, dass die Prophetie direkt von Gott zu Moses kam, weil Moses dank der Vollkommenheit seines Intellekts bereits den Rang eines Engels erreicht hatte. Moses ist der einzige Prophet, der aktiv und bewusst an der Prophetie teilnimmt, weshalb er keine zusätzliche Einbildungskraft benötigt. Der Versuch, Moses von den anderen Propheten zu unterscheiden, zeigt sich auch in der behutsamen Auswahl in der Terminologie. In der Diskussion des zweiten Elements, das die mosaische von der nicht-mosaischen Prophetie unterscheidet, verwendet Maimonides das Wort kitab (Rede oder Buch) sowie auch das Wort kalam (Rede) in bezug auf Moses, das Wort wahy (Offenbarung) aber in bezug auf die Prophetie im Allgemeinen. Die Rede impliziert eine bewusste und wirkende Teilnahme am Dialog von seiten beider Gesprächspartner, während sich wahy auf den Zustand des Propheten im Schlaf (die Vision, den Traum des Propheten usw.) als conditio sine qua non für die Mitteilung der göttlichen Botschaft bezieht. Die Einzigartigkeit der mosaischen Prophetie verbindet meines Erachtens den siebten und den achten Glaubensartikel: Da Maimonides die Einbildungskraft von der Prophetie des Moses ausschließt, schließt er damit auch die Möglichkeit aus, die Torah (nämlich das göttliche Gesetz) unter einem metaphorischen bzw. allegorischen Blickwinkel auszulegen. Die Gebote müssen wörtlich genommen und als verbindliche Vorschriften akzep117 Howard Kreisel, Maimonides’ Political Thought, op. cit., S. 81. 118 Maimonides beschäftigt sich mit dieser Problematik besonders im zweiten Teil des Moreh ha-Nevukhim (2:33).
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tiert werden, wenn man ihre innere Wahrheit durch die rationale Fähigkeit des Intellekts begriffen hat. Interessanterweise findet man auch im achten Glaubensartikel das Wort kalam: „Die achte Grundlehre besteht darin, daß die Torah vom Himmel ist. Das bedeutet, wir glauben, daß die Gesamtheit dieser Torah, die sich in unseren Händen befindet, durch Moses übermittelt worden ist und daß sie gänzlich aus dem Munde der Gottheit stammt; mit anderen Worten: daß sie insgesamt von Gott zu ihm (Mose) gelangt ist auf die Weise, die im übertragenen Sprachgebrauch „Rede“ [kalam] genannt wird. Und niemand weiß, wie die zu ihm gelangte, außer er (Mose) – Friede über ihn! – allein, zu dem sie gelangt ist. Ferner, daß er wie ein Schreiber war, dem man diktierte und der da aufschrieb alle die bestimmten Ereignisse und die Erzählungen und die Gebote […]“119
Der achte Glaubensartikel ist auch direkt mit dem neunten verbunden: „Die neunte Grundlehre betrifft die Aufhebung. Sie bedeutet, daß dieses Gesetz nicht aufgehoben wird und daß keine andere Torah außer ihr von Gott her kommt und daß man ihr nichts hinzufügen und von ihr nichts weglassen darf, weder im Text (= der Schriftlichen Torah) noch in der Ausführung (= der mündlichen Torah) […]. Im übrigen haben wir, was zu dieser Grundlehre zu erklären nötig ist, in der Einleitung zu diesem Buch ausgeführt.“120
Die Torah ist zweifellos min ha-shamayyim (‚vom Himmel‘), sie hat zweifellos einen göttlichen Ursprung, der jedwede direkte Einflussnahme von Moses in ihrem Entstehungsprozess ausschließt. Moses ist nicht Erfinder des Gesetzes, trotzdem war seine Rolle entscheidend, damit die Torah ihre Form in der Sprache des Menschen annehmen konnte. Nur ein Mensch mit perfektem Intellekt konnte eine solche Form für das Wort Gottes finden. Das bedeutet aber nicht, dass Moses ein Vermittler zwischen Gott und dem jüdischen Volk wäre, oder besser: Seine Vermittlungsfunktion beschränkt sich auf die Tätigkeit als Schreiber des Gesetzes, und die nachfolgende Verwirklichung der Vorschriften betrifft direkt und allein das Handeln und den Willen des einzelnen Menschen. Der neunte Glaubensartikel bezieht sich auf das Problem der Verwirklichung der Vorschriften und deren zeitlicher und verbindlicher Gültigkeit. Bei rein oberflächlicher Lektüre scheint dieser Glaubensartikel der Einführung in den Perush ha-Mishnah völlig zu widersprechen, in der Maimonides, wie bereits gezeigt, zugibt, dass die Torah unter gewissen Umständen vom Propheten geändert werden darf. Darüber hinaus ist das mündliche Gesetz, auf das sich Maimonides in diesem Glaubensartikel bezieht, bereits eine Modifikation des schriftlichen: Der ganze Talmud könnte als ein hermeneutisches Werk von Ergänzung und Erweiterung des göttlichen Geset-
119 J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 402f. 120 Ibidem, S. 403.
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zes gelesen werden. Wie ist es möglich, dass Maimonides als höchster Repräsentant des Rabbinats die Unveränderbarkeit des Gesetzes in seine Glaubensartikel aufnimmt? Nicht die rabbinische Tradition ist das Ziel von Maimonides’ Polemik, sondern seine Polemik zielt meines Erachtens auf ein theologisches und philosophisches Problem, das seit dem 9. Jahrhundert aufgrund des Einflusses der Mu>taziliten auf die Karäer in den jüdischen Schulen entstand: die Lehre des nasö.121 Das Prinzip des nasö (Außerkraftsetzung, Annullierung) war gemeinsam mit dem der Verfälschung (tahrif) ein Hauptinstrument der islamischen Gelehrten, um die Grundlagen des Judentums und des Christentums zu schwächen; beide Prinzipien betrafen die Gültigkeit, den Inhalt und das Wesen der Gebote, welche der Offenbarung vorangingen. Yoram Erder schreibt diesbezüglich: „Naskh is found in the Qur’ân, and it stems from the change which the commandments undergo within Islam itself; but it quickly became a provocation against the notion that the Pentateuch is eternal. If God changed commandments in Islam itself, then there was nothing to prevent Him from abrogating the Torah and replacing it with the Qu’rân.“122
Wenn man die theologischen Quellen der Mu>taziliten zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert durchsieht, bemerkt man, dass die Frage, ob die Gebote der Sinai-Offenbarung vorausgehen, einen großen Widerhall in der islamischen Welt fand, weshalb eine solche Frage in erste Linie die Ananiten, aber auch die Karäer direkt interessierte: Gibt es ein göttliches Gesetz vor der Sinai-Offenbarung oder nicht? Diese Frage betrifft auch den muslimischen Begriff von bada’a, nämlich den der Änderung im Willen Gottes. Dieser Begriff hat im Islam zahlreiche theologische Bedeutungsnuancierungen, bezeichnet aber hauptsächlich eine Änderung in der göttlichen Führung der Welt als Konsequenz einer Änderung im Willen Gottes (al-bada’a fi ’l-’irada): Diese Änderung führt zu einer Modifikation der göttlichen Gebote (al-bada’a fi ’l-’amr), weshalb bada’a und nasö in der islamischen Theologie eng verbunden sind. Diese Problematik spiegelt sich in der Auseinandersetzung innerhalb des Frühkaräertums hinsichtlich der zeitlichen Existenz der rationalen und der geoffenbarten Gebote wider und wird von Yoram Erder sehr prägnant zusammengefasst: „Wisdom and intelligence obligate us to perform these [the rational] commandments, therefore, all of mankind since Adam was required to fulfill them. Because they were planted in our consciousness, there was no need to hand them down by 121 Für eine grundsätzliche Ausarbeitung dieses theologischen Problems vgl.: Yoram Erder, Early Karaite Conceptions about Commandments Given before the Revelation of the Torah, op. cit.; James Burton, Islamic Theories of Abrogation, Edinburgh 1990, im besonderen S. 18ff. 122 Ibidem, S. 103.
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prophetic revelation. […] In contrast, we would have been unaware of the existence of the revealed, non-rational commandments had they not been given by God through prophecy. This distinction was also accepted by Rabbanite scholars and Saadiah Gaon wrote a special treatise on the sources of these commandments.123 There is no doubt that this division echoes the mu’tazilite debate on this issue; it is further evidence of the extent to which the Karaite polemic on whether the commandments predated the revelation of the Torah was influenced by the world of Muslim thought in which they lived.“124
Dank der karäischen Quellen aus dem 10. und 11. Jahrhundert können wir die Stellungnahme der Ananiten und von deren karäischen Nachfolgern rekonstruieren, für welche die Moses anvertrauten Gebote bereits mit der Schaffung Adams gegeben wurden: Seitdem wurde ihnen nichts hinzugefügt und nichts gestrichen. Innerhalb der ananitischen und später der karäischen Schule ist es möglich, zwischen zwei Richtungen zu unterscheiden. Beide einigten sich darauf, dass Adam alle Gebote kannte, sie aber nicht erfüllte, weil viele Gebote mit Ereignissen verbunden waren, die nach dem Tode Adams geschahen. Die Unstimmigkeit zwischen ihnen betraf die Zahl und die Natur der Gebote, deren Grundlagen auf späteren Ereignissen basierten. Eine Schule war der Meinung, dass nur die auf späteren Ereignissen basierenden Gebote, welche in der Torah explizit erwähnt sind (’ila al-maösusa), nicht von Adam und von seinen Nachfolgern verwirklicht wurden, wie z.B. die Gebote in bezug auf das Pesah-Opfer (Ex. 12:23) und die Sukkah (Lev. 23:44). Nach dieser Schule verwirklichten die Patriarchen die Mehrzahl der geoffenbarten Gebote, und wenn in der Torah ein Widerspruch zwischen dem Gesetz der Patriarchen und dem Gesetz von Moses sichtbar wurde, benutzte diese Schule das hermeneutische System der sogenannten ‚schwachen‘ Interpretation, um diesen Widerspruch zu erklären (zum Beispiel durfte Jakob nicht zwei Schwestern heiraten, und tatsächlich waren Rachel und Leah keine natürlichen Schwestern). Die andere Schule behauptete, dass eine wörtliche Lektüre der Torah viele Gebote hervorbringt, die nicht auf späteren Ereignissen basieren (’ila gair maösusa). Diese Gebote galten nicht für Adam und seine Nachfolger. Das war vor allem die Ansicht der Mehrzahl der karäischen Schulen, nach denen alle geoffenbarten Gebote der Sinai-Offenbarung vorausgehen. Diese Position provozierte die folgende islamische Kritik: Wenn auch die geoffenbarten Gebote bereits den Patriarchen gegeben wurde, warum war dann die Offenbarung von Moses nötig? Diese frühkaräischen Schulen verteidigten ihre Position durch das mu>tazilitische Prinzip des >adl: Da Gott gerecht (>adl) ist, wurden seine Gebote von Anfang an der ganzen Menschheit gegeben, damit alle durch ihren 123 Vgl.: Mosche Zucker, Fragmente aus dem Kitâb Taösîl al-sharâ’î’ al-samâ’iyah, in: Tarbiz 41 (1972), S. 387–402 (Aufsatz auf Hebräisch). 124 Ibidem, S. 109.
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Pereq Heleq und der Messias
freien Willen (ein weiteres mu>tazilitisches Prinzip, wie oben bereits gezeigt wurde) die Möglichkeit hätten, für ihre guten Taten belohnt zu werden. Da die Verwirklichung der guten Taten die Erkenntnis des göttlichen Gesetzes voraussetzt, wird, als logischer Schluss, abgeleitet, dass die Gebote der SinaiOffenbarung vorhergehen. Erst ab dem 10. Jahrhundert entwickelten sich in Ägypten karäische Schulen, welche die mu>tazilitische Lehre des nasö unter gewissen Umständen akzeptierten, und meines Erachtens stellen diese Schulen den gesetzlichen und theologischen Hintergrund des neunten Glaubensartikels von Pereq Heleq dar. Diese Schulen lehnten selbstverständlich die mu>tazilitische Position ab, nach der die Lehre des nasö die Ablehnung der Torah begründet, aber sie akzeptierten das hermeneutische Prinzip, dass die Vorschriften an die jeweilige geschichtliche und soziale Situation der jüdischen Gemeinde angepasst werden sollten. Die wichtigsten Repräsentanten dieser spätkaräischen Position sind Al-Qirqisani, Yefet ben Eli und Tobiah ben Moses.125 Obwohl sie hinsichtlich der theologischen und gesetzlichen Konzeption des nasö unterschiedliche Interpretationen vorschlugen, berühren sich ihre Positionen zumindest in zwei Punkten: 1) die geoffenbarten Geboten teilen sich in zwei Kategorien auf: die ewigen und die zeitlich begrenzten (diese letzteren wurden nur für eine gewisse Periode oder nur für einen bestimmten Menschen bzw. eine bestimmte Gruppe vor Moses gegeben, und nach ihrer Verwirklichung galten sie nicht mehr); 2) die totale Ablehnung der Lehre des bada’a wegen ihres Widerspruchs zum Prinzip, dass Gott alles im voraus weiß. Der neunte Glaubensartikel von Maimonides fügt sich meines Erachtens in diese theologische und gesetzliche Diskussion ein. Die Position von Maimonides wird von Yoram Erder wie folgt zusammengefasst, wobei er allerdings keine Beziehung zu den Glaubensartikeln in Pereq Heleq herstellt: „Maimonides’ approach to the antiquity of the commandments is entirely different from those discussed above. He did, however, accept the notion of the commandments given to the sons of Noah and even that the commandments were supplemented. Adam was given six commandments and Noah was given a seventh one (Gen. 9:4). […] But according to Maimonides, the fact that the Patriarchs fulfilled some of the commandments does not obligate us at all. The eternal nature of the commandments and the reason behind the need to fulfill them stems solely from the Revelation of the Torah at Mount Sinai. […] Maimonides repeated his opinion many times. The following is his commentary on Mishnah Öulîn 7:6: „Pay attention to the important principle that I stated in this Mishnah. It says „It is forbidden from Sinai“; thus, you must know that everything we are careful not to do and everything we do today, we do it solely because God commanded us through Moses and not because God commanded the prophets who came before
125 Für eine Vertiefung ihrer jeweiligen Lehre vgl.: Yoram Erder, Early Karaite Conceptions, op. cit., S. 128ff.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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him. […]“. It is not unreasonable to assume that the foregoing is a debate with those who maintained that the most significant elements of Moses’ law had already been given to the Patriarchs thereby diminishing the importance of the Revelation at Mount Sinai and of Moses as well.“126
Maimonides verwendet den neunten Glaubensartikel dazu, die legislative Autorität von Moses gegen die spätkaräischen Schulen zu verteidigen und diese Autorität sowohl philosophisch als auch theologisch zu begründen. Das bedeutet nicht, wie er in der ersten Einführung in den Perush haMishnah deutlich betont, dass die Propheten die Bedeutung der Torah hermeneutisch nicht ändern dürfen. Beide Argumentationen stehen meines Erachtens völlig getrennt nebeneinander, weil der Gegenstand der Polemik für Maimonides ein anderer ist. So gesehen existiert kein Widerspruch zwischen dem neunten Glaubensartikel (die Unveränderbarkeit der Torah) und der ersten Einführung in den Perush ha-Mishnah (die hermeneutische und gesetzliche Funktion des Propheten als Interpret der Torah).
5.4 Die eschatologischen Glaubensartikel Der Einfluss des Karäertums (und dadurch mu>tazilitische und ash>aritische Einflüsse auf Pereq Heleq) zeigt sich auch in der letzten Gruppe von Glaubensartikeln, die einen deutlich eschatologischen Charakter haben: 10) die göttliche Erkenntnis der menschlichen Taten; 11) die Lehre von Strafe und Belohnung; 12) der Glaube an die Ankunft des Messias; 13) der Glaube an die Auferstehung der Toten. Ausgehend von meiner Interpretation ist es nicht möglich, den zehnten Glaubensartikel vom elften zu trennen. Diese zwei Glaubensartikel lauten wie folgt: „Die zehnte Grundlehre besteht darin, daß Er – Er werde erhoben! – die Taten der Menschen kennt und daß Er seine Augen davor nicht verbirgt. […] Und dies weist auf die zehnte Grundlehre hin.“127
Und: „Die elfte Grundlehre besteht darin, daß Er – Er werde erhoben! – Lohn gibt dem, der die Worte der Torah befolgt, und den bestraft, der ihre Verbote übertritt, daß der größte Lohn die „Kommende Welt“ [Xbh ,lvi ] ist und die härteste Strafe der Existenzverlust [das „Abschneiden“: trk ]. […] Dies ist ein Beweis dafür, daß Er den Übertreter und Ungehorsamen kennt, um den einen zu belohnen und den anderen zu bestrafen.“128
126 Ibidem, S. 138f. 127 J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 403f. 128 Ibidem, S. 404.
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Wie ich bereits gezeigt habe, konzentrierte sich eine der größten theologischen Debatten zwischen islamischen und karäischen Schulen auf die Beziehung zwischen dem Willen Gottes und der göttlichen Kenntnis einerseits und dem freien, handelnden Willen des Menschen andererseits. Da im Qur’an 37:94 steht, „Gott hat dich und deine Taten geschaffen“, muss man nach der ash>aritischen Schule annehmen, dass Gut und Böse nur aufgrund von einem Dekret Gottes und von seiner Verordnung (qada wa qadar) entstehen. Die Freiheit des Menschen würde eine zweite Macht in der Schöpfung implizieren, welche sich außerhalb der Kenntnis Gottes stellt. Wir haben bereits gesehen, wie al-Ash>ari in seinem ’Ibana nach einem Ausweg sucht, um sowohl die menschliche Verantwortung als auch die Allmächtigkeit Gottes annehmen zu können. Nach der ash>aritischen Lehre sind Willensakte von Gott geschaffen, aber sie werden vom Menschen erworben oder ihm zugeschrieben. Die Schaffung unterscheidet sich von der Erwerbung, weil die erste aus der ewigen Macht Gottes entsteht, während die zweite eine geschaffene Macht des Menschen ist, so dass man sagen kann, dass ein und dieselbe Handlung zugleich von Gott geschaffen und vom Menschen erworben ist. Diese Erklärung löst keineswegs das Problem und provoziert die folgende karäische Erwiderung, die vor allem bei Al-Basir in seinem al-Muhtawi hervorgebracht wurde und die einen starken mu>tazilitischen Hintergrund hat: Wenn man die Freiheit des Menschen ausschließt (was logisch ist, wenn Gott bereits weiß, wer seine Vorschriften respektieren wird und wer nicht) – wie ist es dann möglich, die Konzeption der Gerechtigkeit Gottes mit der Rettung sowie mit der Lehre von Strafe und Belohnung zu vereinbaren? Vom 27. zum 33. Kapitel befasst sich der al-Muhtawi mit dieser theologischen und ethischen Problematik, die von Georges Vajda in den folgenden Fragen zusammengefasst wird: „[L]’homme est-il libre de décider de sa conduite, car autrement il ne serait pas légitimement passible, dans la perspective mu’tazilite, des sanctions divines ? Et s’il est libre d’obéir et de désobéir, choix dont le résultat échappe à la puissance, mais non à la science de Dieu, l’Auteur de toutes choses est-il en droit d’imposer à sa créature une loi dont l’inobservance éventuelle précipiterait l’assujetti dans sa perte?“129
Der Ernst und die Wichtigkeit dieser Fragen werden von Maimonides auch hervorgehoben, weil er im elften Glaubensartikel sehr deutlich behauptet, dass derjenige von der kommenden Welt ausgeschlossen wird, der den göttlichen Vorschriften nicht gehorcht. Darüber hinaus hat das Wort trb (‚Ausschluss‘) zwei Bedeutungen, die von Maimonides am Schluss des Pereq Heleq hervorgehoben werden: Diese Strafe betrifft nicht nur der Ausschluss 129 David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muhtawî de Yûsuf al-Basîr, op. cit., S. 397f.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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von der zu kommenden Welt, sondern auch die Entfernung von Israel als geschichtlicher, menschlicher und gesetzlich angeordneter Gemeinde.130 Das ist für Maimonides die Strafe für diejenigen, welche die Glaubensartikel nicht respektieren. Die Tatsache, dass bei Maimonides die Glaubensartikel über die göttliche Erkenntnis der menschlichen Taten und die Lehre von Strafe und Belohnung unmittelbar aufeinander folgen, unterstreicht die Ähnlichkeit zwischen seinem Denken und dem von Al-Basir, und zwar zum einen hinsichtlich der Verteidigung und der Begründbarkeit der Gerechtigkeit Gottes und zum anderen in bezug auf die Freiheit des Menschen; es lässt sich allerdings nicht nachweisen, dass Maimonides den al-Muhtawi kannte. Im al-Muhtawi liest man: „Wir behaupten, dass Gott keine Ungerechtigkeit verübt. Er erlegt nichts auf, ohne vorher dem Unterworfenen die nötige Kraft erteilt zu haben, da es moralisch böse ist, etwas aufzuerlegen, das man nicht ertragen kann. […] Unter einem allgemeinen Blickwinkel wissen wir aus nötiger Wissenschaft, dass das mit handelnder Kraft ausgestattete Subjekt das Gegenteil unternehmen kann [nämlich: es kann sich für das Böse entscheiden]. Wir wissen durch das alles, dass, um zum Sein zu kommen, der Akt ein handelndes Subjekt benötigt, das sich des Ziels seines Handelns und dessen Folgen bewusst ist. [Genau] in diesem Moment wird das Subjekt von den Triebfedern angeheuert. Wenn man ein solches Handeln einem anderen Subjekt zuschriebe, würde man dem handelnden Subjekt den Weg zum Wissen versperren. […] Wenn [ein Gegner] erwidert: Das Handeln gehört zu Gott, nicht weil Gott es vorhat, sondern weil Gott das Handeln tatsächlich verwirklicht, würden wir entgegnen: Wir fragen Dich gerade nach der Bedeutung von ‚Er verwirklicht‘, oder auf keinen Fall hast Du ein handelndes Wesen in der sichtbaren Ordnung gefunden. Eigentlich schreiben [die Ashariten] Gott das Handeln und uns die Aneignung zu, aber nach dem ash’aritischen System sind beide Zuteilungen unverständlich. […] Das Handeln existiert dank des mit Kraft ausgestatteten Subjekts. Konsequenterweise zeigt seine Existenz den Status seines Wesens, und das ist die echte Bedeutung des Attributs der Existenz. Wenn das Handeln das Objekt der Kraft der zwei wirkenden Subjekte ist, wäre es vorstellbar, dass beide dem Handeln die Existenz verleihen; ausgehend von beiden Subjekten könnte das Handeln den Status seines Wesens durch das eine oder das andere zeigen, nämlich durch die Vermittlung der Existenz. Ausgehend davon könnte es sein, dass es, da ein Subjekt den Plan hat, ihm die Existenz zu verleihen, existiert, während das andere Subjekt es nicht will, und es daher nicht existiert: Das Handeln wäre somit existierend und nicht-existierend.“131
Bei Maimonides findet man dieselbe Thematik der menschlichen Verantwortung und der Begründbarkeit der Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes: 1. Der Mensch ist frei, sonst könnte er nicht für seine Taten verantwortlich 130 Joshua Abelson, Maimonides on the Jewish Creed, op. cit., S. 57. 131 David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muötawî de Yûsuf al-Basîr, op. cit., S. 398ff. Übersetzung von F. Y. A.
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gehalten werden; 2. konsequenterweise entziehen sich seine Entscheidungen, wie er in Zukunft handeln wird, der Kenntnis Gottes; 3. ist es also richtig, dass ein Mensch, der, wie Gott weiß, wegen der Schwäche seines Geistes ein Sünder sein wird, dem göttlichen Gesetz dennoch unterworfen wird? Wie bereits gezeigt, löst Al-Basir das Problem durch die Einführung des Prinzips der göttlichen „assistance bienveillante“132 (auf Arabisch: lutf), nämlich „die Tat, die den Unterworfenen zwingt, was ihm auferlegt worden ist, zu verwirklichen, abgesehen davon, ob die zu verwirklichende Aufgabe vorteilhaft oder schädlich bzw. weder das erste noch das zweite ist.133 Das lutf ist Akt sowohl des Menschen als auch Gottes: Einerseits ist das lutf für den Menschen moralisch verbindlich und andererseits muss Gott dem Menschen durch die begreifbare Vernünftigkeit des Gesetzes diesen verbindlichen Charakter des lutf bewusst machen. Bezüglich dieser Verknüpfung zwischen Vernünftigkeit und Gesetzgebung bei Al-Basir schreibt Georges Vajda: „La justice absolue de Dieu, l’un des piliers de la théologie des Mu’tazilites, adaptée par Yûsuf al-Basîr dans la mesure où elle était conciliable avec les croyances fondamentales du Juda¿sme, exige que le Créateur mette l’homme, libre de ses décisions quant à la foi religieuse et à la conduite morale, en mesure de faire son salut, finalité de sa création, mais réalisable seulement par la docilité à la volonté divine se manifestant dans la Loi révélée. Cette mise en mesure est le lu©f, assistance bienveillante, non pas contrainte exercée à l’égard du bénéficiaire. Elle implique, dans la perspective mu’tazilite, l’imposition de devoirs, „l’assujettissement“ à une regle de vie qui vient préciser la loi de la raison inscrite dans la constitution native de l’être humain ou tout au moins objet du consentement universel.“134
Aus der Verbindung zwischen lutf einerseits und Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes andererseits ergibt sich ein weiteres theologisches und das Gesetz betreffendes Problem, das vom 37. bis zum 40. Kapitel von al-Muhtawi behandelt wird und das wir im elften Glaubensartikel des Pereq Heleq wiederfinden: Der verantwortliche und vernünftige Mensch wird gemäß seinen Taten belohnt oder bestraft. Nachdem man die Weisheit, das Gute und die Gerechtigkeit Gottes behauptet hat, kann man nicht mehr behaupten, dass die Lehre von Strafe und Belohnung unrecht ist. Diesbezüglich ist die Vernünftigkeit des Menschen nicht nur notwendig, um die Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes zu begreifen, sondern auch, um die Gerechtigkeit der Lehre von Strafe und Belohnung zu erfassen. In Pereq Heleq findet man keinen Versuch, die theologischen, ethischen und philosophischen Schwierigkeiten aufzulösen, die aus der Lehre der göttlichen Erkenntnis der menschlichen Taten und aus der Lehre von Strafe und Belohnung entstehen. Vielleicht könnte man einen solchen Versuch in 132 Ibidem, S. 502ff. 133 Ibidem. Übersetzung von F. Y. A. 134 Ibidem, S. 545.
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der Interpretation des Leidens Hiobs im Moreh ha-Nevukhim sehen, und auch in diesem Fall wäre es meines Erachtens möglich, einen Vergleich mit der Ausarbeitung der suffrance gratuite im al-Muhtawi 135 vorzunehmen, aber eine solche Analyse würde uns zu weit vom Zweck der vorliegenden Arbeit wegführen. Die Tatsache, dass Maimonides nicht das Wort ‚Glauben‘ in bezug auf den zehnten und den elften Glaubensartikel benutzt, hat für beide Fälle ihren Grund in der rationalen Fähigkeit des Menschen, die Lehre der göttlichen Erkenntnis und die Lehre von Strafe und Belohnung zu begreifen; dabei bleibt aber die Frage, wie menschliche Freiheit sowie unendliche Erkenntnis und Allmacht Gottes unentschlüsselt vereinbar sind. Sicherlich konfigurieren sich diese beiden Glaubensartikel im gesetzlichen Horizont des ganzen Pereq Heleq, wobei das Gesetz hier nicht die Beziehung zwischen Menschen und Gemeinde zu regeln hat, sondern die Garantie für die Teilhabe an der kommenden Welt geben muss. Die philosophische und theologische Integration von Gesetzgebung und Eschatologie ist meines Erachtens der Hauptzweck des vorletzten Glaubensartikels von Pereq Heleq: „Die zwölfte Grundlehre betrifft die Zeit des Messias. Das heißt, es ist zu glauben und für wahr zu halten, daß er kommen wird, daß er sich nicht verspätet. [vl hkx hmhmty ,X ] Wenn er sich verzögert, harre seiner (Hab 2,3). Und man setze ihm keine Frist, erfinde in Bezug auf ihn auch keine Auslegungen von Schriftstellen, um die Zeit seiner Ankunft herauszufinden. […] Ferner soll man an ihn glauben, ihn groß nennen, ihn lieben und um ihn beten, entsprechend all dem, was alle die Propheten über ihn prophezeit haben von Mose bis Maleachi. Wer aber an ihm zweifelt oder seinen Rang geringschätzt, der leugnet die Torah […]. Aus dieser Grundlehre geht der Grundsatz hervor, daß Israel nur einen König aus dem Hause Davids und aus der Nachkommenschaft Salomons allein haben kann. Jeder, der sich von dieser Dynastie lossagt, leugnet Gott und die Aussage seiner Propheten“136
Ich stimme mit Menachem Kellner137 überein, dass Maimonides’ sehr sorgfältige Begriffswahl138 deutlich den Sonderstatus dieses Glaubensartikels im Vergleich zu den anderen zeigt. Zunächst nennt Maimonides keine bestimmten biblischen Verse, um den Glaube an den Messias zu begründen, sondern die ganze prophetische Tradition von Moses bis Malachi. Die emphatische Weise, wie dieser Glaubensartikel vorgebracht wird, zeigt sich 135 136 137 138
David R. Blumenthal (Hrsg.), Al-Kitâb al-Muötawî de Yûsuf al-Basîr, op. cit., S. 333ff. J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 404. Menachem Kellner, Dogma in Medieval Jewish Thought, op. cit., S. 63ff. Maimonides schreibt am Schluss des Pereq Heleq: „And so do not go through it hurriedly, for, of a truth, I have not composed it in random fashion but after reflection and conviction and the attentive examination of correct and incorrect views; and after getting to know what things out of all of them it is incumbent upon us to believe, and bringing to my assistance arguments and proofs for every individual section of the subject.“ (Ibidem, S. 57f.)
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auch in der strengsten Aussage des Pereq Heleq, die man nur in bezug auf die Tage des Messias findet: Wer den Glauben an den Messias leugnet, drückt damit aus, dass das ganze göttliche Gesetz eine Lüge ist. Bis dahin hat Maimonides die Glaubensartikel ohne besondere Aufmerksamkeit auf ihren epistemologischen Charakter vorgestellt, d.h. er erklärt meist nicht, ob bestimmte Glaubensartikel als Gegenstände der Erkenntnis, des Glaubens oder einer anderen erkenntnistheoretischen Gattung zu betrachten sind. Unter den Begriffen, die Maimonides für ‚Glauben‘ verwendet, findet man drei arabische Stämme, die sowohl eine theologische als auch eine erkenntnistheoretische Bedeutung haben: i>tiqad (nach Kellners Übersetzung „firm belief“, im siebten, achten und zwölften Glaubensartikel), ’iman („faith“) und tasdiq („sincere affirmation“).139 Diese beiden letzten Worte kommen nur in bezug auf den Messias gemeinsam vor, für den also zugleich i>tiqad, ’iman und tasdiq verlangt werden. Ich finde Kellners Erklärung der Position des vorletzten Glaubensartikels sehr überzeugend: „It might be objected that if Maimonides wanted to emphasize the importance of the Messiah, he should not have placed the principle dealing with the Messiah at the end of this list; if it was so important to him, why did he not place it higher? This objection is easily met. If we accept Duran’s division of the principles into three groups, and further accept my claim that the order of the groups is determined by their subject-matter and that the order of the principles within the groups is one of general to particular or logically prior to logically posterior, then it is evident that the twelfth principle could not have appeared anywhere earlier than it does in the thirteen principles. Those principles dealing with retribution (the last group) cannot appear before those dealing with revelation (the second group) and these in turn cannot appear before those dealing with God (the first group). Within the last group, Messiah and resurrection are forms of retribution (the eleventh principle); retribution is dependent upon God’s knowledge (the tenth principle). Thus, although the principle dealing with the Messiah appears near the end of the thirteen principles, it could not have appeared any earlier. Maimonides’ emphasis on the dogmatic importance of belief in the Messiah is unique in the literature of medieval Jewish dogmatics.“140
Meine Auseinandersetzung mit der Interpretation Kellners betrifft nicht die Anordnung der dreizehn Glaubensartikel und die besondere Position des Artikels zum Glauben an den Messias, sondern den von Kellner angenommenen ‚dogmatischen‘ Inhalt dieses Artikels. Die Tatsache, dass Maimoni139 Hinsichtlich der Bedeutung dieser Begriffe vgl.: Shalom Rosenberg, Emunah we-Kategoriot Epistimiot ba-Hagut ha-Yehudit ha-Beinaimit, in: Derakhim le-Emunah be-Yahadut, Jerusalem 1980, S. 87–102; Harry A. Wolfson, The Terms Tasawwur and Tasdiq in Arabic Philosophy and their Greek, Latin, and Hebrew Equivalents, in: Studies in the History and Philosophy of Religion, Cambridge (Mass.) 1973, S. 478–489. 140 Ibidem, S. 64f.
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des diesen Artikel nicht mit biblischen Versen begründet und dass er nur in bezug auf den Messias über die Notwendigkeit des ’iman und des tasdiq spricht, bedeutet nicht, dass der Glaube an den Messias keinen gesetzlichen (und damit rationalen) Grund hat. Auch Joseph Sarachek bezeichnet die jüdische mittelalterliche Lehre des Messias als Dogma, wobei er diese Lehre mit einer unmittelbaren politischen Bedeutung verknüpft: „It is clear that the Messianic doctrine belongs to a different phase of Jewish theology than that which embraces the beliefs in God, immortality, and Providence. This doctrine is political rather than theological; more practical than speculative. It links itself to God, inasmuch as religion links all the earth and civilization to a Supreme Being, yet genetically it is a social and practical ideal. The belief in the Messiah can be traced from its vague and remote Biblical beginnings to its greatest fullness as a dogma of the Jewish authorities of the Middle Ages.“141
Obwohl Sarachek Maimonides in der Einführung zu seinem Werk über die messianische Lehre in der mittelalterlichen jüdischen Literatur nicht erwähnt, betont er, dass „messianism offered to Israel the philosophy of optimism as a solution to the problem of human evolution and destiny. The Jew explains the world as a moral order under divine guidance, and when hard pressed by difficulties he clings to an abounding faith in a brighter future. His historic attitude has ever been one of hope in the perfectibility of Israel and mankind.“142 Im Pereq Heleq hat der Messias zwar die Funktion, die Hoffnung Israels auf die Zukunft in einer sehr schwierigen Zeit seiner Geschichte am Leben zu erhalten, aber die emotionale und psychologische Kategorie des Optimismus entspricht nicht der rationalen Struktur der Messiasvorstellung und der jüdischen Glaubensartikel. Dieser Rationalismus wird von der Tatsache betont, dass sich Maimonides weder im Pereq Heleq noch in irgendeinem anderen späteren Werk auf die traditionellen apokalyptischen Darstellungen der messianischen Lehre bezieht: Die Propheten und nicht das Buch Daniel sind der Ausgangspunkt seiner Konzeption des Messias.143 Darüber hinaus enthalten die apokalyptischen Interpretationen eine zeitliche Konzeption der Ankunft des Messias als geschichtliches Ereignis, aber nicht eine Konzeption des Messias als individuelle Gestalt, die Maimonides hingegen am meisten interessiert, um – wie ich im Laufe der vorliegenden Arbeit zeigen werde – eine Brücke zwischen dem platonischen König-Philosophen und dem Erlöser Israels schlagen zu können. 141 Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah in Medieval Jewish Literature, op. cit., S. 1. 142 Ibidem, S. 2. 143 Nach dem jüdischen Kanon ist Daniel ein Buch der Ketuvim, nicht der Neviim, es handelt sich um kein prophetisches Buch. Die Sekundärliteratur hinsichtlich des Messias und die Darlegungen zum Messias in den prophetischen Büchern ist selbstverständlich zu umfangreich, um auch nur eine kurze Zusammenfassung an dieser Stelle versuchen zu können.
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Während der Zeit der Könige erhielt die Hoffnung auf die Rettung Israels einen großen politischen Impuls und fing an, eine zentrale Rolle im geschichtlichen und sozialen Leben des jüdischen Volkes zu spielen. In der Ungerechtigkeit, in der Gewalt und in dem politischen Unglück ihrer Zeit fanden die Propheten wohlbegründete Motivationen für ihr Plädoyer zugunsten eines zukünftigen wiederhergestellten Israel. Die Propheten wurden die Repräsentanten der eschatologischen Hoffnung Israels, die sich auf die Wiederherstellung der politischen Gerechtigkeit in dieser Welt konzentrierte. Diese politische Konzeption der eschatologischen Zeit wird von Sarachek deutlich gemacht: „An essential element of the restoration is the homebringing of dispersed Israel, buoyantly anticipated by the prophets. […] A thorough reconstitution of the Hebrew state upon its own soil presupposes the healing of an ancient breach, the reunion of the two kingdoms eloquently preached by the major prophets. Their Utopian representations abound in glowing pictures of the soil’s extraordinary luxuriance. Life’s necessities will be freely supplied. […] Israel’s spiritual pre-eminence is set forth in many brilliant oracles, particularly in Isaiah, which breathe the purest idealism and universalism. Is. 2:1–4, predicts disarmament and a universal judicial tribunal. The notion rarely occurs that the Jewish will exercise political or material control over the world. The national aspiration, as articulated by the prophets, is that the Jews may possess sovereign power within their own state, and forever be free from foreign molestation. Internally the state will be blessed with political stability and spiritual perfection. God and His law will be accepted intuitively by all people. The sole influence exerted by Israel upon the world will be ethical and spiritual; the God of Israel will be universally worshipped.“144
Die Propheten erkennen in der Gestalt des Messias den Erlöser Israels, und zwar unter sowohl einem politischen und nationalen als auch einem ethischen und universalen Blickwinkel: Die Verwirklichung des göttlichen Gesetzes führt zu einer universalen Zeit von Frieden und Reichtum unter allen Völkern, weil alle vom ersten Tag der Schöpfung an im göttlichen Plan enthalten waren. Im Talmud145, dessen Einfluss im Pereq Heleq deutlich spürbar ist, ist das messianische Reich das interregnum, oder besser, die Übergangsära von dieser noch unvollkommenen Welt zur idealen kommenden Welt, aber dieser Übergang bedeutet nicht das Ende der Geschichte bzw. das apokalyptische Ende der Welt: Die Zeit, welche der Messias verwirklichen wird, ist eine Fortsetzung der Gegenwart, in der freilich das göttliche Gesetz völlig verstanden und befolgt wird.
144 Ibidem, S. 6. 145 Eine der besten Untersuchungen hinsichtlich der häufig miteinander im Widerspruch stehenden messianischen Konzeptionen im Talmud ist: Leo Landman (Hrsg.), Messianism in the Talmudic Era, New York 1979.
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Aus diesem das Gesetz betreffenden Grund erwähnt Maimonides im zwölften Glaubensartikel die messianische Lehre der Propheten und die Notwendigkeit, an den Messias zu glauben: Nicht an den Messias zu glauben, dies bedeutet, die Zweckhaftigkeit der Torah und der ganzen Schöpfung abzulehnen, nämlich Gesetz, Welt und Geschichte ihres Sinns zu berauben. Obwohl die Ankunft des Messias sich verzögert146, muss man dem göttlichen Gesetz, in der Erwartung dieser Ankunft, unabhängig von den Schwierigkeiten der aktuellen Zeit weiter gehorchen. Was Maimonides an dieser Stelle von dem gläubigen Juden verlangt, ist mehr als die passive Akzeptanz eines Dogmas: Er verlangt die aktive Teilhabe an der Verwirklichung der Vorschriften der Torah, damit das göttliche Gesetz seinen eschatologischen Zweck nicht verfehlt. Der Messias, wie er von Maimonides im Pereq Heleq und in allen seinen späteren Werken beschrieben wird, ist kein Wundertäter, sondern ein weiser Gesetzgeber, weshalb er aus dem Haus des weisesten Königs Israels, David, stammen muss. Diesbezüglich schreibt Sarachek: „A descendant of the great David who will emulate his sire in his zeal for the Torah, who will espouse the Written Law, fight the battle of the Lord, and prevail upon all Israel to obey the Law, may be assumed to be the Messiah. […] The Messiah will not be an ignoramus who will rise to world-mastery through adventitious circumstances, wealth, or cunning. He must excel in learning and wisdom. He will be wiser and mightier than Solomon and well-nigh the equal of Moses in prophetic power. The doctrine of the supremacy of Moses (even above the Messiah) was posited to oppose the contention of the dominant religions that their alleged Messiahs were greater than Moses and could abrogate the Torah.“147
Der gegen Wunderwirkungen gerichtete Ansatz von Maimonides kann meines Erachtens die kurze Darstellung der Auferstehung der Toten im Pereq Heleq als zweites Element der eschatologischen Lehre Israels erklären, eine Darstellung, die noch problematischer erscheint, wenn man daran denkt, dass einige talmudische Strömungen meinten, die Auferstehung werde am Ende bzw. am Anfang der messianischen Zeit vom Messias bewirkt: Einerseits nahmen diese Strömungen die wundertätige Kraft des Messias an, und andererseits unterschieden sie keineswegs zwischen messianischer Zeit und >olam ha-ba. Maimonides erkennt die Notwendigkeit, dass die Massen an die Auferstehung der Toten, im besonderen zu einer sehr schwierigen geschichtlichen Zeit, glauben können, aber andererseits unterscheidet er sehr deutlich zwi-
146 Das Verbot, die Ankunft des Messias zu berechnen, hat im Pereq Heleq dieselbe Funktion wie im Iggeret Teman. 147 Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah, op. cit., S. 147.
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schen der Gestalt des Messias und seiner Konzeption des >olam ha-ba.148 Aryeh Botwinick schreibt diesbezüglich: „He [Maimonides] draws a sharp line of distinction between Olam Haba – „The world to Come – and Yemot Hamashia© – „The Days of the Messiah.“ Olam Haba, according to Maimonides, is not an earthly realm – a continuation of human history with Israel victorious – but a sheerly transcendental realm of disembodied souls which coexists with our current world and would presumably continue to coexist with this earthly realm even after the arrival of Melekh Hamashiaö – King Messiah – and which serves as the ultimate reward for the righteous.“149
In der Auflistung der Glaubensartikel liest man nur die folgende kurze Behauptung hinsichtlich der Auferstehung der Toten: „Die dreizehnte Grundlehre betrifft die Auferstehung der Toten, und wir haben sie bereits erläutert.“150
Der letzte Glaubensartikel suggeriert, dass man keine rationale bzw. philosophisch-theologische Erklärung dafür geben kann: Die Auferstehung ist tatsächlich ein Wunder, das nur im Buch Daniel erwähnt wird (Dan. 12:2), wenn man auch einige biblische Episoden als Beleg für eine solche Lehre interpretieren kann.151 Darüber hinaus leugnen Hiob 7:9, 14:14, Is. 38:18, 2 Sam. 14:14 und Ps. 72:29 das leibliche Leben nach dem Tod zweifellos.152 Die Tatsache, dass Maimonides dem Messias jedwede wundertätige Kraft abspricht, sowie seine Konzeption des >olam ha-ba als höchster Zweck 148 Unter diesem Blickwinkel stimme ich nicht mit der Meinung von Carol Klein überein: „He [Maimonides] assumes resurrection as a miracle of some future era, but associates it with the wonders to accompany emergence of the Messiah.“ (Carol Klein, The Credo of Maimonides. A Synthesis, New York 1958, S. 99). Eine solche Verknüpfung könnte den Messias als Wundertäter erscheinen lassen, während Maimonides den Messias als eine rein menschliche Gestalt betrachtet. Darüber hinaus wird diese menschliche Darstellung des Messias auch von Klein selber in der dritten Anmerkung des Kapitels Resurrection and the Coming of the Messiah betont (S. 100 sowie Anm. 3 auf S. 113). 149 Aryeh Botwinick, Maimonides’ Messianic Age, in: Judaism 33,4 (1984), S. 418–425. 150 J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, op. cit., S. 404. Wie ich in meiner Untersuchung des ersten Teils von Pereq Heleq gezeigt habe, wird die Auferstehung der Toten dort überhaupt nicht erklärt, sondern nur behauptet. 151 Man denke etwa an den Schluss des Buchs von Malachi, in dem Gott die Wiedererscheinung des Propheten Eliya ankündigt. Die Interpretation dieser Verse ist sehr umstritten, und Sarachek ist zum Beispiel der Meinung, dass diese Verse behaupten, dass der Messias keine Wunder verwirklichen wird: „His [von Elijah] return is complete proof that the resurrection depends upon the Messiah, for Elijah will preceed and prepare the way for the redeemer. This assumption does not conflict with an opinion, elsewhere stated, that the messiah will not perform miracles. In reality, the opinion implies that the Messiah will not need to perform resurrection or any supernatural deeds to prove his genuineness. His identity will be quickly established by the course of historic events, and by his self-revelatory nature. The supreme miracle will be performed by God himself. It is a reward only for the righteous.“ (Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah, op. cit., S. 157) 152 Für eine erste Orientierung hinsichtlich dieser Problematik vgl. u.a.: George W. E. Nickelsburg, Resurrection, Immortality, and Eternal Life in Intertestamental Judaism, Cambridge (Mass.) 1972.
Die Glaubensartikel in Pereq Heleq
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der Verwirklichung der Torah und als höchste Belohnung für den gläubigen Menschen mit der konsequenten Unterwerfung der Auferstehung der Toten vorstellt, könnten den Gegnern von Maimonides Recht geben, wenn sie behaupten, dass Maimonides in Wahrheit die Lehre der Auferstehung der Toten ablehnt. Ich bin der Meinung, dass sich Maimonides dieser Lehre nicht entgegenstellt, sondern dass er vielmehr die häufige traditionelle Verbindung von >olam ha-ba, Messias und Auferstehung der Toten kritisiert. Maimonides stellt sich gegen jene Theologie, die sich nur um die materiellen Fragen nach dem Messias, der Auferstehung und der kommenden Welt kümmert: Werden die Toten nackt oder angezogen auferstehen? Werden sie ihre Beerdigungskleider tragen? Wird der Messias den Unterschied zwischen Reichen und Armen beseitigen? Die höchste Belohnung nach einem Leben gemäß den Vorschriften des göttlichen Gesetzes ist die intellektuelle und ewige Verbindung der rationalen Seele mit Gott, während die böse Seele – nämlich die Seele des Menschen, der nicht an seiner intellektuellen Vollkommenheit gearbeitet hat – sterben wird. Diesbezüglich schreibt Sarachek: „He is a fool who insists that individual personality in the future world must be corporeal. The practical purpose of the human anatomy, of its internal and external organs, is to preserve the human species. In the future world, however, life will be endless and will render unnecessary the presence of any physical frame.“153
Genau diese materielle Sicherheit brauchte die Gemeinde, an die sich Pereq Heleq wandte und für die Pereq Heleq geschrieben wurde, aber diese Lehre muss von dem Messias als politischen Verwirklicher des göttlichen Gesetzes und von der kommenden Welt getrennt bleiben, weshalb Maimonides die Auferstehung der Toten zum Gegenstand eines Glaubensartikels für sich macht. Es muss uns nicht wundern, dass Maimonides weder in Pereq Heleq noch in einem späteren Werk eine genaue Darstellung des >olam ha-ba gibt, obwohl der Zweck des Glaubens an alle Artikel des Pereq Heleq die Teilhabe an der zu kommenden Welt ist. Das >olam ha-ba ist die intellektuelle Verbindung der rationalen Seele mit Gott, nachdem sie nach der Erfüllung des Gesetzes ihre Vollkommenheit erreicht hat. Der Messias spielt in den Glaubensartikeln eine zentrale Rolle, weil er jene politischen und gemeinschaftlichen Bedingungen verwirklichen wird, damit die Seele diese Aufgabe ohne materielle Sorgen erfüllen kann. Eine empirische Beschreibung des >olam ha-ba als eine Art ‚Eldorado‘ für die sinnliche Lust ist genau das, was Maimonides bei seinen Gegnern heftig kritisiert.
153 Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah, op. cit., S. 158.
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Pereq Heleq und der Messias
§ 6 Schlussbemerkungen Die politische und die Gesetze betreffende Hauptbedeutung von Pereq Heleq zeigt sich nicht nur in der zentralen Stellung, welche die Gestalt des Messias einnimmt, sondern auch in der Schlussbemerkung der Einführung zu Mishnah Sanhedrin Kapitel 10: „Wenn all diese Glaubensartikel für den Menschen feststehen und und er wahrhaftig von ihnen überzeugt ist, tritt er in die ‚Gesamtheit Israels‘ lXrsy llkb ein, und es obliegt uns, ihn zu lieben, und für ihn zu sorgen und alles für ihn zu tun, was Gott uns befohlen hat, füreinander hinsichtlich der Zuneigung und Bruderliebe zu tun. Und dies, selbst wenn er jegliche Übertretung begangen hat, die wegen der Begierde oder der Übermacht seines bösen Triebs möglich ist. Er wird Bestrafung gemäß seiner Perversion erhalten, aber er wird einen Anteil an der kommenden Welt haben, selbst wenn er ein ‚Missetäter Israels‘ lXrsy yiwvp wäre. Wenn jedoch ein Mensch an einem dieser fundamentalen Glaubensartikel zweifelt, hat er die Gesamtheit Israels verlassen‘ llkh ]m Xjy, und ‚die Grundwahrheiten des Judentums geleugnet‘ rqib rpk . Und er wird dann ]ym und ,rvqypX genannt und es obliegt uns, ihn zu hassen und sein Verderben zu verursachen, und über ihn sagt die Schrift: – XnwX ´´ h 'yXnwm Xlh ‚Soll ich nicht diejenigen hassen, die dich hassen, o Herr?‘“154
Die ‚gemeinschaftsbezogene Bedeutung‘ des Pereq Heleq wird hier deutlich: Wer diese Glaubensprinzipien akzeptiert, nämlich sich den Prinzipien des göttlichen Gesetzes unterwirft, hat nicht nur Teil an der kommenden Welt, sondern wird auch unabhängig von seinen empirischen Vergehen, nämlich unabhängig von seinen Schwächen, von der Gemeinde angenommen und geschützt. Wegen der aktuellen Not, in der die Gemeinde lebt, ist es unmöglich, zu fordern, dass der Mensch nicht in die Falle der Sünde tritt, und Maimonides selbst ist sich als ‚Bezugsperson‘ und Leiter einer Gemeinde dessen bewusst.155 Nur die Ankunft des Messias wird die materiellen und spirituellen Bedingungen schaffen, um die Torah zu verstehen und ihr zu gehorchen, aber bis zu diesem Moment braucht die Gemeinde eine rational begründete gesetzliche und theologische Struktur, die gleichsam als ‚Klebstoff‘ unter ihren Mitgliedern und als Schutz gegen die äußeren und inneren Gegner fungieren kann. In diesem Sinne ist Pereq Heleq meines Erachtens keine Ansammlung von Dogmen, sondern die Feststellung der theologischen, sozialen und politischen Identität einer ganzen Gemeinschaft.2Dieser ‚politische‘ (im grie-
154 Ibidem, S. 57. Übersetzung von F. Y. A. 155 Toshihiko Izutsu hat dieselbe politische und ethische Funktion des ’Imam im Qur’an untersucht: ders., The Concept of Belief in Islamic Theology, New York 19802.
Schlussbemerkungen
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chischen Sinne des Wortes) Hauptzweck des Pereq Heleq156 kann auch die unterschiedlichen Darstellungen der Glaubensartikel157 erklären, die Maimonides im Sefer ha-Miswot, in der Mishneh Torah und im Moreh haNevukhim (in dem aber eine Aufzählung von Glaubensartikeln strictu sensu fehlt) später gibt: Das jeweilige Verzeichnis von Glaubensartikeln modifiziert sich nicht nur gemäß den Änderungen in Maimonides’ theologischem und philosophischem Denken, sondern auch gemäß dem Zweck eines jeden Buchs, nämlich gemäß Ziel und Adressaten seiner jeweiligen späteren Werke. In der Fortsetzung meiner Arbeit geht es mir nicht darum, die Bedeutung sowie die Rolle dieser Änderungen in Maimonides’ Religionsphilosophie zu untersuchen. Vielmehr will ich herausarbeiten, wie sich die politische Funktion des Messias, deren Wichtigkeit bereits in diesem Frühwerk von Maimonides deutlich wird, in ihrer Verknüpfung zum natürlichen und göttlichen Gesetz und in ihrer Auseinandersetzung mit Alfarabi entwickelt.
156 Ich möchte meine von der Stellungnahme von Lawrence V. Berman (Ibn Bâjjah and Maimonides, unveröffentlichte Dissertation, Hebrew University of Jerusalem, Mai 1959) abweichende Sicht deutlich betonen: Nicht der Inhalt jedes Glaubensartikels ist politisch, wie Berman in seiner Dissertation meint, sondern der Hauptzweck des Pereq Heleq, der vor allem in der letzten Gruppe der Glaubensartikel klar zum Ausdruck kommt, ist meines Erachtens politisch. Vgl. auch: S. Goldman, The Halahic Foundation of Maimonides’ Thirteen Principles, in: H.-J. Zimmels/J. Rabbinowitz/L. Finestein (Hrsg.), Essays presented to Chief Rabbi Israel Brodie on the Occasion of His Seventieth Birthday, London 1967, S. 111ff. 157 Diese unterschiedlichen Darstellungen sind am besten in den folgenden Werken beschrieben worden: Menachem Kellner, Dogma in Medieval Jewish Thought, op. cit., S. 49ff; ders., Maimonides’ Thirteen Principles and the Structure of the Guide, in: Journal of the History of Philosophy 20,1 (1982), S. 76–84; Arthur Hyman, Maimonides’ „Thirteen Principles“, op. cit., S. 130ff. Sehr interessant ist auch die Position von Leo Baeck in bezug auf die jüdische Konzeption der Glaubensartikel: „Wofern man dieses Wort nicht allzuweit faßt, kann sogar gesagt werden, dass das Judentum überhaupt keine Dogmen hat und infolgedessen ja auch eigentlich nicht eine Orthodoxie. […] Alle diese Voraussetzungen [für Dogmen] fehlen im Judentum. Man brauchte hier nicht die gesicherte, unverbrüchliche Formel; denn sie ist nur notwendig, wo im Mittelpunkte der Religion ein geheimnisvoller, weihender Glaubensakt steht, der allein das Tor der Erlösung öffnet, und der darum seine begriffliche, überlieferbare Darbietung verlangt. Das Judentum kennt solche Heilstatsachen und Gnadengaben nicht; es hat keine wirksamen Handlungen, die den Himmel zur Erde heniederbringen sollen. Es hielt sich immer in einiger gewissen Nüchternheit und Strenge, die mehr fordern als geben will. Darum hat es die Fülle der Gebote gesucht, aber die Sakramente und ihre Mysterien abgelehnt.“ (Das Wesen des Judentums, Frankfurt a.M. 19973, S. 121). Siehe auch: Leo Baeck, Hat das überlieferte Judentum Dogmen?, in: ders., Aus drei Jahrtausenden, Tübingen 1958, wieder in: Kurt Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich: ein Querschnitt, Tübingen 1967, S. 4ff; Kaufmann Kohler, Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage, Leipzig 1910, Nachdruck: Hildesheim/New York 1979, S. 16ff.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
3. Kapitel Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda> § 1 Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides Im Folgenden werde ich die Mishneh Torah im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit untersuchen. Es geht mir nicht darum, einen zusammenfassenden Überblick über dieses Werk zu geben – dies wäre an dieser Stelle weder zu leisten, noch erschiene es in Anbetracht früherer Arbeiten als ein sinnvolles Unterfangen.1 Die Mishneh Torah, entstanden zwischen 1170 und 1180, versteht sich nicht nur als ‚Wiederholung der Torah‘ bzw. ‚Zweites Gesetz‘ (das ist die wörtliche Bedeutung von Mishneh Torah2), sondern sie ist das originale und innovative Ergebnis eines langjährigen Studiums sehr unterschiedlicher rabbinischer Werke und archimedischer Bezugspunkt der gesetzlichen, theologischen, ethischen, politischen und philosophischen Auseinandersetzungen
1 2
Unübertroffen bleibt das Werk von Isadore Twersky: Introduction to the Code of Maimonides (Mishneh Torah), New Haven & London 1980. Der Name Sefer Ha-Yad („Das Buch der Hand“) oder Yad Ha-Hasaqqa („die starke Hand“, Dt. 34:12) wurde dem Werk erst später hinzugefügt. Für meine Untersuchung habe ich die hebräische Ausgabe von Mordechai Dov Rabinowitz (Jerusalem: Mossad Harav Kook 1988) und die englische Ausgabe der Yale University Press herangezogen. An der National Library der Hebrew University of Jerusalem konnte ich auch die deutsche Ausgabe von Feder Chajim Sacks (St. Petersburg 1850–1852) studieren, die ich aber für sprachlich weniger gelungen halte als die englische. Darüber hinaus hat Sacks viele Paragraphen vor allem des Sefer ha-Madda> (im Besonderen alle Hinweise auf das sexuelle Leben in den Hilkhot De>ot) aus ‚moralischen Gründen‘ nicht übersetzt: „[…] denn weil dieses Buch zum Unterricht in den Schulen bestimmt ist, konnten wir solche Stellen, […] hier nicht stehen lassen. […] [D]ie Unwissenheit [ist] in solchen Fällen die beste Schutzmauer für die Unschuld […].“ (S. 174f) Vor zehn Jahren haben Eveline Goodman-Thau und Christoph Schulte das erste Buch der Mishneh Torah, nämlich das Sefer ha-Madda>, herausgegeben (Friedrich Niewöhner stellte das Exemplar aus der St. Petersburger Ausgabe, das damals in seinem Privatbesitz war, für die Reproduktion des deutschen Textes zur Verfügung): Moses Maimonides, Das Buch der Erkenntnis, hrsg. von Eveline Goodman-Thau und Christoph Schulte, mit Nachworten von Eveline Goodman-Thau, Christoph Schulte und Friedrich Niewöhner, Berlin 1994. Die Herausgeber haben die von Sacks weggelassenen Abschnitte am Schluss des Werks hinzugefügt. Aus dieser Ausgabe stammen meine Zitate des Sefer ha-Madda>.
Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides
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des jüdischen Mittelalters.3 Es handelt sich nicht um die sterile Sammlung eines legalistischen Gesetzescodex4, sondern um eine außerordentliche intellektuelle Bemühung um die Darstellung aller vielfältigen Implikationen, welche die Torah für das Leben der Gemeinde mit sich bringt. Aus vier Gründen betrachtet Isadore Twersky die Mishneh Torah sogar als Moses Maimonides’ zentrales Werk: 1. Maimonides’ spätere talmudische Studien sind am deutlichsten mit der Mishneh Torah verknüpft; sie lassen sich als eine ununterbrochene Fortsetzung der Untersuchungen verstehen, die zugleich ihre summa und ihr compendium in der Mishneh Torah finden. 2. Auch Maimonides’ Werke, die nicht direkt auf talmudische und halakhische Themen bezogen sind, enthalten lange rabbinische Diskussionen, die ihre Systematisierung in der Mishneh Torah finden (das gilt für die vor der Mishneh Torah geschriebenen Werke wie z.B. den Traktat über die Logik) oder die eine Vertiefung bestimmter Probleme darstellen, die in der Mishneh Torah bereits erwähnt wurden (das gilt für die späteren Werke wie z.B. den Maamar ha->ibbur – Traktat über den jüdischen Kalender). 3. Nach Twersky hat Maimonides sein frühes Werk stets im Lichte der Mishneh Torah revidiert, und die Mishneh Torah selbst ist das Werk, auf das Maimonides während seines gesamten Lebens immer wieder zurückkam. 4. Schließlich ist es der Mishneh Torah zu verdanken, dass Maimonides’ Ruf die Grenzen von Ägypten überschritt („The Mishneh Torah, which was to change the entire landscape of Rabbinic literature, also pushed back the frontiers of Maimonides’ sphere of influence and made his fame global as well as imperishable“5). An dieser Stelle möchte ich einen weiteren Grund nennen, der die zentrale Stellung der Mishneh Torah in Maimonides’ intellektuellem Leben verdeutlichen kann: Es handelt sich um ein Meisterwerk aus juristischer Logik, theologischer Exegese und philosophischer Spekulation, in dem sich die Einfachheit des stilistischen Ausdrucks mit der inhaltlichen Komplexität 3
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Hier liegt der Hauptunterschied zwischen Maimonides und seinen Vorgängern – in primis Rabbi Judah Ha-Nassi (zweite Hälfte des 2. Jh. bis erste Hälfte des 3. Jh.; als erster Redaktor der Mishna wird er auch rabbenu ha-qadosh [„unser heiliger Rabbi] genannt) –, die bereits die religionsgesetzlichen Entscheidungen der vorangegangenen Generationen jüdischer Gelehrter in einer systematischen Ganzheit zu vereinheitlichen versuchten. Für eine Untersuchung zu den Vorgängern von Maimonides hinsichtlich der Mishneh Torah vgl.: Chaim Tchernowitz, Maimonides as Codifier, in: Maimonides Octocentennial Series, New York 1935, S. 3ff. Ein solcher Codex ist das Werk, das Maimonides unmittelbar vor der Mishneh Torah schrieb und das man als notwendigen Kontext für die Mishneh Torah verstehen kann: Kitab al-fara’id, hrsg. von M. D. Rabinowitz, Jerusalem 1950; hebr. von Moses Ibn Tibbon, Sefer ha-Miswwot, Jerusalem 1972; Engl.: Charles B. Chavel (Hrsg. u. Übers.), The Book of Divine Commandments (the Sefer ha-Mitzvoth of Moses Maimonides), London 1940; siehe auch: Robert Young (Hrsg. und Übers.), Book of the Precepts: or the Affirmative and Prohibitive Precepts, compiled by Moses Maimonides out of the Books of Moses; with a life of the author, Edinburgh 1849. Isadore Twerksy, Introduction, op. cit., S. 19.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
verbindet und es so ermöglicht, die Inhalte mühelos im Gedächtnis zu behalten. Selbstverständlich führte der innovative Charakter der Mishneh Torah zu mehr als einem Gegner (im besonderen in Ägypten, in Bagdad und in Süd-Frankreich)6: Diese Kritik macht es für Maimonides sehr früh erforderlich, die Rolle und die Bedeutung der Mishneh Torah in seinem intellektuellen Leben und in seinem Leben als Lehrer und als Leiter einer Gemeinde zu verteidigen. In einem Brief an den Richter Rabbi Phinehas ben Meshullam aus Alexandria, der wenige Jahre nach dem Erscheinen der Mishneh Torah geschrieben wurde, rechtfertigt Maimonides die Grundlagen seines Werks wie auch die wichtigsten Zielsetzungen seiner Arbeit: „Wisse, dass ich, Gott bewahre, niemals gesagt habe, ‚Beschäftige dich nicht mit dem Studium der Gemara oder den Halachot von Rabbi Yishak Alfasi7 oder einem anderen Text.‘ Tatsächlich ist Gott selbst mein Zeuge, dass (die Studenten die zu mir kamen) in den letzten eineinhalb Jahren nicht meine eigenen Ausarbeitungen mit mir studiert haben. […] In der Einführung meiner Abhandlung habe ich ausdrücklich geschrieben, dass das einzige Ziel der Ausarbeitung darin bestand, die Last der Studenten zu mildern, die aufgrund ihres ungeduldigen Geistes nicht in der Lage waren, zu den Tiefen des Talmuds hinabzusteigen, und deshalb aus ihm nicht die Art und Weise lernen konnten, wie das Erlaubte und das Verbotene zu bestimmen sind. […] Niemand vor meiner Zeit, zumindest nicht seit Rabbi Judah und den anderen heiligen Gelehrten seiner Zeit, urteilte über alle Halachot des Talmuds und alle Gesetze der Torah. Dass ich nun jedoch einzig für die Entweihung Seines Namens verantwortlich sein sollte, weil mein Werk zusammenfassend ist, überrascht mich überaus. Diejenigen Leser betreffend, die nicht wissen, wie sie meine Abhandlung studieren sollen: kein Autor kann sein Buch überallhin begleiten und nur bestimmten Personen gestatten, es zu lesen. 6
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Für eine erste Orientierung über die post-Maimonidische Kontroverse hinsichtlich der Mishneh Torah vgl.: Jacob I. Dienstag, The Moreh Nevuchim Controversy. An annotated bibliography, in: Fred Rosner (Hrsg.), Abraham Maimonides’ Wars of the Lord, Haifa 20012, S. 154–200; Abraham Halkin, After Maimonides. An Anthology of Writings by his Critics, Defenders and Commentators, Jerusalem 1979; Charles Touati, Les deux conflicts autour de Maimonide et des études philosophiques, in: Marie Humbert Vicaire/Bernhard Blumenkranz (Hrsg.), Juifs et Judaisme de languedoc: XIIIe siécle-debut XIVe siécle, Toulouse 1977, S. 173–184; Hermann Greive, Die Maimonidische Kontroverse und die Auseinandersetzung in der lateinischen Scholastik, in: Miscellanea Mediaevalia 10 (1976), S. 170–180; Daniel J. Silver, Maimonidean Criticism and the Maimonidean Controversy 1180–1240, Leiden 1965; Yitzhak Baer, A History of the Jews in Christian Spain, 1. Bd., Philadelphia 1961; Nehemia Bruell, Die Polemik für und gegen Maimuni im dreizehnten Jahrhunderte, in: Jahrbücher für Jüdische Geschichte und Literatur IV (1879), S. 1–33. Rabbi Yishak Alfasi (im Jahr 1103 gestorben) beschränkte sein Kompendium auf die praktischen Aspekte des mündlichen Gesetzes (z.B. Tefillin, Sisit, Mezuzah und Sefer Torah) ohne Hinweise auf die theologischen und spekulativen Implikationen der jüdischen Tradition. Vor der Mishneh Torah galt dieses Kompendium als die beste Zusammenfassung des mündlichen Gesetzes.
Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides
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Darüber hinaus habe ich in der Einleitung meiner Abhandlung geschrieben, dass ich das Werk gemäß der Mishnah und im Stile der Mishnah verfasst habe. […] Du solltest wissen, dass jeder Autor eines Buches – ob es nun von den Gesetzen der Torah oder von anderen Arten der Weisheit handelt, ob es nun von einem der alten Weisen der Völker der Welt oder von Ärzten verfasst wurde – eine der folgenden Methoden anwendet: entweder die des monolithischen Kodex (hibbur) oder die des diskursiven Kommentars (perush). In einem monolithischen Kodex wird nur eine korrekte Sache verzeichnet, ohne irgendwelche Fragen, ohne Antworten und ohne irgendwelche Beweise […]. Ich habe in meiner Einleitung auch die Überlieferung eines Gesetzes von einem Hohen Gericht und seinem vorsitzenden Richter zum folgenden Hohen Gericht und seinem vorsitzenden Richter beschrieben, um zu beweisen, dass die Tradition des Gesetzes nicht aus Traditionen von Individuen, sondern Traditionen von vielen bestand. Aus dem selben Grund bestanden mein Bestreben und mein Ziel bei der Abfassung meines Werkes darin, dass jede Halacha uneingeschränkt (anonym) zitiert werden sollte, selbst wenn es die Meinung eines Individuums ist, aber nicht im Namen von So-und-so überliefert werden sollte. Dies würde die Position der Häretiker (minim) zerstören, die das gesamte mündliche Gesetz ablehnten, weil sie es im Namen von So-und-so überliefert sahen und sich einbildeten, dass dieses Gesetz niemals zuvor formuliert worden war, sondern dass ein Einzelner es selbst hervorgebracht hatte.“8
Besser als andere Briefe, die zur Verteidigung der Mishneh Torah von Maimonides geschrieben wurden9, stellt das Schreiben an Phinehas ben Meshullam die politischen und sozialen Zwecke dieses monumentalen Werks heraus: Nachdem die babylonischen Lehrhäuser untergangen waren und die Diaspora die Einheit der unterschiedlichen Gemeinden gefährdete, da das Risiko des Vergessens der jüdischen Tradition stets drohte, tauchten das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer Systematisierung des mündlichen Gesetzes auf. In Maimonides’ Perspektive stellt eine solche Systematisierung nicht das Werk eines einzigen Gelehrten dar, sondern sie ist das Ergebnis einer langen Tradition, in der alle Beteiligten (nämlich alle Rabbinen und Weisen der Nationen) gleichberechtigt sind: Die Mishneh Torah ist ‚Werk der Vielzahl‘ und nicht das Buch eines einzigen Autors, der unter seinem Namen seine persönliche Interpretation der mündlichen Überlieferung darstellt. Der Universalismus der Mishneh Torah kommt auf vier Weisen zum Ausdruck: in der Tatsache, dass alle Gemeinden der Diaspora angesprochen werden; im Recht eines jeden Menschen, dieses Werk zu lesen und zu verstehen (deswegen wurde es im Hebräisch der Mishnah10 statt auf Arabisch geschrieben); in dem Umstand, dass in der Entfaltung der jüdischen Tradition die Weisen der Nationen miteinbezogen werden; und endlich in der Tatsache, dass Gesetze versammelt sind, die jeden Aspekt des individuellen und kollektiven Lebens betreffen. 8 9 10
Isadore Twersky, Introduction, op. cit., S. 32ff (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 37ff. Wilhelm Bacher, Zum sprachlichen Charakter des Mischne Thora, Leipzig 1914.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
Das Motto der Einführung zur Mishneh Torah bezieht sich auf Ps. 119:6 („Dann werde ich nicht zuschanden, wenn ich auf all deine Gebote schaue“) und unterstreicht, dass Maimonides auf alle praktischen und theoretischen Aspekte des Gesetzes achten wird. In dieser Perspektive stellt Maimonides sich in die Tradition von Abraham Ibn Ezra (1089–1164) und Bahya Ibn Paquda (zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts), für die nicht nur das Studium der praktischen Dimension des Gesetzes eine zentrale Rolle spielen darf. Jedoch geht Maimonides einen Schritt weiter: Philosophie (hier als Metaphysik verstanden) ist der edelste und letzte Gegenstand des Studiums, weswegen eine talmudische Gelehrsamkeit, die nicht in der Beherrschung der Philosophie verwurzelt wäre, unangemessen ist. Mit dieser Stellungnahme, die bereits am Anfang der Mishneh Torah deutlich zum Ausdruck kommt, wehrt Maimonides das Risiko einer Zersplitterung in der Rezeption des jüdischen Gesetzes ab. Das Memorieren praktischer Vorschriften ohne die Fähigkeit, den Hintergrund dieser Vorschriften mit Hilfe der Philosophie hermeneutisch und spekulativ zu untersuchen, gestattet uns nur, einen winzigen Teil des Willens Gottes kennenzulernen. Dass Gott die Welt schuf, ist ein Akt seines Willens, den wir nicht hinterfragen können, aber wie er sie schuf und weiter verwaltet, ist ein Ausfluss seiner Weisheit, deren Grundlagen im göttlichen Gesetz enthalten sind und die wir erkennen können.11 Isadore Twersky schreibt diesbezüglich: „The unity and indivisibility of the Oral Law is here seen also as an aspect of the unity of all human and divine learning. Comprehensiveness meant that Maimonides would not separate the theoretical from the practical, just as he would not separate the Scriptural commandments from the Rabbinic ones or the ceremonialritualistic from the ethical-moral. […] The philosophical-theological component of the Mishneh Torah is likewise to be seen from the vantage point of comprehensiveness, as is its historical dimension. In other words, the Mishneh Torah includes physics, metaphysics, ethics, psychology, dietetics, astronomy, snippets’ of history, particularly the history of religion, everything from creation to the eschatos; as a result, this unique work of jurisprudence allows one to glimpse the full sweep and conceptual affluence of Judaism.“12
Die von Maimonides angestrebte Vollständigkeit in der Darstellung der jüdischen Tradition hat als Konsequenz nicht nur die Entstehung einer neuen 11
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In Moreh ha-Nevukhim III, 25 wird die Torah als Ausfluss der Weisheit Gottes eingeführt, die Torah wird hier als ein Erschaffenes begriffen. Auch im frühmittelalterlichen Islam war die Frage nach der Erschaffenheit oder Unerschaffenheit des Qur’an ein entscheidender Streitpunkt der Schulen (siehe u.a.: Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 19633, S. 109f). Ibidem, S. 215. Zur Interpretation des mündlichen Gesetzes bei Maimonides siehe: Gerald J. Blidstein, Oral Law as Institution in Maimonides, in: Ira Robinson et al. (Hrsg.), The Thought of Maimonides, Philosophical and Legal Studies, Lewinston (NY) 1990, S. 167–182; Jacob Levinger, The Oral Law in Maimonides’ Thought (auf Hebräisch), in: Tarbiz 37 (1968), S. 282–293.
Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides
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Gattung des Gesetzescodex, die kein Vorbild kennt und auch später keine Nachahmung erfährt, sondern impliziert auch eine neue Bedeutung des Begriffs ‚Philosophie‘ einerseits und des Begriffs ‚Gesetz‘ andererseits.13 An dieser Stelle möchte ich einige spekulative Aspekte dieses Verhältnisses von Philosophie und Gesetz untersuchen, die Twersky meines Erachtens nicht deutlich genug herausarbeitet bzw. die in seiner philologischgeschichtlicher Perspektive nicht relevant sind. Diese Aspekte betonen die Wichtigkeit und die zentrale Stellung der Mishneh Torah in Maimonides’ intellektuellem Leben.
1.1 Die Beziehung zwischen Philosophie und Gesetz in der Mishneh Torah: Einflüsse des islamischen Denkens Twersky unterstreicht, ebenso wie viele andere Kommentatoren14, die Ähnlichkeiten zwischen Mishneh Torah und Moreh ha-Nevukhim hinsichtlich der Konzeption der Grundlagen des Gesetzes: Wie man im ersten Buch (Sefer ha-Madda>, Buch der Erkenntnis)15 der Mishneh Torah einen Ab-
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Vgl. im besonderen das Kapitel „Law and Philosophy“ in Twerskys Introduction: Ibidem, S. 356ff. Howard Kreisel, Prophecy, op. cit., S. 182ff; Menachem Lorberbaum, Politics and the Limits of Law. Secularizing the Political in Medieval Jewish Thought, Stanford 2001; Joel L. Kraemer, Naturalism and Universalism in Maimonides’ Political and Religious Thought, in: Ezra Fleischer/Gerald Blidstein/Carmi Horowitz/Bernard Septimus (Hrsg.), Me’ah She’arim. Studies in Medieval Jewish Spiritual Life in Memory of Isadore Twersky, Jerusalem 2001, S. 47–81; Josef Stern, The Idea of Hoq in Maimonides’ Explanation of the Law, in: Shlomo Pines/Irmiyahu Yovel (Hrsg.), Maimonides and Philosophy. Papers presented at the Sixth Jerusalem Philosophical Encounter, May 1985, Dordrecht 1986, S. 92–130; Kalman P. Bland, Moses and the Law according to Maimonides, in: Jehuda Reinharz/Daniel Swetschinski (Hrsg.), Mystics, Philosophers, and Politicians. Essays in Jewish Intellectual History in Honor of Alexander Altmann, Durham (North Carolina) 1982, S. 49–66; S. Daniel Breslauer, Philosophy and Imagination. The Politics of Prophecy in the View of Moses Maimonides, in: The Jewish Quarterly Review 70, 3 (1980), S. 153–171; Miriam Galston, The Purpose of the Law according to Maimonides, in: The Jewish Quarterly Review 69 (1978), S. 27–51; Ben Zion Bosker, The Legacy of Maimonides, New York 1962. Hinsichtlich der Einflüsse der islamischen Rechtswissenschaft vgl. u.a.: Bernard G. Weiss, Covenant and Law in Islam, in: Bernard G. Weiss/Edwin B. Formage/John W. Welch (Hrsg.), Religion and Law: Biblica-Judaic and Islamic Perspectives, Winowa Lake 1990, S. 44–60. Simon Rawidowicz, „Mishneh Torah“ Studies (I–III), Waltham (Mass.) 1954; Leo Strauss, Notes on Maimonides’ Book of Knowledge, in: E. E. Urbach/R. J. Werblowski/C. Wirszburski, Studies in Mysticism and Religion Presented to Gershom G. Scholem on his Seventieth Birthday, Jerusalem 1967, S. 269–283; auch in: Leo Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy, mit einer Einführung von Thomas L. Pangle, Chicago/London 1983, S. 192–204; Isadore Twersky, Some Non-Halakhic Aspects of the Mishneh Torah, in: Alexander Altmann (Hrsg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge (Mass.) 1967, S. 95ff; George Vajda, La pensée religieuse de Moïse Maïmonide; unité ou dualité?, in: Cahiers de Civilisation Médiévale, 9 (1966), S. 29ff.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
schnitt (Hilkhot Yessode ha-Torah)16 über die empirischen und metaphysischen Grundlagen des Judentums findet, damit von Anfang an deutlich wird, dass das Verständnis dieser Grundlagen – und nicht der blinde und unbewusste Gehorsam gegenüber den Vorschriften – zur Erkenntnis Gottes führt, so liest man parallel in der Einführung zum Moreh ha-Nevukhim, dass der Zweck dieses Werks nicht das Studium der gleichsam technischen „Wissenschaft des Gesetzes“ (auf Arabisch >ilm al-ˇsari>a a’ani faqaha) ist, sondern das Studium des „Verständnis[ses] der Tora nach der Wahrheit“17 (auf Arabisch >ilm al- sˇari>a >ala al-haqiqa). Mit anderen Worten: Nur diejenigen, die imstande sind, die Torah und das Buch der Propheten gemäß der durch das Studium der Wissenschaften gewonnenen richtigen und wahren Meinungen zu interpretieren, sind weise. Im letzten Kapitel des Moreh haNevukhim wird die Hokhmah (‚Weisheit‘) als Erkenntnis der rationalen und moralischen Aspekte des Gesetzes bezeichnet. Genauso wie in der Mishneh Torah kann auch hier die Erkenntnis Gottes von der Erkenntnis der Grundlagen seines Gesetzes und von den ethischen Dispositionen des Menschen nicht losgelöst werden. Trotzdem bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Mishneh Torah und dem Moreh ha-Nevukhim bestehen: der Kern der das Gesetz betreffenden Argumentation in der Mishneh Torah verfolgt ethische und soziale Zwecke. Es geht hier um eine Kombination aus praktischer und theoretischer Bedeutung des Gesetzes, während die philosophische und theologische Bedeutung des Gesetzes in seiner geschichtlichen Entwicklung, die nur von wenigen Menschen gewürdigt werden kann, den Hauptzweck von Maimonides’ spekulativstem Werk darstellt – auch aus diesem Grund wurde der Moreh ha-Nevukhim auf Arabisch statt auf Hebräisch geschrieben. Twersky schreibt diesbezüglich: „While the Moreh introduces historical causation and boldly utilizes a theory of accommodation, the Mishneh Torah does not rely upon historical motivation of laws. […] The reason for this divergence is quite clear. […] Historical science, like genetic science, looks for some kind of continuity between temporally prior happenings and subsequent events (there is no indication that Maimonides confronted the problem of the relativization). This, however, all its rationality notwithstanding, 16
17
In seinem Kommentar zur Mishna, den Maimonides schrieb, als er nur 23 Jahre alt war, konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf die Gesetze als gufe Torah (die Körper des Gesetzes, nämlich dessen unterschiedliche Themen: die Reinheit, die Opfer usw.), aber nicht auf die yessodot gufe Torah. Die yessodot sind die theologischen und philosophischen Grundlagen der praktischen Gesetze, nämlich die ratio praeceptorum (auf Hebräisch ta>ame hamiswwot). Für eine vollständige Analyse der ta>ame ha-miswwot in der jüdischen Welt sowie in der midrashischen Literatur vgl.: Isaak Heinemann, Ta>ame Miswwot be-Sifrut Yisrael, Jerusalem 1949. Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen, op. cit., S. 4.
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has no spiritual-ethical consequences. The Mishneh Torah is primarily concerned with bringing to the surface those underlying motives and overarching goals which discipline the human faculties, quell evil impulses, subdue inclinations to vices, discipline the moral disposition, and advance the individual toward ethicalintellectual perfection. The ethicization and intellectualization of laws [presented in the Moreh] will not be fructified by historical analysis or by excessive theoretical and psychological explanations.“18
Die geschichtlichen und psychischen Erklärungen dienen Twersky zufolge dazu, die Weisheit und Vernünftigkeit des Gesetzes zu beweisen, sind aber für den Hauptzweck der Mishneh Torah, die ethischen und sozialen Erklärungen des Gesetzes, nicht geeignet. Solche Erklärungen deuten auf die sozial orientierte Interpretation des Gesetzes hin, die nicht nur durch das philosophische vis des späteren Moreh ha-Nevukhim erreicht werden kann. Die Darstellung der hermeneutischen Praxis, in der die Heteronomie des Gesetzes mit den konkreten im Leben der Gemeinde auftretenden Fällen konfrontiert wird, ist der Leitfaden für das Verständnis des gesetzlichen Ansatzes der Mishneh Torah. In der Mishneh Torah dient die Vernünftigkeit des Gesetzes der Verständlichkeit und der Erklärung der ethischen Zwecke, auf die hin das Wirken des Individuums und der gesamten Gemeinde orientiert werden muss. Gerade diese doppelte Ebene (Individuum und Gemeinde), die den sozialen Nutzen des Gesetzes hervortreten lässt und auf der das ganze Werk sich bewegt, zeigt die Größe von Maimonides sowohl als Jurist als auch als Philosoph. Der Mishneh Torah zufolge ist das Gesetz (oder besser: sind die Gesetze) aufgrund der göttlichen Setzung wahr. Gleichwohl hat die menschliche Vernunft die Aufgabe, die Weisheit des Gesetzes, seine Vernünftigkeit und vor allem seinen Nutzen für die Gemeinde wie für den Einzelnen aufzuzeigen. Maimonides meint, dass nicht die Herkunft das Gesetz göttlich macht, sondern das Ziel, wohin das Gesetz das Volk führt, nämlich die Erkenntnis Gottes durch die Verwirklichung des ethischen Gehalts der Vorschriften.19 Aus diesem Grund ist in der Mishneh Torah nicht von ‚Gesetz‘ die Rede (Torah; davon ist nur im ersten der vierzehn Bücher die Rede), sondern vielmehr von ‚Gesetzen‘ (Halachot), während die Bestimmung der Autonomie des Gesetzes als rational und natürlich eine zentrale Problematik des Moreh ha-Nevukhim darstellt. Wenn man von Heteronomie des Gesetzes einerseits (Mishneh Torah) und Autonomie des Gesetzes andererseits (Moreh ha-Nevukhim) spricht, verwendet man einen Wortschatz, der selbstverständlich Immanuel Kant und nicht Maimonides zugehört. Diese 18 19
Isadore Twersky, Introduction, op. cit., S. 431f. Vgl.: Theodore H. Kreisel, Maimonides on Knowledge of God. Pedagogy, Philosophy and Law, in: Ruth Link-Salinger, Torah and Wisdom. Studies in Jewish Philosophy, Kabbalah and Halacha. Essays in Honor of Arthur Hyman, New York 1992, S. 95–112.
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Terminologie gestattet uns aber, die inhaltliche Differenz zwischen dem gesetzlichen Ansatz der Mishneh Torah und dem von Moreh ha-Nevukhim deutlicher zu begreifen. Obgleich man in der Mishneh Torah keinen expliziten Unterschied zwischen mishpatim (Gebote, die für die Massen verständlich sind) und huqqim (undeutliche Vorschriften, deren Grundlagen nur wenigen Menschen zugänglich sind) findet – eine Differenz, die eine fundamentale Rolle im Moreh ha-Nevukhim20 spielt –, kann man die Interaktion dieser beiden Ebenen in der Konzeption und in der Anwendung des Gesetzes bereits im ersten Buch der Mishneh Torah (Sefer ha-Madda> ) erkennen. Der erste Abschnitt des Sefer ha-Madda> ist den Grundlagen der Torah gewidmet, so dass der Zweck des ganzen Werks sofort und unmittelbar ausgesprochen wird: Wenn man die soziale und ethische Bedeutung der im Folgenden beschriebenen Gesetze verstehen will, muss man ihren empirischen und metaphysischen Hintergrund begreifen. Nur durch die Kombination aus praktischer Anwendbarkeit des Gesetzes und Verständlichkeit seiner ethisch-intellektuellen Bedeutung ist es möglich, zur Erkenntnis Gottes zu gelangen. Im Vergleich zu den vorangegangenen jüdischen Gesetzessammlungen vor Maimonides liegt die Originalität von Maimonides’ Codex in dieser Kombination aus dem Gesetz als göttlicher Leitschnur des Handelns und dem rationalem Verständnis des Gesetzes (nämlich der Erkenntnis Gottes). Handelt es sich dabei aber um ein Originäres an sich, oder kann es nur als originär in bezug auf die das Gesetz betreffende Tradition des Judentums betrachtet werden? Ist dieses die einzige Tradition, auf die sich Maimonides in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Gesetz bezieht? In beiden Fällen fällt meine Antwort negativ aus. David Novak und Joel L. Kraemer haben bereits unterstrichen21, dass Maimonides einen großen Teil seines Lebens unter muslimischen Regierun20
21
Moreh ha-Nevukhim III, 26. Vgl. u.a.: Josef Stern, Problems and Parables of Law. Maimonides and Nahmanides on Reasons for the Commandments (Ta’amei ha-Mitzvot), Albany (N.Y.) 1998; Shlomo Zalman Havlin, Hukkim und Mishpatim in der Bible, in der talmudischen Literatur und bei Maimonides (auf Hebräisch), in: Zvi A. Steinfeld (Hrsg.), Annual of Bar-Ilan University: Studies in Judaica and Humanities, Ramat Aviv 1995, S. 135–166. Lenn E. Goodman, Maimonides and the Philosophers of Islam: the Problem of Theophany, in: Benjamin H. Hary/John L. Hayes/Fred Astren, Judaism and Islam. Boundaries, Communication and Interaction. Essays in Honor of William M. Brinner, Leiden 2000, S. 279–301; Joel L. Kraemer, Hashpa>at ha-mishpat ha-muslemi al ha-Rambam, in: Te>udah. Mehqarim bemada>ey ha-yahadut, 10 (1996), S. 224–232; Wim Delsman, Maimonides over christenen en moslims, in: ders., Elf wijzen van interpreteren. Essays over het lezen van teksten uit het islamitisch cultuurgebied, Nijmegen: Mandara 1992, S. 25–35; Gideon Libson, Parallels between Maimonides and Islamic Law, in: Ira Robinson (Hrsg.), The Thought of Maimonides. Philosophical and Legal Studies, Lewiston 1990, S. 209–248; David Novak, The Treatment of Islam and Muslims in the Legal Writings of Maimonides, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks, Studies in Islamic and Judaic Traditions. Papers Presented at the Institute for IslamicJudaic Studies, Atlanta (Georgia) 1986, S. 233–250; ibidem: George F. Hourani, Maimonides
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gen verbrachte, weshalb seine juristische Annäherung an die Halakhah mehr vom Islam als von der rabbinischen Tradition, und zwar unter einem formalen Blickwinkel, beeinflusst wurde. Obwohl bereits die Rabbinen vor
and Islam, S. 153–165. Vgl. auch: Lawrence Kaplan, Maimonides on Christianity and Islam, in: L’Eylah 22 (1986), S. 31ff; Marc B. Shapiro, Islam and the Halakhah, in Judaism 42,3 (1993), S. 332–343; Alfred L. Ivry, Islamic and Greek Influences on Maimonides’ Philosophy, in: Shlomo Pines/Yirmiyahu Yovel (Hrsg.), Maimonides and Philosophy, op. cit., S. 139–156; Jacob Posen, Die Einstellung des Maimonides zum Islam und Christentum, in: Judaica 42,2 (1986), S. 66–73. Für einen Vergleich hinsichtlich der unterschiedlichen Struktur der Vorschriften in Sefer haMiswwot, Mishneh Torah und Moreh ha-Nevukhim vgl.: Jacob Neusner/Tamara Sonn, Comparing Religions through Law: Judaism and Islam, London/New York 1999; Lawrence V. Berman, The Structure of the Commandments of the Torah in the Thought of Maimonides, in: Siegfried Stein/Raphael Loewe, Studies in Jewish Religious and Intellectual History Presented to Alexander Altmann on the Occasion of His Seventieth Birthday, Alabama 1979, S. 51–66; Rose G. Lewis, Maimonides and the Muslims, in: Midstream 25,9 (1979), S. 16–22; Erwin I. J. Rosenthal, Political Philosophy in Islam and Judaism, in: Judaism 17 (1968), S. 430–440. Für eine generelle Einführung zum Einfluss der islamischen Rechtswissenschaft des 10.–13. Jahrhunderts auf das jüdische Gesetz vgl. u.a.: Shelomo Dov Goitein, The Interplay of Jewish and Islamic Laws, in: Ruth Link-Salinger (Hyman), Jewish Law in our Time, Denver 1982, S. 61–77; Bernard Lewis, Maimonides and the Muslims, in: Midstream (Febr. 1977), S. 26–37; Erwin I. J. Rosenthal, Judaism and Islam, London/New York 1961 (Rosenthal ist mehr daran interessiert, die Einflüsse des Judentums auf den Islam herauszuarbeiten); Shelomo Dov Goitein, Jews and Arabs, New York 1955; Walter J. Fischel, The Jews in the Political and Economic Life of Medieval Islam, London 1937. Für eine generelle Untersuchung der Beziehung zwischen Juden und Muslimen im Mittelalter und ihrer unterschiedlichen Interpretationen siehe u.a.: Mark R. Cohen, Under Crescent and Cross. The Jews in the Middle Ages, Princeton 19964; Leonard S. Kravitz, Philosophical Development in Islam and Judaism: A Medieval Model for the Modern World, in: Gary M. Bretton-Granatoor/Andrea L. Weiss, Shalom-Salaam. A Resource for Jewish-Muslim Dialogue, New York 1993, S. 52–59; Heinrich Simon, Die Juden als Mittler. Arabische, jüdische und europäische Wissenschaft, in: Alfred Ebenbauer/Klaus Zatloukal (Hrsg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Bern 19922; Shelomo D. Goitein, A Mediterranean Society: The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza, 5 Bde., Berkeley/Los Angeles 1967–88; Bernard Lewis, The Jews of Islam, Princeton 1984; Norman A. Stillman, The Jews of Arab Lands: A History and Source Book, Philadelphia 1979; Haim H. Ben-Sasson, Peraqim be-toledot ha-yehudim bi-mei ha-beinaym (Zur jüdischen Geschichte im Mittelalter), Tel Aviv 1969; Eliyhau Ashtor, Qorot he-yehudim bi-sefarad ha-muslimit (Geschichte der Juden im muslimischen Spanien), 2 Bde., Jerusalem 1960–66 (englische Übersetzung von Aaron Klein und Jenny Machlowitz Klein: The Jews of Moslem Spain, 2 Bde., Philadelphia 1975–1979); Moshe Gil, Jews in Islamic Countries in the Middle Ages, Leiden 2004; Heskel M. Haddad, Jewish of Arab and Islamic Countries: History, Problems, Solutions, New York 1984; Dominique Sourdel, Medieval Islam, übersetzt von J. Montgomery Watt, London 1983; Salo Baron Wittmayer, A Social and Religious History of the Jews, 18 Bde., New York 1952–19932; Marion Woolfson, Prophets in Babylon: Jews in the Arab World, London 1980; Barakat Ahmad, Muhammad and the Jews: A Reexamination, New Delhi 1979; Qasim Abduh Qasim, ’Ahl al-dimma fi misr al->usur al-wusta [Die geschützten Völker in Ägypten während des Mittelalters], Kairo 19792; Albert Memmi, Juifs et Arabes, Paris 1974; Haim Z. Hirschberg, A History of the Jews in North Africa, Leiden 1974; Ibrahim Amin Ghali, Le monde arabe et les juifs, Paris 1972.
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Maimonides versuchten, einige Vorschriften der Bibel zu begründen22, ist die Zahl der Begründungen im Vergleich zur Zahl der Vorschriften verschwindend klein.23 Einen systematischen Versuch zur rationalen Untersuchung des Gesetzes hatte man zuerst im Islam unternommen, einen Versuch, in dem Rechtswissenschaft und politische Theologie zusammenfanden.
a) Fari>a und fiqh in der mittelalterlichen islamischen Rechtswissenschaft Das islamische Gesetz (ˇsari>a) besteht aus dem Wort Gottes (Qur’an) und den Aussprüchen, Handlungen und Billigungen des Propheten (Sunna). Die Sunna ist den Aussagen des Qur’an selbst untergeordnet und im Wesentlichen als deren Interpretation zu verstehen. Neben dem Qur’an und der Sunna als den zentralen Rechtsquellen sind in der Rechtsfindung in absteigender Reihenfolge der Konsens der Rechtsgelehrten (’ipma> ) und der Analogieschluss (qiyas) von Bedeutung.24 In der sˇari>a werden alle Rechtssätze für das alltägliche Leben behandelt, weshalb sie im Qur’an als Wegweisung Gottes beschrieben wird. Die gesamte Schöpfung gehorcht dem göttlichen Gesetz, und der Prophet und Staatsgründer Muhammad ist somit nicht Begründer des Islam, sondern der Verkünder der göttlichen Schöpfungsordnung (Islam bedeutet ‚völlige Hingabe an Gott in handelnder Ergebung‘). Zur Vollkommenheit und Gerechtigkeit gelangt ein Muslim nur durch strikte Beachtung der Gesetze des Islam. Die sˇari>a als eine Leitung durch den allwissenden und barmherzigen Willen Gottes ist für den Menschen nicht hinterfragbar. Vielmehr beruht sie auf dem Qur’an, der Verkündigung des göttlichen Willens aus Gnade und Barmherzigkeit. Der Zweck des Qur’an ist die Läuterung des Menschen und seine Orientierung am Willen Gottes. Diese Orientierung sichert dem Menschen eine lebensfähige Gemeinschaft. Das auf dem Qur’an beruhende islamische Gesetz ist die Norm des praktischen Handelns und Garant der Verheißung Gottes.25 22
23
24 25
Vgl. z.B. Sanhedrin 71b hinsichtlich der Todesstrafe für den eigenwilligen und ungehorsamen Sohn (Dt. 21:18–21) sowie Sanhedrin 72a hinsichtlich der Freisprechung dessen, der einen Dieb beim Einbruch ergriffen und getötet hat (Ex. 22:1). Für eine Untersuchung der Versuche, die Begründung des Gesetzes vor Maimonides festzustellen, siehe: Aron Eisenstein, Moses Maimonides’ Begründung der biblischen Gesetzgebung, Cieszyn 1935, S. 7ff. Eisenstein hält auch den Versuch von Sa>adyah Gaon (Emunot we De>ot, III 1,2) zur Begründung des Gesetzes mit der Leistung von Maimonides nicht für vergleichbar (S. 9). Siehe die ausführliche Beschreibung dieser das Gesetz betreffenden Begriffe in: Fazlur Rahman, Islam, Chicago/London 19792, S. 68ff. Hinsichtlich der Zwecke des islamischen Gesetzes siehe u.a.: Tilman Nagel, Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001; Christian Joachim Schäfer, Das ‚Gesetz‘ in islamischer Sicht, in: Udo Kern (Hrsg.), Das Verständnis des Gesetzes bei Juden, Christen und im
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Der Orientalist und Rechtswissenschaftler Konrad Dilger bezeichnet das islamische Gesetz als „den Inbegriff des echt islamischen Geistes, die entscheidendste Ausprägung des Denkens, als [den] Wesenskern des Islam überhaupt“.26 Nach Dilger haben die islamische Dogmatik und Ethik im Vergleich zur islamischen Rechtswissenschaft nie eine bedeutende Rolle gespielt. Im Gegensatz zu der antiken Philosophie von Platon und Aristoteles, in der die Ethik das politische Handeln bestimmt, ermöglichten es erst die konkreten politischen Anweisungen der sˇari>a den Gläubigen, den Willen Gottes annähernd zu erschließen. Die menschliche ratio kann zwar die göttlichen Gesetze erkennen, ist jedoch niemals imstande, die zugrunde liegende göttliche ratio zu erschließen. Unter diesem Blickwinkel ist die Orthopraxie und nicht die auf die ratio gegründete Ethik das rechte Handeln gemäß dem göttlichen Willen. Sie ist der menschlichen Vernunft und den ethischen Spekulationen stets übergeordnet. Dies bedeutet auch, dass die sˇari>a sowohl das idealisierte Gesetz der göttlichen Verkündigung als auch das politische Gesetz des islamischen Staates umfasst.27 Für unsere vergleichende Analyse der Bedeutung von ‚Gesetz‘ in der Mishneh Torah möchte ich mich sowohl auf die noch nicht abgeschlossene „Enzyklopädie der islamischen Rechtwissenschaft“ (Mausu>at al- fiqh al’islami) als auch auf Sure 45 des Qur’an beziehen. In der „Enzyklopädie der islamischen Rechtswissenschaft“ (I, 5) liest man über die sˇari>a:
26
27
Islam, Münster 2000, S. 135ff; Yasin Dutton, The Origins of Islamic Law, Richmond 1999; W. Montgomery Watt, Islamic Political Thought. The Basic Concepts, Edinburgh 1968. Konrad Dilger, Die Entwicklung des islamischen Rechts, in Peter Antes et al. (Hrsg.), Der Islam, III, Islamische Kultur, zeitgenössische Strömungen, Volksfrömmigkeit, in der Reihe: Die Religionen der Menschheit, Bd. 29,3, Stuttgart 1990, S. 60–99. Vgl. u.a.: Ramdan Said, Das islamische Recht: Theorie und Praxis, Marburg 19962; Frederick M. Denny, Ethical Dimensions of Islamic Ritual Law, in: Edwin B. Firmage/Bernard G. Weiss/John W. Welch (Hrsg.), Religion and Law. Biblical-Judaic and Islamic Perspectives, Eisenbrauns 1990, S. 199–210, und die Antwort von Lois A. Giffen im selben Band: Another Perspective on Ethics in Islamic Law and Ritual. A Response to Frederick Denny, S. 211–220; Konrad Dilger, Die Entwicklung des islamischen Rechts, in Peter Antes et al. (Hrsg.), Der Islam, III, op. cit., S. 60–99; Noel J. Coulson, History of Islamic Law, Edinburgh 1986; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft in Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime, 2 Bde., Zürich/München 1981; Peter Antes, Ethik im Islam, in: Carl Heinz (Hrsg.), Ethik der Religionen. Ein Handbuch, Stuttgart 1980, S. 177ff; Josef Schaft, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964; Erwin I. J. Rosenthal, Political Thought in Medieval Islam, Cambridge 1962; Asaf A. Fyzee, Outlines of Muhimmadan Law, London 1955; M. Doualibi, La Jurisprudence dans le Droit islamique, Paris 1941; Gotthelf Bergsträsser, Grundzüge des islamischen Rechts, bearb. von Josef Schacht, Berlin/Leipzig 1935; Duncan B. MacDonald, Development of Muslim theology, jurisprudence and constitutional theory, New York 1926. Hinsichtlich der Förderungen der Moderne ans islamische Recht siehe: Nasi Hamid Abu Zaid, Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt a. M. 1996.
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„[…] So wurde den Menschen deutlich, daß die shar’ia alle Angelegenheiten des Lebens, die überhaupt auftreten können, umfaßt, seien es solche des Glaubens und des Ritus, seien es solche der Beziehungen [der Menschen untereinander], der Verwaltung […], der Politik, der Gesellschaft, seien es die unterschiedlichen Bindungen zwischen den Individuen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft [auf Arabisch: al-’umma] oder zwischen ihr und ihren friedlich oder feindlich gesonnenen Gemeinschaften. [Dies alles regelt die sˇari>a] in einer Art und Weise, die die Lösung aller Probleme, die Abwehr von Verwirrung und die Behebung von Schwierigkeiten gewährleistet, die auch Glück, Sicherheit, Gerechtigkeit und Beständigkeit auf dem richtigen Weg und im höchsten Ideal garantiert.“28
In Sure 45 (Vers 18) taucht auf einmal folgende Behauptung auf: „[Nach dem Zeitalter der israelitischen Prophetie] haben wir dich auf einen Weg [ˇsari>a] [zur Errettung] festgelegt“.
Genau wie das Gesetz in der Mishneh Torah verbindet die sˇari>a das vielschichtige politische Handeln innerhalb einer Gemeinschaft mit dem religiösen Hauptzweck des heiligen Textes: die Errettung des Menschen durch das Zeigen eines Wegs, nämlich durch die Erläuterung des Willens Gottes. Obwohl die Rolle der ratio bei Maimonides eine viel zentralere Rolle spielt als in der islamischen Rechtswissenschaft29, sind die formellen Ähnlichkeiten zwischen dem islamischen Recht und der Struktur der Mishneh Torah – wie ich im Folgenden zeigen werde – eindeutig. Aber stimmt es tatsächlich, dass die ratio überhaupt keine Rolle in der islamischen Rechtswissenschaft spielt? Hinsichtlich der sˇari>a könnte man mit dieser Behauptung übereinstimmen, aber wenn man die Aufmerksamkeit auf das fiqh richtet, eröffnet sich eine ganz andere Perspektive. Die Beschäftigung mit den Bestimmungen der sˇari>a, vor allem mit der Frage, wie diese Bestimmungen auf die Handlungen des Menschen anzuwenden bzw. wie die Handlungen durch die sˇari>a zu lenken seien, nennt man fiqh. Während der Begriff sˇari>a in den ersten vier Jahrhunderten der Geschichte des islamischen Rechts eine beträchtliche Erweiterung seines Inhalts erfuhr, kann man für fiqh eine gegenläufige Entwicklung feststellen. Das Verbalnomen fiqh kommt im Qur’an nicht vor, wohl aber das entsprechende Verbum; es bezeichnet die dem Herzen als dem Sitz des Verstandes eigentümliche Tätigkeit des Begreifens und des Einsehens. Im hadi© 30 ist der Begriff fiqh bereits häufig zu finden, und zwar stets in der Bedeutung einer Einsicht in die Tatsache, dass der Mensch, da er ein Geschöpf des einzigen Gottes ist, sein Leben im Bewusstsein dieser Geschöpflichkeit führen muss. Das Wissen vom Qur’an, also die Kenntnis der geoffenbarten Worte Gottes, zusammen mit der Glaubenspraxis (ad-din) und der Absicht zu 28 29 30
Übersetzung von Tilman Nagel in: ders., Das islamische Recht, op. cit., S. 3. Vgl. im besonderen: Tilman Nagel, Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, München 1988. Hadi© ist die Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Muhammads.
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handeln, durch die sowohl das Wissen als auch die Praxis erst eigentlich fruchtbar gemacht werden, formen den zum Heil strebenden Muslim. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts begann die Herausbildung einer speziellen islamischen Rechtspflege, deren Zentrum das fiqh anstelle der sˇari>a war. Sie trat als das Bemühen auf den Plan, die Gebundenheit der gesamten Lebensführung des Muslims an der Grundtatsache seiner Geschöpflichkeit sichtbar und begreifbar zu machen. Dies geschah auf zwei Ebenen, deren obere für den Alltag des Muslims geringe Auswirkungen hat; es ist dies die Ebene der Grundlagen der Religion (’usul al-din), die man im weitesten Sinne als ‚Theologie‘ bezeichnen kann. Hier wird das Verhältnis, in dem Schöpfer und Schöpfung zueinander stehen, erkundet und mit Verstandesargumenten auf den Begriff gebracht. Aus den erkannten Grundlagen der Religion ergibt sich die Legitimität des göttlichen Rechts, das als eine Belastung des verstandesbegabten Geschöpfes mit dem Gesetz gedeutet wird. In der islamischen Welt wurden die Theologie und die Rechtswissenschaft erst seit dem 10. Jahrhundert überwiegend als zwei getrennte Gegenstände der Gelehrsamkeit wahrgenommen. Die Gesetzsammlungen blieben jedoch noch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts von dem Versuch geprägt, sˇari>a und fiqh zu vereinbaren. Die islamische Rechtswissenschaft besteht demnach prinzipiell in der Auslegung des göttlichen Willens nach Maßgabe der vom Schöpfer festgelegten fundamentalen Kriterien. Sie bilden den Grundstein zur Beurteilung des menschlichen Handelns. Wenn erst die Glaubenslehre dank der sie betreffenden Mitteilungen Gottes so klar durchgearbeitet worden ist, dass sich keinerlei Zweifel mehr zu regen vermag, dann gelangt das Verstehen des Menschen ohne weiteres zur Einsicht in die Wahrheit der Normen, an denen Gott die Taten misst. Die Rechtswissenschaft ist der in eine erlernbare Methode gefasste Vorgang des Begreifens der Schlussfolgerungen aus der Muhammad anvertrauten Botschaft des Schöpfers an die Geschöpfe. In diesem Sinne stimme ich mit Tilman Nagel völlig überein, wenn er schreibt, dass „[das islamische Recht] gewissermaßen angewandte Theologie [ist]“.31 Seit dem 8. Jahrhundert, nämlich seit sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Dimension des Gesetzes als fiqh richtet, wird in der islamischen Rechtswissenschaft der Umstand, dass dem Menschen die Beachtung des göttlichen Gesetzes auferlegt wird, durchaus als eine Bürde verstanden. Die Belastung durch das Gesetz bildet zugleich eine der Grundbefindlichkeiten des Menschen als eines mit dem Verstand begabten Geschöpfes Gottes, von der aus das gesamte Dasein gedeutet werden muss. Jeder Mensch, der auf den Gebrauch seines Verstandes zum Begreifen des göttlichen Gesetzes verzichtet, verharrt im Status des Sünders (al-’a©im). Dies bedeutet, dass sich im Islam das Gesetz seit dem 8. Jahrhundert als der Inbegriff des31
Tilman Nagel, Das islamische Recht, op. cit., S. 9.
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sen darstellt, was Gott mit seinem Schöpfungswerk im Sinn hat. Da der Mensch diese Absicht nur zu einem geringen Teil zu durchschauen vermag und, eigenen Regungen nachgebend, Gott missversteht, erscheint ihm das Gesetz als eine Last. Doch ist dies ein Eindruck, der trügt. In Wahrheit steht das Gesetz in völligem Einklang mit der fortwährenden schöpferischen Bestimmung allen Geschehens durch Gott. Wenn es dem Menschen gelingt, diesen Sachverhalt zu erschließen, schwindet das Empfinden der Bürde, der Mensch lebt wieder aus seiner ihm wesensmäßig eigenen ‚Hingeschaffenheit‘ (auf Arabisch: al-fitra) zu Gott (Sure 30, 30), aus der er sich allein deshalb entfernt, weil er leichtfertigen Neigungen nachgibt: „Den Menschen […] zur ursprünglichen Hingeschaffenheit zu Gott zu geleiten und ihn aus der selbstverschuldeten unheilvollen Entfremdung von seinem Daseinsgrund zu erlösen, ist das Versprechen des Islams. Die Unterwerfung unter das Gesetz ist folglich die unabdingbare Voraussetzung des Beschreitens des islamischen Heilsweges.“32 Seit dem Ende des 10. Jahrhunderts entwickelte sich in der islamischen Rechtswissenschaft eine neue Auffassung des Verstandes hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen. Als Mittel zur Bewältigung der Anforderungen, die sich für den Menschen aus der ihm auferlegten Bürde ergeben, hat Gott ihm den Verstand (auf Arabisch: al->aql) verliehen. Nur wenn der Mensch uneingeschränkt über seine Verstandeskräfte verfügt, kann er sich uneingeschränkt mit dem Gesetz beschäftigen, denn allein vermöge des Verstandes begreift er die von Gott an ihn gerichtete Rede (auf Arabisch: al-öitab).33 Seit Ende des 10. Jahrhunderts34 zieht sich dieser Gedanke wie ein roter Faden durch die Geschichte des islamischen Rechts. Die Tatsache der Belastung des Menschen mit dem göttlichen Gesetz und die Rationalität dieses Gesetzes bedingen einander und eröffnen dem Muslim die Möglichkeit, seiner ihm von Gott ‚anerschaffenen‘ Wesensart gemäß zu leben und auf diese Weise das Paradies zu erwerben. Dass es die Pflicht eines jeden Muslims sei, Wissen zu suchen, versichert ein hadi©, das zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden ist. Wissen (auf Arabisch: al->ilm) ist die Kenntnis all dessen, was Gott Adam mitteilte, nachdem er ihn geschaffen hatte; es ist die Kenntnis davon, wie Gott in und mit seiner Schöpfung verfährt, und dies schließt auch die Kenntnis seines Gesetzes ein. Vor allem das hadi©, das als die authentische Quelle für das durch Gott dem Propheten eingegebene Reden und Handeln betrachtet
32 33 34
Ibidem, S. 12. Vgl.: Muhammad Kalish, Vernunft und Flexibilität in der islamischen Rechtsmethodik, Darmstadt 1997. Vgl. u.a.: Willi Heffening, Zum Aufbau der islamischen Rechtswerke, in: ders., Studium zur Geschichte und Kultur des Nahen und Fernen Ostens. Festschrift P. Kahlen, Leiden 1935, S. 101–118.
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wird, bringt Wissen von der Praxis des Glaubens, und dies ist das Wissen, das mit dem theologischen Studium des Qur’an verbunden ist.35 Ausgehend von diesem Grundgedanken entwickelte sich bereits zwischen dem 3. und dem 11. Jahrhundert die Lehre der ’usul al-fiqh (‚Grundlagen des Gesetzes‘) als allgemeine juristische Methode. Hierüber schreibt Wael B. Hallaq: „One of the most salient features of legal theory [in Islam] is the epistemological distinction that permeated all its elements. These distinctions were not unconnected with those made in theological enquiries (’ilm al-kalâm), since law was seen as derivative of the mother science, theology. It was the function of the latter to prove the existence of God, His attributes, prophecy, revelation and all fundaments of religion, whereas law presupposed these theological conclusions and indeed built on them. In these two disciplines, therefore, knowledge is viewed as an attribute that exists in the mind of God and in the minds of created beings.“36
Trotz der Verschiebung der islamischen Rechtswissenschaft in Richtung der Orthopraxie (im Kontrast zum Vorrang der Metaphysik und der Ethik, wie er sich bei Maimonides feststellen lässt) wäre es also ein grober Fehler, zu behaupten, dass die Vernunft keine Rolle in der Konzeption des muslimischen Gesetzes spiele, ein Fehler, der bereits von Ignaz Goldziher benannt wurde, wenn er in seinen Vorlesungen über den Islam schreibt: „Ohne Vernunfttätigkeit [hinsichtlich des islamischen Gesetzes] kein Glaube“.37 Die Rolle der Vernunft in der islamischen Rechtswissenschaft gestattet uns, die Theorie von David Novak und Joel L. Kraemer weiterzuentwickeln: Die Einflüsse der islamischen Welt auf Maimonides spiegeln sich in der Rezeption der juristischen Bedeutung der Vernunft (ohne die man die Grundlagen des Gesetzes nicht begreifen könnte), in der Anerkennung des menschlichen Verstandes als Fundament der Geschöpflichkeit sowie als Grundlage der trotz aller Differenz bestehenden Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpfen und in der Bedeutung des Gesetzes als Weg zur Erkenntnis Gottes wider.
35
36
37
Auf Arabisch: >ilm wa >amal (‚Wissen und Wirken‘). Vgl. Robert Gleave/Eugenia Kermeli, Islamic Law. Theory and Practice, London/New York 1997; Shlomo Pines, ‚Jahiliyya‘ and ‚’ilm‘, in: JSAI 13 (1990), S. 175–194. Wael B. Hallaq, A History of Islamic legal Theories. An introduction to sunnî Usûl al-Fiqh, Cambridge 1997, S. 37. Eine juristische und geschichtliche Analyse der sunni ’usul al-fiqh, wie sie sich im besonderen zwischen dem 8. und dem 14. Jahrhundert entwickelte, findet man auch in den Kapiteln II–V von: Abdur Rahim, The principles of Islamic jurisprudence according to the Hanafi, Maliki, Shafi’i and Hanbali Schools, New Delhi 19942. Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, op. cit, S. 115.
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b) Erkenntnis und Gesetz im Sefer ha-Madda> Die Erkenntnis Gottes wird in der Mishneh Torah – im Vergleich zur islamischen Rechtswissenschaft des 11. Jahrhunderts38 – der Blütezeit der Studien über das fiqh, nicht besonders differenziert dargestellt. Wie bereits oben erwähnt, bedeutet fiqh die Untersuchung der Bestimmungen der sˇari>a, da man den Willen Gottes nur durch das Begreifen der Grundlagen seines Gesetzes erkennen kann. Genauso wird das Sefer ha-Madda> mit einer Untersuchung der Grundlagen des Gesetzes eröffnet, die keinen Vorläufer in der juristischen Literatur des Judentums hat.39 Auch für Maimonides bedeutet diese Erkenntnis nicht, das Wesen Gottes bzw. die Zwecke seines Willens zu begreifen. Wenn Maimonides auch in der Mishneh Torah keine ausführliche und differenzierte Klassifikation des menschlichen und des göttlichen Verstandes vornimmt (seit dem Frühmittelalter beschäftigten sich die muslimischen Juristen mit subtilen Klassifikationen des menschlichen und des göttlichen Verstandes40, um die Orientierung des Menschen hin auf 38
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Das komplexe Verhältnis von Wissen, Glauben, Recht und Rationalität im Islam des 11. Jahrhunderts wurde von Tilman Nagel umfassend untersucht: ders., Die Festung des Glaubens, op. cit., im besonderen S. 240ff. Joel L. Kraemer hat auch untersucht, wie die Grundlagen des Gesetzes im Sefer ha-Madda> von dem islamischen Philosophen Alfarabi beeinflusst worden sein könnten: Joel L. Kraemer, Alfarabi’s „Opinions of the Virtuous City“ and Maimonides’ „Foundations of the Law“, in: Studia Orientalia. Memoriae D. H. Baneth dedicata, Jerusalem 1979, S. 107–153. Siehe auch Lawrence V. Berman, Philosophy and Divine Law in Maimonides and Alfarabi in light of Maimonides’ ‚Eight Chapters‘ and Alfarabi’s ‚Aphorisms of the Stateman‘, in: Charles Selengut (Hrsg.), Jewish-Muslim Encounters: History, Philosophy and Culture, St. Paul 2001, S. 1–34; ders., Maimonides, the Disciple of Alfârâbî, in: IOS 4 (1974), S. 163ff. Für eine gemeinsame Untersuchung des Problems der Erkenntnis bei Maimonides, die sich jedoch am meisten auf den Moreh ha-Nevukhim konzentriert, vgl: Jeffrey Macy, Some Concepts of True Knowledge in Medieval Islam and Judaism, in: Knowledge and Society. Studies in the Sociology of Culture. Past and Present 7 (1988), S. 85–107; ders., Prophecy in al-Farabi and Maimonides: The Imaginative and Rational Faculties, in: Shlomo Pines/Yirmiyahu Yovel (Hrsg.), Maimonides and Philosophy. Papers Presented at the Sixth Jerusalem Philosophical Encounter, May 1985, Dordrecht 1986, S. 185–201; Ascher J. Bombach, Versuch einer systematischen Darstellung der Erkenntnistheorie des Maimonides, Tarnow 1935. Eine kurz skizzierte Differenzierung findet man nur in Abschnitt 8 und in Abschnitt 10 des zweiten Kapitels des ersten Buchs: „All diese Foremen leben, erkennen den Schöpfer und besitzen Wissen von Ihm, dass außerordentlich groß ist – ein dem Rang eines jeden entsprechendes Wissen, welches jedoch keine Verbindung zur unendlichen Größe des Schöpfers zu sein. Selbst die höchsten Klassen der Engel können keine Kenntnis der Wahrheit von Gottes wirklichem Sein erlangen. Aber die höchste Form der Engel versteht und weiß mehr als diejemige unter ihr; und so weiter durch alle Ränge bis zur zehnten. Diese kennt auch Gott mit einem Wissen, welches die aus Materie und Form bestehenden Menschen nicht erlangen können. Aber keiner von ihnen kennt den Schöpfer wie er sich selbst kennt. […] Der Heilige, gesegnet sei Er, erkennt sein wahres Wesen und kennt es so wie es ist, mit einem Wissen, dass nicht außerhalb von ihm ist, so wie unser Wissen. Denn unser Wissen und wir selbst sind verschieden. Aber für den Schöpfer, gesegnet sei Er, sind Sein Wissen und Sein Leben in allen Aspekten und unter allen Gesichtspunkten eines, wie wir auch immer Einheit auffassen.
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das Verständnis und die Verwirklichung des Gesetzes zu erläutern41), so kann man auch erkennen, dass für ihn erhebliche Einschränkungen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen existieren, weswegen die Erkenntnis nicht auf das Wesen Gottes, sondern auf die ethischen und metaphysischen Grundlagen seines Willens bezogen ist. Der Vorrang der Ethik und der Metaphysik im Sefer ha-Madda> erweist sich als der bedeutsamste Unterschied zwischen der Maimonidischen und der islamischen Konzeption des Gesetzes. In der Tat bleibt letztere auf eine theologische Orthopraxie gerichtet, während die Erkenntnis (madda> ) bei Maimonides auf die Ethik (Hilkhot De>ot) und auf den Unterschied zwischen Ma>ase Bereshit („Schöpfungswerk“, Physik) und Ma>ase Merkavah42 („Thronwagenwerk“, Metaphysik) gerichtet ist. Um diesen Unterschied zwischen Maimonides’ Denken und dem der islamischen Welt begreifen zu können, muss man meines Erachtens die Bedeutung von madda> in der Mishneh Torah klären.43 Ich stimme mit Bernard Septimus überein, dass es nicht möglich ist, den Terminus madda> mit dem arabischen >ilm zu vergleichen. Wie Franz Rosenthal44 in seinem Werk über die Epistemologie im islamischen Denken gezeigt hat, spielt >ilm eine zen-
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Wenn der Schöpfer wie andere Lebewesen leben würde, würde es eine Vielzahl von Göttern geben, nämlich ihn selbst, sein Leben und sein Wissen. Dem ist jedoch nicht so. Er ist in jeder Hinsicht, unter jedem Blickwinkel und in jeder Art und Weise, in welcher Einheit aufgefaßt wird, einer. Demnach gibt es die Schlußfolgerung, dass Gott der Eine ist, der kennt, gekannt wird und das Wissen (seiner selbst) ist – all diese in einem Wesen.“ (Sefer ha-Madda> 36a f). Kurz davor liest man im 10. Abschnitt des ersten Kapitels: „In der gleichen Art und Weise verlangte unser Lehrer Moses, dass die Wahrheit von Gottes Existenz in seinem Verstand von anderen Wesen unterschieden würde und dass er so die Wahrheit von Gottes Existenz erkennen würde, so wie sie wirklich ist. Gott antwortete, dass es die geistigen Fähigkeiten eines menschlichen Wesens, welches aus Körper uns Seele besteht, übersteigt in diesr Hinsicht klare Kenntnis der Wahrheit zu erlangen.“ (Sefer ha-Madda> 35a) Diesbezüglich siehe u.a.: Norman Roth, Knowledge of God and God’s Knowledge; Two Epistemological Problems in Maimonides, in: Norman Roth, Maimonides – Essays and Texts. 850th Anniversary, Madison 1985, S. 69–88. Vgl. im besonderen: Wael B. Hallaq, A History of Islamic Legal Theories, op. cit., S. 39ff und S. 82ff. Sefer ha-Madda> 39b. Vgl. im besonderen: Bernard Septimus, What did Maimonides mean by madda’?, in: Ezra Fleischer/Gerald Blidstein/Carmi Horwitz/Bernard Septimus, Me’ah She’arim. Studies in Medieval Jewish Spiritual Life in Memory of Isadore Twersky, Jerusalem 2001, S. 83–110. In diesem Aufsatz untersucht Septimus die einzigen drei Abschnitte der Mishneh Torah, in denen das Wort madda> explizit benutzt wird: Hilkhot Teshuvah 3:8, Hilkhot Teshuvah 5:4, Hilkhot >Avodah Zarah 11:1. Über die Beziehung zwischen Glauben und Wissen bei Maimonides im allgemeinen siehe u.a.: Alexander Schück, Glauben und Wissen nach R. Moses Ben Maimon, Timisoara (Temesvar) 1933. Schück vergleicht Maimonides’ Position mit der des Talmud und mit der Position von Sa>adyah Gaon, Bahya Ibn Paquda, Abraham Ibn Ezra, Jehuda Ha-Lewi und Abraham Ibn Daud. Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant. The concept of knowledge in Medieval Islam, Leiden 1970.
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trale Rolle in der islamischen Literatur des Mittelalters, während der Terminus madda> nur an vier Stellen in der hebräischen Bibel45 vorkommt und in der hebräischen Sprache der Mishnah der Begriff madda> nur in Makkot 23a46 auftaucht. In der Tat ist hokhmah und nicht madda> das entsprechende Wort für das arabische >ilm, weshalb hokhmah im ganzen Corpus der Mishneh Torah häufig vorkommt. Wieso heißt also das erste Buch der Mishneh Torah nicht Sefer ha-hokhmah? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich die Doppelbedeutung von ’ilm in der arabischen Welt in Erinnerung rufen. ‚Erkenntnis‘ ist hier einerseits ein Zustand des Geistes („A’s Erkenntnis des Subjekts B“), andererseits aber auch der Zusammenhang von Informationen, die man im Laufe seines Lebens lernen, lesen, studieren oder auf andere Weise erwerben kann. Also bedeutet >ilm sowohl die Erkenntnis, die außerhalb des Subjekts existiert, nämlich die Erkenntnis als reine epistemologische und metaphysische Denkkategorie, als auch ein „objectified knowledge“ (‚objektivierte Erkenntnis‘).47 Madda> hat keine vergleichbare Doppelbedeutung: Es ist vom Verb yada> abgeleitet, das eigentlich ‚wissen‘ und ‚erkennen‘ bedeutet, aber in der Mishneh Torah hat madda> nur die Bedeutung von Kognition, während hokhmah die Bedeutung von ‚objektivierter Erkenntnis‘ hat.48 Madda> als Kognition kommt deutlich vor allem in Hilkhot Teshuvah 3:8 vor, wo als Aussage des Epikuräers steht: „Es gibt keine madda’, welche vom Schöpfer den Verstand der Menschen [benei ha-adam] erreicht [she-maggia> ]“: Die madda>, die der Mensch von Gott bekommt, ist keine gegenständliche Erkenntnis, es handelt sich nämlich nicht um die Mitteilung einer Information, sondern um „ein Bild der Kausalität, die den Verstand aktiviert“.49 Unter diesem Blickwinkel könnte madda> auch ‚rationale Erkenntnis‘ bedeuten und mit dem Aristotelischen aktiven Intellekt zusammengedacht werden; in der Mishneh Torah steht allerdings (Hilkhot Teshuvah 5:5), dass man auch durch die religiöse Autorität ‚erkennen kann‘, falls man keine ausreichenden kognitiven Fähigkeiten besitzt. Um ganz präzise zu sein: Es stimmt, dass das Sefer ha-Madda> mit dem Gebot beginnt, die Existenz und die Einheit Gottes50 zu erkennen (leyda> ), aber Menschen, denen diese Fähigkeit erman45 46
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Koh. 10:20; Dan. 1:4 und 1:17; II Chron. 1:10–11. In einigen anderen Abschnitten erscheint dieses Wort nur im Rahmen von Kommentaren zu den Versen der hebräischen Bibel, in denen es auftaucht (z.B. Qohelet Rabbah 10:2 und Midrash Mishlei 1:1). Bernard Septimus, What did Maimonides mean by madda’?, op. cit., S. 86. Es ist kein Zufall, dass Samuel ibn Tibbon in seinen Übersetzungen von Texten Maimonides’ das gegenständliche >ilm als hokhmah und >ilm mit der Bedeutung von Kognition als madda> übersetzt. Ibidem, S. 89. Siehe auch diese Bedeutung des Wortes madda> in MN I, 18 und II, 36. Hinsichtlich der Einflüsse des Islam auf Maimonides’ Einheitslehre vgl.: Isaak Heinemann, Maimuni und die arabische Einheitslehre, in Monatsschrift der Gesellschaft für die Wissenschaft des Judentums Jhg. 79, Heft 1 (1935), S. 102–148.
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gelt51, können die entsprechenden Kenntnisse (hier als gegenständliche Information und nicht als madda> verstanden) durch die religiöse Autorität erlangen. Die Bedeutung von madda> ist somit nicht eindeutig. Da dieses Wort in Hilkhot Teshuvah 5:4 und in >Avodah Zarah 11:1 die Bedeutung von ‚falscher Meinung‘ hat, bezieht es sich also auch auf einen ungeübten Geist, so dass sich madda> als locus aller Überzeugungen des Menschen darstellt. Wieso wählt Maimonides einen so umstrittenen Begriff als Titel des ersten Buchs der Mishneh Torah?52 Weshalb gebraucht er nicht die Worte de>ah und da>at, die sich bei ihm zweifellos auf den Intellekt bzw. auf die rationale Erkenntnis beziehen? Auch diesbezüglich stimme ich mit Bernard Septimus überein: „Madda’ serves well as an umbrella title that embraces the book’s several themes. It can refer to rational cognition and intellect, and is associated (via Chron. 1:10–12) with öokhmah. So it is an appropriate title for a philosophically oriented book. All talmud torah – traditional as well as philosophical – is knowledge, located in the mind. Repentance takes place in the mind. Purity of motive is also an inner state. Love and fear of God are states of mind that stem from rational cognition. Love and hatred of one’s fellow are states of mind; grudges are borne there too. Immortality pertains to the madda’, in the sense of acquired intellect.“53
Es stimmt, dass man auch in den ersten islamischen Gesetzessammlungen54 ein Anfangskapitel findet, das sich mit dem Problem der Erkenntnis beschäftigt (dieses erste Kapitel wird normalerweise Kitab al->Ilm genannt, nach dem Namen des ersten Kapitels der ’Ihya’ von Al-Ghazali55), aber hier findet man keine Ausarbeitung der ethischen Problematik in bezug auf die Erkenntnis (moralische Vorschriften werden höchstens im Kitab al->Ilm erwähnt). Dieser Bezug ist hingegen im Sefer ha-Madda> präsent, weil sich die Ethik in Maimonides’ Denken auf den Geist gründet, weshalb der Abschnitt über die Ethik Hilkhot De>ot (im Singular de>ah) betitelt wurde. Wie bereits erwähnt, gebraucht Maimonides de>ah sowohl für ‚rationale Kognition‘ als auch für ‚Intellekt‘: Die Pluralform, die er hier gebraucht, bedeutet ‚Intellekte‘, nämlich alle ethischen Charakterzüge des Menschen, die mit dem rationalen Wissen verbunden sind. Diesbezüglich schreibt Bernard Septimus: 51
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Vgl.: Shlomo Pines, The Limitations of Human Knowledge According to Alfarabi, ibn Bajja and Maimonides, in: Isadore Twersky (Hrsg.), Studies in Medieval Jewish History and Literature, Cambridge (Mass.) 1979, S. 82–102. Hinsichtlich des Gebrauchs des bestimmten Artikels im Titel des ersten Buchs der Mishneh Torah vgl. u.a.: Leo Strauss, Notes on Maimonides’ Book of Knowledge, op. cit., S. 269f. Bernard Septimus, What did Maimonides Mean by Madda’?, op. cit., S. 96. Das erste Beispiel für die Ausarbeitung des Problems der Erkenntnis in einem das Gesetz betreffenden Werk ist das Werk von ’Imam Malik (710–795): Muwata’, Kairo 1951. Cfr. auch: Franz Rosenthal, Knowledge Triumphant, op. cit., S. 79ff. Al-Ghazzali, Ihya ulum-id-dîn, ins Engl. übers. von Fazul ul-Karim, Lahore (Pak.) 1978.
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„[…] Maimonides uses de’ot for ethical dispositions to allude to their psychological nature. The mind is the seat of emotion as well as cognition. […] The term de’ot (singular, de’ah) underscores their relationship to madda’ (= „mind“, „psyche“). Character is based in the mind; and that is why Hilkhot De’ot belong in Sefer haMadda’.“56
Madda> ist der Hauptzweck der gesamten Mishneh Torah, da die Erkenntnis der Grundlagen der Gesetze in ihren unterschiedlichen Bedeutungen der Weg zum Willen Gottes ist. Ein solches Wissen kann teilweise durch den Intellekt (madda> ) oder durch die rationale Kognition (madda> ) erworben werden. Auch das aus der religiösen Autorität stammende Wissen ist eine Form von Kognition (madda> ), es handelt sich nämlich um eine Tätigkeit des Geistes (madda> ). Diese Erkenntnis ist fundamental, weil sie uns gestattet, das ethische Verhalten als Vervollkommnung der Seele zu begreifen.57 In der islamischen Welt findet man fast kein Äquivalent für diese Beziehung zwischen Erkenntnis und Ethik innerhalb eines Werks über das Gesetz58, und das arabische Wort >ilm hat nicht die vielschichtige Bedeutung von madda>. Trotzdem lässt sich der Einfluss der islamischen Werke über das Gesetz auf den Ansatz der Mishneh Torah schwerlich leugnen: Seit dem 8. Jahrhundert, nämlich seit der juristischen Sammlung des bereits erwähnten ’Imam Malik, wird die Erkenntnis zum Schlüssel für das Begreifen der Grundlagen des Gesetzes. In diesem Sinne ist zwar der Inhalt, nicht aber die Struktur bzw. die Fragestellung der Mishneh Torah innovativ und von bahnbrechender Bedeutung.
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Bernard Septimus, What did Maimonides Mean by Madda’?, op. cit., S. 98. Hinsichtlich der Psychologie bei Maimonides vgl.: Thierry Alcoloumbre, Maïmonide et le problème de la personne, Paris 1999 (im besonderen das zweite Kapitel L’action et la régulation de soi, S. 67ff); Reuven P. Bulka, Psychological Formulations in the Works of Maimonides, in: Fred Rosner/ Samuel S. Kottek, Moses Maimonides. Physician, Scientist, and Philosopher, Northvale (NJ) 1993, S. 135–143; Saul Horovitz, Die Psychologie bei den jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters von Saadia bis Maimuni, Farnborough 1970. Howard T. Kreisel, Intellectual Perfection and the Role of the Law in the Philosophy of Maimonides, in: Jacob Neusner et al. (Hrsg.), From Ancient Israel to Modern Judaism: Intellect in Quest of Understanding. Essays in Honor of Marvin Fox, 3 Bde., Atlanta 1989, S. 25–46. Al-Ghazali beschäftigt sich mit den Grundlagen der Theologie sowie mit der Ethik, der Reue und dem Jenseits nicht in seinem ’Ihya’ >ulum-id-din, dessen Kitab al->Ilm einen großen Einfluss auf die islamische Welt hatte, sondern in getrennten Werken, die er der Ausarbeitung dieser Grundlagen widmete. Vgl.: Friedrich Niewöhner, Jenseits und Zukunft. Über eine Differenz im 12. Jahrhundert, in: Eveline Goodman-Thau (Hrsg.), Vom Jenseits: jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1997, S. 61–69; Timothy J. Gianotti, AlGhazali’s unspeakable doctrine of the soul: unveiling the esoteric psychology and eschatology of the Ihya, Leiden 2001; T. J. Winter (Hrsg.), Al-Ghazâlî. The Remembrance of Death and the Afterlife, Cambridge 1989. Für einen gemeinsamen Vergleich der Eschatologie zwischen Islam und Judentum vgl.: Rabbiner Kroner, Zur Eschatologie und Dämonologie des Judentums und des Islams, Breslau 1916.
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Hinsichtlich der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Mishneh Torah und der islamischen Rechtswissenschaft muss man sich noch auf zwei weitere Themen konzentrieren: das Verhältnis von Gesetz und Gemeinde einerseits und die Beziehung zwischen Gesetz und Ethik andererseits.
c) Gesetz und Gemeinde, Gesetz und Ethik in der mittelalterlichen islamischen Rechtswissenschaft und im Sefer ha-Madda> Louis Gardet hat hervorgehoben, dass das üblicherweise als ‚Religion‘ übersetzte arabische Wort din auch die Bedeutung ‚politisch-sozialer Organisation‘ hat, weshalb der Islam zugleich Religion und Regierung (din wa daula, wie häufig im Qur’an steht), nämlich Bereich des göttlichen Gesetzes und politischer Bereich, ist.59 In den meisten Qur’antexten, die eine Definition des Gläubigen enthalten, werden Glaubenswahrheiten und Glaubenspraktiken auf dieselbe Stufe gestellt. Erst seit dem 10. Jahrhundert unterscheidet die islamische Rechtswissenschaft zwischen den für jeden Gläubigen bindenden Kultpraktiken und den Vorschriften für die Gemeinde (’umma). Die ersten werden im strengen Sinn als ‚Säulen des Islam‘ bezeichnet: Glaubensbekenntnis, kultisches Gebet, vorgeschriebene Almosen, vorgeschriebenes Fasten und Wallfahrt nach Mekka nach den herkömmlichen Riten. Die wichtigsten Vorschriften für die Gemeinschaft sind der ‚Streit für Allahs Sache‘ und die Pflicht, die juristisch-religiösen Aufgaben zu erfüllen (nämlich in der Jurisprudenz und in der Verwaltung tätig zu sein). Sie heißen ‚Vorschriften des Genügens‘ (kifaya), weil sie für die Gesamtheit der Muslime, aber nicht für jeden Einzelnen bindend sind, und sie konzentrieren sich auf den Dienst für die ‚Sache Allahs‘.60 Die ‚Sache Allahs‘ erklärt sich in Verbindung mit dem wichtigsten Gebot des Qur’an, nämlich der ‚Bemühung (pihad) um Gottes Weg‘, welche die westliche Welt als ‚heiligen Krieg‘ bezeichnet, obwohl der arabische Ausdruck nicht Krieg (harb) bedeutet. Der tragende Gedanke ist dieser: Die ganze Gemeinschaft muss sich stets darum bemühen, dass nach der Vorschrift des Qur’an „die Rechte Gottes und der Menschen“ auf Erden herrschen und sich ausbreiten. Ziel des pihad ist deswegen die Einführung und die Verwirklichung der Gesetze Gottes als Hauptpflicht der Gemeinschaft. Al-’islam din wa daula könnte ebenso gut bedeuten: Der Islam ist Religion und zugleich weltliches Gemeinwesen, oder besser noch: eine Gemeinschaft, die sich aufgrund ein und derselben unaufteilbaren Triebkraft der Beziehung des Gläubigen zu Gott und der sittlichen, sozialen und politischen Beziehung der Gläubigen untereinander annimmt. 59 60
Louis Gardet, Islam, Köln 1968, S. 29ff. Die islamische Rechtswissenschaft unterscheidet zwischen Gemeinde und einzelnem Muslim als rechtlichen Subjekten.
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Ein Synonym für ’umma ist dar al-’islam (‚die Welt des Islam‘), welcher der dar al-harb gegenübersteht, die den Islam nicht akzeptiert. Davon unterschieden wird der dar al-sulh, ‚die Welt der Versöhnung‘, nämlich die Welt derer, die ebenfalls Monotheisten, aber keine Muslime sind und mit denen der Muslim folglich soziale und politische Kontakte eingehen kann. Ein weiterer, fast synonymer Ausdruck ist al-pama>a, ‚Zusammenkunft‘, ‚Versammlung‘, im Sinne von ‚Gesamtheit der Gläubigen‘ (pama>at al-mu’minin) und ‚muslimischer Gemeinschaft‘ (al-pama>a al-’islamiya). Während ’umma die juristische und politisch-religiöse Gemeinschaft der Muslime bezeichnet, steht pama>a für die Gesamtheit der durch ihren Glauben verbundenen Gläubigen. Ein letztes Synonym für ’umma ist dar al->adl, ‚die Welt der Gerechtigkeit‘, die eigentliche Welt des Islam, in der die Rechte Gottes und die Rechte des Menschen herrschen. Der Islam als Religion ist also die ’umma, und als solcher ist ihm ein Ziel gesetzt. Gewiss muss auch der einzelne für seine Person die vorgeschriebenen Verpflichtungen beachten, aber das genügt nicht, um die Rechte Gottes und die Rechte des Menschen auf der Erde zu verwirklichen, nämlich um das Gute vom Bösen unterscheiden zu können. Somit sind die Vorschriften des Qur’an sowohl geistlich als auch weltlich, und diese Doppelnatur spiegelt sich in den islamischen Gesetzessammlungen wider: Es handelt sich um die Unterscheidung und Hierarchie zweier Ebenen, die wohl jeweils in ihrem Bereich autonom sind, aber doch miteinander in Verbindung treten und welche die juristische Hermeneutik, nämlich die Interpretation des Gesetzes gemäß der jeweiligen geschichtlichen Situation der ’umma garantiert. Die Theokratie des Islam impliziert keineswegs, dass die Institutionen, ja die Regierungsformen selbst durch die als geoffenbart geltenden unantastbaren Prinzipien ein für allemal festgelegt wären. Wohl ist der Qur’an unantastbar. Denker wie al-Ghazali und ’Ahmad ibn Taymiya betonen, dass bereits der Qur’an einen Unterschied macht zwischen erstens den Glaubenssätzen und Kultregeln, die immer und überall gelten, zweitens den in ihrem Fundament, aber nicht immer in ihrer Anwendung unantastbaren moralischen Grundsätzen und schließlich drittens den sozialen Verbindlichkeiten, die als solche von dem jeweiligen zeitlichen und örtlichen Kontext abhängig sind. Dabei handelt es sich indes nicht um eine Unterscheidung zwischen dem Göttlichen und dem Zeitlichen. Vielmehr geht es gerade darum, das Zeitliche in die positiven göttlichen Normen einzubetten. Das widerspricht keineswegs der Einheit der ’umma, gerade weil deren Fundament die Einheit des Willens Gottes ist. Im Islam wird das Gesetz als Willensentscheidung aufgefasst; und streng genommen ist es nur dann verbindlich, wenn es ein Entschluss des göttlichen Willens ist. Das ist die Bedeutung der sˇari>a als geoffenbartes Gesetz. Gott allein ist Gesetzgeber (ˇsari> ), aber dieses Attribut kann auch dem Propheten-Gesetzgeber (rasul) beigelegt werden, insoweit er Gottes Willen
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zum Ausdruck bringt. Die Folge ist, dass es kein von der menschlichen Vernunft gesetztes positives menschliches Gesetz gibt. Das positive menschliche Gesetz ist ganz vom göttlichen Gesetz abgeleitet. Es ist dessen Erläuterung und Auslegung zugunsten der gesamten ’umma. Die sˇari>a ist Ausdruck des für den menschlichen Verstand unerforschlichen göttlichen Willens; nicht nur der Wille, sondern auch die Weisheit Gottes entzieht sich letztlich der menschlichen Erkenntnis. Das traditionelle muslimische Denken lehnt jede Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf ab, da sie als Beeinträchtigung der göttlichen Transzendenz betrachtet wird. So ist der Begriff ‚Naturgesetz‘ bzw. ‚Naturrecht‘61 den muslimischen Juristen völlig unbekannt. Der Mensch weiß und kann über das göttliche Gebot (’amr) nur wissen, was Gott ihm durch seine Propheten kundtut. Das Gesetz ist ein Entschluss des göttlichen Willens, der, auch wenn der Mensch ihn mit seiner Vernunft nicht durchdringen kann, unendlich gerecht und weise ist, von einer Gerechtigkeit und Weisheit, die an sich nicht mitteilbar sind. Fari>a bedeutet ‚Weg zum Wasser‘, nämlich zu den Quellen des Lebens für den Einzelnen und für die ganze Gemeinschaft, aber der Ursprung dieser Quelle bleibt als solcher verborgen. In der Hilkhot Yessode ha-Torah62 findet man am Ende des vierten Kapitels eine ähnliche Verknüpfung des Gesetzes mit dem Leben der Gemeinde, wenngleich der Akzent auf der Erkenntnis des Gesetzes und auf ihrer Rolle im Diesseits der Gemeinde sowie im Jenseits des Einzelnen liegt: „[…] Denn die Erkenntnis dieser Dinge gibt dem Verstand hauptsächlich Gemütsruhe. Sie sind die wertvolle, von Gott gewährte Wohltat zur Förderung des sozialen Wohlergehens auf Erden, die es dem Menschen ermöglichen, Glückseligkeit im kommenden Leben zu erlangen. Außerdem ist ihre Erkenntnis allen möglich, Jungen und Alten, Männern und Frauen; sowohl denen, die große intellektuelle Fähigkeiten besitzen, als auch denen, deren Intelligenz beschränkt ist.“
Von welchen Grundlagen des Gesetzes muss man zugunsten der Gemeinde und zugunsten des eigenen Lebens Kenntnis haben – eine Kenntnis, die um ihres Nutzens für das Leben der Gemeinde willen allen Menschen, trotz der natürlichen Unterschiede ihres Intellekts, zugänglich ist? Im Unterschied
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Für eine Untersuchung dieses Begriffs bei Maimonides siehe: Daniel Krochmalnik, Der Streit um das jüdische Naturrecht: Maimonides, Spinoza, Mendelssohn und Cohen, Münster 2000; Joel L. Kraemer, Naturalism and Universalism in Maimonides’ Political and Religious Thought, in: Ezra Fleischer/Gerald Blidstein/Carmi Horowitz/Bernard Septimus (Hrsg.), Me’ah She’arim. Studies in Medieval Jewish Spiritual Life in Memory of Isadore Twersky, op. cit., S. 47–81; Milton R. Konvitz, Natural Law and Judaism. The Case of Maimonides, in: Judaism 45,1 (1996), S. 29–45; Oliver Leaman, Maimonides and Natural Law, in: Jewish Law Annual 6 (1987), S. 78–93. Vgl. auch: Max M. Lazerson, La philosophie du droit de Maïmonide, Paris 1937. Sefer ha-Madda> 40a.
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zur islamischen Rechtswissenschaft und zur islamischen Theologie des frühen Mittelalters bezieht sich die Erkenntnis des Gesetzes in Maimonides’ Untersuchungen nicht nur auf den Modus seiner Anwendung, sondern auch auf die Grundlagen des Gesetzes selbst.63 Hinsichtlich dieser Grundlagen bedeutet ‚Erkenntnis‘ nicht die unkritische Anerkennung einer in Wahrheit dogmatisch vorausgesetzten Rationalität des Gesetzes, sondern vielmehr die vernünftige Analyse und Rechtfertigung dieser Rationalität durch Beweise und Argumentationen.64 Zunächst lassen sich biblische Belege für die immanente Rationalität des Gesetzes anführen: „Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?“ (Dt. 4:8), „Die Befehle des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz. Die Gebote des HERRN sind lauter und erleuchten die Augen.“ (Ps. 19:9). In Moreh ha-Nevukhim bietet Maimonides eine Erklärung für das Wort ‚gerecht‘ an, die man auch zur Interpretation seiner Konzeption der Rationalität des Gesetzes in der Mishneh Torah heranziehen kann: „Deshalb sagt die H. Schrift: „Gerechte Satzungen und Vorschriften“ (Deut. 4,8). Du weißt ja: „gerechte“ bedeutet „gleichmäßige“. Dies aber sind unbeschwerliche Dienstleistungen, keineswegs übermäßige, wie etwas die Gottesverehrung der Anachoreten in den Gebirgen, oder dessen, der sich des Genusses von Fleisch, Wein und anderen Dingen enthält, die zu den Lebensbedürfnissen gehören, oder der ein Pilgerleben führt, um Gott zu dienen, aber auch nicht zu geringe, daß sie zur Völlerei oder zur Unzucht führen, so daß die Vollkommenheit der Menschen in sittlicher und geistiger Beziehung abnimmt, wie die Gesetze der anderen barbarischen Völker es mit sich bringen. Und wenn wir in diesem Buche von den Gründen der Gebote reden werden, wird dir, weil dies notwendig ist, deren Gleichmäßigkeit und Weisheit klar werden. Deshalb wird von unserem Gesetze gesagt: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen, es erquickt die Seele“ (Ps. 19, 8).“65
Und weiter: „[U]nd die Rechtsvorschriften Gottes sind überaus bewunderungswürdig, ebenso wie seine Werke, und so sagt die H. Schrift: „Der Hort, vollkommen ist sein Tun“ (Deut. 32:4). Damit will sie sagen, daß seine Rechtsvorschriften ebenso höchst gerecht, wie seine Werke vollkommen sind.“66
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Für eine Einführung in diese Problematik bei Maimonides siehe: Josef Stern, Problems and Parables of Law. Maimonides and Nahmanides on Reasons for the Commandments (Ta’amei ha-Mitzvot), Albany (N.Y.) 1998; Isadore Twersky, Concerning Maimonides’ Rationalization of the Commandments. An Explication of Hilkhot Me’ilah viii, 8 (auf Hebräisch), in: ders. (Hrsg.), Studies in the History of Jewish Society in the Middle Ages and in the Modern Period, Jerusalem 1980. Dies wird von Maimonides sehr deutlich in Moreh ha-Nevukhim III, 26 formuliert. Moreh ha-Nevukhim, II, 39. Moreh ha-Nevukhim III, 49.
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Auf dieser Gleichsetzung (weise = wahr = gerecht = perfekt = zielgerichtet)67 basieren Maimonides zufolge auch alle rabbinischen Auffassungen hinsichtlich der nachweisbaren Rationalität des Gesetzes68: Ohne diese Fähigkeit wäre der Mensch nicht imstande, die Nützlichkeit und die Notwendigkeit des Gesetzes zu verstehen. Nur das Heidentum basiert, wie im Talmud häufig betont wird69, auf unnützen Ritualen, deren rationale Begründung nicht hinterfragt wird. Maimonides zufolge ist es hingegen geradezu ein sündhaftes Verhalten Gott gegenüber, keine Fragen nach den Grundlagen des Gesetzes zu stellen.70 Wie in der rabbinischen Tradition üblich, umfassen Maimonides’ Untersuchungen im Sefer ha-Madda> sowohl das Studium des mündlichen als auch das des schriftlichen Gesetzes. Er ergänzt dieses Studium jedoch durch die Instrumente des philosophischen Denkens: „Die Zeit, die dem Studium zugemessen wird, sollte in drei Teile geteilt werden. Ein Drittel sollte dem geschriebenen Gesetz gewidmet werden, ein Drittel dem mündlichen Gesetz; das letzte Drittel sollte reflektierend mit dem Herleiten von Schlüssen aus Prämissen, der Entwicklung von Implikationen von Aussagen, dem Vergleich von Dikta und dem Studium der hermeneutischen Prinzipien anhand derer die Torah interpretiert wird, verbracht werden, bis man das Wesen dieser Prinzipien kennt, und weiß, wie Erlaubtes und Verbotenes aus dem hergeleitet wird, was man traditionell gelernt hat.“71 67
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Man findet einen Hinweis auf diese Gleichsetzung auch am Schluss des Sefer ha-Miswwot (op. cit., S. 221): „[…] Es gibt nicht ein einziges Gebot, welches keinen Grund und keine Ursache hat, sei er entfernt oder unmittelbar. Die meisten dieser Ursachen und Gründe übersteigen jedoch den Intellekt und das Verstehen der Menge.“ Moreh ha-Nevukhim III, 26: „Hinsichtlich der Gesetze, welche als huqqim bezeichnet werden […], die Mehrheit der Weisen glaubt, dass es zweifellos eine Ursache für sie gibt – ich meine ein sinnvolles Ziel – welches uns aber verborgen ist, sei es wegen der Unfähigkeit unserer Intellekte oder der Unzulänglichkeit unseres Wissens. […] Jene Gebote, deren Nutzen der Menge klar ist, werden mishpatim genannt, während diejenigen, deren Nutzen der Menge nicht klar ist, huqqim (Satzungen) genannt werden. Die Weisen sagen immer hinsichtlich des Verses Denn es ist nicht ein leeres Wort (Dtn. 32:47): ‚Und wenn es leer ist, so wegen dir‘. Das bedeutet, dass diese Gesetzgebung keine leere Sache ohne sinnvolles Ziel ist und wenn es dir so scheint, dass dies hinsichtlich einiger der Gebote der Fall ist, so gibt es eine Unzulänglichkeit in deiner Auffassungsgabe.“ Vgl. z.B.: Shabbat 75a und >Avodah Zarah 4a, wo die Rabbinen den Unterschied zwischen Juden und Heiden auf der rationalen Interpretation des Gesetzes gründen. Dieselbe Position findet man bei Bahya Ibn Paquda und bei Abraham Ibn Daud. In Hovot ha-Levavot (3. Kapitel, S. 67) schreibt Ibn Paquda: „Hinsichtlich der Frage, ob wir verpflichtet sind, die Lehre der Einzigkeit Gottes zu untersuchen, nehme ich an, dass jeder, welcher der Untersuchung dieser und ähnlicher philosophischer Themen durch rationale Methoden fähig ist, verpflichtet ist, dies gemäß seinen Kräften und Fähigkeiten zu tun. […] Jeder, der es ablehnt eine solche Untersuchung durchzuführen, ist tadelnswert und wird als jemand angesehen, der in die Kategorie jener gehört, die hinter Wahrheit und Wohlverhalten zurückbleiben.“ Auch Ibn Daud schreibt in der Einführung zu seinem Ha-Emunah ha-Ramah (S. 4), dass uns „die Wurzeln des jüdischen Glaubens“ gegeben wurden, damit wir ihre Wahrheit durch die Harmonie von Vernunft und Glauben finden konnten. Sefer ha-Madda> 58a.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
Maimonides’ Deutung der Grundlagen des Gesetzes unterscheidet sich von der rabbinischen Tradition insofern, als eine Art ‚Ur-Fundament‘ des Gesetzes angenommen wird, für das eine rein metaphysische Erklärung gegeben wird. Im ersten Kapitel der Hilkhot Yessode ha-Torah72 wird dieses Ur-Fundament des Gesetzes sogar als ‚Ur-Fundament‘ jedweder Form von Erkenntnis überhaupt interpretiert: „Das grundlegende Prinzip aller grundlegenden Prinzipien und die Säule aller Wissenschaften ist es, zu erkennen [leyda> ], dass es ein Erstes Wesen gibt, welches jedes existierende Ding zum Sein gebracht hat. Alle existierenden Dinge, ob nun himmlisch, irdisch oder zu einer dazwischen liegenden Klasse gehörend, existieren nur durch seine wirkende Existenz.“73
Dieses ‚Ur-Fundament‘ ist unmittelbar mit dem Kern des Gesetzes (Torah) verknüpft, nämlich mit der Anerkennung der Existenz des ‚einzigen‘ Gottes, der Anerkennung des Monotheismus. Diese Lehre wird als „das große Prinzip, von dem alles abhängt“74 bezeichnet, und zudem beziehen sich die ersten drei Vorschriften (miswot)75 der Hilkhot Yessode Ha-Torah auf die Einheit Gottes, eine Einheit, die mit der Einheit der physischen Körper nicht vergleichbar ist, da Gott den anderen Körpern nicht ähnlich sein kann76: „Erstens, zu wissen [leyda>], dass es einen Gott gibt. Zweitens, nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, dass es einen anderen als den ewigen Gott gibt. Drittens, seine Einheit anzuerkennen.“77
Die Beschränkungen der menschlichen Erkenntnis Gottes werden an dieser Stelle deutlich78: Die Möglichkeit der Erkenntnis ist Maimonides zufolge 72 73
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77 78
Ibidem, 34a. Ibidem, 34a. Ich möchte vXjmh ttymXm als „wirkende Existenz“ ins Deutsche übersetzen, nämlich eine Existenz, die bereits etymologisch in Verbindung mit „allen Dingen“ (Xjmnh lk ) ist. Ibidem, 34b. In seinem Werk Maimonides’ Ethics. The Encounter of Philosophic and Religious Morality, Chicago/London 1991) beschäftigt sich Raymond L. Weiss in dem ersten Appendix (S. 199ff) mit dem Unterschied zwischen Torah und miswah in der Mishneh Torah und bietet die folgende Interpretation an: „Torah is the Written Law; the mitzvah is the ‚explanation‘ of the Torah.“ (S. 199). Nach Maimonides hätten die miswwot eine hermeneutische Funktion zu erfüllen, sie sind nämlich Instrumente für die Interpretation und die Erklärung des Gesetzes. Das ist die Bedeutung von Ex. 24:12 („Da sprach der Herr zu Mose: Steige herauf zu mir auf den Berg und bleibe daselbst, dass ich dir die steinernen Tafeln gebe, die Gesetze und Gebote, die ich aufgeschrieben habe, sie zu unterweisen“), wo bereits ein deutlicher Unterschied zwischen ‚Torah‘ und ‚miswwah‘ auftritt. Hinsichtlich dieser Thematik siehe auch: Isadore Twersky, Some Non-Halakic Aspects of the Mishneh Torah, op. cit., S. 108f. Die Benutzung eines körperbezogenen Wortschatzes in bezug auf Gott hat nach Maimonides nur eine metaphorische und rhetorische Bedeutung. „Die Torah spricht die Sprache des Menschen“ (Sefer ha-Madda> 35a), jedoch bedeutet das nicht, dass ihre Sprache der menschlichen Erfahrung vollkommen entspricht. Ibidem, 34a. Für eine generelle Untersuchung dieser Problematik siehe u.a.: Barry S. Kogan, The Limits and Possibilities of Knowledge in Medieval Jewish Philosophy, in: CCAR Journal 40, 4 (1993), S. 11ff.
Die Mishneh Torah im intellektuellen Leben von Moses Maimonides
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auf die bloße Existenz Gottes beschränkt (eine Existenz, die im Falle Gottes notwendig, im Falle des Menschen hingegen lediglich möglich ist). Die Erkenntnis Gottes von Seiten des Menschen bleibt also mit einer Form von Nicht-Wissen verbunden, was eine Verbindung zwischen Gott und Menschen indes nicht ausschließt. Diese Verbindung wird von der ratio ermöglicht. Diesbezüglich schreibt Simon Rawidowicz: „Maimonides considers the ratio, which emanates from God to man as the link […] between God and man. […] This emanation from God and link with Him is not some thing stable and confined within limits, but is capable of growing and diminishing. It is man to whom it is given to strengthen this link or to weaken it.“79
Diese Konzeption der Einheit Gottes bezieht sich unmittelbar auf die arabische Einheitslehre.80 Der Begriff der Einheit Gottes in einem jede Teilbarkeit (mithin auch die Körperlichkeit) ausschließenden Sinn geht auf den Neuplatonismus zurück; er ist von den arabischen Denkern übernommen worden. Nicht nur einige arabische Philosophen bezeichneten sich als al-muwahhidun (‚Einheitslehrer‘), sondern auch jene Dynastie, deren Name zu ‚Almohaden‘ entstellt wurde, da sie sich der Verbreitung des Einheitsglaubens und der Bekämpfung des Glaubens an Gottes Körperlichkeit verschrieb. Während im biblischen Hebräisch das Wort dvxy (ichud, ‚Einheit‘) nicht ohne Bezeichnung des Possessivs (durch Suffix oder tvkymc ) stehen kann und ,ydxym eines Objektes bedarf, können die entsprechenden arabischen Wörter muwahhidun und tauhid für sich stehen. In diesem Fall sind sie stets als Begriffe für die intellektuelle Erkenntnis Gottes gemeint, und genau in diesem Zusammenhang erscheint der Begriff ‚Einheit‘ bei Bahya, Yehuda Ha-Lewi und Maimonides. Dass der Mensch die Einheit Gottes in seinem Denken anerkennt, wird bei Maimonides nicht als ein blinder Glaubensakt verlangt, es soll auch nicht durch eine mechanische Vollbringung gewisser Handlungen erreicht werden, sondern vielmehr aus einem Verständnisprozess (leyda> ) hervorgehen; dieser wird vom zweiten bis vierten Kapitel der Hilkhot Yessode ha-Torah als Erkenntnis der Ma>ase Bereshit („Schöpfungswerk“, Metaphysik) und der Ma>ase Merkavah („Wagenwerk“, Physik) entfaltet. Nur durch diese 79
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Simon Rawidowicz, Knowledge of God. A Study in Maimonides’ Philosophy of Religion, Tel Aviv 1936, S. 87; Shubert Spero, Is the God of Maimonides Truly Unknowable?, in: Judaism 22 (1973), S. 66–78. Zu dieser Verbindung zwischen Gott und Menschen bei Maimonides und auch zu den Einflüssen Abraham Ibn Ezras auf die Konzeption dieser Verbindung bei Maimonides vgl.: Wilhelm Bacher, Die Bibelexegese Moses Maimunis, Budapest 1896; ders., Die Bibelexegese der jüdischen Religionsphilosophen vor Maimuni, Budapest 1892. Ich benutze hier das Wort ‚Verbindung‘ statt ‚Beziehung‘, damit diese eingeschränkte erkenntnistheoretische Verknüpfung zwischen Gott und Menschen nicht in eine übergroße terminologische Nähe zu der dialektischen Theologie Karl Barths bzw. zur dialogischen Philosophie von Martin Buber und Emmanuel Levinas gerückt wird. Vgl. u.a.: Isaak Heinemann, Maimuni und die arabischen Einheitslehrer, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, op. cit., S. 102ff.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
beschränkte Erkenntnis des Wesens Gottes und durch die Erkenntnis des Wesens aller Geschöpfe (Menschen, Engel und Himmelssphären oder Metaphysik) sowie durch die Erkenntnis der Physik (oder Kosmologie) ist es möglich, die fünf Vorschriften des ersten Kapitels der Hilkhot Yessode haTorah zu erfassen: 1. die Existenz eines einzigen Gottes81; 2. wenn Er nicht existierte, würde nichts existieren; 3. die Existenz Gottes ist unabhängig von der Existenz der anderen Seienden; 4. Gott ist real, aber seine Realität ist nicht wie die Realität der anderen Seienden; 5. „Dieses Urwesen ist der ewige Gott, der Herr der ganzen Erde, der die Himmelskörper leitet mit ununterbrochener, unendlicher, ewiger Kraft; denn sie kreisen unaufhörlich fort, was unmöglich wäre ohne bewegende Kraft, und Er ist es der sie beweget ohne körperliche Mittel.“82 Die Erkenntnis der Ma>ase Merkavah und der Ma>ase Bereshit, die mit der Erkenntnis der oben genannten fünf Vorschriften verknüpft ist, kann nicht von allen Menschen erreicht werden83 (nicht einmal von allen Weisen84) oder zumindest nicht von allen Menschen im gleichen Maße. Deswegen handelt es sich nicht um die Erkenntnis, in der alle Menschen unterwiesen werden können und müssen, um das Ur-Fundament des Gesetzes. Dieses liegt vielmehr in der Einsicht in die Einheit Gottes. Hierzu schreibt Maimonides: „[…] Ich sage, dass es nicht angemessen ist, mit Pardes Zeit zu vertrödeln, wenn man sich nicht zuerst mit Brot und Fleisch gefüllt hat; damit meine ich Kenntnis von Erlaubtem und Verbotenem und ähnliche Unterscheidungen in anderen Klassen von Geboten. Obwohl diese letzten Themen von den Weisen „eine kleine Sache“ genannt wurden […], sollten sie dennoch Vorrang haben. Denn die Kenntnis dieser Dinge gibt dem Verstand Ruhe.“85
Maimonides ist nicht der Auffassung, dass unsere Erkenntnis auf die ‚kleinen Dinge‘ beschränkt ist und dass wir uns damit zufrieden geben müssten. Vielmehr ist er der Ansicht, dass diese Erkenntnis Vorrang haben muss, um den menschlichen Geist so zu schulen, dass er die Hilkhot Yessode Ha-Torah erfassen kann. 81 82 83
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Hierzu siehe u.a.: Warren Z. Harvey, Maimonides’ First Commandment, Physics, and Doubt, in: Hazon Nahum (1997), S. 149ff. Sefer ha-Madda> 34a. Ibidem, 39b: „Welche Unterscheidung gibt es zwischen Ma>ase Merkavah (Ezek. 1) und Ma>ase Bereshit? Der Gegenstand von Ma>ase Merkavah wird sogar einem Einzelnen nur dann dargelegt, wenn er weise ist und unabhängig Schlüsse ziehen kann; und dann werden ihm nur die Überschriften der Gegenstände mitgeteilt. Aber die Gegenstände von Ma>ase Bereshit werden einem Individuum gelehrt; und selbst wenn er nicht zum unabhängigen Schlußfolgern in der Lage ist, unterrichten wir ihn insoweit als er zum Lernen dieser Dinge befähigt ist. Warum wird dieses Thema nicht öffentlich unterrichtet? Weil nicht jeder den Umfang des Intellektes besitzt, der für die Erlangung eines genauen Verständnisses der Bedeutung und Interpretation all ihrer Inhalte erforderlich ist.“ Maimonides zitiert die talmudische Erzählung Hagiga 14a über den Versuch von vier Gelehrten, ins Paradies zu kommen. Ibidem, 39b–40a (Hervorhebung von F. Y. A.).
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Die Erkenntnis der ‚kleinen Dinge‘ bedeutet keine triviale bzw. oberflächliche Kenntnis des Gesetzes, sondern die Erkenntnis (immer noch als leyda> – Verständnisprozess – verstanden) jener Vorschriften, welche die elementaren Bedingungen des Lebens des Individuums innerhalb der Gemeinde konstituieren und garantieren: Nur in einer Situation des Wohlstands, der das Zusammenleben in einer Gemeinde ermöglicht, ist der Mensch imstande, sich der Erkenntnis jener Vorschriften zugunsten „der Glückseligkeit im kommenden Leben“ zu widmen. Kein Mensch hat Zugang zur Ebene der höheren Werte, solange die materiellen Bedingungen seines Lebens unbefriedigend sind.86 Zwar ist es richtig, dass sich Maimonides im Abschnitt Hilkhot De>ot gegen die Exzesse des physischen Wohllebens wendet, aber seine Kritik richtet sich dabei nicht gegen die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse überhaupt; er warnt lediglich vor der Gefahr, ausschließlich zugunsten der Bedürfnisse des Körpers zu leben. Die Bedeutung, die er dem physischen Wohlbefinden beimisst, ist auch aus der Tatsache ersichtlich, dass man in Hilkhot De>ot lange Abschnitte über Hygiene und Diät für die Aufrechterhaltung der eigenen Gesundheit findet. Der ‚Mittelweg‘ (tynvnybh rrdh )87 hinsichtlich der Behandlung des 86
87
Dasselbe Prinzip wird von Maimonides auch im Moreh ha-Nevukhim wiederholt und unmittelbar mit dem Gesetz einerseits und mit dem Leben in der Gemeinde andererseits in Verbindung gebracht: „Das ganze Gesetz bezweckt zwei Dinge, nämlich den vollkommenen Zustand der Seele und des Körpers. Was nun die Vollkommenheit der Seele betrifft, so müssen der großen Menge ihrer Fähgikeit entsprechend wahre Kenntnisse gegeben werden und deshalb werden diese teils in Form von Auslegungen, teils in Form von Gleichnissen mitgeteilt. Denn es entspricht nicht der Natur der Unwissenden, die Erkenntnis dieses Dinges, wie es ist, aufzunehmen. Der vollkommene Zustand des Körpers ist dem vollkommenen Zustand der Lebensverhältnisse der Menschen untereinander gleichzuachten. Dieser wird aber durch zwei Dinge zur Vollständigkeit gebracht, erstens durch die Beseitigung der Gewalttätigkeit aus ihrer Mitte, nämlich daß nicht jedes menschliche Individuum das tun darf, was ihm gut dünkt, nach seinem Willen und Vermögen, sondern daß jeder einzelne das tue, was allen nützlich ist; und zweitens in der Gewöhnung aller Menschenindividuen an nützliche, gesellschaftliche Charaktereigenschaften, so daß dadurch der Zustand der Gesellschaft ein geordneter wird. Wisse aber, daß von diesen beiden Hauptzwecken der eine den anderen an Wichtigkeit übertrifft, nämlich die Vervollkommnung der Seele, d.h. die Verleihung richtiger Überzeugungen, daß aber der zweite, nämlich die Vervollkommnung des Leibes, die in der möglichst besten Regierung des Staates und in der möglichst vortrefflichen Gestaltung der Verhältnisse seiner Individuen besteht, der Natur und der Zeit nach vorausgeht.“ (MN, III, 27). Vgl.: Herbert Davidson, The Middle Way in Maimonides’ Ethic, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 54 (1987), S. 31–72; ders., Maimonides’ Shemona Peraqim and Alfarabi’s Fusûl al-Madanî, in: Arthur Hyman (Hrsg.), Essays in Medieval Jewish and Islamic Philosophy, New York 1977, S. 116–133; Hinsichtlich der Hilkhot De>ot konzentriert sich Davidson vor allem auf das Problem des ‚Mittelwegs‘ im Vergleich zum Shmonah Peraqim (Traktat der acht Kapiteln) ausgehend von den Einflüssen Alfarabis und Aristoteles’. Vgl. auch: Jeffrey Macy, The Theological-Political Teaching of Shemonah Peraqim: A Reappraisal of the text and of its Arabic Sources, in: Proceedings of the Eighth World Congress of Jewish Studies (Jerusalem, August 16–21, 1981), Jerusalem 1982, S. 31–40; Bezalel Safran, Maimonides and Aristotle on Ethical Theory, in: Moshe Hallamish (Hrsg.), Alei Shefer. Studies in the Literature of Jewish Thought presented to Rabbi Dr. Alexandre Safran, Ramat-Gan 1990, S. 133–161
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
Körpers ist also die Mitte zwischen zwei Extremen (Asketismus als Vernachlässigung des Körpers einerseits und Epikureismus als reinem Genießen der physischen Lust andererseits88) und entspricht somit dem Weg Gottes (yy 'rd ), weil dieser mittlere Weg die Bedingungen für die Erkenntnis der Vorschriften Gottes bereitstellt.89 In Hilkhot De>ot schreibt Maimonides: „Wer also auf diesen Wegen sein Leben lang wandelt, der hört nicht auf, Gott zu dienen, selbst dann nicht, wenn er sein Geschäft treibt, oder seine ehelichen Pflichten erfüllt. Denn ihn belebt stets der Gedanke, daß er nur darum seine Bedürfnisse erschwingt, damit er sich unversehrt erhalte, und damit er Gott diene. […] Weil Erhaltung der körperlichen Gesundheit und Stärke, als ein Wandel auf Gottes Wegen gilt, indem es unmöglich ist in krankem Zustande Etwas von der Erkenntnis Gottes zu begreifen und zu verstehen, darum soll der Mensch die dem Körper nachtheiligen Dinge meiden, dagegen diejenigen suchen, die ihn stärken und kräftigen“90
Maimonides trennt nicht die Fürsorge für den Körper von der Erkenntnis Gottes, sondern er macht aus dieser Fürsorge durch die Lehre des ‚Mittelwegs‘ ein Instrument der Erkenntnis: ‚Gott dienen‘ bedeutet nichts anderes, als die befriedigende Materialität der menschlichen Existenz auf die Erkenntnis Gottes auszurichten. Achad Ha-Am schreibt: „[…] Maimonides lays down the principle that virtue is ‚the mean which is equidistant from both extremes.‘ This principle is taken, of course, from Aristotle’s doctrine of virtue. But Aristotle did not set up a higher moral criterion by reference to which the mean point could be determined in every case. For him all virtue was really but a code of good manners to which the polite Greek should conform, being enabled by his own good taste to fasten instinctively on the point equidistant from the ugliness of the two extremes. Not so Maimonides, the Jew. He made this principle the basis of morality in the true sense, because he coupled with it a formulation of the supreme morale end.“91
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Auf diese zwei Haltungen bzw. Kategorien von Menschen bezieht sich Maimonides bereits am Anfang des Abschnitts Hilkhot De>ot: „Der eine ist ein Genussmensch, dessen Begierden niemals ausreichend befriedigt sind; der andere ist so rein in der Seele, dass er sich nicht einmal nach den wenigen Dingen sehnt, die unsere physische Natur benötigt.“ (47a). Sefer ha-Madda> 48a. Vgl. auch: Ben Z. Bosker, The Legacy of Maimonides, New York 19622, S. 88ff. Auch Chaim Neuburger unterscheidet zwischen dem natürlichen und dem übernatürlichen Endziel der Torah bei Maimonides, wobei er sich nicht auf die soziale Dimension des Gesetzes konzentriert: Chaim Neuburger, Das Wesen des Gesetzes in der Philosophie des Maimonides, Danzig 1933, S. 37ff. In diesem Werk vertritt Neuburger die These, dass „[Maimonides, genauso wie alle anderen jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters] die Grundsätze der philosophischen Koranauslegung des Islam auf das Alte Testament [übertrug]“ (S. 9) und dass seine Konzeption des Gesetzes aus der Auseinandersetzung mit dem Islam einerseits und griechischer Philosophie andererseits stammte; David Rosin, Die Ethik des Maimonides, Breslau 1876, S. 124ff. Sefer ha-Madda> 50a. Achad Ha-Am, The Supremacy of Reason, in: Maimonides Octocentennial Series, 1. Bd., New York 1935, S. 13.
Erkenntnis, Gemeinde und >olam ha-ba in Hilkhot De>ot
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In den Hilkhot De>ot ist, wie ich nun zeigen möchte, die soziale Dimension des ‚Mittelweges‘ deutlich betont92, weil der Einzelne für die materiellen Ressourcen seines Überlebens nicht allein sorgen kann. Die Erkenntnis des Gebotenen und des Erlaubten ist einerseits entscheidend für die Regelung des Zusammenlebens der Gemeinde; andererseits bedeutet sie, dem Willen Gottes näher zu kommen, insofern er sich in seinen Vorschriften zu erkennen gibt. Es ist daher kein Zufall, dass sich die anschließenden Bücher der Mishneh Torah stärker auf die sozialen als auf die Familien- bzw. privaten Aspekte des Gesetzes konzentrieren. Diese Interpretation könnte auch als Zuspitzung der Stellungnahme von Leo Strauss verstanden werden. Ihm zufolge macht Hilkhot De>ot deutlich, dass das Zentrum des Talmud Torah93, also der Kern des Studiums der Torah, eine ethisch-soziale Funktion zugunsten des Einzelnen und zugunsten der Gemeinde zu erfüllen hat.94 Auf diese beiden Aspekte konzentriert sich meine Untersuchung der drei Abschnitte des Sefer ha-Madda> (Hilkhot De>ot, Hilkhot Talmud Torah, Hilkhot Teshuvah), in denen ich die Verbindung zwischen Erkenntnis, Gemeinde und >olam ha-ba als politisch-systematischem Element und Denkstruktur der gesamten Mishneh Torah analysieren werde. Es ist mir wichtig, noch einmal zu unterstreichen, dass die Gemeinde als juristische persona einer Gesetzessammlung ihren Vorläufer nicht bei den Juden, sondern bei den islamischen Juristen hat. Wenngleich die Dimension der Gemeinde sowohl im Qur’an als auch in der Hebräischen Bibel eine zentrale Rolle spielt, so wird dieser Begriff doch im Islam zum ersten Mal gesetzlich festgeschrieben.
§ 2 Erkenntnis, Gemeinde und >olam ha-ba in Hilkhot De>ot Wenn man Maimonides’ philosophische Auseinandersetzungen mit Aristoteles’ Denken untersucht, muss man sich zunächst mit einem philologischen Problem auseinandersetzen: Maimonides hat Aristoteles in arabischer Übersetzung rezipiert. Die arabische Sprache kann jedoch zahlreiche Begriffe des Griechischen nicht adäquat wiedergeben. Dasselbe Problem ergibt
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Hier stelle ich mich gegen die Position von Chaim Neuburger, der Maimonides’ Ethik als „asozial“ beschreibt (Chaim Neuburger, Das Wesen des Gesetzes, op. cit., S. 13). Ibidem, 57a ff. Leo Strauss, Notes on Maimonides’ Book of Knowledge, op. cit., S. 278. Nach Leo Strauss kann die zentrale Stelle des Talmud Torah im Sefer ha-Madda> nur in Verknüpfung mit Hilkhot De>ot verstanden werden: Zunächst soll das Studium der Torah zum Zusammenleben der Menschen im Einklang mit dem Willen Gottes führen.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
sich für das Hebräisch der Mishnah, wenn man die Werke untersucht, die Maimonides direkt auf Hebräisch schrieb. Dieses Problem ist hinsichtlich von Hilkhot De>ot nicht zweitrangig, da kein hebräisches Wort dem griechischen « (ethos) entspricht. Maimonides’ Wortwahl ist weniger am Maßstab einer faktisch unmöglichen philologischen Genauigkeit der Übersetzung orientiert; vielmehr versucht er, jeweils diejenigen Bedeutungsaspekte eines griechischen Begriffs hervorzuheben, die für seine eigenen Überlegungen essentiell sind. Wenn man sich diese Besonderheit des Sprachgebrauchs von Maimonides vor Augen hält, wird deutlich, dass die Erklärung von Raymond L. Weiss hinsichtlich von Hilkhot De>ot für die These, die ich an dieser Stelle vertreten möchte, höchst relevant ist: „The subject of ‚ethics‘ was not differentiated in biblical-rabbinic Judaism. Maimonides needed a word for character (ethos). The Hebrew word de’ah (pl. de’ot) which generally means ‚opinion‘ or ‚knowledge‘, is appropriated by Maimonides to designate character traits. This meaning is suggestive of the biblical ‚to know‘ in the sense of ‚to experience‘, although de’ah never denotes ‚character traits‘ in the Bible.95 […] [T]he right character traits form the basis in the human soul for the habitual performance of the right actions. We must also distinguish between justice and ethics proper. Justice is specifically concerned with the actions required for a well-ordered community. Ethics proper is concerned with actions only secondarily, although this by no means implies they are unimportant. Since a man’s character traits decisively affect his actions, ethics as well as justice is required for the welfare of the community.“96
Der Gebrauch des Wortes de>ah im zweiten Abschnitt des Sefer ha-Madda> verknüpft den Begriff madda> vom ersten Abschnitt mit dem der Gemeinde: Während das Ziel die Erkenntnis Gottes ist, hat diese Erkenntnis ihren Prüfstein und ihre Verwirklichungsmöglichkeit nur innerhalb des sozialen Lebens der Gläubigen. Aus diesem Grund gebraucht Maimonides ein Wort, das unmittelbar mit der Dimension der Erfahrung verknüpft ist. Selbstverständlich bezieht sich das Wort de>ah auf die Charakterzüge des Einzelnen, aber der Ort, an dem diese Züge entwickelt werden, ist das gemeinsame Leben innerhalb der Gemeinde. Deswegen wird in Hilkhot De>ot die aristotelische Gerechtigkeit97 ( , dikaiosyne) mit dem Wohlergehen der Gemeinde in Verbindung gebracht: Ohne ein solches Wohlergehen ist es nicht möglich, das eigene Leben der Erkenntnis Gottes zu widmen, somit ist
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Ich bin der Meinung, dass sich Maimonides in Hilkhot De>ot auf das arabische Wort ’aölaq bezieht, das eigentlich ‚Charakterzug‘ bedeutet und in dieser Bedeutung mehrmals im Qur’an sowie in den mittelalterlichen Kommentaren zu Aristoteles auftaucht. Raymond L. Weiss, Language and Ethics. Reflections on Maimonides’ „Ethics“, in: Journal of the History of Philosophy 9 (1971), S. 430–432. Für eine generelle Untersuchung des Problems der Gerechtigkeit im Denken Maimonides’ siehe u.a.: Yonah Ben-Sasson, Law and Justice in the Thought of Maimonides, in: Nakum Rahover (Hrsg.), Maimonides as Codifier of Jewish Law, Jerusalem 1997, S. 129–141.
Erkenntnis, Gemeinde und >olam ha-ba in Hilkhot De>ot
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dann das Studium der Torah nicht möglich, ein Studium, auf das sich der nachfolgende Abschnitt des Sefer ha-Madda> konzentriert.98 Die islamische Wortverbindung >ilm wa >amal (‚Wissen und Wirken‘)99 kehrt in Hilkhot De>ot unübersehbar wieder. Der Gesichtspunkt, unter dem Maimonides das Problem des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinde behandelt, ist ein teleologischer. Die Frage nach der Verbindung zwischen Individuum und Gemeinde wird zur Frage nach dem Zweck des Menschen. Zweck des Menschen ist die Erkenntnis. Das höchste der menschlichen Güter ist somit die Vollkommenheit des Intellekts, um das Gesetz Gottes zu begreifen: Ihr dient die Vollkommenheit der Sitten.100 Der von Daniel Krochmalnik hervorgehobene zweidimensionale Charakter der Eschatologie in Pereq Heleq, nämlich die Koexistenz einer politisch-sozialen und einer transzendenten Achse in den dreizehn Glaubensartikeln101, könnte analog auch bezüglich der Koexistenz von individueller und kollektiver Dimension der Ethik in Hilkhot De>ot behauptet werden: Während die Kapitel I–IV die Ausarbeitung der Charakterzüge des einzelnen Individuums enthalten (Notwendigkeit des ‚Mittelwegs‘; für welche Charakterzüge ist ein solcher Weg nicht wünschbar; Krankheit und Gesundheit der Seele102), beschäftigen sich die Kapitel V–VII mit der Verbindung zwischen den Charakterzügen des Einzelnen und seinem Leben innerhalb der Gemeinde, und nur in diesen Kapiteln findet man Hinweise auf das >olam ha-ba. Bislang haben sich die Interpretationen der Gelehrten vor allem mit den psychischen Aspekten von Hilkhot De>ot beschäftigt. Meine Absicht liegt hingegen darin, die politischen und sozialen Implikationen dieses Abschnitts des Sefer ha-Madda> deutlich zu machen, wobei dem >olam ha-ba besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Die Sphäre des praktischen Handelns wird bereits am Ende des ersten Kapitels von Hilkhot De>ot103 hervorgehoben. Wenngleich man hier, anders als in der Nikomachischen Ethik, keine Bestimmung des Mittelwegs findet, hebt Maimonides die Rolle der Praxis hervor, um den Menschen zum Mit98 Für eine generelle Untersuchung der Verbindung zwischen Gesetz und Ethik bei Maimonides siehe u.a.: Marvin Fox, Law and Morality in the Thought of Maimonides, in: Nahum Rakover, Maimonides as Codifier of Jewish Law, Jerusalem 1987, S. 105–120; ders., Interpreting Maimonides: Studies in Methodology, Metaphysics, and Moral Philosophy, Chicago/London 1990. 99 Siehe Kapitel 3, Anm. 37. 100 Vgl.: Raphael Jospe, Rejecting Moral Virtue as the Ultimate Human End, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks (Hrsg.), Studies in Islamic and Judaic Traditions, op. cit., S. 185–204. 101 Daniel Krochmalnik, Die zweidimensionale Eschatologie des Maimonides, op. cit. 102 Diesbezüglich siehe u.a.: Alexander Broadie, Medical Categories in Maimonidean Ethics, in: Fred Rosner/Samuel S. Kottek, Moses Maimonides. Physician, Scientist, and Philosopher, Northvale (NJ) 1993, S. 119–126. 103 Sefer ha-Madda> 48a.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
telweg als Weg Gottes zu führen. Der Mensch muss seine Handlungen bis zu demjenigen Punkt wiederholen und einüben, an dem diejenigen de>ot, welche die Mitte zwischen zwei Extremen darstellen, in seine Seele (wpn , an dieser Stelle als Äquivalent der Aristotelischen gemeint) gleichsam ‚eingewachsen‘ sind. Nur durch die alltägliche praktische Übung kann sich die Seele am Weg Gottes orientieren und somit ihre kranken (ylvx ) Dispositionen heilen. Wiederum im Unterschied zur Nikomachischen Ethik wird weder ein empirisches Beispiel für die ethischen Dispositionen gegeben noch eine genaue Klassifizierung unternommen.104 Es wird jedoch die pädagogische Funktion betont, die der Praxis insgesamt bei dem Versuch zukommt, sich die Lehre des Mittelwegs als des einzigen gerechten Wegs zu Eigen zu machen. In Maimonides’ Perspektive ist die praktische Übung nicht Zweck an sich. Der durch die eingeübte Praxis gefundene Mittelweg soll vielmehr die Vollbringung des Hauptzwecks der menschlichen Handlungen ermöglichen: Nur durch eine gesunde Seele kann der Mensch Gott dienen, aber diese Gesundheit ist zunächst Konsequenz der Mäßigung im praktischen Leben. Der Mensch soll seine Handlungen nicht auf die Verwirklichung des physischen Wohlergehens beschränken und damit zufrieden sein. Vielmehr soll er das physische Wohlergehen als Voraussetzung für die Erkenntnis Gottes betrachten: Nur wenn der Mensch gesund ist, hat er ausreichende Kraft und Sorgenlosigkeit, um sich dem Studium des Gesetzes ohne Hindernisse zu widmen. Aus diesem Grund ist das physische Wohlergehen sowohl für die Vollständigkeit des menschlichen Lebens als auch für die Erkenntnis Gottes unentbehrlich. Maimonides schreibt diesbezüglich: „Doch wer nach den Regeln der Gesundheit lebt, nur um Körper und Glieder gesund zu erhalten und Kinder zu zeugen, die seine Arbeit verrichten, und sich für seine Bedürfnisse abmühen, der hat einen schlechten Weg erwählt; er erhalte vielmehr deshalb seinen Körper unversehrt und stark, damit seine Seele um so empfänglicher werde, Gott zu erkennen; […] Wer also auf diesen Wegen sein Leben lang wandelt, der hört nicht auf, Gott zu dienen, selbst dann nicht, wenn er sein Geschäft treibt, oder seine ehelichen Pflichten erfüllt. Denn ihn belebt stets der Gedanke, daß er nur darum seine Bedürfnisse erschwingt, damit er sich unversehrt erhalte, und damit er Gott diene. Auch wenn er schläft, und dies nur in der Absicht thut, daß Seele und Körper ruhen mögen, damit er nicht krank und dadurch verhindert werde, Gott zu dienen, so ist auch dieser Schlaf ein Dienst Gottes, gelobt sey Er.“105
Das gesamte Leben des Individuums, auch das soziale Leben in Verbindung mit den anderen Menschen („Handel“ – X>vn>=hi>b – und „Beischlaf“ – 104 Maimonides betont nur, für welche de>ot kein Mittelweg möglich ist, da sie das Leben des Menschen unwiederbringlich beschädigen: Stolz und Ärger (48b). 105 Ibidem, 50a.
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livb>=hj>b –: Maimonides unterstreicht damit sowohl die öffentliche als auch die private Dimension des Zusammenlebens), soll als am Dienst Gottes orientierte Praxis begriffen werden. Das ist das erste Auftreten des gemeinschaftlichen Aspekts der Praxis in Hilkhot De>ot, eines Aspekts, der am Ende von Kapitel IV, also am Ende des letzen Kapitels über die individuelle Dimension (gemäß meiner Einteilung) der de>ot, noch deutlicher sichtbar wird. Auf den ersten Blick könnte dieser Hinweis tatsächlich rätselhaft erscheinen, da sich das Kapitel IV nur auf die Wahl des Mittelwegs hinsichtlich der Ernährungs-, Schlaf-, Sexual- und Hygienegewohnheiten des Individuums bezieht. Eine detaillierte Analyse nicht des Mittelwegs als Prinzip an sich, aber seiner Verwirklichung im Leben eines Menschen wird in Kapitel IV vorgenommen, dem längsten Kapitel in gesamtem Hilkhot De>ot. Maimonides selbst scheint die Notwendigkeit zu fühlen, sich für diese Ausführlichkeit bei seinen Lesern zu entschuldigen: Nur durch die bewusste und aufmerksame Erfüllung aller Regeln des Maßhaltens, die in diesem Kapitel ausführlich beschrieben werden, könne man die Voraussetzungen zur Erkenntnis Gottes erfüllen. Gleichwohl warnt der Schluss des Kapitels IV, dass unsere Mühe völlig unangemessen und vergeblich ist, wenn der Stadt (hier als «, als politischer Organismus wie in der Nikomachischen Ethik verstanden), in der man lebt, gewisse Institutionen fehlen, die für das menschliche Wohlergehen unerlässlich sind: „Kein Schüler der Weisen kann in einer Stadt leben, die nicht folgende Dinge hat nämlich: einen Arzt, einen Chirurgen, ein Bad, eine Toilette, ausgezeichnetes Wasser wie einen Fluss oder eine Quelle []yimv rhn ]vgk ]yyvjm ,ymv ], eine Synagoge, einen Kinderlehrer, einen Schreiber, einen Kämmerer, eine Wohltätigkeitskasse und ein Gericht, welches die Autorität zur Bestrafung mit Hieben und Gefängnis hat.“106 106 Ibidem, S. 52b. Maimonides formuliert nicht seine eigenen Gedanken, sondern zitiert (Bavli Sanhedrin 17b); allein die Wahl des Zitats (die Reihenfolge wird von Maimonides umgestellt, damit der Arzt am Anfang steht) könnte seine Absicht ausdrücken. Die ausgezeichnete Übersetzung des Sefer ha-Madda> von Moses Hyamson ist leider an dieser Stelle irreführend, weil in diesem Paragraphen der Akzent nicht auf „disciple of the wise“ (,ymkx dymlt ), sondern auf der Stadt (ryi lk ) liegt, mit deren Erwähnung dieser Paragraph beginnt. Schon sprachlich befindet sich in diesem Paragraphen der „disciple of the wise“ nur in einer mittleren Position zwischen der Stadt als politischem Organismus (ryi ) und deren zehn Institutionen (,yrbd hr>i ), die ein praktisches Leben zugunsten der Erkenntnis Gottes ermöglichen. Zunächst benötigt der Mensch nicht einen weisen Lehrer, sondern bestimmte politische Strukturen des kollektiven Lebens, innerhalb deren er seine Rolle als Schüler erst einnehmen kann. Wenn Maimonides hier die Gemeinde als das Zusammenleben von Mitgliedern desselben Glaubens bzw. als allgemeines Kollektiv hätte verstanden wissen wollen, hätte er, wie bereits in Hilkhot De>ot 48b, das Wort rvbyi benutzt. Diesbezüglich siehe auch: Erwin I. J. Rosenthal, Maimonides’ Conception of State and Society, in: ders., Judaism, Philosophy, Culture. Selected Studies by E. I. J. Rosenthal, Richmond 2001, S. 275–289. Die Untersuchung von Erwin Rosenthal konzentriert sich vor allem auf die Einflüsse Alfarabis auf den Moreh
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Allerdings wird Kapitel V mit einer Darstellung des weisen Menschen nicht hinsichtlich seines Privatlebens eröffnet, sondern auch und vor allem hinsichtlich seiner öffentlichen Handlungen und Tätigkeiten im Austausch mit anderen Menschen: Die Weisheit soll sowohl auf die individuelle als auch auf die soziale Praxis des Menschen ausgerichtet sein. Ein oberflächlicher Vergleich zwischen Kapitel IV und Kapitel V könnte zum Schluss kommen, dass das Kapitel V eine überflüssige Wiederholung ist, da man hier hinsichtlich der Regeln des Maßhaltens dieselben Inhalte wie in Kapitel IV findet. Vergleicht man nur den jeweils ersten Teil beider Kapitel, muss man zugeben, dass diese Interpretation nicht völlig falsch ist: 1.
2.
3.
„Essen sollte man nicht bis zur Übersättigung zu sich nehmen“ (Kapitel IV, 50a) „Der Weise isst das bescheidene Mahl, das ihm entspricht …“ (Kapitel V, 52b) „Nachdem das Essen verdaut worden ist, sollte man nicht ausgiebig trinken.“ (Kapitel IV, 50b) Wenn der Weise Wein trinkt, nimmt er nur genug, um das Essen zu befeuchten, welches er gegessen hat“ (Kapitel V, 53a) „Medizinische Autoritäten haben erklärt, dass für einen der an anderen Krankheiten stirbt, tausend die Opfer der sexuellen Ausschweifung sind.“ (Kapitel IV, 52a) „Obwohl ehelicher Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau immer gestattet ist, sollte diese Beziehung von dem Gelehrten immer mit seiner Heiligkeit erfüllt werden.“ (Kapitel V, 53a)
Jedoch werden relevante Unterschiede bereits im ersten Teil beider Kapitel sichtbar, obwohl sich diese Kapitel tatsächlich mit denselben Inhalten beschäftigen. In Kapitel IV beziehen sich alle Regeln des Maßhaltens direkt auf das individuelle Leben des Menschen ohne jede Einbeziehung bzw. Erwähnung der öffentlichen Sphäre oder des unmittelbaren Nächsten. Das gilt zumal für die hygienischen Regeln, wie z.B. die Beschreibung des richtigen Verfahrens, um ein Bad zu nehmen und sich zur Ader zu lassen, die Betonung der Wichtigkeit, Sport zu treiben, die den zweiten Teil des Kapitels bilden und die in Kapitel V völlig fehlen. Sogar die Regeln für das sexuelle Leben, die beschreiben, unter welchen Umständen man ohne Gefahr für die eigene Gesundheit Geschlechtsverkehr haben kann, beziehen sich auf das Individuum und erwähnen nicht die Partnerin.107 ha-Nevukhim bezüglich der Begriffe von „state“ und „society“. Von Erwin Rosenthal ist auch das folgende Werk zu betrachten: Griechisches Erbe in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, Stuttgart 1960. 107 Für eine allgemeine Untersuchung der von Maimonides formulierten hygienischen Regeln in Verbindung mit seiner Philosophie vgl. u.a.: Elinor Lieber, Maimonides, the medical humanist, in: Maimonidean Studies 4 (2000), S. 39–60; Hanns Ackermann, Die Gesundheitslehre des Maimonides (1135–1204). Medizinische und religionsphilosophische Aspekte, in: Clio Medica 20 (1985–1986), S. 59–78; David J. Eisenman, Maimonides’ philosophic medicine, in: Fred
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In Kapitel V wird das Verhalten des weisen Menschen hingegen von Anfang an mit dem Leben der Gemeinde in Verbindung gebracht: „Ebenso wie ein Weiser an seiner Weisheit und seinen moralischen Prinzipien [vytvidbv vtmkhb ] erkannt wird und er sich durch sie vom Rest der Leute [,ih rX>m ] unterscheidet, so sollte er auch an seinem Tun erkannt werden, in seinem Essen und Trinken, in der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten, im Hinblick auf seine körperlichen Bedürfnisse, in seinem Sprechen, seinem Laufen, Kleiden, in seinem Handel und Wandel.“108
Dass ein Weiser erkannt wird, gründet nicht nur auf dem intellektuellen Verstehen seiner Weisheit und seiner ethischen Dispositionen (eine solche Anerkennung setzt theoretische Fähigkeiten voraus, die nicht alle Menschen besitzen), sondern auch auf der Beobachtung seines praktischen Lebens in der Gemeinde, in dem seine Weisheit und seine ethischen Dispositionen zum Ausdruck kommen. Wenn der Weise als Beispiel für die Gemeinde fungieren soll, dann muss er in allen Dimensionen des praktischen und kollektiven Lebens als vorbildlich anerkannt werden können. Während sich die Ernährungsgesetze in Kapitel IV auf das Zusichnehmen der Nahrung und den Verdauungsprozess beziehen (sie betreffen beispielsweise die richtige Position während des Essens, den Einfluss der Temperatur, die Möglichkeiten, die Verdauung positiv zu beeinflussen, die Frage, welche Lebensmittel gut und welche schlecht für den Magen sind, usw.), fällt der Akzent in Kapitel V auf die sozialen Aspekte des Essens, also etwa die Frage, wo und mit wem man essen oder nicht essen soll, zu welchen Gelegenheiten man eine Einladung annehmen bzw. ablehnen darf, und sogar die Frage, mit wem zusammen sich der Weise betrinken darf und mit wem nicht.109 Hinsichtlich des sexuellen Verhaltens liegt der Akzent in Kapitel V nicht so sehr auf dem gesundheitlichen Zustand des Weisen („Der Geschlechtsverkehr sollte nicht am Beginn der Nacht vollzogen werden, wenn man hungrig ist, sondern um Mitternacht, wenn das Essen verdaut ist.“110), sondern vielmehr auf der Beziehung zu seiner Frau vor dem GeschlechtsverRosner/Samuel S. Kottek, Moses Maimonides. Physician, Scientist, and Philosopher, op. cit., S. 145–150; Zev W. Harvey, Sex and Health in Maimonides, in: Fred Rosner/Samuel S. Kottek, Moses Maimonides. Physician, Scientist, and Philosopher, op. cit., S. 33–39; Hannah Kasher, Well-Being of the Body or Welfare of the Soul. The Maimonidean Explanation of the Dietary Laws, in: Fred Rosner/Samuel S. Kottek, Moses Maimonides. Physician, Scientist, and Philosopher, op. cit., S. 127–133; Suessmann Muntner, Aus der ärztlichen Geisteswerkstätte des Maimonides, in: Paul Wilpert (Hrsg.), Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlichjüdischen Gespräch, Berlin 1966, S. 128–145. 108 Sefer ha-Madda> 52b. 109 Ibidem, S. 53a: „Wenn er [der Weise] in Anwesenheit der Unwissenden berauscht wird, entweiht er den Namen (Gottes).“ Der unwissende Mensch ist nicht imstande zu verstehen, dass dieses Verhalten ungeeignet ist, um den Weg zur Erkenntnis Gottes zu gehen. 110 Ibidem, S. 53a.
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kehr. Die Aufmerksamkeit gegenüber der Frau ist notwendig, um die Heiligkeit des Aktes nicht zu beeinträchtigen: „Beim Geschlechtsverkehr sollte weder der Mann noch die Frau in einem Zustand des Rausches, der Lethargie oder der Melancholie sein. Die Frau sollte zu diesem Zeitpunkt nicht schlafen. Der Mann soll sie nicht zwingen, wenn sie nicht gewillt ist. Der Geschlechtsverkehr sollte mit der Zustimmung beider vollzogen werden, während sie voller Verlangen und Freude sind. Der Mann sollte sich mit seiner Frau für eine Weile unterhalten und mit ihr scherzen, um sie in einen angenehmen Gemütszustand zu versetzen und sich dann bescheiden und nicht schamlos mit ihr vereinigen.“111 Auch die de>ah des Maßhaltens wird von Maimonides in Kapitel V als Verhalten gegenüber dem Kollektiv interpretiert: Alle extrem bescheidenen Handlungen im Leben des Weisen sollen, ebenso wie alle Äußerungen seines Leidens, von den Augen der Gemeinde ferngehalten werden, damit der Weise seine Würde und den Respekt der Gemeinde bewahren kann. Die Lehre des ‚Mittelwegs‘ ist hier verknüpft mit einem anderen Aspekt des öffentlichen Lebens des Weisen, einem Aspekt, der in Kapitel IV nicht erwähnt wird, nämlich der Frage, wie, mit wem und unter welchen Umständen der Weise sich unterhalten darf. Die Wichtigkeit der Art und Weise der sprachlichen Kommunikation ergibt sich aus der Tatsache, dass der Weise allen Menschen durch seine Sprache nahekommen muss. Sein Ton darf daher nicht aggressiv und laut, aber auch nicht zu geziert klingen. Alle Menschen müssen sich bei dem Weisen wohl fühlen und ihm vertrauen können. Der Weise spricht nicht schlecht über abwesende Menschen, weil „er Frieden liebt und nach ihm strebt“ (Avot 1,12) und weil er sich der Tatsache bewusst ist, dass bösartige Reden (wie berechtigt sie auch sein mögen) den Frieden in einer Gemeinde zerstören können. Dank dieses Verhaltens werden alle Menschen dem Weisen gegenüber wohlgesinnt sein (Avot 4,15), weil sie den Respekt erfahren, den der Weisen ihnen entgegenbringt. Maimonides betont in diesem Paragraphen, dass der Weise nicht mit einem aufgebrachten Menschen spricht, dessen Geist nicht wieder klar geworden ist: Die Stille ist dem Missverstehen der weisen Worte vorzuziehen. Der Weise respektiert auch die Trauer der Hinterbliebenen bei einem Todesfall und unterhält sich nicht mit dem Nachbarn, wenn dieser gerade unter einem schweren Unglück leidet. Denn dies würde es für den Nachbarn psychologisch unmöglich machen, die Wahrheit der Worte des Weisen zu begreifen. Die Wahrheit soll die Hauptsorge des Weisen in all seinen Reden sein. Zugunsten des Friedens innerhalb der Gemeinde ist gleichwohl eine Ausnahme gestattet: „[E]r [der Weise] ändere das gegebene Wort nicht, weder erweitere er es, noch beschränke er es, Friedensstiftungen (,vl> yrbdb ) und ähnliche Fälle ausgenommen. Im Allgemeinen gewöhne man sich, nur weise Gespräche, oder 111 Ibidem, S. 53a.
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solche zu führen, die eine Wohlthat oder dergleichen bezwecken.“112 Das Wort ‚Weisheit‘ taucht hier nur einmal und erst am Ende des Paragraphen auf, obwohl die Weisheit das fortwährende Thema der Konversation des Weisen sein muss. An dieser Stelle ist es für Maimonides viel wichtiger zu unterstreichen, welchen sozialen Zweck die Äußerung der Weisheit in der Sprache hat, nämlich den Frieden (ein Wort, das viermal auftaucht), den der Weise in die Gemeinde bringt und den er aufrechterhält. Wegen dieser wichtigen leitenden Rolle ist der Weise permanent dem aufmerksamen Blick seiner Nachbarn ausgesetzt: „Der Gang einer Person zeigt, ob sie weise und einsichtig oder töricht und ein Dummkopf ist. […] Die Kleidung eines Gelehrten sollte schicklich und sauber sein. […] Das Ziel all dieser Regeln besteht darin, vor Verdacht zu bewahren.“113 Noch bedeutsamer erscheint die Rolle der Gemeinde und der Familie des Weisen im letzten Teil von Kapitel V, in dem Maimonides das Verhalten des Weisen bei seinen Geschäften114 untersucht. Bezüglich seiner wirtschaftlichen Betätigung steht der Weise noch stärker im Zentrum der Aufmerksamkeit des Kollektivs, weshalb „der Gelehrte seine Angelegenheiten mit Urteilsvermögen regelt. […] Er wird sich nicht in große Schwierigkeiten bringen (um als reich erachtet zu werden).“.115 Die Gemeinde beurteilt den Wohlstand des weisen Menschen als angemessen, wenn er sich gemäß seinen Mitteln, nämlich gemäß den Regeln des Maßhaltens und der Lehre des Mittelwegs, ernährt und kleidet. Nur um bei den Nachbarn Respekt für seine Frau und für seine Kinder zu gewinnen, darf und muss der Weise mehr Geld ausgeben, als seinem tatsächlichen Einkommen entspricht. Es könnte insofern so aussehen, als ob der Schutz der eigenen Familie die Verletzung der Lehre des Mittelwegs gestattete, aber vor dem Hintergrund der gefährlichen sozialen Konsequenzen einer solchen Ausnahme (es könnten ja kriminelle Aktivitäten mit der Sorge um den Wohlstand der eigenen Familie gerechtfertigt werden) bezieht sich Maimonides auf die Bibel und im besonderen auf diejenigen Abschnitte (Dtn. 20:6–7; 28:30), in denen steht, dass der Weise vor der Gründung einer Familie einen Beruf mit sicherem Einkommen haben muss. Auf keinen Fall darf der Weise eine ökonomische Last für die Gemeinde werden: „Einer Person ist es verboten, all ihren Besitz aufzugeben oder ihn dem Heiligtum zu widmen und damit zur öffentlichen Belastung zu werden.“116 Im Rahmen seiner wirtschaftlichen Beziehungen soll der Weise ein Beispiel moralischer Integrität und Liberalität sein. Er muss mit Ehrlichkeit und gutem Gewissen verhandeln und darf nicht von seiner eventuellen 112 Ibidem. S. 53b. 113 Ibidem, S. 53b–54a. 114 Für eine allgemeine Untersuchung dieser Thematik siehe: Baron S. Wittmayer, The Economic Views of Maimonides, New York 1941. 115 Sefer ha-Madda> 54a. 116 Ibidem, S. 54a.
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Macht profitieren: „Er gehört zur Kategorie derer, die verfolgt werden, aber nicht verfolgen, die beschimpft werden, aber nicht beschimpfen.“117 Ausgehend von seinem ersten Abschnitt betont das Kapitel VI die Wichtigkeit der Gemeinde für die Erhaltung intakter sozialer Strukturen (Kapitel V); wenn sie fehlen, muss ein Weise eine im moralischen Sinne schlechten Gemeinde verlassen. Maimonides stellt hier zwei verschiedene Möglichkeiten in Rechnung, eingeschlossen die Tatsache, dass die Erfüllung der de>ot den Weisen bis zu einer widersprüchlichen Konsequenz führen kann. Da es völlig natürlich ist, dass der Mensch von den Nachbarn und von allen Mitgliedern der Gemeinde „in Überzeugungen und Handlungen“118 (vy>imbv vytvidb ) beeinflusst wird, muss er mit gerechten Menschen zusammenleben, die dem Weg zum Guten (hbvu ) folgen. Es ist nicht möglich, den Einflüssen des sozialen Umfelds zu entgehen. Nach Maimonides spielen sie eine so zentrale Rolle im Leben des Menschen, dass sich der Weise ausschließlich für ein der Erkenntnis Gottes gewidmetes Leben entscheiden muss. Wenn ein solches Leben aus politischen (etwa einem Krieg), aus ethischen (die Verderbtheit der Gemeinde) oder aus gesundheitlichen Gründen nicht zu führen ist, so muss der Weise in Abgeschiedenheit leben und jeden Kontakt mit den bösartigen Mitgliedern zu vermeiden suchen. Wenn die Gemeinde ihm trotzdem nicht gestattet, ein Außenseiter zu bleiben, so muss der Weise sogar das Leben in der Wüste, in der Höhle oder im Dickicht vorziehen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Gemeinde ist für die Vollbringung der de>ot von entscheidender Bedeutung, aber wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, muss der Weise sich für die Einsamkeit und für den Verzicht auf das soziale Leben entscheiden. Der Mensch muss „ihre [der Weisen] Gemeinschaft in jeder Beziehung pflegen“119, da nur der Austausch mit gerechten Menschen (Gerechtigkeit und Weisheit werden an dieser Stelle von Maimonides als Begriffe, die in einem Zusammenhang stehen, verstanden) zur Erkenntnis Gottes durch die Erfüllung seiner Vorschriften führen kann. Die wichtigste aller Vorschriften, die Liebe zum Nächsten, wird von Maimonides im dritten und vierten Abschnitt jeweils mit unterschiedlicher Nuancierung (einmal einer ‚national-religiösen‘ und einmal einer universalistischen) erwähnt und direkt mit dem >olam ha-ba in Verbindung gebracht, von der hier zum ersten Mal im gesamten Sefer ha-Madda> die Rede ist. Im dritten Abschnitt liest man: „Es obliegt jedem, jeden Israeliten wie sich selbst zu lieben […]. […] Daher muss eine Person lobend über ihren Nachbarn sprechen und mit dem Besitz ihres Nachbarn ebenso vorsichtig umgehen wie mit ihrem eigenen Besitz und besorgt um ihre
117 Ibidem, S. 54b. 118 Ibidem, S. 54b. 119 Ibidem, S. 55a.
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Ehre sein. Wer sich rühmt, indem er eine andere Person erniedrigt, hat keinen Anteil an der kommenden Welt [Xbh ,lvjl qlx vl ]yX ].“120
Und im vierten Abschnitt: „Den Proselyten [rgh ], der Zuflucht unter den Flügeln der Schechinah sucht, zu lieben, ist die Erfüllung zweier positiver Gebote. Erstens, weil er zu den Nächsten gehört (die uns zu lieben befohlen ist) (Lev. 19:18). Und zweitens, weil er ein Fremder ist und die Torah sagt ‚Liebet deshalb den Fremden‘ (Deut. 6:5).“121
Die Tatsache, dass der >olam ha-ba nur im dritten Abschnitt erwähnt wird, bedeutet nicht, dass das Verweigern der Nächstenliebe nur im Fall eines Israeliten den Ausschluss vom >olam ha-ba zur Folge hat, da die Erwähnung des >olam ha-ba mit der „Erniedrigung einer anderen Person“ (vrybx ]vlqb ) im allgemeinen verbunden wird. Die Gleichberechtigung des Fremden hinsichtlich des ihm garantierten Schutzes wird im vierten Abschnitt noch deutlicher betont, wenn Maimonides den Leser daran erinnert, dass „Gott (uns) die Liebe zu Fremden aufgetragen hat, so wie er uns beauftragt hat, Ihn zu lieben.“122 Maimonides ist hier nicht an einer philosophischen Untersuchung der Natur dieser Liebe interessiert123, sondern an ihren sozialen und gesetzlichen Folgen für das Leben der Gemeinde, wenn sie einen Fremden annimmt. Der Ausschluss vom >olam ha-ba wird von Maimonides nicht so sehr im Sinne einer Drohung gebraucht bzw. erwähnt. Er wird vielmehr als na120 Ibidem, 55a. 121 Ibidem, 55a. Für eine philosophische und theologische Untersuchung der Rolle des Proselyten (rg , ger) in der Bibel siehe u.a.: Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 1995, S. 134ff. Für eine exegetische und das Gesetz betreffende Untersuchung vgl. u.a.: Nahum Rakover, Laws and the Noahides: law as a universal value, Jerusalem 1998; David Novak, The image of the non-Jew in Judaism: an historical and constructive study of the Noahide Laws, New York 1983; Philip Biberfeld, Das noachidische Urrecht: Versuch einer Rekonstruktion. Beziehungen zur Torah und den Rechten der Völker, Frankfurt a. M. 1937. 122 Sefer ha-Madda> 55a. 123 Eine solche Untersuchung, mit der ich mich im Rahmen meines Forschungsvorhabens nicht beschäftigen konnte, findet man in Hilkhot Yessode ha-Torah. Zahlreich sind die über den Begriff ‚Liebe‘ bei Maimonides durchgeführten Studien, für die ich hier nur ein Beispiel nennen will: Steven Harvey, The Meaning of Terms designating Love in Judaeo-Arabic Thought and Some Remarks on the Judaeo-Arabic Interpretation of Maimonides, in: Norman Golb (Hrsg.), Judaeo-Arabic Studies: Proceedings of the Founding Conference of the Society for Judaeo-Arabic Studies, Amsterdam 1997, S. 175–196; Normann Lamm, Maimonides on the love of God, in: Arthur Hyman (Hrsg.), Maimonidean Studies, Bd. 3, New York 1995, S. 131–142; Lawrence J. Kaplan, The love of God in Maimonides and Rav Kook, in: Judaism, 43,3 (1994), S. 227–239; Yehudah Gellman, Human Action in Rambam’s Thought; Individual Autonomy and Love of G-d; in Jewish Thought 2,1 (1992), S. 123–144; ders., The love of God in Maimonides’ religious philosophy, in: Jesus Pelaez del Rosal (Hrsg.), Sobre la vida y obra de Maimónides. I Congreso Internacional (Cordoba, 1985), Cordoba 1991, S. 219–227; Shubert S. Spero, Maimonides and our love for God, in: Judaism 32, 3 (1983), S. 321–330; Ernst Hoffmann, Die Liebe zu Gott bei Mose ben Maimon. Ein Beitrag zur Geschichte der Religionsphilosophie und Religionspsychologie, Breslau 1937.
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türliche Konsequenz des Handelns des Menschen verstanden, weshalb der Mensch, der irregeht, auf den rechten Weg zurückgeführt werden muss, damit er am >olam ha-ba teilnehmen darf. Da der >olam ha-ba in diesem Kapitel den anderen Menschen gegenüber als natürliches Ziel des gerechten Handelns vorgestellt wird, ist seine Verknüpfung mit der gemeinschaftlichen Dimension des Handelns unübersehbar. Im achten und neunten Abschnitt hat auch der soziale Aspekt der Beschämung einen Bezug zum >olam ha-ba: Vom >olam ha-ba wird jeder Mensch ausgeschlossen, der ein Mitglied bzw. einen Fremden in der Öffentlichkeit beschämt oder zulässt, dass er beschämt wird. Im achten Abschnitt wird eine solche Verletzung erstens in bezug auf den Israeliten erwähnt („Es ist verboten, einen Israeliten, vor allem in der Öffentlichkeit, zu beschämen“124), aber die Strafe, nämlich der Ausschluss vom >olam ha-ba, betrifft das An-den-Pranger-Stellen jedes Menschen (Maimonides zitiert aus Pirqe Avot 3,11, in dem allgemein steht: „Derjenige, der seinen Nächsten in der Öffentlichkeit beschämt, hat keinen Anteil an der kommenden Welt“125). Kapitel VI schließt mit der Erwähnung aller Fälle, in denen es verboten ist, Menschen in Verlegenheit bzw. in Bedrängnis zu bringen, sogar dann, wenn sie etwas gegen uns unternommen haben: Das biblische Verbot (Ex 22:21–23), die Waisen und die Witwen zu ‚bedrücken‘, ergänzt Maimonides als Arzt um die Kategorie der geistig gestörten Menschen. Maimonides fügt auch eine Ausnahme hinsichtlich der Waisen hinzu: Wenn ein Lehrer die Waisen zum Lernen der Torah und auf den rechten Weg führen will, darf er sie sogar physisch bestrafen, ohne jedoch zu vergessen, dass sie im Vergleich zu den anderen Schülern einen besonderen Status haben.126 Zugunsten des Studiums der Torah, also zugunsten der Erkenntnis Gottes, ist sogar die Bestrafung von Waisen gestattet, nämlich eine in der Bibel nicht erwähnte Ausnahme von Ex. 22:23 (die Strafe Gottes für die Menschen, die Waisen und Witwen – auch wenn sie „Witwen und Waisen eines Königs“127 sind – unterdrücken: „Wenn du sie doch bedrückst, und sie schreien zu mir, so werde ich ihr Schreien gewiss erhören, und mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch mit dem Schwerte töten, dass eure Frauen Witwen und eure Kinder Waisen werden“ [Ex. 22:23–24]). In Kapitel VII wird eine Verbindung zwischen >olam ha-ba und Gemeinde in bezug auf ein Thema hergestellt, das Maimonides bereits in Kapitel V erwähnt hat und das seinerzeit eine ernste Gefahr innerhalb der von Maimonides geleiteten Gemeinde gewesen zu sein scheint: das Übelreden. 124 125 126 127
Ibidem, 55b. Ibidem, 55b. Ibidem, 56a. Ibidem, 55b.
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Ich komme zu diesem Schluss, da das Übelreden nur in Lev. 19:16 („Du sollst nicht als Verleumder unter deinen Volksgenossen umhergehen und sollst nicht wider das Leben deines Nächsten auftreten; ich bin der Herr“) erwähnt wird und auch hier nicht mit demselben Nachdruck, mit dem Maimonides es beschreibt. Wahrscheinlich hatte Maimonides als Leiter der ägyptischen Gemeinde mehrmals und dramatisch erlebt, dass das Übelreden die Stabilität, die Ruhe und das Vertrauen innerhalb der Gemeinde mehr beschädigt als andere illoyale Verhaltensweisen. Ausgehend von der talmudischen Lehre bringt Maimonides das Übelreden sowohl mit dem >olam ha-ba als auch mit den Grundlagen der Torah in Verbindung. Diesbezüglich schreibt er: „Die Weisen sagen: ‚Es gibt drei Vergehen, für die man in dieser Welt bestraft wird und seinen Anteil an der kommenden Welt einbüßt. Diese sind Götzendienst, Inzest und Mord; aber die üble Rede gleicht allen drei zusammen ‘. Die Weisen sagten weiterhin: ‚Dem Übelreden zu frönen ist wie die Verleugnung der fundamentalen Prinzipien der Religion, wie es heißt: ‚die da sagen: „Durch unsere Zunge sind wir mächtig, uns gebührt zu reden! Wer ist unser Herr?„‘ (Ps. 12:5).“128
Die Verleumdung kann den Nachbarn psychologisch, physisch und sogar wirtschaftlich schädigen, weswegen sie unter dieselbe Strafe fällt wie die Verweigerung der Nächstenliebe. Der Schluss der Hilkhot De>ot, nämlich der letzte Teil von Kapitel VII, warnt vor dieser Verweigerung der Nächstenliebe als Grund für einen Ausschluss vom >olam ha-ba. Die Rache und der Groll gegen den Nächsten werden hier als extreme Gefahren für den Frieden in der Gemeinde verstanden. Maimonides sieht in der Rache eine Form von ‚Sichverlieben‘ in die vergeblichen und fruchtlosen Angelegenheiten des Diesseits, eine Fixierung auf die materielle Existenz, von der man sich nur mit großer Schwierigkeit befreien kann. Die Rache lässt den Menschen in eine endlose und perverse Spirale von Hass und Gewalt geraten, die letztlich die physische, wirtschaftliche und psychische Verschlechterung des Lebens des Nächsten (und somit die Instabilität der ganzen Gemeinde) bewirkt. In diesem Sinne repräsentiert die Rache die de>ah, die am meisten vom >olam ha-ba entfremdet. Dasselbe gilt für die Handlungen, sogar für die gerechten Handlungen, die durch Groll motiviert sind, nämlich die Handlungen, die wir durchführen, um unseren Nächsten daran zu erinnern, dass er in der Vergangenheit uns gegenüber im Unrecht war. Beispielhaft ist der von Maimonides erwähnte Fall: „A sagte zu B, ‚Vermiete mir dieses Haus oder leihe mir diesen Ochsen‘. B lehnt ab. Nach einiger Zeit kommt B zu A, um etwas zu borgen oder zu mieten. A antwortet ‚Hier ist es. Ich borge es dir. Ich bin nicht wie du. Ich werde dich nicht be-
128 Ibidem, 56a.
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handeln, wie du mich behandelt hast.‘ […] Man sollte die Sache aus seinem Gedächtnis löschen und nicht nachtragend sein.“129
Die Unfähigkeit, sich von der Erinnerung an einen materiellen Schaden zu befreien, fällt nach Maimonides unter die Kategorie der Materialität der Existenz (es ist kein Zufall, dass er in den letzen beiden Abschnitten dieses Paragraphen nur Beispiele aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben erwähnt), und macht es unmöglich, sich auf das Ziel des Lebens, nämlich das Studium der Torah als Weg zur Erkenntnis Gottes, zu konzentrieren. Das Vergessen (die Vergebung kommt erst in Hilkhot Teshuvah ins Spiel) ist „das richtige Prinzip [hnvknh hidh ]. Es allein ermöglicht gesittetes Leben und gesellschaftlichen Umgang“130 Aus dem Frieden innerhalb der Gemeinde entsteht für die Individuen die Möglichkeit, in Beziehung mit den anderen Menschen zu treten und einander wechselseitig zu helfen. Somit eröffnet sich dem Einzelnen auch die Möglichkeit, sich innerhalb der Gemeinde und ihrer Institutionen dem Studium der Torah zu widmen und am >olam ha-ba teilzuhaben. Selbstverständlich enthält Hilkhot De>ot auch ethische, ärztliche und psychische Beschreibungen von de>ot, die von der Forschung im besonderen seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ausführlich untersucht worden sind (in meinen Anmerkungen zu diesem Paragraphen konnte ich nur einen ersten Eindruck davon vermitteln) und die ich mit meiner Analyse nicht in ihrer Bedeutung herabzusetzen oder gar zu verleugnen beabsichtige. Jedoch wollte ich eine andere Perspektive vorschlagen und begründen, wie möglicherweise die Verbindung zwischen der ersten (Hilkhot Yessode ha-Torah), der zweiten (Hilkhot De>ot) und der dritten Sektion (Hilkhot Talmud Torah) des Sefer ha-Madda> klarer rekonstruiert werden könnte.131 Erst nachdem Maimonides herausgestellt hat, wieso es notwendig ist, die Erkenntnis des Gesetzes zu erlangen und unter welchen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen das Studium der Torah möglich wird, kann er sich endlich mit den Aspekten dieses Studiums in Hilkhot Talmud Torah beschäftigen. 129 Ibidem, 56b–57a. 130 Ibidem, 57a. 131 Die ‚soziale‘ Interpretation von Hilkhot De>ot bei Achad Ha-Am bezieht sich in Wahrheit auf Maimonides’ allgemeine Stellungnahme hinsichtlich der Ethik und bietet keine inhaltliche Analyse der Hilkhot De>ot selber: „[S]ociety stands between the two species of men and links them together. For the ‚actual man‘ society is a means to the attainment of his end; for the ‚potential man‘ it is the purpose of his own being. […] Thus Maimonides gets back to the view of early Judaism, which made the life of society the purpose of the life of the individual, although at first he seemed to diverge widely from it in setting up the one ‚perfect man‘, the possessor of the ‚acquired intellect‘, as the sole end of the life of humanity at large. […] He [the ‚actual man‘] demands nothing of society except that it satisfy his elementary wants, and so leave him at peace to pursue his inner perfection. He does not therefore regard society as his enemy. On the contrary, he sees in society an ally, without whose aid he cannot attain his end, and whose well-being will secure his own.“ (Achad Ha-Am, The Supremacy of Reason, op. cit., S. 17f).
Studium der Torah und >olam ha-ba in Hilkhot Talmud Torah
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§ 3 Studium der Torah und >olam ha-ba in Hilkhot Talmud Torah In Hilkhot Talmud Torah („Gesetze über das Studium der Torah“) findet man nicht, was man für die Ausarbeitung der Gesetze hinsichtlich des Studiums der Torah erwarten würde, nämlich eine inhaltliche Beschreibung der Gegenstände, mit denen sich dieses Studium beschäftigen muss. Nur in einem der letzten Abschnitte des ersten Kapitels findet sich eine generelle Beschreibung des Gegenstandes des Torahstudiums. Darüber hinaus liegt der Akzent dieser Beschreibung hauptsächlich auf der philosophischen Methode, die für das Studium der Torah angewandt werden muss: „Die Zeit seines Studiums sollte man in drei Teile teilen, ein Drittel für die schriftliche Torah, ein Drittel für die mündliche Torah; das letzte Drittel sollte man reflektierend mit dem Herleiten von Schlüssen aus Prämissen, der Entwicklung von Implikationen von Aussagen, dem Vergleich von Dikta und dem Studium der hermeneutischen Prinzipien anhand derer die Torah interpretiert wird, verbringen, bis man das Wesen dieser Prinzipien kennt, und weiß, wie man Erlaubtes und Verbotenes aus dem herleitet, was man aus der Tradition gelernt hat. Das wird als Gemara bezeichnet“132
Maimonides macht, was das mündliche Gesetz betrifft, eine weitergehende Unterscheidung, die kein Verfasser eines Kodex zuvor beachtete. Explizit hebt er, in Absetzung von der aggadischen Tradition, die philosophische Untersuchungsmethode hervor, die auf aristotelischer Deduktion und bahnbrechender Auslegung basiert.133 Jedoch wird dieser Unterschied nicht weiter erklärt und stellt sich auch nicht als der Kern von Hilkhot Talmud Torah heraus. Hauptsächlich konzentriert sich Maimonides’ Analyse auf die folgenden Aspekte des Studiums der Torah: 1. darauf, wer die Pflicht hat, die Torah zu unterrichten bzw. zu lernen (Kapitel I); 2. auf die Erlaubnis bzw. das Verbot der Besoldung für das Lehren der Torah (Kapitel I); 3. auf pädagogische Aspekte des Unterrichts (Schülerzahl, Alter der Schüler, Achten auf ihre Lernfähigkeit; Kapitel II); 4. auf die Bedeutung des Studiums für das gesamte Israel (Kapitel III); 5. auf die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen Schülern (Kapitel IV);
132 Sefer ha-Madda> 58a. 133 Einen ähnlichen pädagogischen Inhalt sowie eine ähnliche Argumentation ausgehend vom Aristotelischen Organon befindet sich in zwei Werken islamischer Gelehrter, die Maimonides möglicherweise kannte: Kitab al-’Alfaz al-musta>mala fil-mantiq von Alfarabi und ’Ihya’ >ulum ad-din (Buch I: Kitab al->ilm) von Al-Ghazali. Vgl. u.a.: Jonathan Porter Berkey, The Transmission of Knowledge in Medieval Cairo: A Social History of Islamic Education, Princeton (NJ) 1992.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
6. auf den Vorrang der Autorität des Lehrers (Kapitel V–VI). 7. auf die Verbannung eines Lehrers bzw. eines Weisen, der sich eines ernsthaften Verbrechens schuldig gemacht hat (Kapitel VII). Eine genauere Untersuchung des Inhalts des dritten Kapitels kann meines Erachtens die sozialen Aspekte der anderen Kapitel ebenso wie die Bedeutung des >olam ha-ba in Hilkhot Talmud Torah beispielhaft verdeutlichen. Das dritte Kapitel beginnt mit der Erwähnung der ‚drei Kronen‘ (,yrtb h>l> ) Israels, die eines der Themen des Traktats Yoma 72b sind: die Kronen der Priesterschaft, des Königtums und der Torah. Im Traktat Yoma wird die Bedeutung jeder Krone mit dem besonderen Teil des israelitischen Volks in Verbindung gebracht, dem diese Kronen von Gott gegeben wurden. Die Krone des Priestertums wurde Aaron gegeben (Num. 25:13), um die religiöse Macht und die leitende religiöse Funktion seiner Nachfolger innerhalb Israels zu bestimmen. Die Krone des Königtums wurde David als Zeichen der politischen Macht seiner Nachfolger (Ps. 89:37) gegeben. Nur die Krone der Torah, die eigentlich als Gesetz Gottes für das auserwählte Volk beide Dimensionen der Macht enthält, wurde dem ganzen Israel gegeben (Prov. 8:15–16). Aus diesem Grund ist sie „größer als die anderen zwei Kronen“.134 Die Krone der Torah hat also zugleich eine materielle und eine transzendente Bedeutung, weil sie als Gesetz für diese Welt (hzh ,lvi ) und für die kommende Welt (Xbh ,lvi ) gilt. Beide Aspekte dieser talmudischen Auslegung der Torah werden von Maimonides im dritten Kapitel von Hilkhot Talmud Torah vorgestellt, nachdem die Bedeutung der Torah für das Leben in dieser Welt und in der kommenden Welt bereits in den Abschnitten 3 und 4 herausgestellt worden ist: „Von allen Geboten wiegt keines soviel wie das Studium der Torah. Vielmehr wiegt das Studium der Torah alle Gebote auf, denn Studium führt zum Tun. Daher hat das Studium immer den Vorrang vor dem Tun. […]
Zu Beginn seines Gerichts wird ein Mensch nur hinsichtlich seines Studiums zur Verantwortung gezogen werden und erst danach hinsichtlich seiner übrigen Werke.“135 Der Zweck der Torah ist die Ermöglichung und die Verwirklichung des praktischen Lebens, das sich ohne das Studium des Gesetzes nicht entfalten könnte. Deswegen wird der Mensch im Jenseits weniger nach seinen einzelnen praktischen Handlungen gefragt und beurteilt als nach dem Studium der Torah tout court. Die Beurteilung betrifft in primis die Grundlagen des praktischen Lebens und nicht, wie es im einzelnen geführt wurde. 134 Ibidem, 59a. 135 Ibidem, 59a.
Studium der Torah und >olam ha-ba in Hilkhot Talmud Torah
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Maimonides’ Interesse ist nicht zuletzt auf die sozialen und praktischen Folgen dieses Studiums innerhalb der Gemeinde gerichtet. Wer die Torah intensiv studiert, könnte Gefahr laufen, den Zweck dieses Studiums aus den Augen zu verlieren, indem er die Torah dem persönlichen Stolz (Ruhm, Prestige usw.) unterordnet. Aber die Torah könnte auch den materiellen Bedürfnissen (Notwendigkeit eines Berufs, Erledigung der eigenen Geschäfte usw.) untergeordnet werden. In beiden Fällen würde ihr Zweck verfehlt, da sie nicht nur wegen der Belohnung im Jenseits studiert werden soll und da ihre Bedeutung der Verwendung in der praktischen Sphäre des Menschen zugänglich sein muss: „Sie [die Torah] ist nicht im Himmel … noch jenseits des Meeres“ (Dtn 30,11–12). Der stolze Weise ist an dem Ruhm innerhalb seiner Gemeinde, aber vor allem an der Belohnung im Jenseits interessiert, während der Mensch, den materielle Sorgen plagen, noch nicht verstanden hat, dass gerade das Studium der Torah durch die Verbesserung des praktischen Lebens zur Befreiung von solchen Sorgen führt. Maimonides bewegt sich hier auf einem heiklen Feld: Einerseits unterstreicht er die fundamentale Wichtigkeit des Studiums des Gesetzes („Die Weisen sagten ‚Ein Bastard, der ein Gelehrter ist, hat Vorrang vor einem unwissenden Hohepriester‘“136), andererseits will er aber vermeiden, dass der Mensch durch das Studium des Gesetzes seine gemeinschaftlichen Pflichten vernachlässigt („Jemand […], der sich entscheidet, die Torah zu studieren und nicht zu arbeiten, sondern von Almosen zu leben, entweiht den Namen Gottes, missachtet die Torah, löscht das Licht der Religion, bringt Böses über sich und beraubt sich des kommenden Lebens […]“137). Das Studium der Torah darf nicht ein Joch für die Gemeinde werden, es darf auch nicht als finanzielle Quelle benutzt werden. Alle, das heißt auch Menschen, die arm sind, haben das Recht und die Verpflichtung, die Torah zu studieren.138 Um dies zu gewährleisten, ist es gegebenenfalls Pflicht der Gemeinde, die Lehrer zu bezahlen, wenn diese keine andere Verdienstquelle haben. Jedoch ist Maimonides’ Position hinsichtlich der Besoldung der Lehrer ambivalent: 136 Ibidem, S. 59a. 137 Ibidem, S. 59b. 138 „Jeder Israelit hat die Verpflichtung, die Torah zu studieren, ob er nun arm oder reich, bei bester Gesundheit oder kränklich, in der Kraft seiner Jugend oder alt und schwach ist. Selbst wenn ein Mensch so arm ist, dass er von Almosen lebt oder bettelnd von Tür zu Tür geht, ebenso wie ein Mann, der Frau und Kinder ernähren muss, sind sie verpflichtet einen bestimmten Zeitraum des Tages und der Nacht dem Studium der Torah zu widmen […].“ (Ibidem, S. 57b). Auch wenn die Frauen eine solche Verpflichtung nicht haben, ist es ihnen nicht verboten, Torah zu lernen: „Eine Frau, welche Torah studiert, wird belohnt werden, aber nicht in demselben Maße wie ein Mann, denn das Studium war ihr nicht als Pflicht auferlegt und jemand der eine lobenswerte Handlung vollbringt, die nicht verpflichtend ist, wird nicht die gleiche Belohnung erhalten wie derjenige, dem sie auferlegt war und der sie als Pflicht erfüllt, sondern nur eine geringere Belohnung.“ (Ibidem, S. 58a)
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„Wenn es der Brauch des Lands ist, dass ein Kinderlehrer Bezahlung erhält, muss er [der Vater] ihm seinen Lohn geben und es ist seine Pflicht, seinen Sohn auch gegen Bezahlung unterrichten zu lassen, bis das Kind das ganze geschriebene Gesetz durchgenommen hat. Wo es Brauch ist, die schriftliche Torah gegen Bezahlung zu lehren, ist es gestattet, gegen Bezahlung zu lehren. Jedoch ist es verboten, dass mündliche Gesetz gegen Bezahlung zu lehren […]. […] Wenn man niemand finden kann, der ihn ohne Bezahlung unterrichtet, sollte er ihn gegen Bezahlung unterrichten lassen […]. Kann man daraus schließen, dass auch er andere gegen Bezahlung unterrichten darf? [Nein, denn] die Bibel lehrt: ‚Und verkaufe sie nicht‘ (Spr 23,23). Dies lehrt dich, dass es verboten ist, gegen Bezahlung zu lehren, auch wenn einen der eigene Lehrer gegen Bezahlung unterrichtet hat.“139
Diese Ambivalenz hat ihren Grund im praktischen Leben des Individuums, das einerseits mit der Arbeit seiner Hände seinen Unterhalt verdienen muss („Es bezeugt ein hohes Maß an Vortrefflichkeit eines Mannes, wenn er mit der Arbeit seiner Hände für seinen Lebensunterhalt sorgt“140), aber andererseits in der Torah nicht lediglich eine Einkommensquelle sehen darf. Das Leben in der kommenden Welt wird nicht nur vom Studium der Torah garantiert, sondern die kommende Welt ist auch die Belohnung für den Menschen, der mit Mühe und Ehrlichkeit für sich und für seine Familie gearbeitet hat. Hinsichtlich eines solchen Menschen schreibt Maimonides: „Man erwirbt sich alle Ehre und Glückseligkeit im Diesseits und Jenseits [mit der Arbeit seiner Hände] […] Glücklich ['yr>X ] bist du in dieser Welt und gut geht es dir in der kommenden Welt, die gänzlich gut ist“141
Im Text findet man keinen Anhaltspunkt, der belegen könnte, dass hier die aristotelische eudaimonia gemeint ist. Für diesen Begriff benutzt Maimonides üblicherweise das Wort hxms . An dieser Stelle scheint mir vielmehr, dass er ‚Glückseligkeit‘ als psychisches und materielles Wohlergehen des Individuums meint.142 Die Glückseligkeit (osher, rwX ), analog zur Torah insgesamt, hat sowohl eine empirische (ihr Bezug auf das >olam ha-zeh, die diesseitige Welt) als auch eine überempirische Bedeutung (ihr Bezug auf das >olam ha-ba).143 Der Unterschied liegt darin, dass die Glückseligkeit in dieser Welt Konsequenz unseres Engagements als Arbeiter (Ps. 128:2) und als Schüler der Torah ist. Das bedeutet, dass dem >olam ha-zeh, sofern 139 140 141 142
Ibidem, S. 57b. Ibidem, S. 59b. Ibidem, 59b. Man könnte hier einen Widerhall der Konzeption von ‚Glückseligkeit‘ bei Alfarabi und Al-Ghazali (sowie bei Al-Ghazalis Vorbild: Isfahani) im besonderen in der Unterscheidung zwischen Glückseligkeit im Diesseits und im Jenseits erkennen. Vgl. u.a.: Muhsin Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philsophy, Chicago 2001; Muhammad Abul Quasem, The Ethics of Al-Ghazâlî: A Composite Ethics in Islam, Quasem (Malaysia) 1975; Hans Daiber, Sa’âda, in: Encyclopaedia of Islam, Leiden 20002. 143 Siehe u.a.: Hava Tirosh-Samuelson, Happiness in Premodern Judaism. Virtue, Knowledge, and Well-Being, Detroit 2003, im besonderen S. 192ff; Giuseppe Veltri, Konzept des ‚Glücks‘ im antiken Judentum, in: ders., Gegenwart der Tradition, op. cit., S. 212–233.
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diese Welt unter unserer mangelnden intellektuellen und praktischen Anstrengung leidet, die Glückseligkeit ermangelt, ja dass diese Welt sogar als negativ und als böse zu betrachten ist – während das >olam ha-ba an sich gut ist. Das heißt, dass diejenige Glückseligkeit in dieser Welt, die aus der Erfüllung der eigenen empirischen und intellektuellen Pflichten entsteht, zur Glückseligkeit der >olam ha-ba führt. Es ist nicht möglich, beide Formen der Glückseligkeit, also die empirische (die Verbesserung des eigenen Zustands) und die überempirische (das Erreichen der >olam ha-ba), zu erlangen, wenn man nicht die Grundlagen und die Vorschriften der Torah studiert. Weil ein solches Studium essentiell ist, schreibt Maimonides am Schluss von Kapitel IV: „Niemand sollte im Beth Hamidrash schlafen. Wenn einer dies tut, wird sein Wissen wie eine zerfetzte Sache. […] Man spricht nicht im Lehrhause außer über Worte der Torah. Selbst wenn jemand dort niest, sollten ihm die anderen nicht ‚Gesundheit‘ wünschen. Überflüssig zu ergänzen: über andere Themen sollte nicht gesprochen werden. Die Heiligkeit des Beth Hamidrash ist größer als die von Synagogen.“144
Während sich der Schluss von Kapitel IV auf die Heiligkeit des Beth Hamidrash bezieht, die meines Erachtens aufgrund der zugleich empirischen und überempirischen Funktion des Studiums für Maimonides grösser als die Heiligkeit des Tempels ist, beschäftigt sich Kapitel V mit dem Respekt, den man seinem Lehrer schuldet. Wenn einerseits die Heiligkeit des Beth Hamidrash höher als die des Tempels ist, muss andererseits der Respekt vor dem Lehrer grösser als der vor dem eigenen Vater sein. Maimonides beschreibt zahlreiche unterschiedliche soziale Situationen, um dem Schüler zu erklären, in welcher Weise er sich jeweils seinem Lehrer gegenüber verhalten muss. Das Ziel dieser detaillierten Beschreibungen stellt dabei stets die Tatsache dar, dass man durch das Studium und durch dessen praktische und überempirische Folgen das >olam ha-ba erreichen kann: „Ebenso wie es einem Menschen befohlen ist, seinen Vater zu ehren und verehren, obliegt ihm die Verpflichtung, seinen Lehrer sogar in einem größeren Ausmaß als seinen Vater zu ehren und verehren; denn sein Vater hat ihm in dieser Welt das Leben gegeben, doch sein Lehrer, der ihn in der Weisheit unterrichtet, bringt ihn in das Leben der kommenden Welt.“145
Am Schluss von Kapitel V wird das >olam ha-ba als Belohnung nicht nur für den Schüler, sondern auch für den Lehrer dargestellt, weil dieser seine Schüler auf den Weg zur Glückseligkeit im >olam ha-zeh und zur Glückseligkeit in der >olam ha-ba bringt und damit einen großen Verdienst dem Himmel gegenüber erwirbt. Darüber hinaus sind es die Schüler, welche die Weisheit des Lehrers vermöge ihrer ständigen Ansprüche wachsen lassen: 144 Sefer ha-Madda>. 61a. 145 Ibidem, 61b.
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„Ein Mann sollte sich für seine Schüler interessieren und sie lieben, denn sie sind seine geistigen Kinder, die ihm in dieser Welt und in der jenseitigen Welt Glückseligkeit verschaffen. Schüler vermehren die Weisheit des Lehrers und erweitern seinen Verstand.“146
In Kapitel VII beschreibt Maimonides weitere Fälle, in denen man im sozialen Leben dem Lehrer Respekt zollen muss, um dessen zentrale Rolle für das praktische und transzendente Leben der Menschen zu unterstreichen: Wer den eigenen Lehrer verachtet, wird nicht am >olam ha-ba teilhaben (Strafe hinsichtlich der transzendenten Funktion des Lehrers) und von der eigenen Gemeinde verbannt (Strafe hinsichtlich der Funktion des Lehrers im >olam ha-zeh).147 Unter den 24 Beleidigungen, aufgrund deren die Verbannung aus der Gemeinde ausgesprochen wird, listet Maimonides an erster Stelle gerade die auf, „wer immer einen Hacham beschimpft, selbst nach dessen Tode“.148 Nach dem systematischen Ansatz der Hilkhot Talmud Torah beschäftigt sich das letzte Kapitel mit der Verbannung des Lehrers aus der Gemeinde, einer Verbannung, für die viele Ausnahmen sowie ein extrem kompliziertes Verfahren vorgesehen sind: „Wenn ein in Weisheit gealterter Weiser, ein Nasi oder ein Ab-beth-Din, ein schwerwiegendes Verbrechen begeht, ist er unter keinen Umständen öffentlich zu verbannen, es sei denn, er handelte wie Jerobeam, der Sohn von Nebat und seine Verbündeten. Wenn er jedoch weniger schreckliche Sünden begangen hat, wird er im Privaten mit Schlägen bestraft […]. Ebenso ist es, wenn ein Gelehrter sich des Banns schuldig gemacht hat, dem Gericht untersagt, übereilt zu handeln und ihm vorschnell den Bann aufzuerlegen. […] Die Frommen unter den Weisen rühmten sich darüber, dass sie niemals mit abstimmten, um einen Gelehrten zu exkommunizieren, obwohl sie als Richter einem Gericht beisitzen können, dass einen Gelehrten zur Bestrafung mit Schlägen verurteilte, wenn er sich strafbar gemacht hatte, selbst wenn dies ein Versäumnisurteil war. Obwohl ein Weiser das Recht hat, den Bann auszusprechen, um seine Ehre zu retten, ist es nicht rühmlich für einen Gelehrten, sich an diese Vorgehensweise zu gewöhnen. […] Dies war auch das Vorgehen der alten Frommen149. Sie hörten sich beschimpft und antworteten nicht. Vielmehr vergaben sie dem Beschimpfenden und verziehen ihm. Große Weise, ruhmreich in ihren verdienstvollen Handlungen, sagten, dass sie niemals um ihrer persönlichen Ehre willen irgendjemand einen leichten oder schweren Bann auferlegt hätten. Dies ist die Vorgehensweise der Weisen, der man folgen soll.“150
146 147 148 149
Ibidem, 62b. Ibidem, 63b. Ibidem, 64a. Der Ausdruck ,ynv>Xrh ,ydycx (wörtlich übersetzt: ‚Die ersten Frommen‘) bezieht sich auf die Frommen aus den Anfängen der rabbinischen Bewegung (Mischna Berakhot 5,1 und öfter). Es ist jedoch umstritten, was die Ausdrücke ‚alte Weise‘, ‚erste Weise‘ oder auch die Ausdrücke ‚Weise‘ und ‚heilige Menschen‘ in vielen Abschnitten der Mishneh Torah tatsächlich bedeuten. 150 Ibidem, 64a–64b–65a.
Das >olam ha-ba in Hilkhot >Avodah Zarah we Hoqqot Ha-Goyyim
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Angesichts der Bedeutung des Lehrers (er ermöglicht es, das Gesetz zu verstehen) versteht es sich von selbst, dass seine Autorität gegen alle möglichen Angriffe geschützt werden muss. Die Exkommunizierung eines Gelehrten würde das Vertrauen der Gemeinde sowohl in die Lehrer als auch in ihre Schüler generell beschädigen. Die Verbannung an sich ist für Maimonides die äußerste Strafe, die man, wenn irgend möglich, vermeiden sollte, da nur die Gemeinde in der Lage ist, die materiellen Bedingungen für das Torahstudium zu gewährleisten – das hat Maimonides bereits in den früheren Abschnitten von Hilkhot De>ot ausgeführt. Aus diesem Grund darf ein Gelehrter sogar sich selbst gegenüber niemals eine Verbannung aussprechen, und aus diesem Grund haben die Gelehrten immer versucht, gegen niemanden, und vor allem nicht zugunsten eines persönlichen Vorteils, die Verbannung auszusprechen. In diesem Sinne halten die letzten Überlegungen von Hilkhot Talmud Torah die Hauptthemen zusammen, die in Hilkhot Yessode ha-Torah und in Hilkhot De>ot bereits ausgearbeitet worden sind: die Wichtigkeit des Studiums der Torah zugunsten des Lebens im Diesseits bzw. im Jenseits und die Rolle der Gemeinde hinsichtlich dieser beiden Aspekte des Lebens.
§ 4 Das >olam ha-ba in Hilkhot >Avodah Zarah we Hoqqot Ha-Goyyim Die vierte Sektion des Sefer ha-Madda> betont den in Maimonides’ Denken wichtigsten Aspekt des Gesetzes, nämlich die Existenz eines einzigen Gottes und die Strafe bei Idolatrie: Hilkhot >Avodah Zarah we Hoqqot Ha-Goyyim. Wegen der zentralen Stellung, die der Kampf um den Monotheismus bei Maimonides einnimmt, ist es kein Zufall, dass Hilkhot >Avodah Zarah das längste Kapitel des ganzen Sefer ha-Madda> ist: Die Auserwähltheit Israels gründet sich auf die monotheistische Lehre, die durch die Torah vermittelt wurde. In dieser Sektion des Sefer ha-Madda> wird die Idolatrie extrem ausführlich unter einem ritualistischen sowie unter einem sozial-gesetzlichen Blickwinkel analysiert: 1. Riten, Verfahren und Modalitäten der Idolatrie; 2. Differenzierung in der Strafe gegen einen, der sich trotz seines freien Willens und seiner Erkenntnis der Idolatrie schuldig macht; 3. Regulierung der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen gegenüber denen, die sich der Idolatrie schuldig machen; 4. Strafe gegen eine ganze Stadt, die sich zur Idolatrie verführen lässt; 5. Modalitäten des Gerichtsverfahrens bei Idolatrie.
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Der einzige Hinweis auf das >olam ha-ba befindet sich im zweiten Kapitel151, das der wichtigsten Grundlage (yvvyjh rqyi ) für die Gesetze gegen die Idolatrie gewidmet ist, also dagegen, eine geschaffene Sache zu verehren. Diese Grundlage bezieht sich auf die erste negative Vorschrift ‚sich nicht der Idolatrie hinzugeben‘152, und wegen dieses negativen Charakters fällt das >olam ha-ba an dieser Stelle unter die Kategorie der Strafe, oder besser: unter die Kategorie der Privation der höchsten Belohnung: „[W]er sich aber dennoch zu ihnen [den Götzen] wendet, und dies durch Handlungen bekundet, der zieht sich Malkoth-Geißelung zu. Aber es ist uns nicht nur verboten, den Götzen unsere Gedanken [hb>xmb ] zuzuwenden, sondern wir müssen sogar auf uns achten, daß kein Gegenstand unsere Gedanken [hb>xm lk ] auf sich ziehe, der jemals den Menschen dazu bringen könnte, eine der Grundwahrheiten der Schrift zu verleugnen. Vielmehr ist es nöthig, daß man seinen Sinn von solchen Dingen fern halte, um nicht zu ihnen hingezogen zu werden; denn des Menschen Erkenntnis ist nur gering [hriq ,dXl> vtid> ], und nicht Jedermanns Einsicht [tvidh lk ] vermag die Wahrheit in ihrer Reinheit [vyrb li tmXh ] zu erfassen. Wollte sich aber ein Jeder von den Gedanken seines Innern hinreißen lassen, so müßte die Welt zu Grunde gehen, denn unsere Erkenntnis [vtid ] ist nur gering. […] Wer nun die Regeln [tvdmh ], nach denen man denken und urtheilen soll, nicht hinlänglich kennt, um die reine Wahrheit [vyrb li tmXh ] erfassen zu können, der wird natürlich zum Unglauben getrieben. […] Obgleich aber die Übertretung dieses Verbots den Menschen der zukünftigen Welt verlustig machen könnte [Xbh ,lvih ]m vdrul ], so steht doch keine Malkoth-Geißelung darauf.“153
In diesem Abschnitt findet man zunächst einen aufschlussreichen Gebrauch der Wörter de>ah, madda> und miswwah154. Das Wort de>ah bezieht sich an dieser Stelle auf den menschlichen Intellekt, der von Maimonides als ‚Ort der Gedanken‘ bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass die de’ah nicht nur Ort der aus dem Intellekt entstandenen Gedanken ist, sondern auch Ort der Gedanken, die der Intellekt von außen rezipiert hat. Da nicht alle Menschen imstande sind, solche Gedanken durch die Prinzipien der Logik (tvdm ) zu schätzen, können sie Gedanken akzeptieren, die sich an den Prinzipien der Torah (tvvjm ) orientieren. De>ah und madda> sind mit der rationalen Dimension des Denkens verknüpft, deswegen werden sie von Maimonides auch als Bedingungen für das Verständnis sowie für die richtige Verwirklichung der miswwot dargestellt. Trotzdem werden diese beiden Dimensio-
151 Im ersten Kapitel bezieht sich Maimonides auf die biblischen Erzählungen, in denen von der Verurteilung der Idolatrie die Rede ist. 152 Insgesamt listet Maimonides 49 negative und nur zwei positive Vorschriften hinsichtlich der Gesetze gegen die Idolatrie auf (65b). 153 Ibidem, 67b. 154 Ich habe diese Wörter auf Hebräisch in das Zitat von Anmerkung 155 eingefügt, weil die Übersetzung von Moses Hyamson deren unterschiedliche Bedeutung im Text nicht erkennbar werden lässt.
Die Lehre des >olam ha-ba und des Messias in den Hilkhot Teshuvah
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nen, nämlich Verständnis und Verwirklichung der miswwot, angesichts der Lehre der Strafe stark differenziert. Die Idolatrie als höchstes Verbrechen gegen das Gesetz Gottes impliziert in jedem Fall der Ausschluss vom >olam ha-ba. Der Strafe Gottes kann der Götzendiener nicht entgehen, selbst wenn er nur in Gedanken die Einheit Gottes in Frage gestellt hat. Was die Strafe eines menschlichen Gerichts anbetrifft, sieht die Lage ganz anders aus: Niemand, nicht einmal der Götzendiener, kann wegen seines Gedankens verurteilt werden. Nur wenn der Gedanke einer möglichen Vielheit Gottes durch Ausführung eines heidnischen Ritus konkret wird, kann der Götzendiener von einem menschlichen Gericht verurteilt werden, in keinem anderen Fall. Ein Problem, das ich bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit untersucht habe, bleibt offen: Wenn die menschliche de>ah an sich beschränkt ist – nämlich soweit, dass jeder Mensch die Einheit Gottes in Frage stellen könnte –, ist dann die Lehre der Strafe überhaupt gerecht? Diese Frage, zusammen mit der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit und der göttlichen Vergebung, ist einer der Kernpunkte meiner Untersuchung des >olam ha-ba in der letzten Sektion des Sefer ha-Madda>.
§ 5 Die Lehre des >olam ha-ba und des Messias in den Hilkhot Teshuvah Angesichts des bis dahin hervorgehobenen gemeinschaftlichen Charakters des Sefer ha- Madda> ist es legitim, sich zu fragen, aus welchem Grund sich die letzte Sektion des Sefer ha- Madda> mit einem Thema beschäftigt, mit dem es sich allem Anschein nach ausschließlich an das Individuum wendet und das nur das Individuum betrifft: die Gesetze der Umkehr (Hilkhot Teshuvah) und das Schicksal des Menschen im Jenseits (>olam ha-ba). Wenn man sich mit diesem Thema jedoch in der Hebräischen Bibel beschäftigt, stellt man fest, dass sich die Eschatologie155 nur in der vor-mosai155 Nur ungern verwende ich an dieser Stelle das Wort ‚Eschatologie‘, da es in der hebräischen Bibel nie vorkommt und sich auf keine einheitliche Lehre bezieht. Die Werke, die diesem Thema gewidmet sind, leiden durchweg unter der Schwierigkeit, den präzisen Inhalt dieser Lehre zu bestimmen (kommende Welt, Auferstehung der Toten, Gottesgericht und Messias erscheinen in der Hebräischen Bibel häufig ohne deutliche inhaltliche und zeitliche Differenzierung), und diejenigen, die von christlichen Verfassern geschrieben wurden, streben sogar danach, die alttestamentliche Eschatologie durch die neutestamentliche (die Wiederkehr Christi am Ende der Weltzeit [Parusie] und die Johannes-Apokalypse) zu interpretieren. Für meine Untersuchung des >olam ha-ba und des >olam ha-zeh habe ich mich vor allem auf die folgenden Werke bezogen: Arthur Hyman, Eschatological Themes in Medieval Jewish Philosophy, Milwaukee 2002; David Banon, Le messianisme, Paris 1998; Dan Cohn-Sherbok, The Jewish Messiah, Edinburgh 1997 (im besonderen S. 51ff); Adela Yarbro Collins, Cosmology and Eschatology in Jewish and Christian Apolaypticism, Leiden/New York 1996; Benjamin
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schen Zeit auf das Individuum konzentriert, nämlich zur Zeit der Stämme sowie der sozialen und politischen Isolierung Israels, während in der Zeit der Propheten, in der die Auseinandersetzung mit den anderen Nationen zu Überlegungen zum Überleben Israels führt, die individuelle Eschatologie in eine nationale Eschatologie transformiert wird. Das bedeutet nicht, dass die individuelle Eschatologie verschwände, sondern dass das gerechte Individuum an der Begründung einer gerechten Nation teilnehmen muss, damit beide im Jenseits die Segnung Gottes, nämlich das ewige Leben im göttlichen Reich, gewinnen können. Der gerechte Mensch ist nicht mehr nur für die eigene Rettung, sondern auch für die Rettung der Nation verantwortlich, weswegen die erste ohne die zweite nicht mehr zu denken ist. Besonders Jesaja (Kapitel 26) unterstreicht die gegenseitige Abhängigkeit von RetGross, Messianisme et histoire juive, Paris 1994; Simcha P. Raphael, Jewish views of the afterlife, Northvale 1994; Marinus de Jonge, Jewish Eschatology, Early Christian Christology and the Testament of the Twelve Patriarchs, Leiden 1991; Byron L. Sherwin, Aspects of Jewish Eschatology, in: ders., Toward a Jewish Theology. Methods, Problems, and Possibilities, Lewinston u.a. 1991, S. 159–169; Donald D. Gowan, Eschatology in the Old Testament, Philadelphia 1986; Jacob Neusner, Messiah in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Judaism, Philadelphia 1984; Hans Strauss, Messianisch ohne Messias. Zur Überlieferungsgeschichte und Interpretation der sogenannten messianischen Texte im Alten Testament, Frankfurt a. M. u.a. 1984; Joachim Becker, Messianic Expectations in the Old Testament, Philadelphia 1980; Paul D. Hanson, The Dawn of Apocalyptic. The Historical and Sociological Roots of Jewish Apocalyptic Eschatology, Philadelphia 1979; Nathaniel Schmidt, The Origin of Jewish of Jewish Eschatology, in: Leo Landman (Hrsg.), Messianism in the Talmudic Era, New York 1979, S. 38–50; Ulrich Kellermann, Messias und Gesetz. Grundlinien einer alttestamentlichen Heilserwartung. Eine traditionsgeschichtliche Einführung, Neukirchen-Vluyn 1971; Otto Ploger, Theocracy and Eschatology, Oxford 1968; Robert H. Charles, Eschatology. The Doctrine of a Future Life in Israel, Judaism, and Christianity. A Critical History, New York 1963; Joseph Klausner, The Messianic Idea in Israel from Its Beginning to the Completion of the Mishnah, London 1956 (im besonderen S. 408 ff); Sigmund Mowinkel, He that cometh, Oxford 1956 (im besonderen The Early Jewish Future Hope, S. 125ff, und The Eschatology of Later Judaism, S. 261ff); Joshua Bloch, On the Apocalyptic in Judaism, Philadelphia 1952; William D. Davies, Torah in the Messianic Age and/or the Age to come, Philadelphia 1952; Michael Higger, The Jewish Utopia, Baltimore 1932; Abba H. Silver, A History of Messianic Speculation in Israel from the First through the Seventeeth Century, New York 1927 (im besonderen S. 3ff); Nathaniel Micklem, Prophecy and Eschatology, London 1926; Gustav Hölscher, Die Ursprünge der jüdischen Eschatologie, Giessen 1925; Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen. 1 und Ap. Joh. 12, Göttingen 19212; Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1906 (im besonderen S. 233ff); Hugo Gressmann, Der Ursprung der israelisch-jüdischen Eschatologie, Göttingen 1905; ders., Der Messias, Göttingen 1929; Niels W. Messel, Die Einheitlichkeit der jüdischen Eschatologie, Giessen 1915 (ganz entgegen der Absicht des Verfassers beweist dieses Werk die Unmöglichkeit, über die jüdische Eschatologie als ein einheitliches Phänomen zu sprechen); Paul Volz, Jüdische Eschatologie von Daniel bis Akiba, Tübingen/Leipzig 1903 (im besonderen S. 55ff); Eugen Hühn, Die messianischen Weissagungen des israelitisch-jüdischen Volkes bis zu den Targumim historisch-kritisch untersucht und erläutert, Freiburg i. Br. u.a. 1899; Franz Vaconius, Die messianische Idee der Hebraeer geschichtlich entwickelt, Jena 1892; Adolf Hilgenfeld, Die jüdische Apokalyptic in ihrer geschichtlichen Entwickelung, Jena 1857.
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tung des Einzelnen und Rettung der Gemeinde; Amos versteht unter Gemeinde nicht nur Israel, sondern alle Nationen der Erde, die den einzigen Gott als Herrscher und als ethische Instanz haben (Am. 3:2: „Euch allein habe ich erwählt vor allen Geschlechtern der Erde; darum suche ich an euch heim all eure Schuld“). Die Befolgung des Gesetzes und die Erwartung des Gerichts sind die Summe der frühjüdischen Spekulation, wenn beide auch freilich keine Besonderheit des jüdischen Glaubens sind. So steht die Idee eines abschließenden Gerichts des höchsten Gottes im Mittelpunkt der iranischen Religion, so wirkte Muhammad in seiner Predigt ganz besonders durch seine Gerichtsdrohungen, und so ist der Qur’an voll von Schilderungen des großen Gerichts und von eschatologischen Darstellungen. Es sind die Gesetzesreligionen, welche den Gerichtsgedanken für den Einzelnen und für die Gemeinschaft ins Zentrum rücken. Auf der einen Seite führen diese Religionen ja die Gedanken über die Grenzen des irdischen Lebens der Nation, ihre Aufgaben und Bedürfnisse hinaus. Andererseits entspricht gerade der Gerichtsgedanke ihrer streng gesetzlichen Art. Es ist ganz ihrem Wesen entsprechend, wenn sie das Verhältnis Gottes zu den Menschen ganz wesentlich und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Gerichts im Jenseits auffassen. In der Ausgestaltung dieses Gedankens ist aber jeder Glaube seinen eigenen Weg gegangen. Innerhalb des Judentums entwickeln sich die Überweltlichkeit und der ethische Gehalt dieses Gedankens in engem Zusammenhang mit dem nationalen Hoffnungsgedanken. Der nationale Hoffnungsgedanke, hier und da selbst von den vorexilischen Propheten wider deren eigentliche Grundtendenz festgehalten, fand in den späteren exilischen und nachexilischen Propheten seine begeisterten Verkünder und ist seitdem Gemeingut der Volksfrömmigkeit und gerade der frommen Kreise des Volkes geblieben. Die Psalmenliteratur ist durchzogen von lebhaften Äußerungen der Erwartung und Sehnsucht nach dem Königtum Gottes: Das Volk Gottes hat noch nicht die Stellung in der Welt, die ihm als solchem zukommt, weil der Einzelne sich noch nicht genug engagiert hat, um die Nation nach dem Gesetz Gottes zu verwirklichen. Sigmund Mowinkel ist der Meinung156, dass man hinsichtlich der Nation eigentlich nicht von Eschatologie, sondern nur von Zukunftshoffnung sprechen dürfte, weil sich der Begriff der Nation ausschließlich zusammen mit einer teleologischen Konzeption der Geschichte entwickeln kann, nämlich gemeinsam mit der Konzeption einer Restauration bzw. eines neuen Aufbaus einer idealen Zeit auf Erden, die als Prämisse und Vorbedingung der eschatologischen Zeit gilt. Alle antiken Religionen und Zivilisationen, darunter auch die der Griechen, begreifen die Geschichte als einen Zyklus, der 156 Sigmund Mowinkel, He that cometh, op. cit., S. 125.
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dem jährlichen Zyklus der Natur entspricht. Das Alte Testament begreift hingegen die Geschichte als eine lineare Entwicklung, die auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet ist (nämlich die Rettung Israels bzw. die Rettung aller gerechten Nationen), weshalb sich die Denkstrukturen einer Philosophie der Geschichte zum ersten Mal in der Hebräischen Bibel entfalten. Eigentlich ist es im Frühjudentum nicht immer möglich, eine deutliche Demarkationslinie zwischen Eschatologie des Individuums und zukünftiger Hoffnung der Nation zu ziehen: Die politische Grundlegung einer gerechten Nation erfolgt als Konsequenz des weisen Handelns des Menschen, der die geistige Freude des >olam ha-ba als Belohnung für dieses Handeln genießen wird. Die Verwirklichung der zukünftigen Hoffnung kann meines Erachtens als ‚zweite Schöpfung‘ in der hebräischen Bibel verstanden werden, die nicht von seiten Gottes, sondern des Menschen erfolgt: Durch das göttliche Gesetz hat der Mensch die Aufgabe bekommen, das >olam ha-zeh zur Gerechtigkeit zu führen, nämlich eine Welt zu schaffen, die an sich noch nicht vorhanden ist. Das >olam ha-ba existiert allerdings seit jeher aufgrund des Willens Gottes und unabhängig vom menschlichen Engagement, und nur der Mensch kann sich dafür entscheiden, an der kommenden Welt teilzunehmen bzw. ausgeschlossen zu werden. Wenn man versuchen will, die biblische Eschatologie mit dem aristotelischen Wortschatz zu beschreiben, könnte man sagen, dass die kommende Welt seit je in potentia für alle Menschen existiert, aber nur diejenigen Menschen, die eine gerechte Nation in actu auf der Erde begründen, werden die Realität der kommenden Welt geistig und transzendent erfahren. In diesem Sinne bin ich nicht mit denjenigen Interpreten einverstanden, die für die Beschreibung des >olam ha-zeh und des >olam ha-ba den griechischen Begriff (Aion; ² « – >olam ha-zeh – und ²
– >olam ha-ba) verwenden. Zunächst einmal: Das Wort ist im Griechischen ursprünglich ein Wort der poetischen Sprache, sehr häufig wird es vor allem bei Hesiod, Homer und Pindar gebraucht. Was ist die eigentliche Bedeutung von 157? Auf diese Frage kann man keine eindeutige Antwort geben, da sich alle griechischen Wörter, die ihren Ursprung in der Poesie und in der Mystik haben, auf einen unterschiedlichen und häufig 157 Für eine gemeinsame Untersuchung dieser Problematik siehe u.a.: Enzo Degani, da Omero ad Aristotele, Padua 1961; Richard B. Onians, The Origins of European Thought, Cambridge 1954 (im besonderen S. 200ff); Carl G. Jung, Aion. Untersuchungen zur Symbolgeschichte, Zürich 1951; Johannes F. Callahan, Four Views of Time in the Ancient Philosophy, Cambridge 1948; R. L. Löwe, Kosmos und Aion, Gütersloh 1935; M. Zepf, Der Gott Aion in der hellenistischen Theologie, in: Archiv für Religionswissenschaft XXV (1927), S. 225ff; Otto Weinreich, Aion in Eleusis, in: Archiv für Religionswissenschaft XIX (1919), S. 174ff; Conrad Lackeit, Aion: Zeit und Ewigkeit in Sprache und Religion der Griechen, Königsberg 1916; Joseph Steffens, Entwicklung des Zeitbegriffes im vorphilosophischen und philosophischen Denken der Griechen bis Platon, Berlin 1911; John W. Hanson, Aion, Aionios, Chicago 1880.
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widersprüchlichen Bedeutungshorizont hin öffnen. In der Zeit zwischen Homer und Platon bekommt das Wort zumindest zehn verschiedene Bedeutungen: Lebenskraft, Knochenmark, Leben («), Zeit, Alter, Lebensdauer, Zeitstufe, Generation, Ewigkeit, Schicksal. Wenn man die Entwicklung dieses Begriffs in der griechischen Poesie und im griechischen Denken kurz skizzieren möchte, muss man mit Homer beginnen, bei dem fast nie eine zeitliche Bedeutung hat. In der Poesie Homers bezieht sich das auf die Lebenskraft bzw. auf die Lebendigkeit, aber niemals auf die Lebensdauer, die Homer durch das Wort « (ein prosaisches Wort des Alltags) bezeichnet. Wenn ein Mensch stirbt, schreibt Homer, wird er von seinem verlassen, aber dieses ist nicht ² « « «, nämlich es ist weder mit « noch mit identisch. Obgleich diese zwei Wörter sich auch auf das atemporale Leben beziehen können, haben sie bei Homer nie die Bedeutung von ‚wirkenden Kräften‘, während den wirkenden Kräften des Menschen ( , «, «) entspricht. ist bei Homer das Lebensprinzip ( ), das sich dem Tode (! «) entgegensetzt. Nach Homer und schon bei Pindar erscheinen und als zwei unterschiedliche Begriffe: bezieht sich in der post-homerischen Poesie auf das Leben in seiner inhaltlichen Totalität, aber nicht auf das wirkende Leben als das Gegenteil des Todes (in der Tat findet man in der griechischen Poesie nach Homer keinen Hinweis mehr auf das , das den Menschen verlässt). Nach Homer erwirbt eine fast ausschließlich temporale Bedeutung, zum ersten Mal in der Theogonie von Hesiod mit der genauen Bedeutung von „im Laufe des Lebens“. Da in der griechischen Poesie sowohl vor als auch nach Homer
häufig sowohl mit einer zeitlichen als auch mit einer atemporalen Bedeutung auftritt, folgern viele Philologen, dass sich hauptsächlich auf die Lebenskraft bezog, die aber von ihrer Dauer nicht völlig abgelöst werden konnte. Das würde auch erklären, wieso das aus diesem Substantiv stammenden Adverb ‚stets, immer‘ bedeutet. Die Grundbedeutung von entspricht also der Totalität des Lebens in der Spanne zwischen seinen beiden es begrenzenden Punkten, nämlich dem Anfang und dem Ende, wenngleich einige Dichter die Dimension der Dauer und andere die Dimension der wirkenden Kraft hervorgehoben haben. Es stimmt zwar, dass
nach Homer seine „sakrale“158 und atemporale Bedeutung zugunsten der Äquivalenz mit « verliert und sogar als Synonym von " (besonders bei Pindar) gebraucht wird. Gleichwohl bleibt seine Polysemie eine große Schwierigkeit, wenn man seine Bedeutung vor Platon deutlich eingrenzen möchte. Dieser Polysemie begegnet man vor allem bei Pindar: Dort bedeutet nicht nur das Schicksal als objektive und bestimmte Sache bzw. die 158 Enzo Degani, da Omero ad Aristotele, op. cit., S. 45.
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Dauer, in der das Schicksal sich entwickelt, sondern ist auch ein energetischer Charakter, nämlich eine äußere und transzendente Kraft, die auf alle Menschen wirkt und die ihre Freude und ihr Leiden bestimmt. ist ein absoluter, zeitlicher Begriff ohne Grenzen und ohne Dimensionen (! # $$), er ist die Totalität der Zeit und er schließt, genauso wie «, in sich selbst alle besonderen Leben ein. Bei Pindar wird
ein kosmisches Prinzip, das an der ‚Transzendenz‘ des Göttlichen teilhat. wird auch das ubique et semper (immer und überall), das dem menschlichen hic et nunc (hier und jetzt) entgegensetzt ist. Platon ist der erste Philosoph159, der (im Dialog Timaios) eine eindeutige Definition von vorschlug, um den Gebrauch dieses Wortes zu systematisieren. Mit Platon erscheint zum ersten Mal das Problem der Ewigkeit und ihrer Beziehung zur Zeit im begrifflichen Horizont der Griechen.
gewinnt bei Platon die Bedeutung von Ewigkeit, die der Zeit ( «) entgegengesetzt wird. Der Demiurg hält in seiner Gestaltungstätigkeit den Blick auf das ewige und unbewegliche lebende Sein gerichtet, das als Modell bzw. Urbild fungiert (# ).160 Aber der Demiurg kann dem zu bildenden $ nicht die Unbeweglichkeit des unerschaffenen Paradigmas geben, weshalb er dem $ eine geeignete Beweglichkeit geben muss: Die Rotation um sich selbst, die stets zu sich selbst zurückkehrt und die eine unvollkommene Imitation des Unbeweglichen darstellt. Wenn der Demiurg die Zeit schafft, setzt er der Ewigkeit ( ) des Urbildes, das immer identisch in seiner Einheit bleibt, die sich stets erneuernde zyklische Zeitlichkeit von « entgegen, die durch die Vielfalt seiner Elemente charakterisiert ist ( – Tage, Nächte, Monate, Jahre, und $% – „es war“, „es wird sein“). Platon unterscheidet zwei Zeitformen und setzt sie einander entgegen: Die einheitliche Außerzeitlichkeit von , das in seiner Einheit ( $ &
' ) verbleibt, und die vielfältige Zeitlichkeit von «. Bei Platon liegt außerhalb der Zeit, es fixiert sich nämlich in der aoristischen und ewigen Gegenwart des ‚Es ist‘, während « durch die Zirkularität von ‚Es war – es ist – es wird sein‘ die unbewegliche Permanenz des Urbildes imitiert. Die aoristische Definition von , welche Vergangenheit und Zukunft ausschließt, verweist auf die Definition von ‚Sein‘ bei Parmenides, nämlich die Identität von Sein und Denken, in der Vergangenheit und Zukunft keine Realität haben, weswegen Vergangenheit und Zukunft zur widersprüchlichen und zweideutigen Welt der ( gehören. Die Welt der $$$ kennt nur die Außerzeitlichkeit des ‚Es ist‘, da sie keinen Ursprung und kein Ende hat. Diese Welt ist Ν « und + «. 159 Die mangelhafte Quellenlage bezüglich der Vorsokratiker gestattet es uns nicht, zu ermitteln, welche Bedeutung bzw. welche Bedeutungen im griechischen Denken vor Platon hatte. Siehe: Enzo Degani, da Omero ad Aristotele, op. cit., S. 69ff 160 Platon, Timaios, 39e.
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Anders als bei Parmenides bezeichnet bei Platon auch die transzendente und göttliche Zeit des Demiurgen, während sich « ausschließlich auf die profane Zeit des Alltags, der Technik und der Wissenschaft bezieht (nur « ist mit der Zahl und mit der Arithmetik verbunden, weil es gemessen und aufgeteilt werden kann). Wenn die höchste Stufe der Platonischen metaphysischen Ordnung das Gute ist, stellt die überzeitliche Dimension des Guten dar, nämlich die epiphanische Zeit des Ereignisses, der Punkt ohne Dimensionen, der alles umschließt. Für die gesamte nach-platonische Philosophie161 ist die Ewigkeit der überzeitliche Wert von , wenngleich man nur bei Platon eine so deutliche und unmissverständliche Definition von Zeit und Ewigkeit findet. Bei Aristoteles, der den Timaios wohl kannte, während ihm die Platonische Lehre des Einen und des Hyperuranios unbekannt blieb, ist der Gebrauch des Wortes viel zweideutiger, bis zu dem Punkt, dass, wie Lackeit162 gezeigt hat, der Unterschied zwischen und « in der Physik und in De Caelo an einigen Stellen sehr brüchig wird163, an denen Aristoteles den Ausdruck Ν$« « als Synonym von benutzt. Es stimmt zwar, dass Aristoteles in seiner äußerst präzisen Untersuchung des Begriffs « die bewegliche Zeit von der Ewigkeit unterscheidet164, mit dem Ergebnis, dass nur Gott als reinem Akt gehört. Aber er kennt auch eine andere Ewigkeit, nämlich die des Himmels165: Obwohl der Himmel beweglich ist, ist er auch $! « λ $"« unter den beweglichen Dingen. Im ersten Buch von De Caelo erscheint der Himmel als die höchste transzendente Gottheit166 und gerade in bezug auf diese Definition schreibt Aristoteles: „[…] Darum ist auch dieser Name des Aion auf göttliche Weise von den Alten ausgesprochen worden. Denn die Fülle [«], welche die Zeit des Lebens für jedes Einzelne umfasst, außerhalb deren naturgemäß nichts weiter ist, wird der Aion jedes Einzelnen genannt. In demselben Sinne ist nun auch die Fülle des ganzen Himmels und die die ganze Zeit und die Unbegrenztheit umfasst, der Aion, und hat den Namen vom ‚stets sein‘ (aei on) als ein unsterbliches und göttliches.“167 161 An dieser Stelle kann ich nicht diese Problematik im Neuplatonismus (im besonderen bei Proclos und Plotin) vertiefen. Siehe u.a.: John F. Callahan, Four Views of Time in the Ancient Philosophy, Westport (Conn.) 19792. Zum Verhältnis von Neuplatonismus, Judentum und Islam siehe u.a.: Steven T. Katz, Jewish Neo-Platonism, New York 1980; Arie J. Vanderjagt, The Neoplatonic Tradition: Jewish, Christian and Islamic Themes, Köln 1991; Evan Lenn Goodman, Neoplatonism and Jewish Thought, Albany (NY) 1992; Parviz Morewedge (Hrsg.), Neoplatonism and Islamic Thought, Albany (NY) 1992. 162 C. Lackeit, Aion, op. cit., S. 59ff. 163 Phys. 221a27; De Caelo, 275b3. 164 Phys., 221b 3–5. 165 De Caelo, 227b27ff. 166 Ibidem, 279a20ff. 167 Ibidem, 279a22–28.
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Dieses , das die Unendlichkeit umschließt und das $! « λ $"« ist, könnte als mit dem Platonischen identisch erscheinen, aber Aristoteles verbindet die Bedeutung von ‚Ewigkeit‘ mit ‚Lebensdauer‘: Wie das der « ist, der das Leben von jedem Einzelnen umschließt, so wird analog auch der «, welcher die gesamte Zeit und die Unendlichkeit umschließt als bestimmt. Der in bezug auf das menschliche Leben gebrauchte zeitliche Begriff ‚«‘ lässt vermuten, dass $! « an dieser Stelle als unendliche Zeitlichkeit statt als außerzeitliche Ewigkeit begriffen wird. Eigentlich gewinnt bei Aristoteles die Bedeutung des Ν$« von Empedokles, nämlich eine inkommensurable Zeit, die jedoch Zeit statt einer ‚Dimension außerhalb der Zeit‘ ist. Deswegen ist die Ewigkeit des bei Aristoteles gleich mit dem ‚Leben‘ Gottes. Ewigkeit und Lebenszeit sind die beiden Komponenten, aus denen sich der Aristotelische Aionbegriff zusammensetzt. Sie finden ihre Vereinigung in dem Begriff einer unendlichen Lebenszeit, die die Gesamtheit der irdischen Zeit in sich umfasst und darstellt. ist das Leben Gottes, zugleich aber auch das Leben des Himmels, der die Totalität des Kosmos umfasst und ewig ist. Wenn man bedenkt, dass Platon den Himmel mit « verbindet, wird der Unterschied zu Aristoteles sehr deutlich. Die ewige Gegenwart des Timaios wird bei Aristoteles eine ewige und bewegliche Dauer, weshalb der Unterschied zwischen und « bei Aristoteles nicht so eindeutig wie bei Platon ist. Jedoch kann man nicht behaupten, dass bei jenem wesentlich mit dem Ν$« « gleichgesetzt wird, da eine solche Gleichsetzung nach der Lehre des Timaios nicht mehr möglich war. Auch in der Aristotelischen Zeitlehre bleibt « die Zeit der Mathematik und der Physik, während ein « ist, der in seiner holotes unaufteilbar ist. Auch bei Aristoteles behält den epiphanischen Charakter, den er bei Platon erworben hatte, er ist nämlich ‚die göttliche Zeit‘ (Zeit des Gottes bei Platon, Zeit des Gottes und des Himmels bei Aristoteles). Die allmähliche Deifikation des Aionbegriffs, der nach Platon und Aristoteles stets dem xrfino« entgegensetzt wurde, erreichte ihren Höhepunkt in der hellenistischen und römischen Welt, als eine Gottheit wurde und den Kultus einer Gottheit einnahm.168 Wahrscheinlich hat gerade diese religiöse Aufladung des Aionbegriffs viele moderne Interpreten Maimonides’ dazu gebracht, als Synonym von >olam zu benutzen. Bezüglich des >olam ha-ba müsste man aber erst nachweisen, dass die überzeitliche Dimension der kommenden Welt mit der Ewigkeit der griechischen Gottheit gleich ist. Für diese These findet man keinerlei Anhaltspunkte. Weder im Sefer ha-Madda> noch im Sefer ha-Mishpatim sind entsprechende Hinweise zu finden. 168 Für eine Vertiefung dieser religiösen Entwicklung des Aionbegriffs vgl.: Otto Weinreich, Aion in Eleusis, op. cit., S. 186ff.
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Im Frühjudentum, das in erster Linie von Deuterojesaja repräsentiert wird, findet man zwar eine deutliche Differenzierung zwischen >olam hazeh und >olam ha-ba. Diese wird aber nicht zu einem radikalen Dualismus wie in der griechischen Konzeption von « als Zeit der empirischen Welt und als Ewigkeit der Gottheit bzw. des Himmels verschärft: Obgleich im Frühjudentum die transzendente und jenseitige Dimension des Lebens stark hervorgehoben und von der empirischen und geschichtlichen Dimension deutlich unterschieden wird, bleibt eine ursächliche Verbindung zwischen >olam ha-zeh und >olam ha-ba gleichwohl bestehen. Es stimmt zwar, dass erstere primär auf das politische und geschichtliche Schicksal der Nation bezogen wird, während sich die Lehre des >olam ha-ba auf das individuelle Schicksal des Individuums im Jenseits konzentriert. Entscheidend ist aber daran, dass das >olam ha-ba als Potenzierung und nicht als Negation oder Gegenteil des >olam ha-zeh dargestellt wird.169 Die Gerechtigkeit und der Wohlstand, die der Mensch für das gesamte Kollektiv im >olam ha-ze verwirklichen sollte, ist die empirische Widerspiegelung der göttlichen Gerechtigkeit und der beatitudo, die der Einzelne im >olam ha-ba als Belohnung seiner Weisheit erlangen wird. Auch Sigmund Mowinkel, der für eine radikal dualistische Deutung der beiden Welten plädiert, ist gezwungen, anzuerkennen, dass: „[I]t was never forgotten that the starting point for the future hope was faith in the restoration of Israel as a free people among the other nations, on this earth, in the land of Canaan. Thus there persisted in eschatology an unresolved tension, a gulf between those elements which were political, national, and this-wordly, and those transcendental and universal elements which belonged to the world beyond.“170 169 Diese Negation findet man nur in der außerkanonischen Apokalypse von Enoch, die stark von persischen Elementen beeinflusst ist. 170 Sigmund Mowinkel, He that cometh, op. cit., S. 267. Siehe also: George Foot Moore, Judaism in the First Centuries of the Christian Era. The Age of the Tannaim, 3 Bde., Cambridge (Mass.) 1927–1930: „For orderliness we may distinguish between the national form of the expectation, a coming golden age for the Jewish people, and what for want of a better world may be called the eschatological form, the final catastrophe of the world as it is and the coming in its place of a new world, which in so far as it lies beyond human experience of nature we may call supernatural. But it must be understood that in all the earlier part of our period the two are not sharply distinguished, but run into each other and blend like the overlapping edges of two clouds.“ (2. Bd., S. 323) Noch entschiedener ist die Stellungnahme von Paul Volz hinsichtlich der jüdischen Eschatologie: „Unter Eschatologie ist im folgenden verstanden die Lehre von den letzten Dingen, sofern sie als einheitliche Akte oder Zustände die Gemeinschaft betreffen, Volk oder Welt. Eschatologie des Individuums ist ein Widerspruch in sich. Nicht zur Eschatologie gehören also die Aussagen über den Tod, über das Los des Individuums nach dem Tod, wo das Individuum rein für sich selbst betrachtet ist. Nur sofern das Individuum als Teil des Ganzen die eschatologischen Akte und Zustände mitmacht, ist es zu berücksichtigen.“ (Jüdische Eschatologie, op. cit., S. 1) Dieselbe Meinung wird auch von Hugo Gressman (Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, op. cit.) vertreten.
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Trotz der fehlenden Systematik in der biblischen Darstellung der eschatologischen Erwartungen und trotz der Überlagerung unterschiedlicher Ideen hinsichtlich des Endes der Welt und der konkreten Gestalt der kommenden Welt ist die Verbindung zwischen >olam ha-zeh und >olam ha-ba durch den Glauben garantiert, dass Gott dem Menschen als Einzelnen und als Mitglied der Gemeinde durch die Torah eine Aufgabe gegeben hat, nämlich die Realisierung der Gerechtigkeit auf Erden als eine ‚zweite Schöpfung‘, und dass Gott dem Menschen alle Mittel an die Hand gegeben hat, um diese Aufgabe zu erfüllen. Durch sein Gesetz hat Gott den Menschen gezeigt, wie es möglich ist, eine gerechte Nation zu begründen. Eine solche Nation wird nicht als Ergebnis eines willkürlichen Aktes des göttlichen Willens entstehen, sondern als Folge des rechten Handelns des Menschen gegenüber den anderen Menschen: In diesem Sinne ist der Gott der Geschichte als Gott aller Völker die Grundlage der Eschatologie des Einzelnen.171 Und gerade diese teleologische Beziehung zwischen empirischem « und überempirischem
fehlt in der griechischen Welt vollständig. Die nationale Hoffnung des Volks bezieht sich bei ihren Weissagungen nur auf das Schema von Gegenwart und Zukunft: Einer trüben Gegenwart tritt eine helle, lichtvolle Zukunft gegenüber. Bei diesem einfachen Gegensatz bleibt die jüdische Eschatologie indes nicht stehen. Sie fragt vielmehr nach dem letzten Warum und nach dem Engagement des Einzelnen. Sie beginnt – ob sie von griechischer Philosophie oder orientalischer mystischer Spekulation angeregt wurde, bleibe hier unerörtert – den Weltverlauf als eine innere Einheit und eine geregelte Notwendigkeit aufzufassen. Sie entwickelt eine Geschichtsbetrachtung oder eignet sich diese an (Wilhelm Bousset spricht sogar von einer „geschichtlichen Theodizee“172), in der Gegenwart und Zukunft ihren notwendigen Ort einnehmen. Die Vergangenheit mit ihrer Not, dem Elend für Israel, der Herrschaft der Völker wird als eine innere Einheit, als ein gesetzlich notwendiger Verlauf begriffen, und der gesamten Vergangenheit tritt die Zukunft, welche die Herrschaftsstellung Israels begründen soll, als eine neue Periode, eine neue Weltzeit gegenüber, die schon in der Gegenwart des menschlichen Engagements beginnt: Das Kommen der Zukunft, das einmal empirisch und einmal überempirisch gemeint ist, bedeutet das Kommen einer neuen Weltordnung auf der Erde, für die jeder Mensch in der Gegenwart verantwortlich ist und für die er die Belohnung im Jenseits bekommen wird. Indes, das Volk Gottes soll nicht bloß leiden, um erlöst zu werden, sondern es soll tätig mitarbeiten, dass das Heil kommen kann. Dem herankommenden Messias muss der Weg bereitet wer171 Für die Wechselbeziehung zwischen Eschatologie des Einzelnen und Eschatologie der Nation vgl. u.a.: Robert H. Charles, Eschatology, op. cit., S. 82ff. 172 Wilhelm Bousset, Die Religion des Judentums, op. cit., S. 278.
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den. So ist die Erlösung der Gemeinde zum Teil auch von der menschlichen Leistung abhängig gemacht, die notwendige Voraussetzung des Heils ist. An diesem Punkt möchte ich noch nicht zwischen den in der Hebräischen Bibel beschriebenen zwei Welten oder zwischen messianischer Zeit und den ‚Tagen von Adonay‘ in ihrer zeitlichen und geschichtlichen Differenz unterscheiden. Auch möchte ich nicht untersuchen, welche talmudischen und apokryphen Konzeptionen des Jenseits bei Maimonides zu finden sind. Vielmehr möchte ich die Aufmerksamkeit auf die enge Beziehung zwischen der kollektiven und der individuellen Dimension der frühjüdischen Eschatologie lenken, da diese Beziehung eine zentrale, wenngleich nicht unmittelbar ins Auge springende Rolle in Hilkhot Teshuvah spielt: Hier wird die individuelle Dimension durch Maimonides’ Lehre des freien Willens stark betont, während jede apokalyptische Andeutung fehlt. Die Apokalyptik, die in der Hebräischen Bibel absolut zweitranging ist im Vergleich zu der Bedeutung, die ihr im Neuen Testament zukommt (man findet apokalyptische Beschreibungen im wesentlichen bei Daniel, Zephania und Ezekiel), impliziert das plötzliche Sich-Zeigen der willkürlichen und unvorhersehbaren Kraft Gottes, die den Menschen eines eigenständigen Wirkens in der Geschichte beraubt. Sie führt zum Ende der geschichtlichen Zeit und ist unmittelbar mit dem Gericht Gottes verbunden. Innerhalb dieses neuen Ideenkreises scheint der spezifisch messianische Gedanke, nämlich die Erwartung des messianischen Königs aus dem Haus Davids, gar keinen Platz mehr zu haben. Das ‚große Gericht‘ kann nur Gott selbst zugeschrieben werden. So verschwindet denn auch die Gestalt des Messias gerade in den Apokalypsen, in denen die Idee des Weltgerichts am energischsten hervortritt: bei Daniel, in der Wochenvision und den Paränesen des ersten Enoch, in der Assumptio Moses. Hier und da taucht nun in der jüdischen Apokalyptik ein neues transzendentes Messiasbild auf, das in diese apokalyptische und transzendente Umgebung hineinpasst. Auch in Darstellungen, in denen die national-politische Auffassung noch vorherrscht oder in denen der Messias nur im Winkel steht, entdeckt man bei näherem Zusehen an seiner Gestalt fremdartige Züge, die sich nicht bruchlos in sein Bild einfügen. Der Messias erscheint da mehr als mythischer Heros denn als nationaler Held. Zu beachten ist vor allem, dass er an vielen Stellen als der große Friedenskönig bezeichnet wird, unter dessen Herrschaft paradiesische Zustände auf Erden herrschen werden. In manchen dieser Passagen verbindet sich mit diesem Bilde das andere des Kriegshelden, der erst den Frieden schafft. Aber die Aufmerksamkeit ist ganz auf das Bild des paradiesischen Friedens gerichtet, und darüber hinaus spielt der Mensch zu dieser ‚transzendenten Zeit‘ auf der Erde keine Rolle mehr. Paul Volz schreibt diesbezüglich: „Der Apokalyptiker will nicht bloß die Zukunft schildern, er will – ein Beweis, wie gespannt er das Ende erwartet – vor allem sagen, wann das Ende kommt […]. Dies ist die deterministische G e s c h i c h t s a n s c h a u u n g der Apokalyptik. […]
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Weil nur der Apokalyptiker im Namen eines alten Propheten schreibt, ergiebt sich für ihn die Aufgabe, die Geschichte seit jenem Propheten bis auf die Gegenwart in der Form einer einheitlichen Weissagung zu schreiben. So wird die Apokalyptik zur Pflanzschule der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ; sie schreibt Geschichte im grossen Stile und mit dem Gedanken des Zwecks und bekundet hierin den weiten Blick, mit dem sie Raum und Zeit umspannt als Einheit erkennt. Der Begriff der Welt, der Begriff des einheitlichen Weltreichs, des in der Geschichte wirkenden Reichs des Bösen: sie gehören zur Apokalyptik. […] [D]iese Weltgeschichte erscheint nur als Mittel für eine Rechnung, für die Ausrechnung des jüngsten Tages; und so beruhigend jene auf die Rechnung gebaute Gewissheit des Endes für den Augenblick war, so mechanisch und äusserlich ist sie: Und wie die Apokalyptik in diesem Stück das Walten Gottes äusserlich fasst, so eignet ihr überhaupt der Charakter des Wu n d e r b a r e n , Ü b e r n a t ü r l i c h e n . Der menschliche Faktor, das aktive Handeln ist getilgt.“173
Obwohl Maimonides in Hilkhot Teshuvah, wie wir noch sehen werden, den Messias vom >olam ha-ba deutlich getrennt hält174, bedeuten Messias und >olam ha-ba keine Annullierung der Rolle des Menschen für die Realisierung des Willens Gottes in der Geschichte. Auch ist diese menschliche Realisierung des Willens Gottes nicht mit dem Ende der Geschichte gleichzusetzen. In der letzten Sektion des Sefer ha-Madda> verbinden sich frühjüdische, Aristotelische sowie talmudische Aspekte in der Maimonidischen Konzeption des >olam ha-ba und des Messias, die das aktive Wirken des verantwortlichen Einzelnen sowie die gemeinschaftliche Dimension seines Verhaltens eng miteinander verflechten. Diese Aspekte werde ich im Laufe meiner Untersuchung noch genauer betrachten.
5.1. Individuelle und gemeinschaftliche Dimension der Hilkhot Teshuvah Bis zu dieser Sektion des Sefer ha-Madda> hat Maimonides, bei unterschiedlichen Akzentuierungen, betont, dass das Gesetz einerseits zur Erkenntnis Gottes führt und andererseits die sozio-politische Funktion erfüllt, ein vernünftiges Zusammenleben der Gemeinde zu gestatten. In den Hilkhot Teshuvah wird jetzt unterstrichen, dass jedes Mitglied der Gemeinde für die Verletzung des Gesetzes einzeln verantwortlich ist, bis zum Punkt, dass Hilkhot Teshuvah eine einzige positive Vorschrift benennt, welche ebendiese individuelle Verantwortung feststellt: „Der Sünder soll für seine Sünde 173 Paul Volz, Jüdische Eschatologie, op. cit., S. 5ff. Siehe diesbezüglich auch: John J. Collins, Temporality and Politics in Jewish Apocalyptic Literature, in: Christopher Rowland/John Barton (Hrsg.), Apocalyptic in History and Tradition, London 2002, S. 26–43. 174 Joseph Sarachek schreibt diesbezüglich: „In Jewish eschatology the conception of a future world is at times confused with that of the Messianic future. It was Maimonides who separated these two periods.“ (Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah in Medieval Jewish Literature, op. cit., S. 157)
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Buße tun vor dem Herrn und Beichte ablegen. Die Darstellung dieser Vorschrift und der damit verbundenen Prinzipien, welche ihretwegen bestehen, werden in den folgenden Kapiteln besprochen.“175 Alle weiteren Prinzipien der Hilkhot Teshuvah beziehen sich auf das bewusste Eingeständnis der eigenen Schuld: Ohne die Anerkennung der eigenen Fehler, welche die Anerkennung des Guten und des Bösen beinhaltet, verliert die Strafe wie auch die Vergebung jede Bedeutung, weil der unbewusste Sünder die Grundlagen seines Handelns nicht zu begreifen vermag und denselben Fehler wiederholen könnte. Das bewusste Eingeständnis impliziert bei Maimonides einen aktiven Anteil des Einzelnen an Strafe und Belohnung, bis zum Punkt, dass dieses Eingeständnis die Wirkung der Lehre von Strafe und Belohnung beeinflusst: „Der Sündenbock, der für alle in der Torah erwähnten Übertretungen büßen muss, sowohl die leichten als auch die schweren176, ob nun vorsätzlich oder versehentlich begangen, ob der Zuwiderhandelnde seine Übertretung erkannte [idvh ] oder nicht erkannte; für alle Sünden büßt der Sündenbock, vorausgesetzt, dass der Zuwiderhandelnde Reue empfindet. Wenn er jedoch keine Reue empfindet, gewährt der Sündenbock nur Vergebung für leichte Übertretungen.“177 Nicht vom ‚Sündenbock‘ hängt die Wirkung des Tags der Versöhnung ab, sondern vom dem Bewusstseinsakt, durch den der Sünder seine Übertretungen anerkennt: Diesem Bewusstsein, das mit dem Wissen bzw. mit der Kenntnis (idy ) identisch ist178, wird sogar der Tag der Versöhnung untergeordnet. Maimonides drückt das ‚Bewusst-Sein‘ durch das Verb tidl aus, um die Erkenntnistätigkeit des Sünders in der Anerkennung seiner Übertretungen zu unterstreichen: Das Eingeständnis von Verantwortung stellt sich als eine Kenntnis bzw. Anerkennung des Gesetzes dar, die allein den Sünder zum neuen Zustand des Büßers bestimmt: Die Reue allein ist nicht ausrei175 Sefer ha-Madda> 81b. 176 Die schweren Übertretungen sind diejenigen, für welche die Verbannung bzw. der Tod verhängt wird. 177 Sefer ha- Madda> 82a. 178 Martin (Moshe) Stanley Stern hat die Ähnlichkeit zwischen Al-Ghazali und Maimonides hinsichtlich der Kenntnis der Sünde sowie die Rolle der empirischen Welt bei Al-Ghazali untersucht: „[By al-Gazzâlî] sins must be measured both objectively and subjectively. Objectively they can be gauged by reference to the Law (i.e., God’s command). To evaluate them properly, however, requires reference to the subjective factor of an individual’s spiritual state (i.e., his knowledge and perception). […] Al-Gazzâlî gives considerable attention to the function of the dunyâ (i.e., the mundane world) as it relates to the development of man’s personality. […] The dunyâ is the field for the cultivation of the hereafter; it cannot be renounced. Any such indiscriminate renunciation, argues al-Gazzâlî, would just as surely enslave man to the dunyâ at the expense of his salvation.“ (ders., Al-Gazzâlî, Maimonides, and Ibn Paquda on Repentance: A Comparative Model, in Journal of the American Academy of Religion, vol. XLVII, no. 4 [1979], S. 591f.). Siehe auch diesbezüglich: Timothy J. Gianotti, Al-Ghazali’s unspeakable doctrine of the soul. Unveiling the esoteric psychology and eschatology of the Ihya, Boston 2001.
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chend, damit man als reumütig bezeichnet werden kann, sondern sie ist der Ausgangspunkt, der zum Eingeständnis führen muss. Die Wichtigkeit dieses individuellen Zustandes wird von Maimonides unmittelbar mit der geschichtlich-politischen Situation des ganzen Volks Israel verbunden: „Gegenwärtig, da der Tempel nicht mehr existiert und wir keinen Altar für die Sühne mehr haben, gibt es nur noch Reue.“179 Obwohl mit dem Tempel die religiöse und politische Institution zerstört wurde, die für die Verwirklichung der Genugtuung zuständig war, hat Israel (durch „wir“ betont) immer noch die Möglichkeit der Reue. Es hat diese Möglichkeit dank des bewussten Schuldeingeständnisses seiner Mitglieder, die somit als Einzelne das Versprechen der Vergebung für die gesamte Gemeinde am Leben halten. In dieser kollektiven Perspektive erklärt Joseph Soloveitchik den Ausdruck „confession before God“ [lXh ynpl tvdvthl ]180, den man am Anfang der Hilkhot Teshuvah findet: „The public confession of the High Priest on the Day of Atonement began with the formula, „I beseech Thee, O Lord.“ The Talmud explains the significance of this formula, and cites scriptural support for the need to use both the ineffable name of God (here indicated by the term „Lord“) and the phrase „ana“ („Oh, I beseech Thee“). According to Maimonides, the use of this formula was not restricted to the High Priest. It was, rather, the paradigm for all confessionals, all of which were to be formulated on the model of that employed by the High Priest. […] God is referred to as „He who opens the gate for those who come knocking in repentance“ – and not for those who do repentance or come to repent.“
An Yom Kippur klopft jeder Reuige (repentant) für sich selbst ans Himmelstor, aber zugleich äußert er Reue (repentance) zusammen mit der ganzen Gemeinde und auch mit Unterstützung der ganzen Gemeinde: Solange nicht auf die gesamte Gemeinde die Shekhinah herabgekommen ist, kann das Schlussgebet Ne>ilah nicht beendet werden. In dieser Perspektive gibt es zwei Hauptdarsteller dieses Gebetes: den Einzelnen und den Hohepriester. Der Einzelne ist allein vor Gott, zu dem er durch Reue und das Eingeständnis seiner Sünden zurückkehren muss (‚Rückkehr‘ ist die buchstäbliche Bedeutung von ‚teshuvah‘)181, während der Hohepriester auf Antrag der ganzen Gemeinde nur Schuld eingestehen, aber nicht bereuen kann. Es ist kein Zufall, dass Maimonides im zweiten Paragraphen des ersten Kapitels hinsichtlich des Sündenbocks dessen gemeinschaftlichen Charakter betont: „Da der Sündenbock eine Sühne für ganz Israel war, beichtete der 179 Sefer ha-Madda> 82a. 180 Sefer ha-Madda> 81b. 181 Joseph Soloveitchik schlägt eine suggestive Interpretation vor, wobei „vor Gott“ zugleich „gegen Gott“ bedeutet: Die Präposition „ynpl “ würde also die Entfernung des Sünders von Gott hervorheben (Pinchas H. Peli, On Repentance. The Thought and Oral Discourses of Rabbi Joseph B. Soloveitchik, New York 1984, S. 81ff.).
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Hohepriester im Namen von ganz Israel.“182 Es stimmt zwar, dass dieser gemeinschaftliche Charakter des Sündenbocks in der Torah mehrmals unterstrichen wird (z.B. in Lev. 16:5 und Num. 5:6), so dass Maimonides hier keinen neuen Gedanken einführt. Die Betonung dieses kollektiven Charakters des hatat (Opfergebot) scheint hier jedoch völlig außerhalb der Thematik des ersten Kapitels zu stehen, das sich schon in diesen ersten Paragraphen explizit auf die individuelle Dimension der Reue und des Eingeständnisses von Schuld konzentriert. Ich bin der Meinung, dass diese Betonung des gemeinsamen Opfers des Sündenbocks in Wahrheit nicht aus dem Zusammenhang des Kapitels herausfällt: Die Gemeinde von Israel (knesset Israel) bildet einen einheitlichen juristischen Körper, genauso wie jedes Mitglied der Gemeinde eine unabhängige, juristische Person ist. Diese Verbindung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinde findet man schon im Segenspruch über die Heiligkeit von Yom Kippur, auf den Maimonides an dieser Stelle vielleicht hinweisen wollte: „Gepriesen sei Er, der all unsere Übertretungen sowie die Übertretungen seines Volkes vergibt“ Aber in diesem Segensspruch findet man einen solchen Dualismus hinsichtlich der Wegnahme der Schuld (ashmah) nicht mehr: Gott entfernt unsere Schuld als die Schuld einzelner Menschen. Es gibt aber keinen Hinweis auf die Wegnahme der Schuld von Israel. Die Erklärung von Nachmanides in seinem Kommentar zum Pentateuch (im besonderen zu Lev. 5:19) ist diesbezüglich nicht überzeugend, weil sie nicht die Grundlage dieses fehlenden Dualismus zu zeigen vermag: Nachmanides sagt uns lediglich, dass das Wort ashmah nur benutzt wird, wenn die Strafe für die Sünde die Vernichtung bzw. der Tod des Sünders ist (Nachmanides zufolge hat das Wort shmamah – desolation – denselben Stamm wie das Wort ashmah). Eine so schwere Sünde kann nur von dem Einzelnen, aber nicht von der ganzen knesset Israel begangen werden: Die Strafe Gottes kann nicht bis zur Vernichtung seines ganzen auserwählten Volks führen. Die Erklärung von Nachmanides sagt uns aber nicht, wieso ein Kollektiv keine Schuld tragen kann, eine Unmöglichkeit, die im zweiten Paragraphen des ersten Kapitels der Hilkhot Teshuvah eine wichtige Rolle spielt: Die Schuld ist mit der Kenntnis und dem Gewissen jedes Einzelnen verbunden, weil nur der Einzelne für das eigene Handeln verantwortlich ist, besonders wenn dieses Handeln zu schweren Konsequenzen führt. Aus diesem Grund schreibt Maimonides, dass der Sündenbock hinsichtlich Israels alle Sünden entfernt, aber hinsichtlich des Einzelnen kann der Sündenbock nur die leichteren Sünden entfernen: Für die schwereren ist es notwendig, dass der Einzelne bereut und seine Schuld eingesteht, ohne sich hinter der Gemeinde zu verstecken; diese schweren Sünden werden eine Verbannung aus der Gemeinde mit sich bringen. In der Einsamkeit der Reflexion muss der Sünder bereuen und seine Schuld eingestehen, damit er 182 Sefer ha-Madda’ 82a.
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wieder in die Gemeinde aufgenommen werden kann. Soloveitchik schreibt diesbezüglich: „So the atonement afforded by the se’ir hamishtaleach is not for individuals as such; they can only derive benefit from it via the pipelines of the community.“183 Die enge Beziehung zwischen kollektiver und individueller Dimension des Yom Kippur wird auch am Schluss des zweiten Kapitels der Hilkhot Teshuvah bekräftigt: „Der Versöhnungstag ist die Zeit der Reue für alle, sowohl für das Individuum als auch für die Menge [,ybrlv dyxyl lkl ]. Er ist das Ziel der bußfertigen Zeit, festgesetzt für Israel zur Verzeihung und Vergebung [lXr>yl hxylcv hlyxm ]. Daher obliegt allen die Pflicht, am Versöhnungstag zu bereuen und Buße zu tun [tvdvthlv hbv>t tv>il lkh ].“184 Am Schluss des zweiten Kapitels der Hilkhot Teshuvah bezieht sich Maimonides zugleich auf die Vergebung und auf die Verzeihung, die für das ganze Volk garantiert werden, aber auch auf den Beitrag, den der Einzelne hierzu zu leisten hat, nämlich wann, auf welche Weise und wie viel der Einzelne am Yom Kippur einbekennen muss. Nur wenn jeder Einzelne zum Bewusstsein (oder besser: zur Erkenntnis) seiner Sünde gekommen ist, kann der gesamten Gemeinde verziehen werden. Aus diesem Grund schreibt Maimonides: „Die Formel der Beichte, die von ganz Israel angewendet wird, ist der Satz „Wahrlich, wir haben gesündigt.“ Dies ist der Grundlage des Geständnisses [sic! yvdyvh rqyi ]. Übertretungen, die am Versöhnungstag gebeichtet werden, werden noch einmal am folgenden Versöhnungstag gebeichtet, selbst wenn man reumütig geblieben ist, wie es heißt, „Denn ich kenne meine Übertretungen [jdX ynX yi>p yk ] und meine Sünde ist immer vor mir [dymt ydgn ].“185
Die Grundlage [rqyi ] für das Eingeständnis der Übertretung ist für Maimonides die Verbindung von kollektiver und individueller Reue, was uns eine philologische Analyse von Maimonides’ – stets überaus genauer – Terminologie gestattet. Die Formel, mit der das Eingeständnis ausgedrückt wird, ist im Plural gehalten („Wir haben gesündigt“), aber der Einzelne muss jeden Tag, vom Yom Kippur bis zum nächsten Yom Kippur, das Wissen [jdX ynX ] um seine Sünde nicht sich gegenüber (wie die Übersetzung Hyamsons’ fälschlicherweise suggeriert), sondern als Hindernis vor Augen haben. Der Einzelne gesteht Gott gegenüber (Maimonides benutzt in diesem Fall den Locativus lXh ynpl ) ein, dass er jetzt weiß, dass die Sünde die Entfremdung von Gott und von den anderen Menschen verursacht. Deshalb wendet sich die Sünde gegen den Einzelnen (Maimonides benutzt in diesem Fall den Adversativus dgn ), sie nimmt nämlich die Möglichkeit, an dem >olam ha-ba als Belohnung für das richtige Handeln teilzuhaben. 183 Joseph B. Soloveitchik, On repentance, op. cit., S. 108. 184 Sefer ha-Madda> 83a. 185 Ibidem.
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Die kollektive und individuelle Dimension der Reue wird von Maimonides auch in zwei miteinander verbundenen Ausrichtungen beschrieben, die Reue betrifft nämlich alle Übertretungen186 und gilt für alle Sünder: „Reue sühnt für alle Übertretungen [tvrybih lk trpkm hbv>th ]. Selbst wenn ein Mensch sein ganzes Leben böse war und am Ende bereut, wird seiner Schlechtigkeit nicht gedacht […].“187
Dieses Prinzip, das an den Universalismus der christlichen misericordia erinnern könnte, enthält in Wahrheit eine lange Folge von Beschränkungen und Ausnahmen, die mit der juristischen Natur der Übertretungen und mit den Konsequenzen der Übertretungen sowohl für den Sünder als auch für das Opfer der Sünde zu tun haben und die in einer vergleichbaren Differenzierung im Evangelium nicht zu finden sind. Obgleich sowohl Yom Kippur als auch die Reue zur Vergebung führen, können die schweren Übertretungen, welche die Vertreibung aus der Gemeinde bzw. den Tod als Busse mit sich bringen, nicht sofort vergeben werden. Es ist notwendig, dass der Sünder durch das Erfahren von Leid von seiner Sünde befreit wird. In diesem Zusammenhang tritt die Entweihung des Gottesnamens (,>h tX llx ) wegen ihres besonderen Charakters hervor: Da diese Sünde im Rahmen der jüdischen Theologie bzw. der jüdischen Rechtswissenschaft die schwerste überhaupt ist, kann sie nur durch das Erfahren schweren Leidens vergeben werden. Mit anderen Worten: Nur durch den Tod kann der Sünder, der den Namen Gottes entweiht hat, die Vergebung erwerben (188trpkm htym ). An dieses Thema anschließend beginnt das zweite Kapitel der Hilkhot Teshuvah mit der Unterscheidung zwischen „perfekter Reue“ (hrvmg hbv>t ) und Reue im Allgemeinen. Die Vollkommenheit der Reue hängt von dem Umstand ab, dass die Möglichkeit zur Wiederholung der Sünde regelmäßig gegeben ist und der Sünder jeweils die physische und psychische Kraft besitzt, die Sünde tatsächlich zu wiederholen. Nur wenn er sich trotzdem von einer solchen Wiederholung fernhalten kann, weil ihm deren Negativität 186 An dieser Stelle möchte ich mich nicht mit der juristischen Untersuchung der Natur der Übertretungen bei Maimonides beschäftigen (Maimonides bezieht sich im besonderen auf den talmudischen Unterschied im Traktat Yoma 85b), da sie für den Zusammenhang zwischen der gemeinschaftlichen und der individuellen Dimension der Reue nicht relevant ist. Für eine generelle Untersuchung der Reue bei Maimonides und der Reue in der jüdischen Tradition siehe u.a.: Shimon Shokek, Repentance in Jewish Ethics, Philosophy, and Mysticism, Lewinston 1995; Chaim Nussbaum, The Essence of Teshuva: A Path to Repentance, Northvale 1993; Joseph B. Soloveitchik, On Repentance, op. cit. (im besonderen S. 75ff); Marvin Davis, An Investigation on the Concept of the Repentance of God in the Old Testament, New Orleans 1983; David S. Goldstein, Teshuba. The Evolution of the Doctrines of Sin and Repentance in Classical Jewish Thought with Reference to Maimonides’ Hilchoth Teshuba, Ann Arbor (Michigan) 1980. 187 Sefer ha-Madda> 82a. 188 Sefer ha-Madda> 82b.
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bewusst geworden ist, ist seine Reue vollkommen. Maimonides zeigt auch die Sorge um diejenigen Menschen, die erst im Alter, nämlich wenn sie gewisse Sünden nicht mehr begehen können, ihre Taten ehrlich bereuen. Maimonides hebt hervor, dass „dies nicht eine vortreffliche Art der Reue ist“189, indes wird auch dieser Sünder als reumütig akzeptiert. Im Hinblick auf diesen Reuigen findet man in den Hilkhot Teshuvah eine Stellungnahme, die der christlichen Lehre sehr nahe kommt: „Selbst wenn jemand sein ganzes Leben lang übertreten hat, nur am Tag seines Todes bereut und reumütig stirbt, werden ihm all seine Sünden vergeben.“190 Diese Behauptung steht nicht nur im Abschnitt über die vollkommene Reue, aber nur hier ist die Rede von „allen Sünden“ im Allgemeinen, nämlich ohne Unterschied zwischen schweren und leichteren Übertretungen des göttlichen Gesetzes. Die vollkommene Reue soll ein mögliches Ziel für alle Sünder bleiben, die ihr Wissen und ihren Willen trotz aller physischen Hindernisse am göttlichen Gesetz ausrichten. An dieser Stelle zeigt sich meines Erachtens Maimonides’ permanente Spannung zur Kohärenz der göttlichen Gerechtigkeit: Der eigene Wille des Menschen ist das Mittel seiner Rettung. Seine Verlorenheit bzw. seine Rettung hängt nämlich nicht von einer arbiträren und unvorhersehbaren Entscheidung Gottes ab, die den Menschen als wirkendes, autonomes und verantwortliches Subjekt völlig negieren würde. Auch wenn der Sünder bezogen auf seine physischen Möglichkeiten nicht mehr imstande wäre, eine bestimmte Sünde zu wiederholen, wären die Erkenntnis dieser Sünde und die Orientierung seines Willens am Fernhalten von dieser Sünde ausreichend, um die Bedingung der Reue zu erfüllen und somit gerettet zu werden. Wie ich bereits in meiner Untersuchung von Pereq Heleq gezeigt habe, gewährleistet der freie Wille des Menschen bei Maimonides die Gerechtigkeit der Lehre von Strafe und Belohnung, weil diese Lehre nicht als willkürliche Tat Gottes begriffen wird. Der Mensch kann vom Willen Gottes nichts wissen, er kann nur seinen Willen als Geschöpf untersuchen, erkennen und sich dementsprechend ausrichten. Diese moralische und juristische Gewährleistung der vollkommenen Reue verbindet sich mit den psychischen Aspekten der Reue im allgemeinen, die am besten von Martin Stanley Stern – gerade in bezug auf das zweite Kapitel – zusammengefasst worden sind, psychische Aspekte, die aber meines Erachtens nicht den Kernpunkt der Hilkhot Teshuvah bilden: „The penitential process proceeds in four stages […]. Initially there is acknowledgment. This is the intellectual realization of the negative status of the behavior. There needs be, obviously, a consciousness of the incidence of sin. Next, the awareness of offence must lead to the cessation of the sin both in thought and deed. 189 Ibidem. 190 Ibidem.
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To his point the penitent has achieved a minimal reversal. Repentance, however, as conversion experience, requires two further stages. There needs be evoked an emotional realization of sin. This trans-intellectual state, termed regret, is the ego assimilation of responsibility for the negatively valued act. The internalization of the guilt, coupled with the initial two stages, leads to the final stage, the resolution to abstain from future repetition.“191
Dieser psychische Prozess, der von Maimonides zweifellos hinsichtlich der ‚Reue im Allgemeinen‘ beschrieben wird, erscheint zweitrangig im Vergleich zur Teilnahme des Sünders als eines bewussten und verantwortlichen Subjektes an seiner Rettung. Darüber hinaus wird der individuelle und rein psychische Charakter dieses Prozesses unmittelbar im fünften Abschnitt192 des zweiten Kapitels überholt: Die Reue darf nicht nur ein intimer und innerlicher Akt des Sünders sein. Für sie ist auch das öffentliche Schuldeingeständnis vor der Gemeinde nötig. Unter diesem Blickwinkel bin ich mit der Interpretation von Martin Stanley Stern nicht einverstanden, welcher die öffentliche Reue nur als ein psychologisches Instrument zur Verstärkung des ‚Ich werde diese Sünde nicht mehr wiederholen‘ versteht.193 Es stimmt zwar, dass der Mensch seine Identität als Sünder durch das öffentliche Eingeständnis unterstreicht (sein Zustand der Schuld wird durch die Anerkennung der Kollektivität bestätigt), aber das öffentliche Eingeständnis hat auch die Funktion, als Warnung und Hilfe zur Korrektur für die Gemeinde zu dienen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass der Mensch die Sünde gegen seinen Nächsten, nicht aber, dass er die Sünde gegen Gott öffentlich macht: Die Sünden gegen Gott implizieren keine direkte Konsequenz für das Leben der Gemeinde, weswegen sie ein Eingeständnis Gott gegenüber bleiben dürfen. Der besondere Zustand der Gemeinde hinsichtlich der Reue ist auch das Thema der letzten sieben Abschnitte des zweiten Kapitels; es betont die zentrale Rolle des kollektiven Lebens im Vergleich zum individuellen bei Maimonides. Die Tatsache, dass Reue und Flehen stets, aber vor allem während der yomim noraim (‚der furchtbaren Tage‘) zwischen Rosh ha-Shana und Yom Kippur erhört werden, gilt nur für den Einzelnen, während Reue und Flehen der Gemeinde in jedem Moment des liturgischen Jahres eine Antwort bekommen: Das Wesen des Eingeständnisses von seiten Israels („Wahrlich, wir haben gesündigt.“194) liegt in der Anerkennung der Sünde nicht nur durch individuelle Subjekte, sondern auch durch Mitglieder einer Gemeinde. Aus diesem Grund fügt Maimonides eine weitere Bestimmung hinzu, die sich auf das Wirken der Reue und des Yom Kippur bezieht: Beide gewährleisten nur die Vergebung hinsichtlich der Sünden gegen Gott, also 191 192 193 194
Martin (Moshe) Stanley Stern, Al-Ghazzâlî, Maimonides, and Ibn Paquda, op. cit., S. 595. Sefer ha-Madda> 83a. Martin (Moshe) Stanley Stern, Al-Ghazzâlî, Maimonides, and Ibn Paquda, op. cit., S. 595. Sefer ha-Madda> 83a.
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der nicht öffentlich zu bekennenden Sünden, ihre vergebende Kraft ist viel begrenzter hinsichtlich der Sünden gegen den Nächsten. Diese Sünden werden niemals vergeben (195,lvil vl lxmn vnyX ]hb ), solange der Verletzte nicht um Vergebung gebeten worden ist. Es ist nicht ausreichend, dass der Verletzte Genugtuung und Kompensation erhält: Seine Vergebung ist entscheidend, damit der Sünder von seiner Schuld befreit werden kann. Die theologische Position von Maimonides ist an dieser Stelle besonders radikal, weil sie der vergebenden Kraft Gottes eine Art von Beschränkung auferlegt. Gott darf nämlich nur die Sünden gegen Ihn vergeben, aber nicht diejenigen Sünden, welche unseren Nächsten geschädigt haben. Nur das Opfer der Übertretung ist imstande, diese Vergebung zu gewähren. An dieser Stelle könnte man einen Widerspruch zur Behauptung über die ‚vollkommene Reue‘ sehen, die uns sagt, dass dem Sünder auch dann vergeben wird, wenn er am letzten Tag seines Lebens bereut, also auch, wenn er zu alt und schwach ist, um konkret etwas gegen seine vergangene Schuld zu unternehmen. Trotz dieser objektiven Unfähigkeit weitet sich diese Vergebung auf „all seine Sünden“ aus ohne die geringste Differenzierung zwischen Sünden gegen Gott und Sünden gegen den Nächsten. Eine genauere Analyse der beiden Abschnitte lässt uns erkennen, dass die Vergebung jeweils unter unterschiedlicher Perspektive untersucht wird, weswegen es sich nicht um einen Widerspruch bzw. um eine Schwäche der Argumentation handelt: Im ersten Fall bezieht sich Maimonides’ Stellungnahme auf die Vollkommenheit der Reue, die nur in den Händen (oder besser: im Willen) des einzelnen sündigen Menschen liegt, während der Kern der Argumentation am Schluss des zweiten Kapitels die Rolle der Gemeinde als Gegenpart des einzelnen sündigen Menschen betrifft. Die ganze Gemeinde soll sich engagieren, damit der Verletzte bereit wird, dem Sünder zu vergeben, weil derjenige, der seine Vergebung ohne weiteres verweigert, sich selbst in die Rolle des Sünders bringt: „Wenn jedoch die geschädigte Partei nicht gewillt ist, zu vergeben, sollte er drei seiner Freunde zusammenbringen, und sie sollten die beleidigte Person anflehen und ihre Vergebung erbitten. Wenn sie keinen Erfolg haben, sollte er eine zweite und sogar eine dritte Gruppe mit sich nehmen. Wenn die beleidigte Person unerbittlich bleibt, lässt er sie in Ruhe und geht weg. Wenn jedoch die beleidigte Person der Lehrer des Missetäters war, muss der Schüler wieder und wieder zu ihm gehen, sogar tausend Mal, bis die Vergebung gewährt wird.“196
An dieser Stelle könnte man zu Recht von einem subtilen psychologischen Spiel bei Maimonides sprechen, das wahrscheinlich aus seiner Tätigkeit als Leiter einer Gemeinde entstanden ist: Wenn es schon schwierig ist, die eigenen Sünden in der Öffentlichkeit zuzugestehen, so fällt es noch schwerer, 195 Sefer ha-Madda> 83b. 196 Sefer ha-Madda> 83b.
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dem Menschen zu vergeben, der uns verletzt bzw. geschädigt hat. Die Drohung, genau wie dieser Sünder zu werden, soll den Verletzten, unter aktiver Mitwirkung seiner Freunde, zur Vergebung bringen. Während man in der rabbinischen Literatur häufig die Erwähnung der Freunde als Zeugen bzw. als Botschafter findet, spielen die Freunde am Schluss des zweiten Kapitels der Hilkhot Teshuvah eine ‚vermittelnde Rolle‘, die eine größere Ähnlichkeit mit der Rolle der Freunde im Buch Hiob als mit der rabbinischen Jurisprudenz hat: Die Freunde von Hiob wollen ihn überreden, seine Sünde einzugestehen, damit er gerettet werden kann, während die Freunde in den Hilkhot Teshuvah einen Menschen von der Sünde fernhalten wollen, damit auch er an der Rettung teilnehmen kann. Nur in einem Fall darf der Sünder nie aufhören, persönlich, d.h. ohne Vermittlung, um Vergebung zu bitten, nämlich wenn er seinen Lehrer beleidigt hat: Da der Lehrer uns gestattet, durch die Erkenntnis des göttlichen Gesetzes am >olam ha-ba teilzunehmen197, müssen wir direkt und persönlich seine Vergebung erlangen. Maimonides bedient sich einer weiteren psychologischen Strategie, um den Verletzten zur Vergebung zu überreden: Die Fähigkeit zur Vergebung ist die natürliche Eigenschaft von Israel, sie macht auch einen tiefen Unterschied zwischen Israel und den Heiden aus (Amos 1:11; II Sam. 21:2). Die Drohung, sich als Heide zu erweisen, soll den Verletzten ohne Zögern zur Vergebung bewegen. Auch wenn der Verletzte stirbt, bevor er seine Vergebung erteilt hat, hat der sündige Mensch die Möglichkeit, sich durch das Mitwirken der Gemeinde zu retten: „Wenn eine Person gegen eine andere gesündigt hat und der letztere starb bevor Vergebung erstrebt wurde, sollte der Sünder zehn Männer zusammenbringen, sie am Grab des Verstorbenen platzieren und in ihrem Beisein erklären: ‚Ich sündigte wider den Herrn, Gott Israels und gegen dieses Individuum, indem ich diesen und diesen Fehl gegen ihn beging‘. Wenn er dem Verstorbenen Geld schuldete, sollte er es seinen Erben zahlen. Wenn er keinen seiner Erben kennt, sollte er den Betrag bei Gericht hinterlegen und ein Geständnis ablegen.“198
5.2. Nationale und übernationale Eschatologie in den Hilkhot Teshuvah Bis hierher könnte man den Eindruck haben, dass Maimonides in seiner Auseinandersetzung mit Sünde und Vergebung nur die Israeliten vor Augen hätte, als ob also die ganzen Hilkhot Teshuvah nur die Rettung des israelitischen Individuums bzw. die Rettung des Volks Israel als Hauptziel hätten.
197 Hilkhot Talmud Torah 61b. 198 Sefer ha-Madda> 83b.
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Im dritten Kapitel der Hilkhot Teshuvah zeigt sich jedoch, dass sich das enge Verhältnis von individueller und gemeinschaftlicher Dimension der Reue und der Rettung nicht nur auf Israel, sondern auch auf die ganze Welt bezieht, und dass beide Dimensionen in Maimonides’ Argumentation unter einem theologischen und ethischen Blickwinkel harmonisiert werden. Bereits im Frühjudentum, und vor allem in der prophetischen Lehre, lässt sich eine radikale Umkehrung der Perspektive hinsichtlich der anderen Nationen beobachten. Obwohl man in bezug auf biblische Bücher schwerlich vereinheitlichende Aussagen treffen kann, ist es eindeutig, dass über die anderen Völkern im Pentateuch (erst bei den Propheten erhält das Wort ‚Volk‘ die politische Bedeutung von ‚Nation‘) insgesamt sehr negativ gesprochen wird: Die anderen Völker treten zumeist als Feinde Israels auf, die als solche vernichtet werden müssen. In dem gewandelten historischen und politischen Kontext der Propheten jedoch ergibt sich die Notwendigkeit, die Auserwähltheit Israels mit der Existenz der anderen Nationen zu vereinbaren. Zu dieser Zeit entsteht der allgemeine, übernationale, religiöse und ethische Gegensatz der Gerechten und der Gottlosen. Subjekt der eschatologischen Hoffnung werden die gerechten Menschen, ohne Rücksicht auf die Nation und auf die Partei. Das Ziel der Zukunftshoffnung ist die Errichtung der Gottesherrschaft auf Erden, nicht Israels Weltherrschaft. Das Ziel besteht darin, dass das Heil zu den Gerechten komme, nicht darin, dass es zu dem Volk der Juden komme.199 Die Sorge der Propheten, der Spruchweisheit und von Hiob um den ‚Erdensohn‘ hat vor allem in die Pirqe Avot (einen Text, den Maimonides sehr häufig im Sefer ha-Madda> erwähnt), in den Talmud und in die jüdische apokalyptische Literatur Eingang gefunden (z.B.: „Weise ist, wer von allen Menschen lernt, ehrwürdig, wer die Menschen ehrt“ [Ben Somah IV 1], „An wem die Menschen Wohlgefallen haben, an dem hat auch Gott Wohlgefallen“ [Haninah b. Dosa III 10a]; „Das Gericht […] ist über alle Gerechten“ [Hen. 1:7], „Es gibt einen Tag des Gerichts, an dem Gott jeden einzelnen Menschen richtet“ [Bereshit rabba 45:9]). Selbstverständlich bleiben tiefe Spannungen innerhalb dieses ethischen Universalismus bestehen, wie z.B. die Ablehnung der Gottlosen und der Heiden, ebenso die kritische Bewertung der Menschen, die angeblich keinem Volk angehören. Darüber hinaus bleiben auch in der apokalyptischen Literatur (zunächst bei Daniel) Hinweise auf den Antagonismus zwischen Israel und der heidnischen Welt bestehen: Wie Israel das Reich Gottes ist, so ist das heidnische Reich der Sitz des Bösen.200
199 Siehe im besonderen: Paul Volz, Jüdische Eschatologie, op. cit., S. 70ff. 200 Paul Volz ist der Meinung, dass das Wort „Völker“ in der Bibel genauso wie in der gesamten jüdischen Tradition hauptsächlich zwei Bedeutungen hat: „die Feinde Israels“ (nationaler Begriff) und „die Gottlosen“ (nationalethischer Begriff) (Paul Volz, Die jüdische Eschatologie, op. cit., S. 74ff).
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Es wäre unmöglich, ausgehend von der frühjüdischen Literatur ein einheitliches Bild der anderen Völker bzw. der anderen Nationen zu gewinnen, da jede Darstellung von der besonderen geschichtlich-politischen Situation Israels in seiner Entwicklung als Nation abhängt. Gleichwohl wird zu dieser Zeit eine Konzeption der Völker sichtbar, die unter einem ethischen und eschatologischen Blickwinkel die Notwendigkeit der Teilhabe dieser Völker an der Rettung, an der Heilsgewissheit und an der Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden impliziert.201 Die ursprüngliche Darstellung des jüngsten Gerichts im Pentateuch, in dem das Gericht den Zweck hat, das Volk Israel von der Fremdherrschaft zu befreien und die Erlösung zu erwirken, wird schon bei Daniel (besonders in Kapitel 7) zur Darstellung eines Gerichts, das den Zweck hat, Israel, die Frommen und die ganze Schöpfung Gottes vom Bösen und von der Sünde zu befreien. Deutliche Spuren dieser kontroversen und vielschichtigen Debatte innerhalb Israels als religiöser Gemeinde und als politischer Nation sind meines Erachtens auch im dritten Kapitel der Hilkhot Teshuvah zu finden. Schon im ersten Paragraphen nennt Maimonides das Thema dieses Kapitels mit einer Formulierung, welche die Koexistenz einer individuellen und einer universalistischen Konzeption der Lehre von Strafe und Belohnung erkennen lässt. Diese Koexistenz geht in der Übersetzung völlig verloren: „Jeder Mensch hat Verdienste und Sünden.“202 „Jeder Mensch“ entspricht dem Ausdruck „,dXh ynbm dxXv dxX lk “, der angeblich eine nutzlose Wiederholung desselben Begriffs ist: „Jeder Einzelne und jeder Einzelne unter („aus“ auf Hebräisch, um die Abstammung zu unterstreichen) den Menschenkindern“. Da die Definition einer bestimmten Kategorie in keinem juristischen Codex nur aus stilistischen Gründen hinzugefügt wird, verdient dieser Ausdruck genauere Aufmerksamkeit. Im zweiten Kapitel hat Maimonides das Thema der Reue und der Vergebung eindeutig mit dem Volk Israel verbunden: Er hat juristisch und theologisch begründet, welche die Beschränkungen des Hohepriesters, des Sündenbocks und des Yom Kippur hinsichtlich ihrer Wirksamkeit für den einzelnen Sünder und für die israelitische Gemeinde sind und wie man jeweils die Reue zu interpretieren hat. Im dritten Kapitel ist das Hauptproblem nicht mehr die Bestimmung der Reue, sondern die Definition des Sünders: Unter welchen Umständen kann man einen Menschen als ‚böse‘ bzw. ‚gerecht‘ bestimmen? Diese Frage, die in diesem Paragraphen eine ethisch-religiöse, aber keine juristische Bedeutung hat, bezieht sich nicht nur auf jedes Mitglied des Volks Israel, sondern auf jedes Menschenkind. Während das göttliche Gesetz nur die Juden bzw. die Noachiden betrifft, ist
201 Paul Volz, Jüdische Eschatologie, op. cit., S. 106ff. 202 Sefer ha-Madda> 83b.
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die Definition des ‚Bösen‘ bzw. ‚des Guten‘ ein ethisches Problem, das als solches nicht nur das Volk Israel betrifft. Diese universalistische Perspektive geht im ersten Paragraphen des dritten Kapitels sehr weit: „Derjenige, dessen Verdienste seine Sünden übersteigen, ist rechtschaffen. Derjenige, dessen Sünden seine Verdienste übersteigen, ist schlecht. Wenn diese zwei sich in einem Individuum die Waage halten, gehört er zu der dazwischenliegenden Gruppe. So ist es auch mit einem Land [hnydmh ]. Wenn die Verdienste all seiner Einwohner ihre Sünden übersteigen, so ist das Land rechtschaffen. Wenn seine Sünden überwiegen, ist es ein verdorbenes Land. So ist es auch im Hinblick auf die gesamte Welt [vlvk ,lvih lk ].“203
Diese Definition betrifft also alle Nationen (hnydmh hat dieselbe politische Bedeutung wie dessen arabisches Homonym) und die ganze Welt, nämlich auch diejenigen Völker, die noch keine Nation gebildet haben. Maimonides ist hier an einer gemeinsamen ethischen Definition des ‚Bösen‘ bzw. des ‚Guten‘ interessiert, die keine gesetzliche Einschätzung des menschlichen Handelns bzw. kein gerichtliches Urteil ist: Eine solche Einschätzung bzw. ein solches Urteil sind der göttlichen Erkenntnis vorbehalten. Der Mensch soll imstande sein, den Gerechten vom Ungerechten zu unterscheiden, um zu wissen, wen er als Vorbild wählen und auf wessen Ratschläge er hören soll. Der Mensch hat aber nicht die Aufgabe, den Nächsten hinsichtlich der Lehre von Strafe und Belohnung zu beurteilen. Am Schluss des zweiten Paragraphen werden wir deshalb daran erinnert, dass das jüngste Gericht ausschließlich in Gottes Hand liegt. Gerade weil diese Beurteilung keine Sorge des Menschen sein muss, hat niemand das Recht, über die Konsequenzen seiner guten Taten im Jenseits zu spekulieren. Die guten Taten sollen nicht bewusst als Instrumente der Rettung eingesetzt werden, sonst verlieren sie jeglichen Charakter eines Verdiensts. Die >avodah meahavah, die Erfüllung des göttlichen Gesetzes aus Liebe sowohl zu Gott wie auch zum Nächsten, erfolgt in der talmudischen Lehre (im besonderen in den Traktaten Qiddushin und Yoma) aus der Erkenntnis der Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes, das als Zweck an sich zu erfüllen ist. In einer Aggadah, die von Byron L. Sherwin204 zitiert wird, wird die Freude des frommen Shneur Zalman aus Liady beschrieben, als eine Stimme aus dem Himmel ihm während seines Gebetes versichert, dass er nicht am >olam ha-ba teilhaben werde. Als seine Schüler ihn fragen, weshalb er sich über diese Botschaft gefreut habe, erwidert er: „Ich habe immer Angst davor gehabt, meine >avoda nur in Erwartung der göttlichen Belohnung zu tun. 203 Ibidem. 204 Byron L. Sherwin, Aspects of Jewish Eschatology, in: ders., Toward a Jewish Theology. Methods, Problems, and Possibilities, Lewinston 1991, S. 167.
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Jetzt, da ich weiß, dass ich am >olam ha-ba nicht teilhaben werde, kann ich Gott ohne Furcht weiter dienen.“ Im Lichte der eschatologischen Perspektive der gesamten Hilkhot Teshuvah betont Maimonides zwar, dass „für denjenigen, der für rechtschaffen befunden wird, ist das Leben besiegelt; für denjenigen, der für verdorben befunden wird, ist der Tod besiegelt [Xjmn> ymv ,yyxl ,txn qydj Xjmn> ym htyml ,txn i>r ]“205, aber diese Entscheidung darf nur von Gott getroffen werden, nachdem die Taten des Menschen abgewogen worden sind. Diese Schätzung erfolgt nicht erst beim Tod des Sünders, denn sonst hätte der Sünder nicht mehr die Möglichkeit, sein Handeln neu zu orientieren, sondern sie erfolgt jährlich an Rosh-ha-Shana, dessen Bedeutung und dessen Wirkung sich nicht auf das jüdische Volk beschränkt: „Und selbst wenn sich die verdienstvollen Taten und Sünden eines Mannes zur Stunde seines Todes die Waage halten, so werden doch die Sünden jedes einzelnen Bewohners der Erde [,lvih yXbm dxXv dxX lk ] jährlich am Neujahrfest gegen seine Verdienste aufgewogen.“206 Man liest in der feierlichen Liturgie von Rosh-ha-Shana: „Deshalb erfülle nun, oh Herr unser Gott, all deine Werke mit Ehrfurcht und mit Scheu alles, was du erschaffen hast, so das alle Geschöpfe sich vor dir niederwerfen und ein einziges Band formen mögen, um deinen Willen mit vollkommenem Herzen zu erfüllen. Erstrahle in der Pracht und Herrlichkeit deiner Macht über allen Bewohnern der Erde, damit alles was Atem in seinen Nüstern hat, sagen möge, ‚Der Herr, Gott Israels, ist König und seine Herrschaft regiert überall‘.“
Maimonides könnte sich hier auch auf die talmudische Lehre hinsichtlich der Gerechten aller Nationen beziehen: „Nur die Sündigen werden in die Hölle geschickt, aber die Frommen der Völker werden an den Segnungen der Zukunft teilhaben“ (Sanhedrin 105a), „Der Nichtjude, der sich mit der Erfüllung seiner religiösen Pflichten beschäftigt, nimmt den selben Rang wie ein Hohepriester ein“ (>Avodah Zarah 3a). Maimonides zeigt kein Interesse an den apokalyptischen Darstellungen des Jenseits nach Daniel für den Gerechten bzw. für den Ungerechten von Israel und von allen anderen Nationen der Welt207: Ganz nüchtern stellt er lediglich fest, dass der Gerechte zum Leben bzw. der Ungerechte zum Tode bestimmt ist. Nichts sonst wird über den geistigen bzw. konkreten Inhalt dieses Urteils gesagt. Wie in der apokalyptischen Literatur ist die eschatologische Vergeltung auch bei Maimonides als Ergänzung des Diesseits gemeint, aber das Interesse an dieser Verknüpfung hat bei Maimonides einen 205 Sefer ha-Madda> 84a. In diesem Zusammenhang bedeutet „Tod“ der Ausschluss vom >olam ha-ba. 206 Sefer ha-Madda> 84a. 207 Für eine Vertiefung solcher apokalyptischen Darstellungen siehe u.a.: Eugen Hühn, Die messianischen Weissagungen des israelitisch-jüdischen Volkes bis zu den Targumim, op. cit., S. 119ff; Paul Volz, Jüdische Eschatologie, op. cit., S. 149ff.
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rein ethischen Charakter. Die ‚prosaischen‘ Fragen hinsichtlich der Auferstehung der Toten, die Maimonides in Pereq Heleq heftig kritisiert (Werden die Menschen nackt oder angezogen wiederauferstehen? Wie werden sie aussehen? Usw.), sind auch in Hilkhot Teshuvah bedeutungslos: Es ist nicht entscheidend zu wissen, wie die Strafe bzw. die Belohnung aussehen wird, sondern es ist entscheidend zu wissen, nach welchen Kriterien das Handeln der Menschen als gerecht oder ungerecht beurteilt wird. Nach Maimonides soll der Shofar an Rosh-ha-Shana die Apathie unseres unbewussten Lebens erschüttern, damit der Mensch seine Taten nach den Prinzipien der Erkenntnis des göttlichen Gesetzes überprüft und sich um künftige Besserung bemüht. Die künftige Besserung im Handeln orientiert sich nicht an der Belohnung im Jenseits, sondern an der Begründung der Gerechtigkeit auf der Erde – ein Thema, das in der jüdischen apokalyptischen Literatur so gut wie keinen Platz findet, da das Hauptinteresse dieser Literatur nicht auf dem Diesseits liegt. Die Ungerechtigkeit des Diesseits, die in der jüdischen apokalyptischen Literatur im allgemeinen als unvermeidlich und unverbesserlich betrachtet wird, findet ihren Ausgleich im Jenseits, in dem der Ungerechte bestraft wird und der Gerechte die Vergeltung seiner Taten und seines Leidens findet. Bei Maimonides hingegen ist die Korrektur des eigenen Handelns zunächst an der Gerechtigkeit im Diesseits als Diesseits aller Völker der Erde ausgerichtet: „Es ist deshalb notwendig, dass sich jeder im Laufe des Jahres als halb unschuldig und halb schuldig ansehen sollte. Selbst wenn er eine weitere Sünde begeht, drückt er die Waagschale der Schuld gegen sich selbst und die der ganzen Welt nach unten und verursacht Verderben. Wenn er ein Gebot erfüllt, wendet er die Waagschale des Verdienstes zu seinen Gunsten und zu denen der ganzen Welt und er bringt Erlösung und Befreiung für all seine Mitmenschen und für sich selbst, wie es heißt, ‚der Gerechte aber besteht ewiglich‘ (Spr. 10:25); das bedeutet, dass derjenige, der gerecht handelt, die Waagschale des Verdienstes zu Gunsten der ganzen Welt herunterdrückt und sie rettet.“208
Rosh-ha-Shana erinnert den Menschen daran, dass er nie die tägliche Überprüfung seines Handelns vernachlässigen darf, weil niemand ohne eine solche Untersuchung von sich selbst sagen kann: ‚Ich bin ein gerechter Mensch‘. Der Zweifel hat an dieser Stelle, wie drei Jahrhunderte später in der ersten Meditation von René Descartes, eine epistemologische Funktion, wobei sich der Maimonidische Zweifel auf die Praxis und nicht auf die Cogitatio bezieht: Der Zweifel, nur ‚halb gerecht‘ zu sein, muss den Menschen in einen Wachzustand versetzen („Erwachet, erwachet, oh Schläfer, von eurem Schlaf“209), um die eigene Identität und die Identität der anderen Menschen ausgehend von einem solchen Zustand, um die eigene ethische Iden-
208 Sefer ha-Madda>, 84a. 209 Ibidem.
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tität zu erkennen. Dieser ethische und zugleich Erkenntnis bewirkende Prozess fällt nicht nur in die individuelle Sphäre des wirkenden Subjektes, sondern nach der talmudischen Lehre in die Sphäre der gesamten Welt: Der Gerechte, der eine gute Tat vollbringt, rettet damit die ganze Welt, genauso wie eine einzige böse Tat die ganze Welt zerstört. Das göttliche Gesetz entspricht der Ordnung der Schöpfung, weshalb jede Verletzung des Gesetzes eine Verletzung dieser Ordnung ist. Wegen der gemeinschaftlichen Bedeutung von Rosh-ha-Shana, auf diesen Wachzustand im Laufe des ganzen Jahres hinzuwirken, unterstreicht Maimonides die zentrale Rolle sowohl dieses Tages als auch der zehn Bußtage zwischen Rosh-ha-Shana und Yom Kippur im Vergleich zu den anderen Festen Israels: „Und aufgrund dieser Erwägungen hat das ganze Haus Israels den Brauch von Neujahr bis zum Versöhnungstag seine Wohltätigkeit und andere gute Taten zu vermehren und sich während dieser Zeit in einem größeren Ausmaß als während des übrigen Jahres mit religiösen Pflichten zu beschäftigen.“210
Die enge Beziehung zwischen dem Wirken der Gemeinde und dem des Einzelnen wird auch juristisch begründet: Die Gesetzesverstöße des Einzelnen wie auch die der Gemeinde (rvbyjh ) werden erst ab der vierten Verletzung gerechnet, sie werden nämlich dann gerechnet, wenn keine Entschuldigung mehr akzeptiert werden kann, wonach die Verstöße aus Unwissen versehentlich erfolgt sind. Da Gott, wie die Hebräische Bibel lehrt, in seinem Zorn langsam ist, fällt sein Urteil erst dann auf das menschliche Handeln, wenn die Vorsätzlichkeit der bösen Taten nicht mehr geleugnet werden kann, wenn nämlich der Wille des Menschen nicht mehr missverstanden werden kann. Die Verknüpfung zwischen Einzelnem und Gemeinde, hinsichtlich Israels und hinsichtlich der ganzen Welt, bildet den Hintergrund für die erste Erwähnung des >olam ha-ba in den Hilkhot Teshuvah und am Schluss des fünften Paragraphen: „Hinsichtlich jener, die zu der Zwischenklasse [der Sünder] gehören, wenn unter der Hälfte der Taten eines Individuums, die eine Zuwiderhandlung darstellen, die Sünde beinhaltet ist, niemals die Gebetsriemen angezogen zu haben, wird er zufolge seiner Sünden gerichtet, aber hat einen Anteil an der kommenden Welt. So werden auch alle schlechten Personen [,yi>rh lk ], deren Sünden ihre Verdienste überwiegen, zufolge ihrer Sünden gerichtet und haben einen Anteil an der kommenden Welt; denn ganz Israel [lXr>y lk ] hat einen Anteil am kommenden Leben, wie es heißt, ‚Und dein Volk sollen lauter Gerechte sein. Sie werden das Land ewiglich besitzen‘ Der Ausdruck Land ist eine Metapher für das Land des Lebens, das ist die kommende Welt [Xbh ,lvih Xyhv ,yyxh /rX rmvlk l>m vz /rX ]. Und so haben auch die Heiligen unter den Völkern der Welt [,lvih tvmvX ydycx ] einen Anteil an der kommenden Welt.“211 210 Ibidem. 211 Sefer ha-Madda> 84b.
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In diesem Schluss findet man eine progressive Steigerung und zugleich einen harmonischen Zusammenschluss unter den Menschen, hinsichtlich derer die Lehre der Strafe und der Belohnung ihre Bedeutung erhält: INDIVIDUELLE PERSPEKTIVE (Erster Teil) 1. der einzelne jüdische Sünder 2. alle einzelnen Sünder
GEMEINSCHAFTLICHE PERSPEKTIVE (Zweiter Teil) 1. die Gerechten Israels 2. die Gerechten aller Völker
Das Zitat aus Jesaja bedeutet nicht, dass das Volk Israel aufgrund der Auserwählung Gottes gerecht ist, sondern dass diejenigen Israeliten, die sich bemühen, Gerechte zu sein, am >olam ha-ba teilhaben werden, ebenso wie die Gerechten aller anderen Völker der Erde. Dementsprechend kann der einzelne Sünder des Volks Israel, ebenso wie alle Sünder der anderen Völker, gerettet werden, wenn er seine bösen Taten bereut und eingesteht. Die Annahme, dass das Land (/rX ) in der Hebräischen Bibel einem einzigen Volk versprochen wird, ist für Maimonides das Resultat eines hermeneutischen Missverständnisses: Nicht ein begrenzter geographischer Punkt der Erde kann der letzte Inhalt des Versprechens Gottes sein. Natürlich wird Abraham befohlen, in das Land zu ziehen, das Gott ihm bezeichnen wird, aber unter einem juristischen und theologischen Blickwinkel handelt es sich nur um eine Bedingung des besonderen Bundes zwischen Gott und einem bestimmten Volk der Erde. Die Lehre des Pentateuchs verbindet den Begriff /rX mit dem ‚Gott der Väter‘, während die prophetische Lehre, auf die sich Maimonides im ganzen Sefer ha-Madda> bezieht, den Begriff /rX mit dem ‚Gott aller Völker‘ in Verbindung bringt: Das Versprechen Gottes hat eine universalistische und überempirische Bedeutung, die als solche übernational ist und gar nicht politisch-geographisch orientiert. Die Universalität des göttlichen Versprechens richtet sich auf das Leben, das alle Gerechten der Erde im >olam ha-ba genießen, nachdem sie die Gerechtigkeit in der Welt verwirklicht haben. /rX als Inhalt des Versprechens Gottes ist also das >olam ha-ba, nicht Kanaan. Salopp gesagt: Für Maimonides ist der Inhalt des göttlichen Versprechens kein Immobilienvertrag, der nur für ein bestimmtes Volk verbindlich ist. David Novak hat betont, dass Maimonides dem jüdischen Volk keinen besonderen ontologischen Status zugeschrieben hat, und hier liegt der Hauptunterschied zwischen ihm und Jehuda Ha-Lewi: „For Maimonides, the difference between the Torah and the Jewish people on the one hand and the rest of creation – especially created humanity – on the other hand is one of degree, not one of kind.“212 Die Auserwähltheit Israels ist ein Akt des 212 David Novak, The Election of Israel. The idea of the Chosen People, Cambridge (Mass.) 19962, S. 225. Siehe auch: Menachem Kellner, Maimonides on Judaism and the Jewish People, Albany (N.Y.) 1991, S. 81ff.
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göttlichen Willens, in dem der Mensch keine Rolle spielt. Unter theologischem Blickwinkel ist also die Offenbarung bei Maimonides viel wichtiger als die Auserwähltheit Israels, weil die Offenbarung das Angebot eines Bundes ist, welches der Mensch durch seinen freien Willen annehmen bzw. ablehnen kann. Der Vorrang des freien Willens des Menschen würde demnach Maimonides’ ‚theologische Präferenz‘ für die Offenbarung gegenüber der Auserwähltheit Israels erklären. Der Schluss von Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Bestimmung derjenigen Kategorien von Menschen, die, weil sie zutiefst bösartig und sinnlos waren (,tXuxv ,i>r ldvg ), nicht nur vom >olam ha-ba ausgeschlossen werden, sondern sterben und für immer (die sprachliche Betonung dieses zeitlichen Zustandes ist beeindruckend: ,ymlvi ymlvilv ,lvil ) verurteilt bleiben. An dieser Stelle möchte ich keine juristische oder theologische Untersuchung der von Maimonides angeführten Kategorien vornehmen (wer sind die Ketzer? Wer sind die Apostaten?)213, sondern noch einmal die Koexistenz einer individuellen und einer gemeinschaftlichen Dimension in Maimonides’ Denken unterstreichen. Unter den zehn Kategorien von Menschen, die in Paragraph 6 des dritten Kapitels aufgeführt sind214, beziehen sich drei auf Menschen, die sich eines Vergehens gegenüber der Gemeinde schuldig gemacht haben; diese werden ausführlich in den Paragraphen 10, 11 und 13 beschrieben: a) wer eine Gemeinde zu Sünden verführt, b) wer sich von den Regeln der Gemeinde ausschließt, und schliesslich c) wer eine Gemeinde um eines religiösen Zwecks willen erschreckt. In Fall a) spielt der Unterschied zwischen schweren und leichten Sünden, mit dem sich Maimonides zuvor beschäftigt hat,215 keine Rolle mehr: Wer eine Gemeinde zu irgendeiner Sünde verführt, von der Suspendierung des Gehorsams gegenüber einem positiven Gebot (einer leichten Übertretung) bis zur Idolatrie (der schwersten aller Übertretungen), wird nicht am >olam ha-ba teilhaben. Ebenso führen die Sünden derjenigen Menschen, die ihre bösen Taten mit Hochmut tun und sich ihrer nicht schämen216, unabhängig von deren Schweregrad zum Ausschluss vom >olam ha-ba. Die zentrale Rolle der Gemeinde im (sowohl empirischen als auch überempirischen) Leben des Individuums wird vor allem in Fall b) betont. 213 Die Forschung hat sich bereits mit diesem Thema beschäftigt. Cfr. bes.: Raymond L. Weiss, Maimonides’ Ethics. The Encounter of Philosophic and Religious Morality, Chicago/London 1991. 214 Da jede Kategorie im Laufe des Kapitels in Unterkategorien aufgeteilt wird, erwähnt Maimonides insgesamt 24 Klassen von Sündern, die vom >olam ha-ba ausgeschlossen bleiben. 215 Dieser Unterschied spielt eine zentrale Rolle auch in der islamischen Theologie, in der die leichtesten Sünden nur sündige Gedanken sind, während die schwerste Sünde die Leugnung der Einzigkeit Gottes ist. Vgl.: Siegfried Riedel, Sünde und Versöhnung in Koran und Bibel, Erlangen 1987, S. 13. 216 Sefer ha-Madda> 85a.
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Der Ausschluss vom >olam ha-ba betrifft jeden Menschen, der sich von der Gemeinde absondert, auch wenn er keine Sünde gegen die Gemeinde begeht. Eine solche Absonderung bedeutet für Maimonides Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Gemeinde und einen Bruch des Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Wer sich von der Gemeinde absondert, macht sich somit den goyyim gleich, weshalb diese Tat die höchste Strafe zur Folge hat, auch wenn der Mensch, der sich von seiner Gemeinde isoliert hat, ihr keinen Schaden verursacht hat. Die empirische Beziehung zur Gemeinde wird also entscheidend für das Schicksal des Menschen im Jenseits. Gemäß c) gehören auch die Menschen, die einer Gemeinde Furcht einjagen, zu dieser Kategorie von Menschen, die nicht am >olam ha-ba teilhaben werden. Als Menschen, die eine Gemeinde erschrecken, bezeichnet Maimonides nicht diejenigen Führer, welche in der Gemeinde die Furcht Gottes durch die Aufmerksamkeit auf das Gesetz wachhalten, sondern diejenigen, deren Ziel allein die Furcht in der Gemeinde ist, „ihr Ziel ist, wie das des heidnischen Königs, die Vermehrung ihres Ruhmes und ihrer Interessen und nicht die Beförderung des Ruhmes Gottes.“217 Diesen Führern geht es nicht nur um die eigenen Vorteile, die sie als Leiter einer Gemeinde erringen können (mit anderen Worten: Sie verwechseln private und kollektive Interessen), sondern sie verlangen auch eine Verehrung, die nur Gott entgegengebracht werden darf. Sie verwechseln – ebenso wie die heidnischen Könige – ihre politische Führung mit derjenigen Gottes und machen die Gemeinde zu einem Instrument für die Verwirklichung ihrer eigenen Zwecke. Diesen drei ‚gemeinschaftlichen Kategorien‘ widmet Maimonides eine ausführliche Beschreibung, ebenso den ‚individuellen Kategorien‘ der Ketzer, der Apostaten und der Häretiker; von deren Verhältnis zur Gemeinde ist aber am Schluss des dritten Kapitels nicht die Rede. Von allen vierundzwanzig Kategorien, die Maimonides insgesamt anführt, wird gesagt: „All diese vierundzwanzig Klassen, die wir aufgezählt haben, haben selbst wenn sie Israeliten sind, keinen Anteil an der kommenden Welt. […]. Wenn es heißt, dass jemand der eine dieser Sünden begeht, keinen Anteil an der kommenden Welt hat, ist diese Aussage nur als auf den Sünder zutreffend zu verstehen, der reuelos stirbt. Wenn er jedoch Reue für seine Schlechtigkeit empfunden hat und während er bereute starb, ist er unter jenen, die einen Anteil an der kommenden Welt haben; denn es gibt nichts, das im Weg der Reue steht.“218
Der Schluss des dritten Kapitels macht uns darauf aufmerksam, dass diese Kategorien von sündigen Menschen, nicht von sündigen Israeliten sind, weshalb Maimonides präzisiert, dass diese Sünder „selbst wenn sie Israeliten sind“ vom >olam ha-ba ausgeschlossen werden. Zum Volk des Bundes zu 217 Ibidem. 218 Sefer ha-Madda> 85a–85b.
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gehören, garantiert nicht die Rettung im Jenseits: Diese resultiert aus dem Willen des Menschen, nicht aus einer willkürlichen und unerforschlichen Entscheidung Gottes, weswegen der Traktat Sanhedrin uns daran erinnert, dass „es nichts gibt, das im Weg der Reue steht“. Der menschliche Wille kann und muss ausgeübt werden, damit der Mensch fähig bleibt, nach der Reue zu suchen, weil eigentlich nur ein unwilliger Mensch vom >olam ha-ba ausgeschlossen werden kann, oder präziser: Der Mensch, dem der Wille zur Umkehr fehlt, schließt sich selbst vom >olam ha-ba aus. Am Schluss des dritten Kapitels betont Maimonides noch einmal die Macht des menschlichen Willens als einzigen Weg zu Reue und Rettung: „Selbst wenn eine Person während ihres Lebens das grundlegende Prinzip [rqyi ] der Religion verleugnet hat und am Ende bereute, wird er einen Anteil an der kommenden Welt haben. […] Alle schlechten Personen, Sünder, Apostaten und dergleichen, die entweder heimlich oder öffentlich reumütig werden, werden akzeptiert […]. Selbst wenn jemand noch ein Abtrünniger ist – weil er nur heimlich und nicht öffentlich umkehrt – wird er akzeptiert, wenn er bereut.“219 Die Neubestimmung des Willens durch den Sünder ist wichtiger als die Form, in der die Reue sich äußert, und keine Sünde, nicht einmal die Ablehnung der Grundlagen des Glaubens, macht diese Neubestimmung unmöglich. Im vierten Kapitel wird dieses Verhältnis von menschlichem Willen, Reue und Sünden gegenüber der Gemeinde behandelt. Der Anfang dieses Kapitels könnte als deutlicher Widerspruch zum Schluss des dritten Kapitels erscheinen, da Maimonides 24 Handlungen erwähnt, welche die Reue verhindern, darunter vier, für die „der Heilige, gesegnet sei er, ihm [dem Sünder] nicht die Möglichkeit der Reue gibt, weil seine Sünde so ungeheuerlich ist“.220 Bevor diese ‚Unmöglichkeit der Reue‘ als Gottesakt genauer untersucht wird, um festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine strikte Unmöglichkeit handelt, sollte man erstens analysieren, worauf sich die „Ungeheuerlichkeit“ dieser Sünden bezieht. Auch in diesem Fall spielt die gemeinschaftliche Dimension der Sünde eine zentrale Rolle. Eigentlich beziehen sich drei der vier genannten Übertretungen auf das Handeln des Menschen als Mitglied eines Kollektivs: a) Wer eine Gemeinde zur Sünde bzw. zur Nichterfüllung einer religiösen Aufgabe führt; b) wer den Nächsten vom richtigen zum falschen Weg führt; c) wer seine Funktion als Wächter bzw. Verantwortlicher eines anderen Menschen (bzw. als Vater bzw. Leiter einer Gemeinde) nicht erfüllt. In allen diesen Fällen bewegt sich die Verantwortung des Sünders in eine doppelte Richtung: Einerseits spielt der Sünder die aktive Rolle, seinen Nächsten zum falschen Handeln zu bewegen, andererseits spielt er die pas219 Sefer ha-Madda> 85b. 220 Ibidem.
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sive Rolle, das falsche Handeln des Nächsten nicht zu korrigieren. Nur die letzte Kategorie von Sündern betrifft die individuelle Sphäre des menschlichen Handelns und bezieht sich auf diejenigen Menschen, welche die Reue als Ausrede für weitere Sünden benutzen: „4) derjenige, der sagt, ‚Ich werde sündigen und dann bereuen‘. In dieser Kategorie ist derjenige inbegriffen, der sagt, ‚Ich werde sündigen und der Versöhnungstag garantiert meine Vergebung‘.“221 Die Vergebung kann nicht von einem äußerlichen Mittel garantiert werden; darüber hinaus hat Maimonides im zweiten Kapitel bereits gezeigt, dass der Yom Kippur nur zugunsten der gemeinschaftlichen Verantwortung wirkt. Für die eigenen Sünden ist jeder selbst verantwortlich; der Sünder muss sich seiner Sünden bewusst werden und sich dafür entscheiden, sie niemals wieder zu wiederholen. Nur in diesem Fall kann von ‚vollkommener Reue‘222 die Rede sein. Im zweiten Paragraphen erwähnt Maimonides noch fünf Vergehen, die, obwohl sie nicht als so gravierend wie die vier im ersten Paragraphen beschrieben werden, ein Hindernis (wenngleich kein unüberwindliches Hindernis) für die Reue sind. Darunter sind drei Vergehen gegen die Gemeinde bzw. gegen eine bestimmte Gruppe der Gemeinde: „1) Derjenige, der sich von der Gemeinde absondert, weil er nicht mit ihnen sein wird, wenn sie bereuen und deshalb keinen Anteil an dem Verdienst haben wird, welches sie erwerben; 2) derjenige, der sich den Aussagen der Weisen widersetzt; denn sein Widerstand führt ihn dazu, sich von ihnen abzusondern, und folglich bleibt er unwissend hinsichtlich der Wege der Reue; […] 4) derjenige, der seine Lehrer verachtet.“223
Obwohl der Yom Kippur nicht an sich als Instrument für die Rettung anzusehen ist, hat dieses Fest die Funktion, die gesamte Gemeinde als reuig Gott gegenüber zu zeigen. Wer an diesem kollektiven Schuldeingeständnis nicht teilnimmt, nimmt deshalb auch nicht an den Verdiensten teil, die aus diesem kollektiven Akt entstehen. Die Opposition gegen die Sprüche der Weisen verursacht genauso der Ausschluss von den Wegen zur Reue, da man sich nur durch die Erkenntnis seiner Sünden bewusst werden kann. Auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Lehrern, die nicht aus dem Wunsch nach einer Vertiefung der eigenen Kenntnisse resultiert, sondern aus einer Form von Arroganz, schließt den Menschen von der Erkenntnis seiner Sünden aus, nämlich von der Erkenntnis des Guten und Bösen als dem wichtigsten Ziel des Studiums.224 221 Ibidem. An dieser Stelle verbirgt sich vielleicht eine Polemik gegen die christliche Absolution, obwohl es schwierig ist, zu beurteilen, über welche Kenntnisse der christlichen bzw. der koptischen Theologie Maimonides verfügte und welche Kenntnisse er darüber während seiner Reisen und dann während seines Aufenthalts in Ägypten sammeln konnte. 222 Sefer ha-Madda> 82b. 223 Sefer ha-Madda> 85b. 224 Hier findet sich komprimiert die ganze Lehre der Hilkhot Talmud Torah.
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Wenngleich sich auch die letzte Kategorie, die in diesem Paragraphen erwähnt wird, auf die individuelle Sphäre des Sünders bezieht, wird sie am Schluss mit der kollektiven Dimension des Tadels verbunden, genauso wie die individuelle Dimension der Sünde am Ende des zweiten Kapitels mit der gemeinschaftlichen Funktion des Yom Kippur in Verbindung gebracht wird. Wie der einzelne Sünder, so muss ganz Israel nach der Lehre der Propheten getadelt werden, bis es zur Reue bereit ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass jede Gemeinde von einem Leiter geführt wird, der durch seine Kenntnisse und seine Persönlichkeit den Weg zur Reue zeigen kann: „Deshalb ist es notwendig, in jeder Gemeinde einen großen Gelehrten zu bestimmen, der schon im Alter fortgeschritten, von Jugend an gottesfürchtig und von den Menschen geliebt ist, um die Menge zurechtzuweisen und sie zur Reue zu bringen. Aber derjenige, der Zurechtweisung hasst, wird weder zum Ermahnenden gehen noch seine Worte hören, und wird deshalb auf seinen Sünden beharren, welche ihm in seinen Augen gut erscheinen.“225
Die menschlichen Eigenschaften und das Wissen des Leiters garantieren nicht automatisch die Rettung des Einzelnen: Der Leiter hat die Aufgabe, für alle sozialen, religiösen und politischen Bedingungen zu sorgen, die nötig sind, um den Weg zur Reue zu finden, aber jedes einzelne Mitglied ist bei der Wahl dieses Weges für sich selbst verantwortlich: Niemand kann zur Reue gezwungen bzw. zur Kenntnis des richtigen Wegs überredet werden. Auch in diesem Fall spielt der Wille des Einzelnen eine zentrale Rolle bei der Entscheidung, ob die Vorteile des gemeinschaftlichen Lebens genossen oder abgelehnt werden. Die gemeinschaftliche Dimension der Reue ist auch im dritten Paragraphen von vorrangiger Bedeutung. Maimonides erwähnt dort fünf Vergehen, welche die ‚vollkommene Reue‘ verhindern. Da die Reue nur vollkommen ist, wenn der Sünder den Schaden durch sein Handeln wiedergutmachen kann, ist es unmöglich, vollkommen zu bereuen, wenn man nicht weiß, wer durch die Sünde geschädigt wurde bzw. wer um Vergebung zu bitten ist. Aus diesem Grund ist die erste dieser Sünden, welche die ‚vollkommene Reue‘ verhindern, die Sünde gegen die Gemeinschaft: „Die Sünder dieser Kategorie sind die Folgenden: 1) Derjenige, der eine Menge verflucht und nicht ein Individuum, das er um Vergebung bitten könnte.“226 Ein Kollektiv kann zwar gemeinschaftlich sündigen, kann aber nicht gemeinschaftlich vergeben. Die Vergebung ist ein individueller Akt, der die Entscheidung des geschädigten Menschen voraussetzt, damit der Sünder weiß, gegenüber welchem Menschen und in welcher Form er für seine Sünde eine Wiedergutmachung leisten kann. 225 Sefer ha-Madda> 86a. 226 Sefer ha-Madda> 86a.
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Hinsichtlich der Möglichkeit, die eigenen Sünden wiedergutzumachen und vollkommen zu bereuen, scheint der Schluss des vierten Kapitels in deutlichem Widerspruch zu dessen Anfang zu stehen. Während Maimonides im ersten Paragraphen des vierten Kapitels schreibt, dass Gott bezüglich vier Vergehen keine Möglichkeit einräumt, zu bereuen, liest man im letzten Paragraphen: „Alle oben aufgelisteten und ihnen ähnliche Vergehen verhindern Reue nicht, wenngleich sie diese erschweren (,yrbdh vlX lk hbv>th tX ]yinvm ]nyX hbv>th tX ]ybkim> p ´´ iX ]hb Xjvykv ). Wenn eine Person sie bereut, wird er als reumütig akzeptiert und hat einen Anteil an der kommenden Welt.“227 Handelt es sich hier tatsächlich um einen Widerspruch, oder bezieht Maimonides sich auf zwei unterschiedliche Perspektiven desselben Problems? Meines Erachtens entsteht der Widerspruch aufgrund der Ungenauigkeit der Übersetzung, nicht aber aus einer inkonsistenten Argumentation von Maimonides. Im ersten Paragraphen des vierten Kapitels steht, dass hbv>t tv>il vdyb qypcm h ´´ bqh ]yX , wörtlich übersetzt: „Gott gibt nicht genug in die Hand des Sünders, um die hbv>t [teshuvah] zu machen“; Hyamson übersetzt: „the Holy One, blessed be He, does not give him [dem Sünder] an opportunity to repent“. Diese Behauptung würde sowohl die Lehre des menschlichen Willens annullieren als auch den Anfang und den Schluss des vierten Kapitels einander radikal entgegensetzen. Darüber hinaus verstärkt die Übersetzung von Hyamson den negativen Aufbau des Satzes, obwohl es sich auf Hebräisch nicht um eine absolute Negation handelt. Im Fall einer der fünf schwersten Sünden (darunter vier, wie ich bereits betont habe, gegen die Gemeinde bzw. die gemeinschaftliche Dimension des Lebens) ist die bloße Vergebungsbereitschaft Gottes für Maimonides nicht ausreichend, um zu bereuen. Der Sünder soll an sich selbst streng arbeiten und sich gegenüber dem Verletzten große Mühe geben, um von einer dieser Sünden befreit zu werden. Da es nicht möglich ist, von einem Kollektiv Vergebung zu erlangen, kann eine solche Reue trotz der Mühe des Sünders nur ‚Reue im Allgemeinen‘, aber keine ‚vollkommene Reue‘ sein. In diesem Sinne hat Gott nicht ‚genug in die Hand‘ des Menschen gegeben, dass er zu vollkommener Reue gelangen könnte. Das bedeutet aber nicht, wie die Übersetzung von Hyamson fälschlicherweise suggeriert, dass eine bestimmte Kategorie von Sündern trotz ihres ernsthaften Willens keine ‚Möglichkeit zur Reue‘ hätte. Von ihnen erwartet man mehr Bemühen als von anderen Sündern, aber die Möglichkeit zur Reue, und somit zur Rettung durch den Einsatz des eigenen Willens (auf Hebräisch tv>r, reshut), steht allen offen.228 227 Sefer ha-Madda> 86b. Hervorhebung von F. Y. A. 228 David Shatz hat dieses Problem hinsichtlich der Verhärtung des Herzens des Pharao bei Maimonides und Albo untersucht: ders., Freedom, Repentance and Hardening of the Hearts, op. cit.
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5.3 Das Problem des freien Willens in Bezug auf die mittelalterliche islamische Debatte und seine gemeinschaftliche Dimension in Hilkhot Teshuvah Dass Maimonides so stark den menschlichen Willen in den Mittelpunkt stellte, darin kommt, wie ich bereits in der Untersuchung des Pereq Heleq gezeigt habe, die zentrale Rolle dieses Themas im Rahmen der mu>tazilitischen und ash>aritischen Theologien zum Ausdruck; beide Richtungen fragten, ob und wie die Freiheit des menschlichen Handelns mit der göttlichen Allmacht bzw. Gerechtigkeit zu vereinbaren wäre. Für die Ash>ariten erscheint keine andere Lösung denkbar als die Leugnung des freien menschlichen Willens, welcher eine zweite schöpferische Kraft im Kosmos implizieren würde; den Mu>taziliten ging es nicht um eine dogmatische Darstellung ihrer Positionen, um die theologisch-ontologischen Probleme hinsichtlich der Natur und des Wirkens Gottes aufzuzeigen, sondern um ein ‚rationales Handbuch‘ für das Verhalten des Menschen in der Gemeinde und für die Begründung seines Glaubens. Das bedeutet, dass die Mu>taziliten unter ethischem und theologischem Blickwinkel keine befriedigende Antwort auf die Spannung zwischen dem freien menschlichen Willen und der Allmacht Gottes geben. Sie sind der Meinung, dass Gott seine Macht an vermittelnde Ursachen (den freien Willen des Menschen eingeschlossen) delegiert.229 Sie unterscheiden zwischen der Ordnung der Erkenntnis und der Ordnung der Kausalität; aber das löst nicht das Problem der Koexistenz von mehreren schöpferischen Ursachen (Gottes und des Menschen) im Kosmos. Das fünfte Kapitel der Hilkhot Teshuvah ist vor dem Hintergrund der islamischen Argumentation zu sehen, die an beiden Dimensionen des menschlichen Handelns festhalten will, nämlich an der These eines doppelten Ursprungs dieses Handelns, das einerseits von Gott gesetzt ist, andererseits aber vom Menschen verwirklicht wird. Die Forschung hat sich bislang hauptsächlich auf Aristoteles’ Einfluss auf Maimonides’ Konzeption des menschlichen Willens konzentriert230: 229 An dieser Stelle habe ich leider nicht die Möglichkeit, ein Element zu untersuchen, das mit Maimonides’ wissenschaftlichem Weltbild eng verbunden ist, und zwar die Natur des Zufalls und den Platz von souveränen, willkürlichen Akten in der sublunaren Welt. Man sollte nämlich noch stärker die Tatsache betonen, dass Maimonides gerade in seinem Aristotelischen ‚deterministischen‘ philosophischen Werk ein radikales Konzept der Freiheit entwickelt. 230 Vgl. im besonderen: Arthur Hyman, Aspects of the Medieval Jewish and Islamic Discussion of ‚Free Choice‘, op. cit.; Josef Stern, Maimonides’ Conception of Freedom and the Sense of Shame, in: Charles H. Manekin/Menachem M. Kellner, Freedom and Moral Responsibility, op. cit., S. 217–266; David Shatz, Freedom, Repentance and Hardening of the Hearts: Albo vs. Maimonides, in: Faith and Philosophy. Journal of the Society of Christian Philosophers, vol. 14, n. 4 (1997), S. 478–509; Jerome Gellman, Freedom and Determinism in Maimonides’ Philosophy, in: Eric L. Ormsby (Hrsg.), Moses Maimonides and His Time, Washington 1989, S. 123–144; Alexander Altmann, The Religion of the Thinkers: Free Will and Predestination
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Obwohl die Lehre der Nikomachischen Ethik zweifellos bei Maimonides präsent ist, möchte ich hier vielmehr zeigen, welche Antwort Maimonides auf die islamische Stellungnahme zu dieser aristotelischen und theologischen Problematik gibt. Arthur Hyman spricht hinsichtlich dieser Problematik lieber von ‚freier Wahl‘ („free choice“) statt von ‚freiem Willen‘ („free will“)231, weil sowohl die islamischen als auch die jüdischen Denker (und Maimonides in den Hilkhot Teshuvah im Besonderen) mehr am Akt des Wählens denn am Vermögen oder den Fähigkeiten der Seele interessiert sind, welche die Willensakte ermöglichen. Josef Stern hingegen ist der Meinung, dass es unpräzise wäre, reshut als „freien Willen“ bzw. als „freie Wahl“ zu übersetzen, da es Maimonides um die Frage geht, was den Menschen bestimmt, seine Entscheidung zu treffen, bzw. was seinen Willen bestimmt, darum nämlich, ob der wirkende Mensch tatsächlich frei ist, zu entscheiden bzw. auszuwählen.232 ‚Selbstbestimmung‘ ist für Josef Stern die Hauptbedeutung des Wortes reshut im fünften Kapitel der Hilkhot Teshuvah, weil der Mensch nur dann für verantwortlich gehalten werden kann, wenn er reshut hat. Eigentlich ist diese Interpretation analog der Rolle, die Aristoteles dem willentlichen Handeln zuschreibt, weil die ersten zwei Bedingungen des willentlichen Handelns bei Aristoteles identisch mit denen der reshut sind: Die Handlung darf nicht von außen erzwungen werden, und die arché der Handlung muss innerhalb des wirkenden Subjektes liegen.233 Aristoteles fügt eine dritte Bedingung hinzu: Das willentliche Handeln darf nicht aus Unwissenheit erfolgen. Wenngleich Maimonides diese dritte Bedingung nicht explizit erwähnt, steht sie in Verbindung mit den Grundlagen des gesamten Sefer ha-Madda>. Zunächst ist die Ignoranz gemäß der Halakhah keine hinreichende Entschuldigung für die begangene Handlung. Ein Mensch ist nämlich auch für Handlungen juristisch verantwortlich, die er aus Unwissenheit vollbracht hat (selbstverständlich ist die Übertretung aus Unwissenheit – be-shogeg – nicht so ernst wie die Übertretung, die man mit vollständiger Kenntnis und in vollem Selbstbewusstsein – be-meizid – begangen hat234). Für die Halak-
231 232 233 234
in Saadia, Bahya, and Maimonides, in: Shelomo Dov Goitein (Hrsg.), Religion in a Religious Age, Cambridge (Mass.) 1974, S. 25–51; Norbert Samuelson, The Problem of Free Will in Maimonides, Gersonides, and Aquinas, in: Central Conference American Rabbis Journal, vol. XVII, n. 1 (1970), S. 2–20; Shlomo Pines, Notes on Maimonides’ Views concerning Free Will, Exkurs zu: Studies in Abul-Barakât Al-Baghd1adi’s Poetics and Metaphysics, in: Scripta Hierosolymitana: Studies in Philosophy 6 (1960), S. 35–52. Arthur Hyman, Aspects of the Medieval Jewish and Medieval Discussion of ‚Free Choice‘, op. cit., S. 133. Josef Stern, Maimonides’ Conceptions of Freedom, op. cit., S. 234. Aristoteles, Nikomachische Ethik, III,1. Im Tempelkult werden absichtliche Übertretungen mit dem Tod bestraft, während dieselben Übertretungen, die man aus Unwissenheit begangen hat, nur das Opfer eines Tiers erfordern.
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hah wie für Aristoteles235 ist ein Mensch auch für die eigene Unwissenheit verantwortlich. Maimonides würde dieser Auffassung zustimmen, wie seine Stellungnahme zur Kenntnis des Gesetzes erkennen lässt. Die reshut als Kraft zur willentlichen Handlung bedeutet, dass die inneren Motivationen zur Handlung verursacht werden können, aber in sich selbst sind sie nicht erzwungen. Für Maimonides hat ein wirkendes Subjekt die Kraft, sich für das Gute bzw. für Böse zu entscheiden: Ein Mensch wirkt aus freiem Willen, wenn er die Möglichkeit hat, sich für das Gegenteil zu entscheiden – ebenso wie die Lehre der ‚vollkommenen Reue‘ besagt, dass nur der Mensch, der die Kraft, die Freiheit und die Möglichkeit hat, die Sünde zu wiederholen, es aber gleichwohl nicht tut, vollkommen bereut. Josef Stern schreibt diesbezüglich: „For an agent to act in his own reshut […], his act must not only be voluntary; it must also ‚depend‘ on him in that his own willing and desiring must be ‚up to him‘ and not themselves be necessitated or determined by something external to his self. But again, […] this requirement of agent-dependence or ‚being up to the agent‘ need not deny that his willing or desiring is caused, for an act or desire can depend on its agent without fully depending on him. […] To summarize, Maimonides’ […] notion of reshut is a notion of self-determining action, free of all external constraints, in which the human agent, through is deliberative rational judgment, acts as and because he so desires or wills.“236
Auch diese Interpretation der reshut als „self-determination“ bietet noch keine Lösung für das Problem der Vereinbarkeit der Allmacht bzw. Gerechtigkeit Gottes mit dem freien Willen des Menschen, das, ausgehend von der damaligen islamischen Debatte, das zentrale Thema des fünften Kapitels der Hilkhot Teshuvah ist. Natürlich spielt auch der Aristotelische Begriff des willentlichen Handelns eine wichtige Rolle, wobei aber dieser Begriff in der Nikomachischen Ethik weder mit der Lehre der Prädestination verbunden ist (diese kommt in der Aristotelischen Philosophie praktisch nicht vor) noch mit der Gerechtigkeit des Ersten Bewegers. Im fünften Kapitel der Hilkhot Teshuvah bewahrt Maimonides beide Dimensionen durch eine theologische Lösung, die zugleich deterministisch und am freien Willen orientiert ist: Gott hat alle Menschen dazu bestimmt, zu wählen, „durch den Gebrauch seines eigenen Intellektes und seiner Vernunft“ [vtb>xmbv vtidb ]“237 was gut und was böse ist, und gerade der Universalismus einer solchen Bestimmung (238,dX lk tv>r ) belegt die Gerechtigkeit Gottes.
235 236 237 238
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 3.5, 1113b.30–1114a.30. Josef Stern, Maimonides’ Conceptions of Freedom, op. cit., S. 237ff. Sefer ha-Madda> 86b. Sefer ha-Madda> 86b.
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Ich bin nicht mit der traditionellen Interpretation derer (Arthur Hyman, Alexander Altmann, Shlomo Pines u.a.239) einverstanden, die meinen, Maimonides sei in den aufs Gesetz bezogenen Werken nur am freien Willen orientiert und im Moreh ha-Nevukhim nur deterministisch. In den Hilkhot Teshuvah spiegelt sich der Aristotelische Determinismus in dem Standpunkt, dass Gott keinen Menschen der Freiheit seines Willens enthebt, dass somit kein Mensch frei ist, auf seine Willensfreiheit zu verzichten: Eine solche paradoxe ‚deterministische Willensfreiheit‘ kristallisiert sich als Maimonides’ Antwort auf die islamisch-aristotelische Debatte seiner Zeit heraus, um an der Freiheit des Menschen und zugleich an der Gerechtigkeit Gottes festhalten zu können. Die ‚Auserwähltheit‘ aller Menschen liegt darin, dass Gott unter allen Geschöpfen allein dem Menschen eine solche ‚deterministische Willensfreiheit‘ gegeben hat. Ein solcher Determinismus bedeutet nicht, dass Gott für die jeweiligen Anfänge der individuellen menschlichen Existenz festgelegt hat, wer gerecht und wer ungerecht sein wird, er bedeutet vielmehr, dass jeder Mensch (240,dXv ,dX lk ) sein Leben entweder auf das Gute oder auf das Böse hin ausrichtet. Gott bestraft und lobt nicht aus Willkür, sondern der Mensch ist derjenige, der seine Strafe oder seine Belohnung selbst zu verantworten hat. Aus diesem Grund hat Gott in seiner Gerechtigkeit dem Menschen auch die Möglichkeit und die Kraft zur Reue gegeben: „Da die Freiheit der Handlung in unseren Händen liegt und wir aus freiem Willen all diese Übel begangen haben, ist es erforderlich, dass wir zu einem Geist der Reue zurückkehren und unsere Schlechtigkeit aufgeben, denn wir haben es in der Hand [vndyb hti ], dies zu tun.“241 Die Reue ist in potentia eine Gabe Gottes, aber in actu kann sie nur von uns kommen. Die ‚Reue in potentia‘ wie die ‚deterministische Willensfreiheit‘ sind die Grundlagen der Gerechtigkeit Gottes, die ihrerseits „die Stütze des Gesetzes und der Gebote“242 ist. Ohne die Begründung der Gerechtigkeit Gottes hinsichtlich des menschlichen Handelns hätte das gesamte Gesetz mit seinen Vorschriften keinen Anhaltspunkt mehr: Welchen Sinn hätte es, das Gesetz und die aus ihm folgenden Vorschriften zu respektieren, wenn Gott von Anfang an beschlossen hätte, dass einige Menschen zum Bösen und andere zum Guten bestimmt sind? Diese Begründung der Gerechtigkeit Gottes lässt aber noch Raum für eine weitere Frage, mit der sich bereits die Mu>taziliten und die Ash>ariten 239 Um die unterschiedlichen Nuancierungen innerhalb der Interpretationen von Pines und Altmann genauer zu betrachten, siehe u.a.: Jerome Gellman, Freedom and Determinism in Maimonides’ Philosophy, op. cit., S. 145. Vgl. auch: J. Du Preez, Indications of ‚sola gratia‘ in Judaism and Islam, in: Journal for the Study of Religion 2,1 (1989), S. 3–13. 240 Sefer ha-Madda’ 87a. 241 Ibidem. 242 Ibidem.
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beschäftigt haben, die Frage nämlich, wie es möglich ist, dass etwas in der Schöpfung passiert, das Gott nicht vorhergesehen hat, und wie es möglich ist, dass der Mensch Urheber seines Handelns (und somit der Rettung bzw. der Verwerfung) ist. Israel Kitover, ein Kommentator von Sa>adyah Gaon aus dem 19. Jahrhundert, bietet ein Beispiel an, um dieser Schwierigkeit gerecht zu werden: „Imagine a person standing on a mountain who observes people passing before him (in a valley). Some of the people whom he observes have passed (a certain point), others are passing it, and still others shall pass it at a future time. The observer sees all the passersby at one time, but he does not determine their temporally sequential motion in any way. In language somewhat more philosophical than that used by Saadiah – to foreknow something does not change the volitional character of that action. God’s foreknowledge of which of two or more alternatives a person will choose does not change an action from one that is voluntary to one that is compelled.“243 Genau betrachtet ist Maimonides’ Antwort nicht weit von der Sa>adyahs entfernt: „Kann irgendetwas in der Welt ohne den Willen und das Wohlgefallen des Herrn getan werden? […] Wisse denn, dass unsere Handlungen in unserer Macht stehen. Wie denn? Ebenso wie es dem Schöpfer beliebte, dass Feuer und Luft emporsteigen, Erde und Wasser herabsteigen und das die Sphären sich im Kreis drehen und alle anderen Dinge des Universums in ihrer spezifischen Art und Weise bestehen sollen, die er begehrte, so beliebte es ihm, dass der Mensch [,dX ] Willensfreiheit haben sollte, und dass all seine Handlungen seinem Ermessen überlassen sind; dass ihn nicht zwingen oder zu irgendetwas bewegen sollte, sondern dass er selbst und unter Verwendung seines eigenen Verstandes, den Gott ihm gegeben hat, tun sollte, was immer in der Macht eines Menschen zu tun steht.“244
Wie bereits im zweiten Kapitel der Hilkhot Yessode ha-Torah betont, ist auch hier kein Vergleich zwischen der menschlichen und der göttlichen Erkenntnis möglich: Der Mensch erkennt nicht, wie Gott erkennt, weshalb er nicht die Möglichkeit hat, vollständig zu verstehen, dass Gott in seinem Wissen allmächtig bleibt, obwohl der Mensch sich freiwillig für das Gute bzw. für das Böse entscheiden kann. Der Mensch hat nicht die Fähigkeit, zu wissen, auf welche Weise Gott das Handeln seiner Geschöpfe kennt. Gleichwohl steht für Maimonides die Freiheit des Menschen nicht nur außerhalb jeden Zweifels (245,dXh dyb ,dXh h>im> qpc Xlb idvn lbX ); er ergänzt zudem, dass diese Gewissheit nicht nur aus der religiösen Tradition resultiert, sondern auch aus den Beweisen der Wissenschaft (tdh ).246 Maimonides fügt keine weitere Erklärung darüber hinzu, was er unter ‚Bewei243 244 245 246
Zitat aus: Arthur Hyman, The Medieval Discussion of ‚Free Choice‘, op. cit., S. 138. Sefer ha-Madda> 87b. Ibidem. Ibidem.
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sen der Wissenschaft‘ hinsichtlich des freien menschlichen Willens versteht, aber er scheint damit unterstreichen zu wollen, dass man für diese Gewissheit auch über empirische, und nicht nur überempirische, Grundlagen verfügt, die sich auf das konkrete Handeln der Menschen im >olam ha-zeh beziehen. Diese empirischen (oder besser: nicht-religiösen) Beweise sind notwendig, um die Bibelstellen (vor allem im Pentateuch und bei den Propheten) zu erklären bzw. zu ergänzen, welche der fundamentalen Lehre des freien menschlichen Willens zu widersprechen scheinen, eine Lehre, die auch eines der Hauptthemen des Kapitels VI der Hilkhot Teshuvah ist. Nachdem Maimonides die Unmöglichkeit der Reue ausgeschlossen hat und den freien Willen des Menschen als Grundlage des Gesetzes bestimmt hat, damit Strafe und Belohnung nicht als willkürliche Akte Gottes erscheinen können, geht er in Kapitel 6 auf ein biblisch-theologisches Thema ein, das diesen zwei Bedingungen der Reue völlig zu widersprechen scheint: die Verhärtung des Herzens des Pharao (Ex. 7:3,5).247 Diese Episode hat für Maimonides eine exemplarische Bedeutung, die sich nicht auf das jüdische Volk beschränkt, wie auch die gesamten Ausführungen über die Reue und die Möglichkeit zur Reue an den Menschen an sich und nicht nur den Israeliten adressiert waren. Maimonides schreibt diesbezüglich: „Der Zweck [der Verhärtung von Pharaos Herzen] war die Belehrung der Bewohner der Welt, dass der Sünder nicht umkehren kann, wenn der Allmächtige ihm die Reue vorenthält, sondern in seiner Schlechtigkeit sterben wird, welche er ursprünglich aus eigenem Willen begangen hat.“248
Maimonides interpretiert die Verhärtung des Herzens des Pharao als ein Problem der Beraubung von Willensfreiheit, da Gott den Pharao durch die Verhärtung seines Herzens zur Vollbringung einer bösen Tat (das jüdische Volk zu misshandeln und eben nicht freizulassen) bestimmte. Der Pharao verfügte nicht mehr über den freien Willen, sich anders zu verhalten. Im Lichte der Hilkhot Teshuvah verursacht die Verhärtung drei Probleme: 1. Wenn Gott die Ursache des bösen Handelns des Pharao ist, wieso sollte man diesen als für seine Tat verantwortlich ansehen? 2. Wieso hat Gott ermöglicht, dass der Pharao nicht bereut, wenn Maimonides doch betont hat, dass die Möglichkeit zur Reue für alle existiert? 3. Wenn Gott dem Pharao die Möglichkeit einer guten Tat (die Freilassung des jüdischen Volks) genommen hat, hat Gott nicht seinerseits eine böse Tat begangen, die darüber hinaus weiteres Leiden unter Juden und Ägyptern verursachte?
247 Für eine Vertiefung dieser Problematik im biblischen Kontext siehe u.a.: Robert R. Wilson, The hardening’s of Pharaoh’s heart, in: Catholic Biblical Quarterly 41, 1 (1979), S. 18–36; G. Warschaver, ‚The Hardening of Pharaoh’s Heart‘ in the Bible and Qumranic Literature, in: Bulletin of the Institute of Jewish Studies 1 (1973), S. 1–12. 248 Sefer ha-Madda>, 88b.
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Diese drei Fragen wären legitim, wenn Gott das Herz des Pharao aus Willkür verhärtet hätte, aber Maimonides unterstreicht, dass die Verhärtung eine Konsequenz der schweren und wiederholten Sünden des Pharao ist, die er „aus eigenem Willen“ (vnvirb hlxtb ) beging. David Shatz schreibt hierzu: „He [Maimonides] asserts that God hardens the agent’s heart as a means of punishing him [den Pharao]. The agent is deprived of two great goods – (a) free will, along with (b) the potential to act rightly – and this is an evil for the hardened agent, quite apart from the augmentation of plagues. Removing free will is a perfectly just punishment for a person so depraved, an appropriate tit-for-tat. The agent hardened his own heart in the earlier plagues, contrary to God’s will, so now his heart becomes hardened by God, contrary to his own will. Further, he chose to do evil, so now his punishment (or part of it) is that he does evil.“249 Noch einmal ist der Mensch der für sein eigenes Schicksal Verantwortliche, und zwar soweit, dass der Pharao (und nicht Gott!) als Ursache der Verhärtung seines Herzens zu betrachten ist. In diesem Sinne ist die Verhärtung des Herzens die Weise Gottes, die Entscheidung des Pharao zu respektieren: Gott lässt den Pharao frei, sich für das Böse soweit zu entscheiden, dass diese Freiheit sich in ihr Gegenteil verwandelt – denn die Verhärtung des Herzens macht ja unmöglich, dass der Pharao die richtige Entscheidung (das jüdische Volk freizulassen) treffen kann. Maimonides hebt diese Interpretation der Herzensverhärtung als Konsequenz des menschlichen freien Willens und nicht als Konsequenz der Ungerechtigkeit Gottes sehr deutlich hervor: „Um es zusammenzufassen, Gott hat nicht verfügt, dass der Pharao Israel schlecht behandeln oder Sihon in seinem Land sündigen soll, oder dass die Kanaanäer Abscheulichkeiten begehen oder Israel Götzen anbeten soll. Alle sündigten aufgrund ihres eigenen Willens; und alle erhielten dementsprechend die Strafe, dass ihnen die Reue vorenthalten wurde.“250
Das Zurückhalten der Reue bedeutet somit das Zurückziehen der Erkenntnis, durch die der Mensch das Gute und das Böse unterscheidet: „Denn es ist charakteristisch für jeden Menschen, wenn er an den Wegen der Weisheit und Rechtschaffenheit interessiert ist, dass es ihn nach diesen Wegen verlangt und er sie unbedingt befolgen will.“251 Gott kann nur den Weg zeigen, aber die Ausrichtung eines solchen Wegs liegt ausschließlich in den Händen des Menschen. Maimonides betont, dass Gott keinen Einfluss auf die Entfaltung der Geschichte ausübt, nicht weil er das nicht vermag, sondern weil er zunächst die Freiheit des Menschen gewollt hat. Moses wurde nur gesagt, dass Israel rechte und unrechte Menschen haben wird, aber Gott hat nicht 249 David Shatz, Freedom, Repentance, Hardening of Hearts, op. cit., S. 491. 250 Sefer ha-Madda>, 88b. 251 Ibidem.
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im Voraus entschieden, wer zu welcher Kategorie gehören wird.252 Diese Grundlage, die Gott für das jüdische Volk festlegte, gilt auch für alle anderen Völker der Erde: „So ist es auch mit den Ägyptern: Jeder von den Ägyptern, der die Israeliten unterdrückte und schlecht behandelte, hätte dies unterlassen können, wenn er nicht gewünscht hätte, ihnen zu schaden. Denn Gott hat nichts bezüglich eines spezifischen Individuums beschlossen, sondern Abraham nur mitgeteilt, dass sein Same in einem Land, welches nicht ihres ist, der Knechtschaft unterworfen würde. Wir haben bereits erwähnt, dass es die menschlichen Fähigkeiten übersteigt, die Art und Weise zu verstehen, in der Gott Kenntnis dieser zukünftigen Ereignisse hat.“253
Diese erneute Betonung der menschlichen Freiheit am Schluss von Kapitel 6 löst aber nicht die Schwierigkeit, die eine radikale Strafe wie die Verhärtung des Herzens mit sich bringt: Diese Verhärtung erweist sich als eine ‚Unmöglichkeit zur Reue‘, die aber Maimonides im vorherigen Kapitel gerade heftig abgelehnt hat. Obwohl der Mensch und nicht Gott der Urheber dieser Unmöglichkeit ist, wird an dieser Stelle zum ersten und einzigen Mal in den ganzen Hilkhot Teshuvah betont, dass die ‚Unmöglichkeit zur Reue‘ eine realitas in potentia im menschlichen Leben ist. Aus diesem Grund beeilt sich Maimonides in Kapitel 7 zu wiederholen, dass jeder Mensch dank seines freien Willens Reue anstreben kann, so dass er als Reuiger im >olam ha-ba akzeptiert sein wird. Obgleich sich dieses Kapitel vor allem auf Israel als Reuigen bezieht, unterstreicht der Anfang des Kapitels, dass die Lehre der Reue für alle Menschen gilt und dass „Er [Gott] bemüht ist, die Reuigen nahe zu sich zu bringen, ob es nun Individuen oder Gemeinschaften sind […].“254 Die Reue ist ein Prozess der Erkenntnis und ein ethischer Prozess (sich der eigenen Sünden bewusst zu werden), sie betrifft zwar nur den Einzelnen, ihrer Möglichkeit kommt bei Maimonides aber ein unmittelbar gemeinschaftlicher Charakter zu: Diese Möglichkeit wendet sich an alle Menschen und an alle Gemeinschaften, sonst würde sie der universellen Gerechtigkeit Gottes widersprechen, die in der ganzen Schöpfung geübt wird. Deswegen ist ,dX (adam, der Mensch) und nicht der Israelit der Protagonist der ersten sieben Kapitel der Hilkhot Teshuvah. Die theologische Schwierigkeit der Ash>ariten, für die der freie Wille aus dem Menschen einen zweiten Schöpfer macht und mit der sich die Mu>taziliten hingegen überhaupt nicht beschäftigen, wird von Maimonides implizit und indirekt beantwortet255: Gott allein ermöglicht den freien Willen des Menschen, er nämlich bleibt der einzige Schöpfer der menschlichen Mög252 253 254 255
Sefer ha-Madda>, 89a. Ibidem. Sefer ha-Madda> 89b. Sefer ha-Madda> 87b.
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lichkeit, frei zu handeln. Gott bestimmt das Gute und das Böse durch sein Gesetz, weshalb sich jeder Mensch stets innerhalb einer Alternative entscheidet, die er nicht selber geschaffen hat. Ausgehend von dem universalistischen und gemeinschaftlichen Charakter der Reue und ausgehend von dieser Antwort auf die umstrittenste Frage der frühmittelalterlichen islamischen Theologie eröffnet sich eine neue Perspektive auf Maimonides’ Konzeption des >olam ha-ba.
§ 6 Das >olam ha-ba in bezug auf Aristoteles, Alfarabi und den Talmud Im vorigen Paragraphen habe ich bereits betont, dass Maimonides nicht an einer inhaltlichen Beschreibung des >olam ha-ba interessiert ist, genauso wie er jedwede konkrete Beschreibung der Wiederauferstehung der Toten im Pereq Heleq verweigert. Deswegen wäre eine Forschung, die sich auf die apokalyptischen bzw. apokryphen Quellen des >olam ha-ba bei Maimonides konzentriert, also Quellen, die eine solche empirische Darstellung in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht sinnlos, so doch im Kern verfehlt.256 Das Kommen der künftigen Welt, die einmal empirisch und einmal überempirisch gemeint ist, bedeutet bei Maimonides das Kommen einer neuen Weltordnung auf der Erde, für die jeder Mensch in der Gegenwart verantwortlich ist und die Belohnung im Jenseits erhalten wird. Der Mensch soll nicht bloß leiden, um erlöst zu werden, sondern auch tätig mitarbeiten, so dass das Heil kommen kann. Dem kommenden Herrn muss der Weg bereitet werden. So ist die Erlösung zum Teil auch von der menschlichen Leistung abhängig, deren Erfüllung notwendige Voraussetzung des Heils ist. Die Verknüpfung zwischen >olam ha-ba und >olam ha-zeh hat zwei unterschiedliche Quellen, die sich beide mit der Bedeutung und Bestimmung des Guten wie mit der zeitlichen Verwirklichung dieses Ziels beschäftigen: die Nikomachische Ethik257 und die talmudische Lehre. Trotz der wesentlichen Differenzen in ihrer Idee von Eschaton und trotz der Tatsache, dass die Nikomachische Ethik keine Rettung der Seele kennt, verbinden sie sich mit den beiden Dimensionen der Maimonidischen Konzeption des >olam ha-ba, wobei die Verantwortung des Menschen bei der Verwirklichung 256 Für eine philologische und kritische Untersuchung der Quellen der Mishneh Torah in ihrer Ganzheit siehe: Michael Guttmann, Zur Quellenkritik des Mischneh Thora, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Jh. 79, Heft 1 (1935), S. 148–159. 257 Die arabische Version dieses Werks ist vor zwei Jahren ins Englische übersetzt worden: Anna A. Askoy (Hrsg.), The Arabic Version of the Nicomachean Ethics, mit Einl., Übers. und Anm. von Douglas M. Dunlop, London 2005; siehe auch im Rahmen der mittelalterlichen arabischen Kommentare an Aristoteles: Averroes, Aristotelis Opera Cum Averrois Commentariis, 3. Bd., unveränderter Nachdruck der Venezianischen Ausgabe 1562–1574, Frankfurt a.M. 1962.
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des empirischen und des überempirischen Guten ins Zentrum gestellt wird. (Inwiefern sich die Aristoteles-Kenntnis bei Maimonides dem Werk von Alfarabi verdankt, werde ich später untersuchen.)
6.1 Glückseligkeit und Zeit in der Nikomachischen Ethik Hinsichtlich der zeitlichen Perspektive der Nikomachischen Ethik schreibt Alejandro G. Vigo: „[Vernünftige Handlungssubjekte] sind […] gerade auf Grund ihrer Vernünftigkeit durch eine eigentümliche Offenheit zum Zukunftshorizont der eigenen Möglichkeiten und zur Globalperspektive in bezug auf das eigene Leben im Ganzen gekennzeichnet. Vernünftige Handlungssubjekte verstehen sich selbst und das eigene Leben als zeitausgedehnte Totalitäten und sind immer schon im Besitz einer gewissen Idealvorstellung des eigenen Lebens […]. Die Setzung einer solchen Idealvorstellung des eigenen Lebens als Ziel der Praxis ist für Aristoteles nicht bloß eine Option, von der das vernünftige Handlungssubjekt eventuell Gebrauch machen kann. Sie ist vielmehr eine formale Forderung und eine Vorbedingung für die Entfaltung der praktischen Vernünftigkeit als solcher.“258
In der Nikomachischen Ethik ist die Vernünftigkeit auf die Teleologie strukturell angewiesen259, obwohl diese Verbindung zwischen der Vernünftigkeit und der Setzung einer Idealvorstellung des guten Lebens als Ziel für die ganze praktische Tätigkeit niemals deutlich formuliert wird. Wo die Orientierung an irgendeinem Ziel fehlt, ist es das Zeichen einer mangelhaften Entfaltung der praktischen Vernünftigkeit bzw., um sich mit Aristoteles auszudrücken, Zeichen für großen ‚Unverstand‘. Aristoteles verweist auf den Vorrang der Idealvorstellung des guten Lebens als eine regulative Instanz, ohne die eine vernünftig orientierte Praxis nicht möglich wäre: Man kann 258 Alejandro G. Vigo, Zeit und Praxis bei Aristoteles. Die Nikomachische Ethik und die zeit-ontologischen Voraussetzungen des vernunftgesteuerten Handelns, Freiburg/München 1996, S. 345. Für meine Untersuchung habe ich mich hauptsächlich auf die folgenden Werke konzentriert: Ursula Wolf, Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, Darmstadt 2002; Wolfgang Schneider, Usia und Eudaimonia: Die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles, Berlin 2001; John A. Stewart, Notes on the Nicomachean Ethics, 2 Bde., Nachdruck Ausgabe von 1892, Bristol 1999; Enno Rudolph, Zeit und Gott bei Aristoteles aus der Perspektive der protestantischen Wirkungsgeschichte, Stuttgart 1986; Ursula Wolf, Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute, München 1979; Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 1974; Leo Elders, Aristotle’s Theology, Assen 1972; Hans-Georg Gadamer, Die leere und die erfüllte Zeit, in: ders., Kleine Schriften III, Tübingen 1972, S. 221ff; Eberhard Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit, in: ders., Unterwegs zur Sache, München 1972, S. 206–231; William D. Ross, Aristotle, New York 1964; F. Solmsen, Aristotle’s System of the Physical World, New York 1960; Werner W. Jäger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1955; Donald J. Allan, The Philosophy of Aristotle, Oxford 1952; Jean Léonard, Le bonheur chez Aristote, Bruxelles 1948. 259 Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 2, 1214b 6–14.
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nicht vernünftig handeln, wenn man eine gewisse Idealvorstellung des guten Lebens noch nicht besitzt, so undifferenziert diese auch sein mag. Eine solche Idealvorstellung ist somit eine Vorbedingung für die Existenz des vernünftigen Handelns.260 Das vernünftige Handlungssubjekt entfaltet seine konstitutive Vernünftigkeit, dass es das eigene Leben in Übereinstimmung mit einer bestimmten Vorstellung des guten Lebens, d.h. der Glückseligkeit, gestaltet. Also ist jede einzelne Handlung für das vernünftige Handlungssubjekt immer schon in eine Sinntotalität eingebettet, und jede einzelne Handlungssituation wird immer auch daraufhin verstanden, dass die Konzeption des eigenen Lebens im Ganzen implizit eine bestimmte Vorstellung des guten Lebens im Hintergrund voraussetzt. Diese Idealvorstellung der Glückseligkeit fungiert als das Endziel, auf das die ganze praktische Tätigkeit letztendlich abzielt. Der Aristotelische Eudämonismus deutet (sogar vor jeder normativen Entscheidung in bezug auf den ‚richtigen‘ Inhalt einer solchen Idealvorstellung des guten Lebens) zunächst auf dieses strukturelle Merkmal der vernünftigen Praxis hin. Aus diesem Grund macht sich Aristoteles in Nikomachische Ethik I nicht nur die formale Charakterisierung der Glückseligkeit als Endziel des praktischen Lebens zur Aufgabe, sondern auch die Identifizierung desjenigen Guten, das in einer ‚richtigen‘ Auffassung des guten Lebens als Inhalt der Glückseligkeit zu gelten hat. Ich will hier nicht den Inhalt der Glückseligkeit in der Nikomachischen Ethik untersuchen, sondern ihre formale Charakterisierung als Endziel des Lebens betrachten.261 Die Existenz eines solchen Endziels gilt bei Aristoteles als ‚plausible Prämisse‘ (% ( ), weil wir als vernünftige Praxissubjekte immer schon bereit sind, unser praktisches Leben als eine teleologisch strukturierte Sinntotalität zu betrachten. Als Praxissubjekte gehen wir unmittelbar davon aus, dass unser praktisches Leben, falls es einen vernünftigen Sinn haben soll, auf ein bestimmtes Endziel hin geordnet werden muss, wobei ein solches Ziel bei Aristoteles nicht chronologisch, sondern kausal-teleologisch das letzte ist, also in dem Sinne, dass es in jedem Entscheidungs- bzw. Handlungskontext als etwas um seiner selbst und nicht um etwas anderen willen Gesuchtes immer schon vorausgesetzt wird. Aristoteles beschränkt sich darauf, die Plausibilität einer solchen Annahme der alltäglichen Lebenserfahrung zu zeigen. So verweist er darauf, dass das Fehlen eines solchen Endzieles einen regressus ad infinitum zur Folge hätte: Gäbe es kein Endziel, dann würde alles um etwas anderen willen gewünscht und gewählt werden, so dass der Wunsch letzten Endes umsonst wäre. So erweist sich die unmittelbare Annahme eines Endzieles des praktischen Lebens am Ende doch noch als auf 260 Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe u.a.: Jürgen-Eckhardt Pleines, Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles: Glückseligkeit als höchstes Gut menschlichen Handelns, Würzburg 1984. 261 Ibidem, Kap. I, II und V.
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eine Forderung der Verständlichkeit gegründet, ohne die der Anspruch auf Bedeutsamkeit unerfüllt bliebe, den die vernünftigen Praxissubjekte für das eigene Leben erheben. Der entscheidende Punkt ist für Aristoteles der folgende: Will man der Vorstellung eines Endzieles des praktischen Lebens wirklich gerecht werden, dann kann es nicht bei der Feststellung der Existenz einer Vielfalt von Zielen in Verbindung mit verschiedenen Tätigkeiten bleiben. Daraus folgt nämlich nur eine analoge Einheit der verschiedenen Ziele, d.h. ihre funktionelle Identität als Ziele für die jeweiligen Tätigkeiten. Die Annahme eines letzten Endziels für die ganze praktische Tätigkeit bringt die Notwendigkeit mit sich, eine andere, stärkere Art der Einheit der einzelnen Ziele zu stiften, so dass eine hierarchische Ordnung dieser Ziele möglich wird. In einer solchen systematischen Einheit der Ziele bleiben die untergeordneten Ziele als Mittel auf Ziele höherer Stufe bezogen. Aristoteles ist auf diese Weise in der Lage, eine erste minimale formale Charakterisierung des letzten Guten bzw. Zieles des praktischen Lebens zu geben: Ein solches Gut bzw. Ziel, das der Idee nach das Gute und das Beste ($-µ λ µ Ν ) für das praktische Leben ist, muss als ein um seiner selbst willen Erstrebtes vorgestellt werden, während alles andere um seinetwillen gewählt wird.262 Aristoteles betont die praktische Relevanz der Kenntnis eines solchen Endzieles, denn dieses sorgt für das notwendige Orientierungskriterium für die vernunftkonforme Gestaltung des Lebens. Das gilt nicht nur auf der Ebene des individuellen Lebens, sondern auch – und hauptsächlich – für die richtige Organisation des Lebens in der politischen Gemeinschaft, was die zentrale Aufgabe der politischen Wissenschaft ist.263 Soll die Rede von dem Ziel bzw. von dem Guten des praktischen Lebens überhaupt einen Sinn ergeben, dann muss versucht werden, eine Einheit der einzelnen Ziele zu stiften, d.h. irgendein Kriterium einzuführen, anhand dessen die unterschiedlichen Endziele sich in eine teleologisch organisierte Totalität integrieren lassen. Es handelt sich um die Annahme, dass nicht nur ein spezifisches Einzelziel für jede Einzelhandlung und Ziele höherer Stufe in Verbindung mit komplexeren, umfangreicheren Handlungsketten anzusetzen ist, sondern auch ein letztes Endziel für die Gesamtheit der Handlungen und Tätigkeiten des praktischen Lebens. In diesem Sinne stellt Aristoteles fest: Wenn es ein Ziel für die Totalität der praktischen Tätigkeiten gibt, dann ist dies das praktische Gute (µ µ $- ), und wenn es mehrere gibt, dann sind diese das praktische Gute.264 Das höchste praktische Gute bzw. die Glückseligkeit ist das vollkommenste (µ $$ ) unter den Zielen, weil es als solches nicht als Mittel für etwas anderes intendiert wird.265 262 263 264 265
Ibidem, 1094a18–22. Ibidem, 1094a22–26. Ibidem, 1097a22–24. Ibidem, 1097b5f.
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Ein weiteres von Aristoteles thematisiertes formales Merkmal der Glückseligkeit als Endziel des praktischen Lebens ist die Selbstgenügsamkeit (.!$)266: Als ‚selbstgenügsam‘ gilt dasjenige, das, für sich allein genommen, das Leben wünschenswert und vollständig bedürfnislos macht.267 In der Charakterisierung der Glückseligkeit als eines selbstgenügsamen Ziels ist die Annahme der Idealität der Vorstellung der Glückseligkeit als Zustand der vollkommenen Selbsterfüllung implizit enthalten. Aristoteles beschreibt den Zustand der Glückseligkeit nicht etwa in dem Sinne, dass die Glückseligkeit die bloße Vorstellung eines transzendenten, für den Menschen völlig unerreichbaren Guten wäre, sondern vielmehr in dem Sinne, dass das vernunftbegabte Handlungssubjekt in einem solchen Zustand zur vollkommenen Verwirklichung seiner Wesensmöglichkeit und somit zur vollkommenen Selbsterfüllung kommt, wobei er immer davon ausgeht, dass ein solcher Idealzustand prinzipiell ein realisierbares Gut bleibt, an dem das Handlungssubjekt, falls es sein praktisches Leben entsprechend gestaltet, regelmäßig teilhaben kann. Die Glückseligkeit ist also ein idealer Zustand, in dem jeder Wunsch ohne weiteres befriedigt ist und jede Suche damit überflüssig wird. Die Annahme eines solchen idealen Zustandes der Befriedigung ist eine notwendige Voraussetzung, wenn es darum geht, die Totalität der einzelnen Wünsche und Handlungen teleologisch zu rechtfertigen. Als ein solcher Zustand betrachtet, spielt die Glückseligkeit die Rolle eines idealen Orientierungspunktes, der eine regulative Funktion für die Praxis dadurch erfüllt, dass er es uns ermöglicht, die konkreten einzelnen Wünsche und Erwartungen in einem teleologisch orientierten, vernünftigen Lebensplan zu organisieren. Das Merkmal der Selbstgenügsamkeit weist auf das Moment der subjektiven Selbsterfüllung hin, welches einen wesentlichen Bestandteil im Begriff der Glückseligkeit ausmacht. Die praktische Vernünftigkeit ist also bei Aristoteles eine Vernünftigkeit, die sich in der Artikulation von Mitteln und Zielen realisiert. Das menschliche Handeln bringt seinen vernünftigen Charakter in erster Linie dadurch zum Vorschein, dass es ein teleologisch orientiertes Handeln ist: Um teleologisch orientierte Handlungen im eigentlichen Sinne ‚vernünftig‘ nennen zu können, bleibt es in der Regel nötig, dass solche Handlungen, jenseits ihrer unmittelbaren Ziele, zugleich in einer gewisser Beziehung zu Zielen höherer Ordnung und letztendlich zu einem idealen Orientierungspunkt stehen, der als ein letztes Endziel ermöglicht, sie in einer kohärent organisierten Totalität zu integrieren. In diesem Sinne setzt die genuine Verwirklichung der praktischen Vernünftigkeit nicht nur die Annahme eines bestimmten Zieles für jede Einzelhandlung und jede einzelne Handlungskette voraus, sondern zugleich auch 266 Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe u.a.: Heinz Kampert, Eudaimonie und Autarkie bei Aristoteles, Paderborn 2003. 267 Ibidem, 1097b15f.
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die Beziehung dieser Ziele auf ein letztes Endziel. Auf diesen idealen Orientierungspunkt, der das für die vollständige Verwirklichung der praktischen Vernünftigkeit notwendige System der Ziele möglich macht, zielt Aristoteles in erster Linie ab, wenn er der Glückseligkeit die Eigenschaft eines vollkommenen und selbstgenügsamen Endziels des praktischen Lebens zugesteht. Das spezifische Ergon des Menschen, von dem in Nikomachische Ethik I 6 die Rede ist, besteht in dieser Tätigkeit der Seele, nach ihrem vernünftigen Prinzip oder zumindest nicht ohne Intervention durch dieses das höchste Gute zu identifizieren. Mit dem in Nikomachische Ethik I 6 entwickelten Argument gelingt Aristoteles grundsätzlich zweierlei: zunächst die Fokussierung der Frage nach dem menschlichen Guten auf das Gebiet der inneren bzw. seelischen Güter; dann – und eng damit verbunden – die Identifizierung des Vermögens der Vernunft als das spezifische Unterscheidungsmerkmal des Menschen und damit die Gleichsetzung des spezifischen Ergon des Menschen mit der Betätigung und Entfaltung seiner vernünftigen Fähigkeiten. Die Glückseligkeit als die tugendhafte Tätigkeit gemäß dem eigenen Ergon des Menschen wird danach in der vollständigen Entfaltung dieser vernünftigen Fähigkeiten bestehen. Das Ergon-Argument in Nikomachische Ethik I 6 bedeutet einen entscheidenden Schritt in der Identifizierung des richtigen Ideals des guten Lebens für den Menschen als vernunftbegabtes Handlungssubjekt. Aber es liefert noch nicht die vollständige Antwort auf die Frage nach dem guten bzw. glücklichen Leben. Das Argument lässt nämlich eine zentrale Frage immer noch offen, denn die menschliche Vernünftigkeit kann sowohl in einem praktischen wie auch in einem rein theoretischen Gebrauch entfaltet und realisiert werden. Auf die Frage, ob das glückliche Leben eher in der praktischen oder vielmehr in der rein theoretischen Tätigkeit der Vernunft oder vielleicht irgendwie in beiden zu suchen ist, gibt das Argument in Nikomachische Ethik I 6 immer noch keine endgültige Antwort. Der Schluss des Arguments verweist aber zumindest auf die Notwendigkeit, diese Frage zu beantworten. So stellt Aristoteles fest, dass die in Nikomachische Ethik I 6 dargelegte Auffassung der Glückseligkeit als Tätigkeit der vernünftigen Seele gemäß ihrer eigenen Tugend zugleich die Frage der Entscheidung angesichts der Möglichkeit aufwirft, dass es mehrere Tugenden des vernünftigen Seelenteils gibt. Damit deutet Aristoteles die spätere Unterscheidung zwischen dem Leben nach der Phronesis – als der höchsten Tugend im Bereich des praktischen Vernunftgebrauchs, die alle ethischen Tugenden in sich vereinigt – und dem Leben nach der Sophia als der höchsten Tugend im Bereich des theoretischen Vernunftgebrauchs an.268 Aristoteles ergänzt den Schluss des Argumentes in Nikomachische Ethik I 6 durch eine zusätzliche ‚zeitliche Bedingung‘, nämlich die, dass es 268 Ibidem, 1098a17.
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sich bei der Glückseligkeit um eine Tätigkeit handeln muss, die sich durch das ganze Leben hindurch (& , $$”) erstreckt, weil eine nur kurze Zeit der Tätigkeit des vernünftigen Seelenteils niemanden glückselig macht.269 Bereits in Nikomachische Ethik I hat Aristoteles darauf insistiert, dass nicht ein punktueller bzw. schnell vorübergehender Zustand unter ‚Glückseligkeit‘ zu verstehen ist, sondern eine bestimmte Lebensform, die allgemein als ein ‚gutes Leben‘ ($σ ) und ‚Sich-gut-Verhalten‘ ($σ !$ ) zu charakterisieren ist. Die Auffassung der Glückseligkeit als Lebensform impliziert zwei Konsequenzen: 1. Die Tatsache, dass die Glückseligkeit einen dauerhaften und permanenten Zustand ausmachen muss, zunächst davon unabhängig, ob es sich dabei um einen bloß dispositionellen Zustand oder vielmehr um einen Zustand der Tätigkeit handelt; 2. die Tatsache, dass die Glückseligkeit als Endziel an der Spitze der Hierarchie der Ziele das ideale Kriterium liefern muss, nach dem nicht nur bestimmte Tätigkeiten, sondern das ganze praktische Leben als eine einheitliche Sinntotalität organisiert und gestaltet werden kann. Der erste Punkt weist auf eine faktischzeitliche Bedingung der Glückseligkeit als Lebensform hin, während der zweite Punkt eher eine teleologisch-funktionelle Forderung stellt. Jedoch sind beide Aspekte der Glückseligkeit eng verbunden: Als Lebensform impliziert sie, dass die Sinneinheit durch die zeitliche Sukzession hindurch realisiert wird und bewahrt bleibt. Mit anderen Worten: Die Sinneinheit des praktischen Lebens muss in jedem Augenblick der zeitlichen Sukzession, in der das Leben sich als Prozess abspielt, präsent sein. Auf der anderen Seite ist es die Einheit der idealen Zielvorstellung, die es ermöglicht, die zeitliche Sukzession mit Blick auf einen Gesamtentwurf des Lebens einheitlich zu gestalten und ihr auf diese Weise einen Sinn zu verleihen. Das Eigentümlichste und Merkwürdigste bei der Verknüpfung von beiden Einheitsformen besteht darin, dass die ideale Zielvorstellung niemals vollständig realisiert und errungen ist, sondern immer wieder zu realisieren und zu erringen bleibt. Um dies zu illustrieren, kann hier auf eine Analogie mit der kosmischen Totalität des Universums als einer Sinntotalität, die sich durch die zeitliche Sukzession hindurch verwirklicht und bewahrt, verwiesen werden. Auch auf der kosmologischen Ebene ist die teleologische Sinntotalität, und zwar in jedem Augenblick der unendlichen zeitlichen Sukzession, präsent. Das politische Leben strebt nach der Verwirklichung und Entfaltung der ethischen Tugend, weshalb die politische Tätigkeit bei Aristoteles als Mittel für die Sicherung der Glückseligkeit, konkreter noch: für die Sicherung dieser Möglichkeit, zu intendieren ist. Aristoteles behauptet ausdrücklich, dass zu den externen Zielen, auf welche die politische Tätigkeit gerichtet werden kann, auch die Glückseligkeit des Subjektes und seiner Mitbürger 269 Ibidem, 1098a18–20.
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zählt.270 Die politische Tätigkeit ist also Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit, insofern sie dazu dient, die Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, die den Bürgern in der politischen Gemeinschaft, zumindest denjenigen, die zu einer solchen Tätigkeit fähig und dafür geeignet sind, auch die für die Aufbewahrung notwendige Freizeit und Muße sichern. In diesem Sinne sind auch die ethischen Tugenden für Aristoteles Ziele, die nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch als Mittel bzw. Vorbedingungen für das glückliche Leben gewollt und gesucht werden könne. Die Verwirklichung von Tugenden wie Tapferkeit, Großzügigkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit usw. ist zwar an sich selbst ein Endziel für das vernunftbegabte Handlungssubjekt, denn in der Praxis und durch sie realisiert es seine konstitutive Vernünftigkeit in der praktischen Dimension. Gleichzeitig aber sind die ethischen Tugenden und die ihnen entsprechenden Tätigkeiten auch notwendige Mittel und Voraussetzungen, die dazu beitragen, die Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen die rein theoretische Tätigkeit der Vernunft von den Bürgern in der Gemeinschaft am besten entfaltet werden kann. Solche Entfaltungsbedingungen betreffen nicht nur die innere Disposition des Subjektes selbst, sondern auch den sozialen Rahmen, innerhalb dessen die Beschäftigung mit rein theoretischen Tätigkeiten am besten möglich ist. Für eine eudämonistische Ethik wie die des Aristoteles stellt die Annahme, dass die moralischen Tugenden neben ihrem inneren Wert als Ziele auch einen instrumentalen Wert als Mittel zur vollkommenen Verwirklichung der eigenen Wesensmöglichkeiten durch die Vernunft des Handlungssubjektes haben, insofern sie zum Erlangen des höchsten Gutes der Glückseligkeit beitragen, prinzipiell keine Schwierigkeit dar. Damit hat Aristoteles den Vorrang der betrachtenden, theoretischen Tätigkeit als der höchsten Form des glücklichen Lebens gezeigt, insofern eine solche Tätigkeit am besten dazu geeignet ist, die formalen Merkmale der Glückseligkeit, d.h. Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit, als das Endziel des praktischen Lebens. Der Vorrang des betrachtenden Lebens führt aber bei Aristoteles nicht dazu, das politische Leben als mögliche Darstellung eines für den Menschen glücklichen Lebens einfach zurückzuweisen. In Nikomachische Ethik X 8 vertritt Aristoteles vielmehr die Position, dass das politische Leben die zweitbeste Form des glücklichen Lebens und damit auch ein richtiges, wenn auch nicht das beste Lebensideal für das vernunftbegabte Handlungssubjekt darstellt.271 Aristoteles kann ein solches Lebensideal schon deswegen nicht zurückweisen, weil die politische Tätigkeit gemäss den ethischen Tugenden auch eine spezifisch menschliche Form der Tätigkeit ist, welche die wesentliche Natur des vernünftigen Handlungssubjektes zum Ausdruck und zur Entfaltung bringt. In Handlungssituationen 270 Ibidem, 1177b14. 271 Ibidem, 1178a9.
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aller Art bringen die Menschen ihre wesentliche Natur als vernunftbegabte Wesen dadurch zum Ausdruck und verwirklichen somit ihre spezifischen Wesensmöglichkeiten durch die entsprechenden ethischen Tugenden. Dies nämlich schon deswegen, weil das Handeln gemäß der ethischen Tugend nichts anderes ist, als im Hinblick auf die eigentümlichen Forderungen der jeweiligen Situation vernünftig zu handeln. Die ethischen Tugenden sind durch ihre gemeinsame strukturelle Beziehung zur Phronesis vereinigt. Sie sind im Grunde verschiedene Konkretisierungen und Realisierungen der Phronesis in bezug auf verschiedene Grundtypen von Handlungssituationen, mit denen wir als Handlungssubjekte faktisch konfrontiert werden. Wer gemäß den ethischen Tugenden handelt und lebt, der bringt seine Wesensmöglichkeiten als vernunftbegabtes Wesen zu einem gewissen, sogar sehr beachtlichen Maße zur Entfaltung und kann insofern auch ‚glücklich‘ genannt werden. Jedoch kann er noch nicht als vollkommen glücklich angesehen werden, solange er nicht dazu kommt, seine Fähigkeiten zum rein theoretischen Denken zur vollen Entfaltung zu bringen, und zwar deswegen nicht, weil er in diesem Fall seine höchsten Wesensmöglichkeiten noch nicht verwirklicht hat. In der Verwirklichung dieses immer zukünftigen Ideals besteht für Aristoteles die vollkommene Glückseligkeit, welche das Zusammenwirken von Politik und Philosophie erforderlich macht. Auch als Philosophen sind Menschen in vielerlei Hinsicht ständig auf die Gemeinschaft angewiesen. Dies ist nicht nur deswegen so, weil man normalerweise nur durch den sozialen Prozess der Erziehung in die Lage versetzt wird, seine intellektuellen Fähigkeiten voll zu entfalten, sondern auch deshalb, weil eine regelmässige Beschäftigung mit rein intellektuellen Tätigkeiten nur dort gelingen kann, wo die unmittelbaren Bedürfnisse des Lebens akzeptabel abgedeckt sind und wo man aufgrund einer sozial organisierten sinnvollen Arbeitsteilung über die notwendige Freizeit und Musse für die rein theoretische Tätigkeit verfügt. Sich von der Polis ohne Nachteil ausschließen, kann nur ein Gott auf Grund seiner vollständigen Unabhängigkeit oder ein Tier aufgrund seiner Unfähigkeit zur gemeinsamen Praxis, ein Mensch aber auf keinen Fall, und der Philosoph macht für Aristoteles sowohl in der Nikomachischen Ethik als auch in der Politik272 keine Ausnahme. Eine vollkommene Verwirklichung des Ideals eines rein betrachtenden Lebens ist daher unter den faktischen Bedingungen der menschlichen Existenz prinzipiell unmöglich. Das bedeutet für Aristoteles aber nicht, dass man auf eine immer künftige, möglichst große Annäherung an dieses Lebensideal einfach verzichten muss.273 Die immer künftige Orientierung am Ideal des betrachtenden Lebens ist vom praktischen Standpunkt aus nicht nur deswegen wichtig, weil sie auf 272 Pol. I 3, 1253a27–29. 273 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7, 1177b31–34.
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die volle Entfaltung und Verwirklichung der menschlichen Wesensmöglichkeiten abzielt, sondern auch deshalb, weil sie wichtige Folgen für die Art und Weise hat, wie sich das Subjekt, das ein solches Lebensideal angenommen hat, zur unmittelbaren Welt der Praxis verhält. Wer sich am Ideal des betrachtenden Lebens orientiert, ist dadurch zugleich in der Lage, zur Welt der Praxis auf eine andere Weise zurückzukehren und diese aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Nicht nur der Politiker, sondern auch der Philosoph wird notwendigerweise mit der unmittelbaren Welt der Praxis immer zu tun haben. Aber die Grundeinstellung von beiden gegenüber dieser Welt ist deswegen grundsätzlich anders, weil der Politiker in ihr den letzten Bereich für die Verwirklichung seines Lebensideals sieht, der Philosoph dagegen nicht. Wer sich am Ideal des betrachtenden Lebens orientiert, bezieht nicht nur die äußeren Güter, sondern auch die Ziele der gesamten praktischen Tätigkeit auf das höchste Ziel der Betrachtung. In einem solchen utopischen und immer künftigen Gesamtentwurf des eigenen Lebens kommt eine distanziertere Haltung gegenüber der unmittelbaren Welt des Handelns zum Ausdruck. Diese relative Distanzierung bedeutet aber für Aristoteles keinen Verlust des Kontakts zur unmittelbaren Wirklichkeit, weil die Glückseligkeit nur in der Wirklichkeit zu erreichen ist. Die Glückseligkeit ist bei Aristoteles als eine effektive Tätigkeit und nicht als ein bloß dispositioneller Zustand oder eine rein ideale Vorstellung gedacht, weswegen sie von der zeitlichen Dimension ihrer Verwirklichung nicht getrennt werden kann.274 Achtet man auf die eigentümliche Zeitstruktur der Aristotelischen Glückseligkeit, dann sieht man sofort ein, dass sie als etwas zugleich Anwesendes und Zukünftiges gedacht werden muss. Sie ist kein Gut, das man ein für allemal erreichen und in Besitz nehmen kann, sondern sie bleibt stets ein Ziel, das zwar durch die eigene Tätigkeit und in ihr graduell verwirklicht wird, aber niemals vollständig realisiert vorliegt, sondern immer wieder neu zu verwirklichen ist. Wenn man auf die innere Zeitstruktur des Akts der Betrachtung achtet, dann wird man mit Recht sagen, dass ein solcher Akt der rein betrachtenden Schau gerade dadurch charakterisiert ist, dass bei ihm die für den praktischen Zugang zur Welt konstitutive Zukunftsperspektive als solche ausgeklammert wird: Bei der rein theoretischen Betrachtung – wie auch auf andere Weise beim ästhetischen Schauen – wird die zeitmodale Unterscheidung Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft derart nivelliert, dass das Subjekt nur auf die reine Gegenwart und auf die Anwesenheit des sich im Akt des noetischen Erfassens unmittelbar Zeigenden fixiert bleibt. Hier kann die Zukunft, wenn überhaupt, höchstens auf eine indirekte Weise mit intendiert werden, und zwar insofern, als die Tätigkeit des Betrachtens, auch wenn alle anderen Wünsche und Erwartungen ausgeklammert worden sind, zumindest von einem gewissen Wunsch der 274 Das ist einer der wichtigsten Punkte in Nikomachische Ethik I 6.
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Fortsetzung begleitet sein muss. Diese für die Theorie konstitutive Ausklammerung der Zukunftsperspektive verhindert aber natürlich nicht, dass die rein theoretische Tätigkeit, ‚von außen gesehen‘, eine konkrete Tätigkeit ist, die in das Gefüge des praktischen Lebens des Subjekts hineingehört, auch wenn sie als Endziel der Praxis eine ganz besondere Stellung im Gesamtentwurf des Lebens einnimmt. Gerade mit Blick auf diese Sonderstellung als Endziel der gesamten praktischen Tätigkeit wird verständlich, warum die in der Betrachtung verkörperte Glückseligkeit als etwas sowohl Anwesendes wie auch Zukünftiges gedacht werden muss, und zwar in dem Sinne, dass sie einen Zustand ausmacht, der immer partiell und immer aufs neue verwirklicht werden muss, ohne dass man ihn je als einen für immer eroberten Besitz fest ‚in den Griff‘ bekommen kann. Sobald die betrachtende Tätigkeit aufgehört hat – und sie kann unter den faktischen Bedingungen der menschlichen Existenz nicht ununterbrochen fortgesetzt werden – und sobald das Subjekt zur unmittelbaren Welt der Praxis zurückgekehrt ist, beginnt auch schon wieder die Aufgabe, die Tätigkeit in der Welt der Praxis mit Blick darauf zu gestalten, dass auch in der Zukunft die Beschäftigung mit der rein betrachtenden Tätigkeit möglich bleibt und man auf sie zu einem günstigen Zeitpunkt zurückkommen kann. Für denjenigen, der die entsprechenden Hexeis entwickelt und konsolidiert hat, bleibt also die betrachtende Tätigkeit immer noch ein Ziel, das er immer aufs Neue erreichen und verwirklichen muss. Dieser innere Bezug zum Horizont der Zukunft ist bei der Glückseligkeit wesentlich, soll sie die Funktion eines Endzieles für die gesamte praktische Tätigkeit erfüllen können. Eine solche Struktur lässt eine Schwierigkeit offen: Der Begriff eines glücklichen Lebens impliziert die Permanenz des für die Glückseligkeit charakteristischen Zustands in der Zukunft. Man kann in der Aristotelischen Auffassung nicht in bezug auf vorübergehende bzw. gegenwärtige Zustände von Glückseligkeit sprechen, sondern nur in bezug auf eine stabile und permanente innere Disposition, die als solche auf der regelmäßigen Ausübung der Tätigkeit gemäß der Tugend basiert. Eine solche Auffassung muss aber erklären, wie der prognostisch-antizipative Anspruch im Begriff der Glückseligkeit zu rechtfertigen ist angesichts der Variabilität und Unsicherheit der Dinge in der Welt der Praxis, in der die Zukunft prinzipiell offen und unbestimmt bleibt. Kann überhaupt jemand im Aristotelischen Sinne ‚glückselig‘ genannt werden angesichts der Tatsache, dass niemand mit Sicherheit wissen kann, was die Zukunft ihm bringt? Über die hier vorliegende begriffliche Schwierigkeit hinaus ist eine solche Frage im Zusammenhang der griechischen praktischen Philosophie auch deswegen besonders brisant, weil die alltägliche griechische Weltanschauung sich von sehr früh an durch eine besondere Sensibilität für die negativen Auswirkungen des Werdens und der Zeit auf das menschliche Glück
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ausgezeichnet hat.275 Das ganze ethische Modell von Aristoteles kann als ein Versuch interpretiert werden, die Möglichkeit einer vernünftigen Lebensführung und -gestaltung gerade unter den eigentümlichen faktischen Bedingungen der menschlichen Existenz in der Welt der Praxis plausibel zu machen. Die Lehre der Glückseligkeit versucht nichts anderes, als dieses Projekt einer Verwirklichung der Vernünftigkeit unter den Bedingungen der Faktizität zu verwirklichen. Gegen die traditionelle Auffassung des griechischen Pessimismus versucht Aristoteles den negativen Einfluss der Variabilität und Unbeständigkeit der Außenbedingungen auf das glückliche Leben dadurch zu minimieren, dass bei ihm die Glückseligkeit als solche als eine innere stabile Disposition des Subjekts zur Gerechtigkeit und damit als von den Außenbedingungen und vom Zufall relativ unabhängig erscheint. Obwohl sie ein immer zukünftiges Ziel bleibt, hängt ihr Erreichen nur von der Vernünftigkeit des Handlungssubjekts ab, die als solche vom Zufall nicht beeinflusst werden kann. Die Grundorientierung an der rein theoretischen Tätigkeit liefert also ein Modell, in dem die Glückseligkeit die größtmögliche Beständigkeit unter den faktischen Bedingungen der menschlichen Existenz im Werden und in der Zeit erreichen kann, auch wenn die Glückseligkeit für Aristoteles niemals eine absolute ‚Unverwundbarkeit‘ erreichen kann. Diese Aspekte der Aristotelischen Lehre hinsichtlich des Verhältnisses von Glückseligkeit, Zeit und Gerechtigkeit finden eine radikale politische Interpretation in Kitab Tahsil al-Sa>ada (The Attainment of Happiness) von Alfarabi, nämlich im ersten Teil seines Kommentars Kitab al-Pam> baina ra’yi al-Hakimain (Philosophy of Plato and Aristotle276), der – wie ich im Laufe der vorliegenden Arbeit zeigen werde – der Hintergrund von Maimonides’ Reflexion über das Endziel des menschlichen Lebens in Hilkhot Teshuvah ist. Im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit zeige ich auch, welche zentrale Rolle dieses Werk hinsichtlich der politischen Konzeption des Messias bei Maimonides spielt.277 An dieser Stelle werde ich Kitab Tahsil al275 In Nikomachische Ethik I 11 diskutiert Aristoteles diesbezüglich den Pessimismus von Solon. 276 Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, Übersetzung und Einführung von Muhsin Mahdi, überarbeitet von Charles E. Butterworth und Thomas L. Pangle, Ithaca 2001. Für die geschichtliche und philologische Rekonstruktion von The Attainment of Happiness siehe: Ibidem, S. 151f. Ich bin der Manuskriptenabteilung der Nationalbibliothek an der Hebrew University of Jerusalem zu Dank verpflichtet, dass sie mir eine Mikrofilmkopie des arabischen Manuskriptes an der Aya Sofya Library in Istanbul (Sign. No. 4833, fols. 1v–9v und 19v–59r; dieses Manuskript aus dem Jahre 1345 ist als Hyderabad Manuskript bekannt) besorgt hat. Die hebräische Wiedergabe von Al-Falaqera in Reshit Hokhmah (Jerusalem 1970) basiert auf einer Kopie, die viel älter als die heutzutage existierenden Manuskripte ist, weswegen ich im Laufe meiner Untersuchung auch diesen Text benutzt habe. 277 Hava-Tirosh Samuelson schreibt der Glückseligkeit eine entscheidende Rolle bezüglich der Beziehung zwischen griechischem und jüdischem Denken zu: „The absorption of Aristotle’s ethics began, not in the Middle Ages, as is commonly thought, but already in the late Second
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Sa>ada nur in bezug auf seine strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeiten mit den Hilkhot Teshuvah untersuchen; ich werde also keinen ‚Kommentar des Kommentars‘ vorlegen, sondern nur diejenigen Aspekte herausarbeiten, die ein tieferes Begreifen des ‚eschatologischen‘ Denkens von Maimonides gestatten.
6.2 Kitab Tahsil al-Sa>ada (The Attainment of Happiness) von Alfarabi278 Bereits der arabische Titel des ersten Teils der Kitab al-Pam> baina ra’yi alHakimain (The Philosophy of Plato and Aristotle), nämlich Tahsil al-sa>ada, deutet die zentrale Rolle des Menschen als handelndes Subjekt bei der Verwirklichung der Glückseligkeit an: In der arabischen Literatur des 10.–13. Jahrhunderts bezeichnet das Wort tahsil häufig die Handlung eines Menschen, der mit der ‚qualifizierten Weisheit‘ handelt, die ausschließlich von der Philosophie als ‚Wissenschaft der Wissenschaften‘ gewonnen wird. Ein solcher Titel scheint mit dem Inhalt des Textes nicht zusammenzupassen, da Alfarabi in Kitab Tahsil al-Sa>ada (The Attainment of Happiness) die Wirkungen der theoretischen Wissenschaften so organisiert und vorstellt, dass sie nicht in der Metaphysik, sondern in der politischen Wissenschaft kulminieren. Wenn man aber die Definition von politischer Wissenschaft in Kitab Tahsil al-Sa>ada näher analysiert, zeichnet sich eine andere Interpretation der Beziehung zwischen Politik und Philosophie hinsichtlich der menschlichen Glückseligkeit ab: „[…] Dann sollte er [der Mensch] sich an die Wissenschaft des Menschen machen und das Was und Wie des Zweckes zu untersuchen, für den der Mensch gemacht ist, das ist die Vollkommenheit, die der Mensch erlangen muss. Dann sollte er all die Dinge untersuchen, durch die der Mensch Vollkommenheit erlangt oder die nützlich für deren Erlangung sind. Dies sind die guten, tugendhaften und edlen Dinge. Er sollte sie von den Dingen unterscheiden, die seine Erlangung der Vollkommenheit behindern. Dies sind die bösen, lasterhaften und niedrigen Dinge. Er sollte bekannt machen, was und wie jedes von ihnen ist und von was und für was es ist, bis alle bekannt, verständlich und voneinander unterschieden sind. Das ist die politische Wissenschaft. Sie besteht darin, die Dinge zu kennen, durch welche die Bürger der Städte Glückseligkeit durch politische Verbindung in dem Maße erlangen, wie die innere Dispositionen jeden von ihnen dafür ausstattet. Es wird für ihn offensichtlich werden, dass politische Verbindungen und die Gesamtheit, die aus den Verbindungen von Bürgern in Städten hervorgeht, der Verbindung der Körper
Temple period. […] [T]he concept of happiness […] can be seen as the point of intersection between Greek philosophy and Judaism.“ (in: ders., Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 3) 278 Für eine ausführliche Bibliographie über den Begriff von ‚Glückseligkeit‘ bei Alfarabi siehe: Hans Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, op. cit., S. 143 sowie das Stichwort ‚Happiness‘ im Supplement (2007).
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entspricht, welche die Gesamtheit der Welt darstellen. Er wird in dem, was in der durch die Stadt und die Nation begründeten Gesamtheit enthalten ist, erkennen, was in der gesamten Welt beinhaltet ist. So wie es in der Welt ein erstes Prinzip gibt, dem andere Prinzipien untergeordnet sind, Wesen, die aus diesen Prinzipien hervorgehen, andere Wesen, die diesen Wesen untergeordnet sind, bis sie mit den Wesen des niedrigsten Ranges in der Ordnung der Dinge enden, so hat auch die Nation oder die Stadt einen obersten Befehlshaber, gefolgt von anderen Befehlshabern, welche wiederum von Bürgern gefolgt sind, bis sie mit den Bürgern des niedrigsten Ranges als Bürger und Menschen enden. Deshalb beinhaltet die Stadt eine Ähnlichkeit mit den Dingen, welche in der gesamten Welt beinhaltet sind. Dies ist dann theoretische Vollkommenheit. Wie du sehen kannst, umfasst sie Wissen der vier Arten von Dingen, durch welche die Bürger der Städte und Nationen höchste Glückseligkeit erlangen. Es bleibt noch, dass diese vier umgesetzt werden und Bestand in den Nationen und Städten haben, während sie mit der Darstellung übereinstimmen, die in den theoretischen Angelegenheiten von ihnen gegeben wird.“279
Alfarabis Aristoteles beginnt seine Argumentation in Kitab Tahsil al-Sa>ada mit der Kritik von Platons Ansicht, dass die menschliche Vollkommenheit in der theoretischen Erkenntnis besteht. Eine solche Behauptung ist nicht selbstevident und kann nicht mit Gewissheit nachgewiesen werden, so lange man die theoretische Erkenntnis nicht gewinnt, welche die praktische Erkenntnis des Menschen und der anderen Elemente der Welt ist. Bevor man eine solche Erkenntnis nicht erreicht, hat der Mensch nur Meinungen () über seine Vollkommenheit und wird von unterschiedlichen Meinungen verwirrt. Aus diesem Grund entscheidet sich Alfarabis Aristoteles dafür, mit der Untersuchung der Natur statt mit der Untersuchung des menschlichen Willens und des menschlichen Wählens (dem Gegenstand der politischen Wissenschaft) zu beginnen, denn die Natur geht dem Willen und dem Wählen in der Zeit voran, und Willen und Auswahl können nicht begriffen werden, wenn man nicht weiß, welche Fähigkeiten der Mensch in der Natur besitzt und mit welchen Elementen der Natur er sich konfrontiert. Aristoteles untersucht die gewisse bzw. praktische Erkenntnis in allen seinen Analysen (nämlich sowohl in den menschlichen als auch in den natürlichen), da diese die einzige Form von Erkenntnis ist, durch die der Mensch handeln sollte. Deswegen beginnt Aristoteles’ Untersuchung im Text von Alfarabi mit der Logik, welche die theoretischen Künste als unqualifizierte Wissenschaft bzw. unqualifizierte Weisheit beschreibt. Diese Untersuchung wendet sich dann der Naturwissenschaft zu, die zur Analyse des menschlichen Intellekts führt, dessen Vollkommenheit aus der praktischen Erkenntnis des theoretischen Intelligiblen besteht. Die von Alfarabis Aristoteles untersuchte Naturwissenschaft schließt nur ein, was bereits in den Kategorien eingeschlossen ist, und ist nicht 279 Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, op. cit., S. 24f.
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imstande, Elemente zu erklären, welche die Kategorien nicht betreffen (z.B. den aktiven Intellekt oder den Ersten Beweger, der die permanente Bewegung der Himmelssphären verursacht), obwohl die Kategorien die letztendlichen Elemente der Körper, aus denen die Welt besteht (einschließlich des Menschen), definieren. Nichtsdestoweniger schließt Alfarabis Aristoteles aus, dass die menschliche Vollkommenheit der Vollkommenheit des menschlichen theoretischen Intellektes entspricht und dass alle Fähigkeiten des Menschen (eingeschlossen die praktischen rationalen) dem theoretischen Intellekt dienen. Zum Schluss findet Alfarabis Aristoteles es notwendig, auch die aus dem Willen und aus dem Wählen stammenden Handlungen zu untersuchen, die zum praktischen Intellekt gehören und durch die der Mensch zum theoretischen Intellekt strebt (Aristoteles unterscheidet auch zwischen den für das Erreichen des theoretischen Intellekts nützlichen Handlungen und solchen, die für diesen Zweck nutzlos sind). Da der Mensch im Rahmen der ‚nützlichen Handlungen‘ auch gewisse ‚Instrumente‘ bzw. ‚Materialien‘ benutzt, durch die er belebte und unbelebte Wesen beeinflusst (Tiere, Pflanzen, andere Menschen usw.), verletzt der Mensch somit ihren kollektiven Zweck als Spezies und ihren privaten Zweck als Individuen, weshalb Alfarabis Aristoteles auch untersucht, ob und wie der Mensch die anderen Wesen als Instrument zu seiner Vollkommenheit einsetzen darf. Alfarabi findet in seiner Interpretation der Aristotelischen Natur- und menschlichen Wissenschaft keine endgültige Antwort. In der Tat verlangt die Metaphysik als allumfassende Wissenschaft eine solche Antwort, welche die praktische Erkenntnis der Prinzipien aller Wesen und ihrer Taxonomie bestimmt. Alfarabi ist der Meinung, dass der Aristotelischen Naturwissenschaft die natürliche ‚Philosophie‘ genauso wie die politische ‚Philosophie‘ fehlt, er erklärt aber nicht, was er unter ‚Philosophie‘ versteht und wie diese ‚Philosophie‘ sich von der Naturwissenschaft unterscheidet. Und obwohl Alfarabi am Anfang von Kitab Tahsil al-Sa>ada sagt, dass Aristoteles die Wesen nicht nach der Methode der natürlichen Untersuchung analysiert, sagt er nichts über die Details und die Schlüsse aus einer solchen Untersuchung bei Aristoteles. Nur in einem kurzen Abschnitt schreibt Alfarabi, dass, während die Untersuchung der Intelligiblen für die endgültige menschliche Vollkommenheit notwendig ist, die Antwort auf die Fragestellungen, mit denen Alfarabi seine Lektüre von Aristoteles begann, für die Verwirklichung der politischen Tätigkeit als Tätigkeit zur menschlichen Vollkommenheit notwendig ist. Aber es gibt auch eine weitere Erkenntnis, um den Menschen zugunsten seines endgültigen Zwecks sowie aus der Perspektive der noch mangelhaften Naturwissenschaft zur Vollkommenheit zu führen: die metaphysische Erkenntnis. Aber eine solche Erkenntnis ist für die Perfektionierung der wissenschaftlichen Erkenntnis und für die Perfektionierung des politischen menschlichen Handelns nicht ausreichend, weil man für eine solche Perfektionierung ‚die Philosophie‘ benötigt.
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Charles E. Butterworth und Thomas L. Pangle schreiben im Vorwort von The Philosophy of Plato and Aristoteles: „Unlike Alfarabi’s Plato, his Aristotle does not investigate or even speak of philosophy (just as he does not investigate or speak of happiness) but reaches out for wisdom and perfection. In concluding his Philosophy of Aristotle with the statement that what ‚must necessarily come to exist in every man in the way possible for him‘ is philosophy rather than wisdom, Alfarabi leads the reader back to his Plato and the account of the relation between philosophy, happiness, and the sciences, in the Republic and the Timaeus, where the question of the connection between theoretical perfection and right action is answered in a way that takes into account the fact that the investigation of the sciences has not as yet been concluded.“280
Das erklärt, weshalb diese Klassifizierung der Wirkungen der theoretischen Tugenden in Kitab Tahsil al-Sa>ada nicht in der Metaphysik, sondern in der Politikwissenschaft gipfelt. In dem obengenannten Abschnitt aus Kitab Tahsil al-Sa>ada behauptet Alfarabi (oder besser: Alfarabis Aristoteles), dass die Politikwissenschaft im Zentrum der Untersuchungen zu den Geisteswissenschaften stehen muss, weil nur die Politikwissenschaft zu einer Vollkommenheit führt, die zwar keine theoretische Vollkommenheit ist (die Politikwissenschaft impliziert nicht die gewisse Erkenntnis von allem Seienden), aber zur „Wissen der vier Arten von Dingen, durch welche die Bürger der Städte und Nationen höchste Glückseligkeit erlangen“ führt. Wenn Alfarabi unmittelbar nach dieser Behauptung erklären muss, worin die theoretische Vollkommenheit der Politikwissenschaft besteht, spricht er nicht über theoretische Wissenschaften bzw. über die theoretische Erkenntnis von allem Seienden, sondern über die „theoretische Angelegenheiten“. Mit anderen Worten: Die theoretische Vollkommenheit, von der an dieser Stelle die Rede ist, schließt die theoretische Politikwissenschaft ein, die ihrerseits die Erkenntnis der natürlichen Körper bzw. der empirischen Welt einschließt. Die von der Naturwissenschaft erreichte Vollkommenheit wird in die Politikwissenschaft hineingenommen und führt zur Verknüpfung zwischen der theoretischen Vollkommenheit und richtigem Handeln. Diejenige theoretische Vollkommenheit, welche alle theoretischen Wissenschaften wie auch die gewisse Erkenntnis von allem Seiendem einschließt, ist die oberste, endgültige und absolute Vollkommenheit, mithin die Glückseligkeit, die der Mensch durch die Verwirklichung der Gerechtigkeit gewinnen kann und muss.281 Meines Erachtens entspricht diese theoretische Vollkommenheit Alfarabis Interpretation des Adjektiv teleion (‚am meisten zielorientiert‘), mit dem Aristoteles das letztendliche Ziel beschreibt.282 280 Alfarabi, The Philosophy of Plato and Aristotle, op. cit., S. XXX. 281 Siehe im besonderen die Abschnitte 18, 20, 43, 52 und 54 von Kitab Tahsil al-Sa>ada. 282 Hinsichtlich des Gebrauchs dieses Adjektivs in bezug auf das höchste Gute haben sich in der abendländischen Philosophie im Laufe der Zeit zwei unterschiedliche Stellungnahmen ent-
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Eine solche Orientierung ist aber nicht eine notwendige Bedingung des richtigen Handelns, das aus jener Arbeit besteht, die nötig ist, um zur Vollkommenheit gemäß rationalen Prinzipien bzw. Regeln zu gelangen, die Grundlagen der menschlichen Tugenden und Künste sind. ‚Richtiges Handeln‘ bedeutet, nach einem Ziel zu streben, und setzt die Erkenntnis voraus, worin ein solches Ziel besteht und durch welche Instrumente der Mensch es erreichen kann. Eine solche Erkenntnis wird von der Politikwissenschaft zur Verfügung gestellt, die zugleich die Erkenntnis der Vollkommenheit der theoretischen Tugenden sowie die Erkenntnis der entscheidungsorientierten bzw. moralischen Tugenden und praktischen Künste impliziert, durch die man die Vollkommenheit der theoretischen Tugenden erreichen kann. Da Alfarabi auch diese Vollkommenheit als ‚theoretische Vollkommenheit‘ bezeichnet, ist es klar, dass er zwischen einer niedrigen und einer höheren theoretischen Vollkommenheit unterscheidet, wobei die erste die notwendige Bedingung für die Erreichung der zweiten ist: Die erste Erkenntnis, nämlich die der Politikwissenschaft, ist unabhängiger, weil sie das richtige Handeln auch ohne die allumfassende Erkenntnis aller Wesen gewinnen kann. Dies bedeutet aber nicht, dass das endgültige Ziel des Menschen diese niedere Form von Erkenntnis ist oder sein darf. Die theoretische Vollkommenheit, von der Alfarabi am Schluss seiner Zusammenfassung der Aristotelischen theoretischen Wissenschaften spricht, setzt voraus, dass die menschliche Vollkommenheit mit der Vollkommenheit der theoretischen Tugenden gleich ist, und sie ignoriert den problematischen Charakter des Gebrauchs von anderem natürlichem Seienden von Seiten des Menschen. Eine solche Vollkommenheit setzt auch voraus, dass die Welt der Natur und die Stadt aus unterschiedlichen Schichten bestehen, von denen die obersten die niedrigsten beherrschen. Butterworth und Pangle schreiben diesbezüglich: „[…] the only questions that still remain concern bringing things into actual existence in conformity with this theoretical account and examining the virtues and
wickelt. Nach der ersten bedeutet teleion ‚vollständig‘, in dem Sinne, dass das höchste Gute alle Dinge enthält, die an sich gut sind. Nach dieser alles einschließenden Interpretation von Aristoteles wird das höchste Gute als eine Ansammlung aller an sich guten Dinge gedacht, die an sich wünschbar sind. Nach der anderen, ‚ausschließenden‘ Interpretation hingegen bedeutet teleion, dass das höchste Gute der Endpunkt einer hierarchisch organisierten Reihe von an sich guten Dingen ist. Das höchste Gute ist somit ‚vollständig‘, weil nichts unternommen werden kann, um es zu perfektionieren. Zu den Vertretern der ‚einschließenden Theorie‘ vgl. u.a.: W.F.R. Hardie, The Final Good in Aristotle’s Ethics, in: Philosophy (1965), S. 277–295; John Kekes, Happiness, in: Mind XCI (1982), S. 358–376; Stephen S. White, Is Aristotelian Happiness a Good Life or the Best Life?, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 8 (1990), S. 103–143. Zu den Stellvertretern der ‚ausschliessenden Theorie‘ vgl. u.a.: Anthony Kenny, The Aristotelian Ethics: A Study of the Relationship between the Eudemian and Nicomachean Ethics of Aristotle, Oxford 1978; Robert Heinaman, Eudaimonia and Self-Sufficiency in the Nicomachean Ethics, in: Phronesis 33 (1988), S. 31–53.
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arts by which the end is realized. In this way political activity is allowed to proceed to the point where we can see with our mind’s eye theoretical science ruling over nations and cities and employing all natural and human beings in its own service.“283
Was übrigbleibt, ist die Konzeption einer allumfassenden Erkenntnis von allem Seienden, die keinen politischen Ehrgeiz hat und auf die unbeantworteten Fragen der Geistes- und der Naturwissenschaften antworten kann. Alfarabi beschäftigt sich somit am Schluss von Kitab Tahsil al-Sa>ada mit dem menschlichen Wirken, das er vom politischen Wirken unterscheidet. Das Risiko für die Philosophie besteht darin, dass sie keine eigentliche Vollkommenheit erreichen kann, wenn der Philosoph das spekulative und das politische Leben in seinem Handeln und in seiner Reflexion nicht zusammenbringt. Im Grunde genommen schweigt sich Alfarabi in bezug auf die Philosophie völlig aus, solange er das politische Handeln und das Erreichen der theoretischen Vollkommenheit durch dieses beschreibt.284 Zum ersten Mal taucht das Wort ‚Philosophie‘ wie zufällig in Abschnitt 53 auf, der eine philologische Auseinandersetzung mit der Sprache der Griechen und der der Araber hinsichtlich der Beziehung zwischen Philosophie und theoretischer Vollkommenheit zu sein scheint. In Wahrheit zielt Alfarabi nicht auf eine Definition der Philosophie, sondern vielmehr auf die besondere Bedeutung dieses Wortes bei den Arabern im Vergleich zu den Griechen. Während ‚Philosophie‘ bei den Griechen ‚Suche nach der und Liebe zur höchsten Weisheit‘ ist, konzentriert sich diese Suche bei den Arabern auf andere Fragen: wie die Philosophie mit der Religion verbunden ist bzw. wie sie sich von der Religion unterscheidet, inwiefern der Philosoph identisch mit dem höchsten Leiter, dem ’imam (‚demjenigen, dessen Vorbild zu folgen ist‘), und dem Gesetzgeber ist bzw. sich von diesen unterscheidet. In diesem Zusammenhang entspricht der ’imam dem unqualifizierten Philosophen, er hat nämlich alle Tugenden und verfügt über alle Künste, um seine Zwecke durch gewisse Instrumente zu verwirklichen, hat aber noch nicht die Stufe des theoretischen Philosophen erreicht. Das bedeutet, dass der qualifizierte bzw. theoretische Philosoph auch der echte ‚König‘ ist. Butterworth und Pungle schreiben diesbezüglich: „The true philosopher is now seen as a man who possesses the art that enables him to rule, and perhaps even the arts that enable him to force others to believe that they must listen to him, and to make them actually listen to him, accept what he tells them to believe or do, obey him, help him, and become instruments of his purpose – and yet may never be actively engaged in the exercise of any of these arts. He is selfsufficient in that he can achieve his aim as true philosopher and make use of the arts he possesses for his own benefit, without being dependent on others or on external instruments and possessions. He does not refuse to exercise his arts 283 Alfarabi, The Philosophy of Plato and Aristotle, S. XXXII. 284 Im besonderen die Abschnitte 22 bis 49.
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for the benefit of others, but his philanthropy does not extend to the point of forcing others to reap the benefits of being ruled by him. He is reluctant to rule and will exercise his art for the benefit of others only with their consent and only if they come to him, listen to him, and obey him.“285
Die Schwierigkeit liegt selbstverständlich darin, dass die Menschen das unmittelbare Ziel des Arztes oder des ’imam begreifen können, während die Glückseligkeit als menschliche Vollkommenheit, die man nur als Konsequenz aus der politischen Verwirklichung der Gerechtigkeit erreichen kann, in gewisser Weise für die Masse unsichtbar bleibt. In diesem Sinne scheint zur Glückseligkeit (und damit auch zur Gerechtigkeit) eine Art von ‚Glauben‘ zu gehören. Genau genommen geht Aristoteles nicht so weit wie in der Darstellung Alfarabis; mit Alfarabi beginnt eine bestimmte Tradition im islamischen Denken, die nach Ähnlichkeiten und möglichen Übereinstimmung von Philosophie und Religion sucht, und dieses Bindeglied wird in der Politik gesehen. Das ist im Besonderen in Kitab Tahsil al-Sa>ada offenkundig, obwohl das Wort ‚Philosophie‘ hier, wie gesagt, fast zufällig erwähnt wird und sich Alfarabi nur einmal auf die Religion bezieht.286 Ebenfalls nur einmal geht es um das Verhältnis von Philosophie und Religion: „Philosophie geht der Religion zeitlich voraus“287 und „Religion ist eine Nachahmung der Philosophie“ Wenn Alfarabi das Wort ‚Philosophie‘ einführt288, bestimmt er sie als den wissenschaftlichen Zustand der Seele und des Intellektes, nämlich als die Liebe zur und die Suche nach der höchsten Weisheit bzw. der theoretischen Vollkommenheit. Bis dahin scheint Alfarabi in der Tradition der antiken Philosophie zu bleiben, aber er fügt ein Element hinzu, das ihn sowohl von Platon als auch von Aristoteles deutlich absetzt: Die theoretische Vollkommenheit allein ist unvollständig (er spricht auch von ‚partieller Vollkommenheit‘), wenn sie sich nur auf die theoretischen Wissenschaften beschränkt. Der perfekte Philosoph muss nach Alfarabi auch der höchste Leiter sein, nämlich den Charakter der Bürger so ausbilden, dass die Bürger fähig sind, nach der Glückseligkeit als theoretischer Vollkommenheit zu streben. Der Philosoph zeigt die Vernünftigkeit seines Zwecks, die sich als Gerechtigkeit zeigt, durch die Beweise der praktischen Erkenntnis, während die Religion, die gleichfalls die Gerechtigkeit zum Zweck hat, durch bloße Bilder der Wesen zu überreden versucht. Muhsin Mahdi schreibt in diesem Zusammenhang: „Religion is an imitation of philosophy in the restricted sense inasmuch as both comprise the same subjects and both give an account of the ultimate principles of
285 286 287 288
Ibidem, S. XXXIV. Ibidem, Abschnitt 33. Ibidem, Abschnitt 50. Ibidem, Abschnitt 53.
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the beings, or insofar as religion supplies an imaginative account of, and employs persuasion about, things of which philosophy possesses direct and demonstrative knowledge.“289
Bei Alfarabi wird die Religion Teil der Aufgabe des Philosophen als des höchsten Leiters und des Gesetzgebers. Nur der Philosoph kennt alles Seiende, er repräsentiert es adäquaterweise, und er allein kann einschätzen, ob die Bilder dem Wesen von allem Seiendem so nahe wie möglich kommen. Somit schreibt Alfarabi dem Philosophen eine Aufgabe zu, die der des Propheten sehr ähnlich ist, wobei allerdings der Philosoph im Gegensatz zum Propheten die Religionen auf der Grundlage der Klugheit und der theoretischen Erkenntnis sowie durch die Künste der Rhetorik und der Poetik verkündet.290 Das enge und häufig umstrittene Verhältnis von Glückseligkeit, Gerechtigkeit, Politik und Religion zeigt sich bereits im ersten Abschnitt von Kitab Tahsil al-Sa>ada: „Die menschlichen Dinge, durch welche Nationen und Bürger von Städten weltliche Glückseligkeit in diesem Leben und höchste Glückseligkeit im kommenden Leben erlangen, sind viererlei Art: theoretische Tugenden, abwägende Tugenden, moralische Tugenden und praktische Künste.“291
Genau wie in den Hilkhot Teshuvah wird hier das Jenseits und die mit ihm verbundene absolute Glückseligkeit erwähnt, ohne dass dieses Jenseits bzw. der Unterschied zwischen empirischer und überempirischer Glückseligkeit inhaltlich beschrieben würde. Auch wenn man der Empfehlung von Charles E. Butterworth und Thomas L. Prangle folgt und zusätzlich zwei andere Werke von Alfarabi, Aphorisms of the Statesman (Fusul al-madani)292 und On the Intellect (Risala fi al->aql)293, zu Rate zieht, erhält man keine weitere Erklärung. Im Aphorismus 28 von Fusul al-madani liest man: „Denn Menschen haben zwei Arten von Vollkommenheit, eine erste und eine letzte. Tatsächlich wird die letzte von uns in diesem Leben und im kommenden Leben erlangt [yuhsal lana fi haüihi wa fi al-hayah al-’aöira], wenn die erste Vollkommenheit in diesem Leben ihm vorausgegangen ist. Die erste Vollkommenheit besteht darin, dass all die Handlungen der Tugenden ausgeführt werden, nicht das ein Mensch einfach Tugenden hat ohne die Handlungen zu tun; und diese Vollkommenheit besteht im Ausführen, nicht Erlangen, des Charakterzustandes, der die Handlungen herbeiführt. […]
289 290 291 292
Ibidem, S. 7. Alfarabi erklärt nicht, wie er über die nicht-philosophischen Religionen denkt. Alfarabi, The Attainment of Happiness, op. cit., S. 13 (Hervorhebung von F.Y.A.). Alfarabi, Aphorisms of the Statesman, hrsg. und übersetzt von Douglas M. Dunlop, Cambridge 1961; Alfarabi, The Political Writings, hrsg. und übersetzt von Charles E. Butterworth, Ithaca 2001. Auf diese Ausgabe werde ich mich hier beziehen. 293 Alfarabi, On the Intellect (Risâlah fî al-’aql), hrsg. von Maurice Bouyges, Beirut 1938.
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Durch diese Vollkommenheit erlangen wir die letzte Vollkommenheit und das ist höchste Glückseligkeit, welche bedingungslos gut ist. […] So besteht die tugendhafte Stadt […] darin, dass die Einwohner sich gegenseitig in der Erlangung der letzten Vollkommenheit unterstützen, welche die höchste Glückseligkeit ist. Daraus folgt, dass ihre Einwohner, als verschieden von dem Rest der Städte, insbesondere diejenigen mit Tugenden sind. Denn die Stadt, deren Einwohner fest entschlossen sind, sich gegenseitig darin zu unterstützen, Reichtum zu erlangen oder Vergnügungen zu genießen, benötigen all diese Tugenden nicht, um ihr Ziel zu erreichen. Vielmehr mag es so sein, dass sie nicht eine einzige Tugend benötigen. Dies ist so, weil die Übereinstimmung und die Gerechtigkeit, die sie manchmal untereinander anwenden, in Wahrheit keine Tugend ist […].“294
Und weiter in den Aphorismen 76 bis 78: „Eine Gruppe sagt, dass Glückseligkeit weder eine Belohnung für die ausgeführten Handlungen, durch welche Glückseligkeit erlangt wird, noch eine Entschädigung für das Aufgeben der Handlungen ist, durch welche sie nicht erlangt wird. […] Es ist der gleiche Fall mit Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit, die durch die Aufgabe und nicht das Nehmen von Geld praktiziert wird, ist auch nur Habgier und Begehrlichkeit für das, was man gewinnt und wodurch man entschädigt wird für sein Aufgeben. […] Mit dem Tod beginnt [yafutuh] die tugendhafte Person nur, mehr von dem zu tun, was die Glückseligkeit nach dem Tod vermehrt. Deshalb ist seine Besorgnis über den Tod weder die Besorgnis von jemand, welcher der Meinung ist, dass man durch den Tod ein großes Übel bekommt, noch von jemand, der meint, dass er mit dem Tod ein großes Gut verliert, was er bereits erlangt hat und nun aus den Händen verliert. Vielmehr ist er der Meinung, dass er mit seinem Tod überhaupt kein Übel erfährt. Er ist der Meinung, dass das Gute, dass er bis zum Zeitpunkt seines Todes erlangt hat, mit ihm ist und beim Tode nicht von ihm geschieden wird. […] Die tugendhafte Person sollte nicht auf den Tod zueilen, sondern eher Strategien anwenden, solange als möglich zu überleben, um vermehrt das zu tun, was ihn glücklich macht, damit die Bewohner der Stadt die Nützlichkeit seiner Tugenden für sie nicht verlieren. Er soll sich dem Tod nur mutig nähern, wenn er für die Bewohner der Stadt nützlicher ist, wenn er stirbt, als wenn er lebt. […] Nur die Bewohner von unwissenden und unmoralischen Städten hegen Bedenken ob des Todes.“295
Die Vollkommenheit, die man auf der Erde erreichen kann, wird zunächst durch ihren zeitlichen Vorgang („erste Vollkommenheit“) und dann durch ihre praktische Verwirklichung (diese Vollkommenheit „besteht im Ausführen, nicht Erlangen“) bezeichnet: Ohne diese „erste Vollkommenheit“, die auf dem Tun basiert, ist es nicht möglich, die endgültige Vollkommenheit zu erwerben. Der Aphorismus 28 hebt auch die gemeinschaftliche Dimension
294 Alfarabi, The Political Writings, op. cit., S. 25f. 295 Ibidem, S. 49ff.
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der „ersten Vollkommenheit“ hervor, insofern sie von jedem Bürger nur durch die Unterstützung der anderen Bürger verwirklicht werden kann. Das bedeutet, dass jeder Bürger für das Erwerben der endgültigen Glückseligkeit verantwortlich ist. Jedoch darf das Handeln nicht die Glückseligkeit bzw. die Gerechtigkeit als Belohnung an sich anstreben, weil der gerechte Bürger weiß, dass das Handeln um Gottes willen bereits die Belohnung ist. In diesem Sinne fürchtet der gerechte Bürger den Tod nicht, weil er der Meinung ist, dass er nach dem Tode ein Gut finden wird, das größer ist als dasjenige Gute, das er bis zum Augenblick seines Todes verwirklicht hat. Alfarabi verwendet nicht den Ausdruck ‚er weiß‘ bzw. ‚er glaubt‘, sondern den Ausdruck ‚er ist der Meinung‘, der im mittelalterlichen Arabisch den logischen Schluss einer Analyse bzw. einer empirischen Betrachtung bezeichnet. An dieser Stelle kann man bereits Gesichtspunkte erkennen, die den Themen des Sefer ha-Madda>, die ich in den vorangegangenen Überlegungen herausgearbeitet habe, entsprechen: die Notwendigkeit, das Gesetz nur um Gottes willen zu respektieren, nämlich das Gesetz als Belohnung an sich, die Notwendigkeit der gemeinschaftlichen Teilnahme an der Verwirklichung der Gerechtigkeit als empirische Glückseligkeit, ebenso wie die Erwähnung des >olam ha-ba nur als logischen Schlusses des Handelns des Einzelnen. Meines Erachtens handelt es sich hierbei um Themen, die Maimonides aus der erweiterten Interpretation von Aristoteles durch Alfarabi gewann, denn diese Themen fehlen, mit einer solchen Prägnanz beschrieben, in der rabbinischen Tradition. Das Denken von Aristoteles spielt auch die entscheidende Rolle hinsichtlich der Interpretation der Glückseligkeit in Risala fi al->aql, wie man am Schluss des vorletzten Kapitels dieses Werks über den handelnden Intellekt (>aql fa>>al, intellectus agens) erkennen kann296: Durch die Verwirklichung des erworbenen Intellektes (>aql mustafad) kommt der Mensch dem handelnden Intellekt am nächstens. In diesem auf die Erkenntnis bezogenen Prozess besteht nach Alfarabi nicht nur die Glückseligkeit, sondern auch die Essenz (üat) des „endgültigen Lebens“ (vita alia liest man in der lateinischen Übersetzung). Mit „endgültigem Leben“ meint Alfarabi nicht das Jenseits, nämlich eine überempirische Existenz (wupud) nach dem empirischen Leben, sondern die Verwandlung des menschlichen Intellekts in den erworbenen Intellekt, nämlich in eine von der Materie völlig getrennte Form, die in ihrer Potentialität vollkommen entfaltet ist und sich auf die Kontemplation der reinen Formen konzentriert. Die kontemplative Tätigkeit ist für Alfa296 Der Einfluss von Aristoteles tritt deutlich hervor in der italienischen Übersetzung von Risala fi al->aql: Francesca Lucchetta, Farabi. Epistola sull’intelletto, Padua 1974, S. 104ff. Für eine Vertiefung des Begriffs ‚Intellekt‘ bei Alfarabi siehe: Ilai Alon (Hrsg.), Alfarabi’s Philosophical Lexicon, 2. Bd., London 2002, S. 625ff.
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rabi das Wesen der Glückseligkeit; eine inhaltliche Beschreibung des Unterschieds zwischen konkreter und kontemplativer Glückseligkeit wird hier nicht gegeben. In dem Risala fi al->aql wird deutlich, dass die Glückseligkeit für Alfarabi nur als Endziel des empirischen Lebens im Sinne der Vollkommenheit des menschlichen Intellekts gedacht wird. An dieser Stelle liegt die größte und für meine Untersuchung relevanteste Ähnlichkeit zwischen Maimonides und Alfarabi darin, dass das Jenseits für beide nur die logische Konsequenz eines in gewisser Weise ausgerichteten menschlichen Handelns auf der Erde ist; das Jenseits hat nämlich eine teleologische, aber wohl keine eschatologische Bedeutung. Nicht das Jenseits an sich ist wichtig, sondern das menschliche Handeln für die Verwirklichung der Glückseligkeit als Gerechtigkeit durch die moralischen Tugenden: Ausgehend von diesem empirischen Ziel wird der gerechte Mensch auch nach dem Tode im Jenseits leben. Der Tod als nicht-endgültiges Telos des Lebens ist ein zentrales Thema sowohl bei Alfarabi als auch bei Maimonides: Genau diese Bedeutung der Teleologie statt der Eschatologie erklärt meines Erachtens, dass bei beiden Denkern inhaltliche Beschreibungen des Jenseits fehlen und der Akzent auf der politischen und gemeinschaftlichen Dimension für die Verwirklichung des Zwecks des Einzelnen liegt. In der Tat bedeutet ein solcher Akzent auf der Teleologie zugleich die Bedeutung der Methode, von Instrumenten und Strategien, durch die der gerechte Mensch die Glückseligkeit als Gerechtigkeit verwirklichen kann, eine Verwirklichung, die zwar für beide Denker Verdienst des Einzelnen ist, aber ohne die Zusammenarbeit mit der politischen und sozialen Gemeinschaft unrealisierbar bleibt. Ausgehend von dem Aristotelischen Verständnis des Menschen als zoon politicon schreibt Alfarabi in Kitab Tahsil al-Sa>ada: „Tatsächlich erlangt der Mensch die höchste Vollkommenheit (wodurch er das erlangt, was ihn wahrlich wirklich macht) nur, wenn er mit [den rationalen] Prinzipien an der Erlangung dieser Vollkommenheit arbeitet. Darüber hinaus kann er nicht an dieser Vollkommenheit arbeiten, wenn er nicht eine große Zahl von natürlichen Wesen benutzt und sie manipuliert, um sie für sich nutzbar zu machen, um die höchste Vollkommenheit zu erlangen, die er erreichen soll. Außerdem wird es für ihn innerhalb dieser Wissenschaft offensichtlich werden, dass jeder Mensch nur einen Teil dieser Vollkommenheit erlangt und welchen Anteil er erlangt, ist im Umfang verschieden, denn ein isoliertes Individuum kann nicht alle Vollkommenheit allein und ohne die Hilfe vieler anderer Individuen erlangen. […] Deshalb muss jeder Mensch, um das ihm Mögliche an Vollkommenheit zu erreichen, in der Nachbarschaft von anderen bleiben und sich mit ihnen verbinden. Es ist auch die immanente Natur dieses Tieres, Schutz zu suchen und in der Nachbarschaft derer zu verweilen, die zur selben Spezies gehören, weshalb er soziales und politisches Tier genannt wird. Daraus entsteht jetzt eine andere Wissenschaft und eine andere Untersuchung, die diese intellektuellen Prinzipien und die Handlungen und Charakterzustände erforscht, mit denen der Mensch auf diese
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Vollkommenheit hinarbeitet. Daraus entsteht wiederum die Wissenschaft vom Menschen und die politische Wissenschaft.“297
An dieser Stelle wird nicht nur das Verhältnis von Religion und Politikwissenschaft deutlich, sondern auch das Verhältnis von Politikwissenschaft und Kosmologie, was meine Hypothese der eschatologischen Konzeption der Glückseligkeit als Gerechtigkeit bei Alfarabi stützt; das Gesetz der Welt wird, ganz wie bei Maimonides, mit dem menschlichen Willen kombiniert. Im dritten Teil des Kommentars Kitab al-Pam> baina ra’yi al-Hakimain, nämlich in dem der Aristotelischen Philosophie gewidmeten Teil, stellt Alfarabi dar, dass der Mensch ein Teil der Welt ist: Wenn man seinen Zweck und sein Handeln sowie seine Nützlichkeit und Rolle erkennen will, muss man zuerst den Zweck der Welt als nach einer bestimmten Logik angeordneten Totalität erkennen. Nur danach kann man den Zweck des Menschen begreifen, der mit der Verwirklichung des Zwecks der Welt übereinstimmt: „Deshalb müssen wir, wenn wir zu wissen wünschen, worauf wir hinwirken müssen, den Zweck des Menschen und der menschlichen Vollkommenheit kennen, auf die wir hinwirken müssen. Deshalb sind wir gezwungen den Zweck der Gesamtheit der Welt zu kennen; und wir können ihn nicht kennen, ohne alle Teile der Welt und ihre Prinzipien zu kennen – wir müssen das Was, Wie, Wovon und Wofür der ganzen Welt ebenso wie jedes Teils kennen, aus dem die Welt besteht.“298
Für eine solche ‚teleologische Erkenntnis‘ muss man im erkennenden Subjekt zwei Dimensionen unterscheiden und untersuchen, die mit der Verwirklichung der Vollkommenheit als politischer Glückseligkeit konkurrieren: die natürliche und die den Willen betreffende Dimension. Aufgrund seines natürlichen Wesens kann der Mensch sich sowohl für die Tugend als auch für das Laster entscheiden, weswegen ihn der Wille als theoretische Fähigkeit des Intellekts führen muss. Da aber das, was im Menschen angeboren und natürlich ist, notwendigerweise dem Willen und den Entscheidungen vorangeht, muss man zuerst untersuchen, was dem Menschen der Natur nach zugehört, damit es möglich ist, zu analysieren, durch welche Elemente der Wille und die Entscheidungen für gewisse Zwecke beeinflusst werden: „Als er das erkannte, musste er erforschen, was die Seele ist, ebenso wie er zuvor untersucht hatte, was Natur ist; und er musste die psychischen Kräfte und die Handlungen erkennen, die aus der Seele hervorgehen; so wie er es im Hinblick auf die Natur getan hatte. […] Die Seele verbindet wie die Natur drei Aspekte des Prinzipseins: sie ist ein Prinzip als eine Ursache, sie ist ein Prinzip als Form und sie ist ein Prinzip als ein Zweck. […]
297 Alfarabi, The Attainment of Happiness, op. cit., S. 23. 298 Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, op. cit., S. 79f.
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Deshalb musste er genauso wie er bei natürlichen Dingen zwischen der Natur, die herrscht, und der Natur, die eher unterwürfig oder ein Instrument ist, unterschieden hatte, zwischen all diesem in der Seele unterscheiden.“299
Das bedeutet, dass der Mensch einen praktischen (in bezug auf die natürliche Dimension) und einen theoretischen Intellekt (in bezug auf die den Willen betreffende Dimension) hat, und nur wenn der theoretische Intellekt die Seele führt, kann man von der Philosophie der Natur zur Philosophie des Menschen als eines politischen und sozialen Wesens gelangen. Die Erkenntnis muss also sowohl auf das Telos der Natur als auch auf das Telos des Menschen gerichtet werden, wobei nur die Erkenntnis des theoretischen Intellekts zu jener höchsten Vollkommenheit führt, die das Leben nach dem Tode garantiert. Das erklärt, wieso die Religion bei Alfarabi von der Philosophie abhängt und die Religion als Orientierung des menschlichen Handelns von der Politikwissenschaft nicht getrennt werden kann. Diese enge Beziehung zwischen Religion und Politik, die auch im Sefer ha-Madda> besteht, ist das Hauptthema eines weiteren Werks von Alfarabi: Kitab al-Milla wa Nusus ’Uöra (Buch über die Religion, die Gesetzgebung und die Politikwissenschaft).300 Die politische Philosophie von Alfarabi fügt sich in eine Welt ein, die wohl durch unterschiedliche Konzeptionen der Offenbarung geprägt ist, die aber alle einen epistemologischen Aspekt gemeinsam haben: Jede Offenbarung strebt zur Erkenntnis aller menschlichen Belange, weswegen jede Offenbarung notwendigerweise die menschliche Reflexion prägt. Aber auch die Philosophie hat dasselbe Telos der Religion, nämlich die Erkenntnis der Welt und vor allem die derjenigen Elemente, welche das Verstehen überschreiten, zu erreichen. Aus diesem Grund versucht Alfarabi in diesem Buch einerseits die Beziehung zwischen Religion und Philosophie zu bestimmen und andererseits das richtige Begreifen der Bedeutung dieser Beziehung für das politische Leben festzuhalten. Die Hauptlehre dieses Werks liegt darin, dass die tugendhafte Religion eine politische Gemeinschaft nur leiten kann, wenn diese Religion der praktischen und theoretischen Philosophie untergeordnet ist. Alfarabi geht es weniger um den Unterschied zwischen tugendhaften und nicht-tugendhaften Religionen oder um die Größe und die Charakteristika der von der tugendhaften Religion geführten Gemeinschaft (sie könnte einen Stamm, eine große Nation oder sogar mehrere Nationen umfassen). Alfarabi ist es vielmehr wichtig, dass die Abhängigkeit der tugend-
299 Ibidem, S. 116f. 300 Alfarabi, Kitab al-Milla wa Nusus ’Uöra (Buch über die Religion, die Gesetzgebung und die Politikwissenschaft ), hrsg. von Muhsin Mahdi, Beirut 1968. Siehe auch: Alfarabi, On Religion, in: ders., The Political Writings, op. cit., S. 86ff. Auf dieses Buch (On Religion) werde ich mich hier beziehen.
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haften Religion von der Philosophie nicht die Wahrheit der von der Religion verursachten Meinungen und Handlungen beeinträchtigt. Um den Leser von dieser neuen Konzeption der Religion überzeugen zu können, muss Alfarabi eine neue Bedeutung von Offenbarung, Königschaft, Leitungskraft und Politikwissenschaft einführen. In der Tat beschäftigt sich Kitab al-Milla mehr mit der letzteren als mit der Religion; Alfarabi beschreibt zwei Konzeptionen der Politikwissenschaft. Zwei Konzeptionen der Politikwissenschaft sind auch in Kapitel 5 der ’Ihsa’ al->Ulum (Enumerations of the Sciences)301 enthalten, und die parallelen Abschnitte in den ’Ihsa’ al->Ulum und im Kitab al-Milla (Book on Religion) sind sehr ähnlich, doch die Unterschiede sind noch wichtiger als die Ähnlichkeiten. Um diese Unterschiede besser zu begreifen, muss man zuerst herausstellen, welche Kriterien Alfarabi im Kitab al-Milla benutzt, um die tugendhafte Religion von der nicht-tugendhaften abzusetzen: Diese Kriterien sind dieselben, durch die Alfarabi die tugendhafte politische Leitungskraft von der nicht-tugendhaften scheidet, nämlich das, was zum Erreichen der wahrhaften Glückseligkeit als Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gemeinschaft beiträgt. In den ersten Zeilen des Traktats wird die Religion nicht als Bekenntnis (din) oder Glauben (’iman), sondern als Leitungskraft (ri’asa) bezeichnet.302 Am Anfang des Traktats wird auch der Begründer einer Religion als höchster Leiter (ra’is ’awwal), aber nicht als Propheten beschrieben (das Wort ‚Prophet‘ erscheint fast nie im Kitab al-Milla303). Mit dieser Beschreibung der Religion – als ob ihr Charakter politisch wäre – erweitert Alfarabi die Bedeutung, welche die Religion normalerweise für einen Gläubigen hat. Der Gläubige ist zufrieden, wenn er darüber Bescheid weiß, wie die Rechtswissenschaft und die Theologie funktionieren und wirken, welche ihre am meisten akzeptierten Hauptprinzipien sind und wie die Nachfolge der Leiter geordnet wird. Diese Informationen sind ausreichend, um andere Menschen in der Sache ‚Religion‘ zu unterrichten und die Religion gegen eventuelle Feinde zu verteidigen (Sektion 6). Alfarabi 301 Unter den anderen zahlreichen Werken von Alfarabi gibt es einen einzigen Abschnitt, in dem er der Politikwissenschaft so viel Platz eingeräumt hat, nämlich das Kapitel 5 der Enumerations of Sciences: Alfarabi, ’Ihsa’ al->Ulum, Cairo 1949; siehe auch die Übersetzung von Fauzi M. Najjar in: Ralph Lerner/Muhsin Mahdi (Hrsg.), Medieval Political Philosophy: A Sourcebook, New York 1963, S. 31–57. Die Übersetzung des Kapitels 5 durch Charles E. Butterworth findet man auch in: Alfarabi, The Political Writings, op. cit., S. 76–84. Die Untersuchung von Rechtswissenschaft und Theologie kommt in diesem Kapitel nach der Analyse der Politikwissenschaft, und die Religion ist hier kein zentrales Thema. 302 Sowohl im Book on Religion als auch in Kapitel 5 der Enumeration of the Sciences unterscheidet Alfarabi zwischen den göttlichen und den politischen Gesetzen, die aber denselben Zweck, nämlich die Glückseligkeit als Verwirklichung der Gerechtigkeit, haben. 303 Alfarabi spricht über den Propheten in der üblichen Bedeutung nur, wenn er erklärt, dass die Religion auch die Bestimmung der Prophetie enthalten sollte und der Bevölkerung mit der Beschreibung der früheren Propheten zur Verfügung stellen sollte (Sektion 2 und 3).
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versucht darüber hinaus, auch die Grundlagen zu erklären, die sich hinter Riten und Meinungen verbergen, und versucht auch, die Ähnlichkeiten zwischen der Religion einerseits und der Politikwissenschaft und der Philosophie andererseits zu bestimmen. Der Leser und der Gläubige werden von Alfarabi implizit gezwungen, nach der Offenbarung zu fragen sowie Fragen nach der strukturellen Organisation der von der Offenbarung geführten Gemeinschaften zu stellen. Charles E. Butterworth schreibt in seiner Einführung zum Kitab alMilla hierzu: „At some point, one must query how virtuous religion is to be apprehended by those who look upon it from outside the community or by those who, members of the community or not, wish to grasp better the way it works within the community. Alfarabi’s explanation that it is similar to philosophy, even to the extent of admitting the practical and theoretical divisions of philosophy (section 5), shows how it is to be understood. He goes a step further and identifies both the practical and the theoretical divisions within religion as being subordinate to philosophy. The practical is so because its particular actions are classified under the universals of practical philosophy. And the demonstrative proofs of what is claimed in the theoretical part of religion are to be found in theoretical philosophy, even though these things are taken in religion without demonstrative proofs. Indeed, restricted so as to apply to a certain setting or people, they are really particulars. Whether the reasons for the conditions restricting these universals are given in religion or not, they are known in philosophy. That is, philosophy understands what is set forth in religion. The same holds for demonstrations pertaining to the theoretical part of religion: philosophy gives them, whether religion is concerned about them or not.“304
Zum ersten Mal werden explizit im Kitab al-Milla die praktische und die theoretische Philosophie als Mittel für die Bewahrung der Meinungen und der Handlungen erwähnt, Meinungen und Handlungen, die als tugendhafte Religion dem höchsten Leiter durch die Offenbarung bekannt wurden. Dies führt zu dem Schluss, dass die Religion sowohl von der praktischen als auch von der theoretischen Philosophie abhängig ist, weswegen die Rede von der Religion zur Politikwissenschaft305 übergeht. Diese Rede führt zur Identifikation der tugendhaften königlichen Kraft mit der religiösen Leitungsfunktion, die mit der Offenbarung verbunden ist. Mit anderen Worten: Am Schluss des Traktats wird die Offenbarung durch die politische – nämlich im eigenen Kontext wirkende – Tugend ersetzt. In dieser Dimension der Wirksamkeit der Tugend zeigt sich eine Charakteristik der Aristotelischen arete, die man auch bei Maimonides wiederfindet: Aristoteles vergleicht den Gewinn jedweder Tugend mit dem Gewinn einer praktischen Erkenntnis bzw. einer praktischen Fähigkeit. Wie 304 Alfarabi, The Political Writings, op. cit., S. 91. 305 Die Politikwissenschaft wird nur in der letzten Sektion (Sektion 10) des ersten Teils des Werks erwähnt, die Religion nur in der letzten Sektion (Sektion 27) des zweiten Teils.
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jedwede andere Geschicklichkeit verlangt die Tugend Erfahrung und Verständnis, trotzdem ist die Tugend nicht nur eine bloße praktische Fähigkeit, da sich diese letztere mit der Herstellung (poiesis) von Dingen beschäftigt, während die Tugend mit dem wirkenden Handeln (praxis) zu tun hat. Hava Tirosh-Samuelson schreibt diesbezüglich: „To do a virtuous act the agent himself must be virtuous. He must possess wellentranced traits of character and exercise them at that time. Virtue is more accurate than skill and its intellectual aspect is more developed. The virtuous person cannot become so without being critically reflective about his actions. […] The virtuous person acts rightly out of character, because the virtues are like second nature to him or her. Because character emerges through years of moral training and experience, it cannot be divorced from the socio-cultural context in which the agent is situated.“306
Aus diesem Grund betrachtet Alfarabi die Politikwissenschaft als die wirkende tugendhafte praxis der königlichen Kraft in bezug auf die Gemeinde, die dem König in einem gewissen geschichtlichen Kontext untergeordnet ist. So wie Aristoteles unterstreicht auch Alfarabi, dass die phronesis eine intellektuelle Tugend ist, die der Vollkommenheit der praktischen Vernunft (praktikos logos) entspricht und sich von der sophia als Vollkommenheit der theoretischen Vernunft unterscheidet. Die theoretische Vernunft als philosophische Kontemplation der notwendigen, universalen und ewigen Dingen hat nicht an der Charakterbildung teil, weswegen Aristoteles sie im letzten Buch der Nikomachischen Ethik untersucht, wenn er die sophia dem höchsten Guten des menschlichen Lebens angleicht.307 Die praktische Vernunft hingegen ist eine kognitive Fähigkeit, die universale und partikuläre Aspekte kombiniert: 1. Der universale Aspekt der praktischen Vernunft ist die Erkenntnis des guten Lebens überhaupt, nämlich was bedingungslos und im allgemeinen für das menschliche Leben gut ist (VI:5 1140a 25–31), während 2. der partikuläre Aspekt der sophia die Fähigkeit ist, zu erkennen, wie besondere Umstände unter besondere Kategorien fallen (VI:7 1141b15; VI:8 1142a14; 20–22; VI:11 1143a29; 32–34). Um intelligente Entscheidungen (diese Entscheidungsfähigkeit wird von Aristoteles prohairesis genannt) treffen zu können, muss sich der Mensch mittels der praktischen Vernunft (phronimos) auf allgemeine Prinzipien beziehen, aber er muss sie in bezug auf besondere Situationen anwen-
306 Hava Tirosh-Samuelson, Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 26. 307 Hava Tirosh-Samuelson hat diese Zweideutigkeit im Aristotelischen Begriff von ‚Glückseligkeit‘ deutlich hervorgehoben: „[In Buch X, Kapitel 7–8, Aristoteles] [a]fter convincing us that the happy life consists of virtuous activity in the social sphere, […] endorses the life of contemplation as the best life for humans. All other activities, including the attainment of moral virtues, must be subordinated to it.“ [in: ders., Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 37]
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den. Das ist das, was Aristoteles orthos logos (‚richtige Vernunft‘) nennt und was nach Alfarabi die Grundlage der Politikwissenschaft sein soll. Diese Untersuchung der Politikwissenschaft folgt eine zweite Diskussion, in der die Politikwissenschaft als Teil der Philosophie vorgestellt wird. In der Tat ist die Politikwissenschaft imstande, eine Beschreibung der Ordnung des Kosmos zu geben; die Untersuchung führt zur Behauptung, dass die theoretische Philosophie allein imstande sei, die Wahrheiten hinter den von der tugendhaften Religion festgestellten theoretischen Meinungen zu begreifen, obwohl die Religion ein notwendiges Element jeder gut geordneten politischen Gemeinschaft ist.
6.3 Aristoteles–Alfarabi–Maimonides: Glückseligkeit und Jenseits Im Laufe unserer Untersuchung über Aristoteles zeigte sich die Konzeption der Glückseligkeit als Endziel des Lebens in enger Verknüpfung mit der Totalität des Kosmos. In der Tat hätte das Fehlen eines solchen Endzieles einen regressum ad infinitum zur Folge, alles würde um etwas anderen willen gewünscht und gewählt werden. Das ins Leben eingebettete Endziel beweist hingegen sowohl die Ordnung der Totalität des Kosmos als auch den teleologisch orientierten Charakter einer solchen Totalität. Obwohl die Glückseligkeit in Nikomachische Ethik I 6 als Aufgabe des praktischen Lebens vorgestellt wird, steht das wirkende Handlungssubjekt nicht im Zentrum von Aristoteles’ Argumentation. Aristoteles will vielmehr die Glückseligkeit als eine stetige zukünftige Möglichkeit zeigen, für welche die Politik praktische Verwirklichungsvorbedingungen garantieren muss. Achtet man auf die eigentümliche Zeitstruktur der Aristotelischen Glückseligkeit, erkennt man sofort, dass sie als etwas zugleich Anwesendes und Zukünftiges gedacht werden muss. Sie ist im praktischen Leben (nämlich in der Dimension der Gegenwart) jeweils neu zu verwirklichen, damit man sich diesem Endziel (zukünftige Dimension) annähern kann. Die Aristotelische Glückseligkeit bleibt zwar in der Zukunft, aber nicht jenseits des Lebens. Die Glückseligkeit ist ein stets zukünftiges Ziel, und ihr Erreichen hängt nur von der Vernunft des Handlungssubjektes ab, die als solche vom Zufall nicht beeinflusst und nur im praktischen Leben anerkannt und angewendet werden kann. Im Vergleich zur Aristotelischen Position betont Alfarabi die gemeinschaftliche Dimension des Handlungssubjekts, deren Ausrichtung von der Politikwissenschaft bestimmt werden muss: Ein einzelnes Subjekt ist bei Alfarabi nicht imstande, die Totalität des praktischen Lebens auf die Verwirklichung der Glückseligkeit auszurichten. Im Vergleich zu Aristoteles sieht sich Alfarabi auch mit einer unterschiedlichen geschichtlichen Situation konfrontiert, in der die von der Religion bestimmte Ordnung der Welt wie auch die allumfassenden Ansprüche der Offenbarung zu einer neuen
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Reflexion über die Zeitstruktur der Glückseligkeit zwingen, nämlich zur Bestimmung und zur Unterscheidung der praktischen Glückseligkeit dieses Lebens in bezug auf die vollkommene Glückseligkeit des Jenseits. Für Alfarabi ist jedoch diese endgültige Vollkommenheit nur eine Konsequenz der praktischen Vollkommenheit, vor allem weil man nur die vernünftigen politischen Vorbedingungen für das Erreichen der praktischen Vollkommenheit – Bedingungen, die auch die Erkenntnis der Gesetze des Kosmos voraussetzen – untersuchen kann: Vom Jenseits kann man nur Bilder (und genau daraus besteht die Religion nach der Interpretation Alfarabis), aber keine theoretische Erkenntnis haben. Bei Maimonides wie bei Alfarabi findet man die Konzeption des Jenseits als logischer Konsequenz des gerechten Handelns im praktischen Leben, jedoch findet man keinerlei inhaltliche Beschreibung des Jenseits: Bei beiden Denkern hat das Jenseits eine teleologische, aber keine eschatologische Bedeutung. Die Zeit, in der das Erreichen des Jenseits erfolgt, ist die empirische Zeit des menschlichen Handelns, das zugleich eine gegenwärtige (Verwirklichung der Vorbedingungen zur Glückseligkeit) und eine zukünftige Orientierung (die Glückseligkeit bleibt Endziel des menschlichen Handelns) hat. ‚Telos‘ und nicht ‚Eschaton‘ ist die Dimension, in der allein man das menschliche Handeln als politische Tätigkeit zur Verwirklichung der Glückseligkeit als eines von Gott gegebenen Endziels allein untersuchen und bemessen kann. Die politische und gemeinschaftliche Aufmerksamkeit auf die Verwirklichung des göttlichen Gesetzes – als Mittel, diesseitige und jenseitige Glückseligkeit zu erreichen –, die wir bis dahin in bezug auf das Sefer ha-Madda> analysiert haben, fügt sich in diesen griechisch-arabischen Horizont ein. Was ich hinsichtlich der letzen drei Kapitel der Hilkhot Teshuvah untersuchen möchte, sind drei Hauptthemen, die zumindest formal mit diesem griechisch-arabischen Hintergrund verbunden sind: 1. die individualistische sowie die gemeinschaftliche Konzeption der Teleologie von Maimonides; 2. die politische und soziale Bedeutung des >olam ha-ba: Auf welche Konzeption des ’olam ha-ba bezieht sich Maimonides, um diese Bedeutung herauszustellen? Wie wird diese Funktion des >olam ha-ba auch philosophisch und theologisch untersucht? Nimmt Maimonides tatsächlich nur die individualistische Konzeption der Teleologie aus der jüdischen Tradition an? 3. die Einflüsse der Aristotelischen Zeittheorie auf die Folge ‚>olam ha-zeh/ yemot ha-mashiah/>olam ha-ba‘ (Diesseits/Tage des Messias/ Jenseits). Dieser deutliche griechisch-arabische Hintergrund bedeutet selbstverständlich nicht, dass das Thema der Glückseligkeit nicht in der Hebräischen Bibel
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zu finden wäre, dort freilich wird die Glückseligkeit mit der praktischen Dimension des Lebens verbunden.308 Vor allem impliziert die Mehrheit der sogenannten ‚Psalmen der Weisheit‘ diese praktische Konzeption der Glückseligkeit; eine der typischen Anfangsformulierungen dieser Psalmen lautet ashrei („Glücklich ist derjenige, der …“), sie ist auch bei Psalmen zu finden, die sich nicht mit der Weisheit beschäftigen. Eine genauere philologische Analyse dieses Ausdrucks kann nützlich sein, um die jüdische Konzeption des gut gelebten Lebens zu begreifen. Der hebräische Stamm ‚’-sh-r‘ bedeutet ‚laufen, vorangehen‘ (vgl. auch Jes. 3:12; 9:15; Sp. 4:14; 9:6; 23:19) und entstand wahrscheinlich aus den akkadischen Worten wasaru (‚richtig sein‘) und eseru (‚in Ordnung [im Sinne von: aufrecht, korrekt, richtig] sein‘).309 Einige Interpreten sind der Meinung, dass dieser Ausdruck aus dem Ägyptischen stamme und ‚Prosperität, gutes Glück, Glückseligkeit‘ bedeute, während ein anderes ägyptisches Wort, der ‚’-sh-r‘ philologisch sehr ähnlich ist, ‚geradeaus gehen, führen, leiten‘ bedeutet.310 Obwohl das hebräische Substantiv für Glückseligkeit (rwX , osher) nur einmal in der Hebräischen Bibel erscheint, spielt es eine relevante Rolle in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie, die den Ausdruck ashrei mit einem bestimmten Seinszustand verbindet, der Konsequenz eines gewissen Lebensstils ist. In der Tat wird ashrei in den Psalmen verwendet, um die Bewunderung über den materiellen und geistigen Zustand eines Menschen auszudrücken311, nämlich um das erfolgreiche Ergebnis nach einem bestimmten Lebensweg (das Wort ashrei wird in den Psalmen auch häufig mit dem Substantiv derekh – ‚Weg‘ – assoziiert) zu unterstreichen. Mit anderen Worten: Auch in der Hebräischen Bibel bezieht sich die Konzeption der Glückseligkeit auf die Idee des menschlichen Wohlergehens, aber die explizite politische Verwendung dieses Begriffs bleibt zweitrangig im Vergleich zu den griechisch-arabischen Definitionen der Glückseligkeit. Genau diese politische Dimension spielte hingegen für Maimonides als Leiter einer Gemeinde eine zentrale und entscheidende Rolle. Die politische Dimension ist zweitrangig auch im rabbinischen Judentum, das nach dem sogenannten ‚Großen Krieg‘ (66–70) entstand. Auch für die Rabbinen ist die Liebe zur Torah ‚Philosophie‘, ist also die Liebe zur Torah zugleich ‚Liebe zur Weisheit‘, weswegen diejenigen, die nach der Torah 308 Für eine Vertiefung dieser Thematik siehe: Hava Tirosh-Samuelson, Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 62ff. 309 Vgl.: Waldemar Janzen, ’Asre’ in the Old Testament, in: Harvard Theological Review 57 (1965), S. 215–222. 310 Vgl.: Nahum Sarna, On the Book of Psalms: Exploring the Prayers of Ancient Israel, New York 1993, S. 29. 311 Aus diesem Grund schlägt Hava Tirosh-Samuelson die Übersetzung „Oh for the happiness of that person“ bzw. „How fortunate is the person who …“ vor (in: dies., Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 62)
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leben, sowohl den Wohlstand in dieser Welt als auch das ewige Leben der >olam ha-ba genießen werden. Trotzdem war das politische Engagement in den rabbinischen yeshivot nach dem ‚Großen Krieg‘ sehr gering: Sie waren geschlossene Gesellschaften, die auf dem Verhältnis zwischen dem Rabbi und seinen Schülern basierten.312 Aus diesem Grund bin ich mit der Position von Hava Tirosh-Samuelson völlig einverstanden: „The involvement of the rabbis in the administration of Jewish communal life justifies our seeing them as ‚scholars-bureaucrats,‘ not unlike Greco-Roman rhetors and teachers who were active in political life. Over time, especially in Babylonia, the rabbis came to be regarded both as practitioners of wisdom who taught the most valued part of higher education, and as holy men possessed with supernatural powers.“313
Die zweitrangige Position des politischen Handelns auch im rabbinischen Judentum brachte Maimonides dazu, seine Aufmerksamkeit der griechischarabischen praktischen Philosophie zuzuwenden, um dann ihre Beziehung zur traditionellen jüdischen Weisheit in bezug auf >olam ha-ba und >olam ha-zeh zu untersuchen. Wenn auch bereits einige seiner Vorgänger (Sa>adyah Gaon, Samuel ibn Naghrella, Solomon ibn Gabirol und Bahya ibn Paquda) den Begriff ‚Glückseligkeit‘ ausgehend von der Begegnung mit der griechisch-arabischen Kultur bestimmten, ist es Maimonides, der die Beziehung zwischen Glückseligkeit und Politik als wichtigstes und wirkendes Handeln ins Zentrum eines rechtswissenschaftlichen und religionsphilosophischen Denkens stellt. Bislang habe ich mich auf die Rolle des >olam ha-zeh in der Mishneh Torah konzentriert, jetzt hingegen geht es darum, die Komplementarität von griechisch-arabischer Philosophie und rabbinischer Weisheit314 in bezug auf das >olam ha-ba herauszuarbeiten. Obwohl Vereinfachungen häufig irreführend sind, kann man meines Erachtens sehr wohl behaupten, dass Maimonides die Torah als das beste mögliche Mittel zur Erlangung des glücklichen Lebens, bezogen auf das >olam ha-zeh (Wohlergehen des Körpers), ansieht; dank der islamischen Lehre (im besonderen der Philosophie Alfarabis) ist er sich auch dessen bewusst, dass die praktische Erkenntnis nicht von der theoretischen getrennt werden kann, die Aufgabe des Philosophen mithin nicht nur die Untersuchung des Wohlbefindens des Körpers ist, sondern auch des Wohls der Seele, deren höchster Gewinn das >olam ha-ba ist. 312 Für eine Vertiefung dieses Themas vgl. u.a.: Jacob Neusner, There We Sat Down: Talmudic Judaism in the Making, New York 1978, im besonderen S. 79ff. 313 Ibidem, S. 105. 314 An dieser Stelle möchte ich mich nicht mit der langjährigen Auseinandersetzung beschäftigen, ob und inwieweit die rabbinische Weisheit ‚Philosophie‘ ist. Die Meinungen der Gelehrten sind so zahlreich und unterschiedlich, dass es nicht möglich wäre, eine vollständige Bibliographie anzugeben.
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Trotz der Zweideutigkeit der Stellungnahme von Aristoteles in bezug auf eine alles einschließende bzw. ausschließende Glückseligkeit – eine Zweideutigkeit, die alles in allem in der mittelalterlichen islamischen Philosophie nicht vermindert wurde – erkennt man bei Maimonides genauso wie bei Alfarabi315, abgesehen von den zahlreichen Schwankungen ihrer Position, eine deutliche Präferenz für die ‚alles einschließende‘ Interpretation der Aristotelischen Glückseligkeit. Diese Koexistenz der Aristotelischen theoretischen und der praktischen Vernunft, verbunden mit dem Versuch, sie mit der rabbinischen Weisheit zu kombinieren, zeigt sich mit herausfordernden Konsequenzen in der Interpretation des >olam ha-ba bei Maimonides.
6.4 Biblische und talmudische Vorstellung des >olam ha-ba Wenn man auf die Frage nach der Bestimmung der Glückseligkeit bei Maimonides antworten möchte, darf man sich nicht nur auf Aristoteles und Alfarabi beziehen, sondern es ist auch notwendig, zu untersuchen, welche religiöse und theologische Tradition sich hinter der Maimonidischen Konzeption des >olam ha-ba verbirgt316. Genau diese Tradition macht es für 315 Miriam Galston, Politics and Excellence: The Political Philosophy of Alfarabi, Princeton 1990, S. 55ff. Siehe auch: Hava Tirosh-Samuelson, Happiness in Premodern Judaism, op. cit., S. 192ff; Howard Kreisel, Maimonides’ Political Thought: Studies in Ethics, Law and the Human Ideal, Albany (NY) 1999; Lawrence V. Berman, The Ethical Views of Maimonides within the Context of Islamicate Civilization, in: Joel L. Kraemer (Hrsg.), Perspectives on Maimonides: Philosophical and Historical Studies, Tel Aviv 1991, S. 13–32; Menachem M. Kellner, Maimonides on Human Perfection, Atlanta 1990; Norman Roth, Attaining ‚ Happiness‘ (Eudaimonia) in Medieval Muslim and Jewish Philosophy, in: Centerpoint 4 (1981), S. 21–32; Erwin I. J. Rosenthal, The Concept of ‚Eudaimonia‘ in Medieval Islamic and Jewish Philosophy in seinem Werk Studia Semitica, 2. Bd.: Islamic Themes, Cambridge 1971, S. 127ff. 316 An dieser Stelle möchte ich nur eine Auswahl der Werke zitieren, die im Laufe meiner Arbeit am nützlichsten waren. Diese Bibliographie will jedoch nicht vollständig sein: Elliot Klayman, Medieval Jewish Messianism: Islamic Influence or Confluence?, in: Kesher 16 (2003), S. 136–145; Mercedes Garcia-Arenal, Messianisme juif aux temps des ‚mahdis‘, in: Maribel Fierro (Hrsg.), Judios y musulmanes en al-Andalus y el Magreb, Madrid 2002, S. 211–229; Almut Sh. Bruckstein, Moses Maimonides: Jüdische Kritik am Mythos der Endzeit, in: Helmut Holzhey/Georg Kohler (Hrsg.), In Erwartung eines Endes. Apokalyptik und Geschichte, Zürich 2001, S. 69ff; Aviezer Ravitzky, ‚To the Utmost Human Capacity‘: Maimonides on the Days of the Messiah, in: Joel L. Kraemer (Hrsg.), Perspectives on Maimonides. Philosophical and Historical Studies, London 19962, S. 221–256; Byron L. Sherwin, Aspects of Jewish Eschatology, op. cit.; Walter S. Wurzburger, Maimonides’ messianische Vorstellung, in: Ekkehard Stegemann (Hrsg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, S. 67–80; Donald E. Gowan, Eschatology in the Old Testament, Philadelphia 1986; Arye Botwinick, Maimonides’ Conception of ‚Yemot ha-Mashiah‘ and Contemporary Zionism: Some Policy Implications, in: Zionist Ideas, Nr. 7 (1983), S. 9–19; Jacob I. Dienstag, Eschatology in Maimonidean Thought, in: ders. (Hrsg.), Eschatology in Maimonidean
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Maimonides unmöglich, über das >olam ha-ba zu sprechen, ohne zugleich auf die Tage des Messias, auf die Ankunft des Messias und auf die Wiederauferstehung der Toten hinzuweisen. In meiner Untersuchung beschränke ich mich an dieser Stelle darauf, das >olam ha-ba im Maimonidischen Denken herauszustellen, ohne die anderen, damit verknüpften Themen zu vertiefen, die im Zentrum der nachfolgenden Kapitel stehen werden. In der Hebräischen Bibel ist die ‚Eschatologie‘ eines der Hauptthemen der Prophetie, die eine zentrale Rolle im Denken von Maimonides spielt. Die Prophetie erlebte in Israel und Juda zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert v. Chr. eine Blütezeit, ihr Einfluss war aber bereits vor der Entstehung des Christentums gesunken. Im Christentum übernahm die Apokalyptik die Rolle der Prophetie, wobei sie als verborgenes Element bereits bei vielen Propheten festzustellen ist. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Prophetie und Apokalyptik: Die erste konzentriert sich auf die Gegenwart, damit sich der Mensch als Einzelner und als Mitglied einer Gemeinschaft durch die prophetische Lehre vervollkommnen kann317, während die Apokalyptik ausschließlich zukünftige Ereignisse beschreibt, die katastrophale Folgen für die Menschheit haben werden. Bei den Apokalyptikern entsteht die Zukunft durch das unausweichliche Urteil Gottes ‚gegen‘ den Menschen, während die Zukunft bei den Propheten für die VerwirkThought. Messianism, Resurrection and The World To Come, New York 1983, S. 242–271; David Hartmann, Maimonides’ Approach to Messianism and its Contemporary Implications, in: Daat. A Journale of Jewish Philosophy & Kabbalah Bd. 2/3 (1978–1979), S. 5–33; Yael Sagiv-Feldman, Living in Deferment. Maimonides vs. Nahmanides on the Messiah, Redemption and the World to Come, in: Hebrew Studies, Bd. XX–XXI (1979–1980), S. 107–116; Fred Miller, Prophecy in Judaism and Islam, in: ISt 17, 1 (1978), S. 27–44. 317 Meines Erachtens hilft das Schema von Donald E. Gowan, den ethischen, politischen und weltlichen Ansatz der Propheten besser zu begreifen (Donald E. Gowan, Eschatology in the Old Testament, op. cit., S. 10); Gowan unterscheidet drei Hauptzielsetzungen der Prophetie mit jeweils einigen Unterpunkten: „TRANSFORMATION OF HUMAN SOCIETY Restoration to the Promised Land: Isa. 27:13; 35:10; 51:11; 60:4; 66:20; Jer. 3:14; 32:37; Ezek. 20:33–34; 37:26; Joel 3:20; Mic. 4:6–7, 10; Zeph. 3:20; Zech. 2:7; 8:7–8. The Righteous King: Isa. 11:9; 44:28; Jer. 33:16; Zech. 4:5–10; 6:12–13;9:9–10. The Nations (victory over): Isa. 34:8; Joel 3:1–21; Obadiah 16; Mic. 4:11–13; Zech. 1:14–15; 12:2–9; 14:1–3, 12–19. The Nations (peace with): Isa 2:2–4 = Mic. 4:1–4. The Nations (conversion of): Isa. 66:18–23; Jer. 3:17; Zech. 2:11; 8:20–23. TRANSFORMATION OF THE HUMAN PERSON Eschatological Forgiveness: Isa. 33:24; 40:2; Ezek. 20:40–44; 43:7–9; Zech. 13:1; cf. repentance in Isa. 59:20; Jer. 29:10–14; Ezek. 16:59–62. The Means of Re-Creation: Isa. 30:20–21; 59:21; Jer. 32:39–40 (cf. v. 36 – city). The New Person: Isa. 33: 24; 35:5–6 (cf. v. 10 – Zion); 65:20; Jer. 33:6; 50:5; Ezek. 16:60; Joel 3:17. TRANSFORMATION OF NATURE Abundant Fertility: Isa. 4:2; Joel 2:23; 3:17–18. A New Natural Order: Isa. 11:6–9; 65:25. A New Earth: Isa. 35:1–10; 65:17–18; Ezek. 47:1–12; Zech. 14:4–8,10.“
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lichung des Versprechens Gottes ‚für‘ den Menschen steht. Harold H. Rowley schreibt diesbezüglich: „Speaking generally, the prophets foretold the future that should arise out of the present, while the apocalyptists foretold the future that should break into the present.“318
Bei den Apokalyptikern zeigt sich die Verwirklichung des Zwecks Gottes nicht durch sich allmählich entwickelnde Ereignisse, die den Menschen als Protagonisten haben, sondern durch zufällige Ereignisse, die das Ergebnis des Handelns einer plötzlich ergreifenden und übernatürlichen Macht sind. Das erklärt auch die unterschiedliche Sprache der Propheten im Vergleich zu der der Apokalyptiker: Die Propheten haben eine soziale, politische und geschichtliche Funktion, sie müssen von den Menschen verstanden werden, weswegen ihre Sprache keine Sophismen enthält. Der Stil der Apokalyptiker hingegen ist sibyllinisch, weil sie sich hauptsächlich durch Symbole und Metaphern ausdrücken. Das Ende der Welt, die sie beschreiben, bedeutet auch das Ende der Geschichte (nämlich ‚das Ende der Tage‘ als ‚Tag Gottes‘) und somit das Ende jedweder Verständnisfunktion seitens des Menschen. Die prophetische Konzeption der Geschichte beginnt hingegen mit einer Reflexion über die Gegenwart, in der Gott nicht als plötzliche und zufällige Macht, sondern durch die Kooperation des Menschen auf die Entwicklung der Geschichte einwirkt. Eine solche unterschiedliche Konzeption der Geschichte und der Rolle des Menschen impliziert eine unterschiedliche Konzeption des >olam ha-ba, die bei den Propheten kaum erwähnt wird und in der apokalyptischen Literatur viel wichtiger wird. Sowohl für die Propheten als auch für die Apokalyptiker ist das >olam ha-ba die Belohnung für das richtige Handeln; aber letztere begreifen das >olam ha-ba nicht als Belohnung für das Erreichen der Gerechtigkeit auf Erden, die hingegen bei den Propheten der einzige Weg zum >olam ha-ba ist. Natürlich ist die geschichtliche Hoffnung der Propheten auch mit ihrer historischen Zeit verbunden, nämlich einer Zeit relativen Friedens zwischen Israel und den anderen Völkern, der sozialer und ökonomischer Wohlstand folgte. Die ersten Apokalyptiker hingegen konnten die prophetischen Versprechen nicht mit der miserablen Situation der Juden in der vorhasmonäischen Periode zusammenbringen, weshalb sie einen irrationalen Glauben an das wunderbare Eingreifen Gottes ins Schicksal Israels entwickelten. Das erklärt, dass das >olam ha-ba in der apokalyptischen Literatur keine Beziehung zur Geschichte des Einzelnen bzw. zur Geschichte des Volks Israels hat, mithin die Geschichte nicht als Vorbereitung für das Erlangen des >olam ha-ba begriffen wird. Das >olam ha-ba ist diejenige Zukunft, die nur Gott
318 Harold H. Rowley, The Relevance of the Apocalyptic, London 1944, S. 35.
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zugehört, weswegen der Hiatus zwischen >olam ha-zeh und >olam ha-ba in der apokalyptischen Literatur radikal ist. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, dass die äußerst geringe Präsenz von apokalyptischen Themen im Talmud (sowohl zur tannaitischen als auch zur amoräischen Zeit) Konsequenz dieses Hiatus ist, aber sicherlich zeigt der Talmud zumindest ein allgemeines Misstrauen gegenüber der apokalyptischen Konzeption der Geschichte, des Menschen und des >olam ha-ba. Hinsichtlich der mit diesem Thema verbundenen talmudischen Lehre unterscheidet David Hartmann319 nach dem Vorbild von Gershom Scholem320 zwischen zwei Arten von Hoffnung: 1. die Übernahme der menschlichen Verantwortung („halakhic hope“ nach der Bestimmung von Hartmann, „restorative hope“ nach Scholem) und die Erwartung einer zukünftigen Lösung für alle Probleme der Menschheit („radical hope“ nach Hartmann, „utopian hope“ nach Scholem). Im Talmud findet man beide Arten der Hoffnung. Z.B. liest man im Traktat Sanhedrin 97b die folgende Auseinandersetzung zwischen Shmuel und Rabh, zwei amoräischen Rabbinen: „Rabh sagte: ‚Alle [Angaben über das] Ende321 sind bereits vorüber; die Sache ist nur von Buße und guten Handlungen abhängig. Shmuel aber sagte: Es genügt, wenn der Leidtragende in seinem Leide verweilt.“322
Nach der Stellungnahme von Rabh wird die Weltgeschichte nicht notwendigerweise erlöst, weil die Erlösung vom menschlichen Handeln und von menschlicher Mühe abhängig ist. Im Gegenteil dazu meint Shmuel, dass es ausreichend sei, wenn Israel in seinem Glauben fest bleibt, ohne dass irgendeine moralische Erneuerung des Menschen notwendig wäre. Die gleiche Auseinandersetzung wird von zwei tannaitischen Rabbinen im selben Abschnitt des Talmuds wiederholt: „R. Eliezer sagte: ‚Wenn die Jisraeliten Buße tun, so werden sie erlöst, wenn aber nicht, so werden sie nicht erlöst.‘ R. Jehoshua sprach zu ihm: ‚Wenn sie keine Buße tun, werden sie nicht erlöst!? Vielmehr wird der Heilige, gepriesen sei er, gegen sie einen König auftreten lassen, der über sie böse Bestimmungen wie die des Haman verhängen wird, der sie zur Buße bringen und zum Besseren bekehren wird.“323
Die Stellungnahme von Rabbi Eliezer ist der von Maimonides sehr ähnlich: Die Erlösung konzentriert sich auf den menschlichen freien Willen, nämlich auf die freie Entscheidung zur teshuvah. Aber auch der Anschauung von Rabbi Jehoshua könnte Maimonides zustimmen: Gott wird nicht den Men319 David Hartmann, Maimonides’ Approach to Messianism, op. cit., S. 6. 320 Gershom Scholem, The Messianic Idea in Judaism, New York 1971. Siehe auch diesbezüglich: David Banon, Le messianisme, op. cit., S. 12ff. 321 Der talmudische Text sagt genau genommen ‚Erlösung‘ (ge’ulah). 322 Sanhedrin 97b, in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, in: Der Babylonische Talmud, Bd. 9, Berlin 1967, S. 68. 323 Ibidem.
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schen von der Notwendigkeit befreien, sich zu ändern, aber durch einen politischen Leiter wird er sicherstellen, dass die sozialen, ökonomischen und politischen Vorbedingungen für eine solche Änderung ermöglicht werden. David Hartmann stellt die unterschiedliche Konzeption der Geschichte dar, die sich in der Position der Rabbinen erblicken lässt: „The position advocated by Rav expresses a faith that creates the capacity for action. When Rav speaks of g e ’ u l a h depending on t s h u v a h , he does indeed believe in the eventual realization of ge’ulah; he felt the certainty of deliverance. But this confidence in redemption set into motion a liberating dynamic which expresses itself in deeds. ‚Halakhic hope‘ enhances a people’s practical capacity to act in history. […] We have so far presented two different approaches to hope and messianism: one which anticipates final resolution, the emergence of a new man and of a new history, and which often awaits redemption irrespective of human action; and the other which insists upon t s h u v a h , which expects the enrichment of human spiritual possibilities, but which guarantees no final resolution. These two attitudes to redemption and to hope may have their roots in two dissimilar historic memories. One attitude may emerge from consideration of the Exodus; the other, from remembrance of Sinai. The former undergirds a r u p t u r e concept of history; the latter, a covenantal concept of history.“324
Jedoch führen beide talmudischen Konzeptionen der Geschichte zu keiner inhaltlichen Vorstellung des >olam ha-ba, sondern nur zur Beschreibung des neuen politischen Zustandes im >olam ha-zeh. Hierzu lesen wir im Traktat Sanhedrin 98a–99a: „R. Abba sagte: Du [er wendet sich an Rabbi Eliezer] hast kein deutlicheres [Kennzeichen für das] Ende als das folgende: ihr aber, ihr Berge Jisraels, laßt euer Laub sprossen und tragt eure Frucht für mein Volk Jisrael … [Ez. 36:8]. R. Eliezer sagte: Auch kein deutlicheres als das folgende: denn vor jenen Tagen wird es für die Arbeit des Menschen keinen Lohn geben und keinen Ertrag von der Arbeit des Viehs; für den aus- und einziehenden gibt es keinen Frieden vor dem Feinde [Zach. 8:10]. Was heißt: für den aus- und einziehenden gibt es keinen Frieden vor dem Feinde? Rabh erklärte, selbst die Schriftgelehrten, von denen es heißt: viel Friede denen, die dein Gesetz lieben [Ps. 119:165], werden keinen Frieden finden. Semuél erklärte, alle Tore werden einander gleichen [nämlich man wird durch keines entrinnen können]. […] Ula sagte: Jerusalem wird nur durch Gerechtigkeit erlöst werden, denn es heißt: Zion soll durch Recht erlöst werden und seine Heimkehrenden durch Gerechtigkeit [Jes. 1:27]. […] Rabbi Öija b. Abba sagte im Namen R. Joöanans: Alle Propheten zusammen weissagten nur von den messianischen Tagen, von der zukünftigen Welt aber [heißt es:] es hat außer dir, o Gott, kein Auge geschaut, was er dem tun wird, der auf ihn harrt [Dt. 11:21]. Er streitet somit gegen Semuél, denn Semuél sagte, zwi-
324 David Hartmann, Maimonides’ Approach to Messianism, op. cit., S. 8–24.
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schen dieser Welt und den messianischen Tagen gebe es keinen anderen Unterschied, als die Knechtschaft der Regierungen.“325
Auf diesen drei Seiten des Talmud findet man mehrere Themen, die mit der ‚Eschatologie‘ verbunden sind: die Geschichte, die Konzeption der Zukunft,326 die Rolle des Menschen, die Beziehung zwischen >olam ha-ba und >olam ha-zeh sowie zwischen >olam ha-zeh und den Tagen des Messias. Solche Themen werden zugleich aus der tannaitischen und der amoräischen Perspektive vorgestellt, ohne dass man zu einem klaren Ergebnis kommen kann. Trotzdem ist es möglich, einige gemeinsame Gesichtspunkte innerhalb dieser unterschiedlichen Interpretationen herauszuarbeiten, wie sie Arye Botwinick teilweise bereits herausstellte.327 Sowohl die tannaitischen als auch die amoräischen Gelehrten sind von einer gemeinsamen Sorge getrieben: frei zu sein, sich dem Studium der Torah zu widmen, ohne von anderen Völkern unterdrückt zu werden, damit sie des Lebens im >olam ha-ba würdig sein können. In diesem Sinne gibt es für beide rabbinische Schulen eine Kontinuität zwischen >olam ha-zeh und >olam ha-ba, obwohl dabei häufig die Akzente und Gesichtspunkte, die genannt werden, variieren. Auch innerhalb derselben Schule wäre es unmöglich, eine einzige eindeutige Stellungnahme zu diesem Thema zu finden. Bei Maimonides werden wir hingegen sehen, dass er zwar keine inhaltliche Beschreibung des >olam ha-ba gibt, dafür aber die Beziehung zwischen >olam ha-ba und >olam ha-zeh darstellt, indem er Themen des Denkens von Aristoteles, Alfarabi und des Talmud verwendet.
325 Sanhedrin 98a–99a, in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt, in: Der Babylonische Talmud, Bd. 9, op. cit., S. 68–75. 326 Hinsichtlich dieser zwei Themen siehe: Yishak Abrabanel, Yesh’ot Meshiho, Jerusalem 1963, auch von Aviezer Ravitzky in The Days of the Messiah (op. cit.) zitiert: „Samuel, in his wisdom, anticipated two time periods in the future, [one] the days of Messiah, the time when the exiles shall be ingathered and leave the domination of other nations. […] Samuel thought that the character of this time would be like that of the days of old, of Moses and of David and of his son Solomon […] that the blessing of the land and its excellence would be renewed as it was in ancient days […] for the peak of the blessing and consolation will be that their success be renewed as of old […]. For he [Samuel] compared the future to the past […]. The peak of the goodness and success of the future will be that everything will return as it was in the early days, which were better than these […] and in all this nothing shall be changed from what it was. […] However, he also anticipated a second time period, which will came about after the coming of the Messiah […], the world of resurrection renewal […] which the prophets anticipated in their prophecies […] whether in the holiness of the people and the piety of its individuals […], the diffusion of wisdom and knowledge throughout the world, as Isaiah said, ‚the world shall be filled with knowledge of the Lord‘ […], and they also envisaged universal peace in all corners of the world […] and that the nations accept the faith in God […], that the dead shall be resurrected […] and that the evil impuls, and wars and strife shall cease.“ (S. 234) 327 Arye Botwinick, Maimonides Conception of Yemot Ha-Mashiah and Contemporary Zionism, op. cit., S. 12.
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§ 7 Das >olam ha-ba in den Hilkhot Teshuvah In seinem Aufsatz Past and Future328 versucht Achad Ha’am, das Geheimnis der existentiellen Kraft des Judentums innerhalb seiner schmerzvollen Geschichte von Exil, Vertreibung und Verfolgung zu bestimmen. Nach Achad Ha’am liegt diese Kraft in der einzigartigen Fähigkeit des Judentums, eine lebensbefördernde Konzeption der Zukunft als Schlusspunkt des Lebenszyklus auszubilden: die messianische Zeit für die Gemeinde und das >olam ha-ba für den Einzelnen. Eine solche Zukunft schafft ein Gegengewicht zur Erfahrung von Verzweiflung und nationalem Untergang, sie schafft ein ausgewogenes Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und bringt die geistige und praktische Existenz des Menschen ins Gleichgewicht. Moses Maimonides (vor allem Pereq Heleq und der Brief in den Jemen) ist der Bezugspunkt von Achad Ha’am für seine Interpretation der jüdischen Konzeption der Zukunft und speziell des >olam ha-ba. Achad Ha’am betont, dass die politische (und häufig universalistische, nämlich nicht nur auf Israel bezogene) Utopie der Propheten (Zeph. 3:9: „Dann werde ich die Lippen der Völker verwandeln in reine Lippen, damit alle den Namen des Herrn anrufen und ihm einmütig dienen“; Jes. 11:6: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten.“) eine utopistische Erkenntnis Gottes ist, die Maimonides annehmen kann, weil sie mit dem Kern seiner Philosophie, nämlich dem rationalen Begreifen Gottes, nicht in Konflikt tritt. Bei Maimonides ist die messianische Zeit nichts anderes als eine versprochene Gabe, durch die der Mensch am Erreichen seines Hauptzwecks arbeiten kann: des >olam ha-ba. Wenn ich auch mit dieser Interpretation der messianischen Zeit als versprochene Gabe nicht einverstanden bin, wie ich im Laufe des nächsten Kapitels zeigen werde, so macht doch die Lektüre von Achad Ha’am auf ein wichtiges Element der Teleologie329 von Maimonides aufmerksam, nämlich die Trennung jedweden überempirischen Ereignisses von der messianischen Zeit: Sie ist eine beschränkte Periode in der Geschichte, an deren Schluss die wiederauferstandenen Körper erneut sterben werden, und nur die Seele der gerechten Menschen wird am >olam ha-ba teilnehmen. Mit anderen Worten: Maimonides verschiebt das utopistische Element von der messianischen Zeit zum >olam ha-ba, die von der messianischen Erlösung völlig unabhängig ist: Das >olam ha-ba existiert ‚immer‘ und ist ‚zukünftig‘ nur für den Menschen, der im >olam ha-zeh lebt. Natürlich kann man 328 Achad Ha-Am, Past and Future, in: ders., Ten Essays on Zionism and Judaism, London 1922, S. 31–47. 329 Ausgehend von dem von mir bereits skizzierten Unterschied zwischen Eschatologie und Teleologie im Denken von Maimonides wird hier nur von Teleologie die Rede sein.
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nur durch die teshuvah im >olam ha-zeh auf das >olam ha-ba hoffen, aber die teshuvah ist kein durch ein Wunder bewirktes Ereignis, sondern von der Kette der geschichtlichen Ereignisse wie auch vom menschlichen Willen abhängig. Aus diesem Grund bin ich mit der Kritik von David Hartmann an Gershom Scholem völlig einverstanden, wenn jener schreibt, Scholem erkenne den Rationalismus von Maimonides’ ‚Eschatologie‘ nicht an, weil er die teshuvah als ein plötzlich in der Geschichte entstehendes Geschehen interpretiert.330 In Hilkhot Teshuvah VII, 5 liest man: „Alle Propheten beauftragten die Menschen bezüglich Umkehr. Nur durch Umkehr wird Israel erlöst werden und die Torah verspricht, dass Israel am Ende und am Ende seines Exils umkehren und umgehend erlöst werden wird.“
Die Propheten hätten keine Notwendigkeit gehabt, den Menschen die Aufgabe der teshuvah aufzubürden, wenn sie eine plötzliche wundersame Tat in der Geschichte wäre, nämlich eine von der Verantwortung und vom Handeln des Menschen unabhängige Tat. Das Gesetz verspricht, dass Israel erlöst werde, wenn es bereut, aber die teshuvah ist keine selbstverständliche und sichere Garantie, sondern nur eine Möglichkeit, die der Mensch im Laufe seines Lebens und im Laufe der Geschichte verwirklichen bzw. nicht verwirklichen kann. Sicher ist nur die Erlösung der reuigen Seele, weil die Erlösung im Willen des Schöpfers liegt. Die Zukunft des Menschen bleibt somit offen. Aus diesem Grund wird das Handeln Gottes bei Maimonides nicht von der Struktur der Natur und vom menschlichen Handeln isoliert betrachtet. Alle biblischen Beschreibungen des göttlichen Willens, in denen dieser als vom menschlichen Handeln unabhängig erscheint, müssen so betrachtet werden, als ob Gott ein aufmerksamer Prognostiker der menschlichen Ereignisse wäre. In Hilkhot Teshuvah VI, 11 liest man diesbezüglich: „Und steht nicht in der Torah geschrieben: „und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen“ (Gen. 15:13)? Hat der Allmächtige nicht verfügt, dass die Ägypter schlecht handeln sollen? Es steht auch geschrieben, „und dies Volk wird sich erheben und nachlaufen den fremden Göttern des Landes“ (Deut. 31:16). Hat er nicht verfügt, dass Israel Götzen anbeten sollte? Warum hat er sie dann bestraft? Die Antwort ist, dass er nicht bezüglich eines spezifischen Individuums verfügt hat, dass dieses Individuum dasjenige sein sollte, welches vom rechten Weg abkommt. Jeder von denen, die vom rechten Weg abkamen und Götzen anbeteten, hätte, wenn er Götzendienst nicht hätte begehen wollen, dies nicht tun müssen. Der Schöpfer hat Moses nur davon in Kenntnis gesetzt, wie der zukünftige Verlauf der Geschichte sein würde, so wie man sagt, „Dieses Volk wird rechtschaffene und 330 David Hartmann, Maimonides’ Approach to Messianism, op. cit., S. 11; Gershom Scholem, The Messianic Idea in Judaism, op. cit., S. 30f; ders., Zum Verständnis der messianischen Idea im Judentum, in: ders., Judaica 1, Frankfurt a.M. 19976, S. 7–74.
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verdorbene Personen haben“. Ein verdorbener Mensch hat deswegen kein Recht zu sagen, dass es verfügt worden war, dass er schlecht sein sollte, denn dass der Allmächtige Moses davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass es in Israel verdorbene Männer geben würde, wie in dem Text: „Denn es wird immer Bedürftige geben in deinem Land“ (Deut. 5:11) bedeutet nicht, dass ein bestimmtes Individuum dazu bestimmt ist, arm zu sein.“
In der Geschichte ist der Mensch nicht einfach Instrument des göttlichen Willens, und diese nicht-deterministische Konzeption der Geschichte unterstreicht nicht nur die menschliche Freiheit, sondern auch die Hoffnung, die im Glauben an ein Endziel der Geschichte besteht.331 Genauso, wie wir bereits gesehen haben, die Aristotelische Theorie der Glückseligkeit den Fatalismus und die Unausweichlichkeit der antiken Welt bekämpft, so stellt der „halakhic activism“332 von Maimonides klar, dass von Seiten des Menschen in bezug auf die teshuvah und auf die freie Wahl der Gerechtigkeit keine geistige Unfähigkeit akzeptiert werden kann. David Hartmann schreibt: „Man abiding by God’s law experiences renewal not through vicarious relationship and not by passive acceptance of God-given provision, but through seeking and discovering within himself new capacities for moral change.“333
Die messianische Zeit hängt von dieser menschlichen Fähigkeit ab, aber nicht das >olam ha-ba, das ‚immer‘ (im Sinne einer zeitlosen Ewigkeit) von Gott für den gerechten Menschen bereitgehalten wird. Das >olam ha-ba gehört zur schöpferischen Kraft Gottes, während das Handeln, welches zum Erreichen des >olam ha-ba führt, zur Fähigkeit des Menschen gehört. Dieser letzte Aspekt, nämlich die Fähigkeit des Menschen, im Sinne dieses Endziels zu handeln, wird im ersten Abschnitt des achten Paragraphen von Hilkhot Teshuvah deutlich herausgestellt, in dem sowohl Bezüge zu Aristoteles als auch zu Alfarabi deutlich erkennbar werden: „Das Gute, das den Rechtschaffenen vorbehalten ist, ist das Leben in der kommenden Welt – ein Leben, welches unsterblich ist, ein Gut ohne Böses. Deshalb steht in der Torah ‚auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest‘ (Deut. 22:7); die traditionelle Interpretation dessen ist folgendermaßen: ‚auf dass dir’s wohlgehe‘ in einer Welt, die in allem gut ist [bvu vlvk> ,lvi ]; ‚und du lange lebest‘, in einer unendlichen Welt, das ist die kommende Welt. II. Der Lohn der Gerechten ist, dass ihnen dieses Glück zuteil wird [vkzy> ] und sie in diesem Zustand der Glückseligkeit [hbvub ] fortbestehen; die Bestrafung der Schlechten ist, dass sie dieses Leben nicht erhalten [hkvz vnyX> ], sondern abgeschnitten und sterben werden. Derjenige, der dieses Leben nicht erlangt, wird in dem Sinne tot sein, dass er niemals wieder leben wird, sondern in seiner Schlechtigkeit abgeschnitten und wie ein wildes Tier verenden wird. […] Das bedeutet, dass die Seele nach ihrer Trennung vom Körper
331 Nachmanides wird diese Konzeption des Maimonides heftig kritisieren. 332 David Hartmann, Maimonides’ Approach to Messianism, op. cit., S. 22. 333 Ibidem.
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(am Ende der Existenz) auf der Erde nicht das Leben in der kommenden Welt erlangen und auch von diesem Leben abgeschnitten sein wird.“334
In diesem Paragraphen hat das hebräische Verb ‚tv$ K z0 l I ‘ (gewinnen, erwerben) dieselbe Funktion wie das arabische Verb tahsil in Kitab Tahsil alSa>ada von Alfarabi, es bezieht sich nämlich auf eine Belohnung, die keine Folge des Zufalls bzw. einer Entscheidung einer überempirischen Kraft, sondern Konsequenz des richtigen Handelns des Menschen im >olam hazeh ist. Das göttliche Gesetz garantiert die Existenz einer solchen Belohnung in potentia, aber in actu wird sie dem menschlichen freien Willen überlassen. Der Mensch, der durch sein Handeln an der Verwirklichung der Gerechtigkeit auf der Erde teilhat, gewinnt das >olam ha-ba, das Maimonides zugleich als Segnung und als ‚Glückseligkeit‘ definiert. Im Grunde ist die Übersetzung von Moses Hyamson bereits eine Aristotelische Interpretation von Maimonides, wobei man nicht feststellen kann, inwieweit der Übersetzer sich dessen bewusst war. In diesem Paragraphen benutzt Maimonides das Wort hbvu , das ‚Gute‘. Genauso wie für Aristoteles die Glückseligkeit das höchste Gute ist, so definiert Maimonides das >olam ha-ba als ein bvu vlvk> ,lvi , nämlich eine Welt, die in ihrer wesentlichen Totalität gut ist. In diesem Sinne entspricht das >olam ha-ba der Aristotelischen Glückseligkeit als höchstem Gut, wobei diese bei Aristoteles keine überempirische Bedeutung hat. Die Ähnlichkeit betrifft hier nur das Wesen des höchsten Guten bei beiden Denkern, nämlich eines Guten, das keinen Mangel in sich trägt. Die Verwirklichung dieses Guten auf der Erde erweist sich als Zweck des menschlichen Handelns gemäß dem göttlichen Gesetz, aber genau wie die Aristotelische Glückseligkeit bleibt ein solches Endziel in der empirischen Welt unerreichbar, die auch von der Kraft des Bösen beherrscht wird. Der Mensch kann sich nur diesem Endziel annähern, soweit es seiner Fähigkeit zum Handeln möglich ist. Der gerechte Mensch bei Maimonides fürchtet nicht den Tod, genauso wie der gerechte Bürger von Alfarabi keine Angst vor dem Tode hat, weil er der Meinung ist, dass er nach dem Tode ein größeres Gut als das Gute finden wird, das er bis zum Augenblick seines Todes verwirklicht hat. Das Gute, das der Mensch bei Alfarabi und Maimonides auf der Erde verwirklichen kann, hängt von der Erkenntnis des Telos der Natur und des Telos des Menschen als eines individuellen und gemeinschaftsbezogenen Geschöpfs ab, eine Erkenntnis, die vom theoretischen Intellekt ermöglicht wird. Besonders bei Maimonides hat der theoretische Intellekt die Funktion, die Bedeutung des göttlichen Gesetzes für die Verwirklichung einer solchen Gerechtigkeit zu erkennen, damit der Mensch der höchsten Belohnung würdig sein wird: Vom Leben im >olam ha-ba, nämlich dem Leben in der Dimension des höchsten
334 Sefer ha-Madda> 90a.
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Guts, wird der ungerechte Mensch ausgeschlossen sein. Nur für diesen stellt sich der Tod sowohl als Telos als auch als Eschaton dar, weil seine Seele nach der Trennung vom Körper kein anderes Leben erfahren wird. Wie bei Aristoteles wird die unsterbliche Seele auch bei Maimonides mit dem theoretischen bzw. rationalen Intellekt identifiziert: Der Intellekt ist die Form der Seele, die Maimonides am Anfang des Moreh ha-Nevukhim als Ähnlichkeitsprinzip zwischen Gott und Menschen bestimmt.335 Im Moreh ha-Nevukhim heißt es zur Unsterblichkeit der Seele: „Denn die Seelen, die nach dem Tode fortbestehen, sind nicht die Seele, die im Menschen zugleich mit seinem Werden entsteht; denn diese letztere ist nur ein Vermögen, eine bloße Anlage; hingegen ist das Ding, das sich nach seinem Tode absondert, das zur Wirklichkeit gewordene Ding. Ebenso ist auch die werdende Seele [nefesh] keineswegs der werdende Geist [ruah]. Deshalb zählen sie unter werdenden Dinge die Seelen und Geister; aber die nach dem Tode abgesonderten Geister sind nur ein einziges Ding.“336
Diese Form der Seele nach dem Tode ist die Erkenntnis, wie auch im Hilkhot Yessode Ha-Torah festgestellt wird: „Diese Form der Seele besteht nicht aus den Elementen, so das sie niemals wieder in sie zerfallen könnte; noch kommt sie aus der Kraft des Atems des Lebens [neshama], so dass sie des Atems des Lebens in demselben Maße bedürfte wie der Körper des Atems des Lebens bedarf. Vielmehr strömt sie von Gott, vom Himmel aus; deshalb wird diese Form, wenn die aus Elementen zusammengesetzte Materie zerfällt und wenn der Atem des Lebens erstirbt – denn sie kann nicht getrennt vom Körper existieren und benötigt den Körper mit all seinen Funktionen – nicht zerstört, weil sie den Atem des Lebens mit seinen Funktionen nicht benötigt, sondern die Intelligenzien kennt und versteht, die getrennt von der Materie sind, und den Schöpfer aller Dinge kennt. Sie hat für alle Ewigkeit Bestand.“337
In Paragraph 8, den wir jetzt genauer betrachten, findet man eine deutliche Wiederholung dieses Prinzips: „Die Seele [nefesh] ist, wann immer sie in diesem Zusammenhang [mit Wissen] erwähnt wird, nicht das für die körperliche Existenz notwendige unerlässliche Element, sondern die Form der Seele, welche identisch mit der Intelligenz ist, die den Schöpfer soweit als möglich begreift und andere abstrakte Konzepte und andere Dinge versteht.“338
Die Erkenntnis Gottes, welche die unsterbliche Seele jetzt zu begreifen vermag, ist die Glückseligkeit, die der Mensch im >olam ha-ba erkennen wird: Sie ist die Krone, von der Salomon im Hohelied339 spricht und von der man im >olam ha-zeh kein Vorbild kennt. 335 Für eine Vertiefung dieser Problematik vgl. u.a.: Jacob I. Dienstag, Eschatology in Maimonidean Thought, op. cit., S. 233. 336 MN I, 70. 337 Sefer ha-Madda> IV 8f. 338 Sefer ha-Madda> 90b. 339 Hld 3:11.
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Die Verwirklichung der Erkenntnis Gottes als Glückseligkeit des >olam ha-ba bedeutet für Maimonides, dass es unmöglich ist, irgendeine inhaltliche empirische Beschreibung des >olam ha-ba zu geben. Das >olam ha-ba besteht nur aus den Seelen der gerechten Menschen, und dass es keine materiellen Körper gilt, impliziert die Unmöglichkeit einer inhaltlichen empirischen Beschreibung. Man kann sich nur die materiellen Gelüste vorstellen (Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr usw.), die aber immer mit der Existenz des Körpers verbunden sind. Maimonides zitiert an dieser Stelle Bavli Berakhot, in dem man liest: „Im kommenden Leben gibt es kein Essen, kein Trinken, keinen ehelichen Geschlechtsverkehr, sondern die Rechtschaffenen sitzen mit ihren Kronen auf ihren Häuptern und genießen die Strahlen der Schechinah [der göttlichen Präsenz].“340
Die „Krone“, die bei Maimonides gleich der Glückseligkeit (an dieser Stelle benutzt Maimonides das Wort xms , das Hyamson mit „joy/enjoy“341 übersetzt) ist, entspricht der höchsten Erkenntnis (hid ) Gottes, nämlich der Erkenntnis und dem Erlebnis (es handelt sich um eine Form von Leben, wenn auch nicht im Sinne des Lebens, das man auf der Erde erfährt) der Wahrheit als absolutes Gut. Dass eine solche erkenntnistheoretische Dimension des >olam ha-ba hervorgehoben wird – in der die Lehren von Aristoteles, Alfarabi und des Talmud zugleich gegenwärtig sind – erklärt die Distanzierung Maimonides’ sowohl von der apokalyptischen Literatur, in der die Rationalität und das Handeln des Menschen keine Rolle spielen, als auch von jedwedem Versuch, das >olam ha-ba mittels empirischer Vorbilder darzustellen. Eine solche erkenntnistheoretische Beschreibung des >olam ha-ba streben für Maimonides alle Propheten an („Und danach strebten all die Propheten“342), die durch ihre politische und soziale Darstellung der Gerechtigkeit als Handeln des individuellen und gemeinschaftsbezogenen Menschen versuchten, den Menschen zur Perfektionierung seines theoretischen Intellekts zu führen, damit er sich auf die Glückseligkeit des >olam ha-ba vorbereiten könne und der Ausschluss von dieser Welt als „ein Verderben, dass nicht wieder gut zu machen ist, und einen Verlust, der unabänderlich ist“343 vermeiden werde. Nur Menschen, deren Intellekt nicht das Niveau der Vollkommenheit erreicht hat, glauben daran, dass die Glückseligkeit ausschließlich in den physischen Lüsten liegt. Unter dieser Kategorie von Menschen nennt Maimonides auch die Araber, so dass man diese Stelle bei oberflächlicher Lektüre wie ein Urteil über die ganze arabische Welt interpretieren könnte. Jedoch schreibt Maimonides diesbezüglich: 340 341 342 343
Bab. Talmud Berakhot 17a. Sefer ha-Madda> 90b. Ibidem. Ibidem.
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„Möglicherweise bewertest du diese Wohltat (des kommenden Lebens) leichtfertig und glaubst, dass die einzige Belohnung für die Erfüllung der religiösen Vorschriften und das beständige Befolgen der Wege der Genuss guten Essens und Trinkens ist […], wie diejenigen törichten und dummen Araber [,yybrih vlyX ] glauben, welche liederliche Leben führen.“344
Aus einer aufmerksamen Lektüre des hebräischen Texts wird deutlich, dass sich Maimonides nicht auf die Araber tout court bezieht, sondern vielmehr auf eine bestimmte Gruppe (,yybrih vlyX : „diejenigen Araber“). Um beurteilen zu können, dass diese Araber ein ausschweifendes Leben führen, muss Maimonides eine relativ enge Beziehung zu dieser Gruppe gehabt haben, so dass er ihren Alltag gut kannte. Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, dass Maimonides hier vom Hof Salah ad-dins, bei dem er als Hofarzt tätig war, spricht. Die übertriebenen luxuriösen Freizügigkeiten dieses Hofs waren häufig Gegenstand damaliger Chroniken und Erzählungen; ein geschichtlicher bzw. theologischer Grund dafür, dass sich Maimonides an dieser Stelle auf die ganze arabische Welt beziehen könnte, ist meines Erachtens nicht zu erkennen. „Diejenigen Araber“ sind dumm und beschränkt, weil sie glauben, dass das menschliche Leben nur aus Lust und Genuss besteht, wobei die Weisen, nämlich die Gelehrten des göttlichen Gesetzes, wie auch die intelligenten Menschen, nämlich diejenigen, welche ihren Intellekt vervollkommnet haben (Maimonides unterscheidet zwischen den Weisen – ,ymkxh – und den intelligenten Menschen – hid ylib – sehr deutlich345), wissen (vidy – in dem Sinne, dass sie Erkenntnis – hid – haben), dass das höchste Gut (hlvdg hbvu ) die Erkenntnis ist, die sie im Leben gewonnen haben. Nur dank dieser Erkenntnis werden sie am >olam ha-ba teilhaben. Diese theoretische bzw. intellektualistische Konzeption des unsterblichen und ewigen Lebens erklärt auch, weshalb Maimonides im Laufe seiner philosophischen und politischen Tätigkeit als Leiter einer Gemeinde nur wenig an der Wiederauferstehung der Toten interessiert ist. Er verneint die Wiederauferstehung der Toten niemals, aber sie bezieht sich auf eine empirische und körperliche Interpretation des Jenseits, die Maimonides völlig fremd ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Maimonides eine Art von ‚theologischem Asketismus‘ einführen möchte. Er erkennt auch die Bedürfnisse des Körpers im >olam ha-zeh an, dessen Wohlbefinden vom Genießen bestimmter Dinge abhängt. Im >olam ha-zeh strebt die Seele nach diesen Genüssen, weil der Körper ohne sie nicht leben könnte, der Mensch sich dem Studium des Gesetzes und dem Erreichen der intellektuellen Vervollkommnung ohne die Befriedigung gewisser materieller Bedürfnisse nicht widmen könnte. Als Arzt kennt Maimonides diese legitimen Bedürfnisse des Kör344 Ibidem. 345 Sefer ha-Madda> 90b.
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pers genau, aber nach der Trennung der Seele vom Körper werden sie völlig bedeutungslos. Aus diesem Grund kann sich der Mensch die Glückseligkeit des >olam ha-ba nur metaphorisch (l>m 'rd ) vorstellen.346 Jedoch vermag eine Metapher die Wahrheit eines Phänomens, das sie repräsentiert, nie ganz zu begreifen oder völlig adäquat darzustellen. Maimonides stellt fest, dass sowohl das Gute des Körpers ([vgh tbvu ) als auch das Gute der Seele (>pnh tbvu )347 legitimerweise angestrebt werden können (für den Arzt wäre die gegenteilige Behauptung unbegreiflich), aber das zweite ist viel grundlegender als das erste (dXm di hlvdg hbvuh ).348 Nur Gott kann das Wesen des >olam ha-ba, nämlich seine Macht und Größe, erkennen, weswegen die Propheten stets und nur Prophezeiungen über die Tage des Messias, aber niemals über das >olam ha-ba ausgesprochen haben.
7.1 Der Messias aus dem Hause Davids und die Tage des Messias (Yemot ha-Mashiah): Die Einheit der Erlösung bei Maimonides Im vorletzten Abschnitt des achten Paragraphen verknüpft Maimonides die Weisheit Davids mit den Tagen des Messias. Genauso wie David wusste, dass man das höchste Gut Gottes im >olam ha-zeh nicht sehen kann349, haben die Propheten auch über die materiellen Lüste und Freuden, die Israel eines Tages genießen wird, nur in bezug auf die Tage des Messias berichtet, welche sich im >olam ha-zeh zeigen werden.350 Meines Erachtens kann man in diesem Paragraphen den Versuch Maimonides’ erkennen, die Figur des Messias mit dem Haus Davids zu verbinden. In der rabbinischen Tradition läuft eine Konzeption darauf hinaus, dass in der endgültigen Erlösung zwei Messiasgestalten einbezogen werden. Der erste Messias ist ein Nachkomme von Joseph, der zweite hingegen ist ein Spross der Dynastie Davids. Es wurde angenommen, dass das Erscheinen beider für die Realisierung der eschatologischen Hoffnung Israels nötig ist. So wurde erwartet, dass die Niederlage des ersten Messias, des Nachkommen Josephs, der Auftakt sei für den Triumph des Erlösers, des Messias, 346 Ibidem, 91a. 347 Ibidem. 348 Ibidem. An dieser Stelle ist die Übersetzung von Hyamson irreführend, weil er einmal über „the bliss of the soul in the life hereafter“ und einmal über „the gratification afforded to the body on earth“ spricht. Wahrscheinlich möchte er durch eine solche Übersetzung das Gute des >olam ha-ba vom Guten des >olam ha-zeh trennen, aber somit fehlt man, dass auch das >olam ha-zeh nach Maimonides eine Form des Guten ist. 349 Vgl. Ps. 27:13: „Ach, wenn ich nicht die Zuversicht hätte, die Güte des Herrn zu schauen im Lande der Lebenden! „ 350 Maimonides schreibt (S. 91a), dass dasselbe auch von den „ersten Weisen“ (,ynv>Xrh ,ymkx ) behauptet wurde. Die Interpreten sind sich über die Identität dieser ‚alten‘ bzw. ‚ersten Weisen‘ noch nicht einig.
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Sohn Davids, der ein Zeitalter dauerhaften Friedens, der Harmonie und der Ruhe eröffnen und einleiten wird.351 Diese Konzeption kannte man auch in der apokryphen Literatur, im besonderen in dem sogenannten Testament der zwölf Patriarchen352, die aber damals nur auf griechisch zugänglich war (selbstverständlich hatten die Araber kein Interesse daran, eine solche Literatur zu übersetzen), weswegen es sehr unwahrscheinlich ist, dass eine solche Literatur irgendeinen Einfluss auf Maimonides ausübte. Das Konzept der zwei Messiasgestalten hat den Vorteil, dass es eine klare Trennung der messianischen Aufgaben vorsieht. Die unangenehme Aufgabe, die Last, Kriege führen zu müssen, die Gerichtsverfahren sowie die Drangsale, die der endgültigen Erlösung vorausgehen, sind dem scheiternden Messias zugewiesen, während der erfolgreiche Messias das Zeitalter der Pax Messianica einleiten wird und im Gegensatz zu einem militärischen Führer sich nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Esel zeigen wird. Der vorletzte Paragraph des achten Abschnitts von Hilkhot Teshuvah zeigt meines Erachtens bereits, was in den Hilkhot Melakhim noch deutlicher sichtbar ist, dass nämlich Maimonides die Lehre von zwei Messiasgestalten nicht vertritt. Der Grund, weshalb er diese Konzeption eines Messias ablehnt, der ein Spross Josephs und nicht Davids ist und dessen Scheitern den Weg für die Ankunft des erfolgreichen Messias ebnet, hat aber nichts mit dem Glauben zu tun, dass das Kriegsgeschäft mit der Funktion des Messias völlig unvereinbar sei. So gibt es keinen Grund für die Behauptung von Joseph Sarachek, nach dem Maimonides die Vergeltungs- und Militäraspekte der Erlösung im Glauben minimiert und diese friedlich und natürlich aus dem Schosse der Zeit hervorgehen müssen. Daher kann Maimonides keine Notwendigkeit für das meteorhafte Erscheinen dieser militärischen Figur sehen.353 Im Gegensatz dazu ist das Kriegführen nach Maimonides die erste Aufgabe des Messias, weil Siege für den Beweis der Authentizität des Messias notwendig sind. Im vorletzten Abschnitt des achten Paragraphen von Hilkhot Teshuvah tritt ein erkenntnistheoretisches anstelle eines politischen Elements auf, das deutlich beweist, aus welchem Grund der echte Messias nur aus dem Haus von David stammen wird: Er wird nicht nur die nationalen Anstrengungen des jüdischen Volks realisieren, sondern auch das Fundament für die allmähliche Erfüllung des Gesetzes legen, nämlich die Erkenntnis Gottes. Ein wichtiger Aspekt dieser Erkenntnis liegt darin, dass sie zur Verwirklichung 351 Talmud Bavli, Traktat Sukkah 52a. Für eine umfassende Diskussion der Lehre von den zwei Messiasgestalten siehe: Menachem M. Kasher, Hatequfah hagedolah, Jerusalem 1968, bes. S. 71ff und S. 418ff. 352 The Testament of the Twelve Patriarchs: the Sons of Jacob, übers. von Anthony Gilby (1. Ausgabe: 1581), London 1731. 353 Joseph Sarachek, The Doctrine of the Messiah, op. cit., S. 149. Vgl. diesbezüglich auch: Walter S. Wurzburger, Maimonides’ messianische Vorstellung, op. cit., S. 71ff.
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der Gerechtigkeit als höchstes Gut des >olam ha-zeh führen wird, aber dieses Gut ist nur die Vorbereitung auf das höchste und absolute Gute des >olam ha-ba, von dem man, wie der Messias weiß, auf der Erde nichts erkennen kann. Einige Interpreten haben betont, dass der Messias aus dem Haus Davids nicht nur Israel, sondern die ganze Menschheit zur Verwirklichung der Gerechtigkeit auf der Erde, mit Blick auf das höchste Gute des Jenseits, führen wird. Diese Interpretation basiert auf der Frage: Wer ist David?354 Nach einer rabbinischen Aggadah zeigte Gott Adam unmittelbar nach seiner Schöpfung ein Tal, in dem alle Seelen der Menschen, die noch geboren werden sollten, versammelt waren. Die Aufmerksamkeit von Adam wurde von einer Seele erregt, die sehr wach flackerte, als ob sie im Begriff wäre, zu verschwinden. Adam fragte Gott: „Wessen ist diese Seele?“ Gott antwortete darauf: „Es ist die Seele David.“ Adam fragte weiter: „Wieso flackert sie so wach?“ „Weil David im Moment seiner Geburt sterben wird.“ Adam fragte noch: „Was würde er erreichen, wenn er weiterlebte?“ „Er wird der König Israels sein. Er wird Psalmen schreiben. Ein Nachfolger seines Hauses wird der Messias sein, der die Welt von ihren Sünden erlösen wird.“ Adam sagte: „Laß’ mich ihm einige Jahre meines Lebens geben“. Und Gott erfüllte diesen Wunsch.355 Auf Hebräisch besteht der Name von Adam aus den Buchstaben , – d – X , welche einige antike Rabbinen wie auch die spätere lurianische Kabbalah als Abkürzung von ‚Adam – David – Messias‘ interpretieren. Man kann nicht annehmen, dass diese Legende Maimonides bekannt war, aber sicherlich ist das häufige Auftreten des Wortes ‚Adam‘ in den Hilkhot Teshuvah ein Anzeichen dafür, dass Maimonides’ Überlegungen ähnlich waren. Da Adam ‚Mensch‘ bedeutet, ist die Seele jedes Menschen ein ‚Miniaturmessias‘, weshalb jeder Mensch dafür verantwortlich ist, dass er seine Seele zur Gerechtigkeit führt, damit der Messias aus dem Haus Davids erst als Konsequenz dieser Bemühung aller einzelnen Menschen kommen kann (das ist ein möglicher Hinweis auf die individuelle und zugleich universelle Bedeutung der Erlösung). Der vorletzte Abschnitt des achten Paragraphen von Hilkhot Teshuvah geht nicht so weit: An dieser Stelle findet man nur die Verbindung der Weisheit Davids, welche die Erkenntnis Gottes im >olam ha-zeh als eine im Vergleich zum höchsten Guten des >olam ha-ba beschränkte Erkenntnis
354 Siehe u.a.: Byron L. Sherwin, Aspects of Jewish Eschatology, op. cit., S. 161. 355 Ibidem, S. 161.
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erkennt, mit den Tagen des Messias.356 Diese Tage werden nach Maimonides die Vollendung der menschlichen Kenntnis Gottes als Vollendung der Gerechtigkeit (das ist für Maimonides das Endziel des göttlichen Gesetzes auf der Erde) im >olam ha-zeh gestatten. David ist sich vor den Propheten dessen bewusst, weswegen der Messias nicht nur als Führer im Krieg, sondern auch als politischer Führer, der im >olam ha-zeh für die Erfüllung des Gesetzes sorgt, sein Nachfolger sein wird. Wie bei dem >olam ha-ba gibt Maimonides auch in bezug auf die Tage des Messias keine Beschreibung, weswegen es sehr schwierig ist, festzustellen, ob er sich auf eine bestimmte rabbinische Interpretation dieser Tage bezieht. Den Ausdruck Yemot ha-Mashiah nimmt Maimonides aus dem Talmud und scheint sich im Besonderen auf zwei Talmudstellen zu beziehen. Die erste ist Sanhedrin 91b, wo man liest: „[…] Nach Shemuél aber, welcher sagt, zwischen dieser Welt und den messianischen Tagen gebe es keinen anderen Unterschied als die Knechtschaft der Regierung.“
Auch hier findet man keine inhaltliche Beschreibung der Yemot haMashiah, vor allem weil sich die Rabbinen auf keine bereits existierende Tradition bzw. auf keinen biblischen Text beziehen können. Die Yemot ha-Mashiah sind kein Dogma, sondern der logische Schluss von Gottes Versprechens: Der Inhalt dieses Versprechens ist die Torah, nämlich das Gesetz, das nur in einem geschichtlichen Zustand von Frieden und Freiheit studiert werden kann, d.h. ohne den Druck der Feinde. In den Yemot ha-Mashiah gibt es keinen Krieg und keine Hungersnot, wobei der Unterschied zwischen Reichen und Armen nicht verschwunden sein wird. Aber dank der gerechten sozialen Umstände werden alle eine einzige Sorge haben: die Erkenntnis Gottes, also das Studium des Gesetzes.357 Die Yemot ha-Mashiah sind also kein geistiges Reich der unkörperlichen Seelen, sondern gehören immer schon zur geschichtlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Dimension des >olam ha-zeh, wobei sie auch, wie das >olam ha-ba, mit der Erkenntnis Gottes – selbstverständlich in einem unterschiedlichen Grad – verbunden sind. In diesem Paragraph der Hilkhot Teshuvah bezieht sich Maimonides auch auf eine talmudische sugya, und er bezieht sich zugleich auf zwei scheinbar widersprüchliche Positionen (die von Rabbi Samuel und die von Rabbi Hiyya Ben Abba). Diese Disputation findet man im Traktat Shabbat 63a, in dem die Rabbinen über eine Aussage der Mishnah diskutieren, in der 356 Ich stimme nicht mit Arye Botwinick überein (Maimonides’ Conception of Yemot Ha’Mashiah, op. it., S. 10), der meint, dass nur die Kapitel 11 und 12 von Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem der locus classicus der Maimonidischen Interpretation der Yemot ha-Mashiah sind. 357 Vgl. Jes. 11:9: „Nichts Böses und nichts Verderbliches wird man tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn wie von Wassern, die das Meer bedecken.“
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es heißt, dass man am Shabbat keine Waffe tragen darf. Aber in diesem Abschnitt der Mishnah sagt Rabbi Eliezer, dass die Waffen zur messianischen Zeit nur ein Schmuck sein werden, da unter den Nationen kein Krieg mehr geführt sein wird, weshalb es möglich sein wird, die Waffen auch am Shabbat zu tragen. Rabbi Hiyya Ben Abba sagt, dass die Waffen nicht mehr existieren werden, nicht einmal als Schmuck, weil sie zur messianischen Zeit keine Funktion mehr haben. Hingegen behauptet Rabbi Samuel an derselben Talmudstelle, dass die Waffen als Waffen weiter existieren werden. Es erstaunt, dass Maimonides beide Positionen in den Hilkhot Teshuvah nicht nur wiedergibt, sondern auch als einander gegenseitig unterstützend betrachtet. Im siebten Abschnitt des achten Paragraphen schreibt Maimonides: „Aber hinsichtlich des Segens der kommenden Welt kann nichts mit ihm verglichen werden und nichts ähnelt ihm. Und die Propheten haben sie nicht beschrieben, um sie nicht durch ihre Vorstellung herabzuwürdigen. Deshalb sagte Jesaja, „kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren“ (Jes 64:3); das ist der Segen, welchen weder das Auge des Propheten, noch irgendjemand sonst außer Gott gesehen hat, den Er für den Menschen vorbereitet hat, der auf Ihn wartet. Die Weisen sagen, „Alle Propheten sagten nur bezüglich der Tage des Messias voraus. Aber die kommende Welt hat kein Auge außer Deinem, oh Gott, gesehen.“
Jedoch unterstreicht Maimonides im zweiten Abschnitt des neunten Kapitels der Hilkhot Teshuvah (wie auch im späteren zweiten Abschnitt vom Kapitel 12 der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem) die geschichtliche Kontinuität der messianischen Zeit, welche die Stellungnahme von Rabbi Samuel stützt: „Deshalb sehnten sich alle Israeliten, ihre Propheten und Weisen, nach dem Anbruch der Tage des Messias, so dass sie Befreiung von der schlimmen Tyrannei erlangen, die ihnen nicht gestattet, sich richtig mit dem Studium der Torah zu beschäftigen und die Gebote zu befolgen; so dass sie Erleichterung haben, sich der Erlangung von Weisheit widmen und somit ein Leben in der kommenden Welt erwerben mögen.“358
Maimonides beschreibt hier keine Doppelkonzeption der Erlösung im Judentum: Die Erlösung ist nur eine, aber sie entwickelt sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Während sich Rabbi Samuel auf die geschichtliche Kontinuität des >olam ha-zeh in den Yemot ha-Mashiah bezieht, in denen man Kriege führen wird, damit sich die Israeliten ohne den Druck der Feinde dem Studium der Torah widmen können, beschreibt Rabbi Hiyya Ben Abba die überzeitliche und überempirische Dimension des >olam ha-ba, die nur als Konsequenz der Yemot ha-Mashiah zu gewinnen ist. 358 Sefer ha-Madda> 92a.
Leben im >olam ha-zeh und Leben im >olam ha-ba
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Rabbi Samuel ist ein Vertreter einer nicht-apokalyptischen und völlig voluntaristischen Konzeption der Erlösung, während Rabbi Hiyya Ben Abba die überzeitliche Dimension des >olam ha-ba vertritt, die dank des Willens und des Handelns Gottes seit jeher existiert. In Kapitel 8 der Hilkhot Teshuvah bilden diese zwei Dimensionen eine Einheit in der Maimonidischen Konzeption der Erlösung, die mit zwei unterschiedlichen und dennoch aufeinander bezogenen Konzeptionen der Erkenntnis (der menschlichen Erkenntnis im Fall der Yemot ha-Mashiah und der Erkenntnis Gottes im Fall des >olam ha-ba) verbunden sind. Wie im Aristotelischen Organon die Erkenntnis der Natur (Physik) vor der Meta-Physik kommt und im Kommentar Alfarabis die Aristotelische Naturwissenschaft der Untersuchung der Glückseligkeit als höchstem Guten vorangeht, findet man im Sefer ha-Madda> die Untersuchung des Gesetzes als Orientierung auf das Telos des >olam ha-zeh vor der Untersuchung des >olam ha-ba. Am Schluss des achten Paragraphen betont Maimonides diese zeitliche Differenz, und zugleich die Kontinuität in bezug auf die Erlösung, zwischen >olam ha-ba und >olam ha-zeh; zugleich hebt er den universalen Charakter dieser zeitlichen und theologischen Analogie hervor: „Sie wird nur kommende Welt genannt, weil Menschen zu einer Zeit in sie gelangen werden, die dem Leben in dieser Welt folgt, in welcher wir nun mit Körper und Seele existieren, – und diese Existenz [auf Hebräisch: ,dX lkl Xjmnh Xvh hzv, nämlich: „und diese {Form der} Existenz aller Menschen] kommt zuerst.“359
§ 8 Inhaltliche Verbindung und zeitliche Differenz zwischen dem Leben im >olam ha-zeh und dem Leben im >olam ha-ba Der neunte Paragraph der Hilkhot Teshuvah könnte als eine Wiederholung des achten erscheinen, mit dem Zweck, dessen Aussagen durch zahlreiche biblische Zitate zu belegen und zu begründen. Aber es sollte inzwischen klar geworden sein, dass Maimonides im Sefer ha-Madda> nichts schreibt, um nur bereits erwähnte Inhalte zu bekräftigen und zu erklären; es ist also der weitere Verlauf von Maimonides’ Argumentation herauszuarbeiten. Im Grunde stellt sich Maimonides hier allen mystischen360 und überempirischen Interpretationen der Torah entgegen, die behaupten, dass das 359 Ibidem, 91a. 360 Mystische Interpretationen der Torah waren auch vor der Entstehung der Kabbalah gegenwärtig. Für eine allgemeine Untersuchung der Stellungnahme Maimonides’ zur Mystik siehe u.a.: Menachem Kellner, Maimonides Confrontation with Mysticism, Littman Library of Jewish Civilization 2006.
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Befolgen des Gesetzes nur dort wirken und nur im Himmel zu erkennen sind. Man liest diesbezüglich: „Was ist dann die Bedeutung der überall in der Torah zu findenden Aussage ‚wenn du befolgst, wird es dir geschehen; wenn du nicht befolgst, wird es anders sein‘; und all diese Vorkommnisse werden in dieser Welt stattfinden [ ,yrbdh ]tvX lkq hzh ilvib ], so wie Krieg und Frieden, Beherrschung und Unterwerfung; Aufenthalt im Gelobten Land und Exil; Erfolg bei den Tätigkeiten und Misserfolg und all die anderen in den Worten des Bundesschlusses vorhergesagten Dinge (Lev. Ch. 26. Deut. Ch. 28)? All diese Versprechen wurden einst wahrlich (erfüllt) und dem wird wieder so sein. Wenn wir die Gebote der Torah erfüllen, werden all die guten Dinge dieser Welt [hzh ,lvih tvbvu ] zu uns kommen. Wenn wir jedoch die Vorschriften übertreten, werden uns die in der Torah beschriebenen Übel [tvirh ] befallen.“361
Nach Maimonides ist ein wesentliches Merkmal des Bundes zu Gott und Israel die häufige Aussage in der Torah, dass dem Gehorsam bzw. der Verletzung der göttlichen Vorschriften gewisse Konsequenzen folgen werden. Alle diese Konsequenzen haben vor allem einen politischen und geschichtlichen Charakter, da der Bund sich an ein geschichtliches Volk wendet, das durch das göttliche Gesetz auf einen Zustand hofft, der besser ist als der unter der Herrschaft der Ägypter. Die Torah wurde als „Baum des Lebens“ (,yyxh /i )362 für das Leben im >olam ha-zeh übergeben, damit der Mensch durch die richtige Erkenntnis (hrvmg hid" )363, die Konsequenz des Studiums der Torah ist, das richtige Handeln verwirklichen kann. Nur durch das richtige Handeln wird er das Leben im >olam ha-ba erreichen. Jedoch ist es zuerst notwendig, gewisse Hindernisse im >olam ha-zeh zu beseitigen, damit der Mensch sich die Weisheit des Gesetzes zu aller Zeit meditierend aneignen kann. Diese Hindernisse sind zum Beispiel Hunger, Krankheit und Krieg, die alle physischen und geistigen Kräfte absorbieren: „Er hat uns außerdem in der Torah versprochen, dass er, wenn wir ihr Geheiß freudig und frohgemut erfüllen und beständig über ihre Weisheit nachsinnen, alle Hürden von uns entfernen wird, die uns an ihrer Befolgung hindern, wie Krankheit, Krieg, Hunger und anderes Elend; und dass er uns mit allen jenen materiellen Wohltaten [hzh ,lvih tvbvuh ] ausstatten wird, welche unsere Fähigkeit zur Erfüllung des Gesetzes unterstützen, wie Reichtum, Frieden, Fülle an Silber und Gold. Folglich werden wir nicht all unsere Tage damit verbringen, für unsere körperlichen Bedürfnisse zu sorgen, sondern werden die Muße haben, Weisheit zu studieren und die Gebote zu erfüllen und damit ein Leben in der kommenden Welt zu erlangen.“364 361 362 363 364
Sefer ha-Madda> 91b. Ibidem. Ibidem. Ibidem.
Leben im >olam ha-zeh und Leben im >olam ha-ba
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Die empirischen Güter werden nicht als Hindernis für das Studium der Torah betrachtet: Ganz im Gegenteil dazu bestärken sie den Menschen, sich diesem Studium zu widmen. Obwohl Maimonides kein Vertreter des Epikureismus ist, erkennt er einen zufriedenstellenden materiellen Zustand als Vorbedingung für die Erkenntnis Gottes, nämlich als Vorbedingung für das Studium und die nachfolgende Verwirklichung der Torah im >olam ha-zeh, an. Das Leben im >olam ha-zeh und das im >olam ha-ba stehen nicht gegeneinander, und sie schließen einander nicht aus. Durch die Gabe der Torah verlangt Gott nicht, sich für das Leben im >olam ha-zeh oder für das Leben im >olam ha-ba zu entscheiden, in dem Sinne, dass der Mensch entweder zugunsten des einen oder zugunsten eines anderen Prinzips handeln muss. Die Torah als ‚Baum des Lebens‘ wurde dem empirischen Menschen gegeben, nämlich dem Menschen, der in der beschränkten Zeit der Geschichte lebt und handelt. Aber nicht diese Zeit ist das endgültige Telos des menschlichen Handelns, weshalb er das göttliche Gesetz als Orientierung benötigt, um das Leben im >olam ha-ba zu erwerben. Unter einem zeitlichen Blickwinkel existiert das >olam ha-ba seit jeher, oder besser: Es ist die Welt, in der das Leben kein Ende hat, aber diesem ewigen Leben geht das empirische Leben notwendigerweise voran. In Gen. 2:15 steht, dass der Mensch der ‚rmw ‘ (Wächter) des Gartens ist: Gott hat ihm seine Schöpfung anvertraut, damit der Mensch die Schöpfung erhalten soll und zugleich ihre Früchte genießen kann. Das ist die erste Aufgabe, die das Geschöpf vom Schöpfer erhalten hat. Mit diesem biblischen Hintergrund kann man besser begreifen, was Maimonides schreibt: „Wenn du Gott mit Freude [hxm>b ] gedient und seinen Weg befolgt hast, wird er dir all diese Segnungen gewähren und allen Unsegen von dir abwenden, so dass du Muße haben wirst, verständig in der Torah zu werden und dich mit ihr zu beschäftigen, und damit das kommende Leben zu erlangen, und dann wird es gut um dich bestellt sein in der Welt, welche vollkommen glückselig ist, und du wirst dich die Dauer der Tage einer Existenz erfreuen, welche immerwährend ist. So wirst du dich beider Welten erfreuen, – eines glücklichen Lebens auf der Erde, das zu einem Leben in der kommenden Welt führt [,lvil ]yXybmh hzh ,lvib ,ybvu ,yyxl Xbh ].“365
Wenn Maimonides in den Hilkhot Teshuvah das Wort hxm> (Freude) benutzt, bezieht er sich auf einen psychischen Zustand des Menschen, nämlich auf seine emotionale Disposition zur Verwirklichung einer gewissen Handlung. Daher darf dieses Wort nicht mit dem Substantiv hbvt (Gute) verwechselt werden, das mit dem Handeln im Hinblick auf die Verwirklichung des höchsten Guts verbunden ist. Obwohl die zeitliche Dimension dieser zwei Welten völlig unterschiedlich ist, ist ihr Inhalt gleich: die Glückselig365 Ibidem, 92a.
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keit als Vollendung sowohl der empirischen als auch der überempirischen Welt. Selbstverständlich ist die Glückseligkeit des >olam ha-ba das höchste Gut, aber ihr Vorbild findet man schon im >olam ha-zeh, wenn diese von Hungersnöten und Kriegen verschont wird. Diese empirische Glückseligkeit führt zur Glückseligkeit des >olam ha-ba, da sie es dem Menschen gestattet, sich dem Studium der Weisheit des göttlichen Gesetzes zu widmen und diese Weisheit konkret im >olam ha-zeh zu verwirklichen. Die Yemot ha-Mashiah werden diese Weisheit im >olam ha-zeh vollenden, da sie eng mit der Befreiung aus der „tyranny“366 verbunden sind. An dieser Stelle spricht Maimonides eigentlich nicht von Tyrannei, sondern von hirh tvklm , also von der schlechten Regierung schlechthin, ohne sie mit einer bestimmten Regierungsform zu identifizieren. Während sich Maimonides hinsichtlich der Glückseligkeit als höchstes Gut auf Aristoteles bezieht und auch die schlechte Regierung im Sinne der Aristotelischen Interpretation zu verstehen ist, entspricht hi>rh tvklm jedweder Regierung, welche die Gerechtigkeit nicht verwirklichen kann, weil sie den Menschen in seinen empirischen Bedürfnissen nicht befriedigen kann. In der Perspektive von Maimonides macht eine solche Regierung nicht nur das Leben im >olam ha-zeh unmöglich, sondern sie schließt den Menschen auch vom Leben im >olam ha-ba aus, da sich die Menschen, die mit Krieg und Hungersnot konfrontiert sind, nicht dem Studium der Torah widmen können. Die schlechte Regierung verhindert somit die Glückseligkeit in beiden Welten. Maimonides schreibt am Ende des neunten Paragraphen hierzu: „Weil der König, der aus dem Samen Davids erstehen wird, mehr Weisheit als Salomon besitzen und ein sich unserem Lehrer Moses nähernder Prophet sein wird, wird er das ganze jüdische Volk lehren und sie in den Wegen Gottes unterrichten […]. Die höchste und vollkommenste Belohnung, der letzte Segen, der weder Unterbrechung noch Schmälerung erleiden wird, ist das Leben der kommenden Welt. Die Tage des Messias werden hingegen in dieser Welt [hzh ,lvih Xvh xy>mh tvmy ] umgesetzt werden, welche abgesehen davon, dass unabhängig die Herrschaft in Israel wiederhergestellt wird, in ihrem normalen Lauf weiterbestehen wird.“367
Zum ersten Mal spricht Maimonides an dieser Stelle nicht nur von den ‚Tagen des Messias‘, sondern vom Messias selbst, der als politische Gestalt – genauer: als König – bezeichnet wird. Er wird sein Volk zur Weisheit führen, weil er die Gerechtigkeit auf der Erde verwirklichen wird. Das bedeutet, dass die Tage des Messias für Maimonides keinen überempirischen, apokalyptischen oder sogar wundersamen Charakter haben: Der Messias wird in dieser Welt, nämlich innerhalb der menschlichen Geschichte, wirken und kein Gesetz der Natur verletzen. Durch die Verwirklichung der Gerechtig366 Ibidem. 367 Ibidem.
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keit wird er allen die Möglichkeit geben, sich dem Studium des göttlichen Gesetzes als Orientierung des gerechten Handelns zu widmen. Im Vergleich zum Traktat Berakhot 93 b – 94 a geht die ‚Normalisierung‘ vom Handeln des Messias bei Maimonides sehr weit: Die einzige Differenz zwischen unserer Zeit und den Yemot ha-Mashiah liegt darin, dass Israel keine Sklaverei mehr von Seiten anderer Nationen erleiden wird, aber das ist Konsequenz der Verwirklichung eines politischen Plans und kein Wunder. Die Zeit des >olam ha-zeh wird ihren Weg weiter durchlaufen, aber nach der Verwirklichung der Prophetie von Jesaja (11:9) gilt: „Denn voll ist das Land von Erkenntnis des Herrn wie von Wassern, die das Meer bedecken.“ Die Weisheit ist das Ergebnis der Verwirklichung der Gerechtigkeit auf der Erde, und ihre wichtigste Konsequenz liegt darin, Gott aus Liebe zu dienen.
§ 9 Liebe, Erkenntnis und >olam ha-ba Das Thema des zehnten und letzten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah ist die Liebe zu Gott, mit deren Bedeutung sich bereits viele Interpreten beschäftigt haben.368 Meist wollten sie die Entwicklung dieses Themas im ganzen Werk von Maimonides untersuchen, um erkennen zu können, unter welchen Perspektiven Maimonides die Liebe betrachtete. Die ständige Präsenz dieses Themas beweist, wie wichtig es im Denken von Maimonides war; mir kommt es allerdings nicht auf eine umfassende Darstellung des Themas an, sondern mir geht es um die Bedeutung der Liebe in Verbindung mit der Weisheit und dem >olam ha-ba, und zwar nur im Zusammenhang der Hilkhot Teshuvah. Ich möchte nachweisen, dass eine solche beschränkte und konzentrierte Analyse einen neuen Aspekt der Liebe im Denken von Maimonides aufzeigen kann. 368 Vgl. u.a.: Steven Harvey, The Meaning of Terms Designating Love in Judaeo-Arabic Thought and Some Remarks on the Judaeo-Arabic Interpretation of Maimonides, in: Norman Golb (Hrsg.), Judaeo-Arabic Studies: Proceedings of the Founding Conference of the Society for Judaeo-Arabic Studies, Amsterdam 1997, S. 175ff; Norman Lamm, Maimonides on the love of God, in: Arthur Hyman (Hrsg.), Maimonidean Studies, Bd. 3, New York 1995, S. 131ff.; Lawrence J. Kaplan, The love of God in Maimonides and Rav Kook, in: Judaism, 43,3 (1994), S. 227ff; Yehuda Gellman, Human action in Rambam’s Thought; Individual Autonomy and Love of G-d; in Jewish Thought 2,1 (1992), S. 123ff; ders., The love of God in Maimonides’ Religious Philosophy, in: Jesus Pelaez del Rosal (Hrsg.), Sobre la vida y obra de Maimónides. I Congreso Internacional (Cordoba, 1985), Cordoba 1991, S. 219ff; Shubert (Shlomo) Spero, Maimonides and Our Love for God, in: Judaism 32,3 (1983), S. 321ff. Für eine allgemeine Einführung zu dieser Problematik siehe: Georges Vajda, L’amour de Dieu dans la théologie juive du Moyen Age, Paris 1957 (im besonderen S. 118ff).
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Wenn man die Texte von Talmud und Midrash liest, die Georges Vajda in seinem Buch über die Liebe zu Gott im jüdischen Mittelalter gesammelt hat369, setzt man sich derselben Schwierigkeit aus, die ich bereits hinsichtlich der Einflüsse des Talmud auf die Konzeption des >olam ha-ba bei Maimonides skizziert habe: Da der Talmud und der Midrash keine Werke systematischer Theologie sind, findet man hier nicht nur unterschiedliche Interpretationen der Liebe zu Gott, wie sie in der Bibel beschrieben wird (vor allem Deut. 6:5 und Ex. 20:6), sondern auch voneinander abweichende Interpretationen derselben Bibelverse. Trotzdem ist es meines Erachtens möglich, ein gemeinsames Element in diesen unterschiedlichen hermeneutischen Lektüren der Liebe zu Gott zu finden, eine Gemeinsamkeit, die im zehnten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah eine zentrale Rolle spielt: Die Liebe soll stets interessenlos sein, wie es in der berühmten Aussage von Antigonos aus Socho heißt: „Seid ihr nicht wie die Sklaven, die ihren Herr nur in bezug auf das tägliche Brot dienen, sondern seid ihr wie diejenigen, die ihren Herr nicht in Sicht auf eine solche Belohnung dienen. Möge die Frucht Gottes auf euch sein.“370 Diese Maxime bringt zwei Themen zusammen, die in der rabbinischen Literatur hinsichtlich der Liebe zu Gott niemals getrennt erscheinen: die Interessenlosigkeit der Liebe zu Gott (in der rabbinischen Tradition: ahavah sheainah teluyah bedavar) und die Furcht vor Gott (yirat HaShem); beide sind auch im zehnten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah eng verbunden. Für die zentrale Bedeutung der Liebe in der rabbinischen Literatur bietet Georges Vajda die folgende Erklärung an: „L’amour […] est le ressort principal des relations entre Dieu et Israël. […] C’est dans le choix fait par Dieu d’Israël que culmine la dilection du Créateur à l’égard de l’homme formé à son image. La fidélité d’Israël à son Dieu n’a pas de base plus solide ni de soutien plus ferme que l’amour. […] L’amour de Dieu […] signifie un engagement total de la collectivité et un engagement non moins total de l’individu. […] [C]et amour postule […] l’engagement personnel et ne saurait d’aucune façon se réduire à l’assentiment grégaire à quelque règle externe; il ne prend cependant pleine valeur qu’au sein de la communauté, en solidarité avec tous les membres du groupe liés par la même foi et la même espérance.“371
Während die Interpretation von Georges Vajda meine These bestätigt, dass der individualistische Charakter der Hilkhoth Teshuvah auch eine gemeinschaftsbezogene Sorge enthält, muss man leider auf den falschen Schluss der Stellungnahme von Vajda aufmerksam machen: Wie kann die Liebe eine feste Grundlage sein? Vajda erklärt nicht, was man in bezug auf Maimoni369 Georges Vajda, L’amour de Dieu, op. cit., S. 34ff. 370 Abot I,3. Der erste Wissenschaftler, der diese tiefe Bedeutung eines solchen Mottos entdeckt hat, ist Elie Bickerman in seinem Aufsatz: The Maxim of Antigonos of Socho, in: Harvard Theological Review 44 (1951), S. 153ff. 371 Georges Vajda, L’amour de Dieu, op. cit., S. 66f.
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des unter Liebe verstehen muss: Wenn man annimmt, dass die Liebe bei Maimonides im Sinne von Yehudah ha-Lewis Werk als eine der Pflichten der Herzen zu begreifen ist, nämlich die Liebe als psychischer und emotionaler Zustand des Menschen, hat Gott als Grundlage für seine Beziehung zum Menschen ein sehr zerbrechliches und fragwürdiges Instrument gewählt. Was versteht Maimonides im zehnten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah unter ‚Liebe‘? Um auf diese Frage zu antworten, verknüpfen viele Interpreten den zweiten Paragraphen von Hilkhot Yessode Ha-Torah mit dem zehnten Paragraphen von Hilkhot Teshuvah: In Hilkhot Yessode Ha-Torah schreibt Maimonides, die Kontemplation in bezug auf den Kosmos sei die Quelle der Liebe zu Gott sowie der Gottesfurcht. Norman Lamm meint hierzu: „[…] Love and Fear differ in that each is the mirror image of the other: Love of God is a centrifugal motion of the self as man, overwhelmed by the wisdom revealed in the marvels of creation, seeks to reach outward and upward towards the Creator the better to know Him. Fear of God it the precise opposite: overwhelmed by the greatness of the Creator, man traumatically realizes his own unimportance, his marginality, and his very nothingness, and in a centripetal psychological motion pulls inward and retreats to himself.“372
Im Grunde könnte man sagen, dass Maimonides das Wort ‚Herz‘ in Dt. 5:10 im Sinne von ‚Geist‘ versteht (im Mittelalter glaubte man, dass das Herz der Sitz der intellektuellen Fähigkeiten sei), so dass die Liebe, auf die Maimonides sich bezieht, die intellektuelle Liebe als Konsequenz des Studiums der Natur, nämlich der Schöpfung Gottes, wäre. Die ‚logische Kette‘ des zehnten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah scheint, nach dieser Konzeption, die folgende zu sein: 1. 2. 3. 4.
Kontemplation des Werks Gottes (der natürlichen Welt). Begreifen der Weisheit Gottes als Schöpfer der Ordnung der Welt. Erfahrung der Liebe zu Gott als Konsequenz von Punkt 2. Entwicklung des Bedürfnisses und der Leidenschaft373, Gott zu erkennen und ihm soweit wie möglich nahezukommen.
In dieser logischen Kette gibt es aber gleichsam ein ‚schwarzes Loch‘, und zwar zwischen dem zweiten und dem dritten Punkt: Wenn der Mensch die Ordnung und die Weisheit der natürlichen Welt erkennt, kann er höchstens 372 Norman Lamm, Maimonides on the Love of God, op. cit., S. 133. 373 Sefer ha-Madda>, S. 92b: „What is the love of God that is befitting? It is to love the Eternal with a great and exceeding love [hryty hlvdg hbhX ] …“. Dieser Ausdruck kann sich auf das arabische Wort >iˇsq (‚leidenschaftliche Liebe‘) beziehen, das Maimonides in der MN für die Liebe zu Gott benutzt und das Ibn Tibbon mit dem hebräischen Wort Hesheq (Leidenschaft) übersetzt. Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe: Steven Harvey, The Meaning of Terms Designating Love, op. cit.
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mit einem Gefühl von Dankbarkeit erfüllt werden, das mit Egoismus verbunden ist (‚Ich bin Gott für die Welt dankbar, die er für mich geschaffen hat‘). Aber die Liebe zu Gott sollte mit keinem Vorteil für die Liebenden verbunden sein. Es ist somit noch nicht klar, wieso die Anerkennung der Ordnung und der Weisheit des Kosmos die interessenlose Liebe anstelle bloßer und egoistischer Dankbarkeit bewirken soll. Auch die Erklärung von Shubert Spero, welche die Liebe bei Maimonides mit der Liebe bei Aristoteles in Zusammenhang bringt, ist nicht ausreichend: „[…] [I]t was already Aristotle who, in trying to explain the force by which the prime mover whom he called God sets in motion the entire universe, did not think in terms of mechanical push or pull but said that ‚all things desire God‘ and in their ‚love‘ are drawn towards Him. Used in this context, the term ‚love‘ does not refer to a conscious affection but, rather, means an inherent functioning, a sort of nonmechanical attraction, a movement towards something. Even in terms of man, Aristotle believed that learning and acquiring knowledge was a pleasurable experience which brought in its wake a felt joy. But, on a philosophical level, he maintained that the activity of contemplation in which man exercises his intellect and, thus, fulfills his telos, results inevitably in a unique kind of satisfaction which is an essential element in the totality which we call happiness. There are indications that Maimonides may have had this same thing in mind.“374
Dieser Bezug zu Aristoteles kann für den Moreh ha-Nevukhim richtig sein, da Maimonides dort vor allem von der philosophischen Erkenntnis spricht, aber im zehnten Paragraphen der Hilkhot Teshuvah schreibt er, dass man diese Liebe sogar Frauen, Kinder und „Ungebildete im allgemeinen“375 lehren kann: „[…] Wir lehren sie, Gott aus Angst oder um der Belohnung willen zu dienen, bis sich ihr Wissen vermehrt und sie eine große Menge an Weisheit erlangt haben. Dann enthüllen wir ihnen diese mystische Wahrheit [da die Kontemplation der natürlichen Welt der erste Schritt zu dieser Liebe ist] Stück für Stück und unterweisen sie in einfachen Schritten bis sie es erfasst und verstanden haben, Gott aus Liebe zu dienen.“376
Diese Erkenntnis, die zu einer solchen Liebe führt, kann nicht die philosophische Erkenntnis des Moreh ha-Nevukhim sein, die nur für eine begrenzte Gruppe von Menschen erreichbar ist. Im zehnten Paragraphen von Hilkhot Teshuvah geht Maimonides davon aus, dass die intellektuelle Erkenntnis, von der hier die Rede ist, allen Menschen vermittelt werden kann: Sie hat eine universelle Dimension, die bei Aristoteles aus der philosophischen Erkenntnis ausgeschlossen ist. Meines Erachtens ist es nicht möglich, die beschriebene Schwierigkeit innerhalb der Hilkhot Teshuvah zu lösen, wenn man sich dabei auf den Moreh ha-Nevukhim bezieht, nämlich denkt, 374 Shubert Spero, Maimonides and our Love for God, op. cit., S. 324. 375 Sefer ha-Madda> 93a. 376 Ibidem.
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dass die Liebe als intellektuelle Liebe mit der Erkenntnis als philosophischer Erkenntnis gemäß der obengenannten logischen Kette verbunden ist. Maimonides eröffnet die Möglichkeit einer ganz anderen Lektüre der Liebe und der Erkenntnis im letzten Abschnitt des zehnten Paragraphen: „Es ist bekannt und klar [rvrbv ivdy rbd ], dass die Liebe Gottes nicht eng verknüpft ist mit dem Herzen eines Menschen, bis er sie sich beständig und vollständig aneignet und alles andere in der Welt dafür aufgibt; wie Gott uns befohlen hat ‚von ganzer Seele und mit all deiner Kraft‘ (Dt. 6:5). Man liebt Gott nur mit dem Wissen, mit dem man ihn kennt. Gemäß dem Wissen wird die Liebe sein. […] Deshalb muss eine Person sich dem Verstehen und Erfassen jener Wissenschaften und Studien widmen, die ihn hinsichtlich seines Herrn belehren, soweit es innerhalb der menschlichen Fähigkeiten des Verstehens und Erfassens liegt – wie wir in den Gesetzen der Grundlage der Torah erklärt haben.“377
Wie Yehudah Gellman378 angenommen hat, ohne aber die Konsequenzen seiner These radikal zu entfalten, ist die Dimension der Liebe in den Hilkhot Teshuvah unmittelbar mit der des Handelns verknüpft, weswegen der Aristotelische Begriff der ‚Kontemplation‘ als Kontemplation der natürlichen Welt das Wesen dieser Liebe nicht erklären kann. Die in den Hilkhot Teshuvah beschriebene Liebe hat zwar einen intellektuellen Charakter, aber sie entspricht nicht der Aristotelischen Liebe, welche die Seele im Rahmen ihrer erkennenden Tätigkeit in einen passiven Zustand stellt. ‚Passiv‘ bedeutet hier ‚nicht-wirkend‘ bzw. ‚nicht-handelnd‘: Die Aristotelische Seele übt Kontemplation gegenüber der Welt aus, ohne sich in sie zu verwickeln. Gerade gegen diese kontemplative und passive Form von Liebe und auch gegen die Liebe als mystische Ekstase (vom griechischen ‚ex-stasis‘: ‚außerhalb des eigenen Status‘) richtet Maimonides seine Kritik am Schluss des zehnten Paragraphen: Die Liebe zu Gott bedeutet Erkenntnis als ‚Vonder-Welt-Besitz-nehmen‘, nämlich eine Erkenntnis, die nicht nur intellektuell ist, sondern auch praktisch, weil sie aus dem Handeln mit den anderen Menschen und mit den anderen Elementen der Schöpfung entsteht.379 Diese Erkenntnis verzichtet auf keinen Aspekt des >olam ha-zeh. Selbstverständlich muss man, wie Maimonides bereits in den Hilkhot Yessode ha-Torah gezeigt hat, jene Naturwissenschaften studieren, durch die man die Ordnung und die Weisheit des >olam ha-zeh entdecken kann, aber wenn sie auch nicht die Vollkommenheit der philosophischen Erkenntnis erreicht, so ist doch diese praktisch-theoretische Erkenntnis ausreichend, auch wenn sie innerhalb der Grenzen eines jedweden Menschen bleibt („soweit es innerhalb der 377 Ibidem. 378 Yehudah Gellman, Human Action in Rambam’s Thought, op. cit. 379 Hier erscheint die Liebe zu Gott als Reminiszenz an die islamische Tradition von mystischer Sehnsucht nach Gottesnähe und nach Gottesliebe als Gotteserkenntnis (vgl. diesbezüglich: Hans Daiber, Gottesliebe und menschliche Größe im frühen Islam. Das Beispiel von Râbi’a al-’Adawîya (717–801), in: Spektrum Iran 13/2, Bonn 2000, S. 5–25.
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Die Bedeutung des >olam ha-ba im Sefer ha-Madda>
menschlichen Fähigkeiten des Verstehens und Erfassens liegt“380). Aus diesem Grund kann sie auch Kindern, Frauen und einfachen Menschen gelehrt werden. Wozu aber ist diese Erkenntnis ausreichend? Sie ist ausreichend, um Gott zu lieben: „Man liebt Gott nur mit dem Wissen, mit dem man ihn kennt.“381 Mit anderen Worten: An dieser Stelle behauptet Maimonides, dass diese Erkenntnis Gottes notwendige und ausreichende Vorbedingung der Liebe zu Gott ist. Kein logischer Übergang wird hier von Maimonides vorgestellt, sondern eine direkte Analogie: Die Liebe zu Gott ist mit der Erkenntnis Gottes identisch. Die Torah kann nicht die Liebe befehlen, wenn man die Liebe als Gefühl meint, in dem der Mensch sich verliert und das darüber hinaus völlig unberechenbar ist, aber die Torah kann befehlen, die Erkenntnis Gottes als Liebe zu Gott zu erwerben. Diese Liebe zeigt sich als Prädikat desjenigen Handelns, das von der Erkenntnis Gottes, nämlich von der Erkenntnis des Gesetzes, geführt wird, weswegen die Liebe auch die Gesetze der natürlichen Welt erkennen muss. Diese Totalität der praktischintellektuellen Erkenntnis gemäß den Fähigkeiten jedes Menschen ist die Interpretation, die Maimonides meines Erachtens für Deut. 6:5 („mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele“) anbietet. Interessanterweise ist am Schluss des zehnten Paragraphen nicht mehr die Rede von Israel, sondern von ,dX (Adam), von dem Menschen schlechthin, weswegen Georges Vajda dazu schreibt: „En définitive, la place de l’amour dans la théologie de Maïmonide se situe essentiellement à la jonction du divin, qui est objet, avec le niveau spirituel le plus élevé qu’il soit donné à l’individu d’atteindre. L’amour cosmique ou ontologique n’y apparaît que pour mémoire; l’aspect communautaire de l’amour d’Israël pour Dieu n’est pas envisagé et la dilection portée par Dieu au peuple élu n’est suggérée, très rarement, que de façon rapide et discrète.“382
Dieser individuelle, aber zugleich universelle Charakter der Analogie ‚Erkenntnis Gottes als Liebe zu Gott‘ ist notwendig, um, wie Maimonides bereits herausgestellt hat, nicht nur die Weisen von Israel, sondern die Weisen aller Nationen zum >olam ha-ba zu führen. Im >olam ha-zeh werden die Weisen diesen Zusammenhang erleben, jeder für sich und jeder gemäß seinen Fähigkeiten, aber nicht als isolierte Mystiker oder als passive Beobachter der Natur. Die Liebe als Erkenntnis Gottes verwandelt sich in gerechtes Handeln am >olam ha-zeh als Totalität der Schöpfung, weswegen diese Liebe allein es gestattet, die Glückseligkeit in beiden Welten zu genießen. Das ist die Einheit der Maimonidischen Erlösung, von der Maimonides am Schluss des Sefer ha-Madda> im Besonde380 Sefer ha-Madda> 93a. 381 Ibidem. 382 Georges Vajda, L’amour de Dieu, op. cit., S. 140.
Liebe, Erkenntnis und >olam ha-ba
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ren die individuelle Dimension (das Engagement jedes einzelnen Menschen) betont. Am Schluss des letzten Buchs der Mishneh Torah verschiebt sich die Aufmerksamkeit Maimonides’ auf die kollektive Dimension der Erlösung, die als solche mit dem politischen und geschichtlichen Handeln des Menschen verbunden ist. Um diese Akzentverschiebung geht es im folgenden Kapitel.
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Der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
4. Kapitel Die frühmittelalterliche islamische Philosophie und der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem § 1 Das Sanhedrin: Die Anwendung der Gerechtigkeit Die Forscher, die sich mit Maimonides beschäftigen, können im Allgemeinen in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die erste Gruppe sind diejenigen, für die sich in jedem Werk von Maimonides eine eigene Phase seiner Entwicklung und eine unterschiedliche Thematisierung bestimmter spekulativer, ethischer, naturwissenschaftlicher, religionsphilosophischer und juridischer Fragen zeigt und die deswegen jedes seiner Werke als eine in sich geschlossene Welt betrachten. Die zweite beinhaltet diejenigen, für die Maimonides in erster Linie ein systematischer Denker ist und die konsequenterweise sein Lebenswerk als eine logische Aufeinanderfolge von Werken begreifen, die es uns gestatten, ein bestimmtes Thema jeweils unter verschiedenen, jedoch miteinander verbundenen Perspektiven zu betrachten. Obgleich für beide Positionen stichhaltige Argumente genannt werden können, mithin beide Positionen in einem gewissen Grad legitim sind, teile ich die Meinung der zweiten Sichtweise, dass Maimonides im Laufe seiner philosophischen Entwicklung und im Laufe seines Engagements als Leiter der jüdischen Gemeinde in Ägypten seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf bestimmte Schwerpunkte konzentrierte, die, unter verschiedenen Blickwinkeln, in seinen Werken regelmäßig hervortreten und die darüber hinaus in jedem Werk systematisch ausgearbeitet worden sind. In diesem Sinne ist es meines Erachtens nicht möglich, das Lebenswerk von Maimonides als eine Reihe von getrennten Einheiten zu betrachten, wenn man die Tiefe und die Originalität seiner philosophischen Produktion begreifen will. Dieses Prinzip gilt auch für die Mishneh Torah, im Besonderen, wenn wir das Sefer ha-Madda>, also das erste Buch, mit dem letzten, dem Sefer Shofetim (‚Buch der Richter‘)1, vergleichen.
1
Moses Maimonides, Sefer Shofetim, Jerusalem 1987. Die deutsche Übersetzung stammt von mir. Ich verweise die Leserin/den Leser auch auf die englische Übersetzung von Abraham M. Hershman: The Code of Maimonides. Book Fourteen. The Book of Judges, New Haven 1949.
Das Sanhedrin: Die Anwendung der Gerechtigkeit
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Wir haben bereits gesehen, dass die Konzeption des >olam ha-ba in der letzten Sektion des Sefer ha-Madda> (Hilkhot Teshuvah) mit der Konzeption der Gerechtigkeit eng verbunden ist. Das >olam ha-ba ist als höchste Glückseligkeit das höchste Gute für den Menschen, der in ihm das ewige Leben im Lichte der Shekhinah genießen wird. Die Lehre der Glückseligkeit bei Maimonides ist mit der Verwirklichung der Gerechtigkeit identisch, da das >olam ha-ba die Belohnung des gerechten Israeliten und der Gerechten aller Nationen ist.2 Jedoch haben wir auch gesehen, dass die Gerechtigkeit in Hilkhot Teshuvah hauptsächlich in Bezug auf Gott untersucht wird: Die Spekulation über den freien Willen wird von Maimonides eingeführt, um auszuschließen, dass die Lehre von Strafe und Belohnung mit der Gerechtigkeit Gottes kollidiert, falls jeder Mensch von vornherein entweder zum Guten oder zum Bösen prädestiniert wäre. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich in der gegenwärtigen Existenz des >olam ha-ba, die nur für das eingeschränkte menschliche Wesen zukünftig ist: Das >olam ha-ba verwirklicht sich in der Tat für den Menschen immer dann, wenn er sein Handeln auf die Gerechtigkeit ausrichtet. Nach dem Talmud ist die Tür, als Symbol der Gerechtigkeit Gottes, immer offen, das >olam ha-ba öffnet sich als höchste Glückseligkeit der Seele unmittelbar danach. Die Seele hat durch das Studium der Torah, nämlich durch die Erkenntnis Gottes und durch die Liebe zu Gott, dieses Ziel erreicht. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich auch in der Tatsache, dass jeder Mensch mit Vernunft begabt ist, um sich diesem Studium widmen zu können. Die Seele erfüllt somit die Funktion des aristotelischen Intellekts, der von der empirischen (phronesis) zur theoretischen Weisheit (sophia) fortschreitet. Trotz der von mir untersuchten Hinweise auf die empirischen und kollektiven Aspekte der Erkenntnis Gottes ist diese Erkenntnis in den Hilkhot Teshuvah hauptsächlich auf die individuelle Glückseligkeit der Seele im >olam ha-ba ausgerichtet, die Beschreibung der Gerechtigkeit Gottes beschränkt sich bei Maimonides nämlich auf die theoretische Weisheit, die jede individuelle Seele erreichen kann. Jedoch unterstreicht Maimonides in Hilkhot Teshuvah, wie später im Moreh ha-Nevukhim, dass die Erkenntnis Gottes nicht nur nach dem Wohl-
2
In meiner Untersuchung des hebräischen Textes habe ich sowohl den Oxford Codex als auch die venezianische Ausgabe (1743) verwendet und verglichen. Siehe auch: David S. Sassoon, Notes on Some Rambam Manuscripts. Moses Maimonides Eighth Century Memorial Volume, London 1935, im bes. S. 221ff. Jacob Katz hat betont, dass es Maimonides war, der diesen Ausdruck (hasidei ummot ha->olam, ‚die Gerechten aller Nationen‘) in der rabbinischen Tradition eingeführt hat: Jacob Katz, The Vicissitudes of Three Apologetic Statements (auf Hebräisch), in: Zion, 23–24 (1958–1959), S. 174–193.
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Der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
stand bzw. nach der Glückseligkeit der Seele strebt, sondern auch nach dem Wohlbefinden bzw. nach der Glückseligkeit des Leibes. Diese letztere Glückseligkeit hat als unausweichliche Voraussetzung die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der >olam ha-zeh, nämlich die Verwirklichung von gerechten sozialen und ökonomischen Umständen, die es jedem Menschen gestatten, sich dem Studium der Torah zu widmen. Diese Gerechtigkeit seitens des Menschen ist das Pendant der im ersten Buch der Mishneh Torah untersuchten Gerechtigkeit Gottes, eine Parallele, mit der das letzte Buch (Sanhedrin – ‚das Große Gericht‘) beginnt: „Darum heiligt euch [werdet gerecht] und seid heilig [seid gerecht]! Denn ich bin der Herr, euer Gott (Lev. 20,7)“ bedeutet, dass die Ebenbildlichkeit zwischen Geschöpfen und Schöpfer, was die Vernunft anbelangt, diesen ermöglicht, die Gerechtigkeit Gottes im >olam ha-ba als Modell für die Gerechtigkeit im >olam ha-zeh zu verwirklichen. Die sophia der >olam ha-ba verknüpft sich somit mit der phronesis des >olam ha-zeh: Nicht die Konzeption der Gerechtigkeit Gottes steht im Sefer Shofetim im Zentrum des Interesses von Maimonides, sondern die Konzeption der Gerechtigkeit des Menschen als Weg (derekh) zur höchsten Glückseligkeit im >olam ha-zeh. Aus diesem Grund ist einerseits die kollektive Dimension des menschlichen Handelns in Sanhedrin viel stärker akzentuiert als in Hilkhot Teshuvah, und andererseits ist es, – da es nicht mehr notwendig ist, weiter zu erklären, was man unter Gerechtigkeit zu verstehen hat (nämlich das Studium der Torah als Weg zur Erkenntnis Gottes und zur Liebe zu Gott), – der Zweck von Sanhedrin, zu zeigen, wie die Anwendung der Gerechtigkeit in der empirischen, kollektiven und geschichtlichen Gemeinde zu geschehen hat. Dieser ‚politische‘ Charakter des Sanhedrin verbindet es nicht nur mit dem Sefer ha-Madda>, sondern auch mit Pereq Heleq, das die Einführung zu Maimonides’ Kommentar zum Mishnah-Traktat Sanhedrin ist: Im zweiten Kapitel habe ich bereits herausgearbeitet, dass die Konzeption der Gerechtigkeit in den dreizehn Glaubensartikeln des Pereq Heleq deutlich politisch ist, im besonderen in Bezug auf den Messias. Der letzte Glaubensartikel über den Messias schlägt, wie wir bereits gesehen haben, eine Brücke zwischen dem platonischen König-Philosophen und dem Erlöser Israels, eine Verbindung, die in der letzten Sektion des Sefer Shofetim (Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem – Gesetze der Könige und ihrer Kriege) eine noch entscheidendere Rolle spielt.
Das Sanhedrin: Die Anwendung der Gerechtigkeit
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1.1 Die Struktur des Sanhedrin: Funktion des Richters und Funktion des Königs Im Sefer Shofetim ist der Ausgangspunkt von Maimonides’ Argumentation die Gerechtigkeit seitens des Menschen. Nachdem dem Leser im Sefer haMadda> verdeutlicht wurde, was die Gerechtigkeit ist, muss jetzt untersucht werden, wie die Gerechtigkeit angewandt werden kann, weshalb die erste Sektion des Sefer Shofetim dem Sanhedrin, dem ‚Großen Gericht‘, gewidmet ist. In der rabbinischen Literatur versteht man unter ‚Sanhedrin‘ das Große Gericht von 71 und 23 Richtern, aber Maimonides bezieht sich mit diesem Wort auf das ganze juridische Urteilssystem, vom Großen Gericht bis zum Gericht eines einzelnen hochqualifizierten Richters (Maimonides vernachlässigt auch nicht das Gericht, das nur aus drei Laien besteht). Die Sektion Sanhedrin gibt eine minutiöse Analyse der Struktur, Funktionen und ethischen Kriterien der Gerichte, mit der Beschreibung des Vorgehens bei Streitigkeiten in zivilen und rituellen Fragen sowie Kriminalfällen, mit den unterschiedlichen Strafen und ihrer Anwendung. Auch die anderen Sektionen des Sefer Shofetim beziehen sich auf die konkrete Anwendung der Gerechtigkeit innerhalb des juridischen Systems der Gemeinde: a) ‚Beweis‘. Das Hauptthema dieser Sektion ist die Analyse der Rolle des Zeugen und der Unterschied zwischen Untersuchung und Wahrheitssuche, zwischen Überprüfung und Kreuzverhör. Sie beschreibt die Regeln, die im Fall von Unstimmigkeit in den Antworten desselben Zeugen bzw. von unterschiedlichen Zeugen zu befolgen sind, zudem die biblischen bzw. rabbinischen Regeln, nach denen ein Zeuge von einem Gericht akzeptiert wird oder abgelehnt werden darf, und endlich das Verfahren bei Verschwörungen unter den Zeugen. b) ‚Rebellen‘. Diese Sektion beschäftigt sich sowohl mit dem Vorrang des Großen Gerichtes bei juridischen und rituellen Streitigkeiten wie mit der Definition von drei ‚Rebellentypen‘, die mit Hinrichtung zu bestrafen sind: Ein Weiser, der eine praktische Regel empfiehlt, welche einer des Großen Gerichtes widerspricht; ein Sohn oder eine Tochter, der oder die die Eltern verflucht bzw. verprügelt; ein Sohn oder eine Tochter, der oder die widerspenstig oder rebellisch ist; c) ‚Trauer‘. Die Einfügung der bloß rituellen Gesetze bezüglich der Trauer in die juridische Struktur des Sefer Shofetim erscheint als sehr merkwürdig, und im ganzen Mishneh Torah sieht Maimonides nur in diesem Fall die Notwendigkeit, in der Vorrede zu erklären, aus welchem Grund er diesen Abschnitt an dieser Stelle seines Werks aufgenommen hat. Abraham M. Herschman schreibt hierzu:
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„The subsumption by such a master systematizer as Maimonides of purely ritual laws under ‚the judiciary‘ is an anomaly. The sole link between the treatise on Mourning and that on Sanhedrin – according to the author himself (IV, preamble) – is that just as it is mandatory to bury one who was convicted by the court on the day of the execution, so it is mandatory to bury one who dies a natural death on the day of the demise (see I, XV, 8). The connection between the two treatises is a flimsy one.“3
d) ‚Könige und ihre Kriege‘. Im Talmud-Traktat Sanhedrin 20b diskutieren die Rabbinen über die unterschiedliche Interpretation von I Sam. 8:11–17 (die Rechte des Königs auf sein Volk). Nach einigen Rabbinen bezieht sich die Torah an dieser Stelle auf die königliche Prärogative, nämlich darauf, welche Macht der König vom Gesetz erhält. Anderen Rabbinen zufolge bezieht sich diese Verse auf den Missbrauch der Macht seitens des Königs und warnt das Volk genau davor. Maimonides zieht die erste Position vor und untersucht in dieser Sektion einerseits die Pflichten des Königs, der seines Amtes würdig ist, und andererseits, welche Ehre man dem König erweisen muss. Diese Sektion unterscheidet auch zwischen dem Krieg gemäß einem religiösen Gebot und einem ‚optionalen‘ Krieg und analysiert dazu die Noachidischen Gesetze, nämlich die Gesetze, die auf die ganze Menschheit angewandt werden können. Die letzten zwei Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem beschreiben die Figur des König-Messias. Das ganze Sefer Shofetim bezieht sich auf einen Teil der Neziqin (Schädigungen), der vierten unter den sechs Ordnungen der Mishnah, sowie auf einen großen Teil des dritten Kapitels des Traktates Mo>ed Qatan, der zur zweiten Ordnung der Mishnah (Mo>ed, Jahreszeiten bzw. Festzeit genannt) gehört.4 Mehr als in den anderen Büchern der Mishneh Torah bezieht sich Maimonides im Sefer Shofetim auf das ganze postmishnaische Gesetz: die von den Amoraim aufgestellten Regeln in der babylonischen und palästinensischen Gemara, die Urteile der Geonim und die Andeutungen von Alfasi. Mit anderen Worten: In der Mishneh Torah und im besonderen im Sefer Shofetim findet man „all this immense accumulation of legal matters, representing the growth and expansion of Jewish law of nearly a thousand years […].“5 Diese allumfassende Weisheit ist auch das, was die Richter besitzen müssen; die Untersuchung dieser Weisheit steht im Mittelpunkt der ersten beiden Kapitel der Sektion Sanhedrin. Die Ausgangsfrage nach der Zahl der Gerichte, die in jeder Stadt bzw. in jedem Bezirk des Heiligen Landes einzurichten sind, behandelt Maimonides nur kurz, um sich dann ausführlich auf eine andere Frage zu konzentrieren: Auf Grundlage welcher Qualitäten 3 4 5
The Book of Judges, op. cit., S. xiii. Für eine ausführliche Analyse der Beziehung zwischen Mishnah und Sefer Shofetim siehe: The Book of Judges, op. cit., S. xv ff. Ibidem, S. xvi.
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darf ein Mensch zum Richter berufen werden? Eigentlich ist die Frage nach der Zahl der Gerichte zweitrangig, wenn man nicht zuvor die Kriterien für die Auswahl der Richter festlegt. Nicht die juridischen Institutionen als abstrakte Organismen üben Gerechtigkeit (ihre Autorität wird von keiner transzendenten Hypostase bestimmt), sondern allein die Weisheit ihrer Richter garantiert die Anwendung der Gerechtigkeit einerseits und die Autorität sowie die Anerkennung der Gerichte andererseits. Der Hauptrichter des Großen Gerichts (der sogenannte Nasi) ist derjenige, dessen Weisheit alle anderen Richter übertrifft, da seine Position der von Moses6 gleicht. Im Sefer ha-Madda> hat Maimonides Moses als den größten unter den Propheten bezeichnet, da er die Vollkommenheit des Intellektes für das Verständnis von Gottes Gesetz erreichte. Moses ist somit derjenige, der das Volk leiten kann, weil er imstande ist, die praktische Weisheit des Gesetzes für alle Israeliten offenzulegen und anzuwenden. Auch diejenigen Israeliten, die nicht zur Vollkommenheit des theoretischen Intellekts gelangen können, haben durch die Führung von Moses die Möglichkeit, die Gerechtigkeit als Wohlbefinden des Leibs für das Studium der Torah zu begreifen und zu vollbringen. Das ist genau dieselbe führende Funktion, die auch dem Nasi des Großen Gerichtes zukommt. Die Weisheit ist in dem Maße für die Bestimmung der Position jedes Mitglieds des Sanhedrins entscheidend, als sie das einzige Auswahlkriterium für solche Positionen darstellt: „Er [der Nasi] nimmt den Platz von unserem Lehrer Moses ein. Der Ausgezeichnetste der siebzig hat den nächstfolgenden Rang inne. Er sitzt zur Rechten des Nasi und ist als ’Ab bet din [Vater des Gerichtes] bekannt. Die anderen sitzen ihrem Alter und Ansehen entsprechend neben ihnen. Je größer das Wissen ist, das ein Mitglied hat, desto näher ist der Sitz, der ihm zur Linken des Nasi gegeben wird.“7
Auch im Kleinen Gericht, in einer Stadt ab 120 Einwohnern, ist der Hauptrichter „der Gelehrteste“8, nämlich derjenige, der sich in der ganzen Torah sowie in allen das Gesetz betreffenden Fragen auskennt. Keine Stadt (unabhängig von ihrer Einwohnerzahl) darf ein Sanhedrin besitzen, wenn es in ihr nicht zumindest zwei Gelehrte gibt, einen für die ganze Torah und einen für die rein juristischen Fragen. Durch diesen Unterschied ist evident, dass sich das Gesetz Gottes für Maimonides nicht auf die rein juristischen Fragen beschränkt: Das Gesetz Gottes umfasst jedes Wissensgebiet, die Richter müssen somit in allen belehrt werden. Die Anwendung der Gerechtigkeit betrifft jeden Aspekt der menschlichen Existenz, nämlich sowohl die Bedürfnisse des Körpers als auch die Bedürfnisse der Seele, weshalb eine rein theologische Kompetenz nicht genügt, um als Richter berufen zu werden. 6 7 8
Ibidem, S. 5. Ibidem, S. 5. Ibidem, S. 6.
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Diese Pointierung bringt die Sektion Sanhedrin in eine gewisse Nähe zum Schluss der Nomoi von Platon, wo sich der Athener fragt, welches Wissen ein Richter besitzen muss, um in die ‚Nachtversammlung‘ aufgenommen zu werden: Was soll seine größte Sorge sein? Wonach muss er durch seine Entscheidungsfähigkeit streben? Platon schreibt diesbezüglich: „In der Seele befindet sich neben anderen Kräften auch die Vernunft, so wie im Kopf neben anderen Gesicht und Gehör, die enge Verbindung und das Einswerden der Vernunft mit diesen edelsten Sinnen wird aber doch Das sein worein wir mit dem vollsten Rechte den Bestand eines jeden Wesens setzen? […] Also ist es offenbar auch in unserem Falle erforderlich, wenn anders unser neu zu begründender Staat das Ziel der Vollendung erreichen soll, dass es eine Behörde in ihm gibt welche erstens bekannt damit ist was der Zweck desselben […] sei, sodann damit, auf welche Weise derselbe zu erreichen stehe und durch was für Gesetze und was für Leute der Staat zu diesem Zwecke wohl oder übel beraten sei.“9
Der Richter muss die Anwendung der Gesetze auf ein einziges Ziel ausrichten, nämlich die Befriedigung der Bedürfnisse der Seele und des Körpers aller Bürger durch die Verwirklichung der Tugend. Die Pluralität der Tugenden, die von Platon sowohl in der Politeia als auch in den Nomoi beschrieben werden, hat ihren höchsten Punkt in der einzigen Tugend der Weisheit (sophia). Bezüglich der Regeln für die Auswahl eines Richters gilt die erste Sorge des Wählers den Fähigkeiten des Gewählten, dem einzigen telos, nämlich der Verwirklichung der Weisheit durch den Besitz aller einzelnen Tugenden und die Erkenntnis aller einzelnen Bedürfnisse der Bürger. Auch das zweite Kapitel des Sanhedrin bestimmt die Regeln für die Auswahl der Richter sowohl im Großen als auch im Kleinen Gericht, ausgehend von der Erkenntnis der Torah (Bedürfnis der Seele) sowie von der Erkenntnis vieler anderer Wissenschaften (Bedürfnis des Körpers): „Nur diejenigen sind berechtigt, als Mitglieder des Sanhedrin zu fungieren – ob nun des Großen oder Kleinen Sanhedrin – welche weise und verständige Männer sind, das heißt, dass sie Kenner der Torah und auf vielen anderen Gebieten bewandert sind; die gewisse Kenntnisse der allgemeinen Wissenschaften wie der Medizin, der Mathematik, (der Berechnung) der Gestirnszyklen und Sternbilder haben: und die ein wenig mit der Astrologie, der Kunst der Wahrsager, Zauberer, den abergläubischen Praktiken der Götzendiener und ähnlichen Dingen vertraut sind, so dass sie befähigt sind, mit Fällen umzugehen, die dieses Wissen erfordern.“10
Die Paragraphen 1–3 und 6–10 bilden eine inhaltliche Einheit; Maimonides bezieht sich hier auf zahlreiche Abschnitte der Bibel, in denen die notwendige praktische und theoretische Erkenntnis der Richter dargestellt wird: „Da sprach der Herr zu Moses: Versammle mir aus den Ältesten Israels, von 9 10
Platon, Nomoi, XII 961d–962b. Ibidem, S. 7.
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denen du weißt, dass sie die Ältesten und Amtleute des Volkes sind, siebzig Männer und bringe sie zum heiligen Zelte; dort sollen sie sich neben dir aufstellen.“ (Num. 11:16; Maimonides erklärt: „neben Dir in Weisheit, Ehrfurcht und Abstammung“11), „[U]nd sollst zu den levitischen Priestern und zu dem Richter gehen […].“ (Dt. 17:9; für die theologischen Fragen sollten Priester im Gericht sitzen, aber wenn sie fehlen, darf diese Funktion auch von israelitischen Laien erledigt werden), „Bringet weise, verständige und einsichtige Männer her aus jedem eurer Stämme“ (Dt. 1:13), „wackere und gottesfürchtige Männer, zuverlässige Leute“ (Ex. 18:21), „Aber Moses erhob sich, half ihnen“ (Ex. 2:17; die Richter müssen so bescheiden wie Moses sein), „gerecht sollst du deinen Nächsten richten“ (Lev. 19:15). Auch die letzten Paragraphen 11–14 bilden eine inhaltliche Einheit, da sie sich mit der notwendigen Zahl der Richter beschäftigen, die ein Urteil aussprechen dürfen: Obwohl es für Maimonides möglich ist, dass ein ausgezeichneter gelehrter Mensch als allein entscheidender Richter berufen wird, ist es stets besser, dass eine Mehrzahl von Gelehrten, die in unterschiedlichen Bereichen kompetent sind und die deswegen ein weiteres Erkenntnisspektrum abdecken können, das Urteil ausspricht. Maimonides bezieht sich explizit auf den Traktat Avot 4:8, in dem man liest: „Urteile nicht allein, weil niemand, außer Gott, allein urteilen kann.“12 Während das zweite Kapitel insgesamt als eine Einheit erscheint, stören die Paragraphen 4 und 5 diese ‚Harmonie‘, indem sie eine Gestalt in die Argumentation einführen, die erstens bis dahin nicht erwähnt wurde, die zweitens mit dem Problem der Qualitäten der im Gericht sitzenden Menschen nichts zu tun hat und die drittens die logische Kette der Maimonidischen Aufzählung unterbricht: den König. In den Paragraphen 4 und 5 liest man: „Der König Israels erhält keinen Platz im Sanhedrin, weil es verboten ist, mit ihm nicht übereinzustimmen oder sich gegen sein Wort aufzulehnen. Aber der Hohepriester kann einen Platz erhalten, wenn er aufgrund von Gelehrtheit dafür geeignet ist. […] Obwohl die Könige des Hauses David keinen Platz im Sanhedrin erhalten, richten sie andere und werden in einem Rechtsstreit gegen sie gerichtet. Aber die Könige Israels dürfen weder richten noch gerichtet werden, weil sie sich nicht an die Regeln der Torah halten. (Über sie Gericht zu halten,) könnte ungehörige Folgen haben.“13
Die erste Schwierigkeit ergibt sich, wenn man versucht, das Subjekt dieser zwei Paragraphen zu identifizieren. Maimonides scheint über drei unterschiedliche Gestalten zu sprechen, die jeweils eine bestimmte Rolle im Sanhedrin haben bzw. nicht haben dürfen: über den König von Israel 11 12 13
Ibidem, S. 7. Übersetzung von F. Y. A. Ibidem, S. 8 (Übersetzung von F. Y. A.).
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(lXr>y 'lm ; Singularform), die Könige des Hauses David (dvd tyb yklm ; Pluralform) und die Könige von Israel (lXr>y yklm ; Pluralform). Von wem ist hier eigentlich die Rede? Wenn man von der Tatsache ausgeht, dass in diesem juristischen Codex für die zerstreuten jüdischen Gemeinden kein Wort zufällig benutzt wird, und man, unter einem bloß geschichtlichen Blickwinkel, daran denkt, dass Israel zu dieser Zeit gar keinen König mehr hatte, ist es sinnvoll, sich zu fragen, worüber Maimonides in den Paragraphen 4 und 5 spricht und worauf er zielt. Meines Erachtens kann man in diesen Paragraphen bei Maimonides erste Hinweise auf die Gestalt des König-Messias und auf ihre enge Verbindung zum Gesetz Gottes erkennen. Bereits im vorletzten Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem, den ich später ausführlich untersuchen werde, widmet Maimonides einen langen Abschnitt dem Unterschied zwischen dem Messias und dem König David (dessen Nachfolge eingeschlossen, wobei der Messias selbst aus dem Haus von David stammen wird).14 Obgleich die Bibel über König David und über den König-Messias in einer ähnlichen Art und Weise (groß ist das Verzeichnis von Bibelversen, die Maimonides diesbezüglich vergleicht) spricht, bleibt eine entscheidende Differenz zwischen beiden: König David wird Israel aus der Hand seiner Feinde retten, während der Messias die endgültige Rettung bringen wird. In diesem Sinne ist David zwar der höchste unter den Königen Israels, aber dabei doch einer unter vielen, während der Messias der König schlechthin sein wird. Da die endgültige Rettung durch die vollständige Verwirklichung des Gesetzes Gottes erfolgen wird, ist es verboten, gegen den Messias zu rebellieren oder mit ihm zu streiten, weil ein solches Tun nur Konsequenz unserer beschränkten Weisheit und unserer bloß empirischen Kenntnis des Gesetzes ist. Der Sanhedrin bleibt auch nach der Ankunft des Messias im Amt, aber der König Israels wird dort keinen Platz haben, da seine juridische Funktion höher als die des Sanhedrins ist. Nach der talmudischen Tradition, auf die sich Maimonides in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem bezieht, wird auch der König-Messias sterben, aber nach ihm werden andere Könige Israels kommen, welche die vollständige Verwirklichung des Gesetzes weiter vorantreiben werden, weshalb sie auch nicht urteilen und nicht beurteilt werden dürfen. Nur diejenigen Könige des Hauses David, die geschichtlich vor der Ankunft des König-Messias herrschen, befinden sich noch unter der Gesetzgebung der Torah und müssen sich folglich vor dem Sanhedrin verantworten. Parallel zum Inhalt dieses Kapitels kann man in den Paragraphen 4 und 5 des zweiten Kapitels des Sanhedrin „den König von Israel“ als den KönigMessias, „die Könige des Hauses David“ als die Könige vor der Ankunft des
14
Ibidem, S. 239.
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Messias und „die Könige Israels“ als die Könige nach der Ankunft des Messias verstehen. Eine solche Deutung rettet die inhaltliche Einheit des ganzen Kapitels, da die Beziehung zwischen den Königen und dem Sanhedrin auf der Erkenntnis des Gesetzes, nämlich der praktischen und theoretischen Weisheit des Intellekts als Qualität der Könige, basiert.
1.2 Politische und ethisch-religiöse Aspekte der Funktion des Richters Der Richter und der König teilen unter differenzierten Blickwinkeln und durch die Ausübung bestimmter unterschiedlicher Funktionen die Verantwortung für die Leitung der Gemeinde untereinander auf, eine Verantwortung, die in den letzen drei Kapiteln der Sektion Sanhedrin in ihren politischen und ethisch-religiösen Aspekten deutlich herausgearbeitet wird. Die Rede ist hier nur von dem Richter, der die juridische Macht hat, alle möglichen Disziplinarmaßnahmen innerhalb der Gemeinde zu ergreifen. Diese umfassende Macht seiner Urteile wird von seiner ‚hermeneutischen‘ Fähigkeit geleitet, er muss entscheiden, ob ein konkreter Angeklagter eine bestimmte Strafe verdient und ob der geschichtliche Moment („der Ernst der Stunde“15) für eine solche Strafe geeignet ist. Das Risiko der wohl notwendigen juristischen Hermeneutik liegt in der Vielfalt der Prinzipien, die ein Richter respektieren muss, um gerecht zu sein. Aber die Gerechtigkeit ist ein absoluter, nicht ein relativer Wert, weshalb für die Orientierung der juridischen Urteile ein grundlegendes Prinzip festzusetzen ist. Da die Gerechtigkeit ausgehend vom Gesetz Gottes definiert wird, schreibt Maimonides: „All seine [des Richters] Handlungen sollten um des Himmels willen getan werden. Die menschliche Würde soll nicht leicht in seinen Augen sein; denn die Achtung des Menschen verdrängt ein negatives rabbinisches Gebot. Dies trifft in noch höherem Maße auf die Würde der Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs zu, die das wahre Gesetz befolgen. Der Richter muss sehr vorsichtig sein, nicht ihre Selbstachtung zu zerstören. Seine alleinige Sorge sollte der Steigerung von Gottes Ehre gelten, denn wer immer die Torah entehrt, wird auch von den Menschen nicht geehrt, und wer auch immer die Torah ehrt, wird von den Menschen geehrt. Die Torah zu ehren heißt, ihre Satzungen und Gesetze zu befolgen.“16
Das ethisch-religiöse Prinzip, an dem der Richter seine Urteile orientieren muss, ist die Ehre Gottes: Obwohl das Gesetz um des menschlichen Lebens willen eingeführt wurde, bedeutet seine Verwirklichung die höchste Ehre Gottes. Aber gerade weil das Gesetz um des menschlichen Lebens willen
15 16
Ibidem, S. 75 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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Der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
existiert, darf der Richter die menschliche Würde nicht aus den Augen verlieren, wenn er in seinem Amt handelt. Das gilt in Bezug auf die ganze Menschheit, aber im Besonderen in Bezug auf das Volk Israel, dem das Gesetz gegeben wurde. Die Verwirklichung des Gesetzes kennt eine deutliche Beschränkung, die Menschenwürde. Diese erlaubt sogar, eine negative rabbinische Vorschrift zu umgehen, wenn diese Vorschrift den Menschen demütigt. Das „um des Himmels willen“ und „Gottes Ehre“ bedeutet nicht die Demütigung, Beleidung oder sogar Erniedrigung des Menschen, sondern gerade das Gegenteil, nämlich die Entfernung des Menschen von der empirischen weg und Annäherung hin zur theoretischen Weisheit. Das ist die engste Beziehung zwischen der Torah und den Menschen. So wie im Sefer ha-Madda> herausgearbeitet wird, welches Verhalten der Weise gegenüber der Gemeinde zeigen muss17, so geht es am Schluss des Sanhedrin parallel um den Richter und sein Verhalten: „Er darf nicht die Gemeinde in einer tyrannischen und anmaßenden Art und Weise führen. Man sollte seine Autorität in einem Geist der Demut und Ehrfurcht ausüben. […] Er darf auch nicht Menschen mit Missachtung begegnen, auch wenn sie ungebildet sind. […] Das ist eine Ermahnung an den Richter, geduldig mit der Gemeinde umzugehen, wie es ein Erzieher mit seinem noch nicht entwöhnten Kind tut. […] So wie der Richter angehalten ist, dieses Gebot zu befolgen, so ist auch die Gemeinde angehalten, dem Richter eine respektvolle Behandlung zukommen zu lassen […]. Sobald ein Mann zum Leiter einer Gemeinde bestimmt wurde, ist es ihm verboten, die Arbeit (eines Knechtes) in der Gegenwart von drei Männern zu tun, damit er ihre Achtung nicht verliert. Wenn es ihm verboten ist, die Arbeit eines Knechtes in der Öffentlichkeit zu tun, um wie viel mehr ist es ihm verboten, in der Gegenwart von Vielen zu essen, zu trinken oder betrunken zu werden oder Versammlungen von ungebildeten Menschen und gesellige Feste zu besuchen. Wehe solchen Richtern, die dergleichen aus Missachtung der Torah von Moses tun. Sie missachten ihre Anordnungen, erniedrigen sie, bringen sie in den Staub und verursachen Böses für sich und ihre Kindeskinder in dieser Welt und in der kommenden Welt.“18
Wenn Maimonides in der Sektion Sanhedrin die politischen und gemeinschaftlichen Aspekte der Führung der Gemeinde herausarbeitet, findet man dieselben Themen wieder, die bereits im Sefer ha-Madda> in Bezug auf die gemeinschaftliche Rolle des Weisen hervorgehoben wurden: der gegenseitige Respekt zwischen Leiter und Gemeinde, das vorbildliche Benehmen des ersteren, der Ausschluss vom >olam ha-ba als Konsequenz der Herabsetzung des Gesetzes Gottes, eine Herabsetzung, die zerstörerische Folgen für den Einzelnen und für die ganze Gemeinde mit sich bringt.
17 18
Sefer ha-Madda>, op. cit., S. 85a. Book of Judges, op. cit., S. 77f (Übersetzung von F. Y. A.).
Der König als politische Gestalt in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
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Im Sefer ha-Madda> spricht Maimonides über den Weisen überhaupt, ohne seine Funktion innerhalb der Gemeinde festzustellen. Im Sanhedrin hingegen wird die Weisheit als Instrument für die Anwendung der Gerechtigkeit seitens des Richters, nämlich seitens einer bestimmten juristischen Figur, vorgestellt. Im Sanhedrin wird die politische und ethisch-religiöse Anwendung der Gerechtigkeit ebenfalls unter zwei verschiedenen Blickwinkeln untersucht: die Anwendung der Gerechtigkeit seitens des Richters und die Anwendung der Gerechtigkeit seitens des Königs. Das letzte Buch der Mishneh Torah beginnt somit mit der Bestimmung des Richters (Sanhedrin) und endet mit der Bestimmung des Königs (Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem): Die systematische Verbindung zwischen Mensch und Torah, zwischen praktischer und theoretischer Weisheit im geschichtlichen Leben der Gemeinde wird in der letzten Sektion des letzten Buchs der Mishneh Torah als Orientierung des gesamten Geschehens aufgefasst. Die Könige des Hauses David bereiten den derekh, nämlich den Weg der Gerechtigkeit, zur Verwirklichung des Gesetzes Gottes durch den König schlechthin vor: den König-Messias.
§ 2 Der König als politische Gestalt in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem Wenn man über den König als politische Gestalt und seine Verbindung zur Weisheit spricht, ist Maimonides sicherlich nicht der erste Philosoph, an den zu denken ist. Es ist Platon mit seiner grundlegenden politischen Idee des König-Philosophen.19 Darüber hinaus war nicht Maimonides, sondern Philon von Alexandria der erste Denker, der die Prinzipien der platonischen politischen Philosophie auf die Torah anwandte und die prophetische Gestalt des Moses mittels der Kriterien für die Definition des König-Philosophen beschrieb. Somit war die jüdische hellenistische Philosophie der Anfang dieser Tradition, die sich erst seit dem 10. Jahrhundert nach der Begegnung zwischen islamischer Welt und jüdischem Denken erneuerte. Es könnte sonderbar scheinen, dass sich die islamische Welt, die von Aristoteles hinsichtlich der Metaphysik, der Ethik und der Konzeption der Wissenschaft so massiv beeinflusst wurde, Platon, und zwar die Politeia
19
Abraham Melamed hat in seinem jüngsten Werk versucht, die Entwicklung dieser Figur der platonischen politischen Philosophie in der jüdischen Philosophie in Mittelalter und Renaissance ausführlich zu untersuchen, doch hinterlässt seine unsystematische Methode viele argumentative und inhaltliche Lücken: Abraham Melamed, Philosopher-King in Medieval and Renaissance Jewish Political Thought, New York 2003.
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sowie die Nomoi, nicht aber die Politik von Aristoteles aneignete. Die Erklärung von Abraham Melamed ist schlüssig; er schreibt: „[…] [T]he Platonic political world view fitted in better with the political theology of Islam and of Judaism, both in essence holistic, than did Aristotle’s Politics, which was better suited to the dualistic political theology of medieval Christianity. Hence, it is no coincidence that Christianity based itself on the Politics and not on The Republic, in marked contrast with both Islam and Judaism. Neither is there any coincidence in the rejection of the Platonic political tradition and its disappearance from Jewish culture just before the Enlightenment. That was a direct result of the internal needs of the culture when it came under modern influences and went through gradual secularization processes that undermined the holistic framework of traditional Rabbinic Judaism.“20
Das erklärt aber noch nicht, aus welchem Grund die grössten Renaissanceforscher, die ihre entscheidenden Werke nach der Entdeckung der Rolle von Platons politischer Philosophie im mittelalterlichen Judentum (folgt man der bahnbrechenden Arbeit von Leo Strauss) schrieben, behaupten, dass Platon für tausend Jahre verschwand und erst von den Philosophen der Renaissance wiederentdeckt wurde.21 Obwohl ich an der von Leo Strauss (und nach ihm von Erwin I. J. Rosenthal, Shlomo Pines, Ralph Lerner und Lawrence V. Berman) behaupteten zentralen Bedeutung der platonischen politischen Philosophie im jüdischen Mittelalter nicht zweifle22, hat sie zunächst eine tragende Funktion im islamischen frühmittelalterlichen Denken gehabt, das später einen starken Einfluss auf Moses Maimonides und andere ausübte. Wenn man sich kurz auf die hellenistischen Quellen der frühmittelalterlichen islamischen Philoesophen konzentriert, Quellen, denen die islamische Kultur ihre Kenntnis der griechischen Philosophie verdankt, ist uns kein hellenistischer Kommentar zur aristotelischen Politik bekannt, während die Versuche, eine Einheit nicht nur zwischen Aristoteles und Platon herzustellen, sondern auch innerhalb des platonischen Denkens selbst zu zeigen, sich auch auf die Analyse der Politeia und der Nomoi konzentrieren. Eigentlich ist das Interesse der hellenistischen Untersuchungen hauptsächlich auf das menschliche Streben nach der göttlichen Perfektion orientiert, weshalb Philosophen wie Plotinus und Proklos ihre Aufmerksamkeit mehr 20 21
22
Ibidem, S. xii. Zum Beispiel wird diese Position von ‚alten‘ Forschern wie Ernest Barker (The Political Thought of Plato and Aristotle, New York 1959) und ‚jüngeren‘ Forschern wie James Hankins (Plato in the Italian Renaissance, Leiden 1991) unterstützt. Sie nehmen die Rolle der platonischen politischen Philosophie im mittelalterlichen jüdischen und islamischen Denken gar nicht in Anspruch. Trotzdem wird diese Rolle zum Beispiel von Moshe von Rieti (15. Jahrhundert) anerkannt, wobei er allerdings in seinem Miqddash Me>at die politische Philosophie für zweitrangig im Vergleich zu anderen Aspekten der mittelalterlichen jüdischen Philosophie hält. Ich bin der Meinung, dass, wird eine Leitidee als einzige Lupe für die Interpretation eines Philosophen bzw. einer Denkbewegung benutzt, die Lupe letztendlich zu einer Form von Myopie führt.
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den Dialogen wie Parmenides und Theaitetos als den politischen Werken Platons widmeten. Da die islamischen Denker hingegen die soziale und politische Pflicht des Philosophen herausstellten, konzentrierten sie sich hauptsächlich auf die hellenistischen Untersuchungen der Politeia und der Nomoi einerseits und der Nikomachischen Ethik andererseits.23 Der platonische König-Philosoph zeigt viele Ähnlichkeiten mit dem Prophet-Gesetzgeber der islamischen Tradition, die vor allem von Ibn Rushd in seinem Kommentar zur Politeia hervorgehoben wurden: „[…] Folglich sind diese Begriffe, dass heißt, Philosoph, König und Gesetzgeber, synonym; ebenso ist es ‚Priester‘.“24
Diese Identifikation wurde mit Alfarabis Interpretation von Platon noch deutlicher, da er eine genaue Korrespondenz zwischen Prophetie, Philosophie und Politik feststellte: Die Philosophie beschäftigt sich mit den richtigen Glaubensakten, während sich die Politik auf das richtige Handeln bezieht. Beide Sphären spiegeln einander und beeinflussen sich gegenseitig: Wenn die Vollständigkeit in einer der Sphären nicht erreicht wird, ist die Vollständigkeit in der anderen ebenfalls nicht möglich, weshalb gilt: wenn die Philosophie politisch ist, muss der Philosoph mit dem Gesetzgeber (wadi> u-l-nawamis) gleich sein. Abraham Melamed schreibt diesbezüglich: „Whoever attains a knowledge of this art [der politischen Weisheit], must apply it in right actions. Thus, if the sciences of religious law and of theology […] are made ancillary to the science of politics, the philosopher, who is also king, may at the same time also be lawgiver and prophet, and perhaps even priest.“25 23
24
25
Aus diesem Grund hat Erwin I. J. Rosenthal die der Politik gewidmete Sektion seines Werkes Political Thought in Medieval Islam. An Introductory Outline (Cambridge 19622) The Platonic Legacy (S. 111ff) genannt. Leider ist das arabische Manuskript verlorengegangen. Heute besitzt man nur die sehr fragwürdige Übersetzung von Samuel ben Judah aus Marseille, auf welcher die Übersetzungen von Erwin I. J. Rosenthal (Averroes Commentary on Plato’s Republic, Cambridge 1969, S. 61) und Ralph Lerner (Averroes on Plato’s Republic, Ithaca 1974) basieren. Obwohl die Übersetzung von Lerner dem hebräischen Text näher ist, benutze ich hier aus stilistischen Gründen diejenige von Rosenthal. Hinsichtlich der Übersetzung von Samuel ben Judah siehe: Lawrence V. Berman, Greek into Hebrew: Samuel ben Judah of Marseilles, Fourteenth-Century Philosopher and Translator, in: Alexander Altmann (Hrsg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge (Mass.) 1967, S. 289–320. Die Manuskripte, die noch erhalten sind, befinden sich in den folgenden Bibliotheken: Munich, Bayrische Staatsbibliothek, Hebr. 308, fols. iv–43v (Manuskript aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts); MS Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Conventi Soppressi 12, fols. 94r–129v (Manuskript aus dem Jahr 1457). Abraham Melamed, Philosopher-King, op. cit., S. 2. Siehe auch: Paul D. Wegner, An Examination of Kingship and Messianic Expectation in Is. 1–35, Lewiston (NY) 1992; Lawrence V. Berman, Maimonides on Political Leadership, in: Daniel J. Elazar (Hrsg.), Kinship and Consent, Ramat Gan 1981, S. 113–125; ders., The Ideal State of the Philosophers and the Prophetic Laws, in: Ruth Link-Salinger et al. (Hrsg.), A Straight Path: Studies in Medieval Philosophy and Culture. Essays in Honor of A. Hyman, Washington 1987, S. 10–22; Leo Strauss, Farabi’s Plato, in: Louis Ginzburg Jubilee Volume, New York 1945, S. 357–393.
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In diesem politisch-philosophischen Zusammenhang hebt Alfarabi die Rolle der Prophetie hervor und verbindet sie mit der Doppelfunktion des Gesetzgebers als Leiter der Gemeinde und als Interpret des Gesetzes Gottes.26
2.1 Prophetie und Politik: Die Lehre des Qur’an im Denken von Alfarabi Die üblichen Studien über die Lehre von der Prophetie bei Alfarabi leiden unter zwei methodischen Beschränkungen: Entweder wird diese Lehre nur als Brücke zur Prophetie im Moreh ha-Nevukhim27 von Maimonides betrachtet, oder sie wird unabhängig von der Lehre des Qur’an untersucht (die einzige mir bekannte Ausnahme ist Muhsin Mahdi, der beide Dimensionen im Denken von Alfarabi gleicherweise berücksichtigt und analysiert).28 Ich bin der Meinung, dass es nicht möglich ist, die Lehre von der Prophetie in irgendeiner Weise vom Qur’an zu trennen, da alle islamischen Denker, die sich mit ihr beschäftigten, philosophisch und theologisch vom Qur’an beeinflusst waren. Da der Qur’an keine einheitliche Lehre der Prophetie (nubuwa) und der mit ihr verbundenen Konzeptionen des Botschafters (rasul), der Inspiration/Eingebung (’ilham) und der Offenbarung (wahy) enthält, findet man dieselbe theoretische Uneinheitlichkeit auch im islamischen Denken, obgleich die islamischen Philosophen mit unterschied26
27 28
Vgl. u.a.: Avietzer Ravitzky, Religion and State in Jewish Philosophy. Models of Unity, Division, Collision and Subordination, Jerusalem 2002, S. 21ff; Muhsin Mahdi, Prophecy and Revelation in Alfarabi’s Political Philosophy, in: Roshdi Rashed/Joël Biard (Hrsg.), Les doctrines de la science de l’antiquité à l’âge classique, Leuven 1999, S. 165ff; Leo Strauss, Philosophy and Law: Essays Toward the Understanding of Maimonides and His Predecessors, Einf. von Ralph Lerner, Philadelphia 1987; Ira Robinson (Hrsg.), The Thought of Moses Maimonides. Philosophical and Legal Studies, New York 1990; Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Wisdom in Plato, al-Fârâbî, and Maimonides, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks (Hrsg.), Studies in Islamic and Judaic Traditions, Atlanta 1986, S. 205–232; Resianne Fontaine, De Profeet en de Wet. De Reactie van middeleeuwse joodse Denkers op islamitische filosofische Denkbeelden, in: Julie-Marthe Cohen/Irene E. Zwiep (Hrsg.), Joden in de Wereld van de Islam, Amsterdam 1985, S. 51–63; Franz Rosenthal, Political Justice and the Just Ruler, in: Israel Oriental Studies X (1980), S. 92–101; Irving Rotter, The Islamic Sources of Maimonides’ Political Philosophy, in: Gesher 7 (1979), S. 182–204; Miriam Galston, Philosopher-King v. Prophet, in: Israel Oriental Studies VIII (1978), S. 204–218; Zwi Diesendruck, Maimonides’ Lehre von der Prophetie, in: Jewish Studies in Memory of Israel Abrahams, New York 1927, S. 74–134. MN, II 36. Für den kulturellen Hintergrund von Alfarabi siehe u.a.: Peter Bruns/Sebastian Brock (Hrsg.), Von Athen nach Bagdad. Zur Rezeption griechischer Philosophie von der späten Antike bis zum Islam, Bonn 2003; Joel L. Kraemer, Humanism in the Renaissance of Islam. The Cultural Revival during the Buyid Age, Leiden 1986; ders., Philosophy in the Renaissance of Islam. Abû Sulaymân al-Sijistânî and his Circle, Leiden 1986, bes. S. 241ff.
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lichen Akzentuierungen versuchten, aus der koranischen Theologie eine prägnante und einheitliche Theorie zu machen. Genau genommen gibt es ein Element, das regelmäßig in der koranischen Lehre von der Prophetie vorkommt und eine entscheidende Rolle bei Alfarabi spielt: die politische Dimension der Gemeinde (’umma). Dieses Element ist in allen obengenannten theologischen Begriffen der islamischen Lehre der Prophetie vorhanden. In Bezug auf den rasul wird die Beziehung zur Gemeinde mehrmals erwähnt (Sura X 48; XVI 38; XXIII 46; XL 5), wenn der rasul als Botschafter beschrieben wird, den Gott an alle Gemeinden sendet. Diese politische Rolle des rasul betrifft nicht nur die geschichtliche Gegenwart der ’umma, sondern auch ihre eschatologische Zukunft vor dem Gottesgericht. Im Qu’ran (Sura IV 45; XXVIII 75) steht, dass Gott für jede Gemeinde am Tag des Gerichtes einen Zeugen vorladen wird, der die Funktion ihres ‚Anwaltes‘ ausüben wird. Dieser Zeuge ist der rasul, der an der Spitze der Gemeinde die Brücke zum Jenseits überqueren wird. Die Vielzahl dieser Botschafter sowie ihre gegenwärtige und eschatologische Funktion bedeuten, dass Muhammad nicht mit dem rasul identisch ist: Allah hat Muhammad zu einer Gemeinde geschickt, die noch keinen rasul kannte. Genau genommen ist die Rolle von Muhammad sehr umstritten, da er im Qur’an bald nabiy (Prophet) und bald rasul genannt wird, obwohl Prophet und rasul keine Synonyme sind. Allah schickt die Propheten als Prediger und naüir (‚Warner/Vorbote‘) (‚Überprüfer‘) zur Gemeinde, aber sie sind, anders als der rasul, nicht die Leiter der Gemeinde. Erst in der frühmittelalterlichen islamischen Theologie beginnt der bereits problematisch gewordene Unterschied zwischen nabiy und rasul zu verschwinden, bis zu dem Punkt, dass die islamische Theologie zur Zeit von Alfarabi nabiy und rasul als Synonyme betrachtet.29 Auch der Begriff nubuwa (Prophetie) enthält im Qur’an eine deutliche politische Bedeutung. Zuerst bezeichnet er die Vorkenntnis, die Allah dem Propheten gibt, und zugleich die Vorhersage, nämlich die spätere Fähigkeit 29
Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe: Georges Tamer, Monotheismus und Politik bei Alfarabi, in: Aziz Al-Azmeh/Janos Bak (Hrsg.), Monotheistic Kingship. The Medieval Variants, Budapest 2004, S. 192–214; ders., Islamische Philosophie und die Krise der Moderne: das Verhältnis von Leo Strauss zu Alfarabi, Avicenna und Averroes, Leiden/Boston/Köln 2001; Muhsin Mahdi, On Philosophy and Religion, in: ders., Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, Chicago 2001, S. 208ff; Toufiq Fahd, La divination arabe. Études religieuses, sociologiques et folkoriques sur le milieu natif de l’Islam, Leiden 1966 (Nachdruck Paris 1987); Alfred von Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams. Der Gottesbegriff, die Prophetie und die Staatsidee, Leipzig 1868 (Nachdruck Hildesheim 1961); Fazlur Rahman, Prophecy in Islam, London 1958; Arent J. Wensick, Mohammed und die Propheten, in: Acta Orientalia 2 (1923), S. 158–171; Max Horten, Texte zu dem Streite zwischen Glauben und Wissen im Islam. Die Lehre von Propheten und der Offenbarung bei den islamischen Philosophen Farabi, Avicenna und Averroes, Bonn 1913.
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des Propheten, über die Zukunft der Gemeinde Auskünfte erteilen zu können. Aber an vielen Stellen ist nubuwa auch als Synonym von Offenbarung (wahy) gebraucht, die zugleich Dogmen, Kultusregeln, eine Sittenlehre und Vorschriften für die soziale und politische Ordnung beinhaltet. Bereits in der frühislamischen Theologie war die Prophetie die wichtigste Erkenntnisquelle, die sowohl die politische als auch die ethische Orientierung der Gemeinde ermöglichte. Im Qur’an wird die wahy als eine außerordentliche Modalität Gottes beschrieben, mit den Geschöpfen zu kommunizieren. Sie stellt eine Konzeption aus Inspiration und Kommunikation, aber ohne sprachliche Formulierung dar, die den Willen Gottes enthüllt. Das bedeutet aber nicht, dass die Abwesenheit der Sprache der Abwesenheit der rationalen Mitwirkung des Menschen gleich ist. In der Tat liest man in Sura VII 117: „Und wir offenbarten Moses: ‚Wirf deinen Stab!‘“.30 Im Qur’an ist das Wort tanzil ein Äquivalent von Offenbarung, ein Wort, das häufig mit dem buchstäblichen Bild des ‚Bringens/Herabsendens/ Hinabbringens‘ einer Botschaft verknüpft wird. Tanzil bedeutet auch ‚Inspiration‘, aber nicht im Sinne der platonischen Verrücktheit der Künstler, da die Menschen, die das tanzil erhalten, einen Herrscher oder eine ganze Gemeinde beraten müssen; sie erfüllen nämlich eine politische Funktion, die mit der platonischen Verrücktheit nichts gemein hat. Diese politische Bedeutung der Lehre von der Prophetie und aller Begriffe, die mit ihr verbunden sind, tritt im Denken von Alfarabi deutlich hervor, der Offenbarung und Prophetie für das höchste Verhältnis zwischen dem menschlichen Intellekt und dem Intellekt Gottes hält. Natürlich hält Alfarabi auch an der neuplatonischen Interpretation fest, die Prophetie und Offenbarung als nicht begreifbare Konzepte interpretiert. Muhsin Mahdi schreibt hierzu: „Through revelation, religion provides certain kinds of knowledge that human intellect cannot attain. Human intellect may even reject them. But the more our intellect rejects them, the more useful and valid they must be. They may seem objectionable or absurd to our human mind, but they are correct in the divine mind and for those endowed with divine knowledge. […] For this theological position, miracles and the testimony of truthful witnesses are enough to prove that the human being who receives the revelation is truthful and could not have lied: therefore everything he says should be accepted without examination.“31 30
31
Man muss freilich darauf achten, dass sich die Offenbarung nach der koranischen Lehre auch in den Bienen, im Himmel und auf der Erde zeigt – und nicht nur in Gott; auch die Dämonen können sich offenbaren. Für eine Vertiefung der islamischen Offenbarungslehre siehe u.a.: O. Pautz, Muhhameds Lehre von der Offenbarung, Leipzig 1898; Josef van Ess, Verbal inspiration? Language and Revelation in Classical Islamic Theology, in: Stefan Wild (Hrsg.), The Qu’rân as Text, Leiden 1996, S. 177–194. Mushin Mahdi, Prophecy and Revelation, op. cit., S. 166.
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Obwohl Mahdi einräumt, dass es unmöglich ist, im ganzen corpus der Werke von Alfarabi eine einheitliche und widerspruchsfreie Position in Bezug auf die Prophetie und auf die Offenbarung zu finden, versucht er trotzdem, eine einheitliche Antwort auf zwei Hauptfragen zu geben, die meine Untersuchung direkt betreffen und für die ich teilweise eine andere Antwort skizzieren möchte: 1. Welches ist für Alfarabi die ‚beste‘ Religion? 2. Was ist Prophetie und was Offenbarung? Für Alfarabi ist die ‚beste‘ Religion diejenige, welche die vollkommenste philosophische Erkenntnis erreicht, da er durch die Lehre von Platon (im besonderen die Dialoge Euthyphron und Phaidros) und von Aristoteles (De divinatione per somnum) gelernt hat, dass die beste Religion am höchsten Punkt der praktischen und intellektuellen Entwicklung von der Technik (arts) gestiftet wird. Der Gründer der besten Religion ist also ein Mensch mit der höchsten praktischen und theoretischen Erkenntnis, der vor allem imstande ist, diese Erkenntnis mittels ziviler Gesetze zu verwirklichen. Das bedeutet, dass jede religiöse Erkenntnis nach Alfarabi nicht vom Glauben, sondern von menschlicher Weisheit geleitet wird: Die Offenbarung stellt die Herausforderung für diese Weisheit dar, da der Mensch durch ihre Botschaft und ausgehend vom Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis das vollkommene praktische Urteil (auf Arabisch: tamm ta>aqqul = vollkommene Vernunft) über seine Welt und über sich selbst bilden muss. Unter diesem Blickwinkel bin ich mit Mushin Mahdi nicht einverstanden, wenn er schreibt, dass die Offenbarung bei Alfarabi „is a substitute for the practical part of philosophy“32; ich stimme auch Miriam Galston nicht zu, wenn sie schreibt: „The idea of a philosopher-king […] is intelligible to a political philosopher; but belief in the philosopher-king’s existence must forever be an act of faith.“33 Zwar gilt: „revelation is political wisdom, since it is said to provide the ability to determine the actions of the citizens of a whole city or many cities“34, aber sie hat vielmehr eine praktische Orientierungsfunktion: Die Offenbarung zeigt nur das Ziel, aber nicht die praktischen Methoden zu dessen Verwirklichung. Sie ist die Leitung, übernimmt aber nicht die Rolle des Leiters. Das erklärt auch, wieso Alfarabi in seinem Kitab al-milla (Book of Religion) behauptet, dass der Gründer der Religion die königliche Kunst besitzt, dass er nämlich theoretische und praktische Erkenntnis einerseits mit der Offenbarung als Botschaft Gottes andererseits kombiniert. Über diese leitende Figur wird ausführlich später zu sprechen sein. An dieser Stelle geht es nur darum, die Beziehung zwischen Offenbarung und Prophetie bei Al-
32 33 34
Ibidem, S. 170. Miriam Galston, Philosopher-King v. Prophet, op. cit., S. 218. Mushin Mahdi, Prophecy and Revelation, op. cit., S. 171.
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farabi in Bezug auf die politische Funktion des Leiters der Gemeinde als Religionsstifter zu untersuchen. Prophetie und Offenbarung stellen also den Kontakt zwischen menschlichem und göttlichem Intellekt her: Die Prophetie ist die Erwerbung der praktischen Erkenntnis aus der göttlichen Quelle der Offenbarung, sie ist nämlich die Einbildungskraft des menschlichen Intellekts, um die Schlüsse der theoretischen Erkenntnis begreifen zu können. In diesem Sinne stimme ich mit Mahdi überein, wenn er schreibt: „Although Alfarabi is not willing to enter into detail on how revelation and prophecy takes place, he asserts that it is not prophecy, defined as the overflow of the divine mind to the imagination, but revelation, defined as the overflow of the divine mind to reason, which is the vehicle for the achievement of human being’s highest perfection and for the excellence of the city he founds and rules.“35
Der politische Aspekt im Verhältnis zwischen Offenbarung und Prophetie verkörpert sich somit in der Gestalt des Leiters der Gemeinde, den Alfarabi hauptsächlich in fünf hier chronologisch aufgezählten Werken beschreibt: „’Ihsa’ al->ulum, kitab al-milla, kitab tahsil al-sa>ada, al-madina al-fadila, alsiyasa al-madaniya und fusul al-madani“ („The Enumeration of the Sciences, The Book of Religion, The Attainment of Happiness, The Virtuous City, The Political Regime und The Aphorisms of the Statesman“ ).36
2.2 Der Gesetzgeber im Denken von Alfarabi: ’Ihsa’ al->Ulum (The Enumeration of the Sciences) Wenn man die obengenannten Werke flüchtig durchsieht, bemerkt man eine zunehmende Verlagerung vom Alfarabis Perspektive, die sich von der theoretischen Untersuchung des Inhalts und des Verhältnisses zwischen Religion, Politik, Philosophie und Prophetie weg- und zum Handeln und zu den praktischen Qualitäten des Leiters der Gemeinde hinbewegt. Diese reduzierende Dynamik in Alfarabis Argumentation ist auf keinen Fall negativ zu betrachten, denn die Fokussierung auf die Gestalt des Leiters bedeutet nicht, dass das Verhältnis zwischen Religion, Politik, Philosophie und Prophetie verleugnet würde, sondern dass es genau im Wesen und in der wirkenden Funktion dieser Gestalt seine Vollkommenheit, nämlich die Einheit zwischen theoretischem und praktischem Intellekt erwirbt.37 35 36 37
Ibidem, S. 181. Das Werk The Opinions of the Citizens of the Virtuous City zeigt die Gestalt des Leiters nicht so deutlich wie andere Werke Alfarabis, weshalb ich es nicht behandele. Eine andere Interpretation bietet Hans Daiber an: The Ruler as Philosopher: A New Interpretation of Alfarabi’s View, in: Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 49 (4), Amsterdam 1986, S. 133–149, überarbeitete und erweiterte Version eines Vortrages, der in persischer Übersetzung erschien in: Dowwomîn yâdnâma-i ’Allâma
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Eine solche Behauptung mag sonderbar erscheinen, da eines der größten Probleme der Interpreten von Alfarabi gerade die Beziehung zwischen ‚Metaphysik‘ und ‚Politikwissenschaft‘ ist. Wenn man sich vor allem auf al-Madina al-Fadila, al-Siyasa al-Madaniya und ’Ihsa’ al->Ulum (The Virtuous City, The Political Regime und The Enumeration of the Sciences) konzentriert, sieht man, dass diese Werke eine ähnliche Struktur aufweisen; sie bestehen nämlich aus einem ersten Teil, welcher der Aufzählung der göttlichen Attribute sowie allen Abteilungen der Metaphysik gewidmet ist, und aus einem zweiten Teil, in dem Alfarabi die Politikwissenschaft beschreibt. Jedoch zeigt der Philosoph keine logische bzw. argumentative Verbindung zwischen beiden Teilen, so als ob sie bloß nebengeordnet wären. Diese Verbindung wird hingegen in Fusul al-Madani (The Aphorisms of the Statesman) verständlich, in dem Alfarabi die Verknüpfung zwischen Metaphysik und Politikwissenschaft fast pädagogisch erläutert. Meines Erachtens bedeutet das aber nicht, dass Alfarabi (zumindest in Bezug auf diese Thematik) im Laufe seiner philosophischen Entwicklung eine allmählich größere Deutlichkeit in seiner Argumentation erreichte, weil die logische Verbindung zwischen Metaphysik und Politikwissenschaft bereits in seinen früheren Werken erkennbar ist. Aber der entscheidende Punkt ist gerade der folgende: ‚erkennbar‘ für wen? Sicherlich für hochgebildete Leser, welche die Lehre von Platon und Aristoteles einerseits und die theologische Lehre des Qur’an andererseits kannten. Diese Leser benötigten keinen argumentativen Kompass, um die notwendigen Verbindungen zwischen den unterschiedlichen beschriebenen Wissenschaften herzustellen, weshalb sich Alfarabi in diesen Werken auf den Kommentar von Platon und Aristoteles – verbunden mit seiner Interpretation dieser Philosophen in Bezug auf seine Konzeption des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Politikwissenschaft – konzentrierte, ohne das Ergebnis seiner Untersuchung in weitschweifigen Erläuterungen auszuarbeiten. Das Werk Fusul al-Madani (The Aphorisms of the Statesman) ist dann, wie bereits sein Titel verrät, eine Art von Handbuch oder Kompendium der politisch-philosophischen Theorie von Alfarabi für einfache Bürger. Aus diesem Grund schrieb Alfarabi Fusul al-Madani als letztes Werk, nachdem er seine Position in den vorangegangenen Werken bereits ausführlich und sorgfältig dargestellt hatte. Obwohl die genaue Reihenfolge der Niederschrift der Werke von Alfarabi unter den Interpreten umstritten ist, ist sicherlich ’Ihsa’ al->Ulum (The Enumeration of the Sciences) das erste Werk, das sich mit der VerknüpTabâtabâ’î ’Allâma Tabâtabâ’î. The Second Commemoration Volume. The Second Cultural Congress on the Occasion of the Death Anniversary of the Late Allamah Seyyed Muhammad Husayn Tabâtabâ’î (Teheran, 15.–18. 11. 1983), Teheran 1985, S. 353–369. Siehe auch: Hans Daiber, in: George Tames (Hrsg.), The Trias of Maimonides/Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge/Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Belin/New York 2005.
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fung zwischen Metaphysik und Politikwissenschaft beschäftigt.38 Seine Bedeutung liegt darin, dass man hier durch die Untersuchung einer Auswahl gewisser sprachlicher Ausdrücke für die Bestimmung bestimmter Begriffe mit dem kulturellen Horizont von Alfarabi vertraut werden kann. Die philologische Genauigkeit hilft, sich von dem griechischen Sprachgebrauch nicht irreführen zu lassen. Bereits der Titel ist nicht problemlos. Auf Arabisch gibt es genau genommen kein Wort, das dem Substantiv ‚Wissenschaft‘ – ohne weitere Spezifizierungen – entspricht, jeder arabische Begriff bezieht sich bereits auf eine bestimmte Wissenschaft. Im Alfarabis Wortschatz findet man sogar fünf unterschiedliche Ausdrücke für diesen Begriff: 1. ‚Abstrakte Wissenschaft‘: Diejenige Wissenschaft, deren Inhalt nichts Empirisches ist (z.B. die Mathematik). Dieses Wort steht auch für die Philosophie als erste Wissenschaft, aber auch für jedwede Wissenschaft, welche die Ursachen der Wesen beweisen kann. 2. ‚Bestimmte Wissenschaft‘: Die bestimmten Wissenschaften sind diejenigen, deren Gegenstände ein oder mehrere existierende oder vorgestellte Dinge sind. 3. ‚Philosophische Wissenschaft‘: Dieses Wort bezieht sich auf diejenigen Wissenschaften, die ihre Gegenstände durch Syllogismen untersuchen. Manchmal bezieht es sich auch auf das Ziel sowie auf die vollständige Vollkommenheit der theoretischen Wissenschaft, nämlich die Erkenntnis der Wahrheit. 4. ‚Die Wissenschaft der Wissenschaften‘: Das ist das Wort, das Alfarabi für den Erwerb der höchsten Weisheit benutzt. Sie ist die Wissenschaft, die nur dem Menschen gehört, da sie mit dem Willen als Streben zur höchsten Weisheit verbunden ist.
38
Für den arabischen Text habe ich mich auf die Ausgabe von >U©man ’Amin (’Ihsa’ al->Ulum li-al-Farabi, Kairo 1949) bezogen. In späterer Zeit hat Muhsin Mahdi diese Ausgabe in bezug auf die ersten zwei Paragraphen vom Kapitel V korrigiert: Muhsin S. Mahdi, Fi al->ilm alMadani wa >Ilm al-Fiqh wa >Ilm al- Kalam min al-Fasl al-Öamis min Kitab ’Ihsa’ al->Ulum (Zur Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Theologie aus dem fünften Kapitel des Buchs ‚Enumerations of the Sciences‘), in: ders., ’Abu Nasr al- Farabi, Kitab al-Milla wa Nusus ’Uöra (’Abu Nasr al- Farabi, Book of Religion and other texts), Beirut 1968, S. 67ff. Die Revision von Mahdi wurde ausgehend von der zweiten Ausgabe von Angel González Palencia (Iösâ’ al-’Ulum – Catálogo de las ciencias, Madrid 1953), von dem Manuskript Nr. 646 der Bibliothek des Escorial, von einem Manuskript in der Princeton University Library (Sign.: Yahuda 308) und von einem Manuskript in der Köprülü Bibliothek (Sign.: Mehmet 1604) in Istanbul vorgenommen. Dieses letzte Manuskript war Amîn und Palencia noch nicht bekannt. Für die englische Ausgabe habe ich mich auf die Übersetzung von Charles E. Butterworth bezogen: Charles E. Butterworth, Alfarabi. The Political Writings. Selected Aphorisms and Other Texts, Ithaca 2001.
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5. ‚Politische Wissenschaft‘: Diese Wissenschaft bezieht sich auf die Ziele des Handelns (die höchste Glückseligkeit ist das Ziel schlechthin), auf die praktischen und moralischen Unterschiede zwischen den Handlungen, auf die Qualitäten, die der Mensch hat und benutzt, um überhaupt handeln zu können. Die Tatsache, dass Alfarabi im arabischen Originaltitel von ’Ihsa’ al->Ulum das Wort ’Ihsa’ benutzt, bedeutet, dass er sich nicht auf die abstrakten Wissenschaften bezieht, sondern nach der Darstellung aller Aspekte der politischen Wissenschaft strebt, die mit vielen anderen wissenschaftlichen Gegenständen verknüpft ist. Genau genommen entwickelt Alfarabi hier ein Klassifikationssystem, das den beiden zu seiner Zeit existierenden Systemen in keiner Weise gleichkommt. Damals kannte man die aristotelische Klassifikation der philosophischen Wissenschaften, die in theoretische (Mathematik, Physik und Metaphysik) und praktische (Ethik, Politik, Ökonomie) aufgeteilt waren, und die islamische, welche auch die nicht-philosophischen Wissenschaften einschloss, und zwar, wie gerade gesagt, die Sprachwissenschaft (die arabische Sprache als Propädeutik für das Studium der Wissenschaft), die Religionswissenschaften (Qur’an und Sunna) und die sogenannten ‚anzyllarischen‘ Wissenschaften (Jurisprudenz und Theologie). Die philosophischen Wissenschaften galten als ‚Fremdwissenschaften‘, da sie von den Griechen eingeführt und entwickelt wurden, während die anderen ‚einheimisch‘ waren, weil sie als Folge der Offenbarung entstanden. Da die Klassifikation von Alfarabi nicht der Unterscheidung von praktischen und theoretischen Wissenschaften sowie nicht der zwischen traditionellen und religiösen Wissenschaften entspricht und da die ‚gut bekannten‘ (maˇshura) Wissenschaften, die er darstellen möchte, viel umfassender als die philosophischen sind, stehen wir vor einem unicuum in der Geschichte der Philosophie gegenüber: Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Technik (im griechischen Sinne des Wortes) besteht darin, dass die Wissenschaft die logischen Beweise ihrer Grundlagen demonstrieren kann.39 Im Vorwort bzw. in der Einführung benennt Alfarabi seine Absicht, alle ‚gut bekannten‘ Wissenschaften durch ihre Aufteilung in fünf Gruppen zu erklären: 1. die Sprachwissenschaften und ihre Untergliederung; 2. die Wissenschaft der Logik und ihre Unterteilung; 3. die Wissenschaft der Mathematik (darunter versteht man auch Arithmetik, Geometrie, Optik, Astronomie, Musik, Ingenieurwissenschaft); 4. die physische Wissenschaft und ihre Unterteilung sowie die Wissenschaft von Gott und ihre Unterteilung; 5. die Politikwissenschaft mit ihrer Unterteilung einerseits und die Rechtswissen39
Für eine Vertiefung dieser Problematik siehe: Muhsin S. Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, op. cit., S. 65ff.
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schaft sowie die dialektische Theologie andererseits. Sein Werk richtet sich an drei Arten von Lesern: 1. für die Studenten ist jede der genannten Wissenschaften nützlich, damit sie erfahren, womit das Studium beginnen soll, worauf sie achten mögen und welchen Gewinn das Studium verspricht. Die anderen Forscher werden hingegen durch dieses Werk befähigt, die Wissenschaften untereinander zu vergleichen, um zu erfahren, welche für welches Ziel die beste ist. 2. Das Werk wird für diejenigen Menschen nützlich sein, die wissen wollen, ob eine Person, die sich in einer dieser Wissenschaften ausgezeichnet auszukennen glaubt, das auch wirklich behaupten kann. 3. Das Werk ist sowohl für die Wissenschaftler als auch für die Menschen, die sich den Wissenschaftlern annähern wollen, gedacht. Die knappe und manchmal sogar einfache Darstellung (trotz der tiefliegenden Bedeutung) der beiden Teile des Buchs gestattet es uns, einige Schwierigkeiten in Bezug auf die Politikwissenschaft unmittelbar zu bestimmen. Im zweiten Teil, der vor allem der Politikwissenschaft gewidmet ist, spricht Alfarabi kaum über die Rechtswissenschaft (fiqh). Obwohl er im Titel vom Kapitel V und in der Einführung über Rechtswissenschaft und dialektische Theologie (kalam) als Wissenschaften spricht, werden sie am Anfang vom Kapitel V als ‚Künste‘ (sana’i>; es ist eine Qualität des rationalen Teils der Seele, durch den der Mensch Mensch ist) bezeichnet. Darüber hinaus erscheint das Wort ‚Redekunst‘ (öitaba, nämlich der Glaube, dass eine Sache ist oder nicht ist) im ganzen Werk nur in Bezug auf die Rechtswissenschaft und auf die dialektische Theologie. Dem Leser könnten auch die Wiederholungen in Kapitel V störend auffallen: Die erste und die dritte Sektion scheinen bloß eine Wiederholung der Definition von ‚Politikwissenschaft‘ zu sein. Wenn man aber diese Sektionen sehr aufmerksam miteinander vergleicht, kann man nicht mehr von Wiederholungen sprechen. Die erste Sektion beschäftigt sich zwar mit der Politikwissenschaft, aber nicht im Sinne ‚politischer Philosophie‘, da der Begriff ‚politische Philosophie‘ erst in der dritten Sektion vorkommt, in der zum ersten Mal Platon und Aristoteles explizit erwähnt werden.40 Wenn die Politikwissenschaft der ersten Sektion also nicht ‚philosophisch‘ ist, worum geht es dort eigentlich? Und welches ist das Verhältnis zwischen diesen beiden unterschiedlichen Interpretationen der Politikwissenschaft einerseits und der Rechtswissenschaft sowie der dialektischen Theologie andererseits?41 Alfarabi macht keinen expliziten Unterschied zwischen dem Inhalt bzw. dem Ziel dieser Wissenschaften, aber er zeigt, dass fiqh und kalam zusammen mit der Religion entstehen, während die Politikwissenschaft und die politische Philosophie keine Beziehung zur Religion haben. Eine solche Be40 41
Diese Erwähnung findet sich aber nur im Manuskript des Escorial. Siehe auch: Muhsin S. Mahdi, Alfarabi, op. cit., S. 83ff.
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ziehung wird von Alfarabi als unerwünscht beschrieben, da, wie Charles Butterworth deutlich unterstreicht, „[A] regime ruled by adherents to jurisprudence (fiqh) and dialectical theology (kalâm) […] is limiting, even threatening, with respect to independent inquiry. Consequently, we must wonder how Alfarabi can provide for a political science that is capable of competing with the appeal of jurisprudence and dialectical theology and yet keeps open the possibility of inquiry. […] [H]e seeks to show here the problems that political science and political philosophy have to face now that revealed religion has appeared. An indication of how they can meet that challenge occurs only in the Book of Religion.“42
In der ersten Sektion von Kapitel V findet man zum ersten Mal in einem Werk von Alfarabi sowohl die Definition von Politikwissenschaft als auch diejenige von ‚rulership‘ (wobei das noch nicht die Definition des Leiters ist). Die Politikwissenschaft untersucht alle möglichen Handlungen und Lebensarten, oder besser: alle Charakterzüge, Dispositionen, moralischen Gewohnheiten und Neigungen, die zu diesen Handlungen und Lebensstilen führen. Die Politikwissenschaft unterscheidet auch zwischen den Zielen des Handelns und den zugunsten dieser Ziele verwirklichten Lebensstilen und gibt an, durch welches Handeln und welche Tugenden es möglich ist, die höchste Glückseligkeit zu erwerben. Von vornherein zeigt sich Alfarabi als ein treuer Schüler von Aristoteles, da er davon überzeugt ist, dass es nicht möglich ist, dieses höchste Ziel zu erreichen, wenn man nicht in einer geregelten Gemeinschaft lebt: „Sie [die Politikwissenschaft] erklärt, dass dasjenige wodurch wahrhafte Glückseligkeit erlangt wird, das Gute, edle Handlungen und Tugenden sind; dass der Rest Übles, niedere Dinge und Unvollkommenheiten sind; dass die Art und Weise in der sie in einem menschlichen Wesen zur Existenz kommen, die Verbreitung von tugendhaften Handlungen und Lebensformen in den Städten und Nationen in einer geregelten Art und bei gemeinsamer Ausübung sind.“43
Niemand kann allein die höchste Glückseligkeit erreichen, da das tugendhafte Handeln Konsequenz des Lebens in einer Stadt bzw. Nation mit einer geregelten Ordnung ist. Das impliziert somit, dass eine Stadt bzw. eine Nation eine sorgfältig bestimmte Leitung benötigt, um imstande zu sein, ihre Bürger zu diesem höchsten Ziel zu führen. Nach der Definition von Alfarabi ist diese Leitung „die königliche Kunstfertigkeit oder königliche Herrschaft oder wie es ein Mensch auch immer nennen will; und die Politik liegt in dieser Kunstfertigkeit [auf Arabisch: wa al-siyasa hiya fi’l haüihi alminha].“44 Glückseligkeit, Leitungsfähigkeit und Stadt sind unabdingbar
42 43 44
Charles E. Butterworth (Hrsg.), The Political Writings of Alfarabi, op. cit., S. 74f. Ibidem, S. 76 f (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 77 (Übersetzung von F. Y. A.).
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miteinander verbunden, vor allem wenn man darauf achtet, dass das Wort ‚siyasa‘ nicht nur ‚Regime‘, sondern auch ‚Politik‘, in allen ihren möglichen Nuancierungen, bedeutet. Da sich Alfarabi in diesem Werk mit den Wissenschaften und nicht mit den Menschen beschäftigt, die diese Wissenschaften ausüben, spricht er hier nicht vom ‚Leiter‘, sondern von ‚Leitungsfähigkeit‘, die der ‚Königschaft‘ gleicht. Eigentlich wird sie nicht als ‚Wissenschaft‘, sondern als ‚Fähigkeit‘ bestimmt, die zwei Fähigkeiten benötigt, um tugendhaft zu sein: das Begreifen der universellen Prinzipien und die Anwendung dieser Prinzipien in einzelnen Fällen durch die Erfahrungskompetenz (hunka), oder anders gesagt: theoretischen und praktischen Intellekt (Alfarabi benutzt aber in dieser Sektion nicht das Wort ‚Intellekt‘). Die ‚Königschaft‘ wird ebenso wie etwa die Medizin praktiziert, weil sie wie die Medizin auch die Erkenntnis der allgemeinen Prinzipien und die Erkenntnis der Erfahrung von einzelnen Fällen verlangt; ‚Königschaft‘ wird von König zu König weitergegeben, bis zum Punkt, dass „diejenigen, deren Herrschaft unkundig ist, überhaupt nicht Könige genannt werden sollten […].“45 Die Politikwissenschaft führt zur tugendhaften ‚Königsschaft‘, weil diese Wissenschaft beide Aspekte, den theoretischen und den praktischen, zusammenführt, während die politische Philosophie nach Alfarabi nur die Erkenntnis der universellen Prinzipien erreichen kann. Die Untersuchung der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie endet bei Alfarabi mit einer viel längeren Sektion über die Rechtswissenschaft und die dialektische Theologie. Dieses Ungleichgewicht kann dadurch erklärt werden, dass Alfarabi vor der Gefahr einer Regierung warnen wollte, die nur durch die Rechtswissenschaft bzw. nur durch die dialektische Theologie geleitet wird, eine Gefahr, die im Baghdad jener Zeit, wo das Werk geschrieben wurde, sehr groß war. Auch aus diesem Grund weigert er sich, das Wort ‚Wissenschaft‘ in Bezug auf die Jurisprudenz und auf die dialektische Theologie anzuwenden das Wort ‚Meinung‘ wird als Inhalt beider ‚Künste‘ nur in dieser Sektion gebraucht. Es ist hier nicht nötig, an die pejorative Bedeutung des Begriffs ‚Meinung‘ bereits in der Antike () zu erinnern. Nach Alfarabi ist die ‚Kunst der Rechtssprechung‘ diejenige, durch die der Mensch ausgehend von den von einem Juristen festgestellten Gegenständen (al-’aˇsya’) auf die Gegenstände schließen kann, die der Jurist nicht bestimmte. Durch die Jurisprudenz ist der Mensch fähig, den Willen des Juristen zu überprüfen und Nachweise für dessen Interpretation zu erbringen. Aus diesem Grund basiert die Jurisprudenz auf Meinungen und Handlungen.
45
Ibidem, S. 80.
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Aus Meinungen und Handlungen besteht auch die dialektische Theologie, weil der Mensch durch diese „Kunst“ die Meinungen und die Handlungen des Religionsstifters verteidigt sowie Meinungen und Handlungen, die denen des Religionsstifters widersprechen. Der Jurist leitet aus den Meinungen und Handlungen des Religionsstifters (die als „Grundsätze“46 gelten) andere Prinzipien ab, während der dialektische Theologe aus diesen anderen Prinzipien des Juristen nichts schlussfolgert. Obgleich sich Jurisprudenz und dialektische Theologie beide mit Meinungen und Handlungen beschäftigen, sind sie sehr unterschiedlich, wobei der menschliche Intellekt nicht imstande ist, die ‚Grundsätze‘ der Religion zu begreifen. Nur durch die Offenbarung (wahy), die in der dritten Sektion als Synonym von Prophetie (nubuwa) erwähnt wird, kann die Religion den Menschen ihre ‚Grundsätze‘ zeigen, so dass sein Intellekt ‚göttlich‘ wird. Alfarabi schreibt diesbezüglich: „Aus diesen Gründen waren diese [dialektischen Theologen] der Meinung, dass Religionen als gültig niedergeschrieben werden. Tatsächlich, er, der uns Offenbarung von Gott brachte, möge er erhoben sein, ist wahrhaftig; es ist nicht zulässig, dass er irgend gelogen habe. Dass er so war, kann in zweierlei Art und Weise bestätigt werden: entweder durch die Wunder, die er vollbringt [ya>maluha] oder die durch seine Hände zum Vorschein kommen, oder durch die Aussagen jener Wahrheitsliebenden, die ihm vorausgingen, deren Aussagen über seine Wahrhaftigkeit und sein Ansehen hinsichtlich Gott, möge er erhoben und verehrt werden, akzeptiert sind, oder durch beides zusammen.“47
In diesem Abschnitt drückt Alfarabi sein ganzes Misstrauen gegen die dialektische Theologie aus, nämlich gegen eine ‚Kunst‘, welche die Wissenschaft des Beweises und des Nachweises ablehnt und welche sogar „Falschheit, Betrug, Verleumdung oder Missachtung“48 benutzt, um die für richtig gehaltenen Meinungen zu verteidigen. Trotzdem bleibt die Jurisprudenz unter dem Joch der dialektischen Theologie, weshalb weder die erste noch die zweite zur tugendhaften ‚Königschaft‘, nämlich zum Besitz und zur Anwendung der theoretischen und praktischen Philosophie im Sinne der Entstehung der richtigen Gesetzgebung49, führen kann. Ausgehend von dieser Stellungnahme, wäre es selbstverständlich möglich, Alfarabi als ‚Feind der Religion‘ zu bezeichnen: So wie Platon und Aristoteles keine Religion benötigten, um die Vollkommenheit des Ziels ihrer politischen Theorien zu denken, spielen auch die Offenbarungsreligionen im Rahmen der Politikwissenschaft bei Alfarabi keine Rolle. Ganz im Gegenteil werden sie als Nachteil der Politikwissenschaft betrachtet. 46 47 48 49
Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 82 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 83 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 80.
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Auch in diesem Fall muss man genau auf die Terminologie achten. Alfarabi ist und bleibt ein gläubiger Muslim, auch in seinen politischen Schriften, weshalb seine Kritik in ’Ihsa’ al->Ulum (The Enumeration of the Sciences) nicht gegen die Religion gerichtet ist, sondern gegen die Instrumentalisierung der Religion von seiten der dialektischen Theologie (kalam). In Kitab al-milla (The Book of Religion) zeigt Alfarabi, dass es möglich ist, Religion und Politikwissenschaft harmonisch zusammenzuführen. Muhsin S. Mahdi schreibt diesbezüglich: „Political science now [nach dem Werk The Classification of the Sciences] coexists with jurisprudence and theology: this is a massive historical fact that it cannot ignore. The first account of political science, which is strictly practical, cannot coexist with jurisprudence and theology without being subordinated to or absorbed by them. Their subject matter is wider. It includes opinions about practical things and actions (e.g., prayers) that are related to theoretical things. This practical political science, on the other hand, deals with a special kind of order on the division of actions. The only way this practical political science can preserve its independence and superior claim over its companions is to show that all these so-called theoretical opinions and all these actions that are related to so-called theoretical opinions are in fact practical. But then this practical political science will have to do two things. First, it has to prove this claim […]. Second, it must develop a new branch or part of political science to deal with these theoretical opinions and with theoretically oriented actions. […] Alfarabi will do this in the Book of Religion, which is the counterpart of chapter 5 of the Enumerations of the Sciences.“50
2.3 Der Gesetzgeber in Kitab al-milla (The Book of Religion)51 Der Zweck meiner Untersuchung in diesen Abschnitten meiner Arbeit ist es, wie gesagt, eine Vorstellung des Gesetzgebers (auf Arabisch: wadi> u-l-nawamis) im Gesamtwerk von Alfarabi zu vermitteln, eine Vorstellung, die von der Forschung noch nicht systematisch ausgearbeitet worden ist und die in der Sekundärliteratur nur in Bezug auf den Moreh ha-Nevukhim von Maimonides zu finden ist. Mein Ziel ist es, die Entwicklung dieser Gestalt im Denken von Alfarabi zu untersuchen, um zu zeigen, wie dieselbe Entwicklung und dieselben Themen in Bezug auf den König und im besonderen auf den König-Messias im letzten Buch der Mishneh Torah zu erkennen sind. 50 51
Muhsin S. Mahdi, Alfarabi, op. cit., S. 96. Für den arabischen Text habe ich mich auf die Ausgabe von Muhsin S. Mahdi (’Abu Nasr al-Farabi. Kitab al-Milla wa Nusus ’Uöra, Beirut 1968) und für die englische Übersetzung auf die Arbeit von Charles E. Butterworth (Alfarabi. The Political Writings, op. cit., S. 87ff) bezogen. Für die Ausgabe des arabischen Textes hat Muhsin S. Mahdi das Manuskript der Bibliothek der Universität Leiden (Sign.: Cod. Or. 1002) und die Zusammenfassung aus dem Manuskript Aölaq 290 der Taymuriyya Collection an der ägyptischen Nationalbibliothek in Kairo benutzt.
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Aus diesem Grund sehe ich – soweit es möglich ist – von den vielschichtigen politisch-religiösen Themen in den behandelnden Werken von Alfarabi ab und konzentriere mich stattdessen ausschließlich auf die Gestalt des Königs. Im Kitab al-milla (The Book of Religion) ist diese Gestalt mit einem politisch-religiösen Problem verknüpft, das Alfarabi bereits im Werk ’Ihsa’ al->ulum (The Enumeration of the Sciences) benannte: Im Gegensatz zur Welt der Antike verwirklicht der König sein Handeln in einer Welt, die stark von der Offenbarung und von ihrer Aufforderung zur Erkenntnis aller menschlichen Angelegenheiten beeinflusst wird. Obwohl das Hauptproblem des Kitab al-milla (The Book of Religion) die Substitution einer aus theoretischer und praktischer Philosophie stammenden politischen Theologie durch eine Theologie als Religionswissenschaft ist52, ist der Kern dieses Werks nicht das Verhältnis von Philosophie und Religion, sondern vielmehr die Untersuchung der Folgen dieses Verhältnisses im politischen Leben. Das Werk beginnt zwar mit dem Wort al-milla (Religion) und schließt mit der Betonung der Notwendigkeit der Religion für die Realisierung der politischen Zwecke der Gemeinde, aber der überwiegende Teil des Werks beschäftigt sich mit der Politikwissenschaft im konkreten Leben einer Gemeinde. Die Hauptlehre dieses Werks sagt uns, dass die tugendhafte Religion die politische Gemeinde prägt und der theoretischen wie der praktischen Philosophie untergeordnet ist, weshalb die Religion von vornherein nicht als Religion (din) oder Glauben (’iman), sondern als Leitungskraft (ri’asa) beschrieben wird. Von vornherein wird auch der Religionsstifter als erster bzw. höchster Leiter (ra’is ’awwal) vorgestellt, der hier im Gegensatz zum Werk ’Ihsa’ al->ulum (The Enumeration of the Sciences), keine Beziehung zur Prophetie hat. Im Kitab al-milla (The Book of Religion) arbeitet Alfarabi die folgenden Themen systematisch aus: 1. den Inhalt der Religion; 2. die Gestalt des Religionsstifters bzw. des höchsten Leiters; 3. die Gemeinschaft; 4. den Zweck des Religionsstifters bzw. des höchsten Leiters. In Bezug auf den ersten Punkt stellt Alfarabi die Religion so dar, als ob sie in ihrem Charakter hauptsächlich politisch wäre. Alfarabi erklärt nicht nur welche Meinung über sie in den traditionellen Traktaten gelehrt wird, welches Handeln die Religion durch die Jurisprudenz und die Theologie vermittelt, wie die religiösen Leiter ausgewählt werden, mithin die üblichen Informationen, die für die Gläubigen notwendig sind, um andere Menschen im eigenen Glauben zu unterrichten und die Gegner zu identifizieren. Alfarabi analysiert das Verhältnis der Religion zur Philosophie und zur Politik52
Für eine vollständige Untersuchung dieser Thematik siehe: Muhsin S. Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, op. cit., S. 96ff.
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wissenschaft, so dass die Gläubigen aufgefordert werden, „zugespitztere Fragen über Offenbarung zu stellen und zu untersuchen, wie die Menschen, die behaupten eine Offenbarung erhalten zu haben, die von ihnen regierten Gemeinwesen organisieren“.53 Die Religion deckt ein viel breiteres Spektrum ab als die Tradition, da ihre Verbindung zur Politikwissenschaft impliziert, dass ihr Handeln und die von ihr vertretenen Meinungen eine theoretische wie auch eine praktische Dimension haben, deren universelle Vorbedingungen nur die Philosophie, die ihrerseits in theoretische und praktische Philosophie unterteilt ist, verstehen kann. Aus diesem Grund ist die Religion der Philosophie untergeordnet. Die theoretische und die praktische Philosophie werden von Alfarabi durchaus ins Spiel gebracht, und zwar, um die Meinungen und das Handeln erschließen zu können, welche die ranghöchste politische Leitungsfunktion im Sinne des zentralen Inhalts der offenbarten Religion verwirklicht. Die Akzentuierung der Argumentation hin zur Politikwissenschaft führt somit zum Verhältnis zwischen der Kunst und Fertigkeit des Königs und Offenbarung, das im Zentrum meines Interesses liegt. Dieses Verhältnis wird am Anfang des Traktats sogleich klargestellt: „Wenn der erste Herrscher tugendhaft und seine Herrschaft wahrhaft tugendhaft ist, dann strebt er in all seinen Vorschriften nur danach, für sich selbst und für jeden unter seiner Herrschaft, die höchste Glückseligkeit, welche die wahre Glückseligkeit ist, zu erlangen; und danach, dass die Religion eine tugendhafte Religion sei.“54
Im Vergleich zu ’Ihsa’ al->ulum (The Enumeration of the Sciences) wird hier die Gestalt des Menschen herausgestellt, der die königliche Kunst hat und der das Wesen seines Zwecks bestimmt: Wenn er ignorant ist, strebt er nur nach materiellem Wohlstand für sich selbst, ist er aber tugendhaft (das wird hier mit weise gleichgesetzt), strebt er nach der höchsten Glückseligkeit für die ganze Gemeinde. Dank solcher Weisheit ist der höchste Leiter imstande, den Inhalt der göttlichen Offenbarung zu begreifen und zu verwirklichen, er zielt nämlich auf einen Zweck ab, der nicht seinem Willen entstammt, den er aber als das höchste Ziel des politischen Handelns anerkennt. Dieses politische Ziel hat zugleich einen religiösen Charakter, da der höchste Leiter durch sein Handeln nicht nur nach dem Wohlergehen der Gemeinde in dieser Welt, sondern auch nach dem Jenseits strebt. Das politische Handeln hat somit wie die Religion sowohl einen praktischen als auch einen theoretischen Charakter: Beide Aspekte ordnen die Politikwissenschaft (wie schon die Religion) der Philosophie unter. Alfarabi behauptet diesbezüglich:
53 54
Charles E. Butterworth, Alfarabi, op. cit., S. 90. Kitab al-milla (The Book of Religion), S. 93 (Übersetzung von F. Y. A.).
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„Wenn etwas zu wissen bedeutet, demonstrativ zu wissen, […] dann ist es die Philosophie, die demonstrative Beweise dafür liefert, was tugendhafte Religion beinhaltet. Deshalb ist die königliche Kunstfertigkeit, die für das, worin tugendhafte Religion besteht, verantwortlich ist, der Philosophie untergeordnet.“55
So wie in der Politeia von Platon werden unterschiedliche Regierungsformen in Entsprechung zum Charakter des höchsten Leiters beschrieben: der tugendhafte Leiter strebt nach der höchsten Glückseligkeit, während der ignorante Leiter für sich bzw. für sich und die Gemeinde nur nach den niedrigsten materiellen Gütern strebt. Nach Platon ist die Regierung dieser Leiter – zum Lebenserhalt – unersetzlich: kleinkariert (Gesundheit); elementar (Vergnügen); timokratisch (Ehre); despotisch (Sieg) oder demokratisch (Freiheit und Gleichberechtigung). Da Alfarabi diese letzte Regierungsform im Kitab al-milla (The Book of Religion) nicht beschreibt, wurde daraus geschlossen, dass er nicht daran glaubte, dass ein ignoranter Leiter Freiheit und Gleichberechtigung bewirken könne. Man kann in allen beschriebenen Fällen von einer königlichen Kunst sprechen, aber die einzige echte königliche Kunst ist diejenige, die praktische und theoretische Philosophie zugleich mit der Offenbarung verbindet. Die Möglichkeit, das Handeln des Leiters durch die rationalen Mittel der Philosophie zu überprüfen, erlaubt den Nachfolgern, nach derselben Weisheit wie ihre Vorgänger zu handeln, um die vom ihnen begonnene Arbeit zu vervollständigen und zu beenden. Aber wenn der Nachfolger nicht dieselbe Weisheit besitzt, darf er nur fortsetzen, womit der Vorgänger anfing: Statt durch die Politikwissenschaft wird der Nachfolger die Gemeinde nur durch die Instrumente der Jurisprudenz (besondere Gesetze verabschieden, Gerichtsurteile aussprechen usw.) leiten. Der Nachfolger wird also mehr ein Jurist als ein politisch-philosophischer Leiter sein, obwohl auch die Jurisprudenz der Philosophie untergeordnet ist, da (wie schon im Werk ’Ihsa’ al>ulum [The Enumeration of the Sciences] gezeigt) die Jurisprudenz sowohl eine theoretische als auch eine praktische Dimension enthält. Der grösste Unterschied zwischen Jurisprudenz und Politikwissenschaft liegt darin, dass nur die letztere durch ihre Verbindung zur Offenbarung die höchste Glückseligkeit kennt, deren Verwirklichung der Hauptzweck des tugendhaften Leiters ist. Das bedeutet aber, dass der echte höchste und erste Leiter Gott, und nur Gott, ist: Der menschliche Leiter kann die Gemeinde nur in dieser Welt durch die Erkenntnis der Offenbarung zur höchsten Glückseligkeit, nämlich durch die höchste Weisheit, führen, aber die echte Glückseligkeit ist die des Jenseits.56 Muhsin S. Mahdi schreibt hierzu:
55 56
Ibidem, S. 98 (Übersetzung von F. Y. A.). Siehe im bes. die Sektion 11 (S. 101) des Kitab al-milla (The Book of Religion),.
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„[…] Platonic political science, which debunks practical judgment and insists on the necessity of theoretical and practical philosophy informing practice, is supported by the idea of revelation in which the ultimate source of political life (of the opinions and actions in the city) is not the human being who truly knows – the philosopher-prophet – but the revealer.“57
Die echte königliche Kunst ist also politisch, und Alfarabi widmet die Sektionen 13–18 dem Verhältnis zwischen echter königlicher Kunst und Gemeinde. Dank der Verbindung zwischen Politikwissenschaft, Philosophie und Religion weiß der König nicht nur, was die höchste Glückseligkeit ist, sondern auch, wie es möglich ist, sie in der geschichtlich wirkenden Gemeinschaft zu realisieren. Als Schüler von Aristoteles ist Alfarabi davon überzeugt, dass alle möglichen ethischen Charakterzüge und praktischen Fähigkeiten, die zur Glückseligkeit führen, nicht bei einem Einzelnen zu finden sind, sondern nur in einer Gemeinschaft, nämlich in einem freiwilligen Zusammenleben mehrerer Menschen. Die Aufteilung der praktischen und theoretischen Fähigkeiten, die durch die Führung des Königs in ein und demselben Organismus organisiert werden, macht das Leben blühend und bereitet auf die ultimative Glückseligkeit im Jenseits vor. Hinsichtlich dieser Führung schreibt Alfarabi: „Diese Kunstfertigkeit ist die Kunstfertigkeit des Königs oder die königliche Kunstfertigkeit oder wie auch immer ein Mensch es anstelle von ‚königlich‘ nennen möchte. Und die Herrschaft ist das Ergebnis dieser Kunstfertigkeit. […] Diejenige Herrschaft, die in einer Stadt oder Nation für die Menschen Lebensweisen und Wesensarten begründet und bewahrt, durch die höchste Glückseligkeit erlangt wird, ist eine tugendhafte Herrschaft. Die königliche Kunstfertigkeit, die durch diese Herrschaft herbeigeführt wird, ist die tugendhafte königliche Kunstfertigkeit. Die Stadt oder Nation, die dieser Herrschaft unterliegen, sind die tugendhafte Stadt und die tugendhafte Nation. Der Mensch, der Teil dieser Stadt oder Nation ist, ist der tugendhafte Mensch.“58
Außerhalb der Gemeinschaft, die Alfarabi nach der Lehre Platons als Stadt bzw. Nation bezeichnet, entsteht keine Möglichkeit für den Einzelnen, tugendhaft zu sein, der Mensch kann nämlich nicht außerhalb der Gemeinschaft zur höchsten Glückseligkeit in dieser Welt und im Jenseits gelangen. Die theoretische Weisheit des Königs, die durch die Offenbarung erworben wird, muss sich unmittelbar in praktische Führung der Gemeinschaft umwandeln, genauso wie die theoretische Kenntnis des Arztes nicht vollkommen ist, solange sie nicht konkret angewandt wird. Alfarabi schreibt: 57 58
Muhsin S. Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, op. cit., S. 105. Kitab al-milla (The Book of Religion), S. 98 (Übersetzung von F. Y. A.).
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„Erstens umfasst die [königliche Kunstfertigkeit] universelle Dinge. Indem er die hierfür spezifischen Handlungen ausführt, kann sich der Herrscher nicht damit zufrieden geben, umfassende Erkenntnis der universellen Dinge oder die Fähigkeit ihrer Erfassung zu haben, bis er auch eine andere, durch lange Erfahrung und Beobachtung erlangte Fähigkeit hat, die es ihm ermöglicht, Handlungen bezüglich ihres Umfanges, ihrer Güte, Zeit und dem Rest dessen, wodurch Handlungen bestimmt und geregelt werden, zu beurteilen – entweder hinsichtlich jeder Stadt, Nation oder Person oder hinsichtlich eines auftretenden Ereignisses oder etwas zu bestimmten Zeiten Geschehendem. Denn die Handlungen der königlichen Kunstfertigkeit beschäftigen sich nur mit bestimmten Städten: ich meine, diese oder jene Stadt, diese oder jene Nation oder dieser oder jener Mensch.“59
Diese ‚Hermeneutik ante litteram‘, die aus der Kombination von platonischer und aristotelischer politischer Lehre besteht, wird von Alfarabi durch den arabischen Begriff ta>aqqul ausgedrückt, der dem griechischen « (phronesis, Besonnenheit) entspricht. Nach der Lehre von Aristoteles entsteht die Besonnenheit nicht aus der Erkenntnis der Universalien, sondern aus der Erfahrung zahlreicher einzelner Fälle, durch welche die Universalien ihre Konkretisierung gewinnen (jedes gerechte Urteil ist eine Realisierung der Gerechtigkeit usw.). Nur dadurch qualifiziert sich der König wie der Arzt für seine führende Funktion innerhalb der Gemeinschaft. Aus diesem Grund reicht die Offenbarung nicht aus, um von einer echten königlichen Kunst sprechen zu können, der Leiter muss nämlich auch die ganze Philosophie, mithin die praktische und die theoretische Philosophie, kennen. Der Philosophie sind somit Religion und Politikwissenschaft untergeordnet, ohne dass aber diese Bereiche für die Realisierung der echten königlichen Kunst voneinander unabhängig existieren könnten. Diese Totalität der Erkenntnis seitens des Königs erklärt auch, aus welchem Grund sich die letzten Abschnitte des Kitab al-milla (The Book of Religion) mit der Beschreibung des Universums nach dem absteigenden neuplatonischen Schema vom Kosmos bis zur menschlichen Seele beschäftigen. So wie Gott der erste Leiter des Universums ist, ist auch der König der Leiter der Stadt bzw. der Nation: Er muss die Ordnung ihrer Elemente kennen, damit jedes Element gemäß seiner spezifischen Funktion geleitet werden kann. Mit anderen Worten: Durch seine vollständige Erkenntnis imitiert der König die leitende Funktion Gottes im Universum. Alfarabis Beschreibung des Universums, der Seele, des Körpers und der Stadt am Schluss des Kitab al-milla (The Book of Religion) ist zwar ein Widerhall der griechischen Lehre, die das politische System auf Kosmologie, Psychologie und Physiologie aufteilte, aber bei Alfarabi ist diese Aufteilung Teil der praktischen Politikwissenschaft statt der theoretischen Physik bzw. der Metaphysik. Die Stadt muss in Analogie zum Universum eingerichtet und geleitet werden: Das Universum – nämlich die universellen Begriffe, 59
Ibidem, S. 105f (Übersetzung von F. Y. A.).
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durch welche die Stadt zu organisieren ist – werden von der Politikwissenschaft und somit von ihrem Verhältnis zur Religion unter dem Joch der Philosophie bestimmt. Eine solche Erweiterung des Bereichs der Politikwissenschaft geht über die politische Kosmologie und Theologie von Aristoteles hinaus und hat kein Vorbild vor Alfarabi. Muhsin S. Mahdi schreibt diesbezüglich: „The result is that what Alfarabi calls the universals or general rules of this new political science include not only actions but opinions as well: political science itself contains the rules for the practical and theoretical things that the royal craft must know in order to found the excellent city.“60
Diese unerhörte Erweiterung betrifft nicht nur die Politikwissenschaft als solche, sondern auch und vor allem die Gestalt des Königs, welcher von Alfarabi auf dasselbe Niveau wie Gott gestellt zu werden scheint.61 Durch die Verbindung zwischen Politikwissenschaft, Philosophie und Offenbarung wird die Vorrangigkeit Gottes selbstverständlich beibehalten und garantiert, doch wird die Ähnlichkeit zwischen der leitenden Funktion Gottes im Universum und der leitenden Funktion des Königs in der Gemeinschaft am Schluss des Kitab al-milla (The Book of Religion) deutlich herausgestellt: „ … Indem Gott, möge er erhöht sein, auch der Herrscher der tugendhaften Stadt ist, genauso wie Er der Herrscher der Welt ist, und indem Seine, möge er erhöht sein, Herrschaft der Welt in einer Art und Weise stattfindet, während Seine Herrschaft der tugendhaften Stadt in einer anderen Weise stattfindet; jedoch gibt es eine Beziehung zwischen den zwei Arten des Regierens und es gibt eine Beziehung zwischen den Bestandteilen der Welt und den Bestandteilen der tugendhaften Stadt oder Nation. […]
Im Allgemeinen muss er [der König] Gott folgen und die Wege des Herrschers der Welt hinsichtlich Seiner Vorsehung für die [verschiedenen] Arten von Wesen und Seine Regelung ihrer Angelegenheiten einschlagen: die natürlichen Anlagen, die Beschaffenheit und die Eigenschaften, die Er in ihnen angelegt hat, so dass die naturgemäß guten Dinge in jedem Bereich auf ihrem Niveau ebenso wie in der Gesamtheit der Wesen vollständig verwirklicht werden […], damit die Vereinigungen von Städten und Nationen dadurch Glückseligkeit in diesem und im kommenden Leben erlangen.“62 Der König schlechthin ist und bleibt selbstverständlich Gott, welchen der menschliche König einer bestimmten Stadt bzw. einer bestimmten Nation nur nachahmen kann. Dabei bedarf diese Imitation des engen Verhält60 61
62
Muhsin S. Mahdi, Alfarabi and the Foundation of Islamic Political Philosophy, op. cit., S. 122. Diese Gleichstellung wird, obwohl sie nur den Mikrokosmos einer bestimmten Stadt und nicht das ganze Universum betrifft, von Alfarabi in Sektion 23 (S. 111) deutlich ausgedrückt. Trotzdem ist diese Formulierung missverständlich; gemeint ist die Analogie des Herrscherverhältnisses Gott-Universum zu König-Gemeinschaft. Kitab al-milla (The Book of Religion), S. 101 (Übersetzung von F. Y. A.).
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nisses zwischen Politikwissenschaft, Philosophie und Religion, nämlich der Totalität der Weisheit seitens des Königs, damit die Gemeinschaft zur höchsten Glückseligkeit in diesem Leben und im Jenseits gelangen kann. Wie sich die Gestalt des menschlichen Königs in Bezug auf die Glückseligkeit in der Philosophie Alfarabis entwickelt, zeigt die Ausarbeitung dieses Themas in Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness).
2.4 Der Gesetzgeber und die Glückseligkeit in Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) Im vorangegangenen Kapitel habe ich die Einflüsse von Aristoteles’ und Alfarabis Konzeption der Glückseligkeit auf das Sefer ha-Madda> untersucht und angedeutet, dass diese Einflüsse auch im letzten Buch der Mishneh Torah in Bezug auf das Handeln des Gesetzgebers deutlich werden. Jetzt gilt es, noch präziser zu werden und ausführlich zu zeigen, wie das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Glückseligkeit von Alfarabi in Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness)63 ausgearbeitet wurde; so sollen Differenzen und Ähnlichkeiten mit dem letzten Buch der Mishneh Torah herausgestellt werden. In der mittelalterlichen islamischen Philosophie sowie bei Aristoteles ist die Glückseligkeit mit der Konzeption der praktischen Philosophie verbunden, weshalb sie nicht begriffen werden kann, wenn man sich nicht auf die Bedeutung der praktischen Philosophie konzentriert. Aus dem ganzen Werk von Alfarabi kann man hauptsächlich zwei Definitionen der praktischen Philosophie herauslesen: Einerseits ist sie eine Form von Erkenntnis, die im Handeln als Konsequenz des menschlichen Willens kulminiert, und andererseits ist sie ein Nachdenken über kontingent Seiendes sowie über Ereignisse. Wenn aber Alfarabi die praktische Philosophie explizit definiert, verbindet er sie weder mit der Erkenntnistheorie noch mit dem spekulativen Denken, sondern mit der Politikwissenschaft. In der Tat liest man im Buch der Dialektik: „Die praktische Philosophie ist nicht das, was all das untersucht, das auf jede Weise und unter jeder Bedingung unter menschliche Kontrolle fällt. Alles in allem untersucht auch die Mathematik viele Phänomene, die Ergebnis des vom freien Willen abhängigen Handelns sind – zum Beispiel die Musikwissenschaft, die Wissenschaft der militärischen Strategie sowie viele Gegenstände der Geometrie, der Arithmetik und der Optik. [In derselben Art und Weise] untersucht die Naturwissenschaft viele Phänomene, die dem Willen entstammen. Jedoch ist keine dieser Wissenschaften ein Teil der Politikwissenschaft. Sie sind vielmehr Teile der theoretischen Philosophie, da in diesen Gegenständen nicht untersucht wird, was 63
Es handelt sich um den ersten Teil von Alfarabis Werk: Philosophy of Plato and Aristotle, eingeleitet und übersetzt von Muhsin S. Mahdi, Ithaca 2001, S. 13–50.
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grundsätzlich ist, genauso wie nicht untersucht wird, was den Menschen glücklich bzw. unglücklich macht, wenn er diese Handlungen vollführt. Aber wenn diese Gegenstände aus der Perspektive der menschlichen Glückseligkeit untersucht werden, die aus diesen Handlungen resultiert, gehören sie zur praktischen Philosophie.“64
Wählen und Wille sind Prinzipien sowohl der praktischen als auch der theoretischen Philosophie, aber im Fall der praktischen Philosophie werden sie zwei weiteren Prinzipien untergeordnet: der Glückseligkeit und der Not. Nach Alfarabi ist das letztendliche Ziel der praktischen Philosophie nicht nur, das Gute zu vollbringen, gut zu werden oder auch Handlungen zu vollbringen, die zur Glückseligkeit führen. Vielmehr ist das letztendliche Ziel, ‚glücklich zu sein‘; das ist das Ergebnis eines bestimmten praktischen Handelns. Trotz dieser deutlichen Stellungnahme hinsichtlich des Ziels der praktischen Philosophie ist es nicht möglich, mit eindeutiger Sicherheit zu bestimmen, was nach Alfarabi die Natur der Glückseligkeit ist. Aufgrund der Analyse des gesamten politischen Werks von Alfarabi hat Miriam Glaston65 drei Konzeptionen der Glückseligkeit herausgearbeitet, was erklären könnte, warum die Gelehrten66 zu unterschiedlichen Position gelangten: 1. Glückseligkeit als rein theoretische Aktivität (diese Position wird vor allem in al-Madina al-Fadila, Risala fi al->aql, al-Siyasa al-Madaniya und in Fusul Muntaza>a vertreten); 2. Glückseligkeit als reine praktische Tätigkeit (in Werk Kitab al-Milla); 3. Glückseligkeit als Kombination von theoretischer und praktischer Aktivität (vor allem in Tahsil al-sa>ada; diese Position kommt am häufigsten in allen Schriften von Alfarabi vor). Selbstverständlich impliziert jede Bestimmung der Glückseligkeit auch eine 64
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Rafiq al-’Apam (Hrsg.), Kitab al-Padal, in: ders., al-Mantiq >inda al-Farabi, Bd. 3, Beirut 1986, 69:10–18 (Übersetzung von F. Y. A.). Für eine Untersuchung dieser Problematik bei Alfarabi siehe u.a: Miriam Glaston, The Theoretical and Practical Dimensions of Happiness as Portrayed in the Political Treatises of al-Fârâbî, in: Charles E. Butterworth (Hrsg.), The Political Aspects of Islamic Philosophy. Essays in Honor of Muhsin S. Mahdi, Cambridge (Mass.) 1992, S. 95–151; Erwin I. J. Rosenthal, Griechisches Erbe in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, Stuttgart 1960 (im bes. Torah und Nomos. I) Die Glückseligkeit als menschliches Ziel, S. 27ff; Torah und Nomos, II) Glaubenslehren, Herzensfrömmigkeit und praktische Philosophie, S. 41ff; Begriff und Bedeutungswandel der Eudämonie, S. 69ff). Miriam Glaston, The Theoretical and Practical Dimensions of Happiness, op. cit., S. 97ff. Majid Fakhry, A History of Islamic Philosophy, New York 19832, S. 123 (dieser Verfasser steht für die gemeinsame Präsenz von praktischen und theoretischen Elementen in der Alfarabischen Konzeption der Glückseligkeit); Tjitze J. de Boer, The History of Philosophy in Islam, New York 1967, S. 120–126 (de Boer ist der Meinung, dass die Glückseligkeit der theoretischen Philosophie untergeordnet bleibt); Shlomo Pines, Translator’s Introduction, in: Moses Maimonides, The Guide of the Perplexed, Chicago 1963, S. lxxxvi (Pines ordnet die Glückseligkeit der praktischen Philosophie unter); Fauzi Najjar, Al Fârâbî on Political Science, in: Muslim World 48 (1958), S. 94–103; Leo Strauss, Farabi’s Plato, in: Louis Ginzberg Jubilee Volume, New York 1945, S. 357–393.
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unterschiedliche Konzeption des menschlichen Endzwecks, nämlich einen unterschiedlichen Inhalt des höchsten Guten.67 Wenn die Berichte von Ibn Bapa68 und Ibn Tufail69 über Alfarabis verlorengegangenen Kommentar zur Nikomachischen Ethik glaubwürdig sind, tritt dessen Position in diesem Werk sehr deutlich hervor: Die einzige Glückseligkeit ist danach die politische. Obwohl kein späteres Werk von Alfarabi die Glückseligkeit allein auf die politische Dimension beschränkt, verzichtet Alfarabi auch in den Werken, in denen die theoretische Dimension deutlich Vorrang hat, nicht auf die Analyse der Rolle der praktischen Philosophie. Diese Doppeldimension der Glückseligkeit, die unter den Kommentatoren nur Erwin I. J. Rosenthal beachtet, ist genau genommen eine Selbstverständlichkeit für einen islamischen Denker, da die Glückseligkeit gemäß der Lehre des Qur’an nicht nur aus einer Verbindung von Gotteserkenntnis und sittlichem Tun besteht, sondern sich auf das irdische Leben im Staat bzw. in der autonomen religiösen Gemeinschaft erstreckt. Diese Doppeldimension, die ja allen drei monotheistischen Religionen innewohnt, ist im Qur’an besonders deutlich. Für den Muslim ist die doppelte Glückseligkeit als die wahre menschliche Vollkommenheit im islamischen Gesetz, und in diesem allein, verbürgt.70 Diese Doppelseitigkeit erklärt das Interesse der mittelalterlichen islamischen Philosophie und von Alfarabi im besonderen am Denken von Platon und Aristoteles: Die islamischen Denker verdanken diesen beiden die Einsicht, dass die Politik den Menschen lehrt, wie er als Bürger eines wohlgeordneten, gerecht regierten Staates das ihm aufgrund seiner natürlichen Anlage mögliche Glück erlangen soll. Sie postulieren das doppelte Glück – Wohlergehen im Diesseits und ewige Seligkeit im Jenseits – und sind sich klar darüber, dass nur das göttliche Gesetz dies gewähren kann. Was die Eudämonie im griechischen Sinn betrifft, also eine vorwiegend auf das diesseitige Leben ausgerichtete Glückseligkeit, so ist sie nur im Idealstaat Platons erreichbar, der vom Philosophen-König regiert wird. Der nomos ist philosophische Schöpfung; der Bürger, der die höchste, irdische Glückselig67
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Für einige Kommentatoren übersteigt das letztendliche menschliche Gute bei Alfarabi sowohl die praktische als auch die theoretische Vollkommenheit. Siehe u.a.: Lawrence V. Berman, The Political Interpretation of the Maxim: The Purpose of Philosophy Is the Imitation of God, in: Studia Islamica 15 (1961), S. 53ff. Pamal al-Din al->Alawi (Hrsg.), Rasa’il Falsafiya li-Abi Bakr ibn Bapa. Nusus Falsafiya gair Manˇsura, Beirut 1983, S. 197. Siehe auch die Übersetzung eines für meine Untersuchung entscheidenden Abschnitts dieses Werks von ibn Bapa in: Shlomo Pines, The Limitations of Human Knowledge According to Alfarabi, ibn Bajja, and Maimonides, in: Isadore Twersky (Hrsg.), Studies in Medieval Jewish History and Literature, Cambridge (Mass.) 1979, S. 82–109. Albert Nader (Hrsg.), Ibn Tufail. Hayy Ibn Yaqzan, Beirut 1968, 21:21–22:3. Vgl. im besonderen die Kapitel 1, 5, 6, 7 und 9 von: Erwin I. J. Rosenthal, Political Thought in Medieval Islam. An Introductory Outline, Cambridge (Mass.) 19622.
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keit erlangen will, muss die theoretischen Wissenschaften und die praktischen Künste meistern, um intellektuelle Vollkommenheit zu erreichen. Diese in der mittelalterlichen islamischen Welt verbreitete Konzeption der Glückseligkeit und ihre Verbindung mit der Sozialethik sowie mit der Politikwissenschaft erklärt, aus welchem Grund Alfarabi sein vom Neuplatonismus beeinflusstes Werk über die Harmonie der Philosophien von Platon und Aristoteles, mit dem Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) beginnt. Am Anfang findet man nicht eine Erklärung bzw. eine Definition der Glückseligkeit, sondern die Erwähnung der vier menschlichen Bereiche (theoretische Tugenden, beratende Tugenden, moralische Tugenden und praktische Künste), deren Gegenwärtigkeit in der Stadt bzw. in der Nation bedeutet, dass die politische Gemeinschaft die Glückseligkeit erreicht hat und die Bürger die Glückseligkeit erworben haben. Bereits im Titel bemerkt man den Versuch von Alfarabi, theoretische und praktische Philosophie in Bezug auf die Glückseligkeit zusammenzuhalten, da das Wort Tahsil eigentlich ‚Erreichung‘, ‚Erlangung‘ und nicht bloß ‚ein Ziel verfolgen/streben nach‘ bedeutet. Die Glückseligkeit ist somit ein praktischer Zustand, der nur nach dem Erlangen theoretischer Kenntnisse genossen werden kann: Die wahre Philosophie geht also „zeitlich voraus“71, im Vergleich zur Religion und zur praktischen Erkenntnis. Was die wahre von der falschen (auf Arabisch: batil) Philosophie unterscheidet, ist genau die Möglichkeit, die theoretischen Kenntnisse im Rahmen des praktischen, nämlich des sozialen und politischen, Lebens der Menschen zu gebrauchen. Das arabische Adjektiv batil, das üblicherweise mit ‚falsch‘ übersetzt wird, bedeutet vielmehr ‚vergeblich‘: Vergeblich ist diejenige theoretische Philosophie, die sich mit der praktischen nicht verbindet und deswegen nicht zur Glückseligkeit führen kann. Das Grundprinzip, das Alfarabi durch das Werk Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) begründen will, ist das folgende: Die ‚wahre Philosophie‘ fördert das Prinzip, dass „die Vorstellung von dem Imam, Philosophen und Gesetzgeber eine einzige Vorstellung ist.“72 Muhsin S. Mahdi schreibt diesbezüglich: „The principle theme of the Attainment of Happiness concerns human things – the levels of human happiness and the human attainments (the theoretical virtues, calculative or deliberative virtues, moral virtues, and practical arts) by which happiness is achieved by citizens or nations and cities. In principle, all men in all nations and cities are assumed to be capable of pursuing happiness by making use of and perfecting the things that constitute their particular nature and excellence as
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AH, Sek. 55, 41:12. AH, Sek. 57, 42:12–13.
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human beings and distinguish them from other natural beings and from divine beings. These distinctively human things are the virtues and arts whose development requires the exercise of will and choice, and are not merely the product of nature, or chance, or some other extraneous cause.“73
Ich stimme mit Muhsin S. Mahdi nicht überein. In Werk Kitab tahsil alsa>ada (The Attainment of Happiness) ist es nicht möglich, einen Vorrang der theoretischen bzw. der praktischen Philosophie festzustellen, da Alfarabi vielmehr danach strebt, mit Hilfe der Lehre von Aristoteles die unauflösliche Verbindung zwischen beiden spekulativ und politisch zu begründen. In der ersten Sektion des Werks widmet sich Alfarabi beiden Aspekten der Glückseligkeit, nämlich der Glückseligkeit im Diesseits, wobei der Weg zu ihr bereits von Aristoteles angedeutet wurde, und der höchsten Glückseligkeit im Jenseits, zu der das Gesetz Gottes den Weg zeigt. Dabei gilt dieser Unterschied zwischen Glückseligkeit im Jenseits und Glückseligkeit im Diesseits nicht ausschließlich für die religiösen Gemeinden bzw. für die offenbarten Religionen, sondern für die politischen Kollektive im Allgemeinen. Darüber hinaus scheint Alfarabi sich nicht auf zwei unterschiedliche Aspekte der Glückseligkeit zu beziehen (die Glückseligkeit im Diesseits und die Glückseligkeit im Jenseits), sonst müsste der Titel dieses Werks Tahsil al-sa>adat (= Attainment of Happinesses, in der Pluralform) lauten. Der Gebrauch der Singularform bezieht sich auf die Einheit der Methode, um die Glückseligkeit sowohl im Diesseits als auch im Jenseits zu erlangen, nämlich den gleichzeitigen Gebrauch von „theoretischen Tugenden […] und praktischen Kunstfertigkeiten.“74 Erst durch diesen Doppelgebrauch ist es möglich, die theoretische Vollkommenheit zu erreichen, die aus der Fähigkeit besteht, die Erkenntnis der ‚gewissen Wahrheit‘ (auf Arabisch: al-haqq al-yaqin, die in Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) mit der Wissenschaft von allem Seienden gleichgesetzt wird) von der Meinung (ra’y) zu unterscheiden. Diese Konzeption der theoretischen Vollkommenheit ist das Thema des ersten Teils von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness), der mit der Behauptung endet, dass jeder Mensch wegen seiner angeborenen Eigenschaften nur gewisse Qualitäten der praktischen und der theoretischen Philosophie erwerben kann, weshalb das Erreichen der theoretischen Vollkommenheit nur durch die Verbindung mit anderen Menschen möglich ist. Alfarabi schreibt in diesem Zusammenhang:
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Alfarabi, The Philosophy of Plato and Aristotle, op. cit., S. xxi. Siehe auch: Muhsin S. Mahdi, Remarks on Alfarabi’s „Attainment of Happiness“, in: George F. Hourani (Hrsg.), Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany 1975, S. 47–66. AH, Sek. 1, 5 (Übersetzung von F. Y. A.).
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„Jeder Mensch erlangt nur einen Teil dieser Vollkommenheit, und was er von diesem Teil erlangt, schwankt in seinem Umfang, denn ein isoliertes Individuum kann nicht alle Vollkommenheit allein und ohne die Hilfe anderer Individuen erlangen. Es ist die immanente Wesensart jedes Menschen, sich anderen Menschen in der auszuführenden Arbeit anzuschließen […]. Es ist auch die immanente Natur dieses Tieres, Schutz zu suchen und in Nachbarschaft derer zu verweilen, die derselben Spezies angehören, weshalb es soziales oder politisches Tier genannt wird. Daraus entsteht jetzt eine andere Wissenschaft und eine andere Untersuchung, die diese intellektuellen Prinzipien und die Handlungen und Charakterzustände erforscht, mit denen der Mensch auf diese Vollkommenheit hinarbeitet. Daraus entsteht wiederum die Wissenschaft vom Menschen und die politische Wissenschaft.“75
Die Politikwissenschaft hilft dem Menschen, die Laster und alle negativen Dinge zu erkennen, die ihn daran hindern, den Zweck, nach dem seine Natur strebt, zu erreichen, nämlich seine Vollkommenheit. Da diese Vollkommenheit Konsequenz einer geordneten Totalität ist, muss man sich fragen, nach welcher Ordnung eigentlich eine Stadt bzw. eine Nation als Totalität von Menschen einzurichten ist. Alfarabi setzt die Stadt dem Kosmos gleich: Wie es ein erstes Prinzip im Kosmos gibt, dem alles übrige Seiende bis zu den niedrigsten Seienden untergeordnet ist, so gibt es in der Stadt bzw. in der Nation einen „obersten Befehlshaber“76, dem andere „Befehlshaber“ und andere Bürger bis zu denen des niedrigsten Rangs folgen. Der zweite Teil von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) widmet sich aber nicht diesem „obersten Befehlshaber“, sondern dem Handeln auf der Basis der theoretischen Erkenntnis. Für Miriam Glaston bedeutet dieser plötzliche Abbruch der Analyse des höchsten Leiters eine Inkonsistenz in der Argumentation von Alfarabi77, ich hingegen sehe hier eine logische Konsequenz seiner Denkstruktur. Bevor Alfarabi die Natur und die Funktion des höchsten Leiters untersucht, muss er begründen, wie es diesem möglich ist, nach dem Prinzip der theoretischen Erkenntnis die richtige Entscheidung zu fällen und das richtige Handeln in den jeweiligen Einzelfällen des empirischen Lebens der Stadt bzw. der Nation durchzuführen. Aus diesem Grund zeigt Alfarabi im zweiten Teil seines Werks, dass die theoretische Erkenntnis notwendigerweise eine praktische und eine spekulative Dimension enthält, durch die der höchste Leiter richtig zu handeln und zu entscheiden vermag. Mit anderen Worten: Im Unterschied zu anderen Menschen besitzt der höchste Leiter der Natur nach die höchste moralische Tugend, die mit der höchsten beratenden Tugend (der Besonnenheit) verbunden ist, weshalb er von der Natur und nicht aus eigenem Willen Leiter der Stadt bzw. der Nation wird. Erst nachdem im ersten Teil die theore75 76 77
AH, Sek. 18; 5:15 (Übersetzung von F. Y. A.). HA, Sek. 20, 10:15 (Übersetzung von F. Y. A.). Miriam Glaston, Theoretical and Practical Dimensions of Happiness, op. cit., S. 104f.
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tische Fähigkeit und im zweiten die praktische untersucht worden ist, könnte man erwarten, dass Alfarabi im dritten Teil von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) die Natur des höchsten Leiters analysiert. Aber dieser dritte Abschnitt hat noch nicht das Wesen des höchsten Leiters zum Hauptthema, sondern die Frage, wie dieses Wesen pädagogisch entsteht. Obwohl die Politeia von Platon nicht einmal explizit erwähnt wird, beweist eine solche pädagogische Orientierung den deutlichen Einfluss des späten platonischen Denkens auf Alfarabi und auf seinen Begriff der Glückseligkeit. Im Timaios, im Phaidos und in der Politeia präsentiert sich die Eudaimonia in ihrer ursprünglichen Bedeutung von ‚guter Anteil, Wohlstand‘. Platon betrachtet die Seele als unser ‚Daimon‘, das vom Himmel, von Gott kommt (Timaios, 90 a-b). Nach dem Phaidos erkennt die Seele erst nach dem Tode die Glückseligkeit, während nach dem Politeia das glückliche Leben eng mit der Politik verknüpft ist und in den Gesetzen die staatsbürgerliche Verantwortung des König-Philosophen stark in dem Vordergrund tritt. Gleichzeitig betont Platon im Politeia (420 b) die Glückseligkeit als das Ziel des ganzen Staates, nicht nur einer bevorzugten Klasse oder eines einzelnen Individuums. Die Gerechtigkeit ist die erste politische Tugend: Nur wenn sie waltet, ist die Glückseligkeit möglich. Ihre höchste Form (‚die Schau des Seins‘) ist aber nur den Philosophen vergönnt. Das heißt, dass der Glückseligkeit eine auf Wissen gegründete Erkenntnis vorausgehen muss, weshalb die Eudaimonia bei Platon zugleich einen psychologisch-pädagogischen (wie die Seele zur dieser Erkenntnis gelangen kann) und einen politischen Charakter (wie die Glückseligkeit aus der Gerechtigkeit entsteht) besitzt. Im jüdischen und im islamischen Mittelalter haben sich die Denker auf den einen oder anderen Aspekt der platonischen Eudaimonia bezogen78, während man im dritten und vierten Abschnitt von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) die starke logische Verbindung zwischen beiden Aspekten feststellen kann. Mit anderen Worten: Am Schluss von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of ppiness) möchte Alfarabi zeigen, durch welche pädagogischen Mittel die Seele in der Glückseligkeit eingeübt wird und was die Glückseligkeit für die Gemeinde bedeutet. Zur Struktur von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) heißt es bei Mushin Mahdi: „Alfarabi […] begins with a discussion of theoretical virtues and a recapitulation of the elements of Aristotle’s theory of scientific knowledge: its ultimate purpose; its division into the pre-existent and acquired; the division of the acquired into what is acquired through investigation, inference, instruction, and study; the distinction between problems and conclusions; and the description of the latter as conviction
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Für eine Vertiefung dieser Thematik siehe u.a.: Erwin I. J. Rosenthal, Griechisches Erbe in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, Stuttgart 1960, im bes. S. 69ff.
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that may constitute either opinion or science. Concern with nations and cities and with men as citizens are set aside; knowledge of the things that are is spoken of as pre-existing in, and pursued or acquired by a man as an individual.“79
Nur derjenige, der imstande ist, die in den ersten beiden Abschnitten untersuchten Fähigkeiten zu erwerben, kann die Nationen und die Städte zur Glückseligkeit führen. Nach Alfarabi gibt es zwei Methoden, um die Seele eines solchen Menschen auszubilden: die Instruktion, durch welche die theoretischen Wissenschaften gelernt werden, und die Charakterbildung, durch die man die moralischen Tugenden gewinnt.80 Beide Methoden haben das Bemühen, die Erkenntnis von der bloßen Meinung zu trennen, und beide Methoden müssen zur wissenschaftlich objektiven Gewissheit führen, die mit den subjektiven Überzeugungen des Menschen nichts gemein hat. Alfarabi beschreibt diese zwei Methoden nicht im Detail, er plädiert für die Notwendigkeit, den Unterschied zur Meinung hervorzuheben: Nur die wissenschaftliche Gewissheit, und nicht die subjektive und irreführende Meinung, gestattet es, das, was existiert, zu untersuchen. Glauben und Einbildungskraft sind die Instrumente der Religion, um die Menschen zu verführen, während die Philosophie, zu der der Mensch durch Ausbildung sowie Charakterbildung kommt, die überprüfte bzw. gewisse Wahrheit (auf Arabisch: al-haqq al-yaqin) – nämlich die Wissenschaft des Seins und alles Seienden (die Dinge, die sind) – zum Ziel hat. Aus diesem Grund behauptet Alfarabi im letzten Teil von The Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness), dass die Philosophie gegenüber der Religion Vorrang hat, da diese inhaltlich und methodologisch nur eine Nachahmung der Philosophie ist.81 Die Philosophie untersucht empirische Körper und Dinge, um deren Seinsprinzipien und ihre Dynamik zu erkennen, während die Untersuchung der Seinsprinzipien der Himmelsgeschöpfe und des menschlichen Intellekts zu keiner empirischen Kenntnis führt. Und trotzdem darf die Philosophie nicht vom Handeln im Sinne der Gerechtigkeit getrennt werden. Muhsin Mahdin schreibt diesbezüglich: „The investigation of metaphysical or divine beings begins with principles of instruction, then the investigator recognizes that none of these beings possesses a material cause, and his investigation of their other three causes leads him finally to a Being that has no cause or principle of being at all. Hence the ultimate aim of divine science [der Religion], which is the knowledge of this Being, is confined to the knowledge that this Being exists, and does not include any knowledge of the principle of its being. As for the investigation of man, it too leads to the recognition that ‚natural principles‘ are insufficient.“82
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Mushin Mahdi, Remarks on Alfarabi’s „Attainment of Happiness, in: George F. Hourani (Hrsg.), Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany 1975, S. 48. AH, S. 35. Vgl. auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik, op. cit., ii. 1, x. 9. 1179b ff. Ibidem, S. 44. Muhsin Mahdi, Remarks, op. cit., S. 52.
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Die Logik der theoretischen Wissenschaften – statt der Einbildungskraft der Religion – soll also die Menschen von der Kindheit bis zur Reife „in Übereinstimmung mit dem von Platon beschriebenen Plan“83 begleiten. Aber wer sind eigentlich diese Menschen? Alfarabi bezieht sich auf drei Gruppen: die Prinzen, die Imame und die Jungen, deren Geist von Natur her für die wissenschaftliche Kenntnis geeignet ist. Die Tatsache, dass Alfarabi die Imame erwähnt, bedeutet keineswegs, dass er nach einer verbindenden Einheit zwischen Philosophie und Religion sucht. ’Imam ist nicht nur der Vorbeter der Moschee, sondern – und vielmehr – ‚derjenige, dessen Beispiel zu folgen ist‘ (so lautet die buchstäbliche Übersetzung von ’Imam), dem Imam kommt nämlich innerhalb der muslimischen Gemeinde eine führende politische Rolle zu, genauso wie die Prinzen und die begabten Menschen für eine solche Rolle bestimmt sind. Imame, Prinzen und begabte Menschen wissen, welche Prinzipien durch methodische Überzeugung einer Stadt bzw. einer Nation vorzustellen sind; sie wissen nicht nur, dass lediglich eine Minderheit durch die wissenschaftliche beweiskräftige Methode geleitet werden kann, sondern sie wissen auch, dass die Enthüllung gewisser Seinsprinzipien nicht für alle Gemeinden geeignet ist. Die Erkenntnis basiert nicht auf der Meinung der Prinzen, der Imame oder der begabten Menschen, sondern auf der sicheren Wahrheit, die sie erworben haben. Im Arabischen stammt das Wort ‚Meinung‘ (ra’y) vom Verb ‚sehen‘ (ra’a): Der Leiter einer Gemeinde, die durch das Studium der wissenschaftlichen Methode zur Erkenntnis gekommen ist, benutzt die beweiskräftige Methode, die aus empirischen bzw. sichtbaren Beweisen besteht, um gewisse Meinungen in der Gemeinde auszubilden, welche die Menschen an die sichere Wahrheit annähern. Die Auswahl der Meinungen, die für eine bestimmte Gemeinde geeignet sind, bildet den Inhalt der beratenden Fähigkeit (der aristotelischen Besonnenheit) eines politischen Leiters. Alfarabi schreibt in diesem Zusammenhang: „[…] Der Prinz prägt den Charakter der Nationen und unterweist sie, wie das Oberhaupt eines Haushaltes den Charakter der Mitglieder prägt und sie unterweist und der Leiter [einer Schule] den Charakter von Kindern und Jugendlichen prägt und sie unterweist. […] Dementsprechend sind die Machtbefugnisse von Prinzen, welche die Leiter von Nationen und Städten sind und deren Charakter prägen, und die Machtbefugnisse derer oder dessen, was sie in Erfüllung dieser Funktion einsetzen, größer. Der Prinz benötigt die größte Fähigkeit zur Prägung des Charakters von anderen mit ihrer Zustimmung und die größte Fähigkeit zur Prägung ihres Charakters durch Zwang.“84
Nach der platonischen sowie der aristotelischen Lehre ist die beratende Fähigkeit „die größte Fähigkeit“, um den Charakter der Stadt bzw. der Nation
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AH, S. 35. Ibidem, S. 37 (Übersetzung von F. Y. A.).
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auszubilden, während „die größte Fähigkeit“ sich für die widersetzende Stadt bzw. für die widersetzende Nation auf eine Fähigkeit bezieht, die mit einer solchen pädagogischen Nuancierung weder in der Politeia noch in der Nikomachischen Ethik zu finden ist: die Kraft (im Sinne von ‚Wissenschaft‘) des Kriegs (al-fiqh al-harb). Meiner Meinung nach sollte dieser Begriff viel besser als ‚das Gesetz [im Sinne der wissenschaftlichen Lehre] des Kriegs‘ übersetzt werden, wobei das Wort harb (‚Krieg‘) keine religiöse Bedeutung hat. In einem solchen Fall hätte Alfarabi das Wort ‚pihad‘ benutzt, das trotz der verbreiteten Meinung nicht ‚Krieg Gottes‘ im Sinne von ‚Krieg gegen die Ungläubigen‘ bedeutet, nämlich ein Krieg, der geführt wird, um gewisse Völker zum islamischen Glauben zu bekehren. Das Wort ‚pihad‘ bedeutet vielmehr im Kontext von Alfarabis Denken Krieg gegen diejenigen Minderheiten im islamischen Reich, die Muslime zu ihrem Glauben zu bekehren versuchen. ‚Pihad‘ bezeichnet somit einen Verteidigungs- und nicht einen Eroberungskrieg, den ein Mensch mit dem höchsten Bemühen führen muss. ‚Harb‘ bezeichnet hingegen alle übrigen Arten von Krieg, und bei Alfarabi übernimmt dieses Wort sogar eine politisch-philosophische Bedeutung, was im islamischen Gesetz des Mittelalters einmalig ist, denn ‚harb‘ ist bei ihm ein Krieg „um Nationen und Städte zu erobern, die sich nicht dem unterwerfen, was ihnen Glückseligkeit verschaffen wird, für deren Erlangung der Mensch gemacht ist“.85
85
Ibidem, S. 37 (Übersetzung von F. Y. A.). Es ist möglich, dass Alfarabi von einem der größten Theoretiker des muslimischen Rechts beeinflusst wurde, nämlich von ’Abu l-Hasan >Ali ibn Muhammad ibn Habib al-Mawardi, der in der Mitte des 10. Jahrhunderts ein Buch über das Wesen und die Funktion des Imamamtes schrieb, in dem zwei Kapitel dem Problem des Kriegs gewidmet sind: al-Mawardi, Kitab ’ahkam al-sultaniya, hrsg. von E. Enger, Bonn 1853, im bes. Kap. 4. Bassam Tibi schreibt diesbezüglich: „It is important to know that the expression dar al-harb (house of war) is not Qu’ranic; it was coined in the age of Islamic military expansion. It is, however, in line with the Qu’ranic revelation dividing the world into a peaceful part (the Islamic community) and a hostile part (unbelievers who are expected to convert to Islam, if not freely then through the instrument of war). In this sense, Muslims believe that expansion through war is not aggression but a fulfillment of the Qu’ranic command to spread Islam as a way of peace. The resort to force to disseminate Islam is not war (harb), a word that is used only to describe the use of force by non-Muslims. Islamic wars are not hurub (the plural of harb) but rather futuhat, acts of ‚opening‘ the world to Islam and expressing Islamic jihad. […] Only when Muslim power is weak is ‚temporary peace‘ (hudna) allowed (Islamic jurists differ on the definition of ‚temporary‘). The notion of temporary peace introduces a third realm: territories under temporary treaties with Muslim powers (dar al-sulh or, at time, dar al-’ahd). The attitude of Muslims toward war and nonviolence can be summed up briefly: there is no Islamic tradition of nonviolence and no presumption against war. But war is never glorified and is viewed simply as the last resort in responding to the da’wa [‚Ruf‘] to disseminate Islam, made necessary by the refusal of unbelievers to submit to Islamic rule. In other words, there is no such thing as Islamic pacifism.“ (War and Peace in Islam, in: Sohail H. Hashmi, Islamic Political Ethics. Civil Society, Pluralism and Conflict, Princeton 2002, S. 177f)
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Aristoteles beschreibt die sogenannte höchste Glückseligkeit86 als den höchsten Grad von Glückseligkeit, die ein Mensch gemäß seiner Natur erreichen kann. Wenn ein Krieg notwendig ist, um einen Menschen zu diesem Ziel zu führen, verdient also dieser Krieg nach Alfarabi den Namen ‚gerechter Krieg‘, und ein Krieger, der darin involviert ist, gilt als „gerechter Krieger“.87 Gerechtigkeit und Glückseligkeit werden somit von Alfarabi auch in Bezug auf den Krieg, nämlich auf ein Ereignis, das extrem weit sowohl von der Gerechtigkeit als auch von der Glückseligkeit entfernt sein sollte, kombiniert, weil jedes Handeln, das die höchste Glückseligkeit des Menschen zum Ziel hat, gerecht ist. Selbstverständlich impliziert eine solche Konzeption des Kriegs als Hauptvorbedingung die objektive Kenntnis der jeweiligen menschlichen Natur seitens des Kriegsführers, sonst ginge man das Risiko ein, dass ein politischer Leiter nur für die Implementierung seiner eigenen subjektiven Konzeption der Glückseligkeit bei anderen Städten bzw. Nationen kämpft. Darüber hinaus darf der Krieg nur gegen diejenigen Städte bzw. diejenigen Nationen geführt werden, welchen die logische Fähigkeit fehlt, durch die wissenschaftliche Methode ausgebildet zu werden, die ihren Willen dementsprechend bestimmt. Wenn eine solche logische Fähigkeit vorhanden ist, darf der Imam bzw. der Prinz auf keinen Fall einen Krieg führen. Abschnitt 3 von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) konzentriert sich also nicht auf die Beschreibung des Charakters des politischen Leiters, sondern auf sein methodisches und praktisches Handeln, dessen höchste Leistung nichts Geringeres als die wissenschaftliche Erkenntnis der menschlichen Natur ist.88 Das bedeutet, dass jede der vier Fähigkeiten, die in den ersten beiden Abschnitten beschrieben worden sind, vom Imam bzw. von Prinzen gemäß der Natur der Stadt bzw. der Nation anzuwenden sind. Alfarabi schreibt: „Es wird ebenso viele dieser abgeleiteten Wissenschaften wie Nationen geben, jede das enthaltend, wodurch eine bestimmte Nation vollkommen und glückselig wird.“89
Glückseligkeit und Gerechtigkeit sind also das höchste Ziel der Wissenschaft, welche die beratende Fähigkeit des Imam bzw. des Prinzen leitet. Erst nachdem die politische Funktion dieser Gestalt und die Methode für die Realisierung ihrer Funktion herausgestellt worden sind, kann sich Alfarabi im vierten Abschnitt von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) auf die Beschreibung der Natur eines solchen Leiters konzentrieren. Der Leiter gehört zu den Auserwählten, mithin zu denjenigen Menschen, „die sich nicht in ihren theoretischen Erkenntnissen auf das be86 87 88 89
NE, i. 9., 1099b–1100a; x. 6., 1176a, x. 8., 1178b. AH, S. 37. Ibidem, S. 39. Ibidem, S. 40 (Übersetzung von F. Y. A.).
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schränken, was mit der ungeprüften allgemeinen Meinung übereinstimmt, sondern sie erlangen ihre Überzeugungen und ihr Wissen auf Grundlage genauer Prüfung unterworfener Prämissen.“90 Der vollkommenste unter diesen Auserwählten – derjenige, der diese Erkenntnis auf dem höchsten Niveau erworben hat – soll „oberster Herrscher“91 werden. Die „populären theoretischen Wissenschaften“ bzw. die „Abbild machenden theoretischen Wissenschaften“92 sind der Erkenntnis des Leiters untergeordnet, wobei alle zusammen zur höchsten Glückseligkeit sowie zur endlichen Vollkommenheit des menschlichen Intellekts führen. Alfarabi bemüht sich darum, die vollkommene theoretische Erkenntnis des Leiters in Ableitung von der griechischen Denkwelt zu bestimmen, damit die Verbindung mit der politischen Sphäre aufrechterhalten bleibt: Bei den Griechen ist die Philosophie die ‚Mutter aller Wissenschaften‘ und ‚die Weisheit aller Weisheiten‘, weil sich ihre theoretische Vollkommenheit in der empirischen Welt widerspiegelt. Die weisen Menschen, deren Weisheit zu keinem praktischen Urteil und keiner praktischen Handlung führt, besitzen nur eine unqualifizierte Weisheit, nämlich eine, die nur ein Zustand der Seele ist, der auf den Bereich des Individuellen beschränkt bleibt. Für Alfarabi soll die Philosophie als vollkommene Weisheit ihr Handeln in der Gemeinde zeigen, weshalb er schreibt: „Um ein wahrhaft vollkommener Philosoph zu sein, muss man sowohl über die theoretischen Wissenschaften als auch über die Fähigkeit fügen, sie zum Wohle aller anderen gemäß ihrer Fähigkeiten anzuwenden. Betrachtet man den Fall des wahren Philosophen, findet man keinen Unterschied zwischen ihm und dem obersten Herrscher.“93
Die wahre Philosophie macht keinen Gebrauch von der Einbildungskraft bzw. vom Überreden, weil sie auf den intellektuellen Begriffen basiert, die für die Masse in unterschiedlichem Grad verständlich sind. In diesem Sinne ist die Religion nur eine Nachahmung der Philosophie, da sie gerade Einbildungskraft und Überredung benötigt, um das politische Amt übernehmen zu können. Die Religion strebt nicht danach, eine Erklärung für Theorie und Praxis der menschlichen Seele und des menschlichen Handelns zu finden, obwohl sie gleichfalls beansprucht, zur höchsten Glückseligkeit zu führen. Während sich die Religion auf die höchste Glückseligkeit als Glückseligkeit im Jenseits bezieht, strebt die Philosophie nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit als höchste Glückseligkeit im Diesseits durch beweiskräftige Argumente. 90 91 92 93
Ibidem, S. 41 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 42 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 43 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Nach Alfarabi sind die Gesetze die beweiskräftigen Argumente, durch welche die Menschen zur Glückseligkeit geführt werden: „Wiederum ist klar, dass man, wenn man danach strebt, die Intelligiblen der Dinge abhängig vom durch die praktische Philosophie bereitgestellten Willen zu tatsächlicher Existenz zu bringen, die Bedingungen beschreiben muss, die ihre tatsächliche Existenz ermöglichen. Nachdem die Bedingungen, die ihre tatsächliche Existenz ermöglichen, beschrieben wurden, werden die spontanen Intelligiblen in Gesetze gefasst. Deshalb ist der Gesetzgeber derjenige, der durch die Vortrefflichkeit seiner Erwägung die Fähigkeit hat, mit seinem Intellekt die Bedingungen zu finden, die für die tatsächliche Existenz der spontanen Intelligiblen in dem Maße notwendig sind, als sie zur Erlangung der höchsten Glückseligkeit führen […].“94
Es folgt daraus, dass der Gesetzgeber Philosoph sein muss, nämlich der Leiter (im Sinne sowohl des Prinzen als auch des Imam) der Gemeinde. Obwohl Alfarabi, wie wir bereits gesehen haben, ganz deutlich behauptet, dass der Philosoph, der Gesetzgeber, der Prinz und der Imam einer einzigen Idee entsprechen, bedeutet das aber nicht (wie häufig missverstanden worden ist), dass sie in der Gemeinde als eine einzige Gestalt auftreten. Sie stehen für dieselbe Idee, aber sie erfüllen unterschiedliche Funktionen: a) Der Philosoph ist derjenige, der die theoretische Tugend besitzt, die in jedem Aspekt zur Vollkommenheit führt (dies bedeutet, dass der Philosoph auch alle andern Tugenden erworben hat). b) Der Gesetzgeber besitzt den höchsten Grad der Erkenntnis bezüglich der Voraussetzungen der „praktischen Intelligiblen“95, er hat die Fähigkeit, die Voraussetzungen zu finden und sie der Gemeinde bzw. der Nation zu vermitteln. c) Der Prinz besitzt hingegen die Leitungskunst, er hat nämlich „großes Vermögen der“ Erkenntnis, „großes Vermögen der Erwägung“ und „großes Vermögen der moralischen Kunst“96, um die Gemeinde zur höchsten Glückseligkeit zu führen. d) Schließlich hat man den Imam, denjenigen, dessen Beispiel gefolgt werden muss, „dass heißt, dass entweder seine Vollkommenheit oder sein Ziel gut aufgenommen wird.“97 Alfarabi deutet auch darauf hin, dass alle Menschen, die durch die syrischen Manuskripte die griechische Weisheit erhalten haben, unter ‚Philosoph, Prinz, Imam und Gesetzgeber‘ immer nur dieselbe, einzige Idee verstehen.
94 95 96 97
Ibidem, S. 45 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 46 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Im letzten Abschnitt von Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) beschreibt Alfarabi den Philosophen durch dieselben praktischen und theoretischen Charakteristika, durch die Maimonides den Weisen im Sefer haMadda> – wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben – vorstellt: „Er sollte sich darin hervortun, dass er das Grundlegende versteht und erfasst. Darüber hinaus sollte er ein gutes Erinnerungsvermögen haben und in der Lage sein, die Mühe des Studiums auszuhalten. Er sollte Wahrhaftigkeit und aufrichtige Menschen und Gerechtigkeit und gerechte Menschen lieben; und er sollte nicht eigensinnig oder ein Streithammel bezüglich dessen sein, was er will. Er sollte nicht gefräßig sein und sollte aufgrund natürlicher Veranlagung die Begierden missachten […]. Er sollte von edler Gesinnung sein und das als schändlich Erachtete meiden. Er sollte fromm sein, sich leicht zum Guten und der Gerechtigkeit neigen und unbeugsam gegenüber Bösem und Ungerechtigkeit sein. Und er sollte sich stark für das Rechte einsetzen. Darüber hinaus sollte er den Gesetzen und Gewohnheiten zufolge erzogen werden, die seiner inneren Veranlagung gleichen. Er sollte korrekte Überzeugungen hinsichtlich der Ansichten der Religion haben, in der er aufgezogen wird, an den tugendhaften Handlungen seiner Religion festhalten und sie nicht alle oder die meisten von ihnen aufgeben.“98
Alfarabi billigt Philosophie und Religion dieselbe Funktion zu, nämlich das Streben nach der höchsten Glückseligkeit, weshalb die Philosophie – die stets „zeitlich vorausgeht“ ist – die Religion nicht bekämpfen darf. Während die Philosophie nur für eine winzige Gruppe von Auserwählten geeignet ist, wendet sich die Religion durch die Einbildungskraft und die geglaubten Meinungen an die Masse. Das wichtigste ist, dass der Philosoph nicht dieselben Instrumente wie die Religion benutzt; sonst wird er ein vergeblicher bzw. ein falscher Philosoph. Wie bei Platon99 ist der wahre Philosoph derjenige, der die Gemeinde auch dann durch seine Fähigkeit zur höchsten Glückseligkeit führt, wenn er von der Gemeinde nicht anerkannt wird. Es ist zwar richtig, dass der Philosoph seinen theoretischen Intellekt in der Gemeinde verwirklicht, aber er benötigt diese nicht, um in seinem Wesen bestimmt zu werden, er braucht die Gemeinde nicht für die Begründung der theoretischen und praktischen ’aˇsya’.100 Alfarabi zufolge haben sowohl Platon als auch Aristoteles die politische Funktion des Philosophen am besten beschrieben, eine Funktion, welche
98 Ibidem, S. 48 (Übersetzung von F. Y. A.). 99 Platon, Politeia, 489b. 100 Um sich auf eine grobe Erklärung zu beschränken: das Wort ’aˇsya’ entspricht im Wortschatz Alfarabis ‚dem Seienden‘, aber es kann sich auch auf das Besondere bzw. auf die Universalien beziehen oder auf das, was außerhalb des Geistes und der intelligiblen Ideen existiert, oder auch auf die Gegenstände der Erkenntnis bzw. die Gegenstände der Meinung sowie der Einbildungskraft. Muhsin Mahdi hat das Wort ‚thing‘ für alle diese Bedeutungen benutzt, wobei ‚thing‘ meines Erachtens noch zu allgemein und zu wenig präzis ist. Es ist freilich richtig, dass das Wort ‚being‘ im Englischen nicht die empirische Bedeutung von ‚Gegenstand‘ enthält.
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die im Qur’an wirksame Kontinuität von Philosophie und Religion deutlich zeigt. Unter dem Einfluss der neuplatonischen Tradition stellt Alfarabi die zwei größten Philosophen der Antike als durch denselben Zweck verbunden dar, obwohl sie mit unterschiedlichen begrifflichen Instrumenten arbeiteten: die Vollkommenheit der höchsten theoretischen Wissenschaft (der Philosophie) in der Verwirklichung der Gerechtigkeit als höchste Glückseligkeit der empirischen Sphäre durch die Gestalt des Leiter-Philosophen zu begründen.
2.5 Kitab al-Pam> baina ra’yi al-Hakimain (Philosophy of Plato and Aristotle) Aus chronologischen Gründen kommentiert Alfarabi zunächst die Philosophie von Platon und danach diejenige von Aristoteles, aber es wäre dem Leser sicherlich dienlicher, die letzten beiden Teile von Kitab al-Pam> baina ra’yi al-Hakimain (Philosophy of Plato and Aristotle) in umgekehrter Reihenfolge zu lesen, um die logische Einheit von Alfarabis Denkens besser erkennen zu können. Was sofort verblüfft, ist der Umstand, dass der Teil über Platon viel kürzer als der über Aristoteles ist (zehn kurzen Abschnitten über Platon stehen 19 lange über Aristoteles gegenüber). Die Untertitel beider Teile mögen das erklären: The Philosophy of Plato. Its Parts, the Ranks of Order of its Parts, from the Beginning to the End und The Philosophy of Aristotle. The Parts of his Philosophy, the Ranks of order of its Parts, the Position from which he started and the One he reached. Alfarabi sieht in der platonischen Philosophie eine wesentliche inhaltliche Einheit, in der sich unter verschiedenen Aspekten „vom Anfang bis zum Ende“ das Denken Platons entwickelt, während Aristoteles durch sein Denken ein Ziel erreicht, das mit seiner ursprünglichen Position nicht völlig identisch ist. Dieses Ziel ist die Politik, die bei Platon aus geschichtlichen Gründen (die Lage der damaligen Stadt Athen) von Anfang an vorhanden ist, während sie bei Aristoteles nur am Schluss seiner Untersuchung über das Wesen der Wissenschaften behandelt wird. An dieser Stelle möchte ich mich auf das Hauptthema meiner Forschung beschränken, nämlich die Figur des König-Philosophen, auch wenn dadurch sehr interessante Aspekte von Alfarabis Rekonstruktion beider Philosophien ausgeklammert werden müssen. Nach Alfarabi stellt die Untersuchung der menschlichen Vollkommenheit101 den Kern der Philosophie Platons dar, einen Kern, der „ein bestimm101 Siehe auch: Leo Strauss, Farabi’s Plato, in: Louis Ginzberg Jubilee Volume on the Occasion of His Seventieth Birthday, New York 1945, S. 361.
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tes Wissen und eine bestimmte Lebensweise“102 ist und dessen Zweck das Erreichen der Glückseligkeit ist. Also sind bei Menschen Erkenntnis und Glückseligkeit die miteinander verbundenen Phasen, die man nach Alfarabi durch den Inhalt der Dialoge Platons von Alcibiades bis Philebos verfolgen kann. Die Erkenntnis, die den Menschen zur Glückseligkeit führt, wird von Platon nicht auf den Menschen überhaupt bezogen, sondern auf eine bestimmte politische Kategorie, „die Bürger der Städte und Nationen“103, da diese Erkenntnis eine erworbene Fähigkeit für die Verwirklichung der Glückseligkeit benötigt, eine Fähigkeit, die mit der Politik gleich ist. Die Politik basiert nicht auf der Rechtswissenschaft (nach Platon ist diese die Wissenschaft, die zur Gerechtigkeit führt), sondern auf der dem Menschen eigenen Wissenschaft, die ihn von den anderen lebenden Wesen unterscheidet, nämlich der Sprachwissenschaft. Trotzdem sind diese Wissenschaften – sowie alle theoretischen Wissenschaften – nicht imstande, den Menschen zur Glückseligkeit zu führen, weshalb Platon seine Aufmerksamkeit ab Alcibiades Minor den technischen Wissenschaften zuwendet, um zu untersuchen, ob man im Ausgang von diesen Wissenschaften zur Bestimmung des Guten gelangen kann. Aber wenn die theoretischen Wissenschaften ausschließlich zur „Kenntnis der Wesen“104 führen, so führen die praktischen Wissenschaften ausschließlich zum Guten als „zur erstrebten Lebensweise“.105 Beide Gruppen vertreten einen Aspekt der Erkenntnis, aber keine ist wegen ihres mangelhaften Inhalts imstande, aus dieser Erkenntnis den Weg zur vollkommenen (nämlich theoretischen sowie praktischen) Glückseligkeit zu zeigen. Erst in den Erastai kommt Platon zu dem Schluss, dass die Philosophie die höchste Wissenschaft sei, da sie das Nützliche mit dem Guten kombiniere. Alfarabi schreibt: „Dann erklärte er [Platon], dass der Mensch, der ein Philosoph ist, und der Mensch, der ein Prinz ist, gleich sind; jeder von ihnen ist durch eine einzige Kunstfertigkeit und eine einzige Fähigkeit vollkommen; jeder von ihnen hat eine einzige Kunstfertigkeit, welche die erstrebte Erkenntnis und die erstrebte Lebensweise von Anfang an bereitstellt; und jede der zwei [Kunstfertigkeiten oder Fähigkeiten] ist das Mittel, welches diejenige Glückseligkeit erzeugt, die wahre Glückseligkeit in denen, die sie erlangt haben und in allen anderen ist. […] Dann untersuchte er [Platon] genau, wie der Mensch sein muss, der entschlossen ist, ein Philosoph oder ein Staatsmann zu werden und etwas Gutes zu erzielen, und wie er von dem, was er erreichen will, besessen sein, nicht an etwas anderes denkend, und in ihm
102 103 104 105
Alfarabi, The Philosophy, op. cit., S. 53 (Übersetzung aus dem arabischen Text von F. Y. A.). Ibidem, S. 55 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 60 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 60 (Übersetzung von F. Y. A.).
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schwelgen muss. […] Und er [Platon] erklärte, dass Philosophie, Staatskunst und Vollkommenheit nur erlangt werden können, wenn die Seele des sie erstrebenden Menschen in ihnen und in der von ihm erstrebten Notwendigkeit träumt; weder der Philosoph noch der Staatsmann können die von ihnen für ein tugendhaftes Ziel gehaltene Handlung ausführen, wenn dieses Schwelgen nicht in ihnen fortbesteht.“106
Nur in der Kombination von Gesetzgeber und Prinz verwirklicht sich die Vollkommenheit des praktischen und theoretischen Intellekts, die den Menschen zur praktischen und zur theoretischen Glückseligkeit führt. Obwohl man daraus nicht implizieren kann, dass die Philosophie tout court für Platon mit der politischen Philosophie gleich ist, stellt Alfarabi fest, dass dessen Philosophie mit der königlichen Leitungsfähigkeit identisch ist. Leo Strauss schreibt diesbezüglich: „The identification of philosophy as the highest theoretical art with the royal art as the highest practical art can be literally valid only if the specific products of both arts, the science of the beings and the desired way of life, are identical, in other words, if contemplation itself is the highest form of action.“107
Nach Alfarabi wurde Platon in seinen Gedanken von vornherein durch die Beobachtung der Ungerechtigkeit und des Bösen in der damaligen polis geleitet, was ihn dazu brachte, ein ‚Heilmittel‘ für die Krankheit der Stadt zu entwickeln. In diesem Sinne ist die Politeia nichts anderes als ein utopisches politisches Werk, in dem eine künftige, nämlich eine noch nicht existierende Stadt beschrieben wird, die ihre Bürger zur Verwirklichung der Glückseligkeit führen wird: „Wenn entschieden würde, dass diese Stadt alle Dinge hätte, durch die Glückseligkeit erlangt wird, wäre es unerlässlich für ihre Einwohner, dass die fürstliche Kunstfertigkeit in ihr die wahre Philosophie wäre, dass Philosophen ihren höchsten Bestandteil ausmachten, und dass ihnen jene, die andere Ränge bekleiden, untergeordnet wären. […] Denn tatsächlich kann der Mensch nur in dieser Stadt die erstrebte Vollkommenheit erreichen.“108
Wegen ihres utopischen Charakters ist eine solche polis nicht das Ziel des Menschen: Erst nachdem der Mensch eine solche Stadt, in welcher der Philosoph zugleich Gesetzgeber ist, durch die Überwindung der Ungerechtigkeit und der Korruption eingerichtet hat, kann der Mensch seinen praktischen und theoretischen Intellekt zur „erstrebte(-n) Vollkommenheit“109 als höchste Glückseligkeit bringen. Trotz einiger Uneindeutigkeiten des Textes (zum Beispiel ist es häufig umstritten – auch ausgehend von den unterschiedlichen arabischen Manuskripten –, von welchen Fähigkeiten – ob von den praktischen oder den 106 107 108 109
Ibidem, S. 61f (Übersetzung von F. Y. A.). Leo Strauss, Farabi’s Plato, op. cit., S. 386. Ibidem, S. 65 (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 65 (Übersetzung von F. Y. A.).
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theoretischen – eigentlich die Rede ist) kann man sagen, dass die Begründung einer solchen polis nach Alfarabi der schlechthinnige Zweck der platonischen Philosophie ist, was Alfarabi durch Aufzeigen der logisch-inhaltlichen Verknüpfung zwischen allen Werken Platons deutlich darlegt. Diese Verknüpfung zeigt das tiefe Verhältnis zwischen praktischer und theoretischer Philosophie bereits am Anfang der spekulativen Produktion von Platon, der es von vornherein um die menschliche Vollkommenheit geht. Auch Aristoteles zielt auf die menschliche Vollkommenheit, aber seine philosophische Untersuchung geht nach Alfarabi über den Zweck Platons hinaus. Aristoteles beginnt seine Untersuchung mit einem Thema, das der platonischen Philosophie vorangeht. Obgleich Alfarabi kein Werk von Aristoteles erwähnt, bezieht er sich zweifellos auf die sogenannten exoterischen (‚öffentlichen‘, ‚zivilen‘) Werke, die das Streben der Menschen nach praktischer Vollkommenheit zum Inhalt haben. Unter den späteren Werken von Aristoteles versteht Alfarabi die dialektischen (‚esoterischen‘: Nikomachische Ethik, De Anima und Metaphysik). Alfarabi geht es nicht um die chronologische Ordnung der esoterischen Werke, sondern um die Entwicklung bestimmter philosophischer Argumente im Vergleich zu Platon. Aristoteles beginnt sein System mit der Untersuchung des menschlichen Körpers (soma), mit besonderer Aufmerksamkeit auf die praktischen Wissenschaften, ohne die der Körper nutzlos und nicht verwendbar wäre: „Er [Aristoteles] sah vier Dinge, die jeder von Anfang an verfolgt und als erstrebenswert und gut erachtet – sie werden von Natur aus begehrt und verfolgt, sozusagen von Anfang an und nichts anderes geht ihnen zeitlich voraus: (1) die Unversehrtheit des menschlichen Körpers; (2) die Unversehrtheit der Sinne; (3) die Unversehrtheit der Fähigkeit erkennen zu können, was zur Unversehrtheit des Körpers und der Sinne führt; und (4) die Unversehrtheit des Vermögens, das anzustreben, was zu ihrer Unversehrtheit führt.“110
Die Untersuchung des Körpers führt Aristoteles später zur Untersuchung der Bedürfnisse der Seele, deren größtes die Erkenntnis der Ursachen der empirischen Phänomene ist. Das bedeutet aber nicht, dass die von der Seele angestrebte Erkenntnis mit den vier aufgelisteten Bedürfnissen des Körpers nichts gemein hätte. Streng genommen enthält die menschliche Erkenntnis zwei Dimensionen: „eine Erkenntnis, die zur Verwendung für die Unversehrtheit dieser vier Dinge oder den vollkommensten Zustand ihrer Unversehrtheit angestrebt wird; und eine Erkenntnis, die über die rein zweckdienliche Erkenntnis hinausgeht und um ihrer selbst willen und für nichts anderes angestrebt wird. Diese Unterteilung erlangt von dem Verlangen der Seele nach zwei Arten von Erkenntnis ihre Geltung, bevor man unterscheidet, welche von beiden zu bevorzugen und welche zu vermeiden ist. Folg110 Ibidem, S. 71 (Übersetzung von F. Y. A.).
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lich nannte er [Aristoteles] die erste Art praktische und die zweite Art theoretische Wissenschaft.“111 Auf der Basis seiner Erfahrung während des Aufbaus seines Organon ist Aristoteles der Meinung, dass die praktische Erkenntnis hauptsächlich zur Gewissheit führen soll, weshalb ihre Entwicklung in drei Stufen verläuft: das Begreifen mittels der Sinne, das Begreifen außerhalb des Bereichs der Sinne (primäre Erkenntnis) sowie das Begreifen durch Untersuchung, Betrachtung und Entschiedenheit. Dieselbe Stufung findet man auch bei der theoretischen Erkenntnis (aus einer einfachen Prämisse gelangt man durch einen mittleren Terminus zu einer Konklusion). Das impliziert aber nicht, dass praktische und theoretische Erkenntnis getrennt wären, da sich die Seele ohne das Wohlergehen des Körpers nicht um das Erreichen der theoretischen Erkenntnis bemühen kann. Bei Platon hingegen werden die körperlichen Bedürfnisse zugunsten der Verwirklichung des seelischen Ziels gering geschätzt. Aus diesem Grund ist Alfarabi der Meinung, dass Aristoteles in seiner Philosophie mehr als Platon erreicht hat: „Deshalb ist der Mensch gezwungen zu betrachten, was die Substanz des Menschen ist, was seine letzte Vollkommenheit ist, die Ausübung welcher Handlung zur letzten Vollkommenheit seiner Substanz führt. Aber dies schließt ein, zu wissen, was, durch was und wie der Mensch ist und wovon und wofür er existiert, so dass, wenn er sich müht, seine Bemühungen auf das Erreichen dieses Zieles ausgerichtet werden. […] Wenn also der Mensch Teil der Welt ist und wir seinen Zweck und seine Tätigkeit und seinen Nutzen und seinen Platz zu verstehen wünschen, müssen wir erst den Zweck der gesamten Welt kennen, so dass wir deutlich den Zweck des Menschen erkennen können, ebenso [wie die Tatsache, dass] er ein Teil der Welt ist, weil sein Zweck notwendig für das Erkennen des höchsten Zweckes der gesamten Welt ist.“112
Da der Mensch vermöge seiner Natur und seines Willens der letzthinnige Zweck der ganzen Welt ist, soll man nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften (nämlich die sich mit den Handlungen des menschlichen Willens beschäftigenden Wissenschaften) untersuchen. Selbstverständlich haben die Naturwissenschaften den Vorrang: Nur wenn wir wissen, was dem Menschen von Natur zugehört – nämlich welche seine natürlichen Fähigkeiten und Beschränkungen sind –, können wir daraufhin untersuchen, welche die Konsequenzen seines Willens und seiner Entscheidungen sind. Fähigkeiten und Beschränkungen gestatten eine Systematik unterschiedlicher Klassen von Menschen: Welche Menschen sollen in welchen Fächern unterrichtet werden, welche Erkenntnis ist für sie am besten geeignet, nach welchem Ziel soll jeder Mensch streben? Um die Sophismen – wel111 Ibidem, S. 72f (Übersetzung von F. Y. A.). 112 Ibidem, S. 79f (Übersetzung von F. Y. A.).
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che die Menschen auf den falschen Weg führen – zu umgehen, muss jeder Mensch in Logik unterrichtet werden, da nur diese Wissenschaft den rationalen Teil der Seele verbessert und zur Gewissheit des besten Ziels für jeden Menschen führt. Die Wissenschaft der Logik, die Naturwissenschaft und die theoretische Wissenschaft bilden somit das erkenntnistheoretische Feld der aristotelischen Philosophie, nämlich „die Erkenntnis was sie ist, aus was sie ist und zu welchem Zweck sie ist.“113 Wie bereits im Falle von Platon beschreibt Alfarabi die Verbindung dieser drei Wissenschaften in der ganzen Entwicklung des aristotelischen Denkens bezüglich der Untersuchung des Leibs und der Seele. An dieser Stelle können leider nicht die Einzelheiten dieser Beschreibung – die zugleich ein umfassender Kommentar ist – im Detail gezeigt werden. Man kann aber die Verknüpfung zwischen Intellekt, Philosophie und politischer Sphäre zeigen. Alfarabi unterstreicht, dass die letztendliche Vollkommenheit der menschlichen Seele bei Aristoteles mit dem aktiven Intellekt gleich ist, da eine solche Vollkommenheit den Erwerb der logischen, natürlichen und theoretischen Wissenschaft beinhaltet. Alfarabi schreibt diesbezüglich: „[…] Folglich ist er [der aktive Intellekt] in dreierlei Hinsicht ein Prinzip: als ein Handelnder, als ein Zweck und als die Vollkommenheit, die der Mensch zu erreichen sucht. Er ist deshalb eine separate Form des Menschen, ein separater Zweck und ein vorrangiger Zweck und ein separater Handelnder; in einer gewissen Art und Weise wird der Mensch mit ihm vereinigt, wenn er von ihm angewendet wird. […] Auf diese Art und Weise, wird die Seele des Menschen selbst dieser Intellekt.“114
Durch den aktiven Intellekt wird sich der Mensch des Zwecks des praktischen Intellekts sowie des menschlichen Willens bewusst, er ist dann imstande, den Ursprung und die Folgen jedweder Wahl zu begreifen. Ausgehend von diesem Intellektualitätsgrad, kann der Mensch sich der Philosophie widmen, weil er jetzt fähig ist zur „Untersuchung und Erforschung der Dinge, die in ihrem Rang des Seins über den natürlichen Dingen sind.“115 Die Vollkommenheit der politischen Sphäre – die für Aristoteles, in der Interpretation Alfarabis mit dem intellektuellen Begreifen des Ursprungs und der Folgen des Wählens gleich ist – stellt somit den Ausgangspunkt dar, um die Vollkommenheit der philosophischen Sphäre zu erreichen. Obwohl Aristoteles nicht explizit einen ‚König-Philosophen‘ beschreibt, deutet Alfarabi darauf hin, dass seine Untersuchung des menschlichen Intellekts gerade zur Realisierung des höchsten Ziels führt: Durch die 113 Ibidem, S. 84 (Hervorhebung und Übersetzung von F. Y. A.). 114 Ibidem, S. 127 (Übersetzung von F. Y. A.). 115 Ibidem, S. 130 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Vollkommenheit der politischen Sphäre, nämlich durch die Verwirklichung der Gerechtigkeit als höchste Glückseligkeit, kann der Mensch sich mit der Untersuchung der Prinzipien aller Wesen und des Seins überhaupt beschäftigen. Nach Alfarabi geht Aristoteles über Platon hinaus, da er in seinem ganzen Werk die praktische und theoretische Dimension des Intellekts getrennt und ausführlich untersucht hat, um am Schluss die Vollkommenheit beider Dimensionen zugunsten der Politik und der Philosophie in der Metaphysik zu zeigen. Trotzdem ist der Zweck der Philosophie, in Alfarabis Interpretation, bei Platon und bei Aristoteles identisch, wie Leo Strauss betont: „Philosophy […] is identical with the scientific spirit ‚in action‘, with « in the original sense of the term, i. e. with the actual quest for truth which is animated by the conviction that that quest alone makes life worth living, and which is fortified by the distrust of man’s natural propensity to rest satisfied with satisfying, if unevident or unproven, convictions.“116
2.6 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadla Der Leser hat vielleicht bereits bemerkt, dass meine Untersuchung des König-Philosophen auf die politisch-spekulative Rekonstruktion dieses Begriffs im ganzen Werk von Alfarabi abzielt, nämlich von den ersten Hinweisen auf den König-Philosophen bis zu dessen tiefgehender und durchartikulierter Analyse. Aus diesem Grund bin ich dabei nicht der Chronologie von Alfarabis Werken gefolgt, die ohnehin höchst umstritten ist. Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State)117 ist das einzige Werk Alfarabis, dessen Entstehungszeit bekannt ist (945, fünf Jahre 116 Leo Strauss, Farabi’s Plato, op. cit., S. 393. Siehe auch: Erwin I. J. Rosenthal, The Place of Politics in the Philosophy of Alfarabi, in: Islamic Culture. The Hyderabad Quarterly Review XXIX (1955), S. 157–181; Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Wisdom in Plato, al-Fârabî, and Maimonides, in: William M. Brinner/Stephen D. Ricks, Studies in Islamic and Judaic Traditions, op. cit., S. 205–232. 117 Die von Richard Walzer herausgegebene Ausgabe entsteht aus dem Vergleich von zehn Manuskripten auf Arabisch: Alfarabi on the Perfect State, Oxford 1985. Siehe auch die deutsche Übersetzung von Friedrich Dieterici, welcher mit der kritischen Untersuchung dieses Werks – trotz vieler inhaltlicher und formaler Mängel – begann: Friedrich Dieterici, Madina Fadila, Leiden 1895; ders., Philosophische Abhandlungen, Leiden 1890. Siehe auch: Paul Broennle (Hrsg.), Die Staatsleitung von Alfarabi. Deutsche Bearbeitung mit einer Einleitung ‚Über das Wesen der arabischen Philosophie‘ aus dem Nachlasse des Geh. Regierungsrats Dr. F. Dieterici, Leiden 1904. Was die Sekundärliteratur betrifft, habe ich vor allem die folgenden Werke benutzt: Erwin I. J. Rosenthal, The Place of Politics in the Philosophy of Alfarabi, op. cit.; der., Alfarabi: The Foundation, in: Political Thought in Medieval Islam, op. cit., S. 124 ff; Muhsin Mahdi, Prophecy and Revelation in Alfarabi’s Political Philosophy, in: Roshid Rashed/Joël Biard, Les doctrines de la science de l’antiquité à l’âge classique, Leuven 1999, S. 165 ff; Sarah Stroumsa, Freethinkers of Medieval Islam: Ibn al-Rawandi, Abu Bakr al-Razi, and their
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vor seinem Tod). Er schrieb dieses Werks nicht, um einen utopischen Staat nach dem Vorbild Platons zu begründen, da das Vorbild das damalige hamdanidische Kalifat in Aleppo war (das würde auch den Umzug von Alfarabi ca. im Jahr 940 dorthin erklären).118 Das abbasidische Kalifat in Baghdad wurde im Jahr 945 von dem Kalifat in Aleppo besiegt, das neue Kalifat konnte sofort die Sympathie der Imame gewinnen. Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl alMadina al-Fadila (On the Perfect State) stimmt vollkommen mit der Interpretation der Imame überein: in der Betonung der auch nach den Tagen von Muhammad sich fortsetzenden Offenbarung (wahy) und der philosophischen Bestimmung der Beziehung zwischen dem Menschen und der höchsten Welt als das höchste Niveau, das der Mensch dank des metaphysischen Denkens erreichen kann. Die Offenbarung ist somit mit der echten Vorstellung verbunden, da sie aus der menschlichen Einbildungskraft stammt. Die echte Vorstellung ist der intuitiven Vernunft nahe, aber sie bleibt ihr untergeordnet.119 Trotz dieser Hauptthemen ist Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State) weder ein Werk für Spezialisten noch ein Kommentar für solche, die Philosophie studieren (wie z.B. der Kommentar von Alfarabi zu De Interpretatione von Aristoteles). Selbstverständlich richtet es sich an ein begrenztes Publikum, aber die Tatsache, dass Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State) bis zum 18. Jahrhundert in den verbliebenen überlieferten Manuskripten ständig gelesen und ständig interpretiert wurde, bedeutet, dass dieses Werk nicht nur für eine in sich geschlossene Gesellschaft von ‚Auserwählten‘ konzipiert wurde. Aus diesem Grund versuchte Alfarabi auch, die griechische Begrifflichkeit mit der islamischen zusammenzubringen, ohne dabei die philosophische arabische Sprache zu verwenden: Sein Buch sollte für jeden des Arabi-
Impact on Islamic Thought; Leiden 1999; Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Wisdom in Plato, al-Fârâbî, and Maimonides, op. cit.; Hans Daiber, Political Philosophy, in: Seyyed Hossein/Oliver Leaman (Hrsg.), History of Islamic Philosophy, London/New York 1996, S. 841–885; Shlomo Pines, Studies in the History of Arabic Philosophy, hrsg. von Sarah Stroumsa, Jerusalem 1996; Joel L. Kraemer, Alfarabi’s Opinions of the Virtuous City and Maimonides’ Foundations of the Law, in: Studia Orientalia Memoriae D. H. Baneth Dedicata, Jerusalem 1979, S. 107–153; Francesco Gabrieli (Hrsg.), Alfarabius Compendium Legum Platonis, Bd. 3 (Plato Arabus), London 1952; Ibrahim Madkour, La place d’Alfarabi dans l’école philosophique musulmane, Paris 1935; Haroon K. Sherwani, Alfarabi’s Political Theories, in Islamic Culture (Juli 1938), S. 288 ff; Moritz Steinschneider, Alfarabi, St. Petersburg 1869. 118 Eine unterschiedliche Interpretation bietet Muhsin Mahdi in seiner folgenden Besprechung an: Al-Farabi’s Imperfect State: Al-Farabi on the Perfect State: Abu Nasr al-Farabi’s Mabadi Ara Ahl al-Madina al-Fadila, Richard Walzer, in: Journal of the American Oriental Society, Bd. 110, Nr. 4. (Okt. – Dez., 1990), S. 691–726. Hier möchte ich mich bei Hans Daiber bedanken, der mich auf diesen Aufsatz aufmerksam machte. 119 Das Kapitel 14 von On the Perfect State beschäftigt sich grundsätzlich mit diesem Thema.
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schen mächtigen Menschen zugänglich sein, auch für die im Reich des Islam lebenden Christen und Juden, sofern sie Arabisch konnten. Am Aufbau des Werks verblüfft zunächst die thematische Vielfalt120: a) Kap. 1–3 und Kap. 6–7: die Erste Ursache und die überirdischen Wesen (die unveränderbare ewige Welt); b) Kap. 4–9: die vergehende und veränderliche sublunarische Welt der Natur (der Mensch ausgeschlossen); c) Kap. 10–12: Seele und Leib des Menschen; d) Kap. 13: der menschliche Intellekt; e) Kap. 14: die Einbildungskraft der Seele; f) Kap. 15: der vollkommene Staat und seine Verirrungen; g) Kap. 16: das Schicksal der Seele der Bürger der unterschiedlichen Staaten im Jenseits; h) Kap. 17: der Unterschied zwischen Philosophie (hier als natürliche Theologie verstanden), religiösem Symbolismus und den unterschiedlichen Arten dialektischer Theologie; i) Kap. 18–19: die falschen Meinungen der Bürger in den ungebildeten und fehlgeleiteten Staaten. Insgesamt kann man fünf Abschnitte ausmachen (Kap. 1–3 erster, Kap. 6–7 zweiter, Kap.4–9 dritter, Kap. 10–14 vierter und Kap. 15–19 fünfter Abschnitt). Es wäre ein grober Fehler, zu glauben, dass diese fünf Abschnitte unabhängig voneinander studiert werden können. Es ist zwar richtig, dass ihre Themen sehr unterschiedlich sind (Metaphysik, Naturwissenschaft und Ethik), trotzdem haben sie eine Verbindung im politischen Charakter des ganzen Werks. Der neuplatonische Charakter des Werks von Alfarabi hat jedoch einen stärkeren politischen Akzent als die platonische Auslegung von Proclus und Plotinus, da Alfarabi weder in einer polis wie das Athen des 4. Jahrhunderts v. c. Z. noch in einem Nationalstaat wie dem hellenistischen ptolemäischen Ägypten bzw. in einem republikanischen Staat wie Rom lebte. Seine politische Realität war das vom religiösen und säkularen Nachfolger Muhammads (dem Kalifen) geleitet muslimische ‚Commonwealth‘. Die mit der politischen Autorität verbundenen Probleme waren komplexer und einmalig im Vergleich zu den politischen Realitäten zu Alfarabis Zeit, jedoch zeigte sich die griechische Gesetzgebung als sehr hilfreich für das Begreifen der Probleme zur Zeit Alfarabis.
120 Siehe die von Richard Walzer kommentierte Kurzfassung jedes Kapitels von Yaöyâ ben ’Adî: Alfarabi On the Perfect State, op. cit., S. 331ff.
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Der neuplatonische Ansatz von Alfarabi beinhaltet einen weiteren besonderen Aspekt: Die Beschreibung der unterschiedlichen Aspekte der Philosophie ist nicht so detailliert wie zum Beispiel in der Enzyklopädie von Ibn Sina (Al-Fifa’, „Genesung“) und in vielen anderen muslimischen Werken aus der Zeit zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert. So gut wie unerwähnt bleiben zum Beispiel die unterschiedlichen Aspekte der Astronomie, der Biologie, der Psychologie und der formalen Logik. Die Betonung fällt bei Alfarabi nicht auf die innere Vielschichtigkeit der Gebiete der Philosophie, sondern vielmehr auf das proportionierte Gerechtigkeitsgleichnis in der Welt der Natur. Aus diesem Prinzip leitet Alfarabi drei Teile seines Werks ab: die Struktur des ewigen Universums außerhalb des Mondes oder die Theologie, die veränderliche Welt des Werdens unter dem Mond oder die Naturwissenschaft, den teleologischen Zweck des menschlichen Leibs oder die Ethik. Der Leib spiegelt das Gerechtigkeitsgleichnis des Kosmos und der Welt der Natur wider. Richard Walzer schreibt hierzu: „Man, we are told, has his own independent moral life; he is not the product of heredity, of individual inborn qualities alone, but contributes very substantially to his perfection by his own efforts. He can and should make his own selection and choice in free deliberation, acting in conformity with the geometric equality and justice which rules nature, and thus rising to the splendour of the spiritual world described in the earlier part of the Ârâ’.“121
Das Begreifen der Vollkommenheit in der ewigen Welt (erster Abschnitt des ’Ara’) sowie das Begreifen des Gerechtigkeitsgleichnisses in der Welt der Natur (zweiter Abschnitt) soll der Zweck des Menschen (dritter Abschnitt) sein. Wie Platon ist Alfarabi davon überzeugt, dass der auf einen solchen Zweck ausgerichtete Mensch in einer kollektiven Lebensform leben muss122, er kann seine Vollkommenheit und seine Gerechtigkeit nur als Mitglied einer Gemeinde finden, die auf die Verwirklichung des vollkommenen Staates (madina al-fadila) sowie auf das höchste ethische Niveau des Zusammenlebens zielt. ‚Ethik‘ im Sinne des griechischen Ethos wird von Alfarabi durch das Wort ’iradi wiedergegeben, das auf Arabisch ‚freiwillig, willkürlich‘ bedeutet: Die Realisierung der Ethik im vollkommenen Staat wird der Wahlfreiheit des Menschen zugeschrieben, die ihrerseits auf der rationalen Fähigkeit basiert.
121 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State), op. cit., S. 9. 122 Der arabische Ausdruck hayawan ’ins bzw. hayawan madani, der am Anfang des Kap. 15 hervortritt, entspricht dem aristotelischen zoon politikon.
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Die islamische Ethik123 (aölaq, ‚eingeborener Charakterzug‘) – mit der ich mich an dieser Stelle nicht ausführlich beschäftigen kann – hat sich sehr langsam entwickelt, und ihre zahlreichen Elemente sind erst zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert entstanden. Während die Ethik in der griechischen Kultur aus dem rationalistischen philosophischen Denken ohne Einflüsse fremder Traditionen entstand, gibt es im Islam die Kombination zwischen vorislamischen arabischen Traditionen (die persische und die griechische im Besonderen) einerseits und dem heiligen Wort des Qur’an andererseits. Das bedeutet auch, dass die islamische Ethik ursprünglich von Philosophen, Mystikern und religiösen Gesetzgebern aus praktischen Gründen bestimmt wurde; sie sollte nämlich politischen Leitern sowie den Bürgern der unterschiedlichen Gemeinden eine Zusammenstellung praktischer Ratschläge zur Verfügung stellen. Es ist faszinierend, zu erkennen, wie die unterschiedlichen Quellen der islamischen Ethik jahrhundertelang nebeneinander existierten und die Konzeption der praktischen Philosophie als ein aus aölaq (Ethik), al->ilm al-madani (Politik) und tadbir al-manzil (Ökonomie) bestehendes Denken aufbauten, ebenso ist es faszinierend, dass man diese unterschiedlichen Traditionen im Islam in Einklang zu bringen versuchte. Richard Walzer schreibt hierzu: „That ought to be the supreme aim of philosophical thought and, should an opportunity arise […], of action in accordance with philosophy; it will then eventually amount to an admirable adaptation of Platonic truth to the realities of the Muslim world.“124
123 Siehe die Encyclopaedia of Islam (CD-Version, Leiden 1999): Richard Walzer, Akölâk (plural of Kkuluk, „innate disposition“), ethics. Bis heute ist keine umfassende Geschichte der islamischen Ethik geschrieben worden. Einige ihrer Aspekte sind in folgenden Werken ausgearbeitet worden: Werner Zager (Hrsg.), Ethik in den Weltreligionen: Judentum – Christentum – Islam, Neukirchen-Vluyn 2004; Jonathan E. Brockopp, Islam Ethics of Life: Abortion, War, and Euthanasia, Columbia (South Carolina) 2003; Hans G. Nutzinger, Christliche, jüdische und islamische Wirtschaftsethik, Marburg 2003; Matthias S. Viertel, Grundwerte in christlicher und islamischer Gesellschaft: auf der Suche nach einer Ethik der Zivilisation, Hofgeismar 2003; Sohail H. Hashmi, Islamic Political Ethics: Civil Society, Pluralism and Conflict, Princeton (NJ) 2002; Ilhan Ilkiliç, Das mulsimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Gottesgnade und dessen Bedeutung für die Medizinethik, Bochum 2000; Ufuk Ucum, Wirtschaftsethik in Christentum und Islam, Frankfurt/M. u.a. 1998; Ingmar Wienen, Impact of Religion on Business Ethics in Europe and the Muslim World, Frankfurt/M. 1997; Wardît Rispler-Hayyîm, Islamic Medical Ethics in the Twentieth Century, Leiden 1993; Majid Fakhry, Ethical Theories in Islam, Leiden 1991; Richard G. Hovannisian (Hrsg.), Ethics in Islam: 9th Giorgio Levi della Vida Biennial Conference 1983, Malibu 1985; Carl Heinz Ratschow (Hrsg.), Ethik der Religionen: ein Handbuch. Primitive, Hinduismus, Buddhismus, Islam, Stuttgart u.a. 1980; Jean-Paul Charnay, Normes et valeurs dans l’Islam contemporain, Paris 1966; Michael A. Cook, Forbidding Wrong in Islam, Cambridge (Mass.) 2003; Louis Gardet, La cité musulmane, Paris 1954; C. E. von Grünebaum, Medieval Islam, Chicago 1946; D. B. Macdonald, The Religious Attitude and Life in Islam, Chicago 1909. 124 Ibidem.
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Das komplexe und trotzdem einheitliche Programm von Alfarabi stammt aus zwei unterschiedlichen Kritiken: der Kritik am griechischen Platonismus – dessen Stellungnahme platonische Lehre und konkretes Leben voneinander trennte – und der Kritik an der muslimischen dialektischen Theologie (Kalam)125 hinsichtlich der Debatte über den höchsten Leiter. Alfarabi stellt an die Seite von Gott konkrete politische Gestalten sowie politisch interpretierte theologische Begriffe, die eine neue Konzeption des höchsten Leiters in die muslimische Welt einführen: ’imam, wahy (Offenbarung), nabiy (Prophet), ruh al-qudus (heiliger Geist) und malik (König). Meine Untersuchung konzentriert sich auf diese Gestalten im dritten Abschnitt des ’Ara’ (Kap. 14–17), um die Transformation des platonischen König-Philosophen in der Spätentwicklung des politischen Denkens von Alfarabi erörtern zu können.
2.7 Der König-Philosoph in Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State) Wie ’Abu ’Ishaq in seinem Anhang126 zur Zusammenfassung des Inhalts des ’Ara’ betont, impliziert das Wort madina bereits einen politischen und religiösen Bezug auf den höchsten Leiter.127 Dieses Wort kommt vom Stamm ‚d-y-n‘, der ‚richten‘ bedeutet. Madina ist entsprechend dem Aramäischen ursprünglich der Bezirk eines Richters; später hat sich die Bedeutung ‚einem Führer untergeordnet sein‘ im Arabischen entwickelt.128 Der Buchstabe ‚Mim‘ gehört ursprünglich nicht zu diesem Stamm. Im Allgemeinen arabischen Sprachgebrauch stammt madina, ursprünglich ein aramäisches Fremdwort129, aus einem bestimmten Verb, das ‚städtisch werden‘ bzw. ‚zivilisiert werden‘ bedeutet. Die Unterwerfung, die in der madina stattfindet, ist also nicht die blinde Unterordnung eines unwissenden Menschen, sondern die bewusste bürgerliche Anerkennung der Notwendigkeit und der Vorteile, die das kollektive 125 Für eine Vertiefung der Theologie des Kalam siehe u.a.: Harry A. Wolfson, The Philosophy of the Kalâm, Cambridge (Mass.) 1976; ders., Repercussions of the Kalam in Jewish Philosophy, Cambridge (Mass.) 1979. 126 Alfarabi on the Perfect State, op. cit., S. 51ff. 127 Merkwürdigerweise taucht dieser Begriff genauso wie der Begriff ‚Ethik‘ im zweiten Teil von Al-Fârâbî’s Philosophical Lexikon von Ilai Alon (op. cit.) gar nicht auf. 128 Die Bedeutung ‚einen Glauben oder eine Religion bekennen‘, die nur im Arabischen existiert, stammt von einer homonymen Wurzel ‚d-y-n‘, die mit der Wurzel von madina nichts zu tun hat, daher sind beide im arabischen Lexikon von Hans Wehr und Lorenz Kropftisch (Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 19855) voneinander getrennt aufgeführt. 129 Siehe u.a.: Siegmund Fraenkel, Die aramäischen Fremdwörter im Arabischen, Leiden 1886 (Hildesheim 19822).
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Zusammenleben durch einen politischen bzw. religiösen höchsten Leiter gewinnt. Bereits im Wort madina sind also die drei Hauptaspekte dieses Werks von Alfarabi implizit enthalten: die Theologie (der religiöse höchste Leiter), die Naturwissenschaft (die Ordnung der Natur als Vorbild für die Ordnung der madina) und die Ethik (die aktive Rolle des Einzelnen in der Gemeinde: „[…] Unterstützung für die rationale Fähigkeit wird in erster Linie durch den Körper geleistet. Die rationale Fähigkeit ist zum Teil praktische Vernunft und zum Teil theoretische Vernunft; praktische Vernunft ist dazu geschaffen, der theoretischen Vernunft zu dienen. Theoretische Vernunft ist jedoch nicht geschaffen, um irgendetwas anderem zu dienen, sondern hat nur den Zweck, den Menschen zur Glückseligkeit zu führen“130). Diese drei Bereiche können auch in Alfarabis’ Beschreibung der menschlichen Seele erkannt werden, die dem aristotelischen Modell folgt. Die Seele stammt aus dem universalen und unendlichen Intellekt und wirkt in der Welt durch die Vermittlung der freien menschlichen Handlung. Das impliziert ein Problem, welches das griechische Denken der Politik niemals hatte, nämlich die Koexistenz eines überirdischen (Ursprung in der Himmelssphäre) und eines irdischen Aspekts (Wirkung in der irdischen Welt) in der Bestimmung des höchsten Leiters als der vollkommensten Seele. Entsprechend beginnt das ’Ara’ mit der Beschreibung der Ersten Ursache von allem Seiendem (Die Erste Ursache ist Eine und Geist131) und schließt mit der Beschreibung der Städte, die von einem falschen höchsten Leiter politisch geleitet werden. Von vornherein begleitet das aristotelische Modell der Seele die Untersuchung Alfarabis der politischen Gemeinde: Genauso wie die erste Fähigkeit der Seele die Ernährung ist, ist auch der erste Grund für die Entstehung eines politischen Organismus die Befriedigung der primären materiellen Bedürfnisse (salama, ‚Gesundheit‘, entspricht in der arabischen Welt einer solchen Befriedigung). An diesem Punkt findet man bereits eine neuplatonische Harmonisierung von Aristoteles und Platon; man liest am Anfang des II. Buchs der Politeia: „Es entsteht also […] eine Stadt, […] weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf. […] Auf diese Weise also wenn einer den andern den zu diesem und den wieder zu jenem Bedürfnis hinzunimmt, und sie so vieler bedürftig auch viele Genossen und Gehülfen an Einen Wohnplatz versammeln, ein solches Zusammenwohnen nennen wir eine Stadt.“132
130 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State), op. cit., S. 209 (Übersetzung von F. Y. A.). 131 Ibidem, S. 57ff (Übersetzung von F. Y. A.). 132 Platon, Politeia, II 369 c.
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Dasselbe liest man am Anfang des Kap. 15 des ’Ara’: „Um sich selbst zu erhalten und seine höchste Vollkommenheit zu erlangen, bedarf jeder Mensch von Natur aus vieler Dinge, welche er nicht alle allein beibringen kann. […] Deshalb kann der Mensch nur dann Vollkommenheit für das erlangen, wozu seine angeborene Natur ihm gegeben wurde, wenn viele zusammenarbeitende Menschen zusammenkommen, die alle zu einem spezifischen Bedarf beitragen, so dass als ein Ergebnis des Beitrags der gesamten Gemeinschaft alle Dingen zusammengebracht werden, die jeder zu seiner eigenen Erhaltung und zur Erlangung der Vollkommenheit benötigt.“133
Der Entstehungsgrund der Stadt bei Platon wurde von Alfarabi mit dem Ziel der Seele bei Aristoteles zusammengedacht, so in Kap. 14 des ’Ara’: Die vollkommenste Stufe der Seele ist die Einbildungsfähigkeit, die als vermittelnde Stufe zwischen der Sinnenfähigkeit und der rationalen Fähigkeit dem Menschen erlaubt, die Erkenntnis des Intelligiblen durch den aktiven Intellekt zu gewinnen – wie bei Moses im Sefer ha-Madda> von Maimonides. Alfarabi schreibt diesbezüglich: „Folglich ist es nicht unmöglich, dass wenn die Fähigkeit eines Menschen zur Repräsentation ihre höchste Vollkommenheit erreicht, er in seinem wachen Leben vom Aktiven Intellekt gegenwärtige und zukünftige Einzelheiten ihrer Nachahmungen in Form von Sinneswahrnehmungen und die Nachahmungen der transzendenten Intelligiblen und der anderen herrlichen Existenz erhalten und sie sehen wird. Dieser Mensch wird durch die Einzelheiten, die er erhält, ‚Prophetie‘ (übernatürliches Bewusstsein) von gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen erlangen, und durch die Intelligiblen Prophetie göttlicher Dinge erlangen. Dies ist die höchste Stufe der Vollkommenheit, welche die Fähigkeit der Repräsentation erreichen kann.“134
Einbildungsfähigkeit, Vollkommenheit und Prophetie sind also die Kernelemente, um die politische Beschreibung des höchsten Leiters bei Alfarabi begreifen zu können, und diese Gestalt entsteht aus dem spekulativen Versuch, Platon, Aristoteles und den Qur’an zusammenzudenken. Da nur die Stadt auf die empirischen Bedürfnisse des Menschen reagieren kann, ist sie die unausweichliche Vorbedingung für das Hervortreten des höchsten Leiters, obwohl selbstverständlich nicht alle Städte zur Vollkommenheit gelangen können. An dieser Stelle kann ich nicht die Gattungen unvollkommener Städte beschreiben, die Alfarabi nach dem Modell Platons ausarbeitet135, sondern nur kurz darauf aufmerksam machen, dass die zweitbeste Stadt bei Alfarabi vom Gesetz statt vom höchsten Leiter geleitet wird. Diese Akzentuierung
133 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State), op. cit., S. 229 (Übersetzung von F. Y. A.). 134 Ibidem, S. 225 (Übersetzung von F. Y. A.). 135 Siehe u.a.: Erwin I. J. Rosenthal, The Place of Politics in the Philosophy of Alfarabi, op. cit., S. 168ff; ders., Political Thought in Medieval Islam, op. cit., S. 134ff.
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hilft uns, den Unterschied zwischen der Funktion des höchsten Leiters (Leitung der Weisheit) und der Funktion des Gesetzes (Leitung des nomos) im reifen politischen Denken von Alfarabi zu begreifen.136 Nach Platon ist die beste Regierung diejenige, in welcher der Weise nicht nach den Regeln seiner Vorgänger, sondern nach den Regeln seiner theoretischen sowie praktischen Vernunft waltet. Mit anderen Worten: In der besten politischen Regierung steht der weise philosophische Leiter über dem Gesetz, auch wenn dieses Gesetz die beste mögliche Nachahmung der Weisheit ist.137 Diesen Vorrang des höchsten Leiters gegenüber dem Gesetz gibt es nicht bei Alfarabi, aber das überrascht uns nicht. Das Gesetz, worauf sich Alfarabi bezieht, ist keineswegs der griechische nomos – oder zumindest nicht nur der griechische nomos –, sondern die muslimische sˇari>a, nämlich das durch den Propheten offenbarte Gesetz, dessen Realisierung zu einer zweifachen Vollkommenheit führt: zur Glückseligkeit im Diesseits und zur Glückseligkeit im Jenseits. Die Verwirklichung der sˇari>a und des nomos zugunsten der empirischen sowie der überempirischen Glückseligkeit138 ist die primäre Aufgabe des König-Philosophen. Berufung auf den nomos im juridischen Denken von Alfarabi, mithin die Bewahrung des rationalen Ursprungs des Gesetzes, führt dazu, dass in Alfarabis Welt zugleich ein Element von Universalismus enthalten ist, das über die muslimische Welt hinausweist, ein Element, das am Schluss des dritten Paragraphen von Kapitel 15 deutlich in Erscheinung tritt: „[…] und die Gesellschaft [madina], in welcher es Zusammenarbeit zur Erlangung von Glückseligkeit gibt, ist eine vortreffliche Gesellschaft; und die Nation [madina], in welcher all ihre Städte für die Dinge zusammenarbeiten, durch welche Glückseligkeit erlangt wird, ist eine tugendhafte Nation [madina fadila]. Ebenso
136 Für eine Vertiefung dieser Thematik siehe: Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Wisdom, op. cit., S. 207ff. 137 Platon, Politeia, 497c, 473c-e, 499b-d und 488a ff; ders., Politikos, 293a–300e. Jeffrey Macy unterstreicht die einzige relevante Differenz, die man zwischen Platon und Alfarabi diesbezüglich feststellen kann: „[…] [A]s both Plato and al-Fârâbî recognized […], the ideal of a philosopher-king ruling in a virtuous city is, to say the least, not always realizable. On the one hand, a philosopher-king is rarely to be found. On the other hand, Plato (on this point in partial contrast to al-Fârâbî) emphasizes that the establishment of a regime where the rule of such a man will be accepted by the rest of the populace is difficult to envision without radical changes being made in every regime which exists or is known to have existed. Further, at least according to Plato’s Socrates – in this case in complete contrast to alFârâbî – it is not clear that a philosopher would wish to be a kind (i.e., to rule).“ (Jeffrey Macy, The Rule of Law and the Rule of Window, op. cit., S. 206) An dieser Stelle beschäftige ich mich nicht mit dem platonischen ‚göttlichen‘ Gesetz in Nomoi (712e, 803c–804b sowie das ganze Buch X), weil die Gestalt des König-Philosophen dort nur kurz und nicht schlüssig behandelt wird (709e–712a und 875c-d). 138 Das Wort sa>ada taucht stets in der Singularform auf, um zu verdeutlichen, dass von derselben Glückseligkeit die Rede ist – obgleich in zwei unterschiedlichen Sphären.
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wird der vortreffliche universelle Staat [madina] nur entstehen, wenn alle Nationen in ihm für das Ziel der Erreichung der Philosophie zusammenarbeiten.“139
Das konkrete Modell dieser utopischen Vision ist das muslimische frühmittelalterliche Reich, in dem unterschiedliche Gemeinden (Juden und Christen zunächst, aber auch unterschiedliche islamische Stämme) lebten: Unter der Leitung des König-Philosophen, der die Prophetie der sˇari>a mit der Rationalität des nomos kombiniert, werden diese Gemeinden im politischen Denken von Alfarabi einen einzigen Organismus bilden. Diese physikalische Metapher wird am Anfang des nachfolgenden Kapitels ausgedrückt, in dem Alfarabi die madina fadila mit dem gesunden Leib vergleicht. Nach der damaligen arabischen Medizin spielt das Herz die entscheidende Rolle, da es die unterschiedlichen Funktionen der anderen Organe koordiniert. Das Herz macht somit das physische Leben des Leibs vollkommen und bewahrt es durch die Leitung der Funktionen der anderen Organe. Man könnte daraus zu dem einfachen Schluss kommen, dass Alfarabi den höchsten Leiter mit dem Herzen vergleicht, während die soziale Position der anderen Bürger von den Funktionen abhängt, welche die Nähe bzw. die Distanz der Bürger zum bzw. vom höchsten Leiter bestimmen. Aber eigentlich wäre ein solcher Schluss unlogisch, da die Organe eine natürliche Funktion haben, die sie nicht nach eigenem Willen gewählt haben, während die Menschen ihre Rolle in der Gemeinde nach ihrem ’irada, nämlich nach ihrem freiwilligen bzw. willkürlichen Handeln bestimmen. Die eingeborenen Charakterzüge können durch das Studium des Gesetzes – also durch die Erkenntnis – ständig modifiziert werden, so dass nicht Gott, sondern der Mensch selber bestimmt, wer die Funktion des höchsten Leiters übernehmen kann. An dieser Stelle tritt die islamische Verknüpfung zwischen Politik und Ethik sowie die enge Beziehung auch zur Wirtschaft als drittem Teil der islamischen praktischen Philosophie deutlich zum Vorschein, da das Handeln des höchsten Leiters die Ordnung in jeder kollektiven Aktivität bestimmt. Alfarabi schreibt in diesem Zusammenhang: „Ebenso ist der Herrscher der Stadt der vollkommenste Teil der Stadt in seinen Fähigkeiten und hat das Beste von allem, was jeder man mit ihm teilt; unter ihm sind Menschen, die von ihm regiert werden und andere regieren. […] Dies trifft auf alle existierenden Wesen zu. Denn die Beziehung der Ersten Ursache zu den anderen existierenden Wesen ist wie die Beziehung des Königs der vortrefflichen Stadt zu ihren anderen Teilen. […] All diese existierenden Wesen handeln in Übereinstimmung mit der Ersten Ursache, folgen ihr, nehmen sie zu ihrem Führer und ahmen sie nach; aber jedes existierende Wesen tut dies zufolge seiner Fähigkeit, sein Ziel genau entsprechend der Stärke seines festgelegten Ranges im Universum wählend […].“140 139 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State), op. cit., S. 231 (Übersetzung von F. Y. A.). 140 Ibidem, S. 235–239 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Die Vollkommenheit des Kosmos spiegelt sich in der Vollkommenheit der madina unter der Leitung des höchsten Leiters genauso wider, wie der Leib Vollkommenheit durch die Leitung seines Herzens erwirbt: Der Hauptunterschied zwischen dem Herzen einerseits und der empirischen bzw. überempirischen Welt andererseits besteht in der Entscheidungsfähigkeit der Wesen. Selbstverständlich hat der höchste Leiter bereits in sich einen ’irada, mithin eine eingeborene Fähigkeit zum Lernen und zum Leiten, aber diese Fähigkeit soll durch das aktive Lernen und die konkrete Erfahrung im Zusammenhang mit den anderen Menschen entwickelt werden. Allein, der ’irada ist keine ausreichende Vorbedingung, um den Rang des höchsten Leiters zu erreichen; seine Fähigkeit ist keiner anderen untergeordnet, da der höchste Leiter genau durch seine erworbene Fähigkeit die anderen Fähigkeiten fördert und unterstützt, damit sie ihr eigenes Ziel erreichen können. Alfarabi beschreibt und definiert einen solchen Leiter in Paragraph 8: „Dieser Mann ist eine Person, über die niemand irgendeine Herrschaft hat. Er ist ein Mann, der seine Vollkommenheit erreicht hat und der tatsächlicher Intellekt und tatsächlich existierendes Denken geworden ist, seine repräsentative Fähigkeit hat von Natur aus in der von uns beschriebenen Art ihre höchste Vollkommenheit erreicht; diese Fähigkeit von ihm ist von Natur aus darauf festgelegt, entweder im wachen Leben oder im Schlaf, vom Aktiven Intellekt die Einzelheiten, entweder so wie sie sind oder durch Nachahmung, und auch die Intelligiblen durch Nachahmung zu empfangen. Sein Passiver Intellekt wird seine Vollkommenheit durch [Begreifen] aller Intelligiblen erreicht haben, so dass ihm nichts vorenthalten ist und er wird tatsächlicher Intellekt und tatsächlich existierendes Denken geworden sein.“141
Dieser Abschnitt erinnert uns an die prophetische Fähigkeit von Moses im Sefer ha-Madda>: Moses war der größte aller Propheten, da sein auf der rationalen Fähigkeit basierender passiver Intellekt dem aktiven Intellekt im Wachzustand begegnete und somit ein erworbener Intellekt wurde, der alle Intelligiblen auszeichnet. Alfarabi scheint aber dieses ‚epistemologische‘ Niveau nicht auf Moses einschränken zu wollen, wenn er schreibt, dass alle Menschen die natürliche Disposition haben, zum wirklichen Intellekt gelangen zu können. Der Mensch wird Mensch, wenn er das Niveau des wirklichen Intellekts erreicht, und dieses Niveau wird von der rationalen Fähigkeit aller Menschen garantiert, es hat nämlich einen universalen Wert. Dieses Niveau ist aber noch nicht ausreichend, um den vollkommensten Rang der Menschheit – den Rang der Prophetie – zu erreichen, der den Menschen auch zur vollkommensten Glückseligkeit führt:
141 Ibidem, S. 241 (Übersetzung von F. Y. A.).
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„Und wenn die natürliche Veranlagung zum Gegenstand des Passiven Intellektes gemacht wird, der tatsächlicher Intellekt geworden ist, und der Passive Intellekt zum Gegenstand des Erlangten Intellektes, und der Erlangte Intellekt zum Gegenstand des Aktiven Intellektes und wenn all dies als ein und dieselbe Sache genommen wird, dann ist der Mensch ein Mensch, auf den der Aktive Intellekt herabgekommen ist, […] dann ist es dieser Mensch, der göttliche Offenbarung erlangt, und Gott der Allmächtige gewährt ihm Offenbarung durch die Vermittlung des Aktiven Intellektes, so dass die Emanation von Gott dem Allmächtigen zum Aktiven Intellekt auf seinen Passiven Intellekt durch die Vermittlung des Erworbenen Intellektes und von dort auf die Fähigkeit der Repräsentation übertragen wird.“142
Die Offenbarung als neuplatonischer Abstieg des aktiven Intellekts in den passiven und die Prophetie als Einbildungskraft für die Kommunikation der erkannten Wahrheiten sind die erste Vorbedingung, durch die der Leiter einer Kollektivität als politischer Leiter bestimmt werden kann: die Erkenntnis alles Handelns, das zur Glückseligkeit führt. Somit ist der politische Leiter zugleich ’Imam (‚derjenige, dessen Vorbild gefolgt werden muss‘), erster Leiter der Gemeinde, König (malik) der perfekten Stadt (al-madina al-fadila) und endlich König des universalen Staates (al-madina al-fadila). Genaugenommen hat der Ausdruck al-madina al-fadila bei Alfarabi zwei Bedeutungen: er bezeichnet zum einen die einzelne islamische Gemeinde und zum anderen den Staat als Zusammenhang unterschiedlicher Gemeinden qua Nationen (im griechischen Sinn des Wortes polis). Das Modell ist nicht das islamische Reich, in dem die Toleranz gegenüber den zahlreichen religiösen und ethnischen Gemeinden niemals bis zur Anerkennung ihrer politischen Selbstständigkeit führte, und auch nicht eine Art ‚Islamisierung‘ der Welt. Die griechische oikumene, auf die sich Alfarabi mit großer Wahrscheinlichkeit bezieht, besteht wohl aus unterschiedlichen kollektiven Realitäten, in denen aber die jeweiligen ersten Leiter dieselben Charakterzüge aufweisen. Die oikumene als universaler Staat besteht aus unterschiedlichen Gemeinden, die aber gemäß der Rationalität der jeweiligen Leiter geführt werden. Der Universalismus liegt für Alfarabi also in der Fähigkeit des Königs, seine natürlichen Dispositionen auf die Anerkennung des höchsten vollkommensten Zwecks – der Glückseligkeit – auszurichten, dass ein geordneter politischer Kosmos entstehen kann, welcher mit der Ordnung der Himmelssphären sowie mit der Ordnung des menschlichen Leibs übereinstimmt. Eine solche Interpretation erklärt, aus welchem Grund Alfarabi für den letzten Paragraphen von Kapitel 15 die beiden Hauptthemen wählt: Welches sind die natürlichen Eigenschaften des Königs, und welches ist die Beziehung des Königs zum Gesetz?
142 Ibidem, S. 245 (Übersetzung von F. Y. A.).
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2.8 Die natürlichen Züge des Königs und seine Beziehung zum Gesetz im ’Ara’ In Paragraph 12 listet Alfarabi die zwölf natürlichen Eigenschaften auf, die der König von Geburt an besitzt, um seine intellektuellen, körperlichen, die Erkenntnisfähigkeit betreffenden und ethischen Dispositionen im Laufe des Lebens zu entwickeln. Solche Eigenschaften sind nicht in bestimmte Gruppen aufgeteilt, Alfarabi versucht nicht, ein Kategorienverzeichnis aufzustellen, er sammelt vielmehr alle Züge, die zur Verwirklichung des Hauptzwecks des Königs führen. Die erste Eigenschaft basiert auf der körperlichen Gesundheit des Königs, so dass er zum Handeln auch in der Lage ist: Die theoretische Vollkommenheit eines Leiters verwirklicht sich nicht in der konkreten politischen Handlung, wenn der König von körperlichen Behinderungen eingeschränkt wird. Die Gesundheit des Organismus entspricht bei Alfarabi der Fähigkeit, alle vom intellektuellen Willen bestimmten Handlungen zu vollbringen. Auch der Geist des politischen Leiters soll von Einschränkungen frei sein, damit der König ohne Beschränkungen durch das Studium zum vollkommensten Niveau der Erkenntnis gelangen kann, nämlich dem Niveau, auf dem er die Wahrheit und den wahrhaften Menschen anerkennt und der Intellekt die zentrale Rolle beim Streben nach der Erkenntnis einnimmt. Dank der ständigen Konzentration auf dieses höchste Ziel lehnt der König alle Übertreibungen im Rahmen der weltlichen Lüste ab, welche die Entwicklung der voll erschlossenen Universalität des Geistes (hier bezieht sich Alfarabi wahrscheinlich auf das griechische megalopsychos) behindern. Mein Interesse konzentriert sich auf die letzten zwei natürlichen Eigenschaften des Königs, die meines Erachtens die Doppelfunktion des praktischen und des theoretischen Intellekts für sein Handeln betreffen: „(11) Er sollte von Natur aus Gerechtigkeit und gerechte Menschen lieben und Unterdrückung und Ungerechtigkeit und diejenigen, die sie ausüben, hassen; er sollte sich und anderen geben, was ihnen zusteht und die Menschen dazu anhalten, gerecht zu handeln und Barmherzigkeit gegenüber jenen zu zeigen, die durch Ungerechtigkeit unterdrückt werden; er sollte dasjenige unterstützen, was er für schön, edel und gerecht hält; er sollte weder widerwillig nachgeben, noch stur und starrsinnig sein, wenn er gebeten wird, Gerechtigkeit zu üben; sondern er sollte widerwillig nachgeben, wenn er gebeten wird, Ungerechtes oder Böses zu tun. (12) Er sollte mit Stärke seinen Geist auf die Sache lenken, die seiner Meinung nach getan werden muss, und sie wagemutig und tapfer ohne Angst und Wankelmütigkeit ausführen.“143
143 Ibidem, S. 249 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Die elfte Eigenschaft untergliedert sich in unterschiedliche Punkte, die aber einen gemeinsamen Nenner haben: die Gerechtigkeit. Während Alfarabi in seinen vorausgegangenen Werken stets behauptet hat, dass die Konzeption der Gerechtigkeit aus der Erkenntnis – nämlich aus dem Studium der Geistes- und Naturwissenschaften – stamme, erscheint im obenerwähnten Paragraphen des ’Ara’ bezüglich der Gerechtigkeit ein neues Element, das auch in der neuplatonischen und griechischen Welt neu ist: das ‚natürliche‘ Streben nach Gerechtigkeit sowie ein Gefühl des Abgestoßenseins („Hass“144, auf Arabisch ’ayn) durch den Unterdrücker und ein unmittelbares Mitgefühl („Barmherzigkeit“145, auf Arabisch rahma) mit den Unterdrückten. Die Beobachtung der Ungerechtigkeit in der Welt muss ein natürliches Gefühl im Menschen stimulieren, ohne das dieser nicht die theoretischen und praktischen Aspekte der Gerechtigkeit durch seinen Intellekt ergründen kann. Im Fall der Gerechtigkeit entsteht das Streben nach der Erkenntnis aus einem Gefühl und nicht aus einer empirischen Notwendigkeit, den eigenen Zustand sowie den Zustand der anderen Menschen zu verbessern. ’Ayn und rahma bezeichnen die Unvollkommenheit der Welt, die zuerst auf einer psychischen Ebene wahrgenommen wird. Jeder Mensch kann aus empirischen Gründen zu dem Schluss gelangen, dass allein die Gerechtigkeit Stabilität und Prosperität in die Gemeinde bringt; deswegen ist es logisch, sie zu realisieren. Doch das Streben des Menschen nach diesem Ziel wird dann nicht so intensiv sein wie das Streben dessen, der gefühlsmäßig von der Ungerechtigkeit abgestoßen ist. Das ist die emotionale Basis, von der Alfarabi bei der ethischen Untersuchung des Unterschieds zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sowie der zielstrebigen Verwirklichung der Gerechtigkeit durch das Handeln des höchsten Leiters ausgeht. Es ist ausreichend, dass sechs dieser natürlichen Züge bei einem Menschen zu finden sind, wenn er die Rolle des höchsten Leiters der Gemeinde übernehmen können und dürfen soll. Der Ausdruck ‚höchster Leiter‘ bedeutet keineswegs, dass er eine Art messianische Gestalt ist, mit der die politische Entwicklung der Gemeinde zu einem Ende gekommen ist. Alfarabi schreibt in Paragraph 13 deutlich, dass auf den höchsten Leiter ein anderer König folgen wird, der auch diese Eigenschaften hat und bei dem nach dem Erreichen seiner Reife die folgenden sechs Qualitäten zu finden sind: (1) Er ist ein Philosoph; (2) er wird sich der Gesetze sowie Normen des Benehmens des höchsten Leiters erinnern; (3) zugleich wird er eine hermeneutische Funktion ausüben, er wird nämlich neue Gesetze ‚analog‘ zu den Gesetzen des Vorgängers entwickeln; (4) das Gute zugunsten der Gemeinde ist das Hauptkriterium einer solchen juristischen Hermeneutik; (5) seine Rhe144 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). 145 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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torik (im griechischen Sinne des Wortes) wird den Menschen zur Anerkennung des Guten durch die Anwendung des Gesetzes führen; (6) die physische Gesundheit des Königs, da er auch imstande sein muss, Krieg (harb) zu führen.146 Da der Gebrauch des Wortes ‚Krieg‘ in Bezug auf einen muslimischen Denker zu irreführenden Schlüssen führen kann, möchte ich an dieser Stelle eine kurze Präzisierung hinsichtlich dieses Begriffs geben.147 Das Wort harb entstand im vor-islamischen Arabien, um den Kriegszustand zwischen zwei oder mehreren Gruppen zu bezeichnen. Da eine gesetzliche Ordnung und eine politisch organisierte Autorität damals noch nicht existierten, stellte der Kriegszustand den Alltag der arabischen Gemeinden dar.148 Erst nach dem Erscheinen des Qur’an, der das Vergießen von Blut von Muslimen verbietet, wird jedwede Form von harb unter den muslimischen Gemeinden untersagt. Zugleich wird der harb unter bestimmten Umständen auch als Krieg gegen andere Stämme bzw. andere Nationen (dar alharb) begriffen. Der harb ist eine kollektive Verpflichtung (fard al-kifaya), während das Beten oder das Fasten individuelle Verpflichtungen sind; die Muslime, welche diese individuellen Verpflichtungen nicht respektieren, bringen die Gemeinde in keine lebensbedrohliche Situation. Im Gegenteil dazu benötigt die Gemeinde die Zusammenarbeit aller Mitglieder im Fall eines Kriegs, die Verpflichtung des harb impliziert eine kollektive Dimen146 Ibidem, S. 252f. 147 Für eine ausführliche Untersuchung des Begriffs ‚Krieg‘ im Islam siehe u.a.: Alessandro Vanoli, Alle origini della Riconquista. Pratiche e immagini della guerra tra cristianitá e islam, Torino 2003; Bassam Tibi, War and Peace in Islam, in: Sohail H. Hashmi (Hrsg.), Islam Political Ethics. Civil Society, Pluralism, and Conflict, Princeton 2002, S. 175–193; Sohail H. Hashmi, Interpreting the Islamic Ethics of War and Peace, in: ders., Islamic Political Ethics, op. cit., S. 194–216; George T. Scanlon, A Muslim Manual of War, Kairo 1961; Vincent Lagardère, La notion de djihad à l’epoque almoravide, in: Cahiers de civilisation médiévale 41 (1998), S. 3–16; James Turner Johnson, The Holy War Idea in Western and Islamic Traditions, Philadelphia 1997; Alfred Morabia, Le gihad dans l’Islam médieval, Paris 1993; John Kelsay/ James Turner Johnson (Hrsg.), Just War and Jihad. Historical and Theoretical Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, New York/London 1991; Mark R. Cohen, Cross, Crescent and Sword. The Justification and Limitation of War in Western and Islamic Traditions, New York/Westport/London 1990 (deutsche Ausgabe: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter, München 2005); Hans H. Biesterfeldt, Heiliger Krieg? Zur Theorie und Praxis des Jihâd im mittelalterlichen Islam, in: Gerhard Binder/Bernd Effe (Hrsg.), Krieg und Frieden im Altertum, Trier 1989, S. 150–170. 148 Der pihad (‚heiliger Krieg‘) wird nur in dem Fall geführt, dass die religiösen Minderheiten im islamischen Reich versuchen, Muslime zu konvertieren. Erst seit dem 13. Jahrhundert wurde der pihad als Krieg gegen die ‚Ungläubigen‘ geführt, aber seine Durchführung und seine Konsequenzen unterscheiden sich innerhalb der differenzierten muslimischen Gemeinden deutlich. Am Ende des 12. Jahrhunderts schrieb Baha’addin Ibn Faddad (gest. 1234 in Aleppo) die ausführlichste theo-philosophische Untersuchung über den Begriff von pihad im mittelalterlichen Islam: Baha’addin Ibn Faddad, Die Tugenden des djihâd, Handschrift MS 203/H1 an der Nationalbibliothek der Hebrew University of Jerusalem.
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sion, die dem Gesetz der anderen monotheistischen Religionen unbekannt ist. Diese kollektive Dimension geht bis zu dem Punkt, dass auch Frauen, Kinder und Sklaven im Falle eines plötzlichen Angriffs gegen die Gemeinde dazu verpflichtet sind, am Krieg mitzuwirken. Als kollektive Verpflichtung wurde der harb bald ein politisches Instrument in der Hand des ’imam bzw. seiner Repräsentanten in den Provinzen. Der ’imam allein hatte das Recht, den Krieg wie auch sein Ende zu erklären, und nur unter der politischen Leitung des ’imam war der harb juridisch legitim. Der ’imam war auch für das legitime Verfahren des Kriegs verantwortlich, also für das Verhalten der Krieger gegenüber dem Feind. Ein ‚unethisches‘ Verhalten verwandelte einen legitimen harb in einen illegitimen Krieg. Diese Besonderheit des muslimischen Kriegsrechts wird von Majid Khadduri in seinem Aufsatz über den harb in der „Enyclopaedia of Islam“ deutlich herausgestellt: „In the prosecution of war, the Muslim warriors were under an obligation to refrain from unnecessary shedding of blood or the destruction of property. Noncombatants, such as women, children, monks, the aged, blind and insane, unless they helped in the war, were excluded from molestation.“
Unter dem Kalifen und vor allem in Baghdad, wo Alfarabi die längste Zeit lebte, wurden seit dem Ende des 5. Jahrhunderts zahlreiche ‚Handbücher‘149 über die muslimische Kriegsführung geschrieben, die sich aber weniger auf die Krieger, – wie Khadduri in seinem Aufsatz behauptet –, sondern mehr auf den Leiter der Gemeinde beziehen. Viele zeitgenössische muslimische Theologen und Philosophen zur Zeit von Alfarabi versuchten durch eine systematische Erörterung, verschiedene Arten des Krieges theoretisch zu begründen. So beantwortete al->Amiri (gest. 992) in einem bedeutenden Versuch, den Islam mit den Mitteln der Philosophie zu begründen, die Frage, ob die Herrschaft des Propheten Muhammad wohl als rechtmäßiges Imamat oder als Tyrannei zu bezeichnen sei, wie folgt: „Kriegerische Aktionen weisen unter den verschiedenen Arten der Menschen eine von drei Formen auf: pihad, Rebellion oder Räuberei. pihad ist Sache der Angehörigen eines zivilisierten Landes und der Führer der Untertanen, er dient zur Verteidigung der Religion und zur Bewahrung der etablierten Ordnung. Die Rebellion besteht aus der Empörung und dem Kampf zwischen verschiedenen Klassen bestimmter Nationen aufgrund lokaler oder stammesmäßiger Vorurteile. Räuberei schließlich ist auf das Ergreifen von Hab und Gut und das Plündern von Besitztümern aus.“150
149 Die bekanntesten ,Handbücher‘ sind die folgenden: Fafti’i, Kitab al-’Umm, Kairo 1322; ’Abu Yusuf, Kitab al-öarap, Kairo 1352. Siehe auch: Majid Khadduri, War and Peace in the Law of Islam, Baltimore 1955; Muhammad Hamidullah, Muslim Conduct of State, Lahore 1954; Willi Heffening, Das islamische Fremdenrecht, Hannover 1925. 150 al->Amiri, Bekanntmachung der Verdienste des Islam, Handschrift M156/b8 an der Nationalbibliothek der Hebrew University of Jerusalem (Übersetzung von F. Y. A). Diese Hand-
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Spezifisch philosophisch ist dann, wie al->Amiri die drei Kriegsarten mit den platonischen Seelenvermögen der Vernunft, der Aggressivität und der Begehrlichkeit in Beziehung setzt, worauf natürlich das Beispiel des Propheten für die Führung des pihad und für ein kluges Regiment thematisiert wird. Clemens Cahen, der den Beitrag über den Begriff harb unter dem Kalifen in der Encyclopaedia of Islam schrieb, betont die politische Funktion der muslimischen Kriegshandbücher gerade in Bezug auf den Leiter der Gemeinde: „Nowhere more than in these works is one conscious of the connexion between war and policy and of the fact that the success of the first depends in large part on the quality of the second. The Prince is therefore recommended to seek to gain the goodwill of his subjects, and more particularly of his troops, by his conduct towards them and especially by paying them regularly and well – which presupposes a sound financial situation; when troops are reviewed he must of course inform himself of their condition, or verify this personally. In addition, he must keep himself informed on the general situation of the enemy state, or the state which is virtually so, its material resources and the state of its morale, in order when possible to make contact with dissident elements, especially within the army itself.“
Der Leiter der Gemeinde ist nicht nur der Leiter der Armee, sondern auch und vor allem ein politischer Stratege, der nicht nur physische Kraft und Gesundheit besitzen muss: Um einen harb zu gewinnen, muss der Leiter der Gemeinde seine Fähigkeit zur Erkenntnis benutzen, die aus dem theoretischen und praktischen Intellekt entsteht. Somit erwähnt Alfarabi den Krieg in Bezug auf die Qualitäten des höchsten Leiters, weil die Kriegskunst mit der Fähigkeit des Leiters zur Erkenntnis direkt verbunden ist und auch weil der Friede im geschichtlichen und theo-politischen Horizont von Alfarabi keine Rolle spielt. Die Geschichte des Kalifats in Baghdad ist auch die Geschichte ununterbrochener militärischer Spannungen mit den Nachbarländern sowie innerhalb des muslimischen Reichs, weshalb Alfarabi die Kriegskunst von den Fähigkeiten eines Leiters nicht trennen konnte. Unter einem theologischen Blickwinkel darf man nicht vergessen, dass die Gestalt des politischen Messias im Islam viel schwächer, unbestimmter und zweideutiger als im Christentum und im Judentum ist, und darüber hinaus wird eine solche Gestalt im Islam nicht mit einem Zustand von Frieden auf Erden verknüpft. Die beschriebenen Gesichtspunkte lassen uns begreifen, warum Alfarabi die Beherrschung der Kriegskunst zu den notwendigen Qualitäten des höchsten Leiters zählen muss. Alfarabi spricht aber nicht von einem Staat, der seine Orientierung und sein Handeln auf der Figur des höchsten Leiters – und nur auf dieser – aufschrift ist im Jahr 1967 von >Abd al-Hamid Purab unter dem folgenden Titel in Kairo veröffentlicht worden: Kitab al-’I>lam bi-manaqib al-’islam. Siehe auch: Hans Daiber, Bibliography of Islamic Philosophy, op. cit., S. 359.
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baut, da er sich dessen bewusst ist, dass es extrem selten ist, dass sich für die Bestimmung des Leiters der Gemeinde alle notwendigen Qualitäten in einem einzigen Menschen vereinen. So wie Platon in der Politeia die Existenz der ‚Nächtlichen Versammlung‘ annimmt, spricht auch Alfarabi von der Existenz eines solchen Rates, in dem Menschen sitzen, welche die fehlenden Qualitäten des Königs besitzen. Für das Weiterleben der Gemeinde ist es nicht bedrohlich, wenn nicht alle diese Qualitäten zugleich vorhanden sind, aber zumindest eine muss immer da sein, da die Kollektivität von dieser Qualität abhängt: „Wenn es jedoch zu einer bestimmten Zeit geschieht, dass die Philosophie keinen Anteil an der Regierung hat, obgleich alle anderen Bedingungen in ihr vorhanden sind, wird die hervorragende Stadt ohne einen König bleiben. Der Herrscher, der tatsächlich für die Stadt zuständig ist, wird kein König sein, und die Stadt wird am Rand des Untergangs sein; und wenn es geschieht, dass man keinen Philosophen finden kann, den man dem tatsächlichen Herrscher zuteilen kann, dann wird die Stadt nach einem bestimmten Zeitraum zweifellos untergehen.“151
Unter den Qualitäten des Leiters ist es die Philosophie, nämlich die Vollkommenheit in Bezug auf den erworbenen Intellekt, in der wirkenden Ko-Existenz von aktivem und passivem Intellekt, welche im Vergleich zu den anderen Qualitäten Vorrang hat. Ohne die Philosophie reichen die anderen Qualitäten nicht hin, um das Weiterleben der Gemeinde zu garantieren, da ein solches Weiterleben mit der Realisierung der Glückseligkeit als höchstes Gut verbunden ist, welche nur die philosophische Erkenntnis garantieren kann. Alfarabi hebt in Zusammenhang mit der vollkommenen Regierung nicht nur die empirische Glückseligkeit hervor, sondern er konzentriert sich auch auf die überempirische Glückseligkeit im Jenseits, die das Thema von Kapitel 16 ist. Wie Maimonides gibt Alfarabi dem Leser keine Beschreibung des Jenseits, keine konkrete Beschreibung des Genusses, den man nach dem Tod gewinnen wird. Auch das Wort ‚Tod‘ taucht innerhalb von Kapitel 16 an keiner Stelle auf: Alfarabi spricht, im Wortschatz von Aristoteles, nur von der ‚Trennung‘ der Seele vom Körper. Bevor Alfarabi aber zu dieser Trennung kommt, ist die Rede von der Stadt und von dem höchsten Leiter, womit Kapitel 16 beginnt: „Die Könige der hervorragenden Städte, welche in verschiedenen Zeiten aufeinander folgen, sind alle wie eine einzige Seele und so als ob sie ein einziger König wären, der die ganze Zeit der Gleiche bleibt. Wenn es geschieht, dass eine Anzahl dieser Könige zur gleichen Zeit entweder in einer Stadt oder in vielen Städten existiert, sind sie alle in der gleichen Weise wie ein einziger König und ihre Seelen wie eine einzige Seele.“152 151 Mabadi’ ’Ara’ ’Ahl al-Madina al-Fadila (On the Perfect State), op. cit., S. 253 (Übersetzung von F. Y. A.). 152 Ibidem, S. 259ff (Übersetzung von F. Y. A.).
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In der Seele (im Sinne der griechischen psyché) wird die königliche Kraft bestimmt, in der sich die Seele bis zur Vollkommenheit der intellektuellen Erkenntnis entwickeln kann. Die Könige, die dem höchsten Leiter nachfolgen, haben dieselbe Seelenvollkommenheit erreicht, so dass ihre politische Leitung durch die Verabschiedung von neuen Gesetzen stets auf denselben Zweck zielt: die Glückseligkeit der Gemeinde. In der vollkommensten Stadt ist die Glückseligkeit das kollektive Ziel der Bürger, obwohl jede Gruppe eigene Zwecke im Rahmen eigener Bestimmungen verfolgt. Wie ein Schriftsteller nur durch das regelmäßige Schreiben besser wird, so wird die Vorzüglichkeit (excellence) der Seele durch Handlungswiederholungen vollkommen und vollkommener: „Das Gleiche ist hinsichtlich ihrer Handlungen zutreffend, durch die Glückseligkeit erlangt wird: je mehr sie sich steigern und wiederholt werden und je stetiger ein Mensch sich ihnen widmet, desto stärker, hervorragender und vollkommener wird die Seele, deren Ziel die Erlangung von Glückseligkeit ist, bis sie den Zustand von Vollkommenheit erreicht, indem sie auf die Materie verzichten kann, so dass sie unabhängig von ihr wird; weder zerstört wird, wenn dies mit der Materie geschieht, noch Materie zum Überleben bedarf.“153
Es ist bereits deutlich geworden, dass Maimonides die empirische Dimension des Lebens im Sefer ha-Madda> nicht ablehnt, aber die Vollkommenheit dieser Sphäre ist nur eine Zwischenphase im Hinblick auf die höchste Vollkommenheit der Seele, die durch die Erkenntnis des Gesetzes im individuellen sowie im kollektiven Bereich erreicht wird. Eine solche Hochschätzung der Empirie im Leben des Einzelnen und der Stadt zielt auch bei Alfarabi auf die Wiederholung des zur Glückseligkeit orientierten Handelns. Alfarabi betont die kollektive Dimension der Seele viel stärker als Maimonides, so dass er sich in Kapitel 16 sogar auf die Seele der Generationen innerhalb der vollkommensten politischen Institution bezieht: „Wenn eine Generation stirbt, hören ihre Körper auf zu existieren und ihre Seelen werden befreit und glücklich und wenn andere Menschen ihnen in ihrem Rang nachfolgen, nehmen diese Menschen ihren Platz ein und führen ihre Handlungen aus. […] Der Zuwachs, welcher stattfindet, wenn die verstorbenen Seelen einander treffen, ist mit dem Zuwachs der Fähigkeit der Kunst des Schreibens vergleichbar, wenn sich der Schreiber stetig der Kunst des Schreibens widmet. […] Da jedoch die Anzahl dieser Seelen, die sich treffen, unendlich ist, ist der Zuwachs an Stärke und Freuden für jede von ihnen im ewigen Lauf der Zeit unendlich. Dies trifft auf jede Generation zu, die verstirbt.“154
Nur die Bürger der unvollkommensten Städte, die von einem unwissenden König geleitet werden, kennen das unendliche Leben der Seele nicht, solche Bürger werden mithin keinen Anteil am Jenseits haben, da ihre Seele an die 153 Ibidem, S. 263 (Übersetzung von F. Y. A.). 154 Ibidem, S. 265ff (Übersetzung von F. Y. A.).
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empirische Glückseligkeit gebunden bleibt und zusammen mit der Empirie vergeht. Die Bürger der vollkommensten Stadt – denen Kapitel 17 mit dem Titel Philosophie und Religion gewidmet ist – haben als gemeinsamen Zweck die Glückseligkeit der Seele, weil sie durch die folgenden Elemente zur Erkenntnis solcher Glückseligkeit gekommen sind: (a) Diese Bürger kennen zuerst die Erste Ursache und ihre ganze Qualität; (b) sie kennen die Naturwissenschaften wie auch die Philosophie als Wissenschaft der Himmelssphären; (c) sie wissen, wie der aktive Intellekt in die Seele einwirkt; (d) sie wissen, wer der König ist und welche Beziehung er zur Offenbarung hat; (e) sie wissen, welche Könige und welche Städtemodelle dem Ideal der Glückseligkeit nicht entsprechen. Die Betonung der Erkenntnis bedeutet aber nicht, dass alle Bürger der vollkommenen Stadt Philosophen wären. Es bleibt ein Unterschied zwischen der Erkenntnis der Philosophen und der Erkenntnis der übrigen Bürger: „die Philosophen in den Städten sind diejenigen, die diese Dinge aufgrund genauer Beweise und ihrer eigenen Erkenntnis wissen […]. Andere kennen sie jedoch aufgrund von Zeichen, welche durch Nachahmung abgebildet werden […]. Beides ist eine Art der Erkenntnis, aber die Erkenntnis der Philosophen ist zweifellos hervorragender.“155 Da der König die höchste Erkenntnis besitzt, ist er unvermeidlich ein Philosoph, und die Position eines jeden Leiters der Stadt ist mit der der jeweils anderen Könige identisch, da alle Könige dieselbe vollkommene Erkenntnis erworben haben. Die Erkenntnis ist also ein und dieselbe, während die Religion – die auf Symbolen und der Einbildungskraft der Menschen basiert – in jeder Stadt anders aussehen kann. Der politische Schluss davon ist, dass allein die Erkenntnis den friedlichen Zustand innerhalb und außerhalb der Stadt garantieren kann, weil das, was durch strenge Beweise gewusst wird, nicht Objekt von Streit wird. Hingegen wird das durch Symbole Gekannte nicht objektive Bedeutung gewinnen, da die Einbildungskraft kein universeller Wert ist. Nur wenn die Erkenntnis – mittels des höchsten Leiters – die politische Führung der Stadt übernimmt, vermeidet die Stadt kriegerische Auseinandersetzungen mit den Nachbarstädten sowie unter ihren eigenen Bürgern. Alfarabi überwindet somit die von ihm formulierte These, dass der König die Kriegskunst beherrschen müsse: Strenggenommen ist eine solche Kunst nur so lange notwendig, bis alle anderen Städte einen König-Philosophen als Leiter haben werden. Einige Qualitäten des höchsten Leiters sind also vorläufig, sie verweisen auf eine zukünftige – obwohl nicht messianische – Dimension im politischen Denken von Alfarabi, in dem der Zustand des Friedens als Ergebnis eines erkenntnistheoretischen Prozesses beschrie155 Ibidem, S. 279 (Übersetzung von F. Y. A.).
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ben wird und in dem die Religion keine tragende Funktion hat. Die Religion wird vielmehr als Hindernis zum Frieden beschrieben, weil sie aus Symbolen statt aus nachprüfbaren Beweisen besteht. Die Wahrheit entsteht aus dem Intellekt des Menschen, der ein erworbener Intellekt ist und nach der Begegnung mit dem universalen aktiven Intellekt entstanden ist. Nachdem wir die Gestalt des König-Philosophen in den Fusul alMadani (Aphorisms of the Statesman) analysiert haben werden, werden wir sehen, wie diese Züge des König-Philosophen bei Alfarabi einen starken Widerhall in der Konzeption des Messias bei Maimonides haben.
2.9 Fusul al-Madani (Aphorisms of the Statesman)156 Bezüglich des König-Philosophen bestehen so viele Anknüpfungspunkte zwischen Fusul al-madani und den vorangegangenen Werken Alfarabis, dass man mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit behaupten kann, Fusul al-madani sei das letzte Werk von Alfarabi. Darüber hinaus wird die literarische Gattung (Aphorismen), die dieses Werk verwendet, vor und nach Alfarabi nur als Zusammenfassung einer Lehre benutzt, die in vorherigen Werken ausführlich ausgearbeitet worden ist. In der arabischen Literatur wären die medizinischen Fusul (wörtlich übersetzt: Sektionen) von Ibn Masawayh (im Jahr 857 gestorben) sowie die Fusul von ar-Razi (im Jahr 925 gestorben) und von Ibn al-Pazzar (im Jahr 1004 gestorben) zu erwähnen. Zweifellos sind die nach der Tradition von Hippokrates geschriebenen Aphorismen das Vorbild dieser medizinischen Literatur in arabischer Sprache, Aphorismen, die von Hunayn ibn ’Ishaq (808–873) übersetzt wurden. Auch Maimonides schrieb medizinische Fusul auf Arabisch, in deren Einleitung er sich explizit auf Alfarabi bezieht: „Es ist für jeden ersichtlich, welcher der Angelegenheit die geringste Aufmerksamkeit widmet, dass all jene, die in einer Wissenschaft fusul verfasst haben, dies nicht in der Annahme getan haben, dass diese fusul in dieser Wissenschaft ausreichend sind oder all ihre Prinzipien [’usul] enthalten. Jeder, der fusul nach dieser Methode verfasst hat, hat dies einem Sinn [ma>anin] zufolge getan, den er in jedem Verstand für gegenwärtig jedoch vernachlässigt hielt, oder der das Notwendige ermöglicht; und im Allgemeinen ist es nicht das Ziel, welches alle fusul Schreibenden im Sinn hatten, alles in einer bestimmten Wissenschaft Notwendige aufzunehmen – weder Hippocrates in seinem fusul noch ’Abu Nasr Al-Farabi in allem was er in fusul Form schrieb, noch irgendjemand sonst.“157
156 Alfarabi, Fusûl al-Madanî. Aphorisms of the Statesman, hrsg. und übers. von Douglas M. Dunlop, Cambridge 1961. 157 Moses Maimonides, Fusul, hrsg. von Paul Kahle, Corpus Medicorum Graecorum Supplementum I (1934), S. 94ff.
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Dank Ibn ’abi Usaibi’ah (1194 ca.–1270), der die These bestätigt, dass die Fusul das letzte Werk dieses Philosophen sind, besitzen wir einen Hinweis auf das Entstehungsjahr der Fusul von Alfarabi: „Das Buch der Idealen Stadt, der Ignoranten Stadt, der Sündigen Stadt, der Verformten Stadt und der Irregeführten Stadt. Er begann die Abfassung dieses Buches in Bagdad und nahm es Ende des Jahres 330 A.H./941–2 A.D. mit sich nach Syrien. Er beendete es in Damaskus im Jahre 331/942–43 und formulierte es angemessen aus und danach kontrollierte er die Handschrift. Und er unterteilte es in Kapitel [’abwab]. Dann bat ihn jemand es in Abschnitte [fusul] zu unterteilen, welche die Aufteilung seiner Themen zeigen würden, so verfasste er im Jahr 337/948–9 in Ägypten Abschnitte. Sie sind sechs an der Zahl.“158
Nicht alle Wissenschaftler teilen die Annahme von Ibn ’abi Usaibi’ah, weil kein arabisches bzw. hebräisches Manuskript der Fusul alle Sektionen enthält, so dass es fraglich ist, auf welche Quelle Ibn ’abi Usaibi’ah sich bezieht, wenn er die angeblichen sechs Sektionen der Fusul von Alfarabi erwähnt; und es ist fraglich, ob hier überhaupt von den Fusul die Rede ist. Vielleicht bezieht sich Ibn ’abi Usaibi’ah auf eine frühere Version nicht etwa der Fusul, sondern des al-Madina al-Fadila, das in Baghdad begonnen und später in Ägypten beendet wurde. Aber der Hinweis könnte sich auch auf die Siyasa Madaniya beziehen, deren Titel in den hebräischen Manuskripten Shesh Hatkhalot (‚Sechs Prinzipien‘) lautet. Auf jeden Fall kann man sagen, dass die Fusul alle Themen der früheren politischen Werke von Alfarabi umfassen und als eine Art ‚Handbuch‘ für die Gelehrten fungierte. Als Alfarabi im Jahr 942 Baghdad verließ und nach Aleppo umzog, herrschte eine große politische Unordnung innerhalb des muslimischen Reichs, die zum Krieg gegen die Griechen im Jahr 962 führte. Obwohl Alfarabi den Untergang des muslimischen Reichs nicht mehr erlebte (er wurde im Jahr 950 vermutlich von Räubern neben Damaskus ermordet), waren die Kämpfe zwischen Hamdaniden und Abbasiden zu seiner Lebenszeit bereits ein deutliches Zeichen des politischen Verfalls des Islam. Wegen dieses geschichtlichen Hintergrunds treten meines Erachtens in den Fusul zwei Themen viel stärker als in den vorherigen Werken in den Vordergrund: der König-Philosoph als ‚König nach dem Gesetz‘ (Alfarabi bezieht sich auf Platons Politikos und nicht mehr auf die Politeia) und die Konzeption des Kriegs als pihad anstelle des harb. Der Politikos wird von Alfarabi im Fusul nicht erwähnt, aber der Dialog war schon zu seiner Zeit durch Hunayn ibn ’Ishaq in der arabischen Welt bekannt, obgleich eine vollständige Übersetzung ins Arabische fehlt. Aus diesem Grund kann man nicht erwarten, dass die Fusul den Politikos kommentieren; trotzdem bestehen so zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen dem 158 Ibn ’abi Usaibi’ah, >Uyun al-’Anba’, hrsg. von August Müller, Bd. 2, Königsberg 1884, S. 138f.
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König und Staatsmann bei Alfarabi einerseits und dem basileus von Platon andererseits, dass die Kenntnis des Politikos seitens Alfarabi unbestritten ist. Im Politikos liest man: „FREMDER: Wie die Kaufleute, Ackerbauer, alle Speisebereiter, und nach diesen die Vorsteher der Leibesübungen und das ganze Geschlecht der Ärzte, diese weißt du wohl würden sämtlich mit jenen Hütern der menschlichen Dinge welche wir Staatsmänner genannt haben über diese Erklärung sich streiten, weil sie auch für die Erhaltung der Menschen sorgen, und zwar nicht nur der zur Herde gehörigen Menschen, sondern auch der Herrscher selbst. […] Also war unsere Besorgnis vorher gegründet, als wir argwöhnten, wir möchten zwar wohl einige Züge des Herrschers angeben, keineswegs aber könnten wir den Staatsmann genau dargestellt haben, bis wir alle welche sich um ihn herdrängen und auf das Mithüten Anspruch machen weggeräumt, und ihn abgesondert von jenen ganz rein für sich allein hinstellen. […] Dies also wollen wir sagen sei die Vollendung des Gewebes der ausübenden Staatskunde, dass in einander eingeschossen und verflochten werde der tapferen und der besonnenen Menschen Gemütsart, wenn die königliche Kunst durch Übereinstimmung und Freundschaft beider Leben zu einem gemeinschaftlichen vereinigend, das herrlichste und trefflichste aller Gewebe bildend, alle übrigen Freien und Knechte in den Staaten umfassend unter diesem Geflechte zusammenhält und wieweit es einem Staate gegeben sein kann glückselig zu werden, davon nirgend etwas ermangelnd herrsche und regiere.“159
Dementsprechend heißt es am Anfang der Fusul: „Derjenige, der sich um den Körper kümmert, ist der Arzt, derjenige, der sich um die Seele kümmert, ist der Staatsmann, der auch König genannt wird. […] Denn der Staatsmann schätzt [muqaddirun] durch politische Kunst und der König durch königliche Kunst ab, wo es notwendig ist, diese Kunst einzusetzen, und an wem und an wem nicht, und für welche Art von Gesundheit von Körpern man notwendigerweise sorgen muss und für welche man nicht sorgen muss. Deshalb ist die Stellung der königlichen Kunst und der politischen Kunst unter den anderen Künsten der Stadt diejenige von Baumeistern unter Erbauern, denn die anderen Künste der Stadt werden nur betrieben und angewendet, damit das Ziel der politischen Kunst und der königlichen Kunst vollkommen erreicht wird, so wie die Kunst von Erbauern nur angewendet wird, um das Ziel der Kunst des Baumeisters zu vervollkommnen. So wie der Arzt, der den Körper behandelt, den Körper als ganzen kennen muss, [ebenso wie] Teile des Körpers und ihre Beziehung zum Ganzen, die Krankheiten, welche eine Wirkung auf den ganzen Körper und alle seine Teile haben, […] ebenso müssen der Staatsmann und der König, die sich um die Seele kümmern, Erkenntnis der Seele als ganzer haben […].“160
Platon und Alfarabi kommen bei der Untersuchung der empirischen politischen Kunst zum selben Ergebnis: Die höchste Form der Politik ist die königliche Kunst, da nur der König seine vollkommene Erkenntnis bezüglich 159 Platon, Politikos, 268a-d und 311b-c 160 Alfarabi, Fusûl al-Madanî, op. cit., S. 27f (Übersetzung von F. Y. A.).
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jedes Teils der Gemeinde umsetzen kann. Unter den Staatsmännern ist der König der Meister, da er theoretische und praktische Erkenntnis zugunsten der Kollektivität zu kombinieren versteht. Platon schreibt diesbezüglich: „FREMDER: Aber die Erkenntnis und Kunst des wahren Königs ist doch die königliche? DER JÜNGERE SOKRATES: Ja.“161
Dementsprechend liest man in Paragraph 29 der Fusul: „Der König ist König durch seine königliche Kunst, durch die Kunst des Regierens von Städten und durch die Macht, die königliche Kunst einzusetzen, wenn er der Oberste der Stadt geworden ist, ob er nun für seine Kunst bekannt ist oder nicht, ob er nun Instrumente zu ihrer Umsetzung gefunden hat oder nicht, ob er nun von ihm empfangende Menschen gefunden hat oder nicht, ob man ihm gehorcht oder nicht, so wie der Arzt durch seine medizinische Kunst Arzt ist, ob ihn die Menschen nun dafür kennen oder nicht […]. Ebenso ist der König durch die Kunst und die Macht zur Umsetzung der Kunst König, ob er nun über Menschen herrscht oder nicht, ob er verehrt wird oder nicht, ob er reich oder arm ist.“162
Bei Alfarabi und Platon wird der König nicht durch äußerliche Merkmale bezeichnet, da ‚König-Sein‘ die Folge einer bestimmten Seelenentwicklung bzw. eines bestimmten Erkenntnisprozesses ist. Auch wenn ein König als solcher nicht anerkannt wird oder der ärmsten Schicht der Gemeinde zugehört, hört er nicht auf, König zu sein. In der Untersuchung des Zwecks der königlichen Kunst sind Alfarabi und Platon ein weiteres Mal einig. Am Schluss des Politikos stellt sich der König als derjenige dar, der im Staat Glückseligkeit herstellt, genauso wie der König bei Alfarabi auf die „wahre Glückseligkeit, welche das Ziel und der Zweck der königlichen Kunst ist“,163 zielt, eine Glückseligkeit, deren Vollkommenheit durch den gemeinschaftlichen Charakter ihres Zwecks bestimmt wird. Bei Alfarabi besteht diese Vollkommenheit aus einer empirischen (richtiges Handeln in der Stadt bzw. erste Vollkommenheit) und aus einer überempirischen (der Genuss der Glückseligkeit im Jenseits bzw. letzte Vollkommenheit) Stufe: „Die erste Vollkommenheit besteht darin, dass ein Mensch die Handlungen aller Tugenden ausführt, nicht dass ein Mensch einfach mit Tugenden ausgestattet ist, ohne die Handlungen auszuführen; und die Vollkommenheit besteht in seinem Handeln, nicht im Erlangen der Eigenschaften, welche die Handlungen herbeiführen. […] Durch diese Vollkommenheit erlangen wir die letzte Vollkommenheit und das ist höchste Glückseligkeit, dass heißt das vollkommen Gute. […] Die 161 Platon, Politikos, 259b. 162 Alfarabi, Fusûl, op. cit., S. 41f (Übersetzung von F. Y. A.). 163 Ibidem, S. 40 (Übersetzung von F. Y. A.).
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ideale Stadt […] ist diejenige, in der sich die Einwohner gegenseitig in der Erlangung der letzten Vollkommenheit unterstützen, dass heißt der höchsten Glückseligkeit.“164
Darüber hinaus findet man in den Fusul auch eine Definition des Königs, die in keinem anderen Werk von Alfarabi steht und unmittelbar aus dem Politikos abgeleitet wurde, nämlich den Ausdruck „König des, dass heißt zufolge des, Gesetzes“165 (auf Arabisch: malik as-sunna). Im Politikos liest man diesbezüglich: „Und wiederum wenn ein Einziger nach Gesetzen [Ν «] herrscht, den Wissenden [den idealen König] nachahmend, so nennen wir ihn König, ohne also durch den Namen den, der mit Erkenntnis, von dem zu unterscheiden der nur nach guter Meinung den Gesetzen gemäß [ «] allein herrscht.“166
Das Wort « entspricht auf Arabisch dem Wort fiqh, das ‚Jurisprudenz‘ bzw. ‚Gesetz‘ als Gegenstand der Rechtswissenschaft bedeutet. Jedoch benutzt Alfarabi an dieser Stelle das Wort sunna, das sich auf die „durch den Propheten eingeführte Praxis“167 bezieht. Die sunna ist der zweite Stamm (’asl) des islamischen Gesetzes nach der sˇari>a, mithin nach dem Qur’an. Ursprünglich steht sunna für eine Art und Weise des Handelns, die entweder gut oder böse ist und deswegen als erlaubte bzw. verbotene Norm für die nachfolgenden Generationen gilt. Die sunna ist das Fundament des praktischen Handelns nach den Kriterien des Guten und des Bösen, die zu den unterschiedlichen geschichtlichen Bedingungen passen müssen. Das bedeutet nicht, dass solche Kriterien relativ sind, sondern dass ihre Anwendung eine hohe Interpretationsfähigkeit seitens des Gesetzgebers verlangt. In diesem Sinne hat der Philosoph, Theologe und Jurist al-Fafi>i (767–820) in seinem wichtigsten Werk Risala den Begriff von ‚sunna‘ mit dem Begriff ‚hikma‘ (Weisheit) gleichgestellt. Obwohl diese Gleichstellung von keinem islamischen Philosophen nach al-Fafi>i vorgenommen wurde, beweist das Werk Fusul, dass auch Alfarabi die sunna mit der Interpretationsfähigkeit sowie mit der Weisheit des Königs als Gesetzgebers zusammendenkt. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass die Paragraphen 35–51, also mehr als ein Viertel des ganzen Werks, der Weisheit als praktischer Erkenntnis gewidmet wurden: „Praktische Weisheit [ta>aqqul] ist die Stärke der Güte der Überlegung [pudat ar-rawiya] und die Erzeugung der Dinge, welche am hervorragendsten und besten für das sind, was ein Mensch zur Erreichung eines wirklich großen Wohls und eines hervorragenden und edlen Zieles tut, ob dies nun Glückseligkeit oder etwas das unverzichtbar für die Erlangung von Glückseligkeit ist. […] 164 165 166 167
Ibidem, S. 39f (Übersetzung von F. Y. A.). Ibidem, S. 50 (Übersetzung von F. Y. A.). Platon, Politikos, 301a-b. G. H. A. Juynboll in seinem Aufsatz über die sunna in der Encylopaedia of Islam (Übersetzung von F. Y. A.).
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Der tugendhafte Mensch mit ethischen Tugenden begehrt und ersehnt immer die Ziele, die wirklich gut sind, und macht sie zu seinem Ziel und Zweck. Der verdorbene Mensch begehrt immer die Ziele, die wirklich verdorben sind, aber hält sie aufgrund der Krankheit seiner Seele für gut. Deshalb muss der Mensch der praktischen Weisheit tugendhaft in den ethischen Tugenden sein […], damit der Mensch der praktischen Weisheit das rechte Ziel durch die in ihm vorhandene Tugend und das Rechte in dem was zu dem Ziel führt durch Güte der Überlegung erreicht.“168
Das Studium der sunna, nämlich der ethischen Überlieferung des Propheten, führt zur pudat ar-rawiya, d.h. zur empirischen und theoretischen Fähigkeit, sich für das zur Glückseligkeit führende Gute zu entscheiden. Der Gesetzgeber ist somit imstande, durch die Interpretation der sunna die ganze Gemeinde in ihrer geschichtlichen und sozialen Entwicklung zum höchsten Guten zu führen, weshalb der Leiter ‚König nach der sunna‘ ist. Im Vergleich zum Politikos verzichtet Alfarabi auf jeden Hinweis auf die ‚gute Meinung‘, die den Leiter zur Verwirklichung seiner höchsten Funktion führen kann, da der arabische Begriff ‚Meinung‘ (ra’y) mit der auf die Erkenntnis bezogene Rolle des Intellekts nichts gemein hat. Aus diesem Grund erwähnt Alfarabi das ’ipma> in keinem seiner politischen Werke. Das ’ipma> ist der dritte Stamm des islamischen Gesetzes und besteht aus der Übereinstimmung der Gemeinde mit einer von Gott festgestellten Norm. Praktisch handelt es sich um eine gewisse Meinung bzw. um eine einstimmig akzeptierte Lehre innerhalb der Gemeinde, die von der religiösen Autorität zu einer bestimmten Zeit angenommen wird. Die Weisheit, mithin die auf die Erkenntnis bezogene Fähigkeit des Intellekts, wird im letzten Werk von Alfarabi zur tragenden Charakteristik des König-Philosophen, obwohl ein weiteres Element im Verzeichnis der Charakteristika für den Leiter der Stadt hervortritt, das angeblich mit der Weisheit nichts gemein hat, nämlich der heilige Krieg (auf Arabisch pihad). Die Wichtigkeit dieses Elements im Denken von Alfarabi zeigt die Tatsache, dass der pihad in dieser Auflistung sogar zweimal am Schluss der ersten Beschreibung des König-Philosophen erwähnt wird: „Die Obersten und Herrschenden dieser Stadt haben vier Beschreibungen. (A) der wirkliche König. Er ist das Oberhaupt und in ihm sind sechs Bedingungen [ˇsara’it] vereinigt: (a) Weisheit [hikma]; (b) vollkommene praktische Weisheit; (c) Vortrefflichkeit der Überzeugungskraft; (d) Vortrefflichkeit in der Erzeugung eines einfallsreichen Eindrucks; (e) Stärke, den heiligen Krieg [pihad] selbst zu führen; (f) dass es nichts in seinem Körper gibt, das ihn davon abhält, sich den Angelegenheiten zu widmen, die zum heiligen Krieg gehören.“169
Gibt es eine logische Verbindung zwischen hikma und pihad? Meines Erachtens kann eine solche Verbindung nur nach der Untersuchung des 168 Alfarabi, Fusûl, op. cit., S. 45f (Übersetzung von F. Y. A.). 169 Ibidem, S. 50 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Begriffs ‚heiliger Krieg‘ in der islamischen Welt des 10. Jahrhunderts gefunden werden. Etymologisch bedeutet pihad eine auf einen bestimmten Zweck ausgerichtete Anstrengung und stammt von der Wurzel ‚p-h-d‘, das die Arbeit des Juristen beschreibt, der nach einer Lösung für Gesetzesprobleme sucht. Aber ursprünglich kommt dieser Stamm nicht aus dem Bereich der Rechtswissenschaft, sondern aus dem der Ethik, in dem es die Anstrengung bezeichnet, die ethische und religiöse Vollkommenheit zu erwerben. Das Wort pihad steht zum ersten Mal im Qur’an, wo seine Bedeutung nicht eindeutig ist: In den drei Mekkanischen Perioden bezieht sich pihad im allgemeinen auf den Krieg gegen die ‚Feinde‘ (das Wort al-Kafirun wurde irrtümlicherweise in den lateinischen Übertragungen als ‚Ungläubige‘ übersetzt), während es zur Medina-Zeit den Krieg zur Verteidigung der Lehre von Muhammad bezeichnet. Obwohl pihad eine Aufgabe für die ganze muslimische Kollektivität ist (fard kifaya), wird der Begriff, ausgehend vom 8. Jahrhundert, niemals in Bezug auf Kriege gegen andere Nationen angewandt; er besitzt keineswegs eine politische Bedeutung, für die hingegen das Wort harb ständig benutzt wird. Pihad ist dagegen die persönliche Mühe für die Verwirklichung des Willens Gottes. Es gibt im Frühmittelalter muslimische Theologen und Juristen, die behaupten, dass pihad im Falle von Selbstverteidigung obligatorisch sei, während andere behaupten, dass pihad in diesem Fall bzw. bei Angriff nur ‚empfohlen‘ (li ’l-nadb) werden dürfte. Im 9. Jahrhundert verbreitete sich die theologische Position der Fi>a, die meinte, dass der pihad verboten sei, solange der ’Imam – nämlich der Prophet – nicht wieder erscheine. Obgleich sein Zweck gut ist (hasan li-husn gayrih), ist der pihad ein Übel (fasad, ‚böse‘, ‚Schaden‘), weshalb nur der Prophet-’Imam weiß, wann die Gemeinde den pihad anstrengen darf, ohne dadurch den Willen Gottes zu verletzen.170 In den Fusul scheint sich Alfarabi, in meinen Augen, gerade auf diese theologisch-juridische Tradition zu beziehen, wenn er die Weisheit des Königs, der auch bei ihm zugleich Prophet und ’Imam ist, mit dem Begriff von pihad verbindet. Der König hat die vollkommene Weisheit durch das Studium des Gesetzes erreicht, er kann somit seinen theoretischen Intellekt mit dem praktischen in Einklang bringen, damit sein Handeln stets auf das Gute der Ge-
170 Siehe u.a.: Michael Bonner, Jihad in Islamic History: Doctrines and Practice, Princeton 2006; Abderrahim Lamchichi, Jihad: un concept polysemique et autres essais, Paris 2006; Rudolph Peter, Jihad in classical and modern Islam. A Reader, 20052; Reuven Firestone, Jihad: the Origin of Holy War in Islam, New York u.a. 1999; Alfred Morabia, Le Gihâd dans l’Islam médiéval: le „combat sacré“ dès origines au XIIe siècle, Paris 1993.
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meinde ausgerichtet ist: Er allein weiß, wann der pihad auszuführen ist, wann und wie das Gute aus einem Übel entstehen kann, auch hat er alle physischen Voraussetzungen für eine solche Aufgabe. Relevant ist des Weiteren der Unterschied zwischen Alfarabis Lehre des König-’Imam-Propheten und derselben Lehre der Fi>a. Die Fi>a verweist diese theologisch-politische Gestalt in eine unbestimmte Zukunft, deren Verwirklichung in keiner Weise beschrieben wird, während Alfarabi in seinen vorangegangenen Werken gezeigt hat, welchen Ausbildungsprozess der König durchlaufen muss, um die Gemeinde als ’Imam, Prophet und Gesetzgeber zu leiten. Bei Alfarabi findet man kein utopisches bzw. messianisches Element in der Gestalt des König-Philosophen, weil er darauf zielt, „den wirklichen König“171 – nämlich den König in der Ausübung seiner vollkommenen theoretischen und praktischen Weisheit – zu beschreiben. Die Tatsache aber, dass jeder Hinweis auf den pihad im zweiten Teil der Fusul verschwindet und hier ausschließlich vom harb die Rede ist, könnte mit dem fehlenden Vertrauen von Alfarabi in die Weisheit der damaligen Leitung in Baghdad erklärt werden, so dass der pihad auch bei Alfarabi auf eine utopische Dimension der noch zu verwirklichenden Zukunft bezogen wäre. Der zweite Teil der Fusul konzentriert sich auf den ökonomischen Wohlstand der Stadt, zugunsten dessen der Leiter gezwungen werden kann, Krieg (harb) gegen andere Städte bzw. Nationen zu führen: „Dieser [harb] ist eine Angelegenheit, die zwei Dinge einschließt, von denen eines die Erreichung des Wohlergehens der Stadt ist, und das andere darin besteht, dass sie [die Leute anderer Städte] dazu gebracht werden, Gerechtigkeit und Billigkeit auszuüben.“172
Im Fall des harb hat der ökonomische Wohlstand den Vorrang sogar vor der Gerechtigkeit, und aus diesem Grund kann der harb unter gewissen Umständen, die stets mit dem Willen des Leiters verbunden sind, ungerecht sein: „Der Krieg des Obersten mit irgendeinem Volk einzig [zu dem Zweck], dass sie erniedrigt werden und sich ihm unterwerfen und ihn verehren für nichts anderes als die Ausführung seiner Befehle unter ihnen und durch ihren Gehorsam ihm gegenüber, oder dass sie aus keinem anderen Grund verehren als dass sie ihn verehren, oder dass er ihr Oberhaupt ist und er sie nach Belieben beherrscht und sie all seinen Befehlen nach seinem Belieben beipflichten, was es auch immer sein möge, ist ein ungerechter Krieg. Wenn er mit keinem anderen Ziel außer der Eroberung Krieg führt, ist es ebenso ein ungerechter Krieg. Auch wenn er Krieg führt oder tötet, um den Zorn zu besänftigen, ist es gleichermaßen Ungerechtigkeit. Und auch wenn ihn diese Menschen durch Ungerechtigkeit erzürnt haben und was sie für diese Ungerechtigkeit verdienen nahe an Krieg und Töten kommt, sind Krieg und Töten zweifellos ungerecht. Viele, die durch das Töten den Zorn zu besänftigen 171 Alfarabi, Fusûl, op. cit., S. 50 (Übersetzung von F. Y. A.). 172 Ibidem, S. 57 (Übersetzung von F. Y. A.).
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beabsichtigen, töten nicht jene, die sie erzürnt haben, sondern andere, die dies nicht taten, weil ein solcher Mensch die Verärgerung zu beseitigen sucht, die ihm der Zorn verursacht hat.“173
Da man in keinem vorangegangenen muslimischen juridischen bzw. theologischen Text eine solche ausführliche Differenzierung unter den zahlreichen ‚ungerechten Kriegen‘ findet – und dies mit einer eindeutigen Steigerung der ethischen Problematik –, ist es wahrscheinlich, dass sich Alfarabi auf die damalige politische Situation, mithin auf den Verfall des Abbasidenreichs in Baghdad bezieht. Die Führung der nach Alfarabi ‚ungerechten Kriege‘ wäre ein Grund für diesen Untergang, der Alfarabi zwang, nach Aleppo umzuziehen. Bei Alfarabi findet man bezüglich des Kriegs dieselbe zentrale Rolle des Lebens im Diesseits wie im Sefer ha-Madda> von Maimonides: Selbstverständlich wirkt der Leiter sowie der tugendhafte Mensch zugunsten der höchsten Glückseligkeit im Jenseits, aber das impliziert nicht, dass er das Leben fürchtet oder sogar hasst. Die höchste Glückseligkeit ist die Ergänzung bzw. die Vervollständigung der Glückseligkeit im Diesseits, weshalb der Leiter weder dem Krieg noch dem Tod zuneigt. Er ist vielmehr der Erhaltung des Lebens zugeneigt, damit er das Maß an Glückseligkeit innerhalb der Gemeinde stetig vergrößern kann. Alfarabi schreibt diesbezüglich: „Nur die Menschen der unwissenden Städte und die Sündigen fürchten sich vor dem Tod, die ersteren ob dessen, was sie an Gütern der gegenwärtigen Welt verlieren werden, die sie zurücklassen – Vergnügungen, Reichtum, Ehre oder andere Güter der Unwissenden – und der Sündige aus zwei Gründen: Verlust dessen, was er an weltlichen Gütern zurücklässt und der Gedanke, dass er mit dem Tod die Glückseligkeit verliert. […] Wenn der gerechte Kämpfer [al-mupahid al-fadil]174 sein Leben aufs Spiel setzt, tut er dies weder mit dem Gedanken, dass er durch seine Handlung nicht sterben wird, denn das ist töricht, noch ohne Rücksicht darauf, ob er sterben oder leben wird, denn das ist Unbesonnenheit. Vielmehr denkt er, dass er vielleicht nicht sterben und entkommen wird. Aber er fürchtet sich weder vorher vor dem Tod, noch wenn er auf ihn trifft, und er setzt sein Leben nicht wissend oder denkend aufs Spiel, dass er das von ihm Ersehnte ohne Gefahr erreicht. Vielmehr setzt er sein Leben aufs Spiel, wenn er weiß, dass er das von ihm Ersehnte verlieren und nicht erlangen wird, wenn er sich nicht in Gefahr begibt, und er denkt, dass er es vielleicht erhalten wird, wenn er so handelt, oder er denkt, dass die Einwohner der Stadt es ohne seine Handlung zweifellos nicht erhalten werden, ob er nun stirbt oder lebt, und dass er es mit ihnen teilen wird, wenn er überlebt, und wenn er stirbt, werden jene es erhalten und er wird Glückseligkeit für das kommende Leben erlangen, weil er sich jetzt geopfert hat. […]
173 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). 174 Das Wort ‚Krieger‘ (mupahid) stammt aus pihad auch im Fall des harb, da sich das Wort pihad auf das vertrauensvolle Engagement des Kriegers für den Zweck des Kriegs bezieht.
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Das ist das kommende Leben, in dem der Mensch seinen Herrn sieht und in dem Sehen nicht betrogen wird.“175
Der tugendhafte Krieger zielt auf die Glückseligkeit der Stadt und riskiert sein Leben dann, wenn diese Glückseligkeit ausschließlich durch den Krieg (harb) garantiert werden kann, nämlich nachdem die politischen und friedlichen Versuche des Leiters gescheitert sind. Wenn der tugendhafte Krieger überlebt, teilt er die Glückseligkeit mit der ganzen Stadt, während er im Fall seines Todes die höchste Glückseligkeit des tugendhaften Menschen genießen wird: die Erkenntnis Gottes. Wie das Sefer ha-Madda> von Maimonides mit der Betonung der politischen bzw. gemeinschaftlichen Dimension der kommenden Welt abschließt so, findet man dieses Thema auch am Schluss des letzten Werks von Alfarabi. Er schreibt hierzu: „Das ideale Gemeinwesen ist dasjenige, in dem der Herrscher eine Tugend erlangt, die er wohl nur durch sie erlangen konnte – die höchste Tugend, die vom Menschen erreicht werden kann. Die Beherrschten erlangen in ihrem weltlichen Leben und im Leben der kommenden Welt Tugenden, die sie wohl nur durch sie erlangen konnten. In ihrem weltlichen Leben haben ihre Körper die beste Form, die Einzelwesen haben können, und ihre Seelen sind in dem hervorragendsten Zustand, der für das Wesen von Einzelseelen möglich ist und was in ihrer Macht steht, an Tugenden zu erlangen, welche der Grund für die Glückseligkeit des kommenden Lebens sind. Ihr Leben ist süßer und erfreulicher als das von anderen.“176
Das höchste Leben im Jenseits ist Folge der Verwirklichung des höchsten Lebens im Diesseits, weshalb es nicht möglich ist, ohne das letztere das erstere zu erwerben. Nur die ideale politische Kunst ist imstande, eine solche Vollkommenheit in der Stadt bzw. in der Nation zu verwirklichen, somit die unbedingte Voraussetzung für das höchste Leben im Jenseits zu schaffen. Aus diesem Grund schreibt Alfarabi (wie Maimonides in den Hilkhot De>ot), dass die Einsamkeit dem Leben in einer korrumpierten Stadt vorzuziehen ist, da eine ungerechte Regierung bzw. ein ungerechter König nicht zum vollkommenen Leben im Diesseits und im Jenseits führen könne. Alfarabi schreibt in diesem Zusammenhang: „Deshalb ist es für den tugendhaften Mann falsch, in korrupten Gemeinwesen zu bleiben [as-siyasat al-fasida], und er muss in die tugendhaften Städte auswandern [wapabat >alayhi al-hipra], wenn solche tatsächlich zu seiner Zeit existieren. Wenn sie nicht existieren, ist der tugendhafte Mann ein Fremder in der gegenwärtigen Welt und im Leben bemitleidenswert, und es ist für ihn besser zu sterben als zu leben.“177
Bei Alfarabi hat der Tod nur dann den Vorrang gegenüber dem Leben, wenn keine vorbildliche Stadt existiert, in welcher der tugendhafte Mensch seine 175 Ibidem, S. 63f (Übersetzung von F. Y. A.). 176 Ibidem, S. 69f (Übersetzung von F. Y. A.). 177 Ibidem, S. 72 (Übersetzung von F. Y. A.).
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praktische und theoretische Weisheit ausüben kann. Wahrscheinlich spricht Alfarabi hier auf seine biographische Situation aus, vor allem wenn man bedenkt, dass er das Wort hipra benutzt, mit dem man üblicherweise die Flucht Muhammads von Mekka nach Medina bezeichnet. Der Philosoph, der zugleich Prophet und ’Imam ist, wird zur Flucht gezwungen, wenn die Gemeinde und ihre Leiter gegen die Vollkommenheit des Intellekts wirken. Das bedeutet, dass diese Leiter, wenn sie ein Ding begreifen (tafhim aˇs-ˇsai’), nicht auf den Beweisen (barhana) des Intellekts basieren, sondern auf der Einbildungskraft, die zu keiner Gewissheit führen kann.178 Alfarabi schreibt am Schluss der Fusul diesbezüglich: „Philosophie ist auf den ersten Blick und tatsächlich das Kommen eines Menschen aus der spekulativen Wissenschaft und die Übereinstimmung all seiner Handlungen mit dem, was auf den ersten Blick nach der allgemeinen Meinung und in Wirklichkeit gut ist. […] Da auch Wahrheit das in allem verfolgte Ziel ist, ebenso wie das Gute und die Tugend, verstanden die Wahrheitssuchenden ihr Ziel und kannten es und widersprachen sich im Bezug auf es nicht. Was nicht Wahrheit und Tugend ist, ist ein nicht zu beschreitender Weg und wenn ein Mensch auf ihm geht, kommt er vom rechten Wege ab und ist verwirrt [hairin].“179
Dank der Vollkommenheit seines theoretischen und praktischen Intellekts führt der König seine Gemeinde zur Wahrheit, mithin zum Guten als Glückseligkeit im Jenseits und im Diesseits. Diejenigen, die sich von einem ungerechten König leiten lassen, kennen den Weg zur Wahrheit nicht und wandern orientierungslos und unschlüssig umher. Man kann zwar nicht behaupten, dass der Titel des letzten Werks von Maimonides (Moreh ha- Nevukhim, auf Arabisch: Dalalat al-Hairin) eine Anspielung auf den Schluss des letzten Werks von Alfarabi wäre, man kann aber auch die deutlichen Einflüsse der politischen Philosophie von Alfarabi auf die Gestalt des König-Messias in Sefer Shofetim nicht übersehen. Diesem Thema sei der letzte Teil der vorliegenden Arbeit gewidmet.
§ 3 Die Monarchie im Tanakh und in der jüdischen Tradition Spuren von Platons Theorie über den König-Philosophen findet man bereits bei Sa>adyah Gaon und Jehudah Ha-Lewi, aber es war vor allem Maimonides, der die Lehre vom König-Philosophen, von Alfarabi beeinflusst, mit halachischen, theologischen und religionsphilosophischen Grundlagen kombinierte. Diese politisch-philosophischen Aspekte des mittelalterlichen Judentums artikulierten sich vor allem in der Generation nach Maimonides
178 Vgl.: Ibidem, S. 74. 179 Ibidem, S. 76ff (Übersetzung von F. Y. A.).
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(Isaac Ibn Latif und Shemtov Ibn Falaquera180 im Besonderen), die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in einigen ihrer Werke die politische Verantwortung des Philosophen deutlich unterstrich; hierauf kann leider nicht näher eingegangen werden.181 An dieser Stelle möchte ich lediglich diejenigen Aspekte erwähnen, die uns helfen, die Gestalt des Königs bei Maimonides besser zu begreifen. Die von Moses nach dem Ratschlag von Jethro (Ex. 18; Dt. 1) begründete Regierungsform war wesentlich nicht monarchisch. In der Tat wurde sie von mittelalterlichen und Renaissancekommentatoren dem aristotelischen polybianischen Typ gleichgestellt, einer Kombination von Monarchie, Aristokratie und Demokratie mit einem stark theokratischen Element. In der Torah findet man nirgendwo die Vorstellung des Königtums im Sinne eines Imperativs. In Dt. 17 wird es als hypothetische Möglichkeit und nicht als Pflicht gezeigt (Dt. 17:14: „Und Du sprichst: ‚Ich will einen König über mich setzen.‘ […]“). Im Deuteronomium gilt es sogar manchmal als unerwünscht, da die Einsetzung eines Königs einem menschlichen Bedürfnis und nicht einem Aspekt des göttlichen Willens entspricht. Dieses Bedürfnis ist negativ, weil es die Notwendigkeit zeigt, „gleich allen Völkern, die rings um mich her sind“ (Dt. 17:14) zu sein. Die Torah erlaubt die Einsetzung eines Königs über Israel, aber es existieren strenge und präzise Beschränkungen dafür. Im Endeffekt ist die Monarchie in der Bibel eine konstitutionelle, da die Monarchie unter der Autorität der Torah bleibt, welcher auch der König gehorchen muss. Die Rolle des Königs wird sogar durch seinen Gehorsam gegenüber der Torah und durch seine Sorge um das gemeinschaftliche Wohlergehen bestimmt, weshalb das Handeln des Königs eben nicht frei und willkürlich ist. Aus diesem Grund findet man in Dt. 17 eine Aufzählung von teils negativ formulierten Pflichten oder Bestimmungen 180 In seinem Werk Sha>ar ha-Shamayim (‚Tor des Himmels‘) übernahm Ibn Latif fast wörtlich viele Kapitel von Alfarabis Al-Madina al-Fadila (The Virtuous State), während Ibn Falaquera sich in seiner Enzyklopädie der Wissenschaften Reshit Hokhmah (‚Der Anfang der Weisheit‘) auf Alfarabis’ Philosophy of Plato and Aristotle und auf Alfarabis’ Al-Madina al-Fadila in seinem Sefer ha-Ma>alot (‚Buch der Grade‘) bezog. 181 Für eine solche Vertiefung siehe u.a.: David Biale, Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986; Gerald J. Blidstein, The Monarchic Imperative in Rabbinic Perspective, in: AJS Review 8–9 (1982–1983), S. 15–39; ders., On Political Structures, in: JJOS 22 (1980), S. 47–58; David Polish, Some Medieval Thinkers on the Jewish King, in: Judaism 20 (1971), S. 323ff; ders., Give us a King. Legal-Religious Sources of Jewish Sovereignty, Hoboken (NJ) 1989; ders., Biblical Views of Kingship and Sovereignty, Worldly and Divine, in: Jonathan V. Plaut (Hrsg.), Through the Sound of Many Voices. Writings Contributed on the Occasion of the 70th Birthday of W. Gunther Plaut, Toronto 1982; ders., Covenant – Jewish Universalism and Particularism, in: Judaism 34,3 (1985), S. 284–300; ders., Rabbinic Views on Kinship; a Study in Jewish Sovereignty, in: Jewish Political Studies Review 3,1–2 (1991), S. 67–90; A. A. Halevi, Mishpat ha-melekh min ha-hagut ha-medinit ba->olam ha->atiq be-Yisrael u-va->amim, in: Tarbiz 38 (1969), S. 225ff; Erwin E.J. Rosenthal, Some Aspects of the Hebrew Monarchy, in: JJS 9 (1958), S. 3–20; Simon Federbush, Mishpat ha-Melukha be-Yisrael, Jerusalem 1952.
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(„… soll er nicht …“), die sich auf den König beziehen. Offenkundig war die Angst vor dem Missbrauch der königlichen Macht und der königlichen Funktion sehr groß. Eine ähnliche Beschreibung des Königtums findet man auch in 1Sam. 8182, wo das Volk um die Einsetzung eines Königs über Israel bittet. Zweimal (1Sam. 8,5 und 1Sam. 8,19f) wird diese Frage als Wunsch, ‚wie die anderen Völker zu sein‘, und sogar als eine deutliche Rebellion gegen das Gesetz Gottes verstanden. Einerseits wird die Monarchie als eine Variante des Heidentums interpretiert, und andererseits beschreibt Samuel sie als eine Form von Despotismus, wohingegen doch Gott sich darum bemüht hat, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien. Die gesamte Erzählung des Verhältnisses zwischen Königen und Propheten (von Saul und Samuel bis zur Zerstörung des Ersten Tempels) ist eine ununterbrochene Kette von heftigen Auseinandersetzungen der Propheten mit der Monarchie.183 Das deutet auf einen grundlegenden Verdacht gegen die Gestalt des Königs hin, da das einzige Reich dasjenige Gottes ist (so könnte Gideons Ablehnung der Herrschaft über Israel interpretiert werden, wenn Gideon in Ri. 8:23 sagt: „Nicht will ich über euch herrschen, noch soll mein Sohn über euch herrschen, der Herr soll über euch herrschen“). Jedoch findet man in der Bibel auch die Angst davor, dass die Abwesenheit einer starken, zentralisierten und empirischen Kraft zu Anarchie führen könnte (Ri. 21:25: „Zu jener Zeit gab es noch keinen König in Israel; ein jeder tat, was ihn recht dünkte“). Die Errichtung eines mächtigen und dynastischen Königtums in Jerusalem durch David im Jahre 1004 v. c. Z. hat die Israeliten nicht nur politisch im Vorderen Orient zur Normalität geführt, sondern hatte auch einen weiteren Schub der Assimilation der JHWH-Religion an die Religion Kanaans zur Folge. Die Kriege und Eroberungszüge Davids haben die ehemals kanaanäische Stadtbevölkerung zu Untertanen eines israelitischen Königtums gemacht – im Gegenzug hat die kanaanäische religiöse Kultur geholfen, die neue politische und soziale Situation Israels zu deuten. Die gesellschaftliche Stellung des Königs, das von ihm übernommene kanaanäische-jebusitische Heiligtum Jerusalems bzw. dessen Neuerrichtung unter Salomon und die Bedeutung der Königsstadt der Davididen, all dies fügte sich weder in das überkommene Symbolsystem des Exodusgottes JHWH noch in das der Vätergötter der Patriarchengeschichten ein. Demgegenüber besaßen die kanaanäischen Stadtkönigtümer ein reiches Arsenal an Denkkategorien, welche die neue Situation zu deuten und zu legitimieren wussten. Dies konnte offenbar 182 Siehe auch: Lyle M. Eslinger, Kingship of God in Crisis: A Close Reading of 1Sam. 1–12, Sheffield 1985. 183 Siehe auch: Charles R. Newcombe, The Prophetic Attitude to Hebrew Kingship, Nashville 1966.
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umso leichter gelingen, als schon die Väterreligion und der Exodus-Gott Verschmelzungen mit der El- und Baal-Religion Kanaans erfahren hatten. Der zentrale Ausgangspunkt für diese notwendig gewordenen Neudeutungen scheint vor allem das Jerusalemer Heiligtum mit seiner anscheinend weitgehend autochthonen jebusitischen Priesterschaft gewesen zu sein. Dies umso mehr, als das Jerusalemer Heiligtum das Heiligtum des Königs war und dieser somit als oberster Herr und Priester dieses Tempels betrachtet wurde.184 Kern und Fundament der dramatischen Akzentverlagerung ist die Vorstellung, dass der Gott Israels nunmehr einen Bund mit David, dem König, geschlossen hat (ein Bund, der aber nicht mit dem Sinaibund zwischen Gott und Volk in Konkurrenz tritt). Ein ewiger Bund soll es sein, wie es der Prophet Jeremia formuliert: „Und es erging an Jeremia das Wort des Herrn: So spricht JHWH: So gewiss ihr meinen Bund mit dem Tage und meinen Bund mit der Nacht nicht aufheben könnt, also dass Tag und Nacht nicht mehr eintreten würden zu ihrer Zeit, so gewiss wird auch mein Bund mit meinem Knecht David nicht aufgehoben werden, so dass er keinen Sohn mehr hätte, der auf seinem Throne herrschte.“185
Der Prophet erinnert hier an die religiöse Gründungsurkunde der davidischen Dynastie, die einst der Hofprophet Nathan dem König David als Wort Gottes überbracht hatte: „So spricht JHWH [der Heerscharen]: Ich habe dich von der Weide hinter den Schafen weggeholt, damit du Fürst werdest über mein Volk Israel. Ich bin überall mit dir gewesen, wohin du auch gezogen bist, und habe deine Feinde vor dir ausgerottet. Ich will dir einen Namen machen gleich dem Namen der Größten auf Erden, und ich will meinem Volke Israel eine Stätte bereiten und es daselbst einpflanzen, dass es ruhig wohnen bleibe […]. Dich aber will JHWH groß machen; denn JHWH wird dir ein Haus bauen. Wenn einst deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern legst, dann will ich deinen Nachkommen aufrichten, der von deinem Leibe kommen wird, und will sein Königtum befestigen, der soll in meinem Namen ein Haus bauen, und ich will seinen Königsthron auf ewig befestigen. Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein […], dein Haus und dein Königtum sollen immerdar vor mir Bestand haben; dein Thron soll in Ewigkeit feststehen.“186
Die Weissagung Nathans hat das irdische Königtum der Davididen lange überlebt, denn sie wurde zur Keimzelle des Glaubens an einen messianischen König, der bis heute zu den zentralen Hoffnungen des Judentums gehört. Die Nathanweissagung verbindet zugleich eine gemäßigte und eine 184 Vgl. Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Göttingen 1992, S. 183f, S. 193f; vgl. auch: Karl Erich Grötzinger, Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2004, S. 77ff. 185 Jer. 33:19–21; vgl. auch 2Sam. 23:5; Ps. 132:12. 186 2Sam. 7:8–16.
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eher orientalische Königsideologie – gemäßigt insofern, als die Königswerdung als eine Erwählung Davids aus dem Volk dargestellt wird und sich der König nur eben durch diesen göttlichen Erwählungsakt von den übrigen Israeliten unterscheidet. Gewiss, in der Forschung wird gewöhnlich darauf hingewiesen, dass diese Gottessohnschaft der Davididen eher metaphorisch oder doch nur im Sinne einer ‚Adoptionssohnschaft‘ zu verstehen sei187, aber dennoch gibt es Stellen in der Bibel, in denen für diese Sohnschaft die gebräuchlichen biologischen Begriffe verwendet werden, so zum Beispiel in Ps. 2:6–7: „Ich habe meinen König eingesetzt auf dem Zion, meinem heiligen Berg. Kundtun will ich das Zeugnis JHWH’s, der zu mir sprach: Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt.“188
In Ps. 48:7 wird der König darum folgerichtig einmal sogar als ‚Elohim‘, Göttlicher, angesprochen. Bedeutsam für das religiöse Verständnis des judäischen Königtums sind die sogenannten Königspsalmen des biblischen Psalters, die in der Forschung als Gesänge verstanden werden, die bei der Thronbesteigung der judäischen Könige vorgetragen worden sind (Ps. 2:110; 20: 144; 45:101; 72:21; 89:18; 132:44). Die in diesen Königsliedern angesprochenen Themen sind die Adoption bzw. Zeugung des Königs durch Gott189, seine Erwählung, Legitimation und Führung von Gottes Hand, die Proklamation einer Heils- und Segenszeit, die mit seinem Regierungsantritt beginnen soll, die Dauer seiner Herrschaft, sein gerechtes Regiment und seine Siege. In den Königspsalmen und in hier anzusiedelnden Texten aus den Propheten tritt Gottes Verhältnis zu Israel deutlich in den Hintergrund zugunsten der Beziehung Gottes zu seinem Gesalbten (mashiah). Waren es in der Exodus-Tradition die Feinde Israels, die Gott bekämpfte und besiegte, so sind es in der Königstradition die Feinde des Königs: „Es sprich JHWH zu meinem Herrn [dem König]: ‚Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich hinlege deine Feinde als Schemel für deine Füße.‘ JHWH wird dein mächtiges Zepter ausstrecken vom Zion; herrsche inmitten deiner Feinde in heiligem Schmuck.“190
187 Vgl. Gerhard von Rad, Das jüdische Königsprotokoll, in: ders., Gesammelte Studien, München 1965, S. 205–213; Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels, op. cit., S. 176, Anm. 11; vgl. auch: Philip J. Nel, The Theology of the Royal Psalms, in: Old Testament Essays 11,1 (1998), S. 71–92; Peter Machinist, The transfer of kingship: a divine turning, in: Astrid B. Beck et al. (Hrsg.), Fortunate the Eyes that See. Essays in Honor of David Noel Freedman in Celebration of his Seventieth Birthday, Grand Rapids (Mich.) 1995, S. 105–120; Karl Heinz Bernhard, Zur Königsideologie in Israel, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 17 (1969), S. 421–426; John Figgis, The Theory of the Divine Right of Kings, Cambridge 1896. 188 Vgl. auch Ps. 110:3. 189 Dasselbe Thema findet man auch im ägyptischen Königtum: Walter Beyerlin (Hrsg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, in Zusammenarb. mit Hellmut Brunner, Göttingen 1975, S. 56; Hellmut Brunner, Die Geburt des Gottkönigs, Wiesbaden 1964. 190 Ps. 110:1–2.
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Psalm 110, in welchem die enge Bindung Gottes an den König besungen wird, gehört in seiner Motivik zu dem, was man den ‚orientalischen Hofstil‘ nennt.191 Danach werden bei der Verherrlichung des Königs Attribute und Erwartungen ausgesprochen, die weit über die Realität hinausreichen und geradezu paradiesische Vorstellungen entwerfen oder hervorrufen. Sie werden nach vielfacher Enttäuschung zur Topik eines ersehnten endzeitlichen davidischen Königs, zur Hoffnung auf einen melekh mashiah (König-Messias), welcher einst alle diese Sehnsüchte erfüllen werde. Es wird in diesem Hofstil aber zugleich ein Stück realer Machtbefugnis des Königs umschrieben, wie jene, dass der König zugleich der höchste Priester für sein Staatsheiligtum ist. Gerade dieser Topos führt nochmals eindrucksvoll vor Augen, in welchem Maße die jüdische Königsideologie aus der kanaanäischen Königskultur gespeist wurde – etwa wenn Psalm 110 (V. 4) über den König singt: „Der Herr hat geschworen […]: ‚Du bist Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchizedeks.‘ – eine Prädikation, die den Davididen in die unmittelbare Nachfolge jenes jebusitischen Priesterkönigs Melchizedek stellt, der nach dem legendären Bericht in Gen. 14 einst Abraham gesegnet hat. Der König selbst konnte darum als Priester Opfer darbringen192 und den Segen sprechen.193 Psalm 72 umschreibt die ganze Fülle der Segnungen, die vom König – dank Gottes Hilfe – erwartet werden: gerechtes Gericht für die Elenden und Armen194: Er ist gleich dem Regen, der dem Land Fruchtbarkeit schenkt, er wird herrschen von Meer zu Meer, alle seine Feinde müssen den Staub seiner Füsse lecken, alle Völker müssen ihm dienen, in seinen Tagen blüht das Glück, er rettet die Elenden, er erbarmt sich des Geringen, Korn wird es im Überfluss geben. Das Segenswort, das nach den Vätersagen Abraham galt (Gen. 12:3), bezieht sich nun auf den König: „Mit seinem Namen sollen sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde.“ (Ps. 72:17) Mit dem Amtsantritt eines Königs hat man die Vorstellung von der Ankunft des goldenen Zeitalters verbunden: Der König wird Gerechtigkeit schaffen, die Tyrannen schlagen, der Wolf wird sich zum Lämmlein legen, Kalb und Junglöwe werden nebeneinander weiden, die Menschen werden wachsen in der Erkenntnis des Herrn (alle diese Themen werden in Jes. 11 angesprochen).
191 192 193 194
Vgl. Hugo Gressmann, Der Messias, Göttingen 1929, S. 7ff. 2Sam. 6:17; 1Kön. 8:62f; 2Kön. 10:18ff. 2Sam. 6:18; 1Kön. 8:14. Vgl.: Zafrira Ben-Bazak, The Appeal to the King as the Highest Authority of Justice, in: Matthias Augustin/Klaus D. Schunck (Hrsg.), Wünschet Jerusalem Frieden. Collected Communications to the XIIth Congress of the International Organization for the Study of the Old Testament. Jerusalem 1986, Frankfurt/M. 1988, S. 169–177.
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Kurz, die Religion Israels ist im Umkreis des davidischen Hofes primär eine Königsreligion, nach welcher der König Statthalter Gottes auf Erden ist. Von ihm erwartet man Hilfe und Heil, er ist es, der die Gottesherrschaft über die Völker ausübt. Die jüdische Königsreligion ist als gesellschaftliche Realität mit dem Ende des Staates Juda im Jahre 587 v. c. Z. zu ihrem Abschluss gekommen – nicht aber als religiöse Utopie. Die Könige Judas und Israels galten als „Gesalbte des JHWH“ (2 Sam. 23:2; 1 Sam. 16:3; Jes. 11:1–8), denn die Salbung hatte jene Bedeutung, die in anderen Kulturen die Krönung besaß. Der „Gesalbte des Herrn“, nämlich der mashiah JHWH, aus der davidischen Linie, der all das verwirklichen sollte, was der jüdische Hofstil vom König gesungen und erwartet hatte, lebte nach dem Ende des Staates Juda in der Hoffnung des Volkes weiter, es entwickelte sich das, was man später die ‚Hoffnung auf den Messias‘ nannte.195 Die Bindung an das davidische Geschlecht war dabei so eng, dass schon der 597 v. c. Z. nach Babylon exilierte Prophet Ezechiel eine Wiederkunft des Königs David selbst erwartet. Gott verheisst da: „Ich werde über sie einen einzigen Hirten bestellen, der sie weiden soll, meinen Knecht David; der wird sie weiden, und der wird ihr Hirte sein. Und ich, JHWH, werde ihr Gott sein, und mein Knecht David wird ihr Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, JHWH, habe es geredet.“196
Was wir später aus nachbiblischer Zeit als endzeitliche Messiaserwartung kennen, war in der Bibel selbst zunächst noch die Erwartung eines künftigen Davididen, der die in diese Dynastie gesetzten Hoffnungen erfüllen würde, er war also noch nicht Gegenstand einer endzeitlichen Erlösungshoffnung.197 Auch wenn sich die Erwartung eines gerechten künftigen Königs in nachbiblischer und vor allem in der rabbinischen Zeit zu der Messiaserwartung schlechthin entwickelt hat, gab es doch auch Konkurrenz oder Komplementärerwartungen, welche einen messianischen Priester und auch Propheten erhofften. Die rabbinische Tradition strebte danach, die Monarchie positiv zu interpretieren198, da sie als Vorbedingung für die Unabhängigkeit Israels von 195 Ernst Joachim Waschke, David redivivus. Die Hoffnungen auf einen neuen David in der Spätzeit des Alten Testaments, in: Walter Dietrich/Hubert Herkommer (Hrsg.), König David: biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Stuttgart 2003, S. 179–209; Gordon J. McConville, King and Messiah in Deuteronomium and Deuteronomic History, in: John Day (Hrsg.), King and Messiah in Israel, Sheffield 1998, S. 323–337; Tryggve N.D. Mettinger, King and Messiah. The Civil and Sacral Legitimation of the Israelite Kings, Lund 1976. 196 Ez. 34:23–24; vgl. auch Jer. 30:9. 197 Vgl. Jer. 23:5ff; 33:14–18; Mi. 5:1ff; Jes. 8:23; 9:11. 198 B. M. Bosker, Messianism, the Exodus Pattern, and Early Rabbinic Judaism, in: James H. Charlesworth (Hrsg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis 1992, S. 239–258; Moshe Greenberg, Rabbinical views on Kingship: a study in Jewish sovereignty, in: Jewish Political Studies Review 3,1–2 (1991), S. 67–90; Philip S. Ale-
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den anderen Nationen betrachtet wird. Alles in allem sehen die Rabbinen die Epoche von David und Salomon als die verlorene goldene Zeit, die mit der Ankunft des Messias wiederbelebt sein wird. Diese rabbinische Tradition beginnt somit, die messianische Konzeption mit der Idee des Königs zu verbinden. Trotzdem schwankten auch die Rabbinen, zwischen der Epoche der Tannaim und der Epoche der Amoraim, in Bezug auf die halakhischen Qualifikationen des Königs, genauso wie man auch im späteren Midrash solche Schwankungen findet. Zum Beispiel war Rabbi Judah unter den Tannaim der Ansicht, dass die Einsetzung eines Königs von der Torah befohlen werde, während Rabbi Nehora’i der Ansicht war, dass eine solche Einsetzung das größte Unglück für Israel wäre. In der Mishnah findet man ähnliche Kontroversen in Bezug auf die Einsetzung eines Königs über Israel, aber alles in allem behauptet die Mishnah, dass es einen König in Israel geben müsse. Die Mehrheit der Rabbinen erkennt die Monarchie als halakhische Norm an, doch wird sie als konstitutionelle Monarchie wie in Dt. 17 begriffen. In der Tat enthält die Halakhah eine deutliche Trennung zwischen politischen, juridischen und zeremonialen Gewalten. Die Monarchie wird somit beschränkt und abhängig von anderen Autoritätsquellen gemacht. Dieses Prinzip drückt die mishnaische Lehre der drei Kronen (ketarim) aus: Torah, Priestertum und Königtum. Sogar Moses war es nach der rabbinischen Tradition verboten, alle drei Kronen zugleich zu besitzen, und auf jeden Fall befindet sich das Königtum stets unter der Autorität der Torah. Die Debatte über die Monarchie wurde noch heftiger zwischen den Geonim von Babylon und den Exilarchen, da die ersteren behaupteten, dass die Institution der Monarchie keine halakhische Verpflichtung sei. Im Mittelalter hielten Sa>adyah Gaon und Abraham Ibn Ezra noch diese Position aufrecht, während Maimonides (Hilkhot Melakhim 1:1) die Monarchie als halakhische Norm interpretierte. Dessen Position wurde später von der Mehrheit der jüdischen mittelalterlichen Philosophen von Bahya ben Asher bis Joseph Ibn Caspi (mit der Ausnahme von Yishak Abravanel) geteilt. Da eine solche Debatte im Islam niemals entstand, wurde die Annahme der politischen Theorie Platons als monarchisch problemlos akzeptiert und dann ins Judentum übertragen. Diese Übertragung war aber nicht unumstritten. Abraham Melamed schreibt diesbezüglich: „Maimonides, an avowed monarchist, had serious doubts about the Farabian-Platonic identification of the philosopher king with the prophet. […] xander, The King Messiah in Rabbinic Judaism, in: John Day (Hrsg.), King and Messiah in Israel, op. cit., S. 456–473; Peter Schäfer, Studien zur Geschichte und Theologie des Rabbinischen Judentums, Leiden 1978, S. 37–43.
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[D]espite the parallelism of the Platonic philosopher-king theory and the Jewish tradition of the lawgiver-prophet, the two concepts conflict with each other in two respects. First, the Jewish political tradition posited a division of functions and powers, on the lines of the Three Crowns, at least for the period following the founding of the state by the prophet-lawgiver. This tradition makes for a clear-cut distinction between the prophet-lawgiver and the king. The Platonic stance, by contrast, preferred the combination of powers in a single individual. Second, the Platonic theory was essentially monarchical. By contrast, the halakhic posture viewed the monarchical regime with a large measure of suspicion and therefore, favored a restricted monarchy as distinct from the absolutism of the Platonic theory.“199
Um zu verstehen, aus welchem Grund nur einige Aspekte der platonischen Theorie im mittelalterlichen Judentum angenommen wurden, ist es notwendig, die Prinzipien dieser Theorie – zumindest diejenigen, die für die Untersuchung der Position von Maimonides notwendig sind – deutlich herauszustellen.
3.1 Der König-Philosoph in der Politeia Wenn man auf die Entwicklung der Argumentation in der Politeia blickt, so stellt man fest, dass sie im Vergleich zur Mishneh Torah gerade umgekehrt verläuft: Platon analysiert zunächst die Entstehung der Stadt (Pol. II 369c), und erst danach kümmert er sich um die Definition der Gerechtigkeit (Pol. IV 432b). Platon will gegen die Athenische Demokratie und die sophistischen politischen Prinzipien eine politische Theorie begründen, und dabei benutzt er zwar seine Theorie der Ideen, aber in enger Beziehung zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, um die Entstehung der Stadt und die nachfolgende Definition der Gerechtigkeit darlegen zu können. Jede Stadt entsteht aus der Notwendigkeit, die Bedürfnisse des Menschen zu stillen; das bedeutet aber, dass jeder Mensch in der Stadt den Beruf ausüben muss, der seiner Seele entspricht. Die platonische Definition der Gerechtigkeit – „Dieses also, o Lieber, scheint die Gerechtigkeit zu sein, dass jeder das seinige verrichtet“ (Pol. IV 433b) – basiert in bezug sowohl auf den Einzelnen wie auf die Kollektivität auf demselben Prinzip – „Gerechtigkeit, sagen wir doch, findet sich an einem einzelnen Manne, findet sich aber auch an einer ganzen Stadt“ (Pol. II 368e) –, jedoch ist es einfacher, erst die Gerechtigkeit für die Stadt und dann für den Mikrokosmos des Menschen zu bestimmen. In der Analyse der unterschiedlichen Phasen, denen man in der Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft begegnet, bildet Platon ein theoretisches (nämlich a-historisches), logisches und psycho199 Abraham Melamed, The Philosopher-King, op. cit., S. 10. Siehe auch: Jacob Blidstein, Akaronot mediniim beMishnat ha-Rambam, Ramat Gan 1983, im bes. S. 61–72.
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logisches System, in dem die Theorie der Schichten innerhalb der Entwicklung der Gemeinschaft entsteht. Die Definition der Gerechtigkeit kann auf die Struktur der drei Schichten angewandt werden, die auf einer strengen Aufteilung der Funktionen und der Aufgaben basiert. Diese Aufteilung entspricht ihrerseits den drei Seelenteilen, nämlich dem begehrlichen, dem geistigen und dem vernünftigen Seelenteil, und zeigt die Ähnlichkeit von Staat und Menschen. Die einfachen Menschen, deren Aufgabe die Sorge um die materiellen Bedürfnisse des idealen Staates ist, stellen den begehrlichen Teil dar. Die Wächter, die den Staat nach innen und außen schützen müssen, stellen den Geist dar. Endlich stellen die Philosophen, deren Aufgabe dank der Vollkommenheit ihres Intellektes die Leitung des Staates ist, die Vernunft dar. Da die Vernunft die niedrigeren Seelenteile leiten muss, müssen diejenigen, die mit der vernünftigen Vollkommenheit begabt sind, die organisierte menschliche Gemeinschaft, mithin den Staat, leiten. Während jede Schicht ihre eigenen Fähigkeiten und die dementsprechenden Aufgaben hat, gibt es zwei Grundtugenden, die in allen Schichten zu finden sind: die Besonnenheit und die Gerechtigkeit (Pol. IV 427d). ‚Besonnenheit‘ bedeutet die Bereitschaft jedes Menschen, die eigene Rolle zu akzeptieren und das eigene Begehren zu unterdrücken, weil die Aufgabe, die zu erledigen ist, diejenige ist, für die er am besten geeignet ist und mit der er am besten auf die Bedürfnisse der ganzen Gemeinschaft antworten kann. Die Wächter haben dazu auch die Grundtugend des Mutes, da sie für den Schutz und Verteidigung des Staates gegen innere und äußere Feinde zuständig sind. Da der König-Philosoph zur höchsten Schicht gehört, besitzt er selbstverständlich alle Grundtugenden der niedrigeren Schichten, nämlich Gerechtigkeit, Besonnenheit und Mut. Aber er ist der einzige, der außerdem noch die Weisheit (sophia) besitzt. Abraham Melamed schreibt diesbezüglich: „There is then, an exact match between the virtues of the philosopher king and those of the ideal state, the former being a miniature of the perfect virtues of the philosophical state and the latter being a reflection of the perfect virtues of the philosopher king.“200
Platon beschreibt die Grundtugenden der philosophischen Seele unter drei Blickwinkeln. Der erste bezieht sich auf das Potential einer solchen Seele, sie lernt nämlich schnell und hat ein hervorragendes Gedächtnis. Der KönigPhilosoph strebt permanent nach der Erkenntnis und ist imstande, sie dank seiner Tugenden auch zu gewinnen. Diese Erkenntnis wird von Platon ‚Er-
200 Abraham Melamed, The Philosopher-King, op. cit., S. 14.
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kenntnis der Ideen‘ genannt – „Dieses, denke ich, soll uns feststehen in Absicht der philosophischen Naturen, dass sie Kenntnisse immer lieben, welche ihnen etwas offenbaren von jenem Sein, welches immer ist, und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird“ (Pol. VI 485b) –, sie entspricht also der vollkommenen Erkenntnis, die zur Vollkommenheit im Rahmen der übrigen Grundtugenden führt. Platon fasst die Tugenden des König-Philosophen wie folgt zusammen: „Kannst du also wohl irgendwie ein solches Geschäft tadeln [die Führung des Staates], dem sich niemals jemand gründlich widmen kann, wenn er nicht von Natur von gutem Gedächtnis ist, gelehrig, edelmütig, anmutig, der Wahrheit Freund und verwandt, so wie der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Besonnenheit?“201 Mit anderen Worten: Die philosophische Seele vereint drei Grundqualitäten, die für die Führung des idealen Staates unabdingbar sind: das Potential, die Wahrheit zu begreifen, das Begehren dieses Begreifens und die Vollkommenheit der intellektuellen und moralischen Tugenden. Nach Platon entspricht die Vollkommenheit der intellektuellen und moralischen Tugenden der grundlegenden Fähigkeit (und zugleich der Pflicht), die Gemeinschaft zu führen. Die von Sokrates in der Apologie ausgedrückte politische Position hat einen deutlichen Widerhall im Höhlenmythos der Politeia: Der Philosoph gewinnt die Erkenntnis der Ideen nicht nur zugunsten der Vollkommenheit seines eigenen Intellektes, sondern auch und hauptsächlich, um der Gemeinschaft das Licht zu zeigen und sie zum höchsten Vollkommenheitsniveau, das möglich ist, zu führen. Wer imstande ist, die Bestimmung der Gerechtigkeit und des Guten zu begreifen, muss diese Werte im handelnden Leben verwirklichen. Aus diesem Grund muss der Philosoph in die Höhle zurückkehren, um die anderen Menschen das von ihm begriffene Licht zu lehren. Auch in den Nomoi kehrt Platon kurz zum König-Philosophen zurück, aber im Vergleich zur Politeia mit einem entscheidenden Unterschied. Während der Debatte mit einem Athener über die Gründung eines neuen Staates, nach der Auswanderung aus einem bereits existierenden, ist der Athener der Meinung, dass der neue Staat nur der beste ist, wenn er von einem absoluten Führer geleitet wird (der Athener wiederholt an dieser Stelle die Beschreibung der Grundtugenden der Politeia; Nomoi IV:709). Überraschenderweise wird aber eine Tugend nicht erwähnt, welche die wichtigste für die Bestimmung des König-Philosophen in der Politeia ist: die Vollkommenheit des Intellektes als Streben nach der Wahrheit. Größtenteils teilen die Interpreten die Auffassung, dass der ältere und weisere Platon, nach der negativen Erfahrung mit Dionysios II. von Syra-
201 Politeia, VI 487a.
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kus202, die Rolle des Gesetzes hervorhebt und meint, dass jede Regierungsform zum besten Staat führen kann. Es bedeutet, dass der König in den Nomoi nicht notwendigerweise ein Philosoph sein muss.203 Abraham Melamed verbindet die Nomoi mit der Theorie der imitatio dei, die man im Theätet findet: „In the Theatetus he [Platon] notes that the purpose of human existence is ‚to become like God as far as it is possible; and to become like God is to become righteous and holy and wise‘. Here it is important to emphasize the limitations of human knowledge. Human perfection does not mean simply perfection of the intellect; rather the latter is a means of attaining perfection in all the virtues. The supreme purpose of the philosopher, then, is not theory, but praxis: ‚to become righteous and holy and wise‘.“204
Strenggenommen konzentrierten sich sowohl die muslimischen als auch die jüdischen Philosophen des Mittelalters auf diese Verbindung zwischen den Tugenden des idealen König-Philosophen und der imitatio dei, obwohl diese Verbindung nicht von Platon, sondern von seinen hellenistischen Kommentatoren eingefügt wurde. Der König-Philosoph wurde somit allmählich dem Prophet-Gesetzgeber ähnlich, der, soweit es möglich ist, die von Gott gesetzten Tugenden im Verständnis seines Gesetzes zum Gewinn der Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht und der die Vollkommenheit seines Intellekts der Gemeinschaft, mithin dem handelnden Leben, zur Verfügung stellt. Abraham Melamed schreibt in diesem Zusammenhang: „For Plato, the philosopher king might rule in a utopian future. Jewish and Muslim theological thought transferred his reign to the past; a utopian past, at the founding of the nation. For the philosopher king was the prophetic founder of the religion. He would reappear with the coming of the king-messiah.“205
Ich stimme mit dieser Position nicht überein: Selbstverständlich ist der Prophet-Gesetzgeber eine Gestalt der Vergangenheit, während die Vollkommenheit der Nation von dem künftigen Messias verwirklicht werden wird, aber im Laufe meiner Untersuchungen über die politische Theorie von Alfarabi einerseits und von Moses Maimonides andererseits hat sich eine radikal andere zeitliche Perspektive aufgetan. Die Notwendigkeit, die ständige Verbesserung des politischen Systems durch das konkrete geschichtliche Handeln – und nur durch dieses! – zu verwirklichen, bedeutet die unmittelbare Einfügung der ‚Erkenntnis der
202 Platon versuchte als Philosoph erfolglos, einen König (nämlich Dyonisios) zur Philosophie zu führen. 203 Für eine Vertiefung dieser Thematik siehe u.a.: E. Barker, Greek Political Theory, London 1964, S. 385. 204 Abraham Melamed, The Philosopher-King, op. cit., S. 16. 205 Ibidem.
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Vergangenheit‘ in die politische Gegenwart. Die politische Gegenwart zeigt sich somit als Antizipation der messianischen Zeit.
§ 4 Der König und der Messias: Die Verbindung beider Gestalten im Sefer Shofetim Zu Beginn des letzten Kapitels des letzten Buchs der Mishneh Torah untersucht Maimonides die Gestalt des Königs im Hinblick auf das Wohlergehen sowie das Weiterleben der Gemeinde und am Schluss die Gestalt des Messias als den, der das Gesetz vollendet. Trotzdem lautet der Titel des Kapitels „Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem“, der Messias erscheint somit nicht als Hauptthema dieses Abschnitts. Meines Erachtens hat diese bewusste Entscheidung von Maimonides mit der religiösen und philosophisch-politischen Kontinuität, die er zwischen der Gestalt des Königs und der Gestalt des Messias feststellt, zu tun. Um die unterschiedlichen Phasen dieser Kontinuität in Maimonides’ Argumentation darzustellen, wird sich meine Untersuchung auf die folgenden Schwerpunkte konzentrieren: 1. die politische Funktion des Königs: Ähnlichkeit mit und Unterschiede zur Gestalt des Königs bei Alfarabi und bei Platon; 2. das Verhältnis zwischen dem König und dem Großen Gericht (Sanhedrin); 3. der König-Messias: biblische und talmudische Einflüsse auf Maimonides; 4. die Lehre der zwei Messiasse; 5. der Messias und die von ihm geführten Kriege: differenzierte Bedeutung von ‚Krieg‘ bei Maimonides; 6. das Verhältnis zwischen Messias, Königtum, Gesetz und Erkenntnis Gottes. Im Laufe dieser Untersuchung wird vor allem die Interpretation von Gershom Scholem bezüglich des Maimonidischen Messianismus206 der bevorzugte Gegenstand meiner Kritik sein.
4.1 Der König im Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem Von Anfang an ist es irreführend, bezogen auf das Denken von Maimonides, vom König im Singular zu sprechen, da der letzte Abschnitt des Sefer Sho206 Gershom Scholem, The Messianic Idea in Judaism, New York 1971, im bes. S. 30ff; ders., Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus, Zürich 1970, im bes. S. 9–20.
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fetim uns deutlich macht, dass hier nicht von einer einzelnen Gestalt die Rede ist, sondern von den ‚Königen‘. Eher als die Aufmerksamkeit auf eine einzelne Gestalt bildet dieser pluralistische Aspekt den Kern der Maimonidischen Argumentation, und nur auf diesen Kern beziehe ich mich im Folgenden. Maimonides leitet die zentrale Rolle des Königtums aus dem ersten Gebot über Israel ab: „[S]o sollst du dich einen König über dich setzen, den der Herr, dein Gott, erwählt“ (Dt. 17:15). Die Notwendigkeit eines Königs nimmt die anderen beiden Gebote über Israel, nämlich den Krieg gegen Amalek und die Einrichtung des Tempels, vorweg: „[S]o sollst du auch den Namen der Amalekiter unter dem Himmel austilgen“ (Dt. 25:19) und „[S]ondern die Stätte sollt ihr aufsuchen, die der Herr, euer Gott, aus alle euren Stämmen erwählen wird […]“ (Dt.12:5). Das Fehlen eines Leiters macht es für Israel unmöglich, sowohl die politischen als auch die religiösen Aufgaben zu erfüllen, die von Gott befohlen wurden. Der König ist somit derjenige, der die empirische sowie die überempirische Dimension des Gesetzes realisieren kann. In diesem Sinne besitzt ein solcher König, um die Gebote für Israel zu verwirklichen, gleichermaßen die Fähigkeiten des Leiters bei Platon und bei Alfarabi: Besonnenheit, Gerechtigkeit, Mut und Streben nach der Erkenntnis (dessen höchste Stufe die Erkenntnis Gottes ist). Im Gegensatz zu Alfarabi und Platon fehlt aber bei Maimonides nicht die Kontrollfunktion der Kollektivität in Bezug auf den König, da „der erste König nur durch den Gerichtshof der siebzig Ältesten und einen Propheten eingesetzt werden kann, wie es bei Joshua der Fall war, der von Moses unserem Lehrer und seinem Gerichtshof eingesetzt wurde […].“207 Nicht nur die Kollektivität bestimmt den König, sondern diese Bestimmung muss auch auf das Empfinden der Gemeinde abgestimmt sein, weshalb es zum Beispiel nicht möglich ist, dass Menschen mit bescheidenen Berufen (Bäcker, Metzger, usw.) zum König berufen werden. In diesem Fall würde die Gemeinde sie nicht ernst nehmen, „nicht weil sie gesetzlich disqualifiziert wären, aber weil ihre Tätigkeiten verachtet werden und die Leute werden immer eine schlechte Meinung von denen (die damit beschäftigt waren) haben.“208 Aus demselben Grund darf nur ein Mann zum König bestimmt werden, da niemand eine Frau für ein solches Amt akzeptieren würde. In der Beschreibung des Königs verwendet Maimonides Ausdrücke, die später wieder in Bezug auf den Messias verwendet werden: Der König wird zum Beispiel mit Öl gesalbt, der dieses ewige Recht auf seinen Nachwuchs überträgt. Wie man weiß, bedeutet auch das Wort mashiah ‚Gesalbter Gottes‘. 207 Sefer Shofetim, S. 207 (Übersetzung von F. Y. A.). 208 Ibidem, S. 208 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Auch in ihren Aufgaben ähneln sich der König und der Messias, wie der Vergleich zwischen Paragraph 8 des ersten Kapitels und Paragraph 4 von Kapitel 11 belegt: „Wenn der Prophet einen König aus einem Stamm Israels (außer dem Judahs) einsetzt, und dieser König wandelt in den Wegen des Gesetzes und der Gebote und kämpft Kriege für den Herrn, wird er als legitimer König erachtet und alle bezüglich des Königs festgesetzten Regeln treffen auf ihn zu, obwohl das Königtum in erster Linie David gehört und deshalb einer seiner Nachfahren der herrschende Monarch sein sollte.“209 „Wenn sich ein König aus dem Hause Davids erhebt, der über die Torah nachsinnt, sich mit den Geboten beschäftigt wie sein Vorfahre David dies tat, die festgesetzten Vorschriften des geschriebenen und mündlichen Gesetzes befolgt, so über Israel herrscht, dass es die Wege der Torah befolgt und seine Übertretungen wiedergutmacht, und die Kriege des Herrn kämpft, kann man annehmen, dass er der Messias ist.“210
Die Legitimierung des Königs bzw. des Messias ist bei Maimonides mit den sozialen Unruhen verbunden, die entstehen, wenn ein falscher König bzw. ein falscher Messias entlarvt wird. Unerfüllte Hoffnungen sowie enttäuschte Erwartungen verunsichern die Gemeinde in Bezug auf das Gesetz und auf dessen Vollstrecker: Wenn die im Großen Gericht sitzenden Weisen – die dem Studium des Gesetzes ihr Leben gewidmet haben – einen falschen König bzw. einen falschen Messias gesalbt haben, wem kann man dann noch vertrauen? Nicht Gott, sondern die Weisen der Gemeinde sind für die Salbung des Königs verantwortlich, mithin für die Bestimmung desjenigen, der die Gemeinde durch die richtige Interpretation und Anwendung des Gesetzes Gottes zur höchsten Glückseligkeit führen muss. Der König ist der Weiseste unter den Weisen, weshalb man in Kapitel 2 und in Kapitel 3 für die Charakterisierung des Königs dieselben Eigenschaften findet, die Maimonides im Sefer ha-Madda> bereits in Bezug auf den Weisen anführte; ausgehend vom auf eine Systematik ante litteram bezogenen Denken von Maimonides beobachtet man an dieser Stelle den ersten Versuch, das erste mit dem letzten Buch der Mishneh Torah inhaltlich zu verbinden: Der König muss die anderen Gelehrten ehren (nach der Lehre des Talmud ist der Weise derjenige, der von allen Menschen lernt) und fürchten, sein Geist muss von Demut geprägt sein, seine Sprache muss in der Öffentlichkeit höflich sein und die Zuhörer bereichern, sein Aussehen muss stets angemessen sein, er muss auf sexuelle und kulinarische Exzesse verzichten, weil er ein Vorbild für die ganze Gemeinde ist. Maimonides beschreibt hier nicht die Charakterzüge eines einzelnen Königs, sondern vielmehr die Charakterzüge aller Könige aus dem Hause
209 Ibidem, S. 209 (Übersetzung von F. Y. A.). 210 Ibidem, S. 240 (Übersetzung von F. Y. A.).
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David („Sobald David als König eigesetzt war, erhielt er die Krone des Königtums, welche in seiner männlichen Linie für immer erblich wurde […]“211), die nach der biblischen Lehre als Stellvertreter Gottes auf ewig für dessen Gesetz entstehen müssen. Sie sind keine Priester eines toten Wortes, sondern vielmehr die ständigen Interpreten des Willens Gottes. Wie bei Platon ist der König für die Erkenntnis und die Verwirklichung des Nomos zuständig, und wie bei Alfarabi ist der König dank seiner theologischen, naturwissenschaftlichen und ethischen Erkenntnis der höchste Gesetzgeber; zudem ist der König bei Maimonides in Besitz der höchsten Erkenntnis des Gesetzes, weil er alle Bereiche des Wissens beherrscht. Am Anfang von Kapitel 3 schreibt Maimonides diesbezüglich: „Sobald der König den Thron besteigt, muss er eine Rolle des Gesetzes für sich selbst schreiben, zusätzlich zu der, die seine Vorfahren ihm hinterlassen haben. Er muss sie durch den Gerichtshof der einundsiebzig anhand der Rolle des Tempelhofes korrigieren lassen […]: Das soll bei ihm sein und er soll darin lesen sein Leben lang, (Deut. 17:19).“212
Dieser Abschnitt gibt eine Zusammenfassung der juristischen Hermeneutik aus jüdischer Sicht: Jeder König ist verpflichtet, eine eigene Gesetzesrolle zu schreiben, die er immer bei sich haben muss. In jeder Geschichtsepoche geht der König unterschiedlichen Problemen nach, die mit der Entwicklung der Gemeinde sowie der Nachbarländer verbunden sind. Die bereits existierenden Gesetzesrollen gelten als Orientierung für den neuen König, weshalb er sie auch berücksichtigen muss. Das bedeutet aber keineswegs, dass jeder König ein neuer Schöpfer des Gesetzes ist, nach dem biblischen Prinzip, dass nichts dem Gesetz Gottes hinzugefügt bzw. von ihm weggenommen werden darf. Die Weisen des Sanhedrin üben diese Kontrollfunktion über das Handeln des Königs durch den Vergleich zwischen seiner Rolle und der Torahrolle aus, die nicht nur in jeder Synagoge (religiöse Funktion des Gesetzes), sondern auch im Hauptgericht (politische und juridische Funktion des Gesetzes) aufbewahrt wird. Die Kontrollfunktion des Sanhedrins betrifft den König auch als jemanden, der dem Gesetz Gottes untergeordnet ist: „Wir haben bereits erwähnt, dass man die Könige aus dem Hause David richten und gegen sie aussagen kann. Aber hinsichtlich der Könige Israels haben die Rabbinen erlassen, dass sie weder richten noch gerichtet werden, dass sie weder aussagen noch man gegen sie aussagt, weil sie hochmütig sind (wenn man sie als einfache Bürger behandelt) und die Sache der Religion leiden würde.“213
Der biblischen Lehre treu, unterscheidet Maimonides zwischen den Königen aus dem Stamm Davids, die wie dieser Demut gegenüber dem Gesetz 211 Ibidem, S. 208 (Übersetzung von F. Y. A.). 212 Ibidem, S. 212 (Übersetzung von F. Y. A.). 213 Ibidem, S. 213 (Übersetzung von F. Y. A.).
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zeigen, und den anderen Königen von Israel, die in ihrer Arroganz davon überzeugt sind, über dem Gesetz zu stehen. Wenn ein König glaubt, dem Gesetz nicht untergeordnet zu sein, erkennt er weder die Kontrollfunktion des Sanhedrin noch den Zweck des Gesetzes schlechthin an, weshalb es nutzlos ist, ihn auf das göttliche Gesetz zu verpflichten, weil er dieses Gesetz letztlich ohnehin nur verletzen und erniedrigen könnte. In seiner eigenen Lebenszeit hat Maimonides mehrmals erlebt, wozu die tyrannische Überzeugung, Gott gleich zu sein, einen Leiter führen kann und welche zerstörerischen Folgen diese Überschätzung der Rolle des Königs hat. Aus diesem Grund betont Maimonides am Schluss von Kapitel 4, dass Gott der höchste Herrscher des Universums bleibt: „Wer immer den königlichen Erlass [flmh trzg ] missachtet, weil er gerade ein religiöses Gebot [hvjm ] ausübt, selbst wenn es ein leichtes Gebot ist, ist nicht schuldig, denn (wenn es einen Konflikt gibt) zwischen dem Gebot [hvjm ] des Herrn (Gott) und dem Erlass [rzg ] eines Dieners (der König), hat der erstere vor dem letzteren Vorrang. Es ist selbstverständlich, dass wenn der König einen ein religiöses Gebot [hvjm ] annullierenden Befehl erlässt, er nicht beachtet wird.“214
Der König ist letztlich nichts als ein Diener des Gesetzes, weshalb er keine miswot, also keine religiösen Gebote, sondern nur Edikte (gezerot) erlassen darf, die lediglich darauf zielen, „die Beständigkeit der sozialen Ordnung zu sichern […] und die Macht der Bösen zu brechen“215. Während die miswah als Ausdruck des Willens Gottes ewigen Wert besitzt, beschränkt sich die gezerah auf die geschichtliche Situation der Gemeinde, wenn auch sein Zweck auf die Erfüllung des Willens Gottes ausgerichtet sein muss. Dieser Zweck impliziert, dass die königlichen Edikte mit den miswot stets übereinstimmen müssen, andernfalls darf die Gemeinde die königlichen juridischen Entscheidungen nicht beachten. Von Kapitel 4 an beschreibt Maimonides die Pflicht des Königs gegenüber der Gemeinde sowie die Taten, die unternommen werden dürfen, um diese Pflicht zu erfüllen. In diesem Kapitel wird zum ersten Mal in den ganzen Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem der König-Messias erwähnt, und es wird ein politischer Begriff erwähnt – der Krieg –, der in Bezug auf die letzten Kapitel über den König-Messias eine wichtige Rolle spielt. Die Erwähnung des Messias erfolgt im Rahmen einer Argumentation, die sich mit dem gerechten Handeln des Königs beschäftigt: Der König weiß, wie die Aufgaben innerhalb der Gemeinde – nach dem platonischen Muster – aufzuteilen sind (jeder erledigt eine Aufgabe, für die er aufgrund seiner Fähigkeiten am besten geeignet ist), wer sich um das Land der Solda-
214 Ibidem, S. 214 (Übersetzung von F. Y. A.). 215 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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ten kümmert, wenn diese im Krieg sind, welche Gebühren jeder Mensch für sein Land bezahlen muss usw. Gerade in Bezug auf den Besitz des Landes und auf dessen Gebühren wird der König-Messias erwähnt: „Der König-Messias wird ein Dreizehntel aller von Israel eroberten Provinzen erhalten. Das ist der Anteil, der für ihn und seine Nachfahren für immer festgesetzt ist.“216
Dieser kurze Hinweis enthält mehr Informationen, als man nach einer oberflächlichen Lektüre vermuten würde. Die Eroberungen Israels sind ein wichtiges soziopolitisches Element und bilden die eigentliche Basis der ganzen messianischen Konzeption bei Maimonides. Zunächst ist es die Fähigkeit, die Eigenschaften, die mit der Königsherrschaft Davids verbunden werden, zu wiederholen, die sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung darstellt, den Status eines messianischen Königs zu erlangen. Erfolg ist äußerst wichtig. Wenn es dem messianischen König nicht gelingt, die Feinde Israels zu besiegen, seine Vorhaben getreu den Gesetzen der Torah zu verwirklichen, den Tempel in Jerusalem wiederaufzubauen, den Opferkult wiedereinzurichten und den Prozess der Rückkehr der Exilierten zu vollenden, bleibt seine Authentizität zweifelhaft. Natürlich kann man von einem gelehrten und nach der Halakhah lebenden Nachkommen der davidischen Dynastie annehmen, dass er authentisch ist, bevor er diese Aufgaben erfolgreich erfüllt hat. Es wird erwartet, dass man seine Führung akzeptiert, in der Hoffnung, sein letztendlicher Erfolg werde ihn als authentischen messianischen König erweisen. Das Erreichen der endgültigen messianischen Ziele, wie die Errichtung eines Zeitalters von dauerhaftem Frieden, Gerechtigkeit, Ruhe und universaler Anerkennung des Gottesreiches, hat nichts zu tun mit der Bestätigung des messianischen Status. Allein schon die Bestätigung der Leistungen von König David genügt, den Nachweis, ein messianischer König zu sein, nicht nur vorläufig, sondern definitiv zu erbringen. Das Kommen des messianischen Königs ist trotzdem nicht mit dem Ende der Geschichte – wie die Menschen sie kennen – identisch, da Maimonides von einem messianisch-königlichen Nachwuchs spricht: Der KönigMessias stellt sich in die Tradition der davidischen Dynastie, die mit und nach dem König-Messias ihre Vollendung finden wird: Gerechtigkeit und Wohlstand werden in Israel und in den von ihm eroberten Ländern walten. Nach der biblischen und mittelalterlichen Konzeption ist die Eroberung anderer Länder der Hauptbeweis für den Erfolg eines Leiters; in diesem Sinne stimme ich mit Walter S. Wurzburger überein, der behauptet, dass die Konzeption des Königs-Messias bei Maimonides mit Pazifismus nichts zu
216 Ibidem, S. 216 (Übersetzung von F. Y. A.).
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tun habe.217 Der König-Messias muss Kriege führen, damit sein messianischer Status anerkannt werden kann. Die Natur dieser Kriege, und nicht die Tatsache, dass man auf sie dank der Ankunft des Königs-Messias verzichtet, ist ein wesentlicher Teil der Darstellung von Maimonides, die sich sogar auf sechs Kapitel (V–X) ausdehnt. Wie in den Werken von Alfarabi, in denen der Krieg erwähnt wird (und die ihrerseits von den islamischen Gesetzsammlungen des 8.–10. Jahrhunderts stark beeinflusst wurden), ist das Interesse bei Maimonides nicht auf den Kriegsführer konzentriert, sondern vielmehr auf die Führung des Kriegs schlechthin, nämlich darauf, wie der König den Krieg führen kann und dabei trotzdem ein ethisches und gerechtes Verhalten behält.
4.2 Der Krieg bzw. ‚die Kriege‘ in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem und ihre Beziehung zum König-Messias Wenn man die Forschungen bezüglich des Begriffs Krieg im Judentum untersucht218, findet man völlig unterschiedliche Darstellungen, Stellungnahmen und Forschungstraditionen, die eine Orientierung erschweren. 217 Walter S. Wurzburger, Maimonides’ messianische Vorstellung, in: Ekkehard Stegemann (Hrsg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart 1993, S. 72. 218 Im Laufe meiner Untersuchung habe ich mich besonders auf folgende Werke bezogen: Christophe Batsch, La guerre et rites de guerre dans le judaïsme du deuxiéme Temple, Leiden/Boston 2005; J. Harold Ellens (Hrsg.), The destructive power of religion: violence in Judaism, Christianity, and Islam, Westport (Conn.) 2004; Mauro Perani (Hrsg.), Guerra santa, guerra e pace dal Vicino Oriente antico alle tradizioni ebraica, cristiana e islamica. Atti del convegno internazionale Ravenna 11 maggio – Bertinoro 12–13 maggio 2004, Florenz 2005; Israel J. Yuval, Das Thema Waffen aus der rabbinischen Perspektive, in: Aschkenas 13,1 (2003), S. 13–16; Alessandro Vanoli, L’idea ebraica di „guerra giusta“ e l’incontro con la cultura islamica, in: Materia Giudaica. Rivista dell’associazione italiana per lo studio del giudaismo VIII/2 (2003), S. 329–341; ders., Tra Platone e Ibn Khaldûn: note sulla guerra giusta, in: Studi Storici 3 (2002), S. 755–776; Piero Stefani/Giovanni Menestrina (Hrsg.), Pace e guerra nella Bibbia e nel Corano, Brescia 2002; Thomas L. Thompson, La guerra santa al centro della teologia biblica. Shalom e la purificazione di Gerusalemme, in: Studi Storici 3 (2002), S. 661–692; Gianfranco Ravasi, La Bibbia e le guerre di Dio, in: Filosofia Politica 3 (2002), S. 359–374; Michael Walzer, War and Peace in the Jewish Tradition, in: Terry Nardin (Hrsg.), The Ethics of War and Peace. Religious and Secular Perspectives, Princeton 1998, S. 95–114; Paul Kallzveettil, The Warrior God and the Prince of Peace. Biblical Perspectives on War and Peace, in: Journal of Dharma 27,3 (2002), S. 291–308; Piero Stefani/Giovanni Menestrina (Hrsg.), Pace e guerra nella Bibbia e nel Corano, Brescia 2002; Eckart Otto, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient, Stuttgart 1999; Jeffrey Newman, War as a Challenge to Our Religious Traditions. A Jewish Response, in: European Judaism 31,1 (1998), S. 26–34; Aviezer Ravitzky, Prohibited Wars in the Jewish Tradition, in: Terry Nardin (Hrsg.), The Ethics of War and Peace, op. cit., S. 115–127; Dorothee C. von Tippelskirch, The Reason of War – Reason Beyond Reason? Emmanuel Levinas’ Reading of „Bava Qamma“,
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Bereits in der hebräischen Bibel findet man keine einheitliche Konzeption des Kriegs, da eine solche Konzeption immer von den geschichtlichen und sozio-politischen Ereignissen – während deren die jeweiligen biblischen Büchern geschrieben worden sind – beeinflusst wurde. Abgesehen von diesen Unterschieden ist in der Bibel und in der talmudischen Literatur bezüglich des Kriegs ein gemeinsames Element zu identifizieren: Danach ist der Krieg nicht von der Zukunftshoffnung und den Zukunftserwartungen des Volks zu trennen, weshalb er zugleich ein messianisches Element enthält. Ausgehend von einer kurzen Analyse des Begriffs Krieg im Talmud und in der islamischen Tradition, möchte ich untersuchen, wie Maimonides diese unterschiedlichen Quellen in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem zusammenbrachte und welche originelle Interpretation er entwickelt. Trotz der unterschiedlichen Akzente und Bedeutungsverschiebungen kann man Dt. 20:10–20 als allumfassende Konzeption von ‚gerechtem Krieg‘ in der Hebräischen Bibel ansehen: „Wenn du vor eine Stadt ziehst, um sie anzugreifen, dann sollst du ihr zunächst eine friedliche Einigung vorschlagen. Nimmt sie die friedliche Einigung an und öffnet dir die Tore, dann soll die gesamte Bevölkerung, die du dort vorfindest, zum Frondienst verpflichtet und dir untertan sein. Lehnt sie eine friedliche Einigung mit dir ab und will sich mit dir im Kampf messen, dann darfst du sie belagern.
in: European Judaism 31,2 (1998), S. 67–80; Noam J. Zohar, Can a War Be Morally „Proportional“?, in: Journal of Political Philosophy 4,3 (1996), S. 229–241 Jacques J. Ruelland, La guerre sainte de la Bible au Coran, in: Islam. History and Theology 182 (1993), S. 89–102; Johann Maier, Friedensordnung und Kriegsrecht im mittelalterlichen Judentum dargestellt auf der Basis der Schriften des Maimonides, Barsbüttel 1993; Susan Niditch, War in Hebrew Bible. A Study in the Ethics of Violence, Oxford 1993; Reuven R. Kimelman, War, in: Steven T. Katz (Hrsg.), Frontiers of Jewish Thought, Washington 1992, S. 309–332; Gerald J. Blidstein, Holy War in Maimonidean Law, in: Joel L. Kraemer (Hrsg.), Perspectives on Maimonides. Philosophical and Historical Studies, Oxford 1991, S. 209–220 Reuven R. Kimelman, The Ethics of National Power. Government and War From the Sources of Judaism, in: Daniel J. Elazar (Hrsg.), Authority, Power and Leadership in the Jewish Polity, Jerusalem 1991, S. 247–294; Anton van der Lingen, Les guerres de Yahvé. L’implication de YHWH dans les guerres d’Israël selon les livres historiques de l’Ancient Testament, Paris 1990; Dieter Vetter, Krieg und Frieden. Weisungen und Erwartungen im Judentum der talmudischen Zeit, in: Gerhard Binder/Bernd Effe (Hrsg.), Krieg und Frieden im Altertum, Trier 1989, S. 123–149; Sa-Moon Kang, Divine War in the Old Testament and in the Ancient Near East, Berlin/New York 1989; Efraim Inbar, War in Jewish Tradition, in: Jerusalem Journal of International Relations 9,2 (1987), S. 83–99; Norbert Lohfink, Il Dio della Bibbia e della violenza, Brescia 1985; Paul D. Hanson, War, Peace, and Justice in early Israel, in: Bible Review 3,3 (1987), S. 32–45; ders., War and Peace in the Hebrew Bible, in: Interpretation. A Journal of Bible and Theology 38,4 (1984), S. 341–362; Yochanan Muffs, Abraham the Noble Warrior: Patriarchal Politics and Laws of War in Ancient Israel, in: Journal of Jewish Studies 33 (1982), S. 81–107; Everett E. Gendler, War and the Jewish Tradition, in: Menachem M. Kellner (Hrsg.), Contemporary Jewish Ethics, New York 1978, S. 189–210; Waldemar Jenzen, War in the OT, in: Mennonite Quarterly Review 46 (1972), S. 155–166; Gerhard von Rad, Der heilige Krieg im alten Israel, Zürich 1951.
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Wenn der Herr, dein Gott, sie in deine Gewalt gibt, sollst du alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen. Die Frauen aber, die Kinder und Greise, das Vieh und alles, was sich sonst in der Stadt befindet, alles, was sich darin plündern lässt, darfst du dir als Beute nehmen. Was du bei deinen Feinden geplündert hast, darfst du verzehren; denn der Herr, dein Gott, hat es dir geschenkt. So sollst du mit allen Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. Aus den Städten dieser Völker jedoch, die der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen. Vielmehrt sollst du die Hetiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter der Vernichtung weihen, so wie es der Herr, dein Gott, dir zur Pflicht gemacht hat, damit sie euch nicht lehren, alle Gräuel nachzuahmen, die sie begingen, wenn sie ihren Göttern dienten, und ihr nicht gegen den Herrn, euren Gott, sündigt. Wenn du eine Stadt längere Zeit hindurch belagerst, um sie anzugreifen und zu erobern, dann sollst du ihrem Baumbestand keinen Schaden zufügen, indem du die Axt daran legst. Du darfst von den Bäumen essen, sie aber nicht fällen mit dem Gedanken, die Bäume auf dem Feld seien der Mensch selbst, sodass sie von dir belagert werden müssten. Nur den Bäumen, von denen du weißt, dass sie keine Fruchtbäume sind, darfst du Schaden zufügen. Du darfst sie fällen und daraus Belagerungswerk bauen gegen die Stadt, die gegen dich kämpfen will, bis sie schließlich fällt.“219
In diesem Abschnitt wird der Krieg (milhamah) unmittelbar mit dem Willen Gottes verbunden, der die Bevölkerungen nach einer gewissen „Geographie der Andersheit“ („geografia della diversitá“)220 unterscheidet. Während der platonische Unterschied zwischen (Ellenikoi) und
(Barbaroi) nach ontologischen Kategorien differenziert, sind einige Völker von Israel ‚geerbt‘ (nahalah) worden, und es ist legitim, sie zu töten. Es handelt sich um die im Heiligen Land lebenden Völkern, gegen die Jehoshua kämpft: Das ist ein milhamah le-Adonay (Ex. 17:16; Num. 21:14; 1Sam. 25:28; wörtlich übersetzt: ‚Krieg für/zugunsten Gott[es]‘), da Gott den Israeliten die Macht über Jericho gab. In Jos. 6:16–21 liest man diesbezüglich: „Beim siebenten Mal aber stießen die Priester in die Posaunen; da sprach Joshua zum Volke: Erhebet das Feldgeschrei; denn der Herr gibt euch die Stadt. Und die Stadt soll mit allem, was darin ist, dem Bann des Herrn verfallen sein; nur die Dirne Rahab soll am Leben bleiben, sie und alle, die bei ihr im Hause sind, weil sie die Boten versteckt hat, die wir aussandten. Nur hütet euch vor dem Gebannten, das euch nicht gelüste, etwas davon zu nehmen und so das Lager Israels durch euch 219 In den sogenannten ‚zehn Geboten‘ des ersten Kalifen ’Abu Bakr findet man bezüglich des menschlichen Verhaltens im Krieg eine verblüffende Ähnlichkeit mit diesem biblischen Abschnitt: „Do not act treacherously; do not act disloyally; do not act neglectfully. Do not mutilate; do not kill little children or old men, or women; do not cut off the heady of the palm-trees or burn them; do not cut down the fruit trees; do not slaughter a sheep or a cow or a camel, except for food. You will pass by people who devote their lives in cloisters; leave them and their devotions alone.“ (Zitiert in: John Alden Williams [Hrsg.], Themes of Islamic Civilization, Berkeley/Los Angeles 1972, S. 262) 220 Alessandro Vanoli, L’idea ebraica di ‚guerra giusta‘, op. cit., S. 331.
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dem Bann verfalle und ins Unglück komme. Alles Silber und Gold und die ehernen und eisernen Geräte sind dem Herrn geweiht; in den Schatz des Herrn soll es kommen. Da erhob das Volk das Feldgeschrei, und sie stießen in die Posaunen. Als nun das Volk den Schall der Posaunen hörte und laut das Feldgeschrei erhob, stürzte die Mauer in sich zusammen, und das Volk erstieg die Stadt, ein jeder gerade vor sich hin. So nahmen sie die Stadt ein. Und sie vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwertes, an Mann und Weib, an jung und alt, an Rind, Schaf und Esel.“
In diesem Abschnitt ist der Begriff ‚herem‘ (‚Vertilgung‘; dieses Wort hat denselben semitischen Stamm wie das arabische haram) bezüglich der milhamah le-Adonay entscheidend. Herem bezieht sich auf einen Besitz Gottes, der deswegen nicht genommen bzw. benutzt werden darf, oder auf etwas, das Gott zur Vernichtung verurteilt hat. In Dt. 7:23–26 wird herem Synonym für ‚Abscheu‘, nämlich von dem, was zerstört werden muss, damit man selber nicht zerstört wird. Das erklärt, aus welchem Grund der Begriff herem so häufig in der Beschreibung der Eroberung von Kanaan auftritt (Jos. 8:26; 10:28–30; 40). Dieser Begriff darf also nicht benutzt werden, um jeglichen Konflikt in der Hebräischen Bibel zu interpretieren, da eigentlich nicht alle im Namen Gottes ausgetragenen Konflikte einen herem beinhalten. Gott ist das „Kriegsbanner“ (Ex. 17:15), er wirft Blitze und Hagel gegen die Feinde von Israel (Jos. 10:10–11), er ist ‚physisch‘ neben den Israeliten auf dem Kriegsfeld, wohin die Bundeslade gebracht wird (1Sam. 4:7; 2Sam. 11:11), aber nicht alle Konflikte zugunsten Gottes dürfen nach denselben Verhaltenskriterien geführt werden. Alberto J. Soggin221 hat vor kurzem gezeigt, dass die ‚milhamah le-Adonay‘ – die man nur in späterem deuteronomistischem Material findet – ihren Ursprung in alten Sagen und Erzählungen hat, mithin in der Vorgeschichte Israels und Judas keine Quelle für die Existenz einer ‚Ideologie des Kriegs‘ zu finden ist, anders als Gerhard von Rad in seinem Standardwerk222 behauptet hat. Im Exodus, wo es zum ersten Mal eingeführt wird, scheint das Wort ‚milhamah le-Adonay‘ genau betrachtet, ein allgemeiner Begriff zu sein, um den Krieg als eine Form der Erfüllung des göttlichen Willens zu bezeichnen. Erst im Buch Jehoshua erhält der Begriff ‚milhamah le-Adonay‘ die Bedeutung von ‚gerechtem Krieg‘, in Bezug auf einen spezifischen geographischpolitischen Raum, und danach wird dieser Begriff ausschließlich mit dieser geographisch-politischen Konnotation erwähnt. Was geschah nach dem Verlust dieses geographisch-politischen Raums? Der Begriff ‚milhamah le-Adonay‘ wird in der Mishnah (die politischen In-
221 Alberto J. Soggin, Guerra ‚santa‘ o ‚guerra di JHWH‘ nella Bibbia ebraica, op. cit., S. 41–46. 222 Gerhard von Rad, Der Heilige Krieg im Alten Israel, op. cit.
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stitutionen werden im Buch Neziqin – Schäden – und vor allem in den Traktaten Sanhedrin, Makkot, Shevuot und Horayot beschrieben) benutzt, solange der Tempel in Jerusalem noch steht. Bereits zu dieser Zeit – nach den geographischen und politischen Unterschieden in den Regionen neben dem Heiligen Land – wird ein neuer Kriegsbegriff eingeführt, welcher der Hebräischen Bibel völlig fehlt: milhemet ha-reshut (‚freiwilliger Krieg‘). Im Mishnah Sanhedrin I, 5 liest man diesbezüglich: „Nur ein Gericht mit einundsiebzig Mitgliedern darf über einen falschen Propheten, einen Stamm, der heidnisch geworden ist, und einen Hohepriester urteilen. Ein freiwilliger Krieg darf nur von einem Gericht mit einundsiebzig Mitgliedern bewilligt werden.“223
Milhemet ha-reshut (freiwilliger bzw. bewilligter Krieg) unterscheidet sich von ‚milhamah le-Adonay‘, der nur gegen die sieben Völker in Kanaan geführt werden darf. Sucht man in der Bibel nach einer tieferen juridischen Differenzierung unter den erwähnten Kriegsgattungen, so wird man keinen Erfolg haben, da eine solche Systematisierung der politischen bzw. religiösen Konflikte fehlt. Platon war der erste Denker, der die Dialektik zwischen « (pólemos, Krieg) und « (stasis, innerlicher Kampf) als philosophisches Modell für das Verhältnis zwischen Konflikt und Politik darstellte, wobei ein dem Begriff ‚milhamah le-Adonay‘ ähnelnder Begriff bei ihm selbstverständlich fehlt.224 Von diesem Modell her entwickelten sich zwei Denkströmungen, die man, trotz des Risikos der Vereinfachung, als christlichwestliche (z.B. Contra Faustum und De Civitate Dei von Augustinus) und als islamische Strömung bezeichnen kann (die letztere adaptierte einen großen Teil des griechischen Wissens und verwandelte es zur Weisheit des Qur’an). Um den Maimonidischen Begriff des ‚Krieges‘ zu verstehen, muss man sich der islamischen politischen Philosophie zuwenden. Am Ende des 14. Jahrhunderts schrieb Ibn Öaldun (>Abd al-Rahman ibn Muhammad) ein Kompendium des islamischen Rechts, das alle juristischen Überarbeitungen des Qur’an zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert zusammenfasste: alMuqqadima.225 In diesem Werk liest man:
223 Übersetzung von F. Y. A. 224 Platon, Politeia, 470 b-c. Vgl. zu diesem Thema: Claudia Baracchi, Of Myth, Life, and War in Plato’s „Republic“, Bloomington 2002; Carlo Galli, Guerra e politica. Modelli di interpretazione, in: Ragion Pratica 14 (2000), S. 163–195, bes. S. 168–169. Auch Marsilio Ficino verknüpft in seinem Standardwerk The Platonic Theology (übers. von Michael J. B. Allen, lat. Text hrsg. von James Hankins, Cambridge [Mass.] 2001) den Begriff ‚Krieg‘ nicht mit der platonischen Konzeption der Gottheit. 225 Ibn Öaldun, al-Muqqadima, Beirut 1937.
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„Die erste Kriegsgattung ist diejenige, die üblicherweise unter nebeneinanderstehenden Stämmen bzw. innerhalb von Familiengruppen erfolgt. Die zweite Kriegsgattung entsteht aus der Feindseligkeit [>udwan] unter den wilden Gemeinden, die in der Wüste leben. […] Die dritte Kriegsgattung wird vom religiösen Gesetz [ˇsari>a] ‚pihad‘ genannt. Die vierte Kriegsgattung betrifft die dynastischen Konflikte [al-hurub al-duwali] zwischen denjenigen, welche die Thronfolge erwerben wollen, und denjenigen, die den Gehorsam gegenüber der Dynastie ablehnen. Diese sind die vier Kriegsgattungen. Die ersten zwei sind ungerechte [bagy] bzw. krawallähnliche Kriege [fitna], während die letzten beiden Kriege von pihad und von Gerechtigkeit [>adl] sind.“226
Diese rechtliche und ethisch-religiöse Konzeption des Kriegs taucht in allen islamischen Gesetzessammlungen auf, die vom 10. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zwischen Baghdad, Damaskus, Jerusalem und Kairo verfertigt wurden; Spuren ihres Einflusses sind auch im Talmud zu finden, obwohl die talmudische Untersuchung des Themas ‚Krieg‘ bereits während der römischen Eroberung des Heiligen Landes stattfand. Die Ziele derjenigen, die im Jüdischen Krieg (66–74 n.d.Z.) dafür kämpften, das eigene Land zu behalten und einen Gottesstaat zu errichten, wurzelten in jener im Volk lebendigen Hoffnung, die sich bald mit einer Form von Nationalismus ante litteram identifizierte. Der ‚Nationalismus‘ derer, die am Aufstand unter Trajan (115–117 n.d.Z.) beteiligt waren, wurde von der gleichen religiösen Tradition getragen. Gegen diese messianische Erscheinung als eine vornehmlich oder ausschließlich politisch aktive Kraft wandten sich die Weisen. Rabbi Jehoschua ben Chananja (1.–2. Jh.) suchte auf Vorschlag der Gelehrten, die Widerstandswilligen vom Krieg gegen die Römer abzuhalten: „Er ging und trug diese Fabel vor: Ein Löwe hatte ein Tier gerissen, und es war ihm davon ein Knochen in seiner Kehle stecken geblieben. Er sagte: Jeder der kommt und ihn herauszieht, dem gebe ich seinen Lohn. Da kam ein ägyptisches Rebhuhn, das einen langen Schnabel hat, steckte diesen in seinen Rachen und zog ihm den Knochen heraus. Gib mir meinen Lohn! sprach es hierauf zum Löwen. Geh, entgegnete dieser, du kannst lachen und sagen, dass du unversehrt [wörtlich: in Frieden] in den Rachen des Löwen hinein- und wieder herausgekommen bist! Ebenso wollen wir froh sein, setzte der Redner hinzu, dass wir in diese Nation (als Untertanen) aufgenommen werden und in Frieden (mit dem Leben) wieder davonkommen.“227
Für Rabbi Jehoschua gehörte das messianische Reich noch der Zukunft an, und diese war abhängig von dem allein von Gott zu bestimmenden Zeitpunkt der Erlösung (Sanhedrin 97b). Der Mensch habe sich um das Naheliegende und ihm Mögliche – um friedvolle zwischenmenschliche Beziehungen – zu kümmern; daher empfahl er, Missgunst zu vermeiden und
226 Ibidem, S. 35 (Übersetzung von F. Y. A.). 227 Bereshit Rabba LXIV, 10 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Leidenschaft zu mäßigen, vor allem aber ein freundliches Verhältnis zu den Mitmenschen auszubilden.228 Als die gefährlichsten Feinde des Friedens der Gemeinschaft, der allgemeinen Wohlfahrt, erkannte er die Frommen, die dadurch als Toren erscheinen, dass sie nicht zur rechten Zeit (Sotah 21b) fromm, d.h. liebevoll und freundlich, sind. Er verfolgte konsequent seine Vorstellung vom Frieden, als er in seiner Rede an die Empörer das Volk zu der Einsicht führen wollte, es soll froh sein, mit heiler Haut aus der Konfrontation mit der mächtigen römischen Herrschaft hervorgegangen zu sein. Rabbi Jehoshua erwies sich in seinem Eintreten für Frieden als ein treuer Schüler von Jochanan ben Zakkai, der einer der führenden Weisen Jerusalems vor dessen Zerstörung war und als der Begründer des rabbinischen Judentums gilt. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Lehre ist das Streben nach Frieden zwischen den Völkern und Regierungen wie zwischen den Menschen (Mekhilta zu Ex. 20:25), auch zwischen Juden und Nichtjuden (Berakhot 17a). In den Wirren der Revolution gegen die Römer am Ende der Periode des zweiten Tempels gehörte Jochanan ben Zakkai der Friedenspartei an; er warnte die Rebellen vor Fanatismus und übertriebener Selbstsicherheit, er kündigte den Untergang Jerusalems an (Yoma 39b) und ermahnte das Volk, sich den Römern zu unterwerfen. Als er nichts ausrichtete, verließ er während der Belagerung heimlich die Stadt. Allem überspannten Enthusiasmus trat der Begründer des nationalen wie religiösen Zentrums in Jabne mit Misstrauen entgegen: „Wenn du einen Schössling in der Hand hältst, und jemand sagt zu dir, der Messias ist gekommen, dann pflanze zuerst den Schössling, und heiße darauf den Messias willkommen.“229
Auch Rabbi Akiba folgte zunächst der Friedenspolitik von Jochanan ben Zakkai. Er hielt die Zeit unter Trajan nicht für reif, um das messianische Reich durch Krieg herbeizuführen. Er erkannte die Beschäftigung mit der Torah als Israels „Lebenselement“ (Berakhot 61b) und sah als die Aufgabe des jüdischen Volkes, Gottes Herrlichkeit und Preis vor allen Weltvölkern zu verkünden. Er harrte im Lehrhaus aus und ertrug geduldig die Herrschaft Roms. Seine Zuversicht, dass Israels Staat und Heiligtum in der Zukunft wiederhergestellt würden, war so lebendig, dass er angesichts der überwältigenden Größe des siegreichen Rom und der Zerstörung des Tempels lachen und die anderen Gelehrten trösten konnte, indem er sie an die noch ausstehende Erfüllung der prophetischen Heilsverkündigungen erinnerte. Die Juden vermochten die Zerstörung Jerusalems und des Heiligtums jedoch nur hinzunehmen, weil in ihren Zukunftshoffnungen die Ruinen zu 228 Avot II, 16: „Das böse Auge (Scheelsucht), der böse Trieb (Leidenschaft) und Menschenhass bringen den Menschen aus der Welt“ (Übersetzung von F. Y. A.). 229 Avot 31b (Übersetzung von F. Y. A.).
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Fundamenten der wiederaufgebauten Davidsstadt und der Opferstätte wurden. Dagegen erschien ihnen ein heidnisches Jerusalem mit einem Tempel des Jupiter Capitolinus als Zeichen des endgültigen Sieges der Römer über das Gottesvolk, dessen bewährteste Glieder sich in Jabne durch strengste Erfüllung der heiligen Pflichten auf das Kommen des messianischen Reiches vorbereiteten. So wird es klar, warum Jabne-Gelehrte den Aufstand gegen Hadrian (132–135) unterstützten und viele zusammen mit ihren Schülern sogar in die Kämpfe eingriffen. Rabbi Akiba erblickte in der zentralen Gestalt der Revolution, Bar Kochba, den Sendboten Gottes, der dazu berufen war, das messianische Reich nach dem Urbild des davidischen Königtums zu errichten und damit zugleich jene Hoffnung zu erfüllen, die das Lehrhaus seit der Zerstörung des Tempels für die Zukunft entwickelt hatte – wenn Gott nur sein erwähltes Volk für würdig hielt. Der idealisierte Gehalt der Geschichte lieferte die Grundlage für die Vision des Zukünftigen. Zwei völlig verschiedene Elemente der jüdischen Tradition vereinigten sich in diesem Krieg: In die restaurativ ausgerichtete Erwartung schlichen sich Züge einer neuen, von der Wiederherstellung des Uralten, des Verlorengegangenen gänzlich entfernten Erwartung von der messianisch zu verwirklichenden Verwandlung der Welt ein. Die Spannung zwischen den restaurativen und den utopischen Momenten entlud sich unter den Weisen und artikulierte sich in dem Widerspruch von Rabbi Jochanan ben Torta gegen eine in den Krieg mündende messianische Politik: „Akiba, Gras wird aus deinem Kinnbacken (aus dem Grab) wachsen, und noch immer wird der Sohn Davids (der Messias) nicht gekommen sein.“230
Das Ende der Erhebung gab ihm und den anderen Torahlehrern, die von dem Kampf abgeraten hatten, recht. Fast alle Rabbinen dieser Generation starben im Krieg oder während der anschließenden Verfolgungen. Rabbi Akiba hatte sich geirrt und seine Zeit überschätzt. Er zog sich in das Lehrhaus zurück, um sich von neuem der Aufgabe zu widmen, das jüdische Volk auf die zukünftige Gottesherrschaft hin zu erziehen. Die nachfolgenden Gelehrten zogen aus dem misslungenen Versuch, das Gottesreich gewaltsam – vor der rechten Zeit – aufzurichten, die Konsequenz, sich deutlich von ihren Vorgängern abzusetzen. Das Mittel des Kriegs hätte nur eingesetzt werden dürfen, wenn die Kämpfenden in ihrem Verhalten der besonderen Struktur des Gottesreichs entsprochen hätten. Ihr Handeln aber – Bar Kochba selbst hatte den Tod seines Oheims, des frommen Beters Rabbi Eleasar aus Modi’im, aufgrund eines haltlosen Verdachtes verschuldet (Ta>anit 68d) – habe den Fall des befestigtes Ortes Betar (südwestlich von Jerusalem) und den Tod Bar Kochbas als göttliche Strafe nach 230 Ta>anit 68d (Übersetzung von F. Y. A.).
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sich gezogen. Nicht einmal bei den Schülern Akibas habe sich die notwendige entscheidende innere Veränderung hin zu Bürgern des Reiches Gottes eingestellt („Sie alle starben zu ein und derselben Zeit, weil sie sich nicht untereinander Ehre erwiesen“231). Die späteren Weisen erteilten Kriegsbestrebungen, die lediglich zur Verlagerung der Machtverhältnisse beitrügen – und sei es zugunsten Israels –, eine klare Absage: „Rabbi Jose ben Chanina [um 270] hat gesagt: […] Gott beschwor die Israeliten, sich nicht gegen das Joch der Weltreiche zu empören, und er beschwor die Weltreiche, das Joch auf Israel nicht allzu schwer zu machen; denn wenn sie das Joch auf Israel allzu schwer machten, würden sie veranlassen, dass die Tage des Messias vor seiner bestimmten Zeit kommen – da Gott um seines Volkes willen die Zeit der Bedrückung verkürzen würde. […] Rabbi Chelbo [um 300] sagte: […] Gott beschwor die Israeliten, sich nicht gegen die Weltreiche zu empören, die messianische Zeit nicht gewaltsam herbeizuführen.“232
Hadrian und sein siegreicher Feldherr Julius Severus hatten den Bar-Kochba-Aufstand mit katastrophalem Ausgang für die Juden gebrochen; dennoch weigerten sich viele Rabbinen und mit ihnen die Mehrheit des Volks, die Fremdherrschaft anzuerkennen. Aber führende Weise suchten die Bereitschaft zum Krieg durch die Auseinandersetzung mit Rom im Lehrhaus zu ersetzen, der wahren Keimzelle des Gottesreiches. Dreihundert Jahre zuvor hatten die Juden im Makkabäeraufstand die eigene Kultur vor der Hellenisierung retten wollen, aber das Ziel nicht einmal durch die Aufrichtung eines selbständigen jüdischen Staates erreichen können. Seither galten die Anstrengungen der Pharisäer der Ausbildung des spezifischen jüdischen Lebensweges (Halakhah), um sich der Gefahr des gänzlichen Untergangs der jüdischen Lehre zu erwehren und um dem Weltauftrag des erwählten Volks gerecht zu werden. Als Hadrian die Bestrebungen Alexanders des Großen aufzugreifen begann, fand er die Juden zum Krieg gerüstet, um das Eigene zu verteidigen. Nach dem Urteil der Weisen aber handelte es sich abermals um einen Krieg zur Restauration des Uralten, ohne dass sich Einstellung und Verhalten der jüdischen Krieger gemäß den Anforderungen der Gottesherrschaft gewandelt hätten. Nach der Niederlage lenkten sie nun alle Aufmerksamkeit auf das pharisäische Anliegen der Erneuerung der jüdischen Gemeinschaft. Entsprechend richteten sich die Dekrete Hadrians gegen die Bestrebungen des Lehrhauses. Der Talmud berichtet ausführlich über die systematische Unterdrückung der jüdischen Religion.233 231 Yebamot 62b (Übersetzung von F. Y. A.). 232 Shir ha-Shirim Rabba II, 7 (Übersetzung von F. Y. A.). 233 Sanhedrin 14a: „Jeder, der einen zum Lehrer ernennt, wird getötet, jeder Ernannte wird getötet, jede Stadt, in der eine Ernennung stattfindet, wird ausgetilgt werden.“ (Übersetzung von F. Y. A.).
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Auch unter Lebensgefahr erfüllten die Treuesten die Satzungen des jüdischen Daseins; sie widerstanden den Verfolgungen und wurden, wie Rabbi Akiba, hingerichtet.234 Bei ihrem Unternehmen, die Juden zu einer Gemeinschaft zu erziehen, die das Bürgerrecht im messianischen Reich erlangen könne, entwickelten die Rabbinen die Konzeption des Friedens als höchstes und letztes Ziel. Sie setzten mit der Erziehung zum Frieden beim Einzelnen an und konnten sich dabei bereits auf alte Überlieferungen stützen: Sie reflektierten von Gott her und entdeckten in der Art, in der er den Menschen erschuf, und in der Gestalt, die ihm der Schöpfer verlieh, zwei Grundsätze – den der menschlichen Einheit und den des individuellen Werts jedes Menschen: „Deshalb ist nur ein einziger Mensch erschaffen worden, um dich zu lehren, dass, wenn einer eine Person [Seele] vernichtet, es ihm die Schrift [d.h. Gott] anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet und, wenn einer eine Person erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten. [Ferner geschah dies] wegen des Friedens der [d.h. unter den] Geschöpfe[n], damit nicht ein Mensch zum andern sage: Mein Vater war größer als dein Vater! (Alle Menschen sind gleich, weil sie alle von einem Menschen abstammen.) […] Endlich, um die Größe des Königs aller Könige […] zu verkünden, denn wenn ein Mensch sich viele Münzen mit einem Stempel prägt, sind sie alle einander gleich, aber der König aller Könige […] hat jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen geprägt, und doch ist nicht einer dem andern gleich. Daher [weil nur ein Mensch geschaffen wurde] ist auch jeder Einzelne verpflichtet zu sagen: meinetwegen ist die Welt erschaffen worden [d.h. jeder soll leben und handeln, als trage er die Verantwortung für die ganze Welt].“235
In diesem Abschnitt verbinden sich die Gedanken der Ebenbildlichkeit, der Freiheit, der Würde und der unverwechselbaren Individualität mit denen des Friedens zwischen den Menschen und der Verantwortung des Einzelnen für die dem Menschen anvertraute Welt. Nach dieser im talmudischen Schrifttum weiter ausgeführten Vorstellung liegt es bei dem einzelnen Menschen, ob die Welt gerichtet oder gerecht wird.236 Seine persönliche Entscheidung mag mit einem bedeutungsvollen Augenblick der Weltgeschichte zusammenfallen und so für das Ganze wirksam werden. Diese Lehre von der Bedeutung der Verantwortung hat das Judentum in seiner weiteren Entwicklung stark geprägt. Aber auch wenn sie die Tat und den Anteil des Menschen stark gewichtet, versteht sie beide ihrem Ursprung nach nur als Erfüllung des Auftrags, als miswah: als Tat der Pflicht. Der Mensch begegnet mit seinem Tun Gott selbst und hofft, dass er in seiner Bemühung, Gottes Willen zu verwirklichen, nicht versagen werde. In diesem 234 Berakhot 61b; Sotah 20c; Menahot 29b; Pesahim 50a; Baba Batra 10b. 235 Sanhedrin IV,5 (Übersetzung von F. Y. A.). 236 Tosefta Qiddushin 40a.
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Tun konnte auch Hillel (nach Shabbat 15a lebte er hundert Jahre vor der Tempelzerstörung) dem Menschen die volle Verantwortung für den Frieden auferlegen: „Gehöre zu den Jüngern Aharons, den Frieden liebend und nach Frieden strebend [wörtlich: dem Frieden nachjagend; Ps. 34:15], die Menschen liebend und sie hinführend zur Torah.“237
Wie Hillel den Mitmenschen im Blick hat, unabhängig von seiner religiösen, kulturellen und ethnischen Herkunft, so unterscheidet auch nach anderen frühen Gelehrten (Schemaja und Abtaljon, um 50 v.d.Z.) das Friedenstiften die Menschen – nicht jedoch ihre Abstammung: „Mögen Nachkommen der [nichtjüdischen] Völker, die nach Aharons Tat handeln, zum [in] Frieden kommen, nicht aber komme ein Sohn Aharons zum [in] Frieden, der nicht nach Aharons Tat tut.“238
In dieser Tradition spielt sich das wahrhaft Entscheidende im Leben des Einzelnen ab. Niemand darf von außen Heil und Erlösung erwarten. Jeder muss mit dem wahrhaften, dem gottgewollten Leben bei sich ernst machen und damit das messianische Reich antizipieren – in der noch nicht regenerierten Welt, in dem alten System. Rabbi Meir (um 150) zeichnete mit Aharon den vorbildhaften Menschen; die Weisen vertrauten Gottes Zusage der Ebenbildlichkeit des Menschen und darum dessen spontanen schöpferischen Willen, aus der Einsamkeit zur freiwilligen Gemeinschaft zu gelangen. Auf dieser Grundlage lehrten sie, dass man in Israel dem Frieden zwischen den Einzelnen nacheifern soll. Ebenso legte Jochanan ben Zakkai den Akzent auf die Umgestaltung des persönlichen Lebens, auf die Neugeburt des Menschen in nochnicht-messianischer Zeit; denn anders als die bisherige Schicksalsgemeinschaft, die auf gemeinsamer Abstammung und Volkszugehörigkeit beruht, soll die werdende Gemeinschaft personenhaft durch eine lebendige Beziehung um eine Mitte entstehen, kraft deren alle in Zusammenhang stehen. Er kommentierte Dt. 27:6: „‚Aus in Frieden gelassenen Steinen baue SEINE, deines Gottes, Schlachtstatt‘: das sind Steine, die Frieden stiften. Siehe, da gilt der Schluß vom Leichteren auf das Schwere: wenn Gott in Bezug auf die Steine des Altars, die weder sehen noch hören noch reden, darum weil sie Frieden zwischen Israel und ihrem Vater im Himmel stiften, gesagt hat: ‚Nicht darfst du Eisen über sie schwingen‘ [Dt. 26:5; d.h. beim Altarbau darf kein eisernes Werkzeug benutzt werden, weil eiserne Geräte im Krieg gebraucht werden] – um wieviel mehr gilt dann von dem, der Frieden zwischen zwei Männern oder zwischen einem Mann und seiner Frau oder zwischen zwei Städten oder zwei Nationen oder zwei Regierungen oder zwei Familien stiftet, daß über ihn keine Strafe kommen wird!“239 237 Avot I,12 (Übersetzung von F. Y. A.). 238 Yoma 71b (Übersetzung von F. Y. A.). 239 Mekhilta zu Ex. 20:25 (81a) (Übersetzung von F. Y. A).
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Daran, dass alles gebotene menschliche Wirken zum Frieden in Gott selbst wurzelt, ließen die Weisen keinen Zweifel: „Groß ist der Friede, denn der Name Gottes heisst Schalom [Ri. 6:24]: ‚und rief über ihr [der Schlachtstatt, d.h. dem Altar]: ER Friede!‘“ (Wayiqra Rabba IX 9). Auch Rabbi Josua ben Levi (um 250) lehrte: „Der Heilige […] fand in seiner Welt kein anderes Gerät, das Segen für Israel enthält, außer dem Frieden“ (Ukzin III, 12).240 Die Rabbinen nährten im Volk die Sehnsucht nach der Erfüllung in messianischer Zeit. In diesem Sinne sagte Rabbi Jose Ha-Gelili (um 110): „Groß ist der Friede, denn in der Stunde, da sich der König, der Messias, Israel offenbaren wird, wird er anheben mit Frieden [Jes. 52:7]“ (Wayiqra Rabba IX 9; Derekh Eres Zuta, Pereq ha-Shalom 21b = Schlusskapitel). Die Rabbinen ließen die Menschen nicht darüber im Unklaren, dass neben die Sehnsucht nach Erfüllung die Vorwegnahme der Erfüllung treten muss. Erst die Vorwegnahme der Vollendung ist der Weg zur Vollendung. Entsprechend lautet ein Wahlspruch Abajjes (gest. 338/9): „Stets sei der Mensch klug in der Gottesfurcht. Eine sanfte Antwort stillt den Zorn. Man mehre den Frieden mit seinen Brüdern, mit seinen Verwandten und mit jedermann, auch mit einem Nichtjuden auf der Straße, damit man droben [bei Gott] beliebt und hienieden angenehm sei und wohlgelitten unter den Menschen“ (Berakhot 17a).241
Die Aufgabe jedes Menschen ist es, auf die Erfüllung zuzugehen; auf diese Weise hängen Verwirklichung und Reich Gottes zusammen. Anders als die Gemeinschaft aufgrund von Schicksal und Abstammung entsteht die Menschengemeinschaft der messianischen Kategorie aus der lebendigen Gottesbeziehung der Einzelnen. Sie antizipieren durch ihr Tun, das sich – soweit dies menschlich möglich ist – dem göttlichen Willen nähert, die messianische Herrschaft. Das Reich Gottes aber kann nicht wachsen, wenn Einstellung und Verhalten der Menschen immer wieder Kriege hervorbringen. Die Tannaim erforschten daher die Ursachen von Gemeinschaftskonflikten und stellten als solche fest: ungleiche Verteilung religiöser Auszeichnung, Gefährdung des Ansehens einer Gruppe oder auch eines Einzelnen, Gewaltanwendung infolge unsicherer Eigentumsrechte, unverdienter Nutzen aus der Arbeit oder Initiative eines anderen, Ausschluss von Gruppen aus gesellschaftlichen Privilegien und Verantwortungen. Bei ihrer Suche nach Wegen, soziale Übel zu beheben und gemeinschaftszerstörende Kämpfe zu verhindern, verließen die Rabbinen zu keiner Zeit den Boden der Realität. Der Friede sollte nicht nur ein Fernziel bleiben, sondern – wenigstens in Grenzen – realisierbar werden: 240 Eine Sammlung rabbinischer Sprüche über den Frieden findet man in: D. Vetter, Krieg und Frieden, op. cit., S. 135–137. 241 Übersetzung von F. Y. A.
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„Im Interesse des Friedens [wörtlich: wegen der Wege des Friedens] entwickelten sich Methoden, die angewandt werden sollten, um Konflikte zu vermeiden – nämlich entweder einen Zustand für rechtmäßig zu erklären, der sowohl als geordnet wie als unparteiisch akzeptiert werden konnte, oder legale Rechte auf Situationen oder Personen auszuweiten, die von ihnen bisher ausgeschlossen waren.“242
Die Tannaim sahen in der Rechtspflege sowie in der Gerechtigkeit (sedaqa) ein wichtiges Instrument des Friedens. ‚Gerechtigkeit‘ bezeichnet die Verwirklichung dessen, was in der Beziehung gerecht und richtig ist (Ps. 106:3; Jes. 64:4; Jer. 22:3; Ez. 18:19–27; Ps. 15:2). Eine gerechte Tat bewirkt soziale Beständigkeit und letztlich Frieden: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Frieden“ (Jes. 32:17; vgl. Hos. 10:12). Und in Avot II, 7 liest man: „Wer Gerechtigkeit [Wohltätigkeit] vermehrt, vermehrt Frieden.“ Die Eintracht zwischen den Menschen dadurch zu fördern, dass man behebbare Übel vermied oder beseitigte, war das Werk der Friedenserziehung der Lehrer des Judentums in talmudischer Zeit. Darum forderten die Rabbinen neben dem Ausüben von Werken der Liebe auch das Friedenstiften zwischen den Menschen (Shabbat 127a; Qiddushin 40a). Obwohl die Rabbinen, außer in der Gerechtigkeit, im Frieden das höchste Ideal sahen, wäre es falsch, auf einen Pazifismus zu schließen. Für sie war beides zugleich Wahrheit und Wirklichkeit: Erfüllung und Unerfülltsein. Völlige Askese galt ihnen nicht als jüdisches Vorbild.243 Sie lehnten eine total sinnenbejahende und eine total enthaltsame Existenz zugunsten der partiell asketischen Lebensweise ab. Im Blick auf die zentralen Anwendungsgebiete (Ernährung, Sexualverhalten, Wirtschaft, Politik) bedeutet dieser Grundsatz: Der Mensch darf nicht alles tun, wozu er in der Lage ist; er muss sich jeweils nach verantwortlicher Prüfung selbst Beschränkungen auferlegen, jede Tätigkeit unter Bedingungen stellen, damit der gesellschaftlich-politische Lebensraum der Gesamtheit nicht durch Maßlosigkeit zerstört wird. Unter diesem Vorbehalt konnten die Rabbinen den Krieg in gewisser Begrenzung moralisch rechtfertigen, ohne das Ziel universalen Friedens selbst aus den Augen zu verlieren. Die Mishnah244 berichtet über die Diskussion zwischen den Autoritäten bezüglich dieses Themas. Nach einer Auffassung ist ein aus religiösem Grund gebotener Krieg (milhemet miswah), derjenige der zur Besitznahme des Heiligen Landes oder zur Abwehr eines bereits geschehenen Angriffs geführt wird und an dem jeder wehrfähige Mann teilnehmen muss, nicht jedoch ein ‚freiwillig unternommenen Krieg‘ (milhemet ha-reshut), der ledig-
242 Sotah 16d (Übersetzung von F. Y. A.). 243 Vgl. Ernst Simon, Totalität und Antitotalitarismus als Wesenszüge des überlieferten Judentums, in: ders., Entscheidung zum Judentum, Frankfurt/M. 1980, S. 33–74. 244 Sotah VIII,7.
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lich die Eroberung eines weiteren Gebiets erreichen oder einem feindlichen Angriff zuvorkommen soll und an dem nicht jeder teilzunehmen braucht. Dagegen bezeichnete Rabbi Jehuda ben Ilai (Tannait, um 150) einen Präventivkrieg als in einer religiösen Angelegenheit gebotenen Krieg, aber den ausdrücklich zur Eroberung des Heiligen Landes befohlenen und den Verteidigungskrieg als ‚Pflichtkrieg‘ (milhemet hobah), den zu unternehmen man verpflichtet sei und zu dem jeder ausziehe. Die Kontroverse bestand in einem semantischen Unterschied, den ein späterer Gelehrter, der Amoräer Rabbi Jochanan (gest. 279), erklärte: „Die nach den Rabbanan freiwilligen entsprechen den nach Rabbi Jehuda gebotenen, und die nach den Rabbanan gebotenen entsprechen den nach Rabbi Jehuda pflichtigen.“245 Er wies damit auf die Wandlung im Gebrauch des Wortes ‚Gebot‘ (miswah) hin: Ursprünglich drückte der Begriff eine Verpflichtung aus. Als aber die freiwilligen Handlungen den Rang einer miswah erhielten (Avot II, 1), dehnte sich der Anwendungsbereich von ‚Gebot‘ auf das ‚freigestellte‘ Tun (Berakhot 27b) aus, bei dessen Unterlassung niemand einer Übertretung schuldig wird (Shabbat 25b). Bezieht man diese doppelte Funktion des Begriffs miswah in den Gelehrtenstreit ein, dann wird eine religionsrechtliche Differenzierung erkennbar: Nach der ersten Ansicht befreit die Teilnahme an einem Präventivkrieg – also einem ‚freiwillig unternommenen Krieg‘ – nicht von der Erfüllung einer anderen, gleichzeitig zu vollziehenden religiösen Vorschrift; nach der Deutung Rabbi Jehudas jedoch ist der zu einem Präventivkrieg Ausziehende von anderen religiösen Bestimmungen ausgenommen, da er einen ‚freiwillig unternommenen Krieg‘ einen in einer religiösen Angelegenheit ‚gebotenen Krieg‘ nennt (Sotah 44b). Es ist deutlich, dass diese Erörterungen in einer Zeit, in der das jüdische Volk seine politische Selbständigkeit längst verloren hatte, rein prinzipieller Natur waren, wohl aber in den traditionsgebundenen ethischen Überlegungen eine Rolle spielten. So unterschied Raba, einer der bedeutendsten babylonischen Amoräer (Joseph ben Chama, gest. 352), für die biblische Zeit zwischen den ‚pflichtgemäßen‘ Kriegen (milhemet miswah) Josuas bei der Landnahme und den ‚bewilligten‘ Angriffskriegen (milhemet hobah) der Daviden, die nur der Erweiterung des Herrschaftsgebietes dienten. Er bezeugt, dass die Gelehrten sich einig darüber waren, dass Israel nach der Inbesitznahme seiner Wohngebiete in Kanaan nur noch Verteidigungskriege im Sinne des ‚gebotenen Kriegs‘ hätte führen dürfen. Ihre Meinungen wichen nur in der Frage voneinander ab, ob die Teilnahme am Verteidigungskrieg bedeutete, dass, „wer sich mit einem Gebote befaßt, von einem anderen Gebot befreit ist.“246
245 Sotah 44b (Übersetzung von F. Y. A.). 246 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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Mit anderen Worten: Nach der talmudischen Lehre ist – trotz unterschiedlicher Nuancierungen und Akzentverschiebungen – die milhemet miswah der Krieg, der zur Erfüllung eines Befehls Gottes ausgeführt wird, die milhamah le-Adonay ist nur der Krieg gegen die sieben Völker im Heiligen Land, und schließlich ist die milhemet hobah – der einzige Krieg, der die Bewilligung des Sanhedrin benötigt – der Krieg für die Erweiterung des Landes bzw. für die Selbstverteidigung gegen die Heiden. Genau wie im Islam spielt die ethische Problematik eines ‚rechten‘ bzw. ‚ungerechten‘ Kriegs keine Rolle. Zwar erkannten die Rabbinen unter bestimmten Umständen die Notwendigkeit des Kriegs an, wie im Verteidigungsfall; aber zugleich suchten sie ihn durch ein Rechtssystem, wohl das erste in der Kulturwelt, zu begrenzen: „Rabbi Eleasar ben Eleasar Ha-Kappar [um 210] hat gesagt: Groß ist der Friede; denn selbst in der Stunde des Kampfes sind wir auf den Frieden verwiesen, wie es [Dt. 20:10] heißt: ‚Wenn du einer Stadt nahst, sie zu bekriegen, rufe sie an: Zum Frieden!‘“ (Wayiqra Rabba IX, 9). Das Friedensangebot sei zwei oder drei Tage lang zu wiederholen. Auf die Würde der Menschen sei Rücksicht zu nehmen, so dass dem Zaghaften ermöglicht werde, so zu tun, als wäre er aus anderen Gründen beurlaubt, vor Kampfbeginn zu entfernen. Wie schon die deuteronomischen Kriegsgesetze (Dt. 20:10–19; Lagergesetze Dt. 23:10–15; Gefangenengesetze Dt. 21:10–14) wollen auch die rabbinischen Regeln, wie ein Krieg zu führen sei, die verheerenden Folgen eines Krieges für die Menschen und die Natur eindämmen: durch Einschränkungen gegenüber einer belagerten Stadt – hier ist die Verordnung zum Schutz der Obstbäume ein einzigartiges Dokument (Dt. 20:19); die Weisen betonen das Verbot, den Baumbestand zu vernichten („Das Leben des Menschen hängt vom Baum ab“, Sifre zu Dt. 20:19); durch Rechte der Kriegsgefangenen, besonders durch die schonende Behandlung von Frauen und Kindern (Sifre zu Dt. 20:14; 21:10). Die Verherrlichung des Kriegs verwarfen die Rabbinen: „Der Mann darf [am Shabbat] nicht ausgehen mit einem Schwert, einem Bogen, einem dreieckigen oder runden Schild und einem Spieß“ (es sei denn, er zieht in einen ‚gebotenen Krieg‘). Den Abscheu vor jeder Kriegsverherrlichung in der rabbinischen Ethik drückt die Fortsetzung der Mishnah aus: „Rabbi Elieser [um 90] sagte: Sie [die Waffen] dienen ihm nur zum Schmuck. Die Weisen erwiderten: Nur zur Schande dienen sie, denn es heißt: „Ihre Schwerter schmieden zu Karsten sie um, ihre Speere zu Winzerhippen, nicht mehr hebt Stamm gegen Stamm das Schwert, nicht lernen sie fürder den Krieg.“247 Die Gelehrten begründeten ihre Abneigung so: Wären Waffen wirklich Schmuckgegenstände, dann würden sie nicht in der messianischen Zeit ab247 Shabbat 63b (Übersetzung von F. Y. A.).
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geschafft werden.248 Weil das aber so ist, muss man sie jetzt schon als Zeichen der Schande erkennen. In allen rabbinischen Aussagen zeigt sich die Tendenz, Krieg und Blutvergießen nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie äußert sich in der Vorschrift, dass man mit niemandem in der Welt einen Krieg anfangen soll, ohne ihm zuvor Frieden angeboten zu haben (Dt. 20:10). Wenn sie auch den Kampf zur Verteidigung des Heiligen Landes als ‚gebotenen Krieg‘ ethisch gebilligt hatten, so untersagten die Weisen dennoch jeden Versuch, es mit Gewalt zurückzuerobern. Sie kleideten ihr Verbot, kriegerische Mittel bei der Rückkehr nach Eres Israel zu gebrauchen, in einen Gottesschwur und verliehen ihm dadurch den Charakter einer unbedingten Forderung. Die Weisen verneinten jeden militärischen Einsatz zur Rückeroberung, weil die Heimkehr der Exilierten auf einem göttlichen Versprechen beruhe, das ohne aktive Mitwirkung von Menschen in der messianischen Gottesherrschaft eingelöst werde. Nach dem palästinensischen Amoräer Chelbo (um 300) wäre daher eine Rückkehr mit Kriegsanwendung ein Versuch, die Tage des Messias gewaltsam herbeizuführen: „Wenn dem aber so ist, wozu dann der König, der Messias [d.h. was ist seine Mission?]? Er kommt, um die Exilierten Israels zu sammeln.“249 Der Ausblick der Rabbinen auf das Reich Gottes in messianischer Zeit ist uneingeschränkt vom Frieden bestimmt. Dieser Friede der Zukunft Gottes aber verlangt in der Gegenwart den Gehorsam gegenüber dem Gebot. Darum verwandten die talmudischen Gelehrten soviel Energie auf die Erziehung zum Frieden in den Beziehungen zwischen den Menschen. Unbezweifelbar galt ihnen auch in der Politik der Friede als das höchste Gut, obgleich das Judentum zu internationalen Fragen von Krieg und Frieden seine Stimme nicht erheben konnte. Shalom ist das Siegel Gottes (Wayiqra Rabba IX, 9), und der Gottesfrieden schließt den Mord am Einzelnen ebenso aus wie die Preisgabe unzähliger Menschenleben in einem vermeidbaren Krieg: „Rabbi Akiba [gest. um 135] hat öffentlich vorgetragen: Wer Blut vergießt, dem rechnet man [d.i. Gott] es so an, als hätte er das Bild Gottes verringert. Weshalb? Weil auf die Worte: ‚Wer Blut des Menschen vergießt‘ folgt: ‚denn im Bilde Gottes hat er den Menschen gemacht‘.“ (Bereshit Rabba XXXIV, 14; Tosefta Yebamot VIII,8). Genaugenommen findet man in der Beschreibung der Kriegsgattungen im Talmud keinen ethischen Unterschied zwischen milhamah le-Adonay, milhemet ha-reshut und milhemet miswah, das Problem des rechten oder des ungerechten Handelns wird hier genauso wie in der islamischen Juris248 Dirk U. Rottzoll, Wird es in den Tagen des Messias Waffen geben?, in: JUDAICA 50 (1994), S. 103–112. Vgl. auch: Israel J. Yuval, Das Thema Waffen aus der rabbinischen Perspektive, in: Aschkenas 13,1 (2003), S. 13–16. 249 Shir ha- Shirim II,7 (Übersetzung von F. Y. A.).
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prudenz250 nicht zur Frage: Alle Kriege zeigen sich als eine äußere, unvermeidliche Notwendigkeit, gegenüber welcher der Mensch keine Alternative hat. In diesem Sinne erweisen sich alle Kriege als eine Ausnahme vom Gebot, welches das Blutvergießen verbietet. Der Talmud nimmt somit die spätere Argumentation von Ibn Öaldun praktisch vorweg, wobei ein entscheidender Unterschied zwischen dem jüdischen und dem islamischen Krieg bleibt: Der Talmud zählt die Notwendigkeit, die Gebote zu akzeptieren, nicht zu den Vorbedingungen für einen Krieg, genauso wie nirgendwo die Rede von Strafen für diejenigen ist, welche die Gebote ablehnen, da sie nicht Mitglieder des auserwählten Volks sind bzw. nicht innerhalb des Heiligen Landes leben. Bleibt Maimonides der talmudischen bzw. islamischen Lehre treu, oder versucht er vielmehr, eine weitere Akzentverschiebung bezüglich des Begriffs ‚Krieg‘ vorzunehmen? Meines Erachtens zeigt Maimonides in den ersten drei Paragraphen von Kapitel 5 seine Ähnlichkeit zur talmudischen Lehre bezüglich der Bedeutung des Kriegs sowie zur frühmittelalterlichen islamischen Konzeption der politischen Philosophie bezüglich der Funktion des Königs im Krieg. In diesen drei Paragraphen liest man: „1. Der erste Krieg, den der König führt, ist ein religiös begründeter Krieg [hvjm tmlxlm ]. Welcher ist ein religiös begründeter Krieg? Es ist der Krieg gegen die sieben Nationen, der gegen Amalek, und ein Krieg, um Israel von dem es angreifenden Feind zu befreien. Danach mag er sich auf einen optionalen Krieg [tvwrh tmlxlmb ] einlassen, das heißt, einen Krieg gegen die übrigen Völker, um die Grenzen Israels zu erweitern und seine Größe und seinen Ruhm zu mehren. 2. Für einen religiös begründeten Krieg muss er nicht die Zustimmung des Gerichts einholen []yd tyb ]. Er kann jederzeit aus eigenem Antrieb hinausziehen und seine Leute zwingen, ihm zu folgen. Aber in einen optionalen Krieg darf er die Leute nur auf Entscheid eines Gerichtes von einundsiebzig führen. 3. Er kann (privaten Besitz) durchbrechen, um eine Straße für sich zu machen, keiner darf gegen ihn Widerspruch erheben. Keine Beschränkung kann für die Straße des Königs festgesetzt werden; er enteignet so viel er benötigt. Er muss keine Umwege wegen des Weinberges oder Feldes von irgendwem machen. Er nimmt den direkten Weg und führt seinen Krieg.“251.
In der Erwähnung der Kriegsgattungen distanziert sich Maimonides nicht von der Lehre des Talmud, da auch er den Unterschied zwischen milhemet miswah und milhemet reshut anerkennt, obwohl er im Begriff milhemet miswah auch den milhamah le-Adonay einzubeziehen scheint (milhamah le-
250 Ich stimme mit Bassam Tibi überein, der behauptet, dass der islamische ius in bello nicht der westlichen Kategorie von bellum justum entspricht. Siehe: Bassam Tibi, War and Peace in Islam, op. cit. 251 Moses Maimonides, Sefer Shofetim, op. cit., S. 217 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Adonay wird nur einmal im ganzen Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem – und zwar in Bezug auf den Messias252 – erwähnt). In den Königsbüchern bzw. der Chronik zeigt sich in der Gestalt des Königs hingegen mehr der islamische Kriegsführer als der israelitische Leiter. Wie wir in ’Ara’ von Alfarabi bereits gesehen haben, werden dort die Charakterzüge des Königs erwähnt und eine direkte Linie zwischen der Weisheit des Königs (seine erste Eigenschaft) und seiner Fähigkeit, Kriege zu führen (letzte Eigenschaft), wird gezogen. Der König ist nicht der beste Krieger, sondern er ist dank seiner herausragenden Weisheit der beste kriegerische Führer. Maimonides folgt einer ähnlichen Argumentation: Im ersten Buch der Mishneh Torah hat er nachgewiesen, dass man die Erkenntnis Gottes nur durch die vollkommene Weisheit erreichen kann, mithin nur so den Willen Gottes verwirklichen kann, und da der Krieg in der damaligen Welt das zentrale politische Mittel ist, um die göttliche Erkenntnis zu vollbringen, muss das erste Mitglied der Gemeinde eine solche Weisheit besitzen, um das Volk im Krieg anzuführen. Diese systematische und inhaltliche Beziehung zwischen dem ersten und dem letzten Buch der Mishneh Torah zeigt die Weisheit als Mittelpunkt des Maimonidischen Denkens. Mit der Weisheit endet das Sefer ha-Madda> und beginnt das Sefer Shofetim, da auch der Richter – wegen seiner Funktion als Vollstrecker des Willens Gottes auch in Bezug auf den ‚Krieg‘ – derjenige ist, der durch seine Weisheit alle anderen übertrifft. Während man in den Königsbüchern, der Chronik und im Buch der Richter häufig Schwierigkeiten hat, die Gestalt des Königs von der Gestalt des Richters zu unterscheiden (in dieser Hinsicht ist Salomon vorbildlich), ist diese Unterscheidung bei Maimonides – wie auch bei Alfarabi – äußerst deutlich: Obwohl beide – König und Richter – die höchste Weisheit besitzen, ist der König derjenige, der die Gebote Gottes in allen ihren Aspekten – einschließlich des entscheidenden Instruments des Kriegs – zur Vollendung bringt. Aus diesem Grund ist seine Autorität sogar grösser als die des Gerichts der 71 Weisen, wenn es sich um die milhemet miswah handelt. Die physischen Charakteristika des Königs, die Alfarabi bezogen auf dessen Fähigkeit beschreibt, das königliche Ziel überhaupt erreichen zu können, spiegeln sich wider in den Einstellungen des Maimonidischen Königs, der mit Kraft und Bestimmung seinem Zweck nachgeht („Keine Beschränkung kann für die Straße des Königs festgesetzt werden; […]. Er nimmt den direkten Weg und greift den Feind an.“253). Das höchste Ziel ist
252 Ibidem, S. 240. 253 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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das Überleben und die weitere Blüte Israels nach der Rückkehr ins Heilige Land: „Alle Länder, die Israel mit dem König auf Entscheidung des Gerichtshofes hin eroberte, sind öffentliche Eroberungen und sind in jeder Hinsicht wie das von Joshua eroberte Land Israel. Das ist alles, was sie nach der Eroberung des ganzen Landes Israel, wovon die Torah spricht, eroberten.“254
In der Erwartung, dass das Heilige Land wieder dem auserwählten Volk gehören werde, hat der König die Pflicht, das Überleben der Juden zu gewährleisten, sie also auch militärisch zu schützen und gemäß den Bedürfnissen der Gemeinde für die Ausdehnung des Wohnorts zu sorgen. Israel bleibt selbstverständlich das Ziel, dem die letzten sechs Paragraphen von Kapitel 5 gewidmet sind, aber das erste Versprechen Gottes gegenüber Abraham bezieht sich nicht auf das Land, sondern auf eine beständige Nachfolge: „so will ich dich zu einem großen Volke machen“ (Gen. 12;2). Nach diesem Ziel muss der König der Gemeinde streben, da das göttliche Versprechen die unmittelbare Partizipation des Menschen impliziert (in diesem Sinne erklären die Rabbinen auch die Pluralform in Gen. 1; 26: „Lasset uns Menschen machen“ – uns betont die menschliche Mitwirkung an der Schöpfung255). Wie im Werk Kitab tahsil al-sa>ada (The Attainment of Happiness) von Alfarabi ist der Krieg ein Mittel, um für die Glückseligkeit der Gemeinde zu sorgen, und auch, um andere Völker an dieser Glückseligkeit teilnehmen zu lassen. Die Einflüsse des islamischen Kriegsrechts beschränken sich somit nicht auf die Gestalt des Königs. Der Ausgangspunkt von Maimonides’ Argumentation ist zwar eine Art Kommentar der deuteronomischen Kriegsgesetze – in dem man aber keine überwiegende Rolle des Königs wie bei Maimonides findet –, trotzdem ist in der ethischen Untersuchung des Kriegsverhaltens in den Kapiteln 6 bis 10 die Gemeinde der Kern des Maimonidischen Denkens, bis zu dem Punkt, dass der König ab Kapitel 6 verschwindet. Wie in Alfarabis Werk al-Fusul hat der König in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem während des Kriegs die Funktion, eine lebensbedrohliche Situation für die Gemeinde zu vermeiden, jedoch ist die Zusammenarbeit aller Mitglieder notwendig, damit der Krieg erfolgreich und nach von Gott festgesetzten ethischen Prinzipien durchgeführt wird.
254 Ibidem, S. 217f (Übersetzung von F. Y. A.). 255 Vgl. u.a.: Ari M. Cartun, When God’s References are Plural: A Look at Gen. 1:26, 3:22, 11:7 in an Overarching Context, in: CCAR Journal 43, 3 (1996), S. 51–70; Jacob Jervell, Imago Dei. Gen 1, 26f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, Göttingen 1960.
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Die Noachidischen Gesetze256, denen die Kapitel 7, 9 und 10, mit besonderer Rücksicht auf die Frauen der Feinde – nämlich auf die schwächste Schicht der feindlichen Bevölkerung –, ganz gewidmet sind, haben bei Maimonides eine dreifache Funktion: 1. Sie drücken das Wesen des ethischen Kriegsgesetzes aus; 2. Sie unterstreichen die universale Funktion des Kriegs, da Gott kein Volk von seinem Versprechen ausgeschlossen hat („[…] und [die Noachiden] werden in jeder Hinsicht wesentlicher Bestandteil des von Joshua eroberten Landes Israel werden“257); 3. Sie zielen auf den höchsten Zweck der Ethik als Willen Gottes, nämlich auf den Frieden, mit dem Kapitel 10 beschlossen wird: „So scheint mir auch, dass wir ansässige Fremde mit der Rücksicht und Freundlichkeit behandeln sollten, die einem Juden zukommt; denn es ist uns geboten, sie zu stützen. […] Selbst im Hinblick auf die Heiden haben uns die Rabbinen geboten, die Kranken zu besuchen, ihre Toten gemeinsam mit den Toten Israels zu begraben und die Armen gemeinsam mit den Armen Israels im Interesse des Friedens zu unterstützen, wie geschrieben steht: Der Herr ist allen gütig und erbarmt sich aller seiner Werke. (Ps. 145:9). Und es steht auch geschrieben: Ihre Wege sind liebliche Wege, und alle ihre Steige sind Frieden (Prov. 3:17).“258
Weder von Maimonides noch von Alfarabi könnte man sagen, sie seien Pazifisten ante litteram. Wie ich in diesem Exkurs gezeigt habe, steht der Krieg für beide im Mittelpunkt der Verwirklichung des göttlichen Willens, der Krieg ist das am besten wirkende politische Instrument, um den Wohlstand sowie das Überleben der Gemeinde zu gewährleisten. Keine Alternative wird von diesen Philosophen erkannt bzw. angeboten. Nur durch die erfolgreiche Führung des Kriegs kann der König beweisen, dass er der höchste Leiter der Gemeinde ist, also den Willen Gottes erkennt und ihn mit Weisheit verwirklicht.259 Siege sind daher absolut notwendig, um die Authentizität des König-Messias zu erweisen, weshalb ein scheiternder Messias keinen Platz im Denken von Maimonides findet. 256 Vgl. im bes.: Dov I. Fremer, Israel, the Noahide Laws and Maimonides. Jewish-Gentile Legal Relations in Maimonidean Thought, in: Jewish Law Association Studies 2 (1986), S. 89–102; Nahum Rikover, Law and the Noahides: Law as a Universal Value, Jerusalem 1998; David Novak, The Image of the Non-Jew in Judaism: an Historical and Constructive Study of the Noah Laws, New York 1983; ders. The Election of Israel. The idea of the Chosen People, Cambridge (Mass.) 19962; ders., The Image of the Non-Jew in Judaism: An Historical and Constructive Study of the Noahide Laws, New York 1983. 257 Moses Maimonides, Sefer Shofetim, op. cit., S. 218 (Übersetzung von F. Y. A.). 258 Ibidem, S. 238 (Übersetzung von F. Y. A.). 259 Joseph Sarachek ist anderer Meinung: Maimonides minimiert die Vergeltungs- und Militäraspekte der Erlösung im Glauben, sie müsse friedlich und natürlich aus dem Schosse der Zeit hervorgehen. Daher kann er keine Notwendigkeit für das meteorhafte Erscheinen dieser militärischen Gestalt sehen (op. cit., The Doctrine of the Messiah in Medieval Jewish Literature, New York 1968, S. 149).
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Jedoch bedeutet diese Weisheit in al-Fusul sowie in Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem nicht, dass Gott eine solche Verwirklichung ohne Gerechtigkeit und ethisches Engagement erwartet: Die juristischen rabbinischen bzw. islamischen Fassungen des Kriegsrechts betonen den Vorrang des Friedens vor dem Krieg (jeder feindlichen Stadt muss vor dem Angriff der Friede angeboten werden) und die Beschränkung des Kriegs auf den militärischen (Angriff seitens einer benachbarten Nation) bzw. religiösen Zweck (Verteidigung gegen die Heiden). Keine unnötige Zerstörung und kein übertriebenes Blutvergießen dürfen erfolgen, weil im Qur’an (II 190) steht: „Gott liebt die nicht, die [im Kampf] Übertretungen begehen [wörtlich übersetzt: „Gott liebt nicht die Angreifer“], und in der Hebräischen Bibel: „Weiche vom Bösen, tue das Gute, suche den Frieden und jage ihm nach“ (Ps. 34:13–15). Bei Alfarabi wie bei Maimonides ist der Krieg noch ein Zeichen der Unvollkommenheit des Diesseits und des Abstands unserer Realität vom Willen Gottes. Am Schluss des Fusul zeigt Alfarabi das höchste Leben im Jenseits als die Verwirklichung des höchsten Lebens im Diesseits, weshalb es nicht möglich ist, ohne das letztere das erstere zu erwerben. Nur die ideale politische Kunst ist imstande, eine solche Vollkommenheit in der Stadt bzw. in der Nation zu verwirklichen, nämlich die unbedingte Voraussetzung für das höchste Leben im Jenseits zu gewähren. Dank der Vollkommenheit seines theoretischen und praktischen Intellekts führt der König seine Gemeinde zur Wahrheit, und zwar zum Guten als Glückseligkeit im Jenseits und im Diesseits. Diejenigen, die sich von einem ungerechten König leiten lassen, kennen den Weg zur Wahrheit nicht und wandern orientierungslos und unschlüssig umher. In den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem schließt auch Maimonides seine Argumentation mit einem ‚eschatologischen‘ Thema; freilich sollte im Laufe meiner Untersuchung deutlich geworden sein, dass das Attribut ‚eschatologisch‘ in diesem Zusammenhang ungenau ist. Der Fusul endet mit der Betonung der königlichen Kunst und der Koinzidenz von König, Gesetzgeber und ’imam, die nötig ist, um die Gemeinde auf die Vollkommenheit des Jenseits vorzubereiten, jedoch bleibt die Beschreibung des Lebens danach bei Alfarabi sehr vage, die Verbindung zwischen dem König und der von Gott versprochenen Zukunft wird nicht streng thematisiert. Das hat sehr wahrscheinlich mit der Schwäche des eschatologischen bzw. messianischen Denkens im Islam zu tun sowie mit der nicht-eschatologischen Konzeption der königlichen Figur, auf jeden Fall bleibt dem Leser am Schluss des Fusul kaum mehr als die Enttäuschung eines ‚offenen Endes‘, welches die Fäden zwischen Politik, Philosophie und Religion nicht zu verbinden versteht. Diese ‚Fäden‘ werden hingegen von Maimonides in den letzten beiden Kapiteln der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem gezogen. Das geschieht,
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um einerseits die Verknüpfung zwischen dem König und dem Messias zu beweisen und um andererseits eine neue Konzeption der messianischen Zeit sowie des Messias, ausgehend von platonischem und Alfarabischem Denken, zu skizzieren, ohne deswegen die rabbinische Tradition zu verleugnen. Gerald Blidstein war der erste Forscher, der bei Maimonides die enge Verbindung zwischen König, Krieg und Messias feststellte, ohne aber alle ihre Konsequenzen zu Ende zu denken: „He [Maimonides] carefully delineates the scope of the ‚permitted‘ [Krieg] so as to exclude wars fought for personal or even momentary gain; only national goals (the fortunes of the king are of course closely tied to those of the state) are allowed. And the physical well-being of the state is clearly instrumental for Maimonides: maximally, the material success of Israel’s king redounds to the glory of its Lord (a consideration elsewhere allowed Messianic significance, despite its religious crudity).“260
Die vielschichtigen Aspekte der politischen Konzeption des Messias bei Maimonides zeigt auch die Kontinuität zwischen dem ersten und dem letzten Buch der Mishneh Torah: das Sefer ha-Madda> beginnt mit dem Problem der Erkenntnis und endet mit den Gesetzen der Reue – die Hinweise im Sefer ha-Madda> auf das >olam ha-ba und auf den König-Messias wurden bereits betont –, so wie das Sefer Shofetim mit dem Problem der Erkenntnis seitens des Richters bzw. des Königs beginnt und mit der Untersuchung des Königs-Messias endet.
§ 5 Der König-Messias bei Maimonides: eine eschatologische Figur? Einige Reflexionen ausgehend von der biblischen, mishnaischen und rabbinischen Tradition Bevor man sich mit der Natur des Messias im letzten Buch der Mishneh Torah beschäftigt, sollte man sich eine grundlegende Frage stellen. Warum hat Maimonides den Schluss der Mishneh Torah überhaupt dem Messias gewidmet? Eine solche Frage ist nicht nur eine rhetorische, da – wie Jacob Neusner261 260 Gerald J. Blidstein, Holy War in Maimonidean Law, in: Joel L. Kraemer, Perspectives on Maimonides. Philosophical and Historical Studies, Oxford 1991, S. 214. 261 Jacob Neusner, Messiah in Context. Israel’s History and Destiny in Formative Judaism, Philadelphia 1984; ders., Mishnah and Messiah, in: Jacob Neusner/William Scott Green/Ernest S. Frerichs, Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge (Mass.) 1987, S. 265–282; vgl. diesbezüglich: Michael O. Wise, The first messiah: investigating the savior before Jesus, San Francisco 1999; Craig Alan Evans, Mishnah and Messiah ‚in context‘. Some Comments on Jacob Neusner’s Proposals, in: Journal of Biblical Literature 112,2 (1993), S. 267–289; als Kritiker von Neusner vgl.: Philip S. Alexander, The King Messiah in Rabbinic Judaism, in: John Day (Hrsg.), King and Messiah in Israel and the Ancient Near East, Sheffield 1998, S. 456–473; vgl. zu diesem Thema auch: Jacob I. Schochet, Mashiach. The Principle of Mashiach and the Messianic Era in Jewish Law and Tradition, New York 19923; Leo Land-
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ausführlich nachgewiesen hat – der Messias in der ganzen Mishnah sowie im Babylonischen Talmud eine zweitrangige Rolle spielt. Um 200 n. c. Z. niedergeschrieben und in sechs Ordnungen aufgeteilt (Landwirtschaft, religiöse Feiertage, Frauen, Zivilgesetze, Opfer im Rahmen des Tempeldiensts und Gesetze über die Reinheit; 63 Traktate insgesamt), enthält die Mishnah ein religiöses und rechtliches System des Judentums, das ausschließlich auf die abstrakte und überhistorische Heiligung des Glaubens gerichtet ist; es fehlt in der Mishnah angesichts der Geschichte sowie der geschichtlichen Zeitlichkeit jedwede Überlegung, die zur Entwicklung eines eschatologischen Denkens führen würde.262 Nur an den Stellen des babylonischen Talmuds (um 500–600 n. c. Z. fertiggestellt), wo die Frage nach der Geschichte bezüglich der Rettung des auserwählten Volks gestellt wird, findet man Spuren des Denkens an eine messianische Gestalt, wobei „the Messiah in the talmudic sector of the formative canon emerged as a figure meant to encourage and foster a view of life above time and beyond history, a life lived in full acceptance of God’s rule in eternity, a life which rejected man’s rule in history. […] Once again we note what is defining in Judaism once it took shape: its insistence upon speaking for all Israel, the entire Jewish people. Without that critical catalyst, the social aspiration, the components joined in the Judaism of which we speak – Wisdom’s stress on learning in ancient Scripture and traditions, and the priesterhood’s focus upon living in accordance with God’s rules of sanctity and sanctification – never would have formed a single system. The formative Judaism that emerged from late antiquity would unite the ethics of Wisdom, the ethos of the priesthood, and the social focus of messianism into the peoplehood of Israel. The catalyst, above all, would be the entry of a messianic hope. That is why an account of the formative history of Judaism begins with the end of time, the myth of the Messiah, and the doctrine of Israel’s history and destiny expressed within that myth.“263 Die Mishnah beschreibt systematisch eine geordnete Welt, in der alles seinen eigenen Ort und seine eigene Funktion hat, eine Welt, in der es kein Bedürfnis nach Rettung gibt. Aus diesem Grund ist der Schlüsselbegriff der Mishnah ‚Heiligung‘ statt ‚Rettung bzw. Erlösung‘. Wenn die Mishnah das Wort ‚Messias‘ (‚der Gesalbte‘) in einem das Gesetz betreffenden Zusammenhang benutzt, hat dieses Wort eine enge etymologische Bedeutung, man (Hrsg.), Messianism in the Talmudic Era, New York 1979; Moritz Zobel, Der Messias und die messianische Zeit im Talmud und Midrash, Berlin 1938; Julius H. Greenstone, The Messiah Idea in Jewish History, Philadelphia 1906, im bes. The Talmudic Period (S. 80–113). 262 Unter diesem Blickwinkel stimme ich jedoch mit Philip S. Alexander nicht überein, der schreibt: „The Mishnah’s dominant perspective is this-wordly. It is concerned with defining and achieving piety and a civic society here and now.“ (The King Messiah in Rabbinic Judaism, op. cit., S. 470) 263 Jacob Neusner, Messiah in Context, op. cit., S. X–3.
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es bezeichnet dann den mit Öl gesalbten Hohepriester, um ihn von den anderen Priestern des Tempels zu unterscheiden, bzw. den Hohepriester, der die Armee im Krieg begleitet. Erst wenn die Mishnah zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu differenzieren beginnt, benutzt sie das Wort ‚Messias‘ im Sinne des gesalbten Retters von Israel, wobei der Messias nie als bestimmte Person erwähnt wird: „diese Welt und die Tage des Messias“ (Berakhot 1:5), „die Fussspuren des Messias“ (Sotah 9:9–15).264 Die Mishnah unterscheidet weder zwischen dem wahren und dem falschen Messias noch bietet sie eine deutliche Systematisierung dieser Gestalt an. Der Messias scheint hauptsächlich ein ererbter Mythos zu sein, dessen spezifischere Beschreibung nur zu so etwas wie dem Fehler von Rabbi Akiba bezüglich Bar Kochba führen kann. Genauso wie sich der Mythos als erzähltes Ereignis außerhalb der Geschichte bewegt, findet der Messias keinen geschichtlichen Anhaltspunkt im rechtlichen System der Mishnah. In dieser Hinsicht ist die Stellung von Jacob Neusner extrem radikal, er geht so weit, in der Mishnah eine Eschatologie ohne Messias265 zu skizzieren: „The Mishnah’s framers present us with no elaborate theory of history, a fact fully consonant with their systematic points of insistence and encompassing concern. Even do not matter, one by one. The philosopher-lawyers exhibited no theory of history either. Their conception of Israel’s destiny in no way called upon historical categories of either narrative or didactic explanation to describe and account for the future. The small importance attributed to the figure of the Messiah as a historical-eschatological figure, therefore, fully accords with the larger traits of the system as a whole. Let me speak with emphasis: What is important in Israel’s existence is sanctification, an ongoing process, and not salvation, understood as a one-time event at the end, then no one will find reason to narrate history.“266
Der babylonische Talmud hingegen strebt danach, die Lehre der Mishnah mit der veränderten geschichtlichen Situation des jüdischen Volks zu verknüpfen, also mit der Frage, wie die Heiligung Israels ohne die zentrale Rolle des Tempels und darüber hinaus unter der Herrschaft eines heidnischen Volks (der Römer) überhaupt möglich ist (bereits der 400 n. c. Z. fer264 Übersetzung von F. Y. A. 265 Vgl. diesbezüglich auch: James Drummond, Conception of the Ideal Kingdom without a Messiah, in: Leo Landmann (Hrsg.), Messianism in the Talmudic Era, op. cit., S. 115–162. 266 Jacob Neusner, Mishnah and Messiah, op. cit., S. 276. An anderer Stelle versucht Neusner, seine Position zu mildern: „Further, the Mishnah’s authors did not intend to compose a history book or a world of prophecy or apocalypse. […] Yet the Mishnah presents its philosophy in full awareness of the issues of historical calamity confronting the Jewish nation. So far as the philosophy of the document confronts the totality of Israel’s existence, the Mishnah by definition also presents a philosophy of history.“ (S. 98f). Vgl. auch: Moshe Weinfeld, Justice and Righteousness in Israel and the Nations, Jerusalem 1985, S. 133–141.
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tiggestellte palästinensische Talmud bzw. Talmud Yerushalmi erörtert das Gesetz betreffende Probleme, die aus der Mishnah entstehen). Der erzählerische Charakter der beiden Talmudim, die z.B. geschichtliche Erzählungen einfügen, um die Lehre der Mishnah zu erklären, zeigt das Bedürfnis, den ‚geschlossenen Charakter‘ der Mishnah angesichts der Geschichte wieder zu öffnen und zu ergänzen. Es geschieht im Talmud Yerushalmi zum ersten Mal, dass die Rabbinen unter einem geschichtlichen Blickwinkel über den König-Messias sprechen: Der Messias wurde am Tag der Zerstörung des Tempels aus dem Stamm David geboren, weshalb die Hoffnung von Israel lebendig bleiben kann.267 Trotzdem betont der Talmud Yerushalmi, dass die Rettung Folge des ethischen und religiösen Verhaltens von Israel sein wird, der Messias sowie bestimmte geschichtliche Ereignisse spielen somit in Bezug auf das Ende der Zeit und auf die Rettung Israels keine Rolle.268 Im babylonischen Talmud findet man in Sanhedrin 96b–99a den längsten Abschnitt über den Messias, aus dem man die folgenden Einzelpunkte herausstellen kann: a. die Ankunft des Messias wird durch eine Zeit von Unruhen vorweggenommen; b. es ist möglich, die Ankunft des Messias zu berechnen, aber das ist nicht empfehlenswert, da diese Berechnungen falsch sein und das Volk zu gefährlichen Enttäuschungen führen können; c. in den drei Phasen der Welt bildet die messianische Zeit die letzte Phase (Sanhedrin 97a-b: „Eine Lehre des Hauses Elijas: Die Welt besteht sechstausend Jahre. Zweitausend Jahre Tohu, zweitausend Jahre Torah; zweitausend Jahre Messias. Doch durch unsere zahlreichen Sünden sind davon schon vergangen, wieviele vergangen sind“); d. einer verdienstvollen Generation – die der Torah treu bleibt – wird Gott den Messias senden, so dass es das Verhalten sowie der Zustand von Israel sind, welche die Entscheidung Gottes bewirken werden; e. der Messias stammt aus dem Hause von David. Diese fünf Elemente widersprechen der Theorie von Gershom Scholem269, der zwischen einem restaurativen und einem utopischen Messianismus im Judentum unterscheidet. Zumindest im Rahmen der späteren talmudischen Lehre spielt ein solcher Unterschied keine Rolle, da beide Elemente (die Haltung zur Torah und eine bessere Zukunft) zugleich vorhanden und eng miteinander verbunden sind. Es ist somit nicht möglich, das eine ohne das andere zu begreifen bzw. eine deutliche Demarkationslinie zwischen beiden zu ziehen.
267 Berakhot 2:4. 268 Ta>anit 1:1. 269 Gerschom Scholem, The Messianic Idea in Judaism and Other Essays on Jewish Spirituality, New York 1971, S. 1–17; ders., Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus, Zürich 1970, S. 11ff.
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Darüber hinaus scheint einerseits der talmudische Messianismus die Dinge lassen zu wollen, wie sie sind (die Treue zur Torah unter der Herrschaft anderer Völker), andererseits verspricht er radikale Veränderungen. Sicherlich ist das historische Ereignis der Tempelzerstörung der Ausgangspunkt des Babylonischen Talmuds bezüglich seiner Konzeption der Geschichte und bezüglich der Darstellung des konkreten Lebens von Israel nach diesem tragischen Ereignis. Jacob Neusner schreibt diesbezüglich: „Of special interest is the fact that the relationship between Rome and Iran, the power of the one to subdue the other, depended upon the relationship of both of them to Israel. What each had done to Israel governed the destiny of the two empires […]: the two empires would come to an end with the coming of the son of David. So, in all, the rabbinic system took within itself the history of the great empires of the day. The theory of the four empires – Rome and, for Babylonian Jews, Iran, being the principals – was thus taken a further step. Israel is at the center and heart of human history. Whatever the nations do is judged by God for its meaning for Israel’s life. God will determine the fate of each nation in accord with that criterion. […] History then is yet another expression and testimony to the Torah. Since Israel bears responsibility for studying and carrying out the Torah, once more it is claimed that Israel governs its own history and shapes its own destiny through its own deeds.“270
Neusner ist jedoch der Meinung271, dass das Studium der Torah kein ‚Handeln in der Geschichte‘ impliziere, da es nur die passive und wirkungslose Assimilation der Lehre der Vergangenheit bedeute. In diesem Sinne wäre der Talmud so unhistorisch wie die Mishnah. Allein, die Erwähnung der messianischen Zeit im Babylonischen Talmud zeigt meines Erachtens genau das Gegenteil: Da nur eine verdienstvolle Generation die messianische Zeit entstehen lassen kann, darf man nicht vergessen, dass nur die Taten nach der biblischen Lehre verdienstvolle sind; verdienstvoll ist nämlich der Mensch, der handelt, um gerecht und barmherzig wie Gott zu sein, um also die Gerechtigkeit Gottes auf Erden zu verwirklichen. „Die Torah ist nicht im Himmel“ (Baba Mesi>a 59b)272 lautet ein bekanntes rabbinisches Motto, gerade weil das Studium der Torah für das konkrete geschichtliche Leben im Diesseits nutzbar gemacht werden soll. Das erklärt einerseits, aus welchem Grund der Talmud mehr am Prozess (der menschlichen Geschichte) als an seinem endgültigen Ziel (der messianischen Zeit) interessiert ist, und andererseits, warum die Gestalt des Messias im Hintergrund bleibt. 270 Jacob Neusner, Messiah in Context, op. cit., S. 203f. 271 Ibidem, S. 206. 272 Übersetzung von F. Y. A.
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Die Rettung entsteht aus dem Mitwirken und Mithandeln von allen und nicht aus einer plötzlichen Gabe Gottes, der irgendwann einen gesalbten Retter sendet. Die Passivität des Volks würde die Ankunft des Messias – oder besser: das Entstehen der messianischen Zeit – aus der Geschichte gleichsam entfernen: Vielleicht ist im Talmud eine Eschatologie ohne Messias möglich, eine Eschatologie ohne Menschen ist jedoch ohne Frage sinnlos. Unter diesem Blickwinkel stimme ich mit Philip S. Alexander überein: „Messianism, when it does occur in classic rabbinic literature, is fundamentally a this-wordly political process. The miraculous and supernatural are played down. What is in view is the establishment of a real Jewish state, in real historical time. There are hints here and there in the vast rabbinic corpus of a superhuman, mystical Messiah, and of the messianic redemption as a cosmic event. These ideas were to bear fruits in the mediaeval Qabbalah, but they are peripheral to the rabbinic tradition.“273
Diese enge Beziehung zwischen Geschichte als menschlichem Handeln und der messianischen Zeit kann eine fruchtbare Antwort auf unsere Ausgangsfrage bieten, nämlich aus welchem Grund Maimonides am Schluss seiner Mishneh Torah zwei ganze Kapitel der Gestalt des Messias widmete, obwohl diese keine zentrale Rolle in der Mishnah oder der talmudischen Literatur spielt.274 Ich bin der Auffassung, dass Maimonides an dieser Stelle mehr als ein Kommentar bzw. eine Wiederholung der Mishnah bzw. des Talmud geben wollte. Sein König-Messias entspricht – wie man nun sehen wird – dem platonisch-Alfarabischen Modell eines politischen Leiters, der zugunsten der 273 Philip S. Alexander, The King Messiah in Rabbinic Judaism, op. cit., S. 472. 274 In der postexilischen jüdischen Literatur findet man über den Talmud hinaus viele Werke, die sich mit der messianischen und apokalyptischen Problematik beschäftigen; an dieser Stelle habe ich sie nicht behandelt, da kein direkter Einfluss auf Maimonides nachzuweisen ist: Philip S. Alexander, Late Hebrew Apocalyptic: A Preliminary Survey, in: Pierre Geoltrain/JeanClaude Picard/Alain Desremaux, La fable apocryphe, Bd. 1, Turnhout 1990, S. 197–217; David Stern/Mark Jay Mirsky (Hrsg.), Rabbinic Fantasies: Imaginative Narratives from Classical Hebrew Literature, Philadelphia/New York 1990 (im bes. Yehuda Even Shemuel, Midreshei Ge’ullah, S. 352–370); David Berger, Three Typological Themes in Early Jewish Messianism, in: AJS Review 10 (1985), S. 141–143; David Flusser, The Josippon (Joseph Gersonides. Edited with an Introduction, Commentary and Notes, 2 Bde., Jerusalem 1980–81; George W. Buchanan, Revelation and Redemption: Jewish Documents of Deliverance from the Fall of Jerusalem to the Death of Nachmanides, Dillsboro (NC) 1978; Abraham Goldberg, Erlösung durch Leiden: Drei rabbinische Homilien über die Trauernden Zions und den leidenden Messias Efraim, Frankfurt/M. 1978; Samson H. Levey, The Messiah: An Aramaic Interpretation. The Messianic Exegesis of the Targum, Cincinnati 1974; ders., Akiba. Sage in Search of the Messiah. A Closer Look, in: Judaism 41,4 (1992), S. 334–345; Samson A. Wertheimer, Pirqe Heikhalot Rabbati (Batei Midrashot), Jerusalem 19682; Adolph Jellinek, Bet ha-Midrash, 2 Bde., Jerusalem 1967; E. A. Wallis Budge, The Book of the Cave of Treasures, London 1927; Judah D. Eisenstein, Ozar Midrashim, New York 1915; Jacob Klausner, Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten, Berlin 1903–04.
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ganzen Gemeinde die Weisheit bei der Interpretation des Gesetzes mit der vollkommensten Erkenntnis von Gottes Willen vereint. Er ist nicht das eschaton der Zeit, sondern ihre Erfüllung entscheidend, die mitnichten mit dem Ende der Geschichte gleichgestellt wird.275 Diese Verknüpfung des König-Messias mit der Geschichte – und mit der politischen Geschichte im besonderen – ist, genau betrachtet, kein Verdienst von Maimonides, wie Shemaryahu Talmon unterstreicht276; bereits das Frühjudentum kennt den Messias als einen sozio-politischen Begriff, „which must be assessed primarily in the historical setting and the conceptual context of the biblical institution of kingship. […] Biblical Israel must be appreciated as a unified polity that had not yet experienced the ideational and factual separation of civis terrae from civis dei which is to mark the contours of later conceptual systems and patterns of thought.“277 In der Entwicklung des Frühjudentums entfernte man sich allmählich von einem königlichen gesalbten Messias, dessen Wesen und Funktion mit der Geschichte der israelitischen ‚Nation‘ untrennbar verbunden ist, einer Geschichte, die durch die abstrakte Konzeptualisierung der Zeit des Zweiten Tempels zur Idealisierung eines überirdischen Gesalbten nach 70 n. c. Z. führt. Während mit dem Messias in der biblischen Zeit eine starke ‚räumliche Konnotation‘ verbunden war, er war nämlich der Gesalbte einer durch bestimmte Grenzen definierten Nation –, gewinnt diese Gestalt nach 70. n. c. Z. eine ‚zeitliche Konnotation‘, „thus messianism turns progressively away
275 Die eschatologische Perspektive, was den Maimonidischen Messias betrifft, ist auch heutzutage eine starke Strömung in der Forschung. Zum Beispiel schreibt Luis Dize Merino am Anfang seiner Untersuchung zu den vier messianischen Gestalten (einem Messias aus Córdoba, einem kastilischen, einem französischen und einem aus dem Jemen), die man im ganzen Werk von Maimonides finden kann: „[E]l Mesías y los tiempos mesiánicos van involucrados en una perspectiva escatologíca, donde se habla de la resurrección de los muertos, del ‚mundo que ha de venir‘ (ha-’olam ha-ba’), y de la vida de los últimos tiempos.“ (La idea mesianica en Maimonides, in: Jesus Pelaez del Rosal (Hrsg.), Sobre la Vida y la Obra de Maimonides. I Congreso Internactional (Córdoba, 1985), Cordoba 1991, S. 117) Trotzdem behauptet Merino am Schluss seines Aufsatzes, dass die Figur des Messias bei Maimonides hauptsächlich rationalistisch sei (S. 147f). Walter S. Wurzburger vertritt die Gegenthese hinsichtlich der angeblichen Beziehung zwischen Messias und Wiederauferstehung der Toten: „Maimonides [fühlt] sich keineswegs dem Konzept verpflichtet, daß sich die Auferstehung erst nach der Ankunft des Messias ereignen könne. Im Gegenteil, er zieht die Möglichkeit in Betracht, daß die Auferstehung sogar vor der Ankunft des Messias stattfinden kann.“ (Maimonides’ messianische Vorstellung, in: Ekkehard Stegemann (Hrsg.), Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart 1993, S. 84; vgl. auch: Aviezer Ravitzky, Ke’fi Koach ha-Adam. Jemot Hamschiach Bemischnat haRambam, in: Studies in Medieval Jewry 7 (1981), S. 34–67). 276 Shemaryahu Talmon, The Concept of Mâˇsîaö and Messianism in Early Judaism, in: James H. Charlesworth (Hrsg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis 1992, S. 79–115. Vgl. auch: Donald Juel, Messiah and Temple, in: SBLDS 31 (1977), im bes. S. 150f. 277 Ibidem, S. 81.
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from topicality of state and nation and tends to supplant it by the conceptuality of an all-embracing universalism.“278 Im besonderen nach dem Millennarismus von Qumran wird der Messias zum Vollstrecker einer restaurativen kommenden Welt, seine Aufgabe wird sich auf den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels und auf die Schaffung eines neuen nationalen Bewusstseins konzentrieren. Alles in allem unterscheidet sich dieser ‚geschichtliche Messianismus‘ nicht vom biblischen: Der Gesalbte wird nicht am Ende der Zeit, sondern vielmehr an einer Zeitwende kommen, für die eine tiefe geschichtliche und kosmische Krise charakteristisch ist. Nach der Lehre von Qumran wird die Überwindung dieser tiefen Krise die Aufgabe des ersten Messias (eines Nachkommen von Joseph) sein, während ein zweiter Messias (ein Spross der davidischen Dynastie) nach dem Tode des ersten zum Überwinden dieser Zeit führen wird.279 Maimonides akzeptiert nicht die ‚Wehen des Messias‘, nämlich das Scheitern des Messias aus dem Stamm Joseph, vor dem Kommen des zweiten Messias, so wie er auch jedwede katastrophische bzw. apokalyptische Darstellung der messianischen Tage ablehnt. Walter S. Wurzburger schreibt diesbezüglich: „Das maimonidische Denken ordnet die zwei Messiasgestalten zwei komplett verschiedenen Geschichtsepochen zu. Beide sind herausragende politische Führer und Krieger, die aus dem Stamm Judah stammen. Der erste Messias war König David, eine historische Figur, dessen politisch-militärische Führung und Frömmigkeit gepriesen wird. Der zweite Messias steht noch aus. Er wird das, was sein Vorgänger – der Eroberer Jerusalems und Gründer der davidischen Dynastie – begonnen hatte, restaurieren und vervollständigen. Der zweite Messias wird also in dessen Fußstapfen treten. Aber er wird sogar noch erfolgreicher sein.“280
278 Ibidem, S. 83. 279 An dieser Stelle ist es nicht möglich, eine ausführliche Bibliographie der Literatur zur Lehre der zwei Messiasse in Qumran anzugeben. Für eine einführende und allgemeine Orientierung siehe u.a.: Reinhold Mayer, Die Messiasse. Geschichte der Messiasse Israels in drei Jahrtausenden, Tübingen 20022; Lincoln D. Hurst, Did Qumran expect two Messiahs?, in: Bulletin for Biblical Research 9 (1999), S. 157–180; Johann Maier, Messias oder Gesalbter? Zu einem Übersetzungs- und Deutungsproblem in den Qumrantexten, in: Revue de Qumran 17, 1–4 (1996), S. 585–612; Lawrence H. Schiffman, Messianic Figures and Ideas in the Qumran Scrolls, in: James H. Charlesworth (Hrsg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, op. cit., Minneapolis 1992, S. 116–129; Shemaryahu Talmon, Waiting for the Messiah: The Spiritual Universe of the Qumran Covenanters, in: Jacob Neusner/William Scott Green/Ernest S. Frerichs, Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, op. cit., S. 111–137; ders., The World of Qumran From Within, Jerusalem 1989, im bes. S. 273–300; Yehezkel Kaufman, The Messianic Idea. The Real and the Hidden Son of David, in: El Ha’Ayin („Back to the Sources“). Materials for Bible Study Circles 5 (1961), S. 1–15; Abba H. Silver, A History of Messianic Speculation in Israel, Beacon Hill/Boston 19592; Aaron Z. Aescoly, Ha-Tenu>ot ha-Mesihiyot be-Yisrael, Jerusalem 1956. 280 Walter S. Wurzburger, Maimonides’ messianische Vorstellung, op. cit., S. 87.
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Maimonides lehnt die Idee eines Endes der Zeit in Bezug auf den KönigMessias ab, und in diesem Sinne bleibt er dem historischen Messianismus des Frühjudentums treu, aber seine Konzeption der postmessianischen Zeit und ihre Folgen auf die Geschichte von Israel – im besonderen in Bezug auf die anderen Nationen – kennt keinen Vorgänger in der jüdischen Tradition.281
§ 6 Natur und Funktion des König-Messias bei Maimonides Viele Gelehrte und Kommentatoren haben sich danach gefragt, wieso Maimonides am Schluss der Mishneh Torah sich mit einem Thema beschäftigt, das offenbar aus der praktischen Halakhah herausfällt, aber keiner von ihnen hat den König-Messias mit einer politischen Konzeption der Geschichte verbunden, wobei die Juden als Individuen und als Gemeinde zusammen mit den Gerechten aller Nationen den Kernpunkt einer solchen Konzeption bilden. Ein bekannter jüdischer Gelehrter, Rabbi David ben Zimra (RaDbaZ, 1479–1573), der Spanien verließ und nach Ägypten und schließlich nach Sefad (Galiläa) ging, schreibt in seinem Kommentar zum Sefer Shofetim (der erste bekannte Kommentar diesbezüglich), dass die Mishneh Torah mit den Gesetzen über den Messias schließe, um uns daran zu erinnern, dass dieser Codex in seiner Ganzheit bis zum Ende der Tage gilt und die Gesetze der Könige und des Messias das Ziel eines jedes menschlichen Lebens sind. Wenn die Gesetze über den Messias unmittelbar auf die über den König folgen würden, könnte man der Interpretation von RaDbaZ zustimmen, so aber ist zu bedenken, dass zwischen ihnen die Gesetze über den Krieg sowie die Kriegsführung, über den fremden Insassen und über den Heiden, mithin also praktische Gesetze platziert sind, deren Verbindung zwischen dem König und dem König-Messias nicht unmittelbar deutlich ist. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Rabbi David ben Zimra (RaDbaZ) einen wichtigen Punkt der Maimonidischen Argumentation im Sefer Shofetim genannt hat: Die Gesetze, welche die Gestalt des Königs von der des Königs-Messias trennen, sind praktische halakhische Regelungen, damit der politische Leiter das Leben unter den Mitgliedern der Gemeinde sowie das Leben zwischen ihnen und den benachbarten Nationen am besten gestalten kann. Wenn schon nicht eschatologisch, dann scheint die Absicht von Maimonides zumindest ‚teleologisch‘ zu sein: Warum soll der König die Gemeinde mit der vollkommensten Weisheit zu regieren versuchen? 281 Für einen kurzen Exkurs zu den messianischen Bewegungen im frühmittelalterlichen Judentum siehe u.a. Luis Diez Merino, La idea mesianica en Maimonides, in: Jesus Pelaez Del Rosal (Hrsg.), Sobre la Vida y Obra de Maimonides, op. cit., im bes. S. 118–121; Joshua Starr, The Jews in the Byzantine Empire 641–1204, Athen 1939, S. 203–206
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Diese teleologische Absicht ist auch den ersten Herausgebern des Sefer Shofetim nicht entgangen, weshalb sie manchmal Stellen aus dem Text von Maimonides strichen, um Probleme mit der Zensur und vor allem mit dem damaligen theologischen Milieu zu vermeiden. Lea Naomi Goldfeld schreibt diesbezüglich: „The Venetian printers, Bragadini and Giustiniani, who printed the Mishneh Torah with commentaries, paid special attention to the uniqueness of these two last chapters, that is to say they headed these two chapters with the title ‚The Laws of Kings, Wars and the King Messiah‘. I refer to the Venice editions of the years 1524 and 1550–1551. In the Rome edition, which is considered as having been published before 1480, these two last chapters are subtitled ‚The Laws of Kings and Wars‘ only. The Soncino 1490 edition gives almost the same subtitle. Standard editions of the Mishneh Torah throughout the ages usually have only the title ‚The Laws of Kings and Wars‘ (Berlin, 1862; Wilna, 1900; New York, 1947; Jerusalem, 1957, 1965, etc). The printers did not find it necessary to add the words ‚and the King Messiah‘, a fact which affects the true meaning of the two last chapters. The difference between the version of Rome, Soncino, Venice, Constantinople 1509, Amsterdam 1702 and the following prints until our own time, with respect to chapter eleven, is very noticeable.“282
Goldfeld betont, dass auch die Übersetzung der Yale University Press einen längeren Teil von Kapitel XI, Paragraph 4 auslässt, aber sie fügt nicht hinzu, dass der Übersetzer in seiner Einführung den fehlenden Abschnitt aus der römischen Ausgabe (1490) vollständig vorstellt und die Absicht bekundet, sich in einem nachfolgenden Essay mit den „textual problems“283 dieses Abschnitts ausführlich zu beschäftigen. In diesem Sinne kann man behaupten, die Ausgabe der Yale University Press sei alles andere als mangelhaft. Hinsichtlich des Messias liest man in Kapitel XI, 1–4: „Der Messias-König wird auftreten und die Königherrschaft des Hauses Davids wieder zu ihrer einstigen Herrschaft zurückbringen. Und er baut das Heiligtum (bZeb 45a) und sammelt die Zerstreuten Israels, und alle Gesetze treten wieder in Kraft, die einst gegolten haben (bSanh 51b). Man bringt Opfer dar, praktiziert das siebte Jahr und die Jobeljahre entsprechend ihrem Gebot, das in der Torah gesagt wurde. Und wer nicht auf ihn vertraut oder wer nicht seine Ankunft erwartet, der leugnet nicht bloß die übrigen Propheten (außer David selbst), sondern die Torah und unseren Lehrer Mose. Denn die Torah hat ihn bezeugt, weil es heißt (Dtn 30,3–5): Dann wendet dein Gott dein Geschick und erbarmt sich deiner und sammelt dich
282 Lea Naomi Goldfeld, The Laws of Kings, Wars and the King Messiah According to Maimonides’ Mishneh Torah, in: Jesus Pelaez del Rosal (Hrsg.), Sobre la Vida y la Obra de Maimonides, op. cit., S. 243f. In der Bibliographie zitiert die Verfasserin alle Manuskripte der Mishneh Torah, welche die Kapitel 11 und 12 der Laws of Kings and Wars enthalten (S. 250); vgl. auch: dies., Hilkhot Melakhim u-Milhamot we-Melekh ha-Mashiah, Sinai 1984. 283 Einführung und Übersetzung von Abraham M. Hershman zu The Code of Maimonides. Book Fourteen. The Book of Judges, op. cit., S. XXII ff.
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wieder ein … wenn deine Verstreuten auch am Ende des Himmels wären … bringt dich der HERR herbei. Diese Dinge sind in der Torah dargelegt, sie enthalten alle die Worte, die durch alle die Propheten gesprochen worden sind. Auch in dem Abschnitt über Bileam ist es gesagt und dort wird über zwei Gesalbte prophezeit: In Bezug auf den ersten Gesalbten, der David war, daß er (die) Israel(iten) gerettet hat von ihren Bedrängern, und in Bezug auf den letzten Gesalbten, der aus seinen Söhnen aufstehen wird, daß er Israel (endgültig) rettet. Und zwar heißt es doch (Num. 24, 17–18): Ich sehe ihn, jedoch nicht jetzt – das ist David; ich schaue ihn jedoch nicht nah – das ist der Messias-König. Es steigt ein Stern aus Jakob empor – das ist David; und ein Szepter erhebt sich auch Israel – das ist der Messias-König. Und er zerschmettert die Gewaltigen Moabs – das ist David, und desgleichen heißt es (2 Sam 8,2): und er schlug Moab und vermaß es mit der Meßschnur. Und tritt nieder alle Söhne des Seth – das ist der Messias-König, über den gesagt wurde (Sach 9,10): und seine Herrschaft (reicht) von Meer zu Meer. (Num 24,18) Und Edom wird zum Besitz – das ist David, da es heißt (2 Sam 8,6): Da wurde Edom dem David zu Knechten …; (Num 24,18) Und Besitz wird … – das ist der Messias-König, da es heißt (Ob 21): Dann steigen Retter auf den Berg Zion hinauf ….“ MEL XI,2 „Auch in Bezug auf die Asylstädte heißt es (Dtn 19,8–9): Wenn der HERR dein Gebiet erweiter … dann sollst du noch drei Städte hinzufügen. Aber nie hat diese Sache sich ereignet, doch der HgiE hat es nicht umsonst befohlen. Aber mit den Worten der Propheten bedarf es keiner Beweisführung, denn alle (prophetischen) Bücher sind voll von dieser Sache.“ MEL XI,3 „Laß es dir nicht einfallen, daß der Messias-König Wunder und Zeichen tun müsse und dergleichen – das ist nicht so. Denn Rabbi Akiba war ein großer Weiser von den Weisen der Mischnah, war einer der Parteigänger des Königs Ben-Koziba und hat über diesen gesagt, er sei der Messias-König. Und er wähnte mit allen Weisen seiner Generation, daß dieser der Messias-König sei – bis er wegen der Verschuldungen getötet wurde. Nachdem er getöt worden war, wurde ihnen bewußt, daß er es nicht gewesen ist. Aber die Weisen haben von ihm kein Zeichen und keinen Wunderbeweis gefordert. Der Kern der Sache ist folgender: Diese Torah, ihre Vorschriften und ihre Satzungen, gelten für alle Ewigkeiten, man fügt ihnen nichts hinzu und nimmt von ihnen nicht weg. MT Mel XI,4 „Wenn ein König aus dem Hause Davids auftritt, der die Torah studiert und sich mit den Geboten befaßt wie sein Vater David, entsprechend der Schriftlichen und der Mündlichen Torah, und der ganz Israel dazu anhält, in ihr zu wandeln und ihren Mangel zu beheben, und die Kriege des HERRN führt, so ist dieser (potentiell) für den Gesalbten (Messias) zu halten. Wenn er erfolgreich gehandelt hat und alle Völker, die rings um ihn herum sind, besiegt, und das Heiligtum an seiner Stätte aufgebaut und die Zerstreuten Israels gesammelt hat, so ist dieser gewiss Gesalbter (Messias). Wenn er aber soweit keinen Erfolg hatte oder getötet worden ist, dann ist offenkundig, daß dieser nicht jener (war), in Bezug auf den (die) Torah verheißen hat, und er gilt wie alle die Könige des Hauses David, die vollkommenen und tüchtigen, die gestorben sind. Und der Heilige – gepriesen ist Er! – hat ihn nur auftreten lassen, um durch ihn viele (die Gesamtheit) zu versuchen, da es heißt (Dan 11,35): „Und von den Weisen werden (manche) fallen, um sie auszuläutern und auszule-
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sen und zu reinigen auf die Zeit des Endes hin, denn noch (währt die Zeit) bis zum Termin.“ Auch <Jeshû’ han-Nôtzrî< – getilgt werde sein Name und sein Andenken! –>, >der da< wähnte, daß er Gesalbter (Messias) werde, aber der durch Gerichtsbeschluß getötet wurde, über den hat bereits Daniel prophezeit, indem es heißt (Dan 11,14): „Und die Söhne der Gewalthaber deines Volkes werden sich erheben, um eine Vision zu erfüllen, und werden fallen.“ Gibt es denn einen größeren Fall als den, da die Propheten gesagt/<prophezeit> haben, daß der Messias Erlöser /der Israel(iten) durch das Schwert zu vernichten, ihnen Rest zu zerstreuen, sie zu erniedrigen, die Torah auszuwechseln und die Mehrheit der Welt zu verführen, einem anderen Gott zu dienen als dem HERRN? – Aber Gedanken des Schöpfers der Welt – sie zu erfassen gibt es kein Vermgen im Menschen, denn nicht unsere Wege sind seine Wege und nicht unsere Gedanken sind seine Gedanken. Und alle diese Dinge >des Jeshû’ han-Nôçrî – getilgt werde sein Name und sein Andenken!> – und was jenen Ismaeliten betrifft, der nach ihm auftrat < – der Name von Frevlern verwese! – >, sie (dienen) nur dazu, den Weg zu ebnen für den König-Messias und zurechtzurichten (le-taqqen)<. Und er richtet zurecht (wijtaqqen)> die Welt insgesamt dazu, dem HERRN einträchtig (bejachad) zu dienen, da es heißt (Zef 3,9): „Denn dann wende ich den Völkern eine reine Sprache zu, daß alle den Namen des HERRN anrufen und ihm einträchtig dienen“. Wie das? – Die ganze Welt ist bereits >ganz< erfüllt worden von Worten des (= (über den) Messias und von Worten der Torah und von Worten der Gebote, und diese Worte haben sich auf ferne Inseln und zu vielen Völkern von unbeschnittenem Herzen verbreitet. Sie verhandeln über diese Worte und über die Gebote der Torah: Der eine sagt: Diese Gebote sind einst wahr gewesen, sind aber bereits aufgehoben in dieser Zeit und für Generationen nicht mehr praktiziert worden, und jener sagt: Es gibt verborgene Dinge in ihnen, und sie sind nicht ihrem Wortlaut nach zu verstehen, und der Messias sei bereits gekommen und habe ihre verborgenen Bedeutungen aufgedeckt. Aber wenn der König-Messias wirklich auftreten wird, >Erfolg haben< und sich hoch erheben und erhaben sein wird, dann werden sie sich unverzüglich alle davon abkehren und erkennen, daß ihre Väter Lüge ererbt hatten und daß ihre Propheten und ihre Väter sie irregeführt haben.““284
6.1. Die politische Auslegung des König-Messias Die einzigen Kapitel über den Messias beginnen mit einer starken und deutlichen Verknüpfung zwischen dem König-Messias und dem Gesetz; eine solche Verknüpfung gibt es, wie wir gesehen haben, zwischen den königlichen Gestalten auch bei Platon und Alfarabi. In der ganzen rabbinischen
284 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. XXIII f; S. 238ff. Das deutsche Zitat stammt aus: Johann Maier in seinem Werk Friedensordnung und Kriegsrecht im mittelalterlichen Judentum, S. 163–166. Daher weicht das Zitat formal von anderen Zitaten ab.
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Tradition findet man hingegen keine Herstellung eines Verhältnisses zwischen Gesetz und Messias. Diese königliche Version entspricht im Wesentlichen den Messiaserwartungen der sogenannten Psalmen Salomons, die gemeinhin der pharisäischen Richtung zugeschrieben werden. Sie ist eine historisch-politische Restitution der idealisierten Verhältnisse der davidischen Herrschaft, ohne jegliche apokalyptische oder übernatürliche ‚Untertöne‘. Das bedeutet, dass die Erwartung des Messias nicht von apokalyptischer Hochspannung und nicht von brennender Naherwartung getragen ist und nicht von übernatürlichen Wundern begleitet wird – wiewohl gelegentlich solche Anklänge auch in der rabbinischen Literatur zu finden sind.285 Ein weiteres Problem wird gelegentlich in der rabbinischen Literatur analysiert, nämlich die Frage des Verhältnisses der individuellen zur national-kollektiven Erlösungshoffnung: ob die Auferstehung der Toten vor der Ankunft des Messias stattfinden wird oder erst später mit dem Heraufkommen des >olam ha-ba, d.h. mit der Neuschöpfung der Welt durch Gott, einer Welt ohne Not, Drangsal und Pein.286 Die Tatsache, dass im Achtzehngebet die apokalyptische Hochspannung fehlt (hier wird die Messiaserwartung als Entwicklung der rabbinischen Lehre aus der Tagespolitik ausgeklammert), ist gewiss eine Reaktion auf die verheerenden Folgen der messianisch geprägten Aufstände, die zur Tempelzerstörung führten, und des erklärtermaßen messianischen Aufstandes unter Bar Kochba (132–135 n. c. Z.) gegen die Römer. Das eindeutigste Zeugnis für diese antiapokalyptische, antipolitische und antimessianische Tendenz innerhalb des rabbinischen Judentums ist das wichtigste Dokument des nachbiblischen Judentums überhaupt, nämlich die Mishnah. Das Interesse dieser umfassenden Rechtssammlung zur Strukturierung des altjüdischen Lebens ist die Heiligung Israels mittels der Befolgung der göttlichen Gebote. Sie verspricht dem Menschen Heiligkeit in dieser Welt und Erlösung in der kommenden Welt, wobei die Tage des Messias in etwas undifferenzierter Weise zur kommenden Welt gezählt werden. Israel kann nach der Auffassung der Lehrer der Mishnah, so Jacob Neusner287, seine Erlösung durch Selbstheiligung im Erfüllen der Gottesgebote erwirken, ohne auf die Hilfe eines Messias angewiesen zu sein. Es ist daher konsequent, wenn die Mishnah zum Thema Erlösung die folgenden programmatischen Äußerun285 Shabbat 30b; Bereshit Rabba 12. Vgl.: Ferdinand Weber, Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, nach dem Verfassers Tode herausgegeben von Franz Delitzsch und Georg Schnedermann, Leipzig 1887, S. 380ff. 286 Vgl. über dieses Thema vor Maimonides: Saadja Gaon, Emunot we-Deot oder Glaubenslehre und Philosophie, übers. von J. Fürst, Hildesheim/New York 1970, S. 377f. 287 Jacob Neusner, Mishna and Messiah, in: Jacob Neusner/William S. Green/ Ernest S. Freerichs (Hrsg.), Judaism and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge (Mass.) 1987, S. 265–282.
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gen aufgenommen hat: „Ganz Israel hat Anteil an der Kommenden Welt, wie es [in der Schrift] heißt: ‚Dein Volk sind allesamt Gerechte, Zaddikim.‘“288 Es waren dann erst die nachmishnaischen Lehrer, die sogenannten Amoräer (Ausleger), welche das statische Weltbild der Mishnah – hier die Welt der Selbstheiligung als Vorraum zu der ihr gegenüberstehenden anderen Welt der Erlösung, dem >olam ha-ba – wieder in die Geschichte zurückführten und darum wieder von der messianischen Hoffnung sprachen. Allerdings taten sie dies im Geiste der mishnaischen Doktrin. Das heißt, auch den Amoräern war die Messiasfrage keine Frage der unmittelbaren Naherwartung und schon gar nicht der Politik. Die Amoräer banden das Kommen des Messias im Sinne der tannaitischen (d.h. mishnahischen) Lehren an die Selbstheiligung Israels im Gehorsam gegenüber Gottes Willen. Die Frage der Ankunft des Messias ist nach ihrer Auffassung eine Frage der Moral und jenes Gehorsams. Die Qualität dieses Gehorsams und damit die Chancen für das Kommen des Messias glaubten sie u.a. an den Geschehnissen der Zeit erkennen zu können, d.h. an den konkreten Ereignissen der Geschichte, am konkreten Ergehen der Menschen, also am Hunger, an den Kriegen und ähnlichen Katastrophen. Sie galten ihnen als Zeichen für das Nahen oder Ausbleiben des Messias. In diesen Widerfahrnissen sahen diese Gelehrten des Talmuds Zeichen für den moralischen Zustand der Generation, und dieser ist es, der nach ihrer Auffassung ausschlaggebend für die Heraufkunft der messianischen Zeit sein würde. Darum lesen wir im Talmud: „Im Zeitalter, in dem der Sohn Davids kommen wird, werden die Jungen das Gesicht der Greise beschämen, und die Greise werden vor den Jungen aufstehen; eine Tochter wird gegen ihre Mutter auftreten, eine Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter; das Gesicht des Zeitalters wird dem Gesicht eines Hundes gleichen, ein Sohn wird sich vor seinem Vater nicht schämen.“289
In solchen unmoralischen Zuständen sollen demnach die sogenannten Wehen des Messias erkennbar sein. Mit anderen Worten: Für manche der talmudischen Gelehrten ist es vor allem die moralische Verderbtheit der Menschen, die ein Anzeichen für das nahende Ende ist. Demgegenüber gibt es die andere Auffassung, dass eine solche moralische Verderbtheit gerade die Ankunft des Messias verhindert oder zumindest verzögert, wohingegen die Busse und die Umkehr die Ankunft des Messias beschleunigen. In diesem Sinne sagt ein anderer Gelehrter des Talmuds: „Alle [Angaben über das] Ende sind bereits vorüber; die Ankunft des Endes ist nur von Buße und gutem Handeln abhängig.“290 288 Sanhedrin 10,1 (Übersetzung von F. Y. A.). 289 Sanhedrin 97a (Übersetzung von F. Y. A.). 290 Sanhedrin 97b (Übersetzung von F. Y. A.).
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Diesen widersprüchlichen Auffassungen von den Messiaszeichen innerhalb eines messianischen Talmudtraktats (Traktat Sanhedrin 96b–99a) ist gemeinsam, dass die Gelehrten die Heraufkunft des messianischen Reichs als vom moralischen Zustand des Menschen abhängig sehen, sei dieser nun gut oder böse. Gerade so doppeldeutig formuliert es ein anderer Meister des Talmud: „Der Sohn Davids kommt nur dann, wenn das Zeitalter entweder vollständig tugendhaft oder vollständig schuldbeladen ist.“291 Der Vorteil einer solchen Sicht ist, dass sie den Menschen in die Verantwortung nimmt, um durch Buße und durch gute Werke, etwa durch die gewissenhafte Ausübung des Shabbat, das Ende zu erwirken. Der letztlichen Hoffnungslosigkeit eines solchen Unterfangens stellt der Talmud immerhin die Aussicht gegenüber, dass auch völlige Verderbtheit der Menschen eine Voraussetzung für die Ankunft des Messias sein könnte. Der Nachteil dieser Sicht ist natürlich, dass kein Verlass auf die Fähigkeit des Menschen, die messianischen Bedingungen durch sein Tun herbeizuführen, gegeben ist. Dies könnte demnach eher ein Grund zur Resignation und Verzweiflung sein. Darum haben auch die talmudischen Lehrer nach anderen Wegen gesucht, um Anhaltspunkte für die Ankunft des Messias zu finden. Auch in dieser Suche ließen sie sich von ihren ethischen Grundanschauungen leiten, etwa dahingehend, dass einem bestimmten Maß an Schuldhaftigkeit ein entsprechendes Maß an Sühne gegenüberstehen müsse, bevor der Messias komme. Einen wichtigen Hinweis auf eine entsprechende göttliche ‚Zeitökonomie‘ konnten die jüdischen Gelehrten aus dem Buch des Propheten Ezechiel entnehmen. Dort wird der Prophet von Gott aufgefordert, sich 190 und danach 40 Tage auf die Seite zu legen, um so die Schuld des Hauses Israel und des Hauses Juda zu tragen (Ez. 4:4–6). Aus dieser Anweisung an den Propheten konnten die Gelehrten schließen, dass es in der göttlichen Zeitplanung offenbar eine Entsprechung von Schuld und Strafzeiten und entsprechend eine Belohnung gemäß der vorausgegangenen Leiden gebe. Außerdem verweist der Text auf eine Entsprechung von Tagen und Jahren, die in den später häufig belegten Endzeitkalkulationen eine große Rolle spielen wird.292 Nach diesem Entsprechungsschema berechnen einige Rabbinen des Talmuds z.B. die Dauer der Messiaszeit: 291 Sanhedrin 98a (Übersetzung von F. Y. A.). 292 Abba H. Silver, A History of Messianic Speculation in Israel. From the First through the Seventeeth Centuries, Beacon Hill/Boston 1927; Aaron Z. Eschkoli, Ha-Tenu>ot ha-Meshihiot be-Yisrael, Jerusalem 1956; Karl E. Grötzinger, Zahlen, die auf das Ende deuten. Jüdische Endzeithoffnungen als Spiegel der Generationen, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 11 (2000), S. 209–228; ders., Zahlen, die Geschichte machen. Die Zahl als Orientierungshilfe in der jüdischen Historiosophie, in: Eveline Brugger/Martha Keil (Hrsg.), Die Wehen des Messias. Zeitenwende in der jüdischen Geschichte, Berlin/Wien 2001, S. 67–89.
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„Rabbi Elieser sagte: Die messianischen Tage werden vierzig Jahre anhalten, denn es heißt ‚vierzig Jahre Verdruss mit diesem Geschlechte‘ (Ps. 95:10). […] Rabbi Elieser sagte: Die messianischen Tage werden vierzig Jahre anhalten, denn hier heißt es: ‚er demütigte dich, ließ dich Hunger leiden und speiste dich‘ (Dt. 8:3), und dort heißt es: ‚erfreue uns so viele Tage, als du uns gedemütigt hast, so viele Jahre wir Unglück erlebt haben‘ (Ps. 50:19). Rabbi Dosa sagte: Vierhundert Jahre; denn hier heißt es: ‚man wird sie knechten und hart bedrücken vierhundert Jahre lang‘ (Gen. 15:13), und dort heißt es: ‚erfreue uns so viele Tage, als du uns gedemütigt hast.‘“293
Hinter dieser Deutung für die Dauer des messianischen Reichs steht der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes, der das erlittene Böse im gleichen Maße mit Gutem vergilt. Deutlichere Aussagen zum Zusammenhang von Gehorsam und Erlösung finden sich in Sanhedrin 97b–98a: „Rav sagte: Alle Angaben über das Ende sind bereits vorüber, die Sache ist nur von der Busse und guten Werken abhängig. […] Rabbi Elieser sagte: Wenn die Israeliten Busse tun, so werden sie erlöst, wenn aber nicht, so werden sie nicht erlöst. […] Se’eri sagte im Namen von Rabbi Haninas: Der Sohn Davids wird nicht eher kommen, als bis es keine Hochmütigen in Israel geben wird. […] Ula sagte: Jerusalem wird nur durch Gerechtigkeit erlöst werden.“ „Rabbi Jochanan sagte im Namen des Rabbi Schimon bar Jochai: Würden die Israeliten zwei Sabbate nach Vorschrift halten, so würden sie sofort erlöst werden.“ (Shabbat 118b).
Die Erlösung und die Ankunft des Messias haben in diesen Äußerungen gleichsam keinen Eigenwert, sondern sind ein ‚Vehikel‘ der moralischen Unterweisung. Die Moral und der Gesetzesgehorsam sind es, die gefördert werden sollen, nicht die messianische Hochspannung und noch weniger die politische Aktivität.294 Der Traktat Sanhedrin lässt nun allerdings auch wieder Ansätze zu apokalyptischen Denkformen erkennen. Eine solche im Talmud durchgeführte Denkfigur ist die, die Geschichte typologisch in der Schöpfungsgeschichte präfiguriert zu sehen. Es war nicht ohne Bedeutung für das historische Denken, dass in der Bibel das Entstehen der Welt in einer zeitlichen Ordnung, als geschichtlicher Ablauf, gezeichnet wird. Was wir heute als einen kontinuierlichen Prozess verstehen, der ohne einen Jahres- oder Tagesrhythmus sich entfaltete, hat die Bibel als einen festen geschichtlichen Ablauf konzipiert. Danach hat der Schöpfergott an jedem neuen Tag andere Geschöpfe hervorgebracht, um dann selbst am Ende einen Ruhetag einzulegen. Wo die Entstehung der Welt als ein geordneter geschichtlicher Ablauf gesehen wird, kann es nicht ausbleiben, dass die Geschichte selbst nach einem entspre293 Sanhedrin 99a (Übersetzung von F. Y. A.). 294 Vgl. diesbezüglich: Peter Schäfer, Die messianischen Hoffnungen des rabbinischen Judentums zwischen Naherwartung und religiösem Pragmatismus, Leiden 1978, S. 214ff.
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chenden Rhythmus konzipiert wird. Einen solchen zu denken, dies war Quelle der apokalyptischen Grundformel für den Verlauf der Geschichte, die im Talmud überliefert wird: „Rabbi Qattina sagte: Sechstausend Jahre wird die Welt bestehen und eintausend Jahre wird Brache/Zerstörung sein, wie die Schrift sagt: ‚und der Herr wird allein an jenem Tage erhaben sein.‘ (Jes. 2:11) […] Wie in jedem Siebenjahr-Zyklus ein Jahr ein Brachjahr ist, ebenso wird die Welt in siebentausend Jahren eintausend Jahre brachliegen.“295
Nach diesem ‚Weltenfahrplan‘ wird die Welt im Jahre 2240 unserer Zeitrechnung an ihr Ende gelangt sein. Dann bricht die große Brache oder Zerstörung dieser Welt herein. Aber es steht noch eine andere Zahl in derselben Passage des Talmuds. Der zweite apokalyptische Passus geht gleichfalls von der sechstausendjährigen Dauer der Welt aus. Allerdings wird nun hier der Weltenlauf in drei gleiche, aufsteigende, große Epochen geteilt: „In der Schule des Elijahu wurde gelehrt: Sechstausend Jahre wird die Welt bestehen, zweitausend Jahre Tohu [wabo-hu], zweitausend Jahre der Tora und zweitausend Jahre der messianischen Zeit.“296
Laut dieser Zeiteinteilung befindet sich die Welt schon seit dem Jahr 240 in der messianischen Zeit. Und mit dem Jahr 1240 ist das letzte Jahrtausend oder das zweite messianische Jahrtausend angebrochen. Diese schöpfungsrhythmische Geschichtskonzeption hat zunächst anscheinend eine stabile Lage geschaffen. Wenn man allerdings bedenkt, dass in diesem Geschichtszyklus nicht weniger als 2000 Jahre als messianische Zeit vorgesehen sind, so wird das Bild doch sogleich wieder etwas beunruhigender. Denn für diese zweitausend Jahre gilt die gleiche Frage, welche ein talmudischer Gelehrter an die Konzeption von den 85 ‚Jubiläumszyklen‘ stellte, in deren letztem Jubiläum der Messias kommen sollte. Bezüglich dieses letzten Jubiläums wird die Frage gestellt, ob der Messias an seinem Anfang oder Ende komme, worauf der Befragte erwiderte: „Ich weiss es nicht.“297 Das gleiche gilt auch für die 2000 Messiasjahre des dreistufigen Modells. Kein Wunder also, dass seit dem Beginn der messianischen Weltenepochen, d.h. seit dem Jahr 240 und verstärkt nach 1240 der christlichen Zeitrechnung, unter den Juden zahlreiche messianische Unruhen ausgebrochen sind, wenn auch nicht exakt an den jeweiligen Jahrtausendwechseln. Die beiden talmudischen sechstausendjährigen Zeitpläne sind für die meisten der späteren apokalyptischen Berechnungen ‚kanonisch‘ geworden. Bei Maimonides finden wir eine harte Kritik an den messianischen Berechnungen sowie eine starke Akzentuierung, oder besser: eine deutliche Entste295 Sanhedrin 97a (Übersetzung von F. Y. A.). 296 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.). 297 Sanhedrin 97b (Übersetzung von F. Y. A.).
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hung des Politischen in Bezug auf den Messias, wobei das Politische im Traktat Sanhedrin keine beherrschende Rolle spielt. Am Anfang des Kapitels 11 zeigt der König-Messias – wenn man dem Wortschatz Scholems treu bleiben möchte – eine restaurative Funktion in Bezug auf das Gesetz: „All die alten Gesetze werden während seiner Tage wieder eingesetzt; Opfer werden wieder erbracht werden [da der Messias auch den Tempel in Jerusalem wieder aufbauen wird]; die Shabbat- und die Jobeljahre werden wieder in Übereinstimmung mit den im Gesetz festgelegten Geboten eingehalten werden.“ Auch Kapitel 12 beginnt mit der Erklärung des Verhältnisses zwischen König-Messias und Gesetz, wobei – wie man weiter sehen wird – dieses Gesetz als dasjenige der Natur gesehen wird und dieses Kapitel sich in Richtung einer utopischen Konzeption des König-Messias bewegt: „Lass niemand denken, dass in den Tagen des Messias die Naturgesetze aufgehoben werden oder eine Neuerung in der Schöpfung eingeführt wird.“298 Bei Maimonides rechtfertigt die Ankunft des Messias keineswegs die Suspendierung oder sogar die Abschaffung des göttlichen sowie des natürlichen Gesetzes. Vielmehr ist es eben der König-Messias, der es gestattet, das Gesetz durch die Weisheit seiner politischen und gesetzgebenden Führung unter optimalen Bedingungen zu studieren und zu begreifen. Von Israel Yuval wurde sogar die These aufgestellt, Maimonides betrachte seinen Kodex als die ideale Konstitution des messianischen Königreichs, in welchem die Torah ihr ganzes Potential realisieren werde, nämlich die Erkenntnis Gottes zu gewähren, und das bis zum höchsten Maß an Übereinstimmung mit den Fähigkeiten jedes Individuums. An dieser Stelle muss auch betont werden, dass Maimonides das Vorkommen von Wundern bei aufgehobenen Naturgesetzen nicht ausschließt. Er nimmt die Lehre der creatio ex nihilo auf und weist die Vorstellung präexistenter Materie ab, gerade aufgrund dessen, dass die erstere Lehre es möglich macht, an Wunder und an übernatürliche Offenbarung zu glauben. Maimonides widerspricht keineswegs dem Glauben an übernatürliche Interventionen, er widerspricht aber dem Gedanken einer permanenten Änderung der Naturgesetze als Folge der Ankunft des Messias. Als Verteidigung der naturalistischen Interpretation des Maimonidischen Konzepts des König-Messias sollte zudem erwähnt werden, dass die messianische Zeit nur von begrenzter, nicht von ewiger Dauer sein wird. Die idealen Bedingungen, die in der messianischen Gemeinde vorherrschen werden, werden seines Erachtens eine relativ lange Periode andauern. Aber wie alle menschlichen Institutionen muss auch die messianische Zeit sich früher oder später auflösen. Bereits am Anfang der beiden Kapitel über den König-Messias stellt sich also diese Gestalt als eine regulierende politische Idee dar. Steven Schwarz298 Ibidem, S. 240 (Übersetzung von F. Y. A.).
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schild geht soweit, von einem ‚messianischen Imperativ‘ zu sprechen299: Wir sollten diesem Imperativ gehorchen, d.h. in einer Weise leben, welche die Vorbedingungen für die Ankunft des Messias schaffen kann. Auch Avietzer Ravitzky300 erkennt eine Verknüpfung zwischen KönigMessias und Gesetz: Da die menschliche Natur begrenzt, schwach und widersprüchlich ist, soll die Politik wirken, um das Irrationale entweder durch das Gesetz oder durch den Leiter der Gemeinde unter Kontrolle zu halten: „The king is subordinated to the Torah, he makes its laws the laws of the land, and he works to promote the ‚true religion‘ among the people.“301 Ausgehend von dieser Perspektive, die wir bereits bei Platon und Alfarabi finden, kann bemerkt werden, dass Maimonides den traditionellen Zeichen des Messias (Wiederaufbau des israelitischen Reichs, Wiederaufbau des Tempels und Sammlung des zerstreuten jüdischen Volks) ein anderes, viel entscheidenderes Zeichen hinzufügt, dessen zentrale Stellung am Schluss von Kapitel 11 hervorgehoben wird: Der König-Messias ist der höchste Gesetzgeber, weil er über die Torah ununterbrochen (302vlk ,lvih ) meditiert (303hrvth yrbdm ), allen Vorschriften des schriftlichen und mündlichen Gesetzes gehorcht (das Verb in der hebräischen Version ist auch dieses Mal ‚meditieren‘: tvjmh yrbdm ) und Israel zum Weg des Gesetzes (hrvt ) führt. Deswegen ist dieser König ohne Zweifel (tmXb : ‚in Wahrheit‘) der Messias. Die Anerkennung des Messias wird somit für Maimonides mit der praktischen und theoretischen Erkenntnis des Gesetzes Gottes zugunsten der politischen und religiösen Gemeinde Israels unauflösbar verbunden. Auf eine solche Ausrichtung hat bereits Johann Maier hingewiesen, der freilich auf dieser Grundlage eine, meines Erachtens nicht haltbare, Beziehung zwischen jüdischen und christlichen Messiaserwartungen herstellt, sowie einen Vorrang der religiösen Sphäre behauptet, von dem man aber bei Maimonides keine Spur findet: „Die Torah, in der Israels Erwählungsauftrag besteht, enthält bei allem Vorrang der Religion auch politisch-soziale Ordnungen, deren Verwirklichung daher in die Verwirklichung der Gottesherrschaft mit eingebunden sind. […] Die Problematik des Politischen ist für das Judentum […] nicht ausgeklammert […]. Die messianische Hoffnung war als lebendige Hoffnung ja nicht auf ein fernes, unerreichbares Heil ausgerichtet, sondern gerade umgekehrt auf eine baldige Heilswende.“304 299 Menachem M. Kellner, The Pursuit of the Ideal. Jewish Writings of Steven Schwarzschild, New York 1990, S. 276–313. 300 Avietzer Ravitzky, Religion and State in Jewish Philosophy. Models of Unity, Division, Collision and Subordination, Jerusalem 2002, S. 21ff. 301 Ibidem, S. 27. 302 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 240. 303 Ibidem. 304 Johann Maier, Das Werk des Maimonides und die damalige und spätere jüdische Gegenwartsbestimmung und Zukunftshoffnung, in: Simon Lauer/Clemens Thoma (Hrsg.), Zukunft in der Gegenwart. Wegweisungen in Judentum und Christentum, Bern/Frankfurt a.M. 1976, S. 143ff.
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Der Vorrang des Politischen in der Messiasauffassung von Maimonides wird viel besser von David Banon dargestellt: „On constate que Maïmonide exclut de l’âge messianique tout élément surnaturel. Les temps messianiques ne son pas au-delà de l’histoire. Ils font partie de l’histoire. Tout élément apocalyptique y est soigneusement écarté car Maïmonide maintient les temps messianiques dans le cadre et les frontières de la réalité humaine. La cité messianique n’est pas au-delà du politique mais n’est pas non plus en deça du religieux. Au contraire, elle temoigne d’une confiance dans un ordre politique raisonnable capable d’assurer la fin de tout exil, de toute violence et, dans la paix et la sérénité d’atteindre le bonheur de la contemplation. […] Rambam précise donc que les temps messianiques ne son pas une réalité métahistorique mais un processus historique bel et bien réel dont le moment de réalisation nous échappe cependant. […] Ce pour-quoi, il va souligner l’aspect normatif de cette doctrine.“305
Auch bei Menachem Lorberbaum findet man eine starke Betonung des politischen Charakters des König-Messias: „In the messianic polity depicted at the end of the Code’s Laws of Kings, political power is still a crucial ingredient for ordering society. […] The vision of the messianic polity leads us to reconsider his theory of government: Is the messianic regime realizable? If not, what is the difference between the messianic polity and the realizable polity? […] The messiah’s political achievements make all other hopes possible.“306
Wenn man die Perspektive dieser Autoren akzeptiert, gewinnt auch der Ausdruck „Kriege des Herrn“ [´ h tvmxlm ] eine politische statt einer religiösen Bedeutung, die seine Erwähnung bei Maimonides außerhalb der jüdischen Tradition präzisiert. Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck ´ h tvmxlm weder in der Bibel noch in der Mishnah oder im Talmud auftaucht, weshalb man sich rein auf das Denken von Maimonides beziehen muss, um zu begreifen, was damit gemeint wird. Die Gotteskriege haben bei Maimonides keinen religiösen Hintergrund, sie sind keine Kriege zugunsten der Verbreitung des Gesetzes Gottes. Da das Judentum keine Mission kennt, wäre eine solche Lektüre völlig unbegründet. Sie sind auch keine Kriege ‚zugunsten/für Gott‘, da Gott die Verwirklichung seines Gesetzes noch nicht einmal durch Anwendung von Gewalt befiehlt. Nach der rabbinischen Tradition basiert die Auserwähltheit Israels auf der Bewahrung der Reinheit des Gesetzes, weil nur diese Art der Bewahrung das echte und ursprüngliche Wort Gottes den anderen Völkern zugänglich machen kann. Bewahrung der Reinheit des Gesetzes und die 305 David Banon, Le messianisme dans la pensée de Maïmonide, in: ders. (Hrsg.), Inquisition et pérennité, Paris 1992, S. 107f. 306 Menachem Lorberbaum, Politics and the Limits of Law. Secularizing the Political in Medieval Jewish Thought, Stanford 2001, S. 81f. An dieser Stelle behauptet der Verfasser, dass das moderne Wort ‚Utopie‘ bei Maimonides nur in bezug auf Moreh ha-Nevukhim benutzt werden kann, obwohl sich auch Kapitel 12 der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem auf eine zukünftige Perspektive hin öffnet.
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Stellung zur Gewalt sind es, die das Judentum von den anderen monotheistischen Religionen in Bezug auf ihre geschichtliche Entwicklung im Mittelalter unterscheiden. Was sind also die „Kriege des Herrn“? Meines Erachtens – wie ich jetzt zeigen werde – beschreibt Maimonides damit die Konflikte, welche der König-Messias nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch innerhalb der Gemeinde bewältigen muss, um die enthüllte Bedeutung des Gesetzes zugänglich zu machen. In der jüdischen Bibel findet man nur eine einzige Beschreibung, die man als ‚Gotteskrieg‘ bezeichnen könnte: der Kampf Gottes mit Jakob (Gen. 32:23–33)307 – der danach den Namen ‚Israel‘ (‚derjenige, der mit Gott kämpft‘) bekommt. Selbstverständlich handelt es sich mehr um einen Kampf als um einen Krieg, jedoch findet dieser Kampf nicht nur gegen Jakob als Einzelperson statt. In dieser biblischen Erzählung steht Jakob für das ganze jüdische Volk, jeder Israelit wird mithin ‚Gottesbekämpfer‘ im Versuch, dem Gesetz Gottes in den häufig irrationalen und widersprüchlichen Ereignissen der menschlichen Geschichte zu gehorchen. Jedesmal, wenn ein Mensch einen solchen Kampf gegen das Gesetz und zugleich durch das Gesetz unternimmt, ist es, als ob er gegen Gott selber auf dem Kriegsfeld stünde.308 Das Kriegsfeld stellt in diesem Fall die Ganzheit 307 Strenggenommen wird der übernatürliche Kampfesgegner von Jakob nicht erwähnt, aber der Text spricht zugunsten der Identifizierung dieses Gegners mit Gott. Vgl. unter der umfassenden Bibliographie im bes.: Ludwig Schmidt, Der Kampf Jacobs am Jabbok (Gen. 32, 23–33), in: ders., Gesammelte Aufsätze zum Pentateuch, Berlin 1998, S. 38–56; Hans-Christoph Schmitt, Der Kampf Jacobs mit Gott in Hos. 12,3ff und in Gen. 32,23ff: zum Verständnis der Verborgenheit Gottes im Hoseabuch und im Elohitischen Geschichtsweg, in: Friedrich Diedrich/Bernd Wellmes (Hrsg.), Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil (Jesaja 45,7): Studien zur Botschaft der Propheten. Festschrift für Lothar Ruppert zum 65. Geburtstag, Würzburg 1998, S. 397–430; Helmut Utzschneider, Das hermeneutische Problem der Uneindeutigkeit biblischer Texte dargestellt an Text und Rezeption der Erzählung von Jakob am Jabbok (Gen. 32, 23–33), in: Evangelische Theologie 48,3 (1988), S. 182–198; Steven Molen, The identity of Jacob’s opponent; wrestling with ambiguity in Gen. 32:22–32, in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 11,2 (1993), S. 16–29; Fredrick C. Holmgren, Holding your own against God! Gen. 32:22–32, in: Interpretations. A Journal of Bible and Theology 44,1 (1990), S. 5–17; Johannes B. Bauer, Jacobs Kampf mit dem Dämon (Gen. 32,23–33), in: Manfred Görg (Hrsg.), Die Väter Israels. Beiträge zur Theologie der Patriarchenüberlieferungen im Alten Testament, Stuttgart 1989, S. 17–22; Gottfried Hammann, Le songe de Jacob et sa lutte avec l’ange (Gen. 28 et 32): repères historique d’une lecture et de ses variations, in: Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses 66,1 (1986), S. 29–42. 308 Wenn ein militärischer Krieg in Dt. 20:4, in Ri. 4:14 und in 2 Sam. 5:25 beschrieben wird, ist Gott stets und ausschließlich der Unterstützer seines Volks, der an vorderster Front marschiert. Diese Beschreibungen haben einen starken theologischen Charakter, der ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellt („Israel muß nicht fürchten, sondern glauben“: Ex. 14:13, Dt. 20:3, Jos. 8:1, 10:8–25; 11:6, Ri. 7:3, 1 Sam. 23:16; 30:6, 2 Sam. 10:12. Deswegen ist blasphemisch, die Zahl der Krieger zu bestimmen: 2 Sam. 24:1. Die Feinde von Israel verlieren den Mut, weil sie wissen, dass es sinnlos ist, gegen Gott zu kämpfen: Ex. 15:14–16; 23:27; Dt. 2:25; Gs. 2:9–24; 5:1, 10:2; 11:20; 24:12; 1 Sam. 4:7. Eine göttliche Furcht fällt auf die Feinde Israels: Ex. 23:27, Dt. 7.23; Jos. 10:10–11; 24:7, Ri. 4:15; 7:22; 1 Sam. 5:11; 14:15–20.
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der Schöpfung dar. Obwohl Maimonides am Schluss von Kapitel 11 Gen. 32:23–33 nicht erwähnt, hat der einzigartige Ausdruck ‚Gotteskriege‘ in diesem Abschnitt eine deutliche juridische und politische Bedeutung: Das Gesetz Gottes – als Hauptausrichtung des menschlichen Lebens und als Gabe Gottes für den Menschen – impliziert eine ständige Beschäftigung des Menschen entgegen seiner physischen und intellektuellen Beschränktheit (innere Feinde) sowie der Faszination durch die heidnischen Idole (äußere Feinde). Dieser permanente Kriegszustand strebt nach dem höchsten Zwecks menschlichen Lebens, nämlich der Erkenntnis Gottes, und genau das ist der Inhalt des Buchs, mit dem die Mishneh Torah eröffnet wird. Ich habe absichtlich den Ausdruck ‚menschliches Leben‘ benutzt, weil uns meines Erachtens der nicht zensierte Schluss von Kapitel 11 zeigt, dass Maimonides über den König-Messias nicht nur für die Israeliten schreibt, wobei die extreme Akzentuierung eines angeblichen ‚Universalismus‘ viele Gelehrten dazu geführt hat, zu vergessen, dass auch das Sefer Shofetim ein Buch für die zerstreuten jüdischen Gemeinden bleibt, die lediglich mit Hilfe der Überzeugung, dass das Volk Israel einen besonderen Status hat, die Hoffnung auf die Zukunft erhalten konnten. Dieser Versuch, eine nationale sowie eine übernationale Perspektive auf den König-Messias zu bewahren, führt Maimonides in textliche Widersprüche, welche die letzten zwei Kapitel des Sefer Shofetim nachhaltig charakterisieren.
6.2. Die nationale und übernationale Auslegung des König-Messias Die universalistische Tendenz in Maimonides’ Konzeption des König-Messias zeigt sich bereits im zensierten Text von Kapitel 11, der sich auf Jesus sowie auf Muhammad bezieht.309 Maimonides kritisiert dabei nicht Jesus als Gründer einer neuen Religion bzw. als Zerstörer des göttlichen Gesetzes, er stellt auch die Legitimität Jesus nicht in Frage, sich als Messias zu präsentieren. Was Maimonides kritisiert, ist die Tatsache, dass ein scheiternder Messias kein Versprechen Gottes für Israel erfüllen kann. Jesus war deswegen das Instrument, durch das die Torah in Frage gestellt wurde, so dass er indirekt und unfreiwillig (Mt. 5:17: „Meinet nicht, ich sei gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzuheben […]“) die Zerstörung von Israel als 309 Francesca Yardenit Albertini, Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’, in: Zeitschrift für Neues Testament, Heft 20, 10. Jahrgang (2007), S. 38–45; Stefan Schreiner, Ein Zerstörer des Judentums? Moses ben Maimon über den historischen Jesus, in: Georges Tamer (Hrsg.), The Trias of Maimonides/Die Trias des Maimonides, op. cit., S. 323–345; Howard Kreisel, Maimonides on Christianity and Islam, in: Ronlad A. Brauner (Hrsg.), Jewish Civilization: Essays and Studies on Judaism and Christianity Honoring the Memory of Rabbi Arthur Gilbert, Philadelphia (Penn.) 1985, S. 153–162.
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politischem Staat in Kauf nahm. Auch in diesem Fall schreibt Maimonides die schlimmste Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volks nicht Jesus zu: Die Zerstreuung der Israeliten antwortet auf einen göttlichen Plan, dessen Logik die Fähigkeiten des Menschen übersteigt. Jesus und Muhammad, die Maimonides zufolge die Zerstreuung von Israel unter den Nationen indirekt verursachten, wirkten als Instrumente von Gottes Willen, um sein Gesetz durch die auserwählten Israeliten allen anderen Völkern bekanntzumachen. Die Israeliten sollten die Reinheit des Gesetzes bewahren, damit seine ursprüngliche Botschaft in seiner Ganzheit und Integrität die anderen Völker erreichen konnte. Entsprechend liest man am Schluss von Kapitel 11: „All diese Angelegenheiten, die Jesus von Nazareth und den Ismaeliten Muhammad betreffen, der nach ihm kam, dienten nur dazu, den Weg für den König Messias zu ebnen, die ganze Welt darauf vorzubereiten, Gott im Einklang zu verehren […].“310 Nicht nur das jüdische Volk ist ‚Nutznießer‘ der Erlösung. Zwar wird angenommen, der Prozess beginne mit der physischen und spirituellen Erneuerung des jüdischen Volks, er hört aber damit nicht auf. In Maimonides’ Entwurf, wie sein Kodex formuliert, wird die erfolgreiche Vollendung der ersten Phase des messianischen Auftrags – die sozio-politischen Errungenschaften, die sich für das ganze jüdische Volk aus der Befolgung der Torah ergeben werden – das Fundament für die endgültige Realisierung der messianischen Sendung legen, nämlich die ganze Menschheit zur Erkenntnis Gottes zu führen und sie zu befähigen, nach moralischer und intellektueller Vollendung zu streben. Das ist das äußerste Ziel der Lehre und der Gesetzgebung der Torah, welches sich im Errichten des Königsreichs Gottes auf Erden manifestieren wird. Alle Menschen sind Mitglieder einer einzigen – obwohl in sich differenzierten geschichtlichen Gemeinde, welche in der Gegenwart die Verantwortung für die kommende Ankunft des Messias übernehmen muss.311 Diese Auslegung wird auch vom Sohn von Maimonides – Abraham – vertreten, der über seine Interpretation des ‚Königtums der Priester‘ schreibt: „Der Priester war der Leiter seiner Gemeinde, ihr Würdenträger und ihr Vorbild, so dass die Männer seiner Gemeinde in seinen Wegen wandeln und dadurch Rechtschaffenheit erlangen können. [Gott] sagte: ‚Möget ihr durch das Einhalten der Torah, Führer der Welt sein; möge eure Beziehung zum Rest der Welt wie die eines Priesters zu seiner Gemeinde sein. Lasst die Menschheit in euren Wegen wandeln, eure Taten nachahmen und eure Normen übernehmen.‘ Das ist die Auslegung dieser Stellungnahme, die ich von meinem Vater gesegneter Erinnerung erhielt.“312 310 Übersetzung von F. Y. A. 311 Siehe diesbezüglich: Joseph B. Soloveitchik, Ish ha-Halakh Galui we’Nistar, Jerusalem 1979, S. 249ff. 312 Abraham Maimonides, Commentary on Genesis and Exodus, hrsg. und übers. von E. Wiesenberg, London 1958, S. 302 (Übersetzung von F. Y. A.). Vgl. diesbezüglich: Hayim Hillel
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Während Aviezer Ravitzky mit dieser universalistischen Konzeption des Messias übereinstimmt, bin ich mit einer solchen Ausklammerung des Politischen nicht einverstanden. Ravitzky schreibt dazu: „[…] Maimonides projects the outline of a universal social utopia, at ounce supranational and supra-historical. The effect of this vision is to eliminate entirely the relevance of the political realm. In both his halakhic and philosophic works, Maimonides articulates for his readers the exalted nature of the philosophic human society, all of whose members are endowed with the knowledge of God. It is a universal human society that has attained spiritual perfection. […] Therefore, if someday a rational society comes into being that focuses only on the intellectual realm, it will have no more need for ethics and politics, which by their very nature are based in the realm of convention. And this evidently presents humankind with an infinite challenge. Conceivably, Maimonides held that the philosopher already lives such a ‚cosmo-polis‘, yet he is simultaneously required to play a leadership role in the particular city.“313
Zwar wird die Gemeinde die intellektuelle Vollkommenheit in der Tat nach der Ankunft des Messias erreichen, aber der Messias bleibt für Maimonides ein König, der seine Aufgaben innerhalb einer politischen Struktur und durch die Anwendung bestimmter politischer Institutionen erfüllen wird. Es ist nicht möglich, einen König außerhalb des Politischen zu begreifen. Nach der Ankunft des König-Messias wird die Welt – und darunter versteht Maimonides sowohl die natürliche als auch die menschliche Welt – ihren normalen Lauf fortsetzen. Am Anfang von Kapitel 12 liest man: „Lass niemand denken, dass in den Tagen des Messias die Naturgesetze aufgehoben werden oder eine Neuerung in der Schöpfung eingeführt wird.“314 Die universalistische Konzeption des König-Messias wird hingegen von Menachem Kellner mit der Erziehung der Menschheit verbunden: „The mission of the Jews […] is not to impose the Torah upon gentile nations but to preserve it in its purity so that, when the nations of the world are ready to receive it, it will be available for them. How does one bring the nations to this state of readiness? The answer of Maimonides is obvious. […] [I]t is only through a process of education that human beings can be made ready to receive this Torah.“315
Dieser Fortschritt der Menschheit ist mit einer grundlegenden Änderung der gesellschaftlichen Umstände verbunden: Der König-Messias wird eine Blütezeit, einen von Wohlstand geprägten sozialen Zustand herbeiführen, so dass sich jeder Mensch dem Studium der Torah widmen und dadurch die höchste Vollkommenheit des menschlichen Intellekts erreichen kann. Auf Ben-Sasson, The Reformation in Contemporary Jewish Eyes, in: Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities 4 (1969–1970), bes. S. 240ff. 313 Avietzer Ravitzky, Religion and State in Jewish Philosophy, op. cit., S. 29f. Hervorhebung im Original. 314 Moses Maimonides, The Books of Judges, op. cit., S. 240. 315 Menachem M. Kellner, Revelation and Messianism: A Maimonides Study, in: Dan CohnSherbok (Hrsg.), Torah and Revelation, New York 1992, S. 131.
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keinen Fall spricht Maimonides aber von der Aufhebung des Politischen, vielmehr spricht er von dessen radikaler Verbesserung.316 Maimonides stellt auch keine anthropologische Lehre von Weisen bzw. von gerechten Menschen auf, er sagt uns nicht, wer die Gerechten der Nationen sind, weil seine Argumentation aus dem Universalismus der Vernunft hervorgeht. Eugene Korn hat diese Besonderheit des Maimonidischen Denkens deutlich betont: „Quite inexplicably, Maimonides never defines a wise gentile, nor does he tell us who is included in this category, nor does he differentiate the wise gentile from the righteous gentile. […] It follows that Maimonidean wisdom is an open category, not necessarily tied to Jewish theology or confined to Jews. […] It is undeniable that […] Maimonides leaves open the possibility of universal salvation […]. There is no explicit reference or implicit hint of restricting the world to come to those accepting Sinaitic revelation.“317
Der Universalismus der Vernunft antwortet nicht nur auf die implizite Frage von Korn, er fügt auch das Studium der ‚heidnischen‘ Wissenschaften dem Bereich der menschlichen Weisheit hinzu. Man findet keinen Hinweis auf den Ausschluss des Politischen, ganz im Gegenteil: nur durch das Politische – nämlich nur innerhalb der vollkommen gewordenen Gemeinde – kann der Weise zum Weisen werden. Unter diesem Blickwinkel stimme ich mit Aryeh Botwinick völlig überein, wenn er schreibt: „Le’karev et ha’geulah – to bring redemption a little closer – one has to approximate in the present in his/her individual action to that collective state of affairs where the action one is engaging in would be the societal norm.“318
Auch wenn Maimonides über den König-Messias schreibt, verliert er nicht den aktuellen politischen Zustand der Empfänger seiner Botschaft aus den Augen und auch nicht die Frage, auf welche künftige diesseitige Welt diese Empfänger – die innerhalb zahlreicher und unterschiedlicher Kollektivitäten zerstreut sind – ihre Hoffnungen auszurichten haben. Im ersten Paragraphen von Kapitel 12 wiederholt Maimonides die universalistische Wirkung des jüdischen König-Messiah: „Sie [die Nicht-Juden] werden alle die allumfassende Religion der Wahrheit anerkennen und weder plündern noch zerstören und gemeinsam mit Israel ein angenehmes Einkommen auf eine legitime Art und Weise erwerben.“319
An dieser Stelle muss die Übersetzung von Abraham M. Hershman korrigiert werden. Maimonides versucht nicht, Israel eine missionierende Funk316 Vgl. auch: David Banon, Le messianisme dans la pensée de Maïmonide, op. cit., S. 110. 317 Eugene Korn, Gentiles, the World to Come, and Judaism: The Odissey of a Rabbinic Text, in: Modern Judaism 14,3 (1994), S. 267ff. 318 Aryeh Botwinick, Maimonides’ Messianic Age, in: Judaism 33,4 (1984), S. 424. 319 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 240 (Übersetzung von F. Y. A.).
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tion wie bei Christen und Muslimen zuzuschreiben, deswegen spricht er nicht von einer „wahren Religion“, sondern von der ‚allumfassenden Religion der Wahrheit‘ (tmXh dtl ,lk ). Unter einem eng religiösen Blickwinkel bleibt ein deutlicher Unterschied zwischen Israel und den anderen Völkern, aber zusammen werden sie in einem angenehmen und legitimen Zustand leben, der von der Universalität der Vernunft – auf welcher die Religion Israels basiert – gewährleistet wird. Israel wird nicht versuchen, die anderen Nationen zu ‚missionieren‘, sondern vielmehr die universalistische Rationalität der Torah bekannt – und zugänglich machen. Maimonides scheint das Wort ‚Wahrheit‘ in seiner griechischen Bedeutung von ‚Enthüllung‘ ( , aletheia) anzuwenden (obwohl er des Griechischen nicht mächtig war), er spricht an dieser Stelle nämlich von einer die Erkenntnis betreffenden statt von einer religiösen Wahrheit. Die gemeinsame Grundlage der Menschheit ist die Rationalität der Vernunft, welche das friedliche Zusammenleben zwischen Israel und den anderen Nationen bewirken wird. Aus diesem Grund erinnert Maimonides seine Leser daran, dass Eliah, der Prophet, welcher den Messias ankündigen wird, „wird kommen, […] um Frieden in die Welt zu bringen [,lvXb ,vlw ]“.320 Trotz dieser eindeutig universalistischen Tendenz enden die Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem mit einer stark nationalen und partikularistischen Konzeption des Volks Israel, welche unvermeidlich im Widerspruch zur universalistischen Konzeption des König-Messias steht. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass Maimonides für die zerstreuten jüdischen Gemeinden schreibt, die – um die Hoffnungen auf das Versprechen Gottes an sein auserwähltes Volk zu bewahren – die verstärkte Betonung der Besonderheit Israels im göttlichen Plan benötigten. Da aber gerade diese Besonderheit die Juden in den Augen der anderen Nationen verdächtig machte, schien es Maimonides notwendig, die nationale Messiaserwartung von Israel mit der übernationalen Konzeption des König-Messias zusammenzubringen. Das bedeutete, mit anderen Worten, die Maimonidische politische Konzeption des Messias mit der rabbinischen Lehre in Einklang zu bringen: Aus diesem Grund schreibt Maimonides am Schluss der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem: „Die Weisen und Propheten sehnten sich nicht nach den Tagen des Messias damit Israel über die Welt oder Heiden herrscht oder von den Völkern erhöht wird oder dass es essen, trinken und frohlocken möge. Ihr Bestreben war, dass Israel frei ist, um sich dem Gesetz und seiner Weisheit zu widmen, dass niemand es unterdrückt oder stört, und es deshalb des Lebens in der kommenden Welt würdig ist.“321
320 Ibidem, S. 241 (Übersetzung von F. Y. A.). 321 Ibidem, S. 242 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Maimonides identifiziert die politische Vollkommenheit nach der Ankunft des König-Messias weder mit der Machtübernahme Israels zuungunsten anderer Nationen noch mit der Zerstörung der anderen Glaubensrichtungen (Maimonides behauptet explizit, dass sogar die Heiden nach der Ankunft des König-Messias weiter existieren werden). Das einzige Bestreben Israels wird mit einem stark nationalen Element betont: das Studium seines Gesetzes und von dessen Weisheit. Die Erkenntnis – mit deren Erklärung die Mishneh Torah anfängt – erreicht ihren höchsten Punkt, wenn Israel frei sein wird, sich dieser Erkenntnis zu widmen, ohne um das eigene Überleben zu fürchten. Das bedeutet, dass Israel einen eigenen politischen Staat neben den anderen Nationen haben wird und das Studium der Torah von den empirischen Bedürfnissen und Unruhen nicht mehr gestört sein wird. Diesen Wohlstand teilen alle anderen Nationen mit Israel, aber nur Israel wird am Schluss der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem hervorgehoben: „In dieser Zeit wird es weder Hunger noch Krieg, weder Missgunst noch Unfrieden geben. Segnungen werden reichlich vorhanden, Annehmlichkeiten allen zugänglich sein. Die eine Beschäftigung der ganzen Welt wird die Erkenntnis des Herrn sein. Deshalb werden die Israeliten sehr weise sein, sie werden die Dinge wissen, die jetzt verborgen sind und werden eine Erkenntnis des Schöpfers bis zum Äußersten des menschlichen Verstandes erlangen, wie es geschrieben steht: Denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt. (Jes. 11, 9).“322
In diesem letzten Paragraphen der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem ist die Spannung zwischen dem individuellen, nationalen und übernationalen Aspekt der messianischen Zeit extrem. Obwohl der Wohlstand alle (und hier benutzt Maimonides einen deutlich politischen Ausdruck, nämlich ,yndimh -lk , ‚alle Nationen, alle politische Staaten) – ohne Ausnahme – beglücken wird, wird die kommende Welt als Belohnung für das Erreichen der vollkommensten Erkenntnis nur in Bezug auf die einzelnen Israeliten erwähnt. Jedoch schreibt Maimonides auch, dass sich die ganze Welt (,lvi -lk ) – hier nicht politisch, sondern vielmehr als Gesamtheit der Menschheit verstanden – damit beschäftigen wird, Gott zu erkennen (´ h tX tidl ), ohne dass aber die ganze Welt den Monotheismus annehmen wird. In seiner Interpretation der messianischen Zeit bei Maimonides erkannte auch Aviezer Ravitzky die drei Ebenen (individuell, national, übernational) des letzten Kapitels der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem, die er mit denselben Ebenen der teshuvah am Schluss des ersten Buchs der Mishneh Torah verbindet. Seine Interpretation impliziert aber eine deutliche schematische Trennung dieser Aspekte, die meines Erachtens im Text so nicht zu finden ist. 322 Ibidem (Übersetzung von F. Y. A.).
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Ravitzky schreibt: „Maimonides’ political philosophy and anthropology direct his positive Messianic models: the political realization of the Torah within Israel and the intellectual realization of the spiritual power within the human species. His ontology and theology, on the other hand, dictate his negative emphases – the restrictions and limitations imposed upon Messianism: the rejection of cosmic, apocalyptic redemption, and the setting of Messianic hope within the domain of human existence. While his Messianism is dictated not by his mind but by his faith, it is essentially his mind that directs, defines, and limits the object of his faith. […] As the process under discussion here is a historical rather than a cosmic one, we are in the realm of the contingent and the possible rather than that of the necessary. […] In light of all the above, we may distinguish three different planes according to which the redemption was treated within Maimonides’ text, i.e. the national, the universal, and the personal: the redemption of the Jewish people as a condition; the redemption of mankind as a consequence; and the redemption of the individual as a final end, the ultimate goal of Messianism. […] This threefold structure – condition, consequence, end – does in fact define the relationship among three fundamental concepts in Jewish eschatology: Messiah (national), the End of Days (universal), and the World to Come (individual).“323
Im letzten Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem sind diese drei Aspekte zwar gegenwärtig, aber nicht mit der von Ravitzky behaupteten schematischen Eindeutigkeit – wie ich zu zeigen suchte. Darüber hinaus bezieht sich die Maimonidische Konzeption des Individuums vor allem auch auf die aktive Beteiligung des Einzelnen an der Ankunft des König-Messias, das Individuum soll nämlich in seiner Gemeinde bereits die intellektuellen und ökonomischen Vorbedingungen für die Ankunft des Messias verwirklichen. Unter diesem Blickwinkel stimme ich mit der Stellungnahme von Gershom Scholem überein: „Die Aufgabe des Menschen ist für Maimonides seit der Offenbarung klar umrissen und ihre Erfüllung nicht vom Kommen des Messias abhängig. Für ihn ist auch die messianische Zeit als irdischer Zustand kein höchstes Gut, sondern nur Vorstufe zum endgültigen Übergang in die künftige Welt […]. Der Messianismus ist in der Tat kein Postulat seines philosophischen Denkens […].“324
323 Avietzer Ravitzky, „To the Utmost of Human Capacity“: Maimonides on the Days of the Messiah, in: Joel L. Kraemer (Hrsg.), Perspectives on Maimonides. Philosophical and Historical Studies, Oxford 1991, S. 221ff. Über die Beziehung zwischen Sozialphilosophie und Torah bei Maimonides vgl. auch u.a.: Warren Z. Harvey, Ben Filosofiyah Medinit la-Halakhah beMishnat ha-Rambam, in: Iyyun 29 (1980), S. 198–212; Miriam Galston, The Purpose of the Law according to Maimonides, in: Jewish Quarterly Review 69 (1978), S. 27–51. 324 Gerschom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1996, S. 121–162. Zitat S. 160; engl. Fassung: Towards an Understanding of the Messianic Idea in Judaism, in: ders., The Messianic Idea in Judaism, New York 1971, S. 30f.
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Bei Maimonides findet man keine Spur einer passiven Erwartung eines vom Willen Gottes entschiedenen Ereignisses: Da der Messias ein König ist, soll die Gemeinde bereit sein, das Kommen eines solchen Leiters zu ermöglichen. In diesem Sinne enthält die Gestalt des König-Messias zugleich einen individuellen und einen nationalen Aspekt, weil jedes Individuum die Verantwortung für seine Ankunft übernimmt, dieser König aber wird über die Ganzheit von Israel herrschen. Aus diesem Grund sagt Maimonides ausschließlich in Bezug auf die Israeliten, sie erwürben in der messianischen Zeit die Erkenntnis Gottes, wobei diese Erkenntnis immer noch innerhalb der Begrenzungen der menschlichen Fähigkeiten bleibt. Erst in der kommenden Welt wird diese Erkenntnis vollkommen sein. Der König-Messias zeigt sich somit als unendliche Aufgabe des Menschen, weshalb Maimonides die apokalyptischen und eschatologischen Vorstellungen von dieser Gestalt deutlich ablehnt: Der König-Messias und die Folgen seiner Ankunft werden für den menschlichen Intellekt völlig zugänglich sein. Wie bei Alfarabi der Einzelne nicht durch das Handeln des Königs von seiner politischen Verantwortung befreit ist, so plädiert auch Maimonides für keine Befreiung des Menschen von seiner Verantwortung vor bzw. nach der Ankunft des Messias. Genau das ist der entscheidende Punkt: Die Folgen der politischen Handlungen des König-Messias qualifizieren und bestimmen ihn als Messias. Der Mensch soll seine intellektuellen Fähigkeiten anwenden, um diese Folgen als Ergebnis des Erfolges des König-Messias anzuerkennen. Aus diesem Grund lehnt Maimonides auch jedwede Berechnung der Ankunft des Messias ab: „Einige unserer Weisen sagen, dass Elias’ Kommen der Ankunft des Messias vorausgehen wird. Jedoch kann niemand die Einzelheiten dieser oder ähnlicher Sachen wissen, bis sie geschehen sind. Sie werden nicht ausdrücklich von den Propheten erwähnt. Noch haben die Rabbinen eine Tradition bezüglich dieser Angelegenheiten. Sie werden nur von dem angeleitet, was die biblischen Texte zu beinhalten scheinen. Deshalb gibt es ein Auseinandergehen der Meinungen zu diesem Thema. Mag dies sein, wie es ist, weder die genaue Abfolge dieser Ereignisse, noch ihre Einzelheiten stellen religiöse Glaubenssätze dar [tdb rqi ].325 Niemand sollte sich mit den legendären Themen beschäftigen oder viel Zeit mit midraschischen Aussagen zu diesem und ähnlichen Themen verbringen. Er sollte sie nicht für Dinge von grundlegender Bedeutung halten, da sie weder zur Furcht Gottes noch zu seiner Liebe führen. Noch sollte man das Ende berechnen.“326
Wie Aviezer Ravitzky zurecht betont, „there is no Messiah but he who is judged so retrospectively.“327 Das bedeutet, dass der Mensch durch seinen 325 In Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit habe ich bereits erklärt, aus welchen Gründen ich mit der Übersetzung von rqi als ‚religiöses Dogma‘ nicht einverstanden bin. 326 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 241 (Übersetzung von F. Y. A.). 327 Aviezer Ravitzky, „To the Utmost Human Capacity“, op. cit., S. 240.
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Intellekt erst nach der Verwirklichung der politischen Handlungen des Königs diesen König als den Messias anerkennt. Diese Anerkennung ist somit ein Erkenntnisprozess, der nur post factum stattfinden kann. Post factum wird auch die Bedeutung aller Metaphern der hebräischen Bibel bedeutungsvoll erkennbar sein, durch welche die Tage des Messias beschrieben werden: „Und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder (Jes. 11:7). Alle ähnlichen Ausdrücke, die in der Angelegenheit der Zeit des Messias [xywmh ]ynib ] verwendet werden, sind metaphorisch [mylwm mh ]. In den Tagen des König-Messias [tvmyb xywmh [lmh ] wird die volle Bedeutung dieser Metaphern und ihrer Andeutungen allen vollkommen klar werden.“328
Diese Stelle zeigt eine weitere Schwierigkeit im Text: Maimonides bringt die drei Aspekte der individuellen, nationalen und übernationalen ge’ulah nicht nur ständig durcheinander, er scheint sich auch auf drei unterschiedliche Ebenen der messianischen Lehre zu beziehen: der König-Messias, die messianische Zeit und die Tage des Messias. Da in einem juridischen Kodex für alle Gemeinden der galut kein Ausdruck zufällig ist, muss man sich schließlich fragen, worauf Maimonides mit der Anwendung dieser Ausdrücke jeweils zielt.
6.3 Die Tage des Messias und die messianische Zeit bei Moses Maimonides Während Kapitel 11 dem König-Messias gewidmet ist, findet man diese Kategorie in Kapitel 12 nicht; hier konzentriert sich Maimonides’ Aufmerksamkeit nicht auf die politische Gestalt des Messias, sondern vielmehr auf die Bedeutung, welche die Ankunft dieser Gestalt für die geschichtliche Zeit ihres Auftretens haben wird. In Kapitel 12 findet man die folgenden Ausdrücke, die sich jeweils auf einen unterschiedlichen Kontext beziehen: (a) xywmh tvmyb – „in den Tagen des Messias“; (b) xywmh 'lmh tvmyb – „in den Tagen des Königs Messias“; (c) ]mzh vtvXb – „in dieser Zeit“. Bevor die Anwendung dieser Ausdrücke bei Maimonides untersucht wird, ist eine kurze Auseinandersetzung mit der bis daher über dieses Thema durchgeführten Forschung notwendig.329
328 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 240. 329 Vgl. im bes.: Arye Botwinick, Maimonides’ Conception of Yemot Ha’Mashiah and Contemporary Zionism: Some Policy Implications, in: Zionist Ideas 7 (1983), S. 9–24; ders., Maimonides’ Messianic Age, op. cit.; Luis Diez Merino, La idea mesianica en Maimonides, op. cit., im bes. S. 146ff; Johann Maier, Das Werk von Maimonides, op. cit., S. 155ff.
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Der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
Eine erste Kritik sollte an der Gewohnheit geübt werden, die ‚Tage des Messias‘ zusammen mit der Maimonidischen Konzeption der kommenden Welt (>olam ha-ba) und der Wiederauferstehung der Toten (tehyyat hametim) zu behandeln. Obwohl ein solches Verfahren für einige Werke von Maimonides legitim ist (man denke zum Beispiel an den Brief in den Jemen oder an Sefer ha-Madda> ), kann es nicht tout court als Interpretationskategorie des Maimonidischen Denkens eingeführt werden. Genau betrachtet findet man im letzten Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem keinen Hinweis auf die kommende Welt bzw. auf die Wiederauferstehung der Toten, Maimonides zeigt hier die deutliche Absicht, die messianische Zeit von jedwedem wunderhaften und übernatürlichen Ereignis zu trennen. Was versteht man unter Yemot ha-Mashiah, den ‚Tagen des Messias‘, in der rabbinischen Tradition? Dieser Ausdruck bezieht sich auf eine sugya (‚rabbinische Diskussion‘), die sechsmal im Babylonischen Talmud zitiert wird, dreimal wird die Position von Samuel und dreimal die Position von Rabbi Hiyya ben Abba – welche der von Samuel widerspricht – erwähnt. Die Auseinandersetzung dieser Positionen findet im Traktat Shabbat 63a statt: „Die Mishnah sagt: ‚Ein Mann soll [am Shabbat] nicht mit Schwert, Bogen, Schild, Lanze oder Speer ausgehen; und wenn er doch ausgeht, begeht er eine Sünde‘. Rabbi Eliezer sagte: Sie sind Schmuck für ihn. Aber die Weisen behaupten, sie seien nur schändlich, denn es heißt, ‚Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.‘ Es wurde gelehrt (in einer Baraita): Sie (die Weisen) sagten zu Rabbi Eliezer: Da sie Schmuck für ihn sind, warum sollten sie in Tagen des Messias aufhören zu bestehen? Weil sie nicht gebraucht werden, antwortete er, wie es heißt, ‚Nation soll nicht gegen Nation das Schwert erheben.‘ Sie dennoch als Schmuck bestehen lassen? – Abaye sagte: Es könnte mit einer Kerze am Mittag verglichen werden (d.h. da sie dann unnötig ist, ist sie auch nicht schön. Deshalb können die Werkzeuge des Krieges keine Verzierungen sein, wenn der Krieg abgeschafft wird. Jetzt jedoch, wo sie gebraucht werden, sind sie auch dekorativ.)“330
Die talmudischen Weisen unterstreichen den Widerspruch zwischen dieser Position und der von Samuel, für den die messianische Zeit nur durch das Aufhören der Herrschaft der anderen Nationen über Israel charakterisiert ist. Die messianische Zeit hat somit eine ausschließlich politische Bedeutung, die zum Beispiel für die angebliche Aufhebung der Armut keine Garantien anbietet. Für Samuel bringt die messianische Zeit lediglich eine radikal politische – aber keinesfalls eine soziale – Änderung im Alltag von Israel 330 Zitiert aus der Übersetzung von Arye Botwinick, Maimonides’ Conception of Yemot Ha’Mashiah and Contemporary Zionism, op. cit., S. 14. Vgl. auch: ders., Maimonides’ Messianic Age, op. cit., S. 423f.
Natur und Funktion des König-Messias bei Maimonides
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mit sich. Jedoch werden die Waffen für Samuel als Schmuck weiter existieren, während für Hiyya ben Abba – der die Position der Propheten nicht hinsichtlich der Tage des Messias, sondern vielmehr hinsichtlich der kommenden Welt kommentiert – die Waffen noch nicht einmal als Schmuck existieren werden. Mit anderen Worten: Obwohl das Thema dasselbe ist – „Ist es erlaubt oder nicht erlaubt, Waffen am Shabbat zu tragen?“ – beziehen sich Samuel und Hiyya ben Abba einerseits auf die Tage des Messias – wenn es erlaubt sein wird, am Shabbat die Waffen als Schmuck zu tragen – und andererseits auf die prophetische Auslegung der kommenden Welt, in der die Waffen auch als Schmuck nicht mehr notwendig sein werden. Hiyya ben Abba setzt die messianische Zeit mit der kommenden Welt gleich: Die Tage des Messias sind ein eschatologisches Moment, sie nehmen die ge’ulah (‚Erlösung‘) vorweg, weshalb diese Tage mit der vorherigen Zeit nichts gemeinsam haben. Samuel hingegen bevorzugt eine nicht-eschatologische Lektüre der Tage der Messias, nach denen die Welt dieselbe bleiben wird, wobei aber die Juden eine sichere Autonomie zugewiesen bekommen. Ich stimme nicht mit der Interpretation von Arye Botwinick überein, der meint, dass Maimonides die Positionen von Samuel und von Hiyya ben Abba in der Mishneh Torah in Einklang gebracht habe. Das würde bedeuten, dass Maimonides die Tage des Messias als eschatologisches pendant zur kommenden Welt interpretiert hätte, nämlich als Ende der Geschichte – so wie man sie kennt – und als Einstieg zu einer radikal neuen Ära, für welche die übliche Zeiterfahrung keine Rolle mehr spielt. Mit anderen Worten: Maimonides würde die Tage des Messias als eine apokalyptische Vision vom Ende der Zeit betrachten. In diesem Fall allerdings könnte man den Anfang des Kapitels 12 von Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem nicht mehr begreifen: „Lass niemand denken, dass in den Tagen des Messias [xywmh tvmyb ] die Naturgesetze aufgehoben werden oder eine Neuerung in der Schöpfung eingeführt wird. Die Welt wird ihrem normalen Lauf folgen.“331
In der jüdischen Tradition bis Maimonides waren die Grenzen zwischen den Vorstellungen von einem innerweltlichen und einem überweltlichen Heilszustand verwischt, nicht zuletzt wegen der Emphase mancher Bibelaussagen in Bezug auf Israels Heilszukunft, aber ebenso wegen der sinnlich-anschaulichen Ausdrucksweise der Überlieferungen in Bezug auf das endgültige Heil des Einzelnen. Für Maimonides hingegen war die klare Trennung zwischen dieser Welt und einer transzendenten kommenden Welt selbstverständlich, und zwar aus mehreren Gründen.
331 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 240 (Übersetzung von F. Y. A.).
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Der Messias in den Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem
Zunächst bejahte er das aristotelische Weltbild, das für ihn jedenfalls für den sublunaren Bereich (‚Physik‘) wissenschaftlich unanfechtbar war. In der sublunaren Welt unterliegt alles dem Gesetz von Werden und Vergehen, da alles aus den vier Elementen zusammengesetzt ist und aufgrund der Doppelheit Materie (Möglichkeit) und Form (Wirklichkeit) existiert. Im Rahmen dieser Welt ist für Maimonides nur ein endliches Dasein denkbar, worin die Seele die Form des Körpers darstellt und die Auflösung des Körpers nicht überdauert. In der Welt der Sphären oberhalb der sublunaren Welt hingegen unterliegen die Körper nicht der Vergänglichkeit, weil sie nicht aus den vier Elementen zusammengesetzt sind, sondern aus einem höheren Stoff bestehen. Von solchen Sphärenkörpern abgesehen, gibt es ‚separate Intelligenzen‘ (die Engel) ohne Körper, also körperlose Formen, und ihrer Seinsweise entspricht jene der kommenden Welt für den Menschen. Der Mensch erwirbt sich aufgrund seiner Vernunftpotenz Erkenntnis, den ‚erworbenen Intellekt‘, der von Gott, als dem ewigen Gegenstand seiner Erkenntnis, auch ewige Existenz erhält und nicht von der leiblich-irdischen Existenzweise abhängig ist. Diese scharfe Trennung zwischen Diesseits und Jenseits trifft man auch im letzten Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem, wo die Tage des Messias keineswegs mit der Entstehung einer überirdischen Lebensweise zusammengebracht werden: Es gibt keinen Unterschied zwischen dieser Welt und den Tagen des Messias, nur in Bezug auf die Unterdrückung Israels durch die anderen Königreiche (in diesem Sinne bleibt Maimonides der Lehre von Shabbat 91a treu). Im Sefer ha-Madda> hat Maimonides uns hingegen darauf aufmerksam gemacht, dass es in der kommenden Welt nichts gibt, was an den Alltag in der irdischen Welt erinnert. Im Jenseits sitzen die Gerechten mit Kronen auf ihren Häuptern und genießen den Glanz der göttlichen Gegenwart (shekhinah) in alle Ewigkeit. Maimonides erinnert uns daran, dass alle Propheten nur in Bezug auf die Tage des Messias geweissagt haben, aber nicht für die kommende Welt, da es in Jes. 64:3 heißt: „Kein Auge hat es gesehen außer Dir, Gott.“ Die Tage des Messias – bzw. die messianische Zeit – sind nicht selbst Heilsziel, sondern ermöglichen Israel das Erreichen von Gotteserkenntnis und damit durch den erworbenen Intellekt Anteil am Leben der kommenden Welt. Die Gefahr, die messianische Zeit über zu bewerten, so dass das eigentliche Heilsziel in den Hintergrund rückt oder gar verkannt wird, nimmt mit dem Ausmaß der Unwissenheit zu. Diese bewirkt nämlich eine falsche Vorstellung von Gott, eine Verkennung seiner Transzendenz, folglich auch eine Verkennung des überweltlichen Heilsziel und so eine Fixierung auf innerweltliche, der körperlichen Existenzweise entsprechende Inhalte der Zukunftshoffnung. Maimonides hat deswegen im letzten Kapitel der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem auf den funktionalen Charakter der messianischen Zeit hingewiesen, der diese jedoch im Vergleich zur kommenden Welt
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nicht zweitranging macht. Obwohl die kommende Welt das höchste Ziel ist332, ist dieses Ziel nur in der diesseitigen Welt zu erwerben. Aus diesem Grund verknüpft Maimonides den Ausdruck xywmh tvmyb (die Tage des Messias) mit der neuen Ebene der Erkenntnis, welche die Menschen dank der Leitung des König-Messias (xywmh 'lmh tvmyb ) erwerben werden. Der König-Messias wird die tiefste Bedeutung des Gesetzes enthüllen und erklären, und nach seinem Tode werden seine Nachfolger diesen Erkenntnisprozess fortsetzen. Die messianische Zeit, die Konsequenz der vollkommensten politischen Leitung sein wird, ist der Fortbestand der Naturordnung und des natürlichen Lebens. Wenn in der Bibel und in der rabbinischen Tradition übernatürliche Ereignisse vorhergesagt werden, dann ist dies als Gleichnisrede zu deuten, nicht wörtlich zu nehmen. Das Bild vom Frieden unter den Tieren (Jes. 11:6ff) bezieht sich zum Beispiel auf das dann eintretende friedfertige und gottesfürchtige Verhalten der NichtJuden. Lediglich ein viel längeres Leben wird in der messianischen Zeit beschieden sein, aber auch dies ist nach Maimonides kein Wunder, da es sich aus dem Fortfall aller materiellen Sorgen und aller Bedrängnisse erklärt. Die Menschen bleiben aber sterblich, sogar der Messias stirbt schließlich nach langer Regierungszeit und vererbt seinen Thron seinen Nachkommen. Und erhalten bleiben auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, zwischen Starken und Schwachen und dergleichen. Der entscheidende Wandel besteht in der gerechten und Torah-gemäßen Herrschaft des KönigsMessias und der dadurch wieder ins richtige Verhältnis gerückten Beziehung zwischen Israel und den Völkern. Vor dem Auftreten des Messias und den Kriegen mit Gog und Magog ist noch das Erscheinen eines Propheten zu erwarten333, der Israel vorbereiten soll. Einige meinen, Elias werde wiederkommen, aber nach Maimonides weiß man darüber nichts Genaues, weil es sich um dunkle Prophetenworte handelt, deren wahres Verständnis vor dieser Zeit nicht gesichert ist. Man solle sich daher auch nicht zu viel mit Überlieferungen beschäftigen, die darüber rätseln oder gar phantasievolle Ausschmückungen anbieten, und schon gar nicht soll man versuchen, Termine zu berechnen, sondern vertrauensvoll warten. Der König-Messias wird auftreten und die Königsherrschaft Davids wiederherstellen entsprechend seinem alten Glanz als erstes Reich von Rang. Er baut dann den Tempel wieder auf und sammelt die Zerstreuten Israels wieder ein. In seinen Tagen werden alle Gesetze wieder so sein, wie es die damaligen waren, man bringt Opfer dar, hält Erlass – und Jubiläumsjahre gemäß all ihren Geboten in der Torah. 332 In Traktat Avot IV,22 liest man: „Eine Stunde in Umkehr und mit guten Taten in dieser Welt ist besser als das ganze Leben der Kommenden Welt, und besser ist eine Stunde der Seligkeit in der Kommenden Welt als das ganze Leben dieser Welt.“ (Übersetzung von F. Y. A.) 333 Moses Maimonides, The Book of Judges, op. cit., S. 241.
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Entsprechend den Bestimmungen der Torah wird dann auch mit den Nicht-Juden verfahren. Der König-Messias verpflichtet die Feinde Israels, nachdem er sie besiegt hat, auf die noachidischen Gebote und achtet auf deren Befolgung. Diese Nicht-Juden sind nicht auf die Torah verpflichtet, gewinnen aber durch sittlichen Wandel und durch die Befolgung der noachidischen Gebote dennoch Anteil an der kommenden Welt, sofern sie aus der Überzeugung handeln, dass die Torah es so befohlen hat. Sie müssen somit die grundsätzliche Autorität der Torah anerkennen. Es ist also deutlich, dass ‚der Gesalbte‘ für Maimonides grundsätzlich nichts anderes als ein regelrechter König sein wird, kein Übermensch oder gar mehr. Der König und noch mehr der König-Messias steht nicht über dem Gesetz, sondern dient vielmehr dem Gesetz, der Erkenntnis der Torah und ihrer Praxis, die in hohem Maße Voraussetzung für seine Herrschaft sind. Hauptaufgabe des König-Messias ist also Repräsentanz und volle Anwendung einer der Torah gemäßen Ordnung. Der politische Charakter der Tage des Messias wurde von Luis Diez Merino sehr deutlich betont, wobei er aber den Unterschied zwischen geschichtlicher Zeit des messianischen Königs und überzeitlicher Dimension der kommenden Welt nicht immer beachtet: „Con este concepto [die Tage des Messias], explicado por el mismo Maimónides, entiend la época cuando se restablezca la soberanía de Israel, y cuando sobrevenga este testablecimiento será en tierra de Israel; el rey será muy poderoso, el trono de su reino estará en Sión, y hará engrandecer su nombre y su fama alcanzará a todas las naciones, más que la del mismo rey Salomón. Todas las naciones se reconciliarán con él, y todos los países le servirán a causa de su gran rectitud y los prodigios de que él dispondrá. […] Pero en aquellos días, aunque existan pobres, no obstante será muy fácil al hombre encontrar su modo de subsistencia, porque aunque trabaje poco, obtendrá grandes resultados, porque la benedición divina favorecerá las obras de las manos de los hombres. […] Se verán liberados de servir a reinos extranjeros, so podrán aplicar al cumplimiento de todos los mandamientos, aumentará la sabiduría (cf. Is. 11,9), cesarán las guerras (cf. Miq. 4,3), habrá una gran perfección, que hará merecer el mundo venidero.“334
Maimonides präsentiert am Schluss der Hilkhot Melakhim U’Milhamotehem eine rationalistische Konzeption dieser politischen Figur, welche nicht das Übertreffen, sondern vielmehr die Vollbringung der geschichtlichen Zeit bewirken wird. Die Tage des Messias werden von Maimonides im letzten Paragraphen von Kapitel 12 auch ]mzh vtvXb (be’oto ha-zeman) genannt, wo das Wort zeman (‚Zeit‘ im Sinne des gegenwärtigen Ablaufs des menschlichen Lebens und von dessen Umwelt335) und das Wort ’oto die unmittelbare empirische 334 Luis Diez Merino, La idea messianica en Maimonides, op. cit., S. 146f. 335 Vgl. Kapitel 3 meines Buchs: Das Verständnis des Seins bei Hermann Cohen. Vom Neukantianismus zu einer jüdischen Religionsphilosophie, Würzburg 2003, S. 105–127.
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Wahrnehmung dieser Zeit seitens des Menschen betonen. Der König-Messias vollendet politisch und was die Erkenntnis anbetrifft eine Zeit, auf welche die Menschen sich durch das Studium des Gesetzes – nämlich durch das Studium des ganzen Mishneh Torah – bereits vorbereitet haben, genauso wie sich die Bürger des platonischen polis und die Untergebenen des muslimischen Königs bei Alfarabi dem Gesetz widmen müssen, um den gerechten König anerkennen zu können. Die Zukunftshoffnung und die Messiaserwartung implizieren bei Maimonides kein passives Verhalten, keine apokalyptische Vision und kein eschatologisches Ende der Zeit: ‚Die Torah ist nicht im Himmel‘, die Halakhah ist buchstäblich der ‚Weg‘ zur Erkenntnis Gottes durch die Vollbringung seines Willens auf Erden, und der >olam ha-ba ist die Belohnung für diejenigen, die durch den Gehorsam gegenüber den Vorschriften des Gesetzes die Ankunft des König-Messias ermöglichen.
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Schluss
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Schluss Mit dieser Arbeit beabsichtigte ich, eine Lücke in der Rezeptionsgeschichte von Moses Maimonides zu schließen. Als aufgeschlossener Gelehrter seiner Zeit flossen in sein Denken sehr unterschiedliche intellektuelle Strömungen von innerhalb und außerhalb des Judentums ein. Der Einfluss von Alfarabi1 sowie die Bedeutung der arabischen Konzeption vom platonischen KönigPhilosophen auf die Messias-Vorstellung von Maimonides (siehe Kap. 4) wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in vielen Hinweisen in der Sekundärliteratur erwähnt. Jedoch fehlt bisher ein breit angelegter Versuch, solche Hinweise entlang einer präzisen geschichtlich-philosophischen Struktur zu verfolgen und zu vertiefen. Dasselbe gilt für die Einflüsse einiger theologischen Strömungen des Islam (im besonderen die mu>tazilitischen und ash>aritischen) auf die Frühwerke von Maimonides, die ich im besonderen im Kapitel 2 und 3 der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf die darin enthaltene Eschatologie sowie auf die Ankunft des Messias untersucht habe. Auch die Präsenz der Theologie der Karäer als bekanntester jüdischer Sekte des Frühmittelalters – der ich einen großen Teil des Kapitels 2 gewidmet habe – war bis jetzt nur als polemisches Element im Denken von Maimonides ausgearbeitet und wahrgenommen worden. Als ich im Jahr 2002 anfing, mich mit der Bedeutung des frühmittelalterlichen Islam für Maimonides zu beschäftigen, verfolgte ich nicht die Absicht damit einen interreligiösen Dialog ante litteram anzustreben. Meines Erachtens verlangt die wissenschaftliche Arbeit eine deutliche Trennung zwischen der Rekonstruktion eines kulturellen Milieus und den zeitgenössischen Denkkategorien des Forschers bzw. der Forscherin. Ausgehend von der heutigen Notwendigkeit eines interreligiösen Dialogs zur Zeit der Globalisierung könnte man selbstverständlich dazu neigen, die vorliegende Arbeit auf diese Debatte zu beziehen und sie damit allerdings zu missverstehen. Ich halte es für notwendig, sehr deutlich zu pointieren, dass ich aus dem jüdisch-islamischen Mittelalter keine Lehre für unsere Zeit zu ziehen beabsichtigte. Mein Interesse und meine Absicht war es allein, die intellektuellen Gründe der Verknüpfungen und gegenseitigen Beeinflussungen von Islam und Judentum durch die Vermittlung der griechischen
1
In Zukunft wäre es wünschenswert, auch eine Untersuchung des Kultureinflusses von AlGazali sowie von den Ismailiten durchzuführen.
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Schluss
Philosophie zu rekonstruieren. Im Laufe meiner Forschung habe ich weder im Denken Alfarabis noch in dem des Maimonides einen Hinweis gefunden, der uns erlauben könnte, auf Seiten dieser Philosophen von einem angeblichen Interesse für den ‚interreligiösen Dialog‘ auszugehen. Maimonides sieht Alfarabi nicht als Muslim, sondern zunächst als Denker und Intellektuellen, genauso wie Maimonides Aristoteles nicht als Heiden, sondern zunächst als Meister der Logik betrachtet. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis einer Forschung, die sich nicht auf die Religion bzw. auf die Glaubensrichtungen der untersuchten Philosophen konzentriert hat. Mein Hauptinteresse war von vornherein die politische Konzeption sowie die politische Anwendung bestimmter religiöser Prinzipien bei Alfarabi und bei Maimonides, mit dem Zweck, die gegenseitigen Ähnlichkeiten und Differenzen zugunsten eines vollständigeren Verständnisses ihrer Philosophie herauszuarbeiten. Meine Forschung sieht sich in Kontinuität zur deutsch-jüdischen Tradition der Aufklärung, in der die ersten Untersuchungen sowie die ersten Übersetzungen der Werke von jüdischen und islamischen Philosophen des Mittelalters einen neuen Blick auf das Verständnis der europäischen Geschichte warfen. Die Wiederbelebung einer solchen bahnbrechenden und vielversprechenden Arbeit, die von der Nazi-Regierung gewaltsam abgebrochen wurde, stellt sich als eine der wichtigsten Aufgaben für die heutige Wissenschaft dar.
Bibliographie
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Bibliographie Das nachfolgende Verzeichnis beschränkt sich auf die für die vorliegende Arbeit verwandte Literatur und strebt keine Vollständigkeit in bezug auf die Werke von bzw. über Moses Maimonides und Al-Farabi an.
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