Carlos Castaneda
Die Kunst des Träumens A u s d em A m erikan isch en vo n T h o m as L in d q u ist
»Träumen kann nur...
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Carlos Castaneda
Die Kunst des Träumens A u s d em A m erikan isch en vo n T h o m as L in d q u ist
»Träumen kann nur erfahren werden. Denn Träumen heißt nicht ein fach. Träume zu haben: es hat auch nichts mit Tagträumen oder Wunschvorstellungen zu tun. Durch das Träumen können wir andere Welten wahrnehmen, die w i r gewiß auch beschreiben können, aber wir können nicht beschreiben, was uns befähigt, sie wahrzunehmen. Und doch merken wir. daß das Träumen jene anderen Sphären erschließt.« Mit diesen Worten vermittelt Don Juan, der legendäre Zauberer, seinem Musterschüler Carlos Castaneda eine Vorstellung von der besonderen Kraft des Träumens. Ihrer bedient sich Castaneda. Um nach langen Jahren der Übung und Meditation zu den fernabgelegenen Wirklichkeiten vorzustoßen, wo er uralten Wesen und Wesenheiten begegnet, die gleichzeitig Wissen spenden und tödliche Gefahren dar stellen können. Carlos Castaneda starb 1998. Von Carlos Castaneda sind außerdem im Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar: »Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens< (Bd. 1457): >Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan< (Bd. 1616): >Reise nach Ixtlan. Die Lehre des Don Juan» (Bd. 1809); >Der zweite Ring der Kraft< (Bd. 3035): >Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten« (Bd. 3370): >Die Kunst des Pirschens« (Bd. 3390): >Das Feuer von innen< (Bd. 5082): >Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan< (Bd. 10926) sowie >Das Wirken der Un endlichkeit' (Bd. 14740). Im S. Fischer Verlag sind erschienen: >Tensegrity. Die magischen Be wegungen der Zauberer* (1998) und >Das Wirken der Unendlichkeit< (1998).
Fischer Taschenbuch Verlag Unsere Adresse im Internet: www.fischer-tb.de
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.Die Z auberer der Vorzeit: eine Einführung . . . . . . 2.D iee rsteP forted esT räumens . . . . . . . . . . . . 3.D iez weiteP forted esT räumens. . . . . . . . . . . . 4.D ieFixie rung des Montagepunktes . . . . . . . . . . 5.D ieW eltd era norganischenW esen . . . . . . . . . . 6.D ieW eltd erS chatten. . . . . . . . . . . . . . . . . 7.D erb laueS cout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.Die d ritte Pforte des Träumens . . . . . . . . . . . . 9.D as neueFo rschungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . 10.D ieP irschera npirschen . . . . . . . . . . . . . . . . 11.D erM ieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.D ieF rau i nd erK irche . . . . . . . . . . . . . . . . 13.A ufd en F lügelnd erA bsichtf liegen . . . . . . . . .
3. A uflage: Februar 2001 U ngekürzte A usgabe
V eröffentlicht im Fischer T aschenbuch V erlag G m bH .
Frankfurt am M ain, M ärz 1998
D ie am erikanische O riginalausgabe erschien 1993 u n t e r dem Titel:
>The A rt of D ream ing<
im V erlag H arperC ollins P ublishers. I nc., N ew Y ork
© C arlos C astaneda 1993
Für die deutsche A usgabe:
© S. Fischer V erlag G m bH . F rankfurt am M ain 1994 A lle R echte vorbehalten
D ruck und B indung: C laus en & B osse, Leck P rinted in G erm any
ISB N 3-596-14166-4
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Vorwort Wir sind nur gekommen,
ein Traumbild zu sehen, wir sind
nur gekommen zu träumen, nicht wirklich,
nicht wirklich sind wir gekommen,
auf der Erde zu leben.
Tochihuitzin Coyolchiuhqui
(aztekischer Dichter, um 1419)*
* Für den Hinweis auf das Gedicht danken wir Herrn Hans-Dieter Schultz; d. Lektorat.
In den vergangenen zwanzig Jahren habe ich eine R eihe von B ü chern geschrieben, über m eine L ehrzeit bei D on Juan M alus, einem Z auberer der Y aqui-Indianer in M exiko. Ich erklärte in diesen B üchern, daß er m ich die Zauberei lehrte, aber nicht so. wie wir Zauberei im K ontext unserer alltäglichen W elt verstehen: als B eherrschung anderer durch übernatürliche K räfte, oder als G eisterbeschwörung durch Zauberform eln, Fetische oder R ituale zur H ervorbringung übernatürlicher W irkungen. Für D on Juan war Zauberei die V erkörperung spezieller theoretischer und prak tischer Präm issen über W esen und Funktion der W ahrnehm ung in der G estaltung der uns um gebenden W elt. D on Juans Em pfehlungen befolgend, habe ich davon abgesehen, sein W issen durch einen spezifisch anthropologischen Begriff, den des Scham anim us, zu definieren. V ielm ehr nannte ich es stets - w ie er selbst - Z auberei. B ei genauerer P rüfung aber erkannte ich, daß die B ezeichnung solchen W issens als Zauberei die ohneh in u n b egreiflich en P h än o m en e, m it d en en er m ich in sein er U nterw eisung bekannt m achte, noch unklarer erscheinen ließ. In anthropologischen Schriften w ird Scham anim us definiert als G laubenssystem m ancher Eingeborenenvölker im nördlichen A sien, verbreitet auch unter nordam erikanischen Indianerstäm m en, das von der A nnahm e ausgeht, daß wir von einer unsichtbaren W elt von A hnengeistern, von guten und bösen K räften um geben sind: von spirituellen K räften, beschw oren oder kontrolliert durch gew isse H andlungen der P raktiker, die als M ittler zw ischen der natürlichen und der übernatürlichen W elt fungieren. D on Juan w ar tatsächlich ein M ittler zw ischen der natürlichen W elt des alltäglichen Lebens und einer unsichtbaren W elt, die er nicht das Ü bernatürliche nannte, sondern die zw eite A ufm erk sam keit. Seine A ufgabe als Lehrer war, m ir diese K onfiguration,
von Zauberern die zweite Aufmerksamkeit genannt, zugänglich zu machen. In meinen bisherigen Büchern habe ich die Lehrme thoden beschrieben, die er zu diesem Zweck einsetzte, wie auch die Zauberpraktiken, die er mich einüben ließ: die wichtigste unter ihnen war die - so bezeichnete - Kunst des Träumens. Don Juan behauptete, daß unsere Welt, die wir für einmalig und absolut halten, nur eine unter einer Vielzahl aufeinander folgender Welten sei, angeordnet wie die Schichten einer Zwiebel. Er behauptete, daß wir, auch wenn wir energetisch darauf konditioniert sind, ausschließlich unsere Welt wahrzunehmen, dennoch die Fähigkeit haben, in jene anderen Sphären einzudringen: Sphären, die ebenso real, einzigartig, absolut und absorbierend sind wie unsere Welt. Don Juan erklärte mir, daß wir, um jene anderen Sphären wahr zunehmen, nicht nur ein Verlangen nach ihnen haben müssen, sondern auch genügend Energie, um uns ihrer zu bemächtigen. Deren Existenz sei unveränderlich und von unserer Wahrneh mung unabhängig, sagte er, doch ihre Unzugänglichkeit sei lediglich eine Folge unserer energetischen Konditionierung. Mit anderen Worten, einzig und allein aufgrund dieser Konditionierung sind wir gezwungen anzunehmen, daß die Welt unseres alltäglichen Lebens die einzige und einzig mögliche Welt sei. Ausgehend von der Überzeugung, daß nur unsere energetische Konditionierung uns daran hindert, in diese anderen Sphären einzutreten, erklärte Don Juan, daß die Zauberer alter Zeiten eine Reihe von Praktiken entwickelt hätten, dazu bestimmt, unsere energetische Wahrnehmungsfähigkeit anders zu konditionieren. Diese Praktiken nannten sie die Kunst des Träumens. Aus heutiger Sicht, mit zeitlichem Abstand, erkenne ich nun, daß es wohl die treffendste Aussage über das Träumen war, wenn Don Juan es als »Pforte zur Unendlichkeit« bezeichnete. Damals aber, als er dies sagte, wandte ich ein, daß eine solche Metapher für mich unverständlich sei. »Lassen wir also die Metaphern beiseite«, räumte er ein. »Sagen wir besser, das Träumen ist die Art der Zauberer, gewöhnliche Träume praktisch zu nutzen.« »Aber, wie können wir gewöhnliche Träume praktisch nutzen?« fragte ich. »Wir lassen uns immer von Wörtern täuschen«, sagte er. »In mei
nem Fall versuchte mein Lehrer, mir das Träumen zu beschreiben, indem er sagte, es sei die Art der Zauberer, der Welt >gute Nacht< zu sagen. Natürlich stellte er seine Beschreibung auf meine Mentalität ein. Das gleiche tu ich bei dir.« Bei anderer Gelegenheit sagte Don Juan zu mir: »Träumen kann nur erfahren werden. Denn Träumen heißt nicht einfach, Träume zu haben; es hat auch nichts mit Tagträumen oder Wunschvorstellungen zu tun. Durch das Träumen können wir andere Welten wahrnehmen, die wir gewiß auch beschreiben können, aber wir können nicht beschreiben, was uns befähigt, sie wahrzunehmen. Und doch merken wir, daß das Träumen uns jene anderen Sphären erschließt. Träumen scheint eine Empfindung zu sein; ein Vorgang im Körper, ein geistiges Bewusstwerden.« Im Rahmen seiner allgemeineren Lehren erläuterte Don Juan mir sehr eingehend die Grundlagen, Praktiken und Prinzipien des Träumens. Seine Unterweisung fiel in zwei Teile. Der eine betraf die Vorgänge des Träumens; der andere die rein abstrakten Erklärungen dieser Traum Vorgänge. Seine Lehrmethode bestand darin, abwechselnd meine intellektuelle Neugier auf die abstrakten Prinzipien des Träumens zu wecken und mich dann Erfahrungen in deren praktischer Anwendung sammeln zu lassen. All dies habe ich bereits geschildert, so ausführlich, wie es mir nur möglich war. Und ich schilderte auch das Milieu der Zauberer, in das Don Juan mich einführte, um mich seine Kunst zu lehren. Meine Interaktionen in diesem Milieu der Zauberer waren für mich besonders interessant, weil sie ausschließlich im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit stattfanden. So hatte ich Umgang mit den zehn Frauen und fünf Männern, die Don Juans Gefährten in der Zauberei waren, sowie mit den vier jungen Frauen und vier jungen Männern, die seine Schüler waren. Diese letzteren versammelte Don Juan, gleich nachdem ich in seine Welt gekommen war. Er machte mir klar, daß sie eine traditionelle Gruppe von Zauberern bildeten, eine Kopie seiner eigenen Gesellschaft, und daß ich sie führen solle. In der Arbeit mit mir aber erkannte er, daß ich anders beschaffen war, als er erwartet hatte. Diesen Unterschied erklärte er mit einer EnergieKonfiguration, die nur für Zauberer sichtbar sei: statt vier Ener gieabteilungen, wie er selbst, hätte ich nur drei. Solch eine Konfiguration, die er irrigerweise für einen korrigierbaren Makel
gehalten hatte, m achte m ich so vö llig ungeeignet zur Interaktio n m it d ie se n a c h t L e h rlin g e n , o d e r g a r z u r Ü b e rn a h m e d e r F ü h ru n g , d a ß e s D o n Ju a n g e b o te n sc h ie n , e in e a n d e re G ru p p e v o n and ers b eschaffenen L euten zu versam m eln - b esser p assend zu m einer energetischen S truktur. V o n d iesen V o rgängen hab e ich ausführlich b erichtet. A b er no ch nie habe ich jene zw eite G ruppe von S chülern erw ähnt; D on Juan hatte es m ir nicht erlaub t. S ie gehö rten ausschließ lich zu m einem F eld, sagte er; m eine V ereinbarung m it ihm sah aber nur vor, über sein F eld zu schreib en, nicht üb er m ein eigenes. D ie zw eite S chülergrup p e w ar sehr klein. S ie hatte nur d rei M itglied er: eine T räum erin, F lo rind a D o nner-G rau; eine P irscherin, T aisha A b elar; und eine N agual-F rau, C aro l T iggs. W ir interagierten nur in d er zw eiten A ufm erksam keit m iteinand e r. In d e r a lltä g lic h e n W e lt k a n n te n w ir u n s n ic h t e in m a l v o n ungefähr. In unseren B eziehungen zu D on Juan aber gab es nichts U n b e stim m te s: e r g a b sic h d ie g rö ß te M ü h e , u n s a lle g le ic h gründlich auszubilden. D och zum E nde h in , als D on Juans Zeit zu E nd e ging, b egann d er p sychische D ruck seiner b evo rstehend en A breise die festen S chranken der zw eiten A ufm erksam keit aufzulö se n . D ie F o lg e w a r, d a ß u n se re In te ra k tio n e n a u f d ie A llta g sw e lt ü b e rg riffe n u n d w ir u n s sc h e in b a r z u m e rste n m a l k e n n e n lernten. B ew usst aber hatte keiner von uns e in e A hnung von unseren I n teraktio nen im Z ustand d er zw eiten A ufm erksam keit. N achd em w ir uns alle m it w issenschaftlichen S tud ien b efassten, w aren w ir m ehr als üb errascht, als w ir feststellten, d aß w ir uns scho n früher b egegnet w aren. D ies w ar und ist natürlich eine intellektuell un haltb are A nnahm e, und d o ch w issen w ir, d aß es für uns em p iri sche E rfahrung w ar. S either bleibt uns die beunruhigende G ew iß heit, daß die m enschliche P syche unendlich viel kom plizierter ist. als unsere w eltliche oder w issenschaftliche V ernunft uns glauben m achte. E inm al b estürm ten w ir alle D o n Juan, d o ch etw as L icht in unser D ile m m a z u b rin g e n . E r k ö n n e n u r z w e i E rk lä ru n g e n a n b ie te n , sagte D o n Juan. E inerseits kö nne er unserem - d urch so lche E r fahrungen verletzten - V ernunftprinzip schm eicheln und behaupten, d ie zw eite A ufm erksam keit sei e in B ew usstseinszustand , so illusorisch w ie am H im m el fliegende E lefanten und alles, w as w ir 10
in diesem Zustand erfahren zu haben glaubten, sei nur das Produkt hypnotischer Suggestionen. Andererseits aber könne er diesen Zustand so erklären, wie Zauberer und Träumer ihn verstehen: als eine energetische Konfiguration des Bewußtseins. Bei meinen Übungen im Träumen blieb jedoch die Barriere der zweiten Aufmerksamkeit immer unverändert erhalten. Jedes Mal wenn ich in den Zustand des Träumens eintrat, geriet ich auch in die zweite Aufmerksamkeit, und wenn ich vom Träumen erwachte, so bedeutete dies nicht unbedingt, daß ich auch den Zustand der zweiten Aufmerksamkeit verließ. Jahrelang konnte ich mich nur teilweise an meine Traumerfahrungen erinnern. Der größte Teil dessen, was ich erlebte, blieb mir energetisch unzugänglich. Es brauchte fünfzehn Jahre ununterbrochener Arbeit, von 1973 bis 1988. bis ich genügend Energie gespeichert hatte, um alles geistig in eine lineare Reihenfolge zu bringen. Dann aber erinnerte ich mich an immer neue Abschnitte meiner Traumerfahrungen , und es gelang mir endlich, gewisse scheinbare Gedächtnislücken aufzufüllen. Auf diese Weise erkannte ich auch, welcher Zusammenhang den Unterweisungen Don Juans in der Kunst des Träumens innewohnte: ein Zusammenhang, der mir entgangen war, da er mich stets zwischen dem alltäglichen Bewußtsein und der Bewußtheit der zweiten Aufmerksamkeit pendeln ließ. Aus solcher Aufarbeitung ist dieses Buch hervorgegangen. Und damit bin ich beim Kern dessen, was ich sagen wollte: nämlich dem Grund, warum ich dieses Buch schreiben musste. Nachdem mir Don Juans Lehren über die Kunst des Träumens nun in fast allen Teilen geläufig sind, möchte ich gerne in einer künftigen Studie berichten, welche Positionen und Interessen seine vier letzten Schüler gegenwärtig vertreten: Florinda Donner-Grau, Taisha Abelar. Carol Tiggs und ich selbst. Doch bevor ich schildern und erklären kann, zu welchen Ergebnissen Don Juans Einfluss uns führte, muß ich im Lichte dessen, was ich heute weiß, jene Teile der Lehren Don Juans über das Träumen darstellen, die mir vorher unzugänglich waren. Den entscheidenden Anstoß zu diesem Buch gab mir aber Carol Tiggs. Die Welt zu erklären, die Don Juan uns hinterlassen hat, so glaubt sie, ist höchster Ausdruck unserer Dankbarkeit ihm gegen über und unserer Verpflichtung für sein Streben. 11
1. Die Zauberer der Vorzeit: eine Einführung
D o n Ju a n b e to n te im m e r w ie d e r, d a ß a lle s, w a s e r m ic h le h rte , vo n M enschen erd acht und erarb eitet w o rd en sei, d ie er d ie Z au b e re r d e r V o rz e it n a n n te . D a b e i ste llte e r k a te g o risc h k la r, e s geb e grund legend e U nterschied e zw ischen jenen alten Z aub erern u n d d e n Z a u b e re rn m o d e rn e r Z e ite n . D ie Z a u b e re r d e r V o rz e it b e z e ic h n e te e r a ls M e n sc h e n , d ie w o h l Ja h rta u se n d e v o r d e r E r o b e ru n g M e x ik o s d u rc h d ie S p a n ie r le b te n ; e s w a re n M e n sc h e n , d e re n g ro ß e L e istu n g e s w a r, d ie G ru n d la g e n d e r Z a u b e re i z u le g e n , w o b e i sie v o r a lle m a u f p ra k tisc h e A n w e n d b a rk e it u n d K o n k re th e it W e rt le g te n . E r sc h ild e rte sie a ls h e rv o rra g e n d b e g a b te L e u te , d e n e n e s a b e r a n W e ish e it fe h lte . D ie m o d e rn e n Z auberer hingegen bezeichnete D on Juan als L eute von ausgew o genem S inn, d ie im stand e seien, d ie E ntw icklung d er Z aub erei zu ko rrigieren, falls sie d ies für no tw end ig hielten. D o n Ju a n e rk lä rte m ir, d a ß d ie P rä m isse n d e r Z a u b e re i, so w e it sie fü r d a s T rä u m e n g e lte n , a u f g a n z n a tü rlic h e W e ise v o n d e n alten Z aub erern erd acht und w eiterentw ickelt w urd en. D iese P räm isse n m u ß ic h z w a n g slä u fig - w e il sie d e n S c h lü sse l z u m V e rstä n d n is u n d z u r E rk lä ru n g d e r Z a u b e re i b ie te n - n o c h e in m a l d arstellen und d iskutieren. V ieles, w as ich früher scho n b eschrieb e n h a b e , w ird d a h e r in d ie se m B u c h w ie d e r a u fg e g riffe n u n d w eiterentw ickelt. U m d a s T rä u m e n u n d d ie T rä u m e r ric h tig e in z u sc h ä tz e n , sa g te D o n Juan in einem unserer G esp räche, m üsse m an d as B em ühen d er m o d ernen Z aub erer w ürd igen, d ie Z aub erei vo n jener einstig e n K o n k re th e it w e g z u fü h re n - h in z u m A b stra k te n . »W a s b e z e ic h n e st d u a ls K o n k re th e it, D o n Ju a n ? « fra g te ic h . »D en p raktischen T eil d er Z aub erei«, sagte er. »D iese zw anghafte B eschäftigung m it P raktiken und T echniken; d iese unverantw o rt liche B eeinflussung and erer M enschen. A ll d ies gehö rte zur Z au b e re i frü h e re r Z e ite n .« »U nd w as ist für d ich d as A b strakte? « 13
»Das Streben nach Freiheit. Nach der Freiheit nämlich, alles, was Menschen möglich ist, ohne zwanghafte Vorurteile wahrzuneh men. Die heutigen Zauberer, sage ich, streben nach dem Ab strakten, weil sie nach Freiheit streben. Es geht ihnen nicht um konkrete Vorteile. Sie erfüllen auch keine soziale Funktion mehr, wie die Zauberer alter Zeiten. Sie treten nicht als offizielle Seher oder Dorfzauberer auf.« »Glaubst du, Don Juan, daß die Vergangenheit bedeutungslos für die modernen Zauberer ist?« »Gewiß ist sie von Bedeutung. Aber wir lehnen die Atmosphäre dieser Vergangenheit ab. Was mich betrifft, so lehne ich die dunklen, morbiden Aspekte des Geistigen ab. Ich bevorzuge die Grenzenlosigkeit des Denkens. Doch abgesehen von meinen Vor lieben und Abneigungen, muß ich den Zauberern der Vorzeit doch gerecht werden: sie waren die ersten, die all das entdeckten und taten, was wir heute wissen und tun.« Ihre wichtigste Leistung war, so erklärte mir Don Juan, daß sie die energetische Beschaffenheit aller Dinge erkannten. Diese Er kenntnis war so bedeutsam, daß sie zur Grundprämisse der Zau berei erhoben wurde. Heute aber, sagte er, erreichten die Zauberer nur nach lebenslanger Schulung und Übung diese Fähigkeit, das Wesen der Dinge wahrzunehmen - eine Fähigkeit, die sie als Sehen bezeichnen. »Was würde es für mich bedeuten, das energetische Wesen der Dinge wahrzunehmen?« fragte ich Don Juan einmal. »Es würde bedeuten, daß du Energie unmittelbar wahrnimmst«, antwortete er. »Durch Abtrennung des sozial bedingten Teils der Wahrnehmung kannst du das Wesen der Dinge erkennen. All dies, was wir wahrnehmen, ist Energie. Aber weil wir Energie nicht un mittelbar wahrnehmen können, konditionieren wir unsere Wahr nehmung in der Weise, daß sie sich einer Form anpasst. Diese Form ist der soziale Teil der Wahrnehmung, den du abtrennen mußt.« »Warum sollte ich ihn abtrennen?« »Weil er den Umfang dessen, was wir wahrnehmen können, will kürlich einschränkt und uns glauben macht, daß die Form, in die wir unsere Wahrnehmungen pressen, das einzige sei, was es gibt. Wenn der Mensch heute überleben will, davon bin ich überzeugt, wird er die soziale Grundlage seiner Wahrnehmung verändern müssen.« 14
»W as ist d ie so ziale G rund lage d er W ahrnehm ung, D o n Juan?« »D ie physische G ew issheit, daß die W elt aus konkreten O bjekten b e ste h t. D ie s b e z e ic h n e ic h a ls so z ia le G ru n d la g e , w e il a lle in dieser G esellschaft uns zw ingen w ollen, die W elt so w ahrzuneh m en, w ie w ir sie eb en kennen.« »W ie aber sollten w ir die W elt w ahrnehm en?« »A lles ist E nergie. D as ganze U niversum ist E nergie. D ie soziale G rundlage unserer W ahrnehm ung sollte die physische G ew issheit se in , d a ß e s n ic h ts a n d re s g ib t a ls E n e rg ie . W ir so llte n a lle s tu n und d ie F ähigkeit schulen, E nergie als E nergie w ahrzunehm en. D ann hätten w ir b eid e A lternativen zur A usw ahl.« »Ist es denn m öglich, M enschen in solchen D ingen zu schulen?« fragte ich. J a , es sei m ö glich, antw o rtete D o n Juan, und nichts and eres täte er m it m ir und seinen and eren S chülern. E r w o lle uns eine neue A rt d e r W a h rn e h m u n g le h re n : e rste n s, in d e m e r u n s e rk e n n e n la sse , d a ß w ir u n se re W a h rn e h m u n g so k o n d itio n ie re n , d a ß sie sich einer F o rm anp asst, und zw eitens, ind em er unsere F ähigkeit sc h u le , E n e rg ie u n m itte lb a r a ls E n e rg ie w a h rz u n e h m e n . S e in e L ehrm ethode, sagte er, unterscheide sich gar nicht sehr von jener and eren M etho d e, nach d er m an uns b eigeb racht hab e, d ie A ll tagsw elt w ahrzunehm en. D ie K onditionierung unserer W ahrnehm ung im Sinne der A npassung an eine soziale F orm , so glaubte D on Juan, verliert aber ihre M a c h t ü b e r u n s, so b a ld w ir e rk e n n e n , d a ß w ir d ie se F o rm a ls E rb e u n se re r A h n e n u n b e se h e n ü b e rn o m m e n h a b e n , o h n e ih re T auglichkeit zu prüfen. »E s w ar üb erleb ensw ichtig für unsere V o rfahren, eine W elt vo n festen O bjekten w ahrzunehm en, die entw eder positiven oder ne gativen W ert hatten«, sagte D o n Juan. »U nd nach Jahrtausend en einer so lchen W ahrnehm ung sind w ir nun gezw ungen anzuneh m en, d aß d ie W elt aus festen O b jekten b esteht.« »Ic h k a n n m ir d ie W e lt n ic h t a n d e rs v o rste lle n , D o n Ju a n «, w and te ich ein. »E s ist d o ch zw eifello s eine W elt fester O b jekte. D e n B e w e is h a b e n w ir, so b a ld w ir m it ih n e n z u sa m m e n sto ßen.« »S icher ist es eine W elt vo n festen O b jekten. D as w ill ich nicht b estreiten.«
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»W as w illst d u also b ehaup ten? « »Ic h b e h a u p te , d a ß d ie W e lt in e rste r L in ie a u s E n e rg ie b e ste h t; u n d e rst in z w e ite r L in ie a u s O b je k te n . W e n n w ir n ic h t v o n d e r P räm isse ausgehen, d aß d ie W elt aus E nergie b esteht, w ird es uns nie gelingen, E nergie unm ittelb ar w ahrzunehm en. W as uns d ann hindert, ist die physische G ew issheit einer W elt von festen O bjekte n , v o n d e r d u e b e n n o c h g e sp ro c h e n h a st.« S e in e A u ffa ssu n g w a r m ir u n b e g re iflic h . D a m a ls k o n n te ic h m ir einfach keinen anderen W eg zum V erständnis der W elt denken als je n e n , d e r m ir v e rtra u t w a r. D o n Ju a n s B e h a u p tu n g e n u n d Id e e n w aren m ir so frem d, daß ich sie w eder annehm en noch w iderlegen konnte. »U n se re W a h rn e h m u n g ist d ie W a h rn e h m u n g e in e s R a u b tie rs«, sagte er m ir b ei and erer G elegenheit. »S ehr nützlich, um N ahrung z u fin d e n u n d G e fa h r z u e rk e n n e n . A b e r d ie s ist n ic h t d ie e in z ig m ö g lic h e A rt d e r W a h rn e h m u n g . E s g ib t n o c h e in e a n d e re M e tho d e, m it d er ich d ich vertraut m achen m ö chte: d ie unm ittelb are W a h rn e h m u n g d e s W e se n s d e r D in g e - d e r E n e rg ie se lb st. E rst w e n n w ir d a s W e se n d e r D in g e w a h rn e h m e n , w ird e s u n s gelingen, d ie W elt in einer neuen, vielschichtigeren und interes santeren S p rache zu erfo rschen und zu b eschreib en«, b ehaup tete D o n Juan. U nd d ie vielschichtigere S p rache, an d ie er d achte, w ar d iejenige, d ie seine V o rfahren ihn gelehrt hatten: eine S p rache im E inklang m it jenen W ahrheiten d er Z aub erei, d ie keine ratio nale B e g rü n d u n g b ra u c h e n u n d u n a b h ä n g ig sin d v o n d e n F a k te n d e r A llta g sw e lt - se lb st-e v id e n te W a h rh e ite n fü r d ie Z a u b e re r, d ie E n e rg ie u n m itte lb a r w a h rn e h m e n u n d d a s W e se n d e r D in g e sehen. Das Wesen des Universums selbst zu sehen sei für diese Zauberer die wichtigste Tat der Zauberei. Wie Don Juan sagte, hatten die Zauberer der Vorzeit als erste das Wesen des Universums gesehen und es auf die bestmögliche Art und Weise beschrieben. Das Wesen des Universums, behaupteten sie, gleiche einer Konfiguration von weißglühenden Fasern, die sich ins Unendliche erstreckten, leuchtende Gespinste, die auf eine dem menschlichen Denken unvorstellbare Art mit Bewusstsein begabt sind. Nachdem die Zauberer der Vorzeit das Wesen des Universums sahen, gingen sie einen Schritt weiter und sahen auch das energetische Wesen des Menschen. Sie hätten die Menschen in Gestalt
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von leuchtenden großen Eiern gesehen, sagte Don Juan, und sie folglich als leuchtende Eier beschrieben. »Wenn Zauberer einen Menschen sehen«, sagte Don Juan, »sehen sie eine große leuchtende Gestalt, die dahinschwebt und bei ihrer Fortbewegung eine tiefe Furche in der Energie der Erde hinter läßt, als hätte die leuchtende Gestalt eine nachschleppende Pfahl wurzel.« Don Juan meinte, daß unsere Energiegestalt sich mit der Zeit ver ändert habe. Denn alle Seher, die er kannte - und auch er selbst -. hätten die Menschen wohl eher in Kugelgestalt oder sogar in Form von eckigen Grabsteinen gesehen, nicht in eiförmiger Gestalt. Es komme aber immer wieder vor, daß Zauberer einen Menschen sehen, dessen Energiefeld wie ein Ei geformt ist. Heutige Men schen, deren Energiefeld wie ein Ei geformt ist, sagte Don Juan, hätten eben Ähnlichkeit mit den Menschen früherer Zeiten. Immer wieder kam Don J uan bei seinen Lehren auf die - wie er glaubte wichtigste Entdeckung der alten Zauberer zu sprechen. Sie hätten nämlich in der leuchtenden Kugelgestalt des Menschen ein besonderes Merkmal gefunden: einen runden Fleck von stärkerer Leuchtkraft, nicht größer als ein Tennisball, und immer im Inneren der leuchtenden Kugel lokalisiert und von deren Glanz überstrahlt - etwa einen halben Meter hinter dem rechten Schulterblatt des Betreffenden. Dies konnte ich mir nur schwer bildlich vorstellen, als Don Juan es mir zum erstenmal beschrieb, und darum betonte er, daß die leuchtende Kugel natürlich viel größer sei als der menschliche Körper, den sie einhülle. Jener stärker leuchtende Punkt sei aber Bestandteil der Energie-Kugel und befinde sich in Höhe der Schulterblätter, etwa eine Armeslänge hinter dem Körper des Menschen. Weil nun die alten Zauberer sahen, was dieser leuch tende Punkt macht, nannten sie ihn den Montagepunkt. »Also, was macht der Montagepunkt?« »Nun, er macht, daß wir wahrnehmen«, antwortete er. »Die alten Zauberer sahen, daß an diesem Punkt die Wahrnehmung des Menschen zusammengesetzt, sozusagen >montiert< wird. Und weil die alten Zauberer sahen, daß nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen solch einen leuchtenden Punkt haben, vermuteten sie, daß Wahrnehmung generell an diesem Punkt stattfindet, wie auch immer.« 17
»Was sahen die alten Zauberer? Und wieso kamen sie zu dem Schluss, daß die Wahrnehmung im Montagepunkt zusammenge setzt wird?« fragte ich. Sie sahen, erstens, erzählte Don Juan, daß unter Millionen leuch tender Fäden, die durch die leuchtende Kugelgestalt hindurchgehen, nur ein kleiner Teil direkt den Montagepunkt schneidet - wie auch zu erwarten, nachdem er ja, im Vergleich zum Ganzen, viel kleiner sei. Sie sahen, zweitens, daß der Montagepunkt immer von einer wei teren Sphäre glühender Leuchtkraft umgeben ist, ein wenig größer als er selbst, wodurch das Licht der direkt durch diese Glut hindurchgehenden Fasern ganz wesentlich verstärkt werde. Und schließlich sahen sie noch zwei Dinge: zum einen, daß der Montagepunkt eines Menschen sich von der Stelle lösen kann, wo er normalerweise lokalisiert ist; und zum anderen, daß Wahrnehmung und Bewusstsein, solange der Montagepunkt in seiner gewohnten Position ruht, anscheinend normal sind, soweit man dies nach dem normalen Verhalten der beobachteten Personen beurteilen kann. Wenn aber der Montagepunkt und die ihn umgebende glühende Sphäre sich in einer anderen als der üblichen Position befinden, scheint ihr ungewöhnliches Verhalten zu beweisen, daß ihr Bewusstsein anders beschaffen ist; daß sie Wahrnehmungen von ungewöhnlicher Art haben. Aus alledem zogen die alten Zauberer die Schlußfolgerung: je größer die Verschiebung des Montagepunkts aus seiner gewohnten Position, desto ungewöhnlicher ist das daraus folgende Verhalten - und offenbar auch die daraus folgende Bewußtheit und Wahrnehmung. »Bedenke aber«, ermahnte mich Don Juan, »daß ich, wenn ich von sehen spreche, immer sage: >Es hatte den Anschein als ob<. oder >Es schien wie<. Alles, was man sieht, ist so einzigartig, daß man unmöglich darüber sprechen kann - außer, man vergleicht es mit etwas uns Bekanntem.« Das passendste Beispiel für dieses Dilemma, so sagte er, sei die Art, wie die Zauberer über den Montagepunkt und die ihn umge bende Glut sprächen. Sie bezeichneten beide als Helligkeit, und doch könne es keine Helligkeit sein, weil die Seher sie nicht mit den Augen sähen. Irgendwie aber müßten sie das Unvereinbare überbrücken, und darum sagten sie, daß der Montagepunkt ein 18
Lichtfleck sei, umgeben von einem glühenden Hof. Wir Menschen stünden so stark unter dem Diktat des Visuellen, unter der Herrschaft unserer Raubtier-Wahrnehmung. daß alles, was wir sehen, im Sinne dessen interpretiert werden müsse, was das Raubtierauge normalerweise sieht. Nachdem die alten Zauberer nun sahen, was der Montagepunkt und die ihn umgebende Glut anscheinend bewirken, versuchten sie, so erzählte Don Juan, eine Erklärung zu finden. Und sie be haupteten, daß der Montagepunkt beim Menschen, indem er seine glühende Sphäre auf jene Energiefasern des Universums konzentriert, die direkt durch ihn hindurchgehen, ganz automa tisch und unvermittelt diese Fasern zu einer stabilen Wahrneh mung der Welt zusammensetzt. »Wie werden diese Fasern, von denen du sprichst, zu einer stabilen Wahrnehmung der Welt montiert?« fragte ich. »Das weiß niemand«, antwortete er mit Nachdruck. »Die Zauberer sehen die Bewegung der Energie. Doch wenn sie die Bewegung der Energie lediglich sehen, wissen sie noch lange nicht, wie oder warum Energie sich bewegt.« Nachdem die alten Zauberer sahen, fuhr Don Juan fort, daß Mil lionen von Fasern bewusster Energie durch den Montagepunkt hindurchgehen, behaupteten sie, daß diese Fasern, indem sie durch diesen Punkt hindurchgehen, sich vereinigen - zusammengefügt durch die Glut der ihn umgebenden Sphäre. Und nachdem sie sahen, daß diese Glut bei bewusstlosen oder sterbenden Menschen sehr schwach ist und bei Toten sogar ganz fehlt, waren sie überzeugt, daß diese Glut die Bewußtheit sei. »Aber der Montagepunkt? Fehlt er bei einer Leiche?« fragte ich. Und er antwortete, daß es bei einem Toten keine Spur eines Mon tagepunktes gebe, denn der Montagepunkt und die ihn umgebende Glut seien das Zeichen von Leben und Bewußtheit. Daraus zogen die Zauberer der Vorzeit den Schluss, daß Bewusstsein und Wahrnehmung untrennbar zusammengehören und mit dem Mon tagepunkt und der ihn umgebenden Glut verbunden sind. »Besteht die Möglichkeit, daß jene Zauberer sich bei ihrem Sehen irrten?« fragte ich. »Ich kann dir nicht erklären, warum, aber es ist ganz unmöglich, daß Zauberer sich beim Sehen irren«, sagte Don Juan in einem
Ton, der keine Einwände duldete. »Nun ja, die Schlußfolgerun gen, die sie aus ihrem Sehen ziehen, könnten wohl falsch sein, aber nur weil diese Leute manchmal naiv und ungebildet sind. Um solch ein Dilemma zu vermeiden, müssen Zauberer ihren Verstand auf jede nur mögliche Art entwickeln.« Mit sanfterer Stimme meinte er dann, daß es für Zauberer gewiß sehr viel sicherer wäre, sich einzig auf die Beschreibung dessen zu beschränken, was sie sehen; daß aber die Versuchung, Schlußfol gerungen und Erklärungen zu suchen, wenn auch nur für sich selbst, viel zu groß sei, um ihr zu widerstehen. Der Effekt jener Verschiebung des Montagepunktes sei aber eine weitere EnergieKonfiguration, die die Zauberer der Vorzeit sehen und studieren konnten. Wird der Montagepunkt in eine andere Position verschoben, sagte Don Juan, so tritt dort ein neues Konglomerat von Millionen leuchtender Energiefasern zusammen. Dies sahen die Zauberer der Vorzeit und schlossen daraus, daß die Wahrnehmung, da die Glut der Bewußtheit immer dort ist, wo der Montagepunkt sich befindet, automatisch dort »montiert«, also zusammengesetzt wird. Wegen der unterschiedlichen Position des Montagepunktes kann die daraus resultierende Welt aber nicht unsere Alltagswelt sein. Die alten Zauberer, erklärte Don Juan, unterschieden zwei Arten von Verschiebung des Montagepunktes. Zum einen eine Verschiebung in irgendeine Position an der Oberfläche oder im Innern der leuchtenden Kugel; diese Verschiebung nannten sie die Verlagerung des Montagepunktes. Zum anderen eine Verschiebung in eine Position außerhalb der leuchtenden Kugel; diese Verschiebung nannten sie Bewegung des Montagepunktes. Der Unterschied zwischen einer Verlagerung und einer Bewegung, so stellten sie fest, liege in der Natur der Wahrnehmung, die beide ermöglichen. Weil es sich bei Verlagerungen des Montagepunktes um Verschie bungen innerhalb der leuchtenden Kugel handelt, sind die dadurch erzeugten Welten, wie bizarr oder wunderlich oder unglaublich sie auch sein mögen, gleichwohl Welten, die im Bereich des Menschlichen liegen. Der Bereich des Menschlichen, das sind die Energiefasern, die durch die gesamte leuchtende Kugel hin durchgehen. Bewegungen des Montagepunktes hingegen, weil sie Verschiebungen in Positionen außerhalb der leuchtenden Kugel 20
sind, aktivieren Energiefasern von jenseits des menschlichen Be reichs. Solche Fasern wahrzunehmen, erzeuge Welten, die völlig unvorstellbar sind - unbegreifliche Welten, ohne jede Spur menschlicher Präzedenz. Zu jener Zeit kreisten meine Gedanken stets um das Problem der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Befunde. »Entschuldige. Don Juan«, sagte ich einmal zu ihm, »aber die Sache mit dem Montagepunkt ist eine so ausgefallene Idee, empirisch so unzulässig, daß ich nicht weiß, wie ich damit umgehen oder was ich davon halten soll.« »Da bleibt dir nur eines übrig«, erwiderte er, »nämlich, den Mon tagepunkt zu sehen. Das Sehen ist nicht so schwer. Die Schwierigkeit liegt darin, die begrenzende Mauer zu durchbrechen, die wir in Gedanken errichten und die uns an unserem Ort hält. Um sie aufzubrechen, brauchen wir nur Energie. Sobald wir Energie ha ben, geschieht das Sehen uns wie von selbst. Der Trick besteht darin, unsere Festung der Selbstzufriedenheit und falschen Si cherheit zu verlassen.« »Mir ist klar, Don Juan, daß das Sehen viel Wissen voraussetzt. Es kann doch nicht nur darum gehen, ob man Energie hat.« »Glaube mir. es geht nur darum, daß man Energie hat. Schwieriger ist es. sich zu überzeugen, daß man es kann. Dazu muß man dem Nagual vertrauen. Das Erstaunliche an der Zauberei ist. daß jeder Zauberer sich alles durch eigene Erfahrung beweisen muß. Wenn ich dir von den Prinzipien der Zauberei erzähle, so nicht in der Hoffnung, daß du sie auswendig lernst, sondern daß du sie praktizieren wirst.« Was die Notwendigkeit des Vertrauens betrifft, hatte Don Juan sicherlich recht. Zu Anfang meiner dreizehnjährigen Lehrzeit bei ihm war es das Schwerste für mich, seine Welt und seine Person anzunehmen. Solches Annehmen bedeutete, daß ich lernen mußte. ihm stillschweigend zu vertrauen und ihn vorbehaltlos als den Nagual zu akzeptieren. Überhaupt war Don Juans Rolle in der Welt der Zauberer in dem Titel zusammengefaßt, den seine Genossen ihm zuerkannten: sie nannten ihn den Nagual. Dieser Begriff, so erklärte man mir. bezeichne eine Person, ob männlich oder weiblich, die eine be stimmte Art von Energie-Konfiguration besitzt, von der Art, die einem Seher als doppelte leuchtende Kugel erscheint. Die Seher 21
glaub en näm lich, d aß d iese zusätzliche E nergielad ung, so b ald ein so lc h e r M e n sc h in d ie W e lt d e r Z a u b e re r e in tritt, sic h in e in e r gew issen S tärke und in d er F ähigkeit zur F ührung and erer äuß ert. D e r N a g u a l ist a lso d e r n a tü rlic h e F ü h re r, d a s H a u p t e in e r G rup p e vo n Z aub erern. D o n Juan so lches V ertrauen entgegenzub rin g e n e m p fa n d ic h a n fa n g s a ls fra g w ü rd ig , w e n n n ic h t so g a r a b sto ß e n d . D o c h a ls ic h m it ih m d a rü b e r sp ra c h , v e rsic h e rte e r m ir, d aß es ihm eb enso schw ergefallen sei. seinem L ehrer in so lchem M aß zu vertrauen. »Ic h sa g te m e in e m L e h re r d a sse lb e , w a s d u m ir je tz t sa g st«, m e in te D o n Ju a n . »U n d e r a n tw o rte te m ir, d a ß e s o h n e d e n N a g u a l k e in e M ö g lic h k e it d e r B e fre iu n g g ib t, u n d d a h e r k e in e M öglichkeit, all den S chutt unseres L ebens abzutragen, um frei zu w erden.« D o n Ju a n w ie d e rh o lte , w ie re c h t se in L e h re r g e h a b t h a b e . U n d ic h w ie d e rh o lte m e in e g ru n d sä tz lic h e A b le h n u n g . M e in e E rz ie hung in einem b ed rückend en religiö sen M ilieu, so sagte ich ihm , h a b e sc h lim m e F o lg e n fü r m ic h g e h a b t, u n d se in e A u ssa g e n a ls L ehrer so w ie seine eigene U nterw erfung unter seinen L ehrer er in n e rte n m ic h a n d e n d o g m a tisc h e n G e h o rsa m , d e n ic h a ls K in d le rn e n m u sste u n d d e n ic h v e ra b sc h e u te . »W e n n d u v o m N a g u a l sp ric h st, k lin g t e s, a ls ä u ß e rte st d u e in e n re lig iö se n G la u b e n s satz«, sagte ich. »G la u b e n u r, w a s d u w illst«, a n tw o rte te D o n Ju a n u n g e rü h rt. »T a tsa c h e ist, d a ß e s o h n e d e n N a g u a l n ic h ts z u g e w in n e n g ib t. D as w eiß ich, und d as sage ich. U nd d as sagten alle N aguals. d ie m ir vo rausgegangen sind . A b er sie sagten es nicht aus einer H altung d es E igend ünkels, und ich auch n i c h t . D ie A ussage, d aß es keinen W eg o hne N agual gib t, b ezieht sich ausschließ lich auf d ie T atsache, d aß d ie b etreffend e P erso n, d er N agual, e in N agual ist, w e il e r d a s A b stra k te , d e n G e ist b e sse r re fle k tie re n k a n n a ls a n d ere. D as ist ab er auch alles. U nsere V erb ind ung b esteht m it d em G e ist se lb st, u n d n u r n e b e n b e i m it d e r P e rso n , d ie u n s d e sse n B o tschaft b ringt.« D ann lernte ich tatsächlich, D o n Juan stillschw eigend als N agual z u v e rtra u e n , u n d d ie s b ra c h te m ir, w ie e r g e sa g t h a tte , e in e u n g e h e u re B e fre iu n g u n d e in e g e ste ig e rte F ä h ig k e it, a n z u n e h m e n , w as er m ich zu lehren versuchte. V ie l N a c h d ru c k le g te e r b e i se in e n L e h re n a u f d a s E rk lä re n u n d 22
E rörtern des M ontagepunktes. So fragte ich i h n einm al, ob der M ontagepunkt etw as m it dem physischen K örper zu tun hätte. »E r h at n ich ts d am it zu tu n . w as w ir n o rm alerw eise als K ö rp er w ah rn eh m en «, sagte er. »E r ist T eil d er leu ch ten d en E igestalt. das heißt, unserer E nergie selbst.« »A uf w elche W eise w ird er verschoben?« fragte ich. »D urch E nergieström e. D urch Strom stöße einer E nergie, deren U rsprung außerhalb oder innerhalb unserer E nergiegestalt liegen kann. D ies sind m eist unvorhersehbare Ström e, die zufällig auftreten, aber bei Z auberern sind es höchst vorhersehbare Ström e, die der A bsicht des Z auberers gehorchen.« »K annst auch du diese Ström e fühlen?« »Jeder Z auberer kann es, ja jedes m enschliche W esen. A ber die D urchschnittsm enschen sind zu em sig m it ihren eigenen A ngele genheiten beschäftigt, um auf solche G efühle zu achten.« »W ie fühlen solche Ström e sich an?« »W ie ein leichtes U nbehagen, ein unbestim m tes G efühl der T rau rigkeit, unm ittelbar gefolgt von einer E uphorie. W eil aber w eder die T raurigkeit noch die E uphorie erklärbare U rsachen haben, be trachten w ir sie niem als als authentische A ngriffe des U nbekann t e n , sondern als unerklärliche, unbegründete Stim m ungen.« »W a s ge sc h ie h t, w e n n d e r M o n ta ge p u n k t sic h a u ß e rh a lb d e r E nergiegestalt bew egt? Schw ebt er dort draußen? O der ist er m it der leuchtenden K ugel verbunden?« »E r beult die K ontur der E nergiegestalt aus. ohne deren energe tische G renzen aufzubrechen.« D as E ndergebnis einer B ew egung des M ontagepunkts, erklärte D on Juan, sei eine völlige V eränderung der E nergiegestalt eines M en sch en . S tatt ein er K u gel- o d er e i n e r E ifo rm n eh m e er d as A ussehen etw a einer P feife a n . D as E nde des M undstücks bildet d er M o n tagep u n kt, u n d d er P feifen ko p f w äre d as. w as vo n d er leuchtenden K ugel bleibe. W enn der M ontagepunkt sich w eiter bew egt, kom m t ein A ugenblick, da die leuchtende K ugel zu einer dünnen E nergielinie w ird. W eiter erklärte D on Juan, die a l t e n Zauberer w ären die einzigen gew esen, denen diese großartige V erw andlung ihrer E nergiege sta lt ge la n g. Ic h fra gte i h n . o b d ie se Z a u b e re r, in ih re r n e u e n E nergiegestalt, noch M enschen gew esen w ären?
»N a tü rlic h w a re n sie n o c h M e n sc h e n «, sa g te e r. »A b e r m ir sc h e in t, d u m ö c h te st e ig e n tlic h w isse n , o b sie n o c h v e rn u n ftb e gab te M enschen w aren, vertrauensw ürd ige P erso nen. N un, nicht ganz.« »In w elcher H insicht w aren sie and ers? « »In ih re n In te re sse n . M e n sc h lic h e S o rg e n u n d B e stre b u n g e n hatten für sie keinerlei B ed eutung m ehr. A uch hatten sie d efinitiv ein neues A ussehen.« »D u m einst, sie sahen nicht m ehr aus w ie M enschen? « »S chw er zu sagen, w ie es um d iese Z aub erer stand . G ew iß sahen sie no ch aus w ie M enschen. W ie hätten sie d enn aussehen so llen? A b er sie w aren nicht ganz d as, w as d u und ich erw arten w ürd en. W e n n ic h sa g e n so llte , in w e lc h e r H in sic h t sie a n d e rs w a re n , m ü ß te ic h m ic h im K re is d re h e n w ie e in H u n d , d e r sic h in d e n Schwanz beißen w ill.« »H a st d u e in e n d ie se r M ä n n e r g e k a n n t, D o n Ju a n ? « »Ja , ic h h a b e e in e n k e n n e n g e le rn t.« »W ie sah er aus?« »W a s d a s Ä u ß e re b e trifft, sa h e r a u s w ie e in n o rm a le r M e n sc h . S ein V erhalten allerd ings w ar ungew ö hnlich.« »In w elcher H insicht w ar es ungew ö hnlich? « »Ic h k a n n d ir n u r sa g e n , d a ß d a s V e rh a lte n d e s Z a u b e re rs, d e n ic h k e n n e n le rn te , je d e r V o rste llu n g sp o tte t. D o c h e s w ä re irre fü h re n d , e s n u r a ls e in e F ra g e d e s V e rh a lte n s a u fz u fa sse n . T a tsä c h lic h ist e s e tw a s, d a s d u seh en m u ß t. u m e s z u w ü rd igen.« »W aren alle Z aub erer w ie j e n e r , d en d u gekannt hast? « »S icherlich nicht. Ich w eiß nicht, w ie d ie and eren w aren, ab gesehen vo n Z aub erergeschichten, d ie üb er d ie G eneratio nen üb erliefe rt w e rd e n . U n d d ie se G e sc h ic h te n sc h ild e rn sie a ls z ie m lic h bizarr.« »D u m einst, m o nströ s? « »G anz und gar nicht. E s heiß t, sie w ären sehr lieb ensw ürd ig ge w esen, aber unheim lich. S ie w aren irgendw ie unbekannte W esen. W a s d ie M e n sc h h e it z u e in e r h o m o g e n e n G a ttu n g m a c h t, ist d ie T atsache, daß w ir alle leuchtende K ugeln sind. U nd diese Z aubere r w a re n k e in e E n e rg ie k u g e ln m e h r, so n d e rn L in ie n v o n E n e rg ie , d ie v e rsu c h te n , sic h z u m K re is z u b ie g e n , w a s ih n e n n ic h t ganz gelang.«
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»W as geschah endlich m it ihnen, D on Juan? Sind sie gestorben?« »D ie Z a u b e re rge sc h ic h te n sa ge n , d a ß sie , w e il sie ih re G e sta lt strecken konnten, auch fähig w aren, die D auer ihres B ew ußtseins au szu d eh n en . D aru m sin d sie b is zu m h eu tigen T ag b ew u ß t u n d leb en d ig. E s gib t G esch ich ten ü b er ih r p erio d isch es E rsch ein en auf E rden.« »W as hältst du selbst von alledem , D on Juan?« »F ü r m ic h ist e s z u a b su rd . Ic h b ra u c h e F re ih e it. D ie F re ih e it, m e in B e w u sstse in z u b e h a lte n u n d d e n n o c h fo rtz u ge h e n in d ie U nendlichkeit. M einer M einung nach w aren diese alten Z auberer zü gello se u n d kap riziö se L eu te, d ie ih ren eigen en In trigen zu m O pfer gefallen sind. A ber laß dich nicht von m einen persönlichen A nsichten beeinflus se n . D ie L e istu n g d e r a lte n Z a u b e re r ist d e n n o c h b e isp ie llo s. Z u m in d est h ab en sie u n s b ew iesen , d aß m an d ie M ö glich keiten des M enschen nicht unterschätzen s o llte .« E in w eiteres T hem a, das D on Juan m ir erklärte, w ar die N otw en digkeit energetischer K ohäsion und G leichförm igkeit als V oraus se tz u n g d e r W a h rn e h m u n g. E r b e h a u p te te , d a ß w ir M e n sc h e n unsere W elt, w ie w ir sie kennen, nur deshalb so w ahrnehm en, w ie w ir es tun, w eil uns K ohäsion und energetische G leichförm igkeit gem ein sam sin d . D iese b eid en E n ergie-Z u stän d e erreich en w ir ganz autom atisch im V erlauf unserer E rziehung und halten sie für so selbstverständlich, daß w ir ihre große B edeutung nicht erkennen, bis w ir m it der M öglichkeit konfrontiert sind, andere W elten w ahrzunehm en als diese eine, die w ir kennen. In solchen A ugen blicken zeige sich aber, daß w ir eine angem essene, neue energe tische G leichförm igkeit und K ohäsion brauchen, um zusam m en hängend und um fassend w ahrzunehm en. Ich fragte i h n . w as solche G leichförm igkeit und K ohäsion denn seien , u n d er erklärte m ir, d aß d ie E n ergiegestalt d er M en sch en insofern gleichförm ig sei, als a l l e M enschen auf dieser E rde die F o rm e in e r K u ge l o d e r e in e s E is h ä tte n . D ie T a tsa c h e , d a ß d ie E nergie des M enschen in E i- oder K ugelform zusam m engehalten w erd e, sei d o ch B ew eis fü r ih re K o h äsio n . E in B eisp iel fü r ein e neue G leichförm igkeit und K ohäsion, sagte er, w äre die E nergie gestalt der alten Z auberer, w enn sie sich zur L inie streckten: jeder vo n ih n en w u rd e gleich fö rm ig zu ein er L in ie, u n d b lieb zu sam m en h än gen d als L in ie. G leich fö rm igkeit u n d Z u sam m en h alt als
L inie erlaub ten es d iesen a l t e n Z aub erern, eine ho m o gene neue W elt w ahrzunehm en. »W ie kann m an G leichfö rm igkeit und K o häsio n erw erb en? « fragte ich. »D er S chlüssel ist d ie P o sitio n d es M o ntagep unktes, o d er v i e l m ehr d ie F ixierung d es M o ntagep unktes«, sagte er. D ies w ollte er dam als nicht w eiter erläutern, und darum fragte ich ih n , o b je n e a lte n Z a u b e re r z u r E ig e sta lt h ä tte n z u rü c k k e h re n können. Irg e n d w a n n h ä tte n sie d ie s g e k o n n t, sa g te e r, a b e r sie ta te n e s nicht. U nd d ann setzte d ie K o häsio n d er L inie ein und m achte es ih n e n u n m ö g lic h , z u rü c k z u k e h re n . W a s a b e r e ig e n tlic h d ie se n Z u sa m m e n h a lt a ls L in ie h e rb e ifü h rte u n d m ith in d ie Z a u b e re r hind erte, einen R ückw eg zu find en, hatte etw as m it U nb eschei d e n h e it u n d W illk ü r z u tu n . D e r U m fa n g d e sse n , w a s d ie se Z aub erer als E nergielinien w ahrnehm en und b ew irken ko nnten, w a r u n e rm e ß lic h v ie l w e ite r a ls d a s, w a s e i n d u rc h sc h n ittlic h e r M ensch o d er d urchschnittlicher Z aub erer tun o d er w ahrnehm en könnte. B e i e in e r k u g e lfö rm ig e n E n e rg ie fo rm a tio n , e rk lä rte e r m ir, b e stü n d e d e r m e n sc h lic h e B e re ic h a u s je n e n E n e rg ie fa se rn , d ie d u rc h d e n R a u m in n e rh a lb d e s K u g e lu m fa n g s h in d u rc h g in g e n . N o rm alerw eise nähm en w ir näm lich nicht d en ganzen m ensch lic h e n B e re ic h w a r, sa g te e r, so n d e rn v ie lle ic h t e in T a u se n d ste l d a v o n . D ie s a lle in z e ig e d ie U n g e h e u e rlic h k e it d e sse n , w a s d ie alten Z auberer taten; sie streckten sich zu einer L inie, tausendm al w e ite r a ls d e r K u g e lu m fa n g m e n sc h lic h e r E n e rg ie , w o b e i sie sä m tlic h e E n e rg ie fa se rn w a h rn e h m e n k o n n te n , d ie d ie se L in ie schnitten. V on D on Juan angeleitet, gab ic h m ir die allergrößte M ühe, dieses von ihm entw orfene M odell der E nergie-K onfiguration zu begreifen . U nd endlich kapierte ich die V orstellung von E nergiefasern im Inneren w ie auß erhalb d er m enschlichen K ugelgestalt. W enn ich m ir a b e r e in e M e h rz a h l le u c h te n d e r K u g e ln d a c h te , b ra c h d a s M odell für m ich zusam m en. B ei vielen K ugeln nebeneinander, so dachte ich, m üßten jene E nergiefasern, die außerhalb einer K ugel sin d , z w a n g slä u fig im In n e re n e in e r a n g re n z e n d e n K u g e l se in . A lso k o n n te e s b e i e in e r M e h rz a h l v o n K u g e ln k e in e E n e rg ie fäd en auß erhalb vo n leuchtend en K ugeln geb en. 26
»Gewiß ist es eine Zumutung für deine Rationalität, all dies zu verstehen«, antwortete Don Juan, nachdem er sich meinen Ein wand angehört hatte. »Ich kann dir nicht erklären, was die Zauberer unter solchen Fasern im Inneren und außerhalb der menschlichen Gestalt verstehen. Wenn Seher die menschliche Energiegestalt sehen, dann sehen sie eine einzelne Energiekugel. Gibt es daneben noch eine weitere Kugel, so wird diese Kugel wiederum als einzelne Energiekugel gesehen. Die Vorstellung einer Mehrzahl leuchtender Kugeln stammt aus deiner Kenntnis menschlicher Massen. Im Universum der Energie gibt es nur ein zelne Individuen - allein, umgeben vom Grenzenlosen. Und dies mußt du selbst sehen!« Damals widersprach ich Don Juan und meinte, daß es sinnlos sei, mir zu sagen, ich solle es selbst sehen, da er doch wisse, daß ich dies nicht könne. Und er schlug vor, ich solle mir seine Energie borgen und sie zum Sehen benutzen. »Wie kann ich das tun? Deine Energie borgen?« »Ganz einfach. Ich kann bewirken, daß dein Montagepunkt sich in eine andere Position verlagert, die besser geeignet ist, Energie unmittelbar wahrzunehmen.« Dies war das erste Mal, soweit ich mich erinnere, daß er aus drücklich über etwas sprach, das er schon die ganze Zeit getan hatte: nämlich mich in einen unbegreiflichen Bewusstseinszustand zu versetzen, der meiner Vorstellung von der Welt und mir selbst widersprach - einen Zustand, den er die zweite Aufmerksamkeit nannte. Um also meinen Montagepunkt in eine Position zu verla gern, die besser geeignet war, Energie direkt wahrzunehmen, gab Don Juan mir einen Schlag auf den Rücken, zwischen den Schul terblättern, und mit solcher Gewalt, daß ich den Atem anhalten mußte. Ich glaubte, ich wäre ohnmächtig geworden, oder sei durch die Wirkung des Schlages in den Schlaf versetzt. Plötzlich sah ich etwas, oder träumte, etwas zu sehen, das buchstäblich mit Worten nicht zu beschreiben war. Strahlende Lichtfäden kamen von überallher, gingen überallhin - unvergleichbar mit allem, was ich mir je vorgestellt hätte. Als ich wieder atmen konnte, oder als ich erwachte, fragte mich Don Juan erwartungsvoll: »Was hast du gesehen?« Und e, bog sich vor Lachen, als ich ihm wahrheitsgemäß antwortete: »Ich habe Sterne gesehen - von deinem Schlag.«
Dann sagte er, daß ich noch nicht bereit sei, die außerordentliche Erfahrung zu verstehen, die ich eben gehabt hätte. »Ich habe be wirkt, daß dein Montagepunkt sich verlagerte«, fuhr er fort, »und für einen Augenblick träumtest du die Energiefasern des Univer sums. Was dir aber fehlte, war Energie oder Entschlossenheit, deine Kohäsion und Gleichförmigkeit neu zu arrangieren. Die alten Zauberer waren Meister solchen Neu-Arrangierens. Darum sahen sie alles, was Menschen sehen können.« »Was bedeutet es. Gleichförmigkeit und Zusammenhalt neu zu arrangieren?« »Es bedeutet, in die zweite Aufmerksamkeit einzutreten, indem man den Montagepunkt in seiner neuen Position festhält und ihn daran hindert, an seine ursprüngliche Stelle zurückzugleiten.« Dann gab mir Don Juan eine überlieferte Definition der zweiten Aufmerksamkeit. Die alten Zauberer, sagte er. bezeichneten das Resultat solcher Fixierung des Montagepunktes in neuen Positionen als zweite Aufmerksamkeit und behandelten die zweite Auf merksamkeit als eine Sphäre allumfassender Aktivität, ähnlich wie die Aufmerksamkeit des Alltagslebens es ist. Er betonte, daß die Zauberer eigentlich zwei abgeschlossene Bereiche ihres Stre bens kennen: einen kleineren, den sie als erste Aufmerksamkeit bezeichnen - als Alltagsbewußtsein oder Fixierung des Montage punktes in seiner gewohnten Position; und einen viel größeren Bereich, nämlich die zweite Aufmerksamkeit - die Bewußtheit anderer Welten oder die Fixierung des Montagepunktes in einer von unzähligen neuen Positionen. Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit ließ Don Juan mich un begreifliche Dinge erleben, und zwar durch einen Kunstgriff der Zauberer, wie er es nannte: er gab mir einen leichten Schlag auf den Rücken, manchmal auch einen kräftigen Schlag, etwa in Höhe der Schulterblätter. Dadurch verschob er meinen Montagepunkt, wie er erklärte. Aus meiner Erfahrung betrachtet, bedeuteten solche Verschiebungen, daß mein Bewusstsein in einen höchst unheimlichen Zustand nie gekannter Klarheit geriet - ein Zustand der Überbewußtheit, in dem ich zeitweilig alles voraussetzungslos verstand. Es war kein ganz angenehmer Zustand. Meistens war es wie ein seltsamer Traum, so intensiv, daß normale Bewußtheit im Vergleich dazu verblaßte. Don Juan erklärte mir, daß ein solcher Kunstgriff unverzichtbar 28
sei. Denn im normalen Bewusstseinszustand müsse ein Zauberer seinen Schülern die Grundbegriffe und praktischen Übungen ver mitteln und in der zweiten Aufmerksamkeit dann die abstrakten, ausführlicheren Erklärungen geben. Normalerweise erinnerten sich die Schüler gar nicht an diese Er klärungen, sagte er. aber irgendwie könnten sie diese speichern und wortgetreu im Gedächtnis bewahren. Die Zauberer nutzten dabei eine scheinbare Besonderheit unseres Gedächtnisses und hätten folglich die Erinnerung all dessen, was ihnen in der zweiten Aufmerksamkeit widerfahre, zu einer der schwierigsten und kom plexesten traditionellen Aufgaben der Zauberei entwickelt. Diese scheinbare Besonderheit des Gedächtnisses und die Arbeit des Erinnerns erklärten die Zauberer nun in der Weise, daß der Montagepunkt jedesmal, wenn man in die zweite Aufmerksamkeit eintritt, eine andere Position einnimmt. Erinnern bedeute also, den Montagepunkt in genau die Position zurückzubringen, die er zu dem Zeitpunkt einnahm, als jenes Eintreten in den Zustand der zweiten Aufmerksamkeit stattfand. Don Juan überzeugte mich, daß die Zauberer nicht nur das totale und absolute Gedächtnis hätten, sondern daß sie auch jede Erfahrung erinnern könnten, die sie im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit machten: nämlich indem sie ihren Montagepunkt in die entsprechende Position zurückführten. Dieser Arbeit des Erinnerns. versicherte er mir, widmeten die Zauberer sich Zeit ihres Lebens. Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit gab Don Juan mir sehr ausführliche Erklärungen der Zauberei, wobei er wußte, daß diese Unterweisungen bei mir wortgetreu erhalten bleiben würden, für die Zeit meines Lebens. Zur Qualität solcher wortgetreuen Erinnerung bemerkte er: »Im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit etwas zu lernen, ist ge nauso, wie wenn wir als Kinder etwas lernen. Was wir lernen, bleibt uns ein Leben lang erhalten. >Es ist mir zur zweiten Natur gewordene sagen wir etwa, wenn wir etwas meinen, das wir sehr früh im Leben gelernt haben.« Von meinem heutigen Standpunkt betrachtet, erkenne ich. daß Don Juan mich so oft wie möglich in die zweite Aufmerksamkeit eintreten ließ und mich zwang, für lange Zeitspannen neue Posi tionen meines Montagepunktes festzuhalten und in diesem Zu stand kohärente Wahrnehmungen zu machen; das heißt, er wollte
m ich dazu zw ingen, m eine G leichförm igkeit und K ohäsion neu zu arrangieren. E s gelang m ir unzählige M ale, alles so exakt w ahrzunehm en, w ie ich im A lltag w ahrzunehm en p flege. M ein P ro b lem lag in m einer U nfähigkeit, eine B rücke zw ischen m einem H andeln in der zw eite n A u fm e rk sa m k e it u n d m e in e m A llta g sb e w u ß tse in h e rz u ste llen. E s ko stete m ich viel Z eit und M ühe, b is ich verstand , w as d ie zw eite A ufm erksam keit sei. W eniger w egen d er K o m p liziertheit d e s S a c h v e rh a lts, d ie a lle rd in g s b e trä c h tlic h ist. so n d e rn w e il e s m ir, w ieder zurück in m einem norm alen B ew ußtseinszustand. unm ö g lic h w a r, m ic h z u e rin n e rn : n ic h t n u r, d a ß ic h in d ie z w e ite A u fm e rk sa m k e it e in g e tre te n w a r, so n d e rn d a ß e s ü b e rh a u p t e inen so lchen Z ustand gab . E in e w e ite re g ro ß e E n td e c k u n g d e r a lte n Z a u b e re r w a r, so e r k lä rte m ir D o n Ju a n , d a ß d e r M o n ta g e p u n k t sic h im S c h la f se h r le ic h t v e rsc h ie b t. D ie s fü h rte sie z u e in e r w e ite re n E rk e n n tn is: d a ß d ie T rä u m e d u rc h a u s e tw a s m it d ie se r V e rsc h ie b u n g z u tu n h a b e n . D ie a lte n Z a u b e re r sa h en : je g rö ß e r d ie V e rsc h ie b u n g , desto ungew öhnlicher der T raum um gekehrt; je ungew öhn und licher der T raum , desto größer die V erschiebung. D iese B eobach tung veranlaß te sie, w ie D o n Juan sagte, raffinierte T echniken zu ersinnen, um eine V erschieb ung d es M o ntagep unktes zu erzw ing e n . S o e tw a n a h m e n sie P fla n z e n e i n , d ie v e rä n d e rte B e w u ß t seinszuständ e hervo rrufen kö nnen; sie setzten sich Z uständ en w ie H u n g e r, E rsc h ö p fu n g o d e r S tre ß a u s; u n d sie su c h te n v o r a lle m ih re T rä u m e z u k o n tro llie re n . A u f d ie se W e ise , u n d v i e l l e i c h t ganz unw issentlich, b egründ eten sie d ie K unst d es T räum ens. E ines T ages, w ährend w ir um d ie P laza d er S tad t O axaca schlend e rte n , g a b m ir D o n Ju a n d ie k la rste D e fin itio n d e s T rä u m e n s. v o m S ta n d p u n k t d e s Z a u b e re rs. »D ie Z aub erer b etrachten d as T räum en als eine ho chentw ickelte K u n st«, sa g te e r. »N ä m lic h d ie K u n st, d e n M o n ta g e p u n k t a b sic h tlic h a u s se in e r ü b lic h e n P o sitio n z u v e rsc h ie b e n , u m d e n B e re ic h d e sse n z u ste ig e rn u n d z u e rw e ite rn , w a s d e r M e n sc h w ahrnehm en kann.« E r sagte m ir, d aß d ie alten Z aub erer d ie K unst d es T räum ens auf fünf B edingungen gründeten, die sie im E nergiefluß m enschlicher Wesen sahen. Sie sahen, erstens, daß nur jene Energiefasern, die direkt durch 30
d en M o ntagep unkt hind urchgehen, zu ko härenten W ahrnehm ungen zusam m engesetzt w erd en kö nnen. S ie sa h en . zw eitens, d aß - w enn d er M o ntagep unkt in eine and ere P o sitio n verscho b en w ird , und sei d ie V erschieb ung no ch so gering - and ere und ungekannte E nergiefasern d urch ihn hind urchgehen, d ie d as B ew usstsein aktivieren: d ad urch ko m m t es zu einer Z u sa m m e n se tz u n g d ie se r u n g e k a n n te n E n e rg ie fe ld e r z u e in e r k la re n , k o h ä re n te n W a h rn e h m u n g . S ie sa h en , d ritte n s, d a ß d e r M o n ta g e p u n k t - b e i g e w ö h n lic h e n T rä u m e n - sic h le ic h t v o n se lb st in e in e a n d e re P o sitio n a n d e r O b erfläche o d er im Innern d er leuchtend en E igestalt verschiebt. S ie sa h en , v ie rte n s, d a ß d e r M o n ta g e p u n k t v e ra n la ß t w e rd e n k a n n , sic h in P o sitio n e n a u ß e rh a lb d e r le u c h te n d e n E ig e sta lt z u b ew egen: in d ie E nergiefasern d es gesam ten U niversum s. U n d sie sa h en , fü n fte n s, d a ß e s d u rc h D isz ip lin m ö g lic h ist. im S chlaf, bei gew öhnlichen T räum en, e in e system atische V erschieb u n g d e s M o n ta g e p u n k te s z u e rre ic h e n u n d e in z u ü b e n .
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2. Die erste Pforte des Träumens
Der ersten Lektion in der Kunst des Träumens schickte Don Juan die Worte voraus, daß ich mir die zweite Aufmerksamkeit als Pro gression denken müsse: anfangs nur eine Idee, die uns eher kurios denn als wirkliche Möglichkeit erscheint, wird sie für uns zur kör perlichen Empfindung, und schließlich zu einem Daseinszustand, zur praktischen Anwendung einer überlegenen Macht, die uns Welten jenseits unserer kühnsten Phantasie eröffnet. Zwei Möglichkeiten haben die Zauberer, um die Zauberei zu erklären. Zum einen können sie metaphorisch von einer Welt magischer Dimensionen sprechen; zum anderen können sie ihr Anliegen in abstrakten Begriffen der Zauberei erklären. Ich bevorzuge stets die letztere, obwohl keine der beiden Möglichkeiten das rationale Denken eines im Sinne westlicher Kultur gebildeten Menschen befriedigen kann. Wenn Don Juan die zweite Aufmerksamkeit metaphorisch im Sinne einer Progression beschrieb, so deshalb, weil diese - als Nebenprodukt der Verschiebung des Montagepunktes- sich nicht von selbst einstellt, sozusagen natürlich, sondern beabsichtigt werden muß. Dabei wird sie anfangs als Vorstellung intendiert, und schließlich als eine stetige, bewußt kontrollierte Verschie bung des Montagepunktes. »Ich werde dich also den ersten Schritt zur Kraft lehren«, sagte Don Juan am Anfang seiner Unterweisung in der Kunst des Träu mens. »Ich werde dich lehren, das Träumen zu arrangieren.« »Was bedeutet es, das Träumen zu arrangieren?« »Das Träumen zu arrangieren bedeutet, eine exakte und praktische Kontrolle über die allgemeine Situation eines Traumes zu haben. Du träumst zum Beispiel, du bist in deinem Hörsaal an der Universität. Das Träumen zu arrangieren bedeutet nun, daß du diesen Traum nicht in einen anderen abgleiten lässt. Du springst also nicht etwa vom Hörsaal in die Berge. Mit anderen Worten, du kontrollierst den Anblick des Hörsaals und lässt ihn nicht los, bevor du dies willst.« 32
»Ist so etw as ab er m ö glich? « »N atürlich ist es m ö glich. S o lch eine K o ntro lle unterscheid et sich n ic h t v o n d e r K o n tro lle ü b e r je d e b e lie b ig e S itu a tio n d e s tä g lichen L eb ens. A ufgrund ihrer Ü b ung kö nnen d ie Z aub erer d iese K o n tro lle a u sü b e n , w a n n im m e r sie w o lle n . U m d ic h se lb st z u üben, sollst du am A nfang etw as ganz E infaches tun. H eute A bend so llst d u zum B eisp iel im T raum d eine H änd e anschauen.« V ie l m e h r w u rd e d a rü b e r, im Z u sta n d d e s A llta g sb e w u ß tse in s, nicht gesp ro chen. A ls ich m ich ab er an m eine E rfahrungen in d er z w e ite n A u fm e rk sa m k e it e rin n e rte , w u rd e m ir k la r, d a ß w ir e in viel ausführlicheres G esp räch hatten. Ich kritisierte zum B eisp iel d ie A b su rd itä t e in e s so lc h e n V o rh a b e n s, u n d D o n Ju a n e m p fa h l m ir, d ie S ache d o ch als einen unterhaltsam en V ersuch aufzufasse n , n ic h t so e rn st u n d sc h w e r. »S o la n g e w ir ü b e r d a s T rä u m e n sp re c h e n , k a n n st d u tie fg rü n d ig se in , w ie d u w illst«, sa g te e r. »E rk lä ru n g e n v e rla n g e n ste ts schw ierige G ed anken. W enn d u ab er träum st, so llst d u d ich ganz le ic h t m a c h e n . D a s T rä u m e n so ll e rn sth a ft b e trie b e n w e rd e n , a b e r frö h lic h u n d m it d e r Z u v e rsic h t e in e s so rg lo se n M e n sc h e n . N ur unter dieser B edingung können sich deine T räum e tatsächlich zum T räum en w eiterentw ickeln.« D o n Juan versicherte, d aß er m ir ganz w illkürlich d en R at gegeb e n h a b e , im T ra u m m e in e H ä n d e a n z u se h e n . E tw a s a n d e re s w ä re g e n a u so g u t g e e ig n e t. Z ie l d e r Ü b u n g se i n ic h t, e tw a s B e stim m te s z u su c h e n , so n d e rn m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it z u aktivieren. D ie T ra u m -A u fm e rk sa m k e it se i e in e A rt v o n K o n tro lle ü b e r d ie e ig e n e n T rä u m e , sa g te D o n J u a n , d ie w ir a u sü b e n , u m u n se re n M o ntagep unkt in einer neuen P o sitio n, in d ie er sich b eim T räum en verscho b en hat, zu fixieren. E r nannte d ie T raum -A ufm erksa m k e it e in e u n b e g re iflic h e F ä h ig k e it u n se re s B e w u ß tse in s, d ie im m e r v o rh a n d e n ist u n d n u r d a ra u f w a rte t, d a ß w ir sie a k tiv ie ren: d as heiß t i h r ein Z iel geb en. D iese geheim e F ähigkeit hätten w ir a lle in R e se rv e , o h n e d a ß w ir je d ie C h a n c e h ä tte n , sie im A lltagsleb en zu nutzen. M e in e e rste n V e rsu c h e , im T ra u m n a c h m e in e n H ä n d e n z u su chen, w aren ein F iasko. N ach M onaten erfolgloser M ühen gab ich auf und klagte w ied er b ei D o n Juan üb er d ie A b surd ität eines solchen V orhabens. 33
»Es gibt sieben Pforten des Träumens«. antwortete er, »und die Träumer müssen alle sieben aufstoßen, eine nach der anderen. Du stehst vor der ersten Pforte, die sich auftun muß. damit du träumen kannst.« »Warum hast du das nicht früher gesagt?« »Es hätte keinen Sinn gehabt, dir von den Pforten des Träumens zu erzählen, bevor du nicht selbst mit dem Kopf gegen die erste ranntest. Jetzt weißt du. sie ist ein Hindernis, das du überwinden mußt.« Don Juan erklärte, daß es im Energiefluß des Universums so etwas wie Ein- und Ausgänge gibt, und im Fall des Träumens eben sieben Eingänge, die wir als Hindernisse erleben und die der Zauberer als die sieben Pforten des Träumens bezeichnet. »Die erste Pforte ist eine Schwelle, die wir überschreiten, indem wir uns vor dem Einschlafen eine bestimmte Empfindung bewußt machen«, sagte er. »Eine Empfindung, die wie ein angenehmes Schweregefühl ist und uns nicht erlaubt, die Augen zu öffnen. Die erste Pforte haben wir erreicht, wenn wir bewußt einschlafen und uns auflösen in Dunkelheit und Schwere.« »Wie kann ich mir bewußt machen, daß ich einschlafe? Gibt es da Regeln zu befolgen?« »Nein, es gibt keine Regeln. Man beabsichtigt einfach, bewußt einzuschlafen. Doch über die Absicht und das Beabsichtigen können wir noch nicht sprechen: es wäre zu schwierig. Jeder Versuch, es zu erklären, wäre lächerlich. Darum wundere dich nicht, wenn ich dir sage: Die Zauberer beabsichtigen alles, was sie beabsichtigen wollen, einfach indem sie es beabsichtigen.« »Das besagt doch nichts. Don Juan.« »Paß auf. Eines Tages wirst du an der Reihe sein, es anderen zu erklären. Dieser Satz kommt dir sinnlos vor. weil du ihn nicht in den richtigen Kontext stellst. Du glaubst. Verstehen sei nur eine Sache der Vernunft, des rationalen Denkens. Für die Zauberer ist Verstehen - und hier spreche ich von Absicht und Beabsichtigen eine Sache der Energie. Die Zauberer glauben, daß dieser Satz, wenn du ihn für den Energiekörper beabsichtigst, vom Energiekörper ganz anders aufgefaßt wird als vom Verstand. Du mußt den Energiekörper erreichen, und dazu brauchst du Energie.« »Wie faßt der Energiekörper diesen Satz auf. Don Juan?« 34
»A ls eine körperliche E m pfindung, die schw er zu beschreiben ist. D u m ußt es selbst erleben, dann w eißt du. w as ich m eine.« Ich w ünschte m ir präzisere E rklärungen, aber D on Juan gab m ir ein en S ch lag au f d en R ü cken u n d versetzte m ich in d ie zw eite A u fm erksam keit. W as er d a m ach te u n d w ie er es m ach te, w ar m ir dam als noch völlig rätselhaft. Ich hätte geschw oren, daß er m ich durch den körperlichen K ontakt hypnotisierte. M ir w ar also, a ls h a b e e r m ic h a u ge n b lic k lic h in S c h la f v e rse tz t, u n d ic h träum te, daß ich. m it ihm zusam m en, auf einer breiten, baum be standenen A llee spazierenging, in einer m ir unbekannten Stadt. D er T raum w ar so lebhaft, und alles w ar m ir so klar bew ußt. daß ich m ich gleich zu orientieren suchte, indem ich die Straßenschilder las und neugierig die M enschen anschaute. E s w ar keine Stadt der englisch- oder spanischsprechenden W elt, sondern es w ar eine S tadt des w estlichen K ulturkreises. D ie M enschen w irkten w ie N ordeuropäer - vielleicht w aren es Litauer. Ich beschäftigte m ich noch im m er m it dein E ntziffern von Straßenschildern und R ekla m etafeln. D on Juan stieß m ich leicht in die Seite. »H alte dich m it so etw as nicht auf«, sagte er. »W ir s in d an keinem bestim m baren O rt. Ich habe dir m eine E nergie geborgt, dam it du deinen E nergiekörper erreichen kannst, und m it i h m bist du eben in eine andere W elt übergew echselt. E s w ird nicht lange dauern, darum nutze klug die Zeit. Schau dir alles an, und tu es unauffällig. G ib a c h t , daß dich nie m and en td eckt.« Schw eigend gingen w ir e in paar Straßen w eiter, w as e in e sonder bare W irkung auf m ich hatte. Je w eiter w ir gingen, desto stärker m achte sich e in A ngstgefühl in der M agengrube bem erkbar. M ein V erstand w ar neugierig, aber m ein K örper w ar alarm iert. M ir w ar völlig k l a r , daß ich m ich nicht in dieser unserer W elt befand. A ls w ir an eine K reuzung kam en und stehenblieben, sah ich. daß die B äum e an dieser S traße sorgfältig beschnitten w aren. E s w aren k le in e B ä u m e m it h a rte n , e in ge ro llte n B lä tte rn . A lle B ä u m e hatten unten, w ohl zur B ew ässerung, ein großes R echteck offener E rde. D ort gab es kein U nkraut und keine A bfälle, w ie m an sie u n ter städ tisch en A lleeb äu m en fin d et, n u r d iese ko h lsch w arze, lockere E rde rund um den Stam m . A ls ich nun m einen B lick auf den B ordstein richtete, kurz bevor
ich auf die Straße treten wollte, fiel mir auf, daß es hier keine Autos gab. Ich beobachtete die vorbeikommenden Menschen, um vielleicht etwas zu entdecken, das meine Angst erklären konnte. Während ich sie anstarrte, begannen sie auch mich anzustarren. Sofort bildete sich ein Kreis von hart blickenden, blauen und braunen Augen um uns. Plötzlich hatte ich die Gewißheit. daß dies kein Traum war! Wir waren in einer anderen Realität als jener, die ich als meine Realität kannte. Ich sah mich um nach Don Juan. Mir war, als wüßte ich nun. was an diesen Menschen so fremd war - aber jetzt fuhr mir ein sonderbar trockener Wind ins Gesicht, bis hinauf in die Nasenhöhlen, und nahm mir die Sicht: und ich vergaß, was ich zu Don Juan sagen wollte. Im nächsten Augenblick war ich wieder dort, wo alles angefangen hatte, nämlich in Don Juans Haus. Ich lag zusammengekrümmt auf der Seite, auf einer Strohmatte. »Ich habe dir meine Energie geborgt, und du hast deinen Ener giekörper erreicht«, sagte Don Juan wie selbstverständlich. Ich hörte ihn sprechen, aber ich war wie betäubt. Ein sonderbares Kribbeln im Zwerchfell zwang mich zu flachen, schmerzhaften Atemzügen. Ich wußte, ich war im Begriff gewesen, etwas Tran szendentales über das Träumen und über die Menschen herauszu finden, die ich gesehen hatte. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren auf das. was ich wußte. »Wo waren wir. Don Juan?« fragte ich. »War dies alles nur ein Traum, ein hypnotischer Zustand?« »Es war kein Traum«, antwortete er. »es war das Träumen. Ich habe dir geholfen, die zweite Aufmerksamkeit zu erreichen, damit du begreifst, was Absicht ist - nicht als Sache des Verstandes. sondern des Energiekörpers. Einstweilen wirst du die Bedeutung all dessen noch nicht verstehen; nicht nur, weil du noch nicht genügend Energie hast, sondern weil du noch nicht beabsichtigst. Sonst würde dein Energiekörper unmittelbar verstehen, daß die einzige Art des Beabsichtigens darin besteht, deine Absicht auf das zu richten, was du beabsichtigen willst. Dieses Mal habe ich deine Absicht auf das Erreichen deines Energiekörpers gerichtet.« »Ist es das Ziel des Träumens. den Energiekörper zu beabsichtigen?« fragte ich, einem sonderbaren Gedanken folgend. 36
»Ja, so könnte man es ausdrücken«, sagte er. »In diesem Fall, da wir über die erste Pforte des Träumens sprechen, ist es das Ziel des Träumens. zu beabsichtigen, daß dein Energiekörper sich des Einschlafens bewußt wird. Gib dir aber keine Mühe, dir bewußt zu machen, daß du einschläfst. Laß deinen Energiekörper dies tun. Beabsichtigen heißt Wünschen, ohne zu wünschen, und Tun, ohne zu tun. Akzeptiere einfach das Beabsichtigen«, fuhr er fort. »Sei im Stillen, und ohne jeden Gedanken, davon überzeugt, daß du deinen Energiekörper erreicht hast und daß du ein Träumer bist. Dies wird dich automatisch in die Lage versetzen, dir bewußt zu ma chen, daß du einschläfst.« »Wie kann ich mich überzeugen, daß ich ein Träumer bin. wenn ich es doch nicht bin?« »Sobald du hörst, daß du dich von etwas überzeugen sollst, flüchtest du dich zu deiner Vernunft. Ja. wie kannst du dich überzeugen, daß di' ein Träumer bist, wenn du weißt, daß du es nicht bist? Beabsichtigen ist beides: das Dich - Überzeugen, daß du ein Träu mer bist, auch wenn du noch nie geträumt hast, und das Über zeugtsein davon.« »Du meinst also, ich soll mir sagen, ich sei ein Träumer, und mir alle Mühe geben, es zu glauben? Ist es so?« »Nein, so ist es nicht. Beabsichtigen ist viel einfacher und zugleich unendlich viel komplizierter. Es verlangt Vorstellungskraft. Disziplin und Zielstrebigkeit. In deinem Fall verlangt das Beabsichtigen unbedingtes Wissen deines Körpers, daß du ein Träumer bist. Mit allen Zellen deines Körpers mußt du fühlen und wissen, daß du ein Träumer bist.« Scherzend meinte Don Juan, er habe nicht genügend Energie, um mir noch einmal welche zu borgen. Ich solle selbst lernen, zu beabsichtigen und aus eigener Kraft meinen Energiekörper zu erreichen. Das Beabsichtigen der ersten Pforte des Träumens, sagte er, hätten die alten Zauberer als ein Mittel entdeckt, um die zweite Aufmerksamkeit und den Energiekörper zu erreichen. Mit diesen Worten warf er mich praktisch aus dem Haus und befahl mir. nicht wiederzukehren, bevor ich die erste Pforte des Träumens beabsichtigt hätte. Ich fuhr also wieder nach Hause, und monatelang legte ich mich jeden Abend mit der Absicht zu Bett, mir mühsam bewußt zu
machen, daß ich einschlief, um im Traum meine Hände zu sehen. Der andere Teil der Aufgabe - mich zu überzeugen, daß ich ein Träumer sei und meinen Energiekörper erreicht hätte - war mir ganz unmöglich. Eines Tages dann, bei einem kurzen Mittagsschlaf, träumte mir, ich sähe meine Hände. Es schockierte mich so sehr, daß ich auf wachte. Doch wie sich zeigte, blieb dies ein einmaliger Traum, der sich nicht wiederholte. Wochen vergingen, und es gelang mir nicht, bewußt einzuschlafen oder im Traum meine Hände zu su chen. Irgendwann merkte ich aber, daß ich beim Träumen ein vages Gefühl hatte, als sollte ich etwas tun. woran ich mich nicht erinnern konnte. Das Gefühl wurde so stark, daß es mich fast jede Nacht weckte. Als ich Don Juan von meinen vergeblichen Anstrengungen be richtete, die erste Pforte des Träumens zu durchschreiten, gab er mir wenigstens ein paar Hinweise. »Wenn wir die Träumer auffor dern, im Traum bestimmte Gegenstände zu suchen, so ist dies ein Vorwand«, sagte er. »Tatsächlich geht es nur darum, sich bewußt zu machen, daß man einschläft. Dies geschieht aber seltsamer weise nicht, indem man sich zwingt, sich das Einschlafen bewußt zu machen, sondern indem man das Bild festhält, das man im Traum sieht.« Und er erzählte mir, daß die Träumer mit raschen Blicken alles registrieren, was in einem Traum vorkommt. Wenn sie ihre Traum-Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand richten, so dient ihnen dieser nur als Ausgangspunkt. Nun richten die Träumer ihren Blick auch auf andere Gegenstände, kehren aber möglichst oft zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Mit einiger Mühe fand ich tatsächlich Hände im Traum, aber nie waren es meine. Es waren Hände, die nur scheinbar zu mir gehörten. Sie veränderten dauernd ihre Form und wurden manchmal alptraumhaft bedrohlich. Sonst war der Inhalt meiner Träume meist angenehm gleichmäßig. Fast immer konnte ich das Bild dessen festhalten, worauf ich meine Aufmerksamkeit richtete. Wieder vergingen Monate, bis mein Träumen sich eines Tages scheinbar von selbst veränderte. Ich hatte nichts Besonderes getan - abgesehen von meinem festen Entschluß. mir bewußt zu machen, daß ich einschlief, um meine Hände zu finden. Und nun träumte mir. ich sei zu Besuch in meiner Heimatstadt. 38
Dabei war die Stadt, von der ich träumte, meiner Heimatstadt gar nicht ähnlich: aber irgendwie war ich überzeugt, daß dies die Stadt meiner Geburt sei. Es begann wie ein gewöhnlicher, wenn auch sehr lebhafter Traum. Dann veränderte sich das Licht im Traum. Die Bilder wurden schärfer. Die Straße, durch die ich ging, wurde viel wirklicher, als sie es eben noch gewesen war. Meine Füße schmerzten. Und ich spürte eine absurde Härte der Dinge im Traum. Wenn ich zum Beispiel gegen eine Tür stieß, empfand ich nicht nur den Schmerz im Knie, sondern auch Wut über meine Ungeschicklichkeit. So spazierte ich ganz real durch diese Stadt, bis ich erschöpft war. Ich sah die Stadt, wie ein Tourist sie gesehen hätte, der durch ihre Straßen gelaufen wäre. Es gab keinen Unterschied zwischen diesem Traum-Spaziergang und einem Spaziergang, den ich in einer Stadt gemacht hätte, wo ich zum erstenmal zu Besuch wäre. »Ich glaube, diesmal bist zu weit gegangen«, sagte Don J uan, nachdem er sich meinen Bericht angehört hatte. »Du brauchtest nichts anderes zu tun. als dir des Einschlafens bewußt zu werden. Was du getan hast. war. als würdest du eine Wand umwerfen, nur um eine Mücke zu zerquetschen.« »Glaubst du. Don Juan, ich habe die Sache verpatzt?« »Nein, das nicht. Aber offenbar wolltest du eine frühere Erfahrung wiederholen. Damals, als ich deinen Montagepunkt verschob und wir beide in jener geheimnisvollen Stadt landeten, da schliefst du nicht. Du träumtest, aber nicht im Schlaf. Das bedeutet, daß dein Montagepunkt diese Position nicht durch einen normalen Traum erreicht hatte. Ich hatte ihn zu dieser Verlagerung gezwungen. Natürlich kannst du diese Position auch beim Träumen erreichen, aber vorläufig empfehle ich es dir nicht.« »Ist es so gefährlich?« »Ja, sehr! Das Träumen muß eine ganz nüchterne Angelegenheit bleiben. Man darf sich keinen falschen Schritt leisten. Das Träumen ist ein Prozeß des Erwachens, der allmählichen Selbstkontrolle. Wir müssen unsere Traum-Aufmerksamkeit systematisch trainieren, denn sie ist die Pforte zur zweiten Aufmerksamkeit .« »Welchen Unterschied gibt es zwischen Traum-Aufmerksamkeit und zweiter Aufmerksamkeit?«
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»D ie zw eite A ufm erksam keit ist w ie ein O zean, und d ie T raum A u fm e rk sa m k e it ist w ie e in F lu ß . d e r in d ie se n e in m ü n d e t. D ie z w e ite A u fm e rk sa m k e it ist e in Z u sta n d d e r B e w u ß th e it g a n z e r W elten, genauso absolut, w ie deine W elt absolut ist; w ährend die T raum -A ufm erksam keit ein Z ustand ist, in d em uns d ie G egen ständ e unserer T räum e b ew uß t w erd en.« S e h r n a c h d rü c k lic h b e to n te e r, d a ß d ie T ra u m -A u fm e rk sa m k e it der S chlüssel zu jedem S chritt in der W elt der Z auberer sei. U nter d e r V ie lz a h l v o n G e g e n stä n d e n in u n se re n T rä u m e n , sa g te e r, g e b e e s re a le e n e rg e tisc h e In te rfe re n z e n - D in g e a lso , d ie d u rc h fre m d e K rä fte v o n a u ß e n in u n se re T rä u m e e in g e fü h rt w e rd e n . D ie se a u fz u fin d e n u n d z u v e rfo lg e n , d a rin b e ste h e d ie Z a u b e rei. E r legte so viel N achd ruck auf d iese F eststellungen, d aß ich ihn b at, sie m ir genauer zu erklären. E r zö gerte eine W eile, b evo r er antw ortete. »D ie T rä u m e s i n d z w a r n ic h t d a s T o r, a b e r d a s S c h lu p flo c h z u anderen W elten«, begann er. »E in S chlupfloch m it Z w eibahnver k e h r. U n se r B e w u sstse in sc h lü p ft d u rc h d ie se L ü c k e in a n d e re S p h ä re n , u n d je n e a n d e re n S p h ä re n sc h ic k e n S c o u ts in u n se re T räum e.« »W as sind diese Scouts?« »E nergielad ungen, d ie sich m it d en G egenständ en unserer no r m a le n T rä u m e v e rb in d e n . E s sin d A u sb rü c h e fre m d e r E n e rg ie , d ie in u n se re T rä u m e e in d rin g e n , u n d w ir in te rp re tie re n sie a ls G egenständ e, d ie uns m anchm al vertraut, m anchm al frem d sind.« »T u t m ir le id , D o n Ju a n , a b e r ic h k a n n m it d e in e r E rk lä ru n g nichts anfangen.« »D u kannst es nicht, w eil d u d arauf b eharrst, d ir T räum e vo rzu stellen, w ie du sie kennst: als etw as, das uns im S chlaf w iderfährt. Ich ab er w ill d ir e in e and ere V o rstellung verm itteln: T räum e als S chlup flo ch in and ere S p hären d er W ahrnehm ung. D urch d ieses S chlupfloch sickern S tröm e einer unbekannten E nergie ein. D ann ü b e rn im m t u n se r G e ist o d e r d a s G e h irn o d e r w a s im m e r, d ie se E nergieströ m e und verw and elt sie in B estand teile unserer T räum e.« E r m a c h te e in e P a u se , o ffe n b a r u m m ir Z e it z u la sse n , v e rsta n d e sm ä ß ig a u fz u n e h m e n , w a s e r g e sa g t h a t t e . »D ie Z a u b e re r 40
machen sich diese fremden Energieströme bewußt«, fuhr er fort. »Sie bemerken sie und isolieren sie von den normalen Gegenständen ihrer Träume.« »Warum isolieren. Don Juan?« »Weil diese Ströme aus anderen Sphären kommen. Wenn wir ihnen bis zu ihrem Ursprung folgen, können sie uns als Führer in andere Regionen dienen - so geheimnisvolle Regionen, daß es die Zauberer schaudert, wenn sie nur an die Möglichkeit denken.« »Wie isolieren die Zauberer sie von den normalen Gegenständen ihrer Träume?« »Durch Übung und Kontrolle ihrer Traum-Aufmerksamkeit. Ir gendwann entdeckt unsere Traum-Aufmerksamkeit sie unter den Gegenständen eines Traums und konzentriert sich auf sie; dann bricht der ganze Traum ab, und es bleibt nur die fremde Energie.« Don Juan wollte nicht weiter auf dieses Thema eingehen. Er sprach dann wieder von meinem Traum, den ich ihm erzählt hatte, und meinte, es sei - mein erster Versuch zu alles in allem wirklichem Träumen gewesen. Dies bedeute aber, daß es mir ge lungen sei. die erste Pforte des Träumens zu erreichen. In einem anderen Gespräch, zu einem anderen Zeitpunkt, kam er plötzlich auf das Thema zurück. Er sagte: »Ich wiederhole dir noch einmal, was du beim Träumen tun mußt, um die erste Pforte des Träumens zu passieren. Erstens mußt du deinen Blick auf irgend etwas fixieren, das du dir zum Ausgangspunkt wählst. Dann wende dich anderen Gegenständen zu und beobachte sie, mit kurzen Blicken. Richte deinen Blick auf so viele Dinge, wie es dir möglich ist. Bedenke, wenn du nur kurz hinschaust, verändern die Bilder sich nicht. Dann kehre zu dem Gegenstand zurück, den du zuerst angeschaut hast.« »Was bedeutet es, die erste Pforte des Träumens zu passieren?« »Wir erreichen die erste Pforte des Träumens, indem uns bewußt wird, daß wir einschlafen, oder indem wir einen ungeheuer realen Traum haben, wie du ihn hattest. Sobald wir die Pforte erreicht haben, müssen wir sie durchschreiten: dies gelingt uns, indem wir das Bild jedes Gegenstandes in unserem Traum festhalten.« »Beinah schaffe ich es, die Gegenstände meiner Träume ruhig anzuschauen, aber sie lösen sich zu schnell auf.« 41
»Genau das ist es. was ich dir sagen wollte. Um die Flüchtigkeit der Träume abzugleichen, sind die Zauberer darauf verfallen, irgendeinen Gegenstand als Ausgangspunkt zu benutzen. Immer wenn du diesen Gegenstand isolierst und ansiehst, flutet dir eine Welle von Energie entgegen, und darum solltest du anfangs nicht zu viele Dinge in deinen Träumen ansehen. Vier Gegenstände genügen für den Anfang. Später kannst du den Rahmen erweitern und alles betrachten, was dir gefällt. Aber sobald die Bilder sich verändern und du spürst, daß du die Kontrolle verlierst, sollst du zum Ausgangspunkt zurückkehren und noch einmal von vorne anfangen.« »Glaubst du. daß ich wirklich die erste Pforte des Träumens er reicht habe?« »Ja. und das war ein großer Schritt. Wenn du weitermachst, wirst du feststellen, wie leicht das Träumen dir jetzt fällt.« Ich glaubte, daß Don Juan übertrieb oder mir schmeicheln wollte. Aber er versicherte, daß er es aufrichtig meine. »Merkwürdig ist«, sagte er, »daß die Träumer, wenn sie die erste Pforte erreichen, auch den Energiekörper erreichen.« »Was genau ist der Energiekörper?« »Er ist das Gegenstück zum physischen Körper. Eine geisterhafte Konfiguration, bestehend aus reiner Energie.« »Besteht aber nicht auch der physische Körper aus Energie?« »Ja. gewiß. Der Unterschied ist, daß der Energiekörper nur Erscheinung hat. aber keine Masse. Da er reine Energie ist. kann er Taten vollbringen, die dem physischen Körper unmöglich wären.« »Was zum Beispiel, Don Juan?« »Zum Beispiel, sich im Handumdrehen ans Ende des Universums zu versetzen. Und das Träumen ist die Kunst, den Energiekörper zu schulen, ihn durch allmähliche Übung geschmeidig und kohärent zu machen. Durch das Träumen verdichten wir den Energiekörper, bis er zu eigener Wahrnehmung fähig wird. Diese Wahrnehmung, obwohl beeinflußt durch unsere normale Art der alltäglichen Wahrneh mung, ist dennoch eine ganz unabhängige Wahrnehmung. Sie hat ihre eigene Sphäre.« »Was ist ihre Sphäre, Don Juan?« »Energie. Der Energiekörper arbeitet mit Energie als Energie.
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A u f d re ie rle i A rte n a rb e ite t e r b e im T rä u m e n m it E n e rgie : e r kann die fließende E nergie w ahrnehm en; er kann E nergie benutzen , u m sich w ie ein e R akete in u n erw artete R egio n en zu kata pultieren; oder er kann w ahrnehm en, w ie w ir für gew öhnlich die W elt w ahrnehm en.« »W as bedeutet es. fließende E nergie w ahrzunehm en?« »E s b e d e u te t, z u seh en . E s b e d e u te t, d a ß d e r E n e rgie k ö rp e r E n ergie u n m ittelb ar als L ich t o d er als vib rieren d en S tro m o d er als T u rb u len z sieh t. U n d er sp ü rt sie - als u n m ittelb aren S tro m stoß oder als körperliche E m pfindung, die sogar schm erzhaft sein kann.« »W as ist m it jener anderen M öglichkeit, von der du sprachst, D on J u a n ? W e n n d e r E n e rgie k ö rp e r d ie E n e rgie a ls K a ta p u lt b e nützt?« »W eil E nergie seine Sphäre i s t , kann der E nergiekörper m ühelos je n e im U n iv e rsu m flie ß e n d e n E n e rgie strö m e n u tz e n , u m sic h vo ran treib en zu lassen . E r b rau ch t sie n u r zu iso lieren - u n d lo s geh t d ie F ah rt.« D on Juan hielt unentschlossen i n n e . M ir schien, er w ollte noch etw as sagen, dessen er sich aber n i c h t sicher w ar. E r lächelte m ir zu, und gerade als ich ihm eine Frage s t e l l e n w ollte, fuhr er fort m it seiner E rklärung. »Ich sagte d ir frü h er sch o n , d aß d ie Z au b erer in i h r e n T räu m en Scouts aus anderen Sphären isolieren. D as t u t i h r E nergiekörper. E r erkennt die E nergie und folgt i h r . E s ist aber n i c h t gut, w enn ein T räum er sich an die S uche nach solchen S couts v e r l i e r t . Ich zö gerte, d ir d avo n zu erzäh len , w eil m an sich b ei ein er so lch en Suche le ic h t verirren k a n n .« D ann w echselte D on Juan rasch das T hem a. A usführlich s c h i l derte er m ir e i n e n ganzen B lock von Ü bungen. D am als fand ich dies alles, auf e i n e r gew issen E bene, v ö llig unbegreiflich: doch auf einer anderen E bene erschien es m ir vollkom m en logisch und verständlich. W enn m an, so w iederholte er. m it überlegter K on tro lle d ie erste P fo rte d es T räu m en s erreich t h ab e, so h ab e m an sein en E n ergiekö rp er erreich t. O b m an d iesen V o rteil festh alten kö n n e, sei n u r ein e F rage d er E n ergie. D ie Z au b erer ab er kö n n ten sich zu sätzlich e E n ergie versch affen , in d em sie d ie E n ergie klu g ein setzen , d ie ih n en fü r d ie W ah rn eh m u n g d er alltäglich en W elt zur V erfügung steht. 43
Ich bat Don Juan, mir dies genauer zu erklären, und so fügte er hinzu, daß wir alle eine gewisses Grundmenge an Energie hätten die einzige Energie, die wir besitzen. Und diese Energie müßten wir ganz verausgaben für die Wahrnehmung unserer engen Welt, für unser Überleben in ihr. Nirgendwo sonst, wiederholte er, gäbe es noch Energie für uns, und wenn wir unsere verfügbare Grundmenge bereits darin verausgabt hätten, dann bleibe nichts mehr übrig für außerordentliche Wahrnehmungen, etwa beim Träumen. »Was bedeutet das für uns?« fragte ich. »Es bedeutet, daß wir selbst Energie auftreiben müssen, wo immer wir sie finden.« Und Don Juan erklärte, daß die Zauberer eine gewisse Methode hätten. Energie aufzutreiben. Dabei arrangieren sie ihre verfüg bare Energie intelligent um und werfen alles Überflüssige in ihrem Leben ab. Dies nennen sie den Weg der Zauberer. Don Juan schilderte mir den Weg der Zauberer als eine Folge von praktischen Entscheidungen: und zwar intelligentere Entschei dungen, als unsere Erzieher sie uns lehrten. Diese lebensprakti schen Entscheidungen der Zauberer dienten dazu, unser Leben umzustrukturieren, indem sie unsere Grundeinstellung zum Leben verändern. »Welche Grundeinstellung, Don Juan?« fragte ich. »Wir haben zwei Arten, auf die Tatsache zu reagieren, daß wir lebendig sind. Zum einen können wir uns blind unterwerfen, indem wir den Forderungen des Lebens gehorchen, oder indem wir sie bekämpfen. Zum anderen können wir unsere Lebensumstände so gestalten, daß sie unserer eigenen Konfiguration entsprechen.« »Können wir tatsächlich unsere Lebensumstände gestalten, Don Juan?« »Doch, wir können unsere Situation so gestalten, daß sie unseren eigenen Bedingungen entspricht«, beharrte Don Juan. »Und dies tun die Träumer. Ist das vermessen? Bestimmt nicht, wenn du bedenkst, wie wenig wir über uns selbst wissen.« Als mein Lehrer habe er die Pflicht, sagte er. mich mit dem Unterschied zwischen dem Leben und dem Lebendigsein vertraut zu machen: zwischen dem bloßen Leben, als Resultat biologischer Kräfte, und dem bewußten Lebendigsein als Akt der Erkenntnis. 44
»W enn Z aub erer d avo n sp rechen, d ie eigene L eb enssituatio n zu gestalten«, erklärte D o n Juan, »so m einen sie d ie G estaltung d es B e w u ß tse in s, le b e n d ig z u se in . S o lc h e G e sta ltu n g d e s B e w u ß t se in s lie fe rt u n s g e n ü g e n d E n e rg ie , u m d e n E n e rg ie k ö rp e r z u erreichen und festzuhalten. A uf diese W eise können w ir die ganze R ichtung und K o nseq uenz unseres L eb ens veränd ern.« Z u m A b sc h lu ß u n se re s G e sp rä c h s ü b e r d a s T rä u m e n e rm a h n te m ich D o n Juan, nicht nur üb er seine W o rte nachzud enken, so ndern sie, durch im m erw ährende W iederholung, in m eine L ebensp ra x is e in z u b a u e n . A lle s N e u e im L e b e n , sa g te e r, so a u c h d ie Id e e n d e r Z a u b e re i, d ie e r m ic h le h rte , m ü ß te u n s d a u e rn d w ie derholt w erden, bis w ir es annehm en könnten. S olche W iederholung sei schließ lich auch d ie M etho d e, d urch d ie w ir vo n unseren E rziehern so zialisiert w erd en, um in d er W elt unseres A lltags zu funktio nieren. A ls ich d ann m eine T raum üb ungen fo rtsetzte, lernte ich, m ir d es E inschlafens voll bew ußt zu w erden; und ich lernte auch, in einem T ra u m in n e z u h a lte n , u m b e w u ß t a lle s z u u n te rsu c h e n , w a s z u m Inhalt d ieses T raum s gehö rte. D iese E rfahrung w ar für m ich ein echtes W under. D on Juan hatte gesagt, daß w ir. w enn w ir unsere T räum e zu kon trollieren lernen, auch unsere T raum -A ufm erksam keit zu beherr sc h e n le rn e n . E r h a tte re c h t, w e n n e r sa g te , d a ß d ie T ra u m A ufm erksam keit im m er dann aktiv w ird, w enn w ir sie w achrufen und ihr ein Z iel setzen. D iese A ktivierung ist eigentlich nicht das, w as w ir als einen P rozeß verstehen: näm lich eine R eihe von O pe ra tio n e n o d e r F u n k tio n e n , d ie sc h lie ß lic h z u e in e m R e su lta t fü h re n . V ie lm e h r ist e s w ie e in E rw a c h e n . E tw a s, d a s in u n s schlum m erte, w ird plötzlich a k t i v und w irksam .
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3. Die zweite Pforte des Träumens
M it H ilfe m einer T raum übungen fand ich heraus, daß ein T raum le h re r e in e d id a k tisc h e S yn th e se h e rste lle n m u ß , u m e in e n b e stim m te n S a c h v e rh a lt h e rv o rz u h e b e n . S o ste llte m ir D o n Ju a n z u n ä c h st d ie A u fg a b e , m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it z u ü b e n , indem ich sie auf verschiedene G egenstände m einer T räum e kon z e n trie rte . A ls H ilfsm itte l sc h lu g e r m ir d a b e i v o r, m ir d e s E in sc h la fe n s b e w u ß t z u w e rd e n . E s w a r n u r e i n V o rw a n d , w e n n e r b ehaup tete, w ir hätten, um uns d es E inschlafens b ew uß t zu w erden, nur die M öglichkeit, die Inhalte unserer T räum e zu untersuchen. D enn kaum hatte ich m it den T raum übungen angefangen, als m ir klar w urd e, d aß d ie E inüb ung d er T raum -A ufm erksam keit üb er h a u p t d a s E n tsc h e id e n d e b e im T rä u m e n ist. V e rsta n d e sm ä ß ig sc h e in t e s u n m ö g lic h , im T ra u m d a s B e w u sstse in z u tra in ie re n . A ber die treibende K raft eines solchen T rainings, sagte D on Juan, sei d ie W ahrnehm ung. S ie sei viel ausd auernd er als d er V erstand m itsam t seinen ratio nalen V o rb ehalten. U nter d em A nsturm d er W ahrnehm ung m üß ten d ie ratio nalen B arrieren irgend w ann falle n - u n d d a n n k ö n n e sic h d ie T ra u m -A u fm e rk sa m k e it e n tfa lten. Ich üb te m ich also d arin, m eine T raum -A ufm erksam keit auf d ie verschiedenen G egenstände m einer T räum e zu konzentrieren und deren B ild festzuhalten. D abei em pfand ich allm ählich ein so be m erkensw ertes S elbstvertrauen, daß ich D on Juan um eine E rklä rung b itten m uß te. »D u b ist in d en Z ustand d er zw eiten A ufm erksam keit eingetreten, und dies gibt d i r e in solches S elbstvertrauen«, sagte er. »W as d u j e t z t b ra u c h st, ist n o c h m e h r n ü c h te rn e B e so n n e n h e it. G e h la n g sa m v o ra n , b le ib e a b e r n ic h t ste h e n , u n d v o r a lle m : sp ric h nicht darüber; tu es e in f a c h .« D araufhin erzählte ich ihm . daß ich praktische B estätigung gefund e n h ä tte fü r e tw a s, d a s e r m ir sc h o n frü h e r e in m a l sa g te : n ä m 46
lie h , d a ß d ie B ild e r im T ra u m sic h n ic h t a u flö se n , w e n n m a n d ie G egenständ e eines T raum es nur m it flüchtigen B licken b etrachte t. S c h w ie rig se i n u r. m e in te ic h . e in e a n fä n g lic h e B a rrie re z u üb erw ind en, d ie uns hind ere, uns d ie T räum e b ew uß t zu m achen. Ich fragte D on Juan nach seiner M einung, denn ich glaubte ernstlic h , d a ß e s sic h u m e in e p syc h o lo g isc h e B a rrie re h a n d e le , e n tstand en d urch unsere S o zialisierung, d ie uns ja l e h r t . T räum e zu unterschätzen. »D iese B arriere ist m ehr als b lo ß e S o zialisierung«, antw o rtete er. »E s ist d ie erste P fo rte d es T räum ens. Jetzt, d a d u sie üb erw und en hast, b ist d u erstaunt, d aß w ir im T raum nicht innehalten kö nnen, um b ew uß t d ie G egenständ e unserer T räum e zu b etrachten. A b er w iege d ich nicht in falscher S icherheit. D ie erste P fo rte d es T räu m ens hat etw as m it d em E nergiestro m im U niversum zu t u n . S ie ist ein natürliches H ind ernis.« D o n Juan und ich vereinb arten d ann, d aß w ir nur im Z ustand d er z w e ite n A u fm e rk sa m k e it ü b e r d a s T rä u m e n sp re c h e n w o llte n und nur d ann, w enn er es für nö tig hielt. E instw eilen erm utigte er m ich, ruhig w eiterzuüben. und versprach m ir auch, sich nicht ein zum ischen. E s g e la n g m ir n u n im m e r b e sse r, m e in e T rä u m e z u a rra n g ie re n . D ab ei erleb te ich m anchm al G efühle, d enen ich gro ß e B ed eutung b e im a ß - z u m B e isp ie l d a s G e fü h l, in e in e n G ra b e n z u r o l l e n , w ä h re n d ic h e b e n e in sc h lie f. D o n Ju a n h a tte m ir n ie g e sa g t, d a ß so lc h e G e fü h le n ic h ts z u b e d e u te n h ä tte n ; e r lie ß m ic h so g a r in m einen N otizen ausführlich darüber berichten. H eute ist m ir k l a r , w ie kom isch es für i h n gew esen sein m uß. W enn ich T raum lehrer w ä re , w ü rd e i c h v o n so lc h e m V e rh a lte n e in d e u tig a b ra te n . D o n Ju a n a b e r la c h te m ic h n u r a u s. Ic h l i t t e a n h e im lic h e m G rö ß e n w ahn, m einte er, hätte m ich d em K am p f gegen d ie eigene W ich tig k e it v e rsc h rie b e n u n d fü h rte d e n n o c h e in T a g e b u c h m it d e m T itel »M eine T räum e«. B ei jed er G elegenheit b eto nte D o n Juan, d aß w ir d ie E nergie, d ie w ir brauchen, um unsere T raum -A ufm erksam keit aus den F esseln unserer S o zialisatio n zu b efreien, nur d ad urch gew innen, d aß w ir u n se re v o rh a n d e n e E n e rg ie u m g ru p p ie re n . A u c h d ie s k o n n te ic h b e stä tig e n . D e n n d ie A u fm e rk sa m k e it b e im T rä u m e n e rg ib t sic h u n m itte lb a r a u s d e r U m stru k tu rie ru n g d e s e ig e n e n L e b e n s. W e il w ir u n se re E n e rg ie a b e r n ic h t a u s ä u ß e re n Q u e lle n v e rm e h re n 47
können, wie Don Juan sagte, müssen wir immer bemüht sein, unsere verfügbare Energie entsprechend umzugruppieren. Der Weg der Zauberer sei das beste Mittel, sagte Don Juan, um gewissermaßen »die Räder zu ölen« für eine solche Umgruppierung der Energie. Und der wichtigste Kunstgriff der Zauberei sei das »Verlieren der eigenen Wichtigkeit«. Don Juan sah darin die wichtigste Voraussetzung der Zauberei, und folglich hielt er alle seine Schüler streng dazu an, diese Voraussetzung zu erfüllen. Eigendünkel hielt er nicht nur für einen Feind der Zauberer, son dern für die Nemesis der Menschheit überhaupt. Don Juan glaubte nämlich, daß wir den größten Teil unserer Energie zur Aufrechterhaltung unserer eigenen Wichtigkeit verbrauchen. Das beste Beispiel sei unsere endlose Sorge um unser äußeres Image und um die Frage, ob wir geliebt und bewundert werden oder nicht. Könnten wir diesen Eigendünkel ablegen, dann würden zwei bedeutsame Dinge mit uns geschehen. Erstens wäre unsere Energie von der Aufgabe befreit, unsere Größenillusionen aufrechtzuerhalten. Und zweitens hätten wir genügend Energie, um in die zweite Aufmerksamkeit einzutreten und etwas von der wahren Größe des Universums zu erahnen. Mehr als zwei Jahre dauerte es, bis ich meine Aufmerksamkeit im Traum auf alles konzentrieren konnte. Am Ende gelang es mir so gut, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Merkwürdig war, daß ich mir kaum vorstellen konnte, ich hätte diese Fähigkeit nicht schon immer gehabt. Dennoch hatte ich nicht vergessen, wie schwer es mir anfangs gefallen war, mir solche Möglichkeiten auch nur vorzustellen. Vielleicht, dachte ich, gehört die Fähigkeit, den Inhalt der eigenen Träume zu untersuchen, zur natürlichen Ausstattung unserer Existenz - etwa wie der aufrechte Gang. Wir sind körperlich dazu geschaffen, auf zwei Beinen zu laufen. Und dennoch, welche Anstrengung braucht ein Kind, um laufen zu lernen! Meine neue Fähigkeit, mit kurzen Blicken die Gegenstände meiner Träume zu betrachten, war aber mit einem unangenehmen Phänomen verbunden: mit einer dauernd nörgelnden Stimme, die mich ermahnte, auch wirklich alle Elemente meiner Träume zu untersuchen. Ich kannte meinen obsessiven Charakter, aber in meinen Träumen wurde diese Obsession ungemein verstärkt. Dies nahm solche Formen an, daß ich meine nörgelnde Stimme, 48
die m ich dauernd k r itis ie r t e , nicht m ehr hören konnte. U nd ich m usste m ich fragen, ob nicht am E nde doch etw as anderes dahinter steckte? Ich fürchtete sogar, den V erstand zu verlieren. »Ich red e in m ein en T räu m en u n en tw egt au f m ich ein ; ich erm ahne m ich dauernd, die D inge zu betrachten«, sagte ich zu D on Juan. B islang hatte ich unsere V ereinbarung eingehalten, nur dann über das T räum en zu sprechen, w enn er selbst das T hem a anschnitt. D ies aber, glaubte ich, w ar eine N otlage. »H ört es sich vielleicht an, als ob du es gar nicht w ärest, sondern ein anderer?« fragte er. »Ja, w enn ich es recht bedenke. Es hört sich so a n , als ob gar nicht ich es w äre.« »D ann bist du es auch nicht. D ie Z eit ist noch nicht gekom m en, dir solche D inge zu erklären. E instw eilen tröste dich, daß du nicht allein b ist au f d er W elt. E s gib t n o ch an d ere W elten , d ie ein em T rä u m e r z u gä n glic h sin d , ga n z e W e lte n . A u s d ie se n a n d e re n W elten kom m en m anchm al E nergie-W esen zu uns. W enn du das nächste M al im T raum deine Stim m e hörst, die auf dich einredet, dann w erde einfach w ütend und rufe: H ör auf!« N un hatte ich eine neue A ufgabe beim T räum en, näm lich m ich zu erinnern, daß ich diesen B efehl rufen sollte. W ahrscheinlich aber w ar ich so w ütend über das dauernde N örgeln, daß ich m ich tatsächlich erinnerte und rief: »H ör auf!« D as N örgeln hörte sofort auf und w iederholte sich n ie w ieder. »H aben alle T räum er solche E rfahrungen?« fragte ich D on Juan, als ich ihn w iedersah. »M anche ja «, antw ortete er gleichgültig. Ich w ollte schon anfangen zu erzählen, w ie m erkw ürdig dies alles gew esen sei. A ber er unterbrach m ich und sagte: »D u bist j e t z t bereit für die zw eite P forte des T räum ens.« D ies w ar für m ich die C hance, endlich A ntw orten auf Fragen zu finden, die ich ihm schon lange stellen w ollte. V or allem beschäftigte m ich noch im m er das E rlebnis, als er m ich zum erstenm al in den Zustand des T räum ens versetzt hatte. D am als konnte ich die E lem ente des T raum es m it solcher Leichtigkeit beobachten, sagte ich zu D o n Ju an . N ie w ied er h ätte ich so lch ein e K larh eit u n d G enauigkeit aller D etails erlebt. »Je län ger ich d arü b er n ach d en ke«, sagte ich , »d esto erstau n
lieb er ko m m t es m ir vo r. A ls ich in d iesem T raum d ie M enschen b e o b a c h te te , e m p fa n d ic h e in e u n e rk lä rlic h e A n g st u n d A b n e i g u n g . W a s w a r d a s fü r e in G e fü h l. D o n Ju a n ? « »Ic h g la u b e , d e in E n e rg ie k ö rp e r h a tte sic h d a m a ls in d ie fre m d e E n e rg ie d ie se r S ta d t e in g e sc h a lte t u n d sic h g u t a m ü sie rt. D e in e A ngst und A b neigung w aren ganz natürlich: zum erstenm al lernte st d u fre m d e E n e rg ie k e n n e n . Ü brigens zeigst du ähnliche N eigungen w ie die Z auberer der V orzeit. S o w ie d ie G elegenheit sich b ietet, lässt d u d einen M o ntagep u n k t lo s. D a m a ls v e rla g e rte e r sic h se h r w e it. F o lg lic h b ist d u - w ie einst d ie alten Z aub erer - üb er d ie G renzen d er uns b ekannt e n W elt hinausgereist. E ine reale, ab er sehr gefährliche R eise.« S o aufschlußreich D on Juans W orte auch sein m ochten, m usste ich i h m doch eine F rage stellen, die m ich noch stärker bew egte: »W ar d ie se S ta d t e tw a a u f e in e m a n d e re n P la n e te n ? « »M an kann d as T räum en nicht m it b ekannten o d er scheinb ar b ekannten V o rstellungen erklären« sagte er. »N ur d ies kann ich d i r v e rra te n : d ie S ta d t, d ie d u d a m a ls b e su c h te st, g e h ö rte n ic h t z u dieser W elt.« »W o w ar sie denn?« »N a tü rlic h je n se its d ie se r W e lt. B e g re ifst d u n ic h t? E s w a r d a s e rste , w a s d ir a u ffie l. A b e r d u ta p p te st im D u n k e ln , w e il d u d ir jenseits dieser W elt nichts vorstellen k a n n s t . « »W o ist denn dieses > jenseits dieser W elt< , D on Juan?« »D as U nheim lichste an d er ganzen Z aub erei, glaub e m ir. ist j e n e K o nfiguratio n, d ie w ir > jenseits d ieser W elt< nennen. D u nahm st z u m B e isp ie l a n . ic h h ä tte d ie se lb e n D in g e g e se h e n w ie d u . D e r B ew eis? D u hast m ich niem als gefragt, w as ich eigentlich gesehen h a b e . D u - n u r D u sa h st e i n e S ta d t u n d M e n sc h e n in d ie se r S tadt. Ich sah nichts dergleichen. Ich sah E nergie. > Jenseits dieser W elt< w ar also für d ich - und einzig b ei d ieser G elegenheit - eine Stadt.« »D ann ab er, D o n Juan, w ar es keine w irkliche S tad t. D ann e x i stie rte sie n u r fü r m ic h , in m e in e m K o p f.« »N e in , d a s n ic h t. D u v e rsu c h st j e t z t , e tw a s T ra n sz e n d e n te s a u f e tw a s Ird isc h e s z u rü c k z u fü h re n . D a s ist u n z u lä ssig . D ie se R e ise w ar real. D u sahst sie als S tadt. Ich sah sie als E nergie. K einer von u n s h a t re c h t o d e r u n re c h t.«
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»Es verwirrt mich immer, wenn du von Dingen sprichst, die real sein sollen. Vorhin sagtest du. wir hätten einen realen Ort jenseits dieser Welt erreicht. Doch wenn er real war. wie können wir dann zwei verschiedene Bilder davon haben?« »Ganz einfach. Wir haben zwei Bilder, weil wir damals zwei ver schiedene Grade von Gleichförmigkeit und Kohäsion hatten. Ich habe dir doch erklärt, daß diese zwei Eigenschaften der Schlüssel zur Wahrnehmung sind.« »Glaubst du, ich kann diese Stadt noch einmal besuchen?« »Da bin ich überfragt; ich weiß es nicht. Oder vielleicht weiß ich es, will es aber nicht erklären. Oder vielleicht könnte ich es erklären, will aber nicht. Du wirst also warten und selbst herausfinden müssen, wie es sich verhält.« Und er war nicht bereit, weiter über das Thema zu sprechen. »Zurück zur Sache«, forderte er mich auf. »Die zweite Pforte der Wahrnehmung ist erreicht, wenn wir aus einem Traum in einen anderen Traum erwachen. Wir mögen so viele Träume träumen, wie wir wollen. Aber wir müssen sie kontrollieren und dürfen nicht in dieser uns bekannten Welt aufwachen.« Ich geriet in Panik. »Willst du damit sagen, daß ich nie wieder in dieser Welt aufwachen soll?« fragte ich. »Nein, das nicht. Jetzt aber, wo du es sagst, muß ich gestehen, daß es wohl eine Möglichkeit wäre. Dies taten die alten Zauberer. Sie erwachten nie wieder in dieser Welt, die wir kennen. Manche Zauberer meiner Linie haben es ebenfalls getan. Ja, es ist möglich, aber ich möchte es nicht empfehlen. Ich möchte, daß du nach dem Träumen ganz natürlich erwachst. Aber solange du träumst, sollst du träumen, daß du in einem anderen Traum erwachst.« Ich hörte mich die gleiche Frage stellen, die ich ihm gestellt hatte, als er mir zum erstenmal vom Arrangieren des Träumens erzählte: »Ist so etwas aber möglich?« Anscheinend ertappte mich Don Juan bei meiner Gedankenlosigkeit und wiederholte mir lachend die Antwort, die er mir damals gegeben hatte. »Natürlich ist es möglich. Solch eine Kontrolle unterscheidet sich nicht von der Kontrolle über jede beliebige Situation des täglichen Lebens.« Rasch überwand ich meine Verlegenheit und war bereit, weitere Fragen zu stellen, aber Don Juan kam mir zuvor und begann ge-
wisse Aspekte der zweiten Pforte des Träumens zu erklären - eine Erklärung, bei der mir noch unbehaglicher wurde. »Ein Problem gibt es bei der zweiten Pforte«, sagte er. »Ein Problem, das schwierig werden kann, je nach der Charakterneigung des Betreffenden. Falls du die Neigung hast, dich gehenzulassen oder dich an Dinge und Situationen zu klammern, könnte es gefährlich werden.« »Warum, Don Juan?« »Überlege einmal. Erinnerst du dich an deine sonderbare Freude beim Untersuchen des Inhalts deiner Träume? Stell dir nun vor, man wechselt von Traum zu Traum und beobachtet alles, unter sucht jedes Detail. Dabei könnte man, das ist doch klar, in töd liche Tiefen versinken. Vor allem wenn man die Neigung hat, sich gehenzulassen.« »Können nicht der Körper oder der Verstand dies ganz natürlich verhindern?« »Ja, gewiß, falls es eine natürliche, das heißt eine normale Schlaf situation ist. Dies aber ist keine normale Situation. Dies ist das Träumen. Der Träumer hat beim Durchschreiten der ersten Pforte bereits den Energiekörper erreicht. Was da in Wirklichkeit durch die zweite Pforte schreitet und von Traum zu Traum wechselt, ist der Energiekörper.« »Was hat das für Folgen, Don Juan?« »Die Folge ist, daß du beim Durchschreiten der zweiten Pforte noch mehr, noch bewußtere Kontrolle über deine Traum-Auf merksamkeit beabsichtigen mußt: es ist das einzige Sicherheits ventil, das Träumer haben.« »Ein Sicherheitsventil?« »Du wirst noch merken, daß es das eigentliche Ziel des Träumens ist, den Energiekörper zu schulen. Ein geschulter Energiekörper hat eine solche Kontrolle über die Traum-Aufmerksamkeit, daß er sie notfalls bremsen könnte. Dies ist das Sicherheitsventil, das Träumer haben. Wie sehr sie sich auch beim Träumen gehen lassen irgendwann bringt ihre Traum-Aufmerksamkeit sie wieder an die Oberfläche.« Nun begann für mich wieder ein neuer Abschnitt meiner Traum arbeit. Diesmal war das Ziel noch unbestimmter, die Schwierigkeit noch größer. Wie bei meiner ersten Aufgabe hatte ich keine Vorstellung, um was es eigentlich ging. Und ich fürchtete, daß all
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mein Üben mir diesmal nicht helfen würde. Nach vielen Mißerfolgen gab ich auf und begnügte mich damit, meine Übungen einfach fortzusetzen und meine Traum-Aufmerksamkeit auf alle Gegen stände meiner Träume zu konzentrieren. Daß ich mein Scheitern akzeptierte, gab mir doch Kraft, und es gelang mir anscheinend besser, die Bilder meiner Trauminhalte festzuhalten. So blieb es ein Jahr, ohne Veränderung. Dann aber, eines Tages, veränderte sich etwas. Während ich im Traum aus dem Fenster sah und festzustellen versuchte, ob ich die Landschaft draußen erkennen könnte, zog eine Kraft, die ich als Wind und als Brausen in den Ohren empfand, mich durchs Fenster hinaus. Kurz zuvor hatte ich ein sonderbares Gebilde gesehen, vielleicht einen Traktor, das meine Traum-Aufmerksamkeit erregte. Im nächsten Moment stand ich davor und untersuchte es. Ich war mir durchaus bewußt. daß ich träumte. Ich drehte mich um und wollte feststellen, aus welchem Fenster ich geschaut hatte. Der Schauplatz erinnerte an eine Farm auf dem flachen Land. Häuser waren nicht zu sehen. Schon wollte ich anfangen, über diese Tatsache nachzugrübeln, aber die vielen landwirt schaftlichen Geräte, die wie verlassen herumstanden, fesselten meine Aufmerksamkeit. Ich untersuchte Mähmaschinen, Traktoren. Getreidestapler, Scheibenpflüge, Dreschmaschinen. Es waren so viele, und ich vergaß meinen ursprünglichen Traum. Dann versuchte ich mich zu orientieren, indem ich die Umgebung beobachtete. Dort in der Ferne stand ein Gebilde, das aussah wie eine Reklametafel, umgeben von Telegrafenmasten. Kaum hatte ich meine Aufmerksamkeit auf diese Reklametafel gerichtet, stand ich auch schon davor. Das Stahlgerüst machte mir angst. Es war irgendwie bedrohlich. Auf der Tafel selbst war ein Gebäude abgebildet. Ich las den Text: es war Werbung für ein Motel. Ich hatte die sonderbare Gewißheit. mich im Staat Oregon zu befinden, oder im Norden Kaliforniens. Dann suchte ich die Umgebung im Traum nach anderen Merkmalen ab. In der Ferne sah ich Berge, und etwas näher abgeflachte Hügel. Baumgruppen standen auf den Hügeln: kalifornische Eichen, vermutete ich. Ich wünschte mir. zu diesen grünen Hügeln hingezogen zu werden - aber es zog mich gleich zu den fernen Bergen. Ich war mir sicher, daß es die Sierra Nevada sei. Über diesen Bergen verließ mich meine Traumenergie. Vorher 53
ab er zo g es m ich nach allen m ö glichen P unkten d er L and schaft. M ein T raum hö rte auf, ein T raum zu sein. W as m eine W ahrneh m u n g b e tra f, so b e fa n d ic h m ic h w irk lic h in d e r S ie rra u n d schw eb te zw ischen S chluchten, F elsb lö cken und H ö hlen um her. Ich segelte über F elsklippen zu den G ipfeln hinauf, bis ich keinen A u ftrie b m e h r sp ü rte u n d m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it n ic h t m ehr konzentrieren konnte. Ich spürte, w ie ich die K ontrolle verlor. S chließlich gab es keine L andschaft m ehr, nur noch D unkelheit. »D u h a st d ie z w e ite P fo rte d e s T rä u m e n s e rre ic h t«, sa g te D o n Juan, als ich ihm m einen T raum erzählte. »A ls nächstes solltest du sie d u rc h sc h re ite n . E s ist a b e r g e fä h rlic h , d ie z w e ite P fo rte z u d urchschreiten, und es erfo rd ert viel D iszip lin.« Ic h w u ß te n ic h t, o b ic h d ie m ir g e ste llte A u fg a b e e rfü llt h a tte . D enn eigentlich w ar ich nicht in einem and eren T raum erw acht. A lso b efragte ich D o n Juan nach d ieser U nregelm äß igkeit. »E s w ar m ein F ehler«, sagte er. »Ich hatte d i r gesagt, daß m an in e in e m a n d e re n T ra u m e rw a c h e n m u ß ; a b e r ic h m e in te n u r, d a ß m an auf ordentliche, korrekte A rt die T räum e w echseln m uß, w ie d u es getan hast. B e i d e r e rste n P fo rte h a st d u v ie l Z e it d a m it v e rg e u d e t, a u s schließlich nach deinen H änden zu suchen. D iesm al bist du direkt z u r L ö su n g v o rg e sto ß e n , o h n e d ic h la n g e z u fra g e n , o b d u d ie A nw eisung befolgtest und auch w irklich in einem anderen T raum erw achtest.« Z w e i M ö g lic h k e ite n g e b e e s, sa g te D o n Ju a n , u m d ie z w e ite P fo rte d es T räum ens ko rrekt zu p assieren. E inerseits kö nne m an in einem anderen T raum erw achen - das heißt träum en, m an sei in einem T raum , und dann träum en, daß m an aus ihm erw acht. A n d ererseits kö nne m an m it H ilfe d er G egenständ e eines T raum es einen and eren T raum auslö sen, w ie ich es getan hätte. D on Juan ließ m ich w eiter üben, w ie b is h e r , ohne sich einzum ischen. Ich fand die beiden M öglichkeiten bestätigt, die er geschildert hatte. E ntw eder träum te ich, daß ich in einem T raum sei, aus d em ich zu erw achen träum te, o d er ich schw eb te vo n einem b estim m ten, m einer unm ittelbaren T raum -A ufm erksam keit zug ä n g lic h e n G e g e n sta n d z u e in e m a n d e re n , n o c h n ic h t g a n z z u g ä n g lic h e n G e g e n sta n d . O d e r ic h e rle b te e in e le ic h te A b w a n d lu n g d ie se r z w e ite n M ö g lic h k e it: ic h sta rrte a u f irg e n d e in e n
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T ra u m -G e g e n sta n d . h i e l t d e n B lic k e in e W e ile a u s, b is d e r G e g e n sta n d se in e F o rm v e rä n d e rte u n d m ic h , in d e m e r se in e F o rm v e rä n d e rte , d u rc h e in e n b ra u se n d e n W irb e l in e in e n a n d e re n T ra u m z o g . N ie k o n n te ic h a b e r im v o ra u s e n tsc h e id e n , w e lc h e d er d rei M ö glichkeiten ich w ählen w ürd e. M eine T raum üb ungen e n d e te n im m e r d a m it, d a ß m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it v e r eb b te und ich schließ lich aufw achte o d er in tiefen, d unklen S chlaf versank. A lles ging glatt bei m einen Ü bungen. D ie einzige S törung, die ich e rle b te , w a r e in e e ig e n a rtig e B e lä stig u n g , e in A n fa ll v o n A n g st o d e r U n b e h a g e n , d e n ic h n u n m it z u n e h m e n d e r H ä u fig k e it e r le b te . Ic h v e rsu c h te d ie S a c h e a b z u tu n u n d m ir e in z u re d e n , e s h a b e e tw a s m it m e in e n sc h re c k lic h e n E ß g e w o h n h e ite n z u tu n o d er m it d er T atsache, d aß D o n Juan m ir zu j e n e r Z eit - als T eil m e in e r A u sb ild u n g - ö fte r h a llu z in o g e n e P fla n z e n e x tra k te g a b . D ie A nfälle stö rten m ich d o ch so sehr, d aß ich D o n Juan um R at fragen m uß te. »D u bist j e t z t zu e in e m gefährlichen T eil im W issen der Z auberer g e la n g t«, e rk lä rte e r. »E s ist d a s n a c k te G ra u e n , e in A lp tra u m . Ic h k ö n n te W itz e m a c h e n u n d sa g e n , d a ß ic h d ie se M ö g lic h k e it m it R ü c k sic h t a u f d e in e h o c h g e le h rte V e rn u n ft n ic h t e rw ä h n e n w o llte. A b er so lche S cherze verb ieten sich vo n selb st. Jed er Z au b e re r m u ß sic h m it d ie se m A sp e k t d e s W isse n s a u se in a n d e rse tzen. U nd d ab ei kö nntest d u, fürchte ic h , leicht d as G efühl hab en, den V erstand zu v e r lie r e n .« U n d n u n se tz te m ir D o n Ju a n in se h r e rn ste m T o n a u se in a n d e r, daß L eben und B ew usstsein nicht einfach E igenschaften der O rga n ism e n s i n d , so n d e rn e in e F ra g e d e r E n e rg ie . D ie Z a u b e re r hätten g eseh en , sagte er. d aß es zw ei A rten vo n b ew uß ten W esen a u f E rd e n g i b t , d ie o rg a n isc h e n u n d d ie a n o rg a n isc h e n . U n d a ls sie d ie b e id e n m ite in a n d e r v e rg lic h e n , h ä tte n sie a u c h g eseh en , d aß es sich b ei b eid en um leuchtend e A nsam m lungen vo n E ner giefasern des U niversum s handelt, die sich m illionenfach in jedem n u r d e n k b a re n W in k e l ü b e rsc h n e id e n . D e m n a c h u n te rsc h e id e n sic h b e id e F o rm e n v o r a lle m in ih re r G e sta lt u n d im G ra d ih re r L euchtkraft. A no rganische W esen sind länglich, w ie K erzen ge fo rm t, a b e r d u n k e l, w ä h re n d d ie o rg a n isc h e n W e se n ru n d u n d w e se n tlic h h e lle r sin d . E in w e ite re r w ic h tig e r U n te rsc h ie d , d e n d ie Z a u b e re r sa h en , w ie D o n Ju a n sa g te , lie g e d a rin , d a ß d ie 55
organischen Wesen nur ein kurzes Leben und Bewusstsein hätten, während das Leben der anorganischen Wesen unendlich viel länger dauert und ihr Bewusstsein unendlich viel tiefer und ruhiger ist. »Die Zauberer können mühelos mit ihnen kommunizieren«, fuhr Don Juan fort. »Denn die anorganischen Wesen haben die ent scheidende Voraussetzung zur Kommunikation, nämlich Bewußt sein.« »Existieren diese anorganischen Wesen aber wirklich, wie du und ich existieren?« fragte ich. »Natürlich existieren sie«, antwortete er. »Du kannst mir glauben, die Zauberer sind nicht so dumm, ihr Denken auf Irrwege zu schicken und diese für Wirklichkeit zu halten.« »Warum behauptest du aber, daß diese Wesen lebendig sind?« »Lebendig zu sein heißt für die Zauberer, Bewusstsein zu haben. Und dies bedeutet, einen Montagepunkt zu haben, umgeben von einer Glut der Bewußtheit; dieser Zustand zeigt den Zauberern, daß das Wesen, das sie vor sich haben, mag es organisch oder anorganisch sein, durchaus zur Wahrnehmung fähig ist. Wahrnehmung ist für die Zauberer die Voraussetzung des Lebendigseins.« »Also müssen auch die anorganischen Wesen sterben, nicht wahr. Don Juan?« »Natürlich. Sie verlieren ihr Bewusstsein, genau wie wir. Nur daß die Dauer ihres Bewußtseins unermeßlich ist.« »Erscheinen diese anorganischen Wesen den Zauberern?« »Man kann nie wissen, woran man bei ihnen ist. Ich könnte sagen. diese Wesen werden von uns angelockt. Oder besser gesagt, sie werden von uns gezwungen, mit uns zu kommunizieren.« Don Juan sah mich gespannt an. »Du begreifst das alles gar nicht«, sagte er - in einem Tonfall, als sei er zu einem Entschluß gelangt. »Ich kann es mir tatsächlich kaum rational vorstellen«, sagte ich. »Ich habe dich gewarnt, daß dein Verstand hier überfordert sein könnte. Am besten stellst du also dein Urteil zurück und lässt den Dingen ihren Lauf. Und das heißt, du lässt die anorganischen Wesen zu dir kommen.« »Ist das dein Ernst, Don Juan?«
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»A lle rd in g s. D a s P ro b le m b e i d e n a n o rg a n isc h e n W e se n ist n u r, d aß ihr B ew usstsein, verglichen m it unserem , sehr langsam ist. E s d a u e rt Ja h re , b is d ie a n o rg a n isc h e n W e se n a u f e in e n Z a u b e re r aufm erksam w erd en. A lso so llte m an G ed uld hab en und w arten. F rü h e r o d e r sp ä te r ste lle n sie sic h e in . A b e r a n d e rs, a ls d u o d e r ich uns einstellen w ürd en. S ie hab en eine eigentüm liche A rt, sich b em erkb ar zu m achen.« »W ie lo c k e n d ie Z a u b e re r sie a n ? G ib t e s e in R itu a l? « »N a, sie w erden sich gew iß nicht auf die S traße stellen und. S chlag M itternacht, m it b eb end er S tim m e nach ihnen rufen - falls es d as ist, w as d u m einst.« »W as tun sie denn?« »S ie lo c k e n sie im T rä u m e n a n . Ic h sa g te d ir d o c h , e s g e h t u m m e h r a ls e in b lo ß e s A n lo c k e n ; d u rc h d a s T rä u m e n z w in g e n d ie Z aub erer d iese W esen, m it ihnen in Interaktio n zu t r e t e n . « »W ie zw ingen d ie Z aub erer sie d urch d as T räum en? « »S ie trä u m e n b e h a rrlic h d ie P o sitio n , in d ie d e r M o n ta g e p u n k t sic h b e im T rä u m e n v e rla g e rt h a t. D ie s e rz e u g t e in e b e stim m te E nergielad ung, w as d ie A ufm erksam keit d ieser W esen w eckt. E s w irkt w ie ein K öder auf Fische; sie f a l l e n darauf herein. Indem die Z a u b e re r d ie e rste n z w e i P fo rte n d e s T rä u m e n s e rre ic h e n u n d d urchschreiten, kö d ern sie so lche W esen und zw ingen sie, zu er scheinen. In d e m d u d ie b e id e n P fo rte n d u rc h sc h re ite st, m a c h st d u ih n e n d ein A ngeb o t b ekannt. D ann m uß t d u auf ein Z eichen vo n ihnen w arten.« »W as w äre d as für e in Z eichen, D o n Juan? « »V ielleicht, d aß eines vo n ihnen auftaucht; o b w o hl d ies zu rasch w äre. Ich glaub e, sie w erd en d ir e i n Z eichen geb en, ind em sie in d eine T räum e eingreifen. Ich glaub e, d aß d ie A ngstanfälle, d ie d u z u r Z e it e rle b st, k e in e V e rd a u u n g sb e sc h w e rd e n sin d , so n d e rn S tro m stö ß e frem d er E nergie, d ie d ir vo n d en ano rganischen W esen geschickt w erd en.« »W as soll ich tun?« »D u m uß t d eine E rw artungen m äß igen.« Ich verstand nicht gleich, w as er d am it m einte, ab er d ann fand er sich zu einer ausführlicheren E rklärung b ereit. W enn w ir m it un seren M itm enschen o d er and eren o rganischen W esen in K o ntakt tre te n w o lle n , e rw a rte n w ir e in e u n m itte lb a re A n tw o rt a u f u n se r 57
Angebot, sagte er. Bei anorganischen Wesen aber, weil sie durch eine sehr starke Barriere von uns getrennt sind - nämlich durch Energie, die sich mit anderer Geschwindigkeit bewegt - . müßten die Zauberer ihre Erwartungen mäßigen und ihr Angebot so lange aufrechterhalten, bis sie von diesen Wesen zur Kenntnis genommen werden. »Du meinst also, Don Juan, es geht um dieselbe Frage wie bei den Traumübungen?« »Ja. Um aber die gewünschten Resultate zu erzielen, mußt du deine Übungen um die Absicht ergänzen, diese anorganischen Wesen zu erreichen. Sende ihnen ein Gefühl von Kraft und Zu versicht, Stärke und Unabhängigkeit. Vermeide um jeden Preis, ihnen ängstliche und morbide Gefühle zu senden. Sie sind selbst ziemlich morbid; ihrer Düsterheit noch die unsere aufzuladen wäre doch unnötig, nicht wahr?« »Ich kann mir nicht vorstellen, Don Juan, wie sie den Zauberern erscheinen. Auf welche eigentümliche Art machen sie sich be merkbar?« »Manchmal materialisieren sie sich, direkt vor uns, in der Alltags welt. Meist aber macht sich ihre Anwesenheit durch ein körper liches Erschrecken bemerkbar, durch einen Schauder, der uns durch Mark und Bein fährt.« »Wie ist es beim Träumen. Don Juan?« »Beim Träumen ist es genau umgekehrt. Manchmal fühlen wir sie. wie du eben jetzt, als Anfall von Angst. Meistens materialisieren sie sich direkt vor uns. Weil wir, wenn wir mit dem Träumen anfangen, keinerlei Erfahrung mit ihnen haben, können sie uns einen heillosen Schrecken einjagen. Dies ist eine Gefahr für uns. Mittels dieser Angst können sie uns in den Alltag folgen - mit verheerenden Folgen für uns.« »Folgen welcher Art. Don Juan?« »Die Angst kann sich in unserem Leben einnisten, und auf so etwas dürfen wir uns nicht einlassen. Die anorganischen Wesen sind manchmal schlimmer als die Pest. Mittels der Angst können sie uns in den Wahnsinn treiben.« »Was tun die Zauberer mit den anorganischen Wesen?« »Sie verbinden sich mit ihnen. Sie machen sie zu Verbündeten. Sie bilden Vereinigungen, gehen ungewöhnliche Freundschaften ein. Es sind weitgespannte Bestrebungen, meine ich, wobei die Wahr 58
nehmung die wichtigste Rolle spielt. Wir sind gesellige Wesen. Wir suchen stets die Gesellschaft anderer Arten von Bewußt-sein. Das Entscheidende beim Kontakt mit den anorganischen Wesen ist, sie nicht zu fürchten. Und zwar von Anfang an. Man muß ihnen eine Absicht von Kraft und Unabhängigkeit schicken. In diese Absicht muß man die Botschaft verschlüsseln: >Ich fürchte dich nicht: komm zu mir. Falls du kommst, bist du mir willkom men. Falls nicht, werde ich dich vermissen.< Solch eine Botschaft wird sie so neugierig machen, daß sie sich bestimmt einstellen.« »Warum sollten sie zu mir kommen, oder warum sollte ich sie aufsuchen, um Himmels willen?« »Beim Träumen suchen die Träumer, ob sie es wollen oder nicht. Verbindung mit anderen Wesen. Vielleicht erschreckt es dich aber die Träumer sind immer bereit, Gruppen mit anderen Wesen zu bilden, sich auch mit anorganischen Wesen zu verbinden. Die Träumer sind geradezu erpicht darauf.« »Das finde ich eigenartig, Don Juan. Warum tun die Träumer so etwas?« »Die anorganischen Wesen haben für uns den Reiz des Neuen. Und für sie liegt der Reiz des Neuen in der Art, wie wir die Grenzen ihrer Sphäre überschreiten. Vergiss nicht: die anorganischen Wesen, mit ihrem anders gearteten Bewußtsein. üben einen unge heuren Sog auf Träumer aus und können sie leicht in ungeahnte Welten versetzen. Die Zauberer der Vorzeit bedienten sich ihrer, und sie waren es auch, die den Namen >Verbündete< prägten. Ihre Verbündeten lehrten sie. den Montagepunkt über die Grenzen der Eigestalt hinaus in das nicht-menschliche Universum zu verschieben. Wenn sie also einen Zauberer in andere Welten versetzen, dann sind dies Welten jenseits des menschlichen Bereichs.« Noch während ich ihm zuhörte, plagten mich sonderbare Befürchtungen und Ahnungen, was er sofort merkte. »Du bist letzten Endes ein religiöser Mensch«, sagte er. »Jetzt glaubst du den Atem des Teufels im Nacken zu spüren. Stell dir das Träumen doch folgendermaßen vor: Träumen heißt, mehr wahrzunehmen, als wir für möglich halten.« In meinen wachen Stunden beunruhigte mich der Gedanke, ein 59
solches anorganisches Bewusstsein könne tatsächlich existieren. Wenn ich aber träumte, blieben meine Skrupel ziemlich belanglos. Die Anfälle körperlicher Angst hielten an, doch wenn sie eintraten, waren sie stets von einer seltsamen Ruhe gefolgt - einer Ruhe, die mich durchdrang und mich weitermachen ließ, als hätte ich die Angst nie gekannt. Damals schien es mir, als stellten sich alle Fortschritte im Träumen ganz plötzlich bei mir ein. ohne Vorankündigung. So war es auch mit dem Auftreten anorganischer Wesen in meinen Träumen. Es geschah, während ich von einem Zirkus träumte, den ich als Kind besucht hatte. Der Schauplatz erinnerte an eine kleine Stadt in den Bergen Arizonas. Ich beobachtete die Leute und hegte wie stets die unbestimmte Hoffnung, jene Menschen wiederzusehen, die ich sah, als Don Juan mich zum erstenmal in die zweite Aufmerksamkeit versetzte. Während ich sie beobachtete, überfiel mich, schlagartig, eine starke Nervosität in der Magengrube. Es war wie ein Fausthieb. Der Stoß lenkte mich ab, und ich verlor die Leute, den Zirkus und die Stadt in den Bergen Arizonas aus dem Blick. Statt dessen sah ich nun zwei sonderbar aussehende Gestalten vor mir stehen. Sie waren schmal, kaum einen Fuß breit, aber langgestreckt, über zwei Meter hoch. So ragten sie wie zwei riesige Regenwürmer vor mir auf. Ich wußte, es war ein Traum, aber ich wußte auch, daß ich sah. Über das Sehen hatte Don Juan mit mir in meinem normalen Bewusstseinszustand und auch in der zweiten Aufmerksamkeit ge sprochen. Obwohl ich es noch nicht selbst erfahren hatte, glaubte ich die Idee einer direkten Wahrnehmung von Energie doch zu verstehen. In diesem Traum, während ich jene zwei sonderbaren Erscheinungen anschaute, wurde mir klar, daß ich die energeti sche Essenz von etwas Unglaublichem sah. Ich blieb ganz ruhig. Ich bewegte mich nicht. Das Merkwürdigste war aber, daß die Gestalten sich nicht auflösten oder in etwas anderes verwandelten. Es waren kohärente Wesen, die ihre kerzenförmige Gestalt beibehielten. Irgend etwas in ihnen zwang irgend etwas in mir, ihren Anblick auszuhalten. Das wußte ich wohl, denn irgend etwas sagte mir, daß sie, wenn ich mich nicht bewegte, sich ebenfalls nicht bewegen würden. All dies endete irgendwann, als ich mit einem Schreck aufwachte. 60
S o fo rt ü b e rfie l m ic h d ie A n g st. T ie fe U n ru h e e rfa sste m ic h . E s w a r k e in e p syc h isc h e U n ru h e , so n d e rn e in G e fü h l k ö rp e rlic h e r B e k lo m m e n h e it, e in e T ra u rig k e it o h n e e rsic h tlic h e n G ru n d . V on nun an erschienen die beiden seltsam en G e s t a l t e n bei j e d e r m einer T raum übungen vor m ir. S chließlich w ar es. als träum te ich nur, um ihnen zu b egegnen. D ab ei versuchten sie nie. sich m ir zu nähern o d er m ich irgend w ie zu b elästigen. S ie stand en nur reglo s v o r m ir, so la n g e m e in T ra u m a n d a u e rte . U n d ic h u n te rlie ß n ic h t n u r je d e n V e rsu c h , m e in e T rä u m e z u w e c h se ln , so n d e rn v e rg a ß so gar d ie ursp rüngliche A ufgab e m einer T raum üb ungen. A ls ich end lich m it D o n Juan d arüb er sp rach, w as d a m it m ir gesc h a h , h a tte ic h m o n a te la n g n ic h ts a n d re s g e ta n , a ls d ie z w e i G e sta lte n z u b e tra c h te n . »D u stehst vo r einem gefährlichen S cheid ew eg«, sagte D o n Juan. »E s w äre nicht richtig, d iese W esen fo rtzujagen, ab er es ist auch nicht richtig, sie b leib en zu lassen. Z um gegenw ärtigen Z eitp unkt ist ih re A n w e se n h e it e in H in d e rn is fü r d e in T rä u m e n .« »W a s k a n n ic h tu n . D o n Ju a n ? « »T ritt ihnen entgegen, so fo rt und in d einer no rm alen L eb ensw elt, u n d sa g e ih n e n , sie so lle n sp ä te r w ie d e rk o m m e n , w e n n d u m e h r T raum energie haben w ir s t.« »W ie so ll ich ihnen entgegentreten? « »E s ist nicht le ic h t, aber es ist m öglich. V oraussetzung ist nur, daß m an genügend M ut hat - d en d u natürlich h a s t . « N o ch b evo r ich i h m sagen ko nnte, d aß ich üb erhaup t keinen M ut zu hab en glaub te, führte er m ich hinaus in d ie B erge. E r leb te im N o rd en M exiko s, und stets h a t t e er m i r d en E ind ruck gem acht, als sei er ein einsam er Z aub erer, e i n vo n a l l e n vergessener a l t e r M ann, vö llig auß erhalb d es allgem einen L eb ens s t e h e n d . D enno ch h i e l t ich i h n für einen M ann vo n üb erragend er Intelligenz. U nd d arum w ar ich b e r e i t , m ich m it m anchen seiner E igenheiten ab zufind en, d ie ich für exzentrische M aro tten h ie lt. D ie S c h lä u e d e r Z a u b e re r, in Ja h rh u n d e rte n g e sc h ä rft, w a r D o n Ju a n s h e rv o rste c h e n d ste r W e se n sz u g . E r so rg te d a fü r, d a ß ic h in m e in e m n o rm a le n B e w u sstse in sz u sta n d m ö g lic h st v ie l v e rsta n d , und d ann versetzte er m ich in d ie zw eite A ufm erksam keit, w o ich sc h ie r a lle s, w a s e r m ic h le h rte , v e rsta n d o d e r z u m in d e st b e re itw illig aufnahm . D ies führte nachgerad e zu einer Z w eiteilung b ei m ir. B e i n o rm a le m B e w u sstse in v e rsta n d ic h n ic h t, w ie so ic h
gerne bereit war, seine exzentrische Art ernstzunehmen. In der zweiten Aufmerksamkeit verstand ich alles. Er war überzeugt, daß die zweite Aufmerksamkeit uns allen zugänglich sei; daß wir aber, indem wir eigensinnig an unserer unbedarften Rationalität festhalten, die zweite Aufmerksamkeit mehr oder minder entschlossen von uns fernhielten. Er stellte sich vor, daß das Träumen imstande sei. jene Schranken zu durchbrechen, die uns die zweite Aufmerksamkeit versperren. An jenem Tag, als er mich in die Hügel der Wüste von Sonora führte, zu einer Begegnung mit den anorganischen Wesen, war ich in meinem normalen Bewußtseinszustand. Und doch wußte ich irgendwie, daß mir etwas Unglaubliches bevorstand. In der Wüste hatte es leicht geregnet. Der rötliche Sand war noch feucht und haftete beim Gehen an den Gummisohlen meiner Stiefel. Immer wieder musste ich gegen Steine treten, um die schweren Stollen abzulösen. Wir wanderten in östlicher Richtung, gegen die Hügel hinauf. Als wir eine enge Schlucht zwischen zwei Bergkuppen erreichten, blieb Don Juan stehen. »Dies ist ein idealer Platz, um deine Freunde herbeizurufen«, sagte er. »Warum nennst du sie meine Freunde?« »Sie selbst haben dich ausgesucht. Wenn sie so etwas tun. so heißt dies, daß sie eine Verbindung wünschen. Ich sagte dir doch, daß die Zauberer freundschaftliche Bindungen mit diesen Wesen ein gehen. Dein Fall ist ganz vorbildlich. Du brauchtest ihnen nicht mal ein Angebot zu machen.« »Worin besteht solch eine Freundschaft. Don Juan?« »Sie besteht in wechselseitigem Austausch von Energie. Die anorganischen Wesen liefern ihr hohes Bewußtsein. und die Zauberer geben ihr gesteigertes Bewusstsein und ihre große Energie. Das positive Ergebnis ist ein gleichwertiger Tausch. Das negative besteht in Abhängigkeit auf beiden Seiten. Die alten Zauberer liebten ihre Verbündeten. Tatsächlich liebten sie ihre Verbündeten mehr als ihre Mitmenschen. Darin sehe ich eine furchtbare Gefahr.« »Was rätst du mir zu tun. Don Juan?« »Rufe sie herbei. Lerne sie kennen, und dann entscheide selbst, was du zu tun hast.« »Was soll ich tun, um sie herbeizurufen?«
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»Stelle dir vor deinem inneren Auge ihr Bild vor. Sie haben dich im Traum an ihre Gegenwart gewöhnt, weil sie bei dir eine Erin nerung an ihre Gestalt hinterlassen wollten. Und jetzt ist es Zeit, diese Erinnerung wachzurufen.« Don Juan befahl mir, die Augen zu schließen und sie geschlossen zu halten. Dann führte er mich zu ein paar Felsblöcken und hieß mich niedersitzen. Ich spürte die Härte und Kälte der Steine. Ihre Oberfläche war leicht abschüssig. Ich konnte mich kaum im Gleichgewicht halten. »Bleib sitzen und visualisiere ihre Gestalt, bis sie genauso aussehen wie in deinen Träumen«, flüsterte mir Don Juan ins Ohr. »Laß es mich wissen, wenn du sie vor dir siehst.« Schnell und mühelos gelang es mir, ein vollständiges Bild ihrer Gestalt vor meinem inneren Auge wachzurufen, genau wie in meinen Träumen. Ich war gar nicht überrascht, daß es so leicht ging. Was mich aber erschreckte, war, daß ich kein Wort hervorbringen, auch die Augen nicht öffnen konnte, so verzweifelt ich mich auch bemühte, Don Juan wissen zu lassen, daß ich ihr Bild vor mir sah. Dabei war ich eindeutig wach, und ich hörte alles. Ich hörte Don Juan sagen: »Jetzt darfst du die Augen öffnen.« Ich öffnete sie mühelos. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf den Steinen, aber es waren nicht dieselben, die ich unter mir gespürt hatte, als ich mich setzte. Don J uan stand rechts hinter mir. Ich wollte mich umdrehen u n d ihn ansehen, aber er zwang meinen Kopf nach vorne. Und dann sah ich zwei dunkle Gestalten, wie zwei dünne Baumstämme, direkt vor mir. Verblüfft starrte ich sie an; sie waren nicht mehr so hoch wie in meinen Träumen; sie waren auf die Hälfte ihrer Größe ge schrumpft. Auch waren es keine Gestalten von düsterer Leucht kraft mehr, sondern zwei dichte, dunkle, beinah bedrohliche Pflöcke. »Steh auf und packe einen von ihnen«. befahl mir Don Juan, »und laß nicht los. ganz gleich, wie er dich schüttelt.« So etwas hatte ich nun gar nicht im Sinn, doch eine unbekannte Kraft hieß mich gegen meinen Willen aufstehen. In diesem Moment war mir völlig klar, daß ich schließlich tun würde, was er mir befohlen hatte, auch wenn ich nicht die bewußte Absicht hatte, es zu tun. Mechanisch näherte ich mich den beiden Gestalten, und das Herz 63
pochte mir bis zum Hals hinauf. Ich packte mir die Gestalt rechts von mir. Und dann spürte ich einen elektrischen Schlag, der mich beinah zwang, das schwarze Gebilde fallenzulassen. Wie aus weiter Ferne drang Don Juans Stimme zu mir. »Wenn du ihn fallen lässt, ist es um dich geschehen«, sagte er. Ich umklammerte die Gestalt, die sich wand und aufbäumte. Nicht etwa wie ein kräftiges Tier, sondern eher wie etwas Luftiges und Leichtes, das aber stark elektrisch aufgeladen war. Eine ganze Weile rollten und wälzten wir uns über den Sand am Boden der Schlucht. Das Wesen versetzte mir einen Stromschlag nach dem anderen - eine widerliche Art von Elektrizität. Ich fand sie widerlich, weil ich sie ganz anders empfand als die Elektrizität, die ich aus unserer normalen Welt kannte. Wenn sie in meinen Körper fuhr, kitzelte es und zwang mich, wie ein Tier aufzuheulen und zu knurren, nicht vor Qual, sondern aus einer sonderbaren Wut. Endlich wurde das Wesen zu einer reglosen, beinah festen Form unter mir. Es lag ruhig da. Ich fragte Don Juan, ob es tot sei. hörte aber meine eigene Stimme nicht. »Ausgeschlossen«, sagte irgend jemand lachend - jemand, der nicht Don Juan war. »Du hast nur seine Energieladung erschöpft. Steh aber nicht auf. Bleib noch einige Zeit dort liegen.« Ich sah Don Juan fragend an. Er musterte mich neugierig. Dann half er mir auf die Beine. Die dunkle Gestalt blieb am Boden liegen. Ich wollte Don Juan fragen, ob alles in Ordnung sei mit dem dunklen Wesen. Wieder konnte ich meine Frage nicht äußern. Dann tat ich etwas sehr Ungewöhnliches. Ich nahm dies alles, was hier geschah, für Realität. Bis zu diesem Moment hatte sich irgend etwas in mir an meine Vernunft geklammert und das Geschehen als Traum gewertet, als einen von Don Juans Zaubertricks ausgelösten Traum. Ich trat zu der Gestalt am Boden und versuchte sie hochzuheben. Ich konnte sie aber nicht mit den Armen umfangen, weil sie keine feste Masse hatte. Ich war verwirrt. Die gleiche Stimme wie vorhin, nicht aber Don Juans Stimme, befahl mir, mich auf das anorganische Wesen zu legen. Ich tat es, und mit einer einzigen Bewegung standen wir beide auf, das anorganische Wesen wie ein dunkler Schatten an mir haftend. Es löste sich dann von mir und verschwand - und hinterließ mir ein äußerst angenehmes Gefühl der Vollständigkeit. 64
Ich brauchte länger als vierundzwanzig Stunden, um meine Selbstkontrolle ganz wiederzufinden. Die meiste Zeit schlief ich. Don Juan schaute manchmal nach mir und stellte immer wieder die gleiche Frage: »War die Energie des anorganischen Wesens eher wie Feuer oder wie Wasser?« Meine Kehle schien wie versengt. Ich konnte ihm nicht sagen, daß die Stromstöße, die ich gespürt hatte, sich wie Strahlen elektri sierten Wassers angefühlt hatten. Ich habe nie im Leben so etwas wie Strahlen elektrisierten Wassers gespürt. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, so etwas herzustellen oder zu fühlen, aber dies war die Vorstellung, die mir vor Augen stand, jedesmal wenn Don Juan mich mit seiner Frage bedrängte. Don Juan schlief, als ich endlich wußte, daß ich ganz wiederher gestellt war. Weil ich glaubte, daß seine Frage sehr wichtig war, weckte ich ihn und erzählte ihm. was ich empfunden hatte. »Du wirst keine hilfreichen Freunde unter den anorganischen Wesen finden, sondern Beziehungen von quälender Abhängigkeit«, stellte er fest. »Sei also äußerst vorsichtig. Wässrige anorganische Wesen neigen eher zu Exzessen. Die alten Zauberer glaubten, sie wären liebevoller, eher zur Nachahmung begabt, vielleicht sogar fähig zu Gefühlen: im Gegensatz zu den feurigen, die man für ernsthafter hielt, für beherrschter als die anderen, aber auch für überheblich.« »Was hat dies alles für mich zu bedeuten. Don Juan?« »Die Bedeutung ist zu weitreichend, als daß wir jetzt darüber sprechen könnten. Ich empfehle dir nur. alle Furcht aus deinem Leben und aus deinen Träumen zu verbannen, um deine Kohärenz zu schützen. Das anorganische Wesen, dem du zu einer EnergieEntladung verholfen und das du dann wieder aufgeladen hast, war ganz begeistert davon. Es wird wiederkommen und mehr von dir verlangen.« »Warum hast du mich nicht zurückgehalten. Don Juan?« »Du hast mir keine Zeit gelassen. Außerdem hast du nicht mal gehört, wie ich dich anschrie, das anorganische Wesen am Boden Liegenzulassen.« »Du hättest mich im voraus, wie du es immer tust, über alle Mög lichkeiten unterrichten sollen.« »Ich kannte doch selbst nicht alle Möglichkeiten. Was die anorga nischen Wesen betrifft, bin ich fast ein Neuling. Diesen Teil vom 65
Wissen der Zauberer lehne ich ab. weil es zu aberwitzig und zu hinderlich ist. Ich möchte nicht irgendwelchen Wesen ausgeliefert sein, egal ob organischen oder anorganischen.« Damit endete unser Gespräch. Ich hätte mir Sorgen machen können, weil er so eindeutig negativ reagiert hatte; aber ich tat es nicht. Irgendwie war ich überzeugt, daß es ganz in Ordnung sei, was ich getan hatte. Und ich setzte meine Traumübungen fort, ohne weitere Einmi schung irgendwelcher anorganischer Wesen.
4. Die Fixierung des Montagepunktes
D a w ir v e re in b a rt h a tte n , n u r d a n n ü b e r d a s T rä u m e n z u sp re chen, w enn D on Juan es für nötig hielt, befragte ich ihn selten und b e h a rrte n ie m a ls lä n ge r a u f m e in e n F ra ge n . D a ru m h ö rte ic h gerne zu, w enn er von sich aus das T hem a aufgriff. S eine E rklä ru n ge n d e s T rä u m e n s w a re n im m e r in a n d e re A sp e k te se in e r L eh ren ein geb ettet u n d w u rd en im m er sp o n tan u n d u n verm ittelt eingeflochten. E inm al, w ährend ich bei ihm zu B esuch w ar. unterhielten w ir uns ü b er irgen d w elch e an d eren D in ge, als er u n verm ittelt sagte, d aß die alten Z auberer durch ihre T raum -K ontakte m it anorganischen W esen gro ß e G esch icklich keit im M an ip u lieren d es M o n tage p u n k te s e n tw ic k e lt h ä tte n . Im ü b rige n se i d ie s e in w e ite s u n d gefahrvolles Feld. Sofort nutzte ich m eine C hance und fragte D on Juan, um w elche Z e it u n ge fä h r d ie se a lte n Z a u b e re r ge le b t h ä tte n . S c h o n frü h e r h atte ich , b ei versch ied en en G elegen h eiten , d ieselb e F rage ge stellt, ab er n ie gab er m ir ein e b efried igen d e A n tw o rt. D iesm al, so hoffte ic h , w ürde er, vielleicht w eil er das T hem a selbst ange schnitten hatte, m einen W unsch erfüllen. »E in e se h r sc h w ie rige F ra ge «, sa gte e r. E s k la n g, a ls w o lle e r m eine N eugier w ieder einm al zurückw eisen. D arum w ar ich über ra sc h t, a ls e r fo rtfu h r: »S ie w ird d e in e V e rn u n ft stra p a z ie re n , ähnlich w ie das P roblem der anorganischen W esen. Ü brigens, w as hältst du nun von ihnen?« »L aß m ich b itte au s d em S p iel«, sagte ich . »Ich kan n m ir d azu keine M einung e rla u b e n .« M eine A ntw ort gefiel ihm . Lachend erzählte e r, w ieviel A ngst und A bneigung die anorganischen W esen ihm selbst einflößten. »S ie w aren n ie m ein F all«, sagte er. »U n d d er H au p tgru n d w ar m eine A ngst vor ihnen. Ich konnte sie nicht überw inden, als ich's hätte tun sollen, und nun ist sie regelrecht zur Fixierung gew orden.« 67
»Fürchtest du sie noch immer, Don Juan?« »Es ist nicht eigentlich Furcht, was ich empfinde, sondern Abneigung. Ich will mit ihnen nichts zu tun haben.« »Gibt es einen bestimmten Grund für diese Abneigung?« »Den besten Grund überhaupt: wir sind gegensätzlich. Sie lieben die Sklaverei; ich liebe die Freiheit. Sie möchten kaufen, und ich verkaufe nicht.« Nun geriet ich in unerklärliche Erregung und erklärte ihm schroff, das ganze Thema sei mir allzu überspannt, als daß ich es ernst nehmen könnte. Er sah mich an, lächelte und sagte: »Am besten hält man es mit den anorganischen Wesen, wie du es tust: du leugnest ihre Exi stenz, triffst dich aber regelmäßig mit ihnen und behauptest, daß du nur träumst und daß im Traum alles möglich ist. Auf diese Weise brauchst du dich nicht festzulegen.« Ich empfand ein sonderbares Schuldgefühl, auch wenn mir nicht klarwurde, warum eigentlich. Und so musste ich fragen: »Worauf spielst du an. Don Juan?« »Auf deine Begegnungen mit den anorganischen Wesen«, erwi derte er trocken. »Machst du Spaß? Welche Begegnungen?« »Ich wollte nicht darüber sprechen. Aber ich glaube, es wird Zeit, dir zu sagen, daß die nörgelnde Stimme, die du hörtest und die dich ermahnte, deine Traum-Aufmerksamkeit auf die Gegenstände deiner Träume zu fixieren, die Stimme eines anorganischen Wesens war.« Ich fand Don Juans Bemerkung völlig abstrus. So wütend wurde ich. daß ich ihn sogar anbrüllte. Er lachte über mich und forderte mich dann auf, ihm von meinen unregelmäßigen Traumübungen zu berichten. Die Frage überraschte mich. Ich hatte niemandem erzählt, daß ich immer wieder aus einem Traum hinausschwebte, angezogen von einem bestimmten Gegenstand, aber statt nun den Traum zu wechseln, wie ich es hätte tun sollen, veränderte sich die ganze Stimmung des Traumes, und ich fand mich in einer mir unbekannten Dimension wieder. Dort flog ich umher, gelenkt von einem unsichtbaren Führer, der mich im Kreis herumwirbeln ließ. Stets erwachte ich aus einem solchen Traum, immer noch wirbelnd, und wälzte und rollte mich noch längere Zeit herum, bis ich vollends erwachte. 68
»D as sind unschuldige B egegnungen, die du m it deinen F reunden unter d en ano rganischen W esen hast«, sagte D o n Juan. Ic h w o llte ih m n ic h t w id e rsp re c h e n , w o llte ih m a b e r a u c h n ic h t beipflichten. S o schw ieg ich. M eine F rage nach den alten Z aubere rn h a tte ic h v e rg e sse n , a b e r D o n Ju a n k a m w ie d e r a u f d a s T hem a zurück. »Ich b in üb erzeugt, d aß d ie alten Z aub erer scho n vo r etw a zehn ta u se n d Ja h re n le b te n «, sa g te e r lä c h e ln d u n d m e in e R e a k tio n b eo b achtend . G estützt auf die neuesten archäologischen B efunde über die W an d e ru n g e n a sia tisc h e r N o m a d e n stä m m e n a c h A m e rik a , b e z w e ife lte ic h d ie R ic h tig k e it d ie se s D a tu m s. Z e h n ta u se n d Ja h re , d a s sei viel zu früh angesetzt. »D u h a st d e in W isse n , u n d ic h h a b e m e in e s«, sa g te e r. »M e in W isse n b e sa g t, d a ß d ie a lte n Z a u b e re r v ie rta u se n d Ja h re la n g h e rrsc h te n , v o n v o r sie b e n ta u se n d b is v o r d re ita u se n d Ja h re n . V o r d re ita u se n d Ja h re n v e rsc h w a n d e n sie v o n d e r E rd e . S e ith e r hab en d ie Z aub erer um grup p iert - und w ied er aufgeb aut, w as d ie alten Z auberer hinterlassen h a tte n .« »W ie k a n n st d u d ir d e in e r Z e ita n g a b e n so sic h e r se in ? « fra g te ich. »W ie kannst d u d ir d er d einen so sicher sein? « erw id erte er. Ich sagte ihm , daß die A rchäologen narrensichere M ethoden hätten, d ie D aten früherer K ulturen festzustellen. U nd er w ied erum antw ortete, daß die Z auberer ihre eigenen narrensicheren M ethod en hätten. »Ic h w ill d ir n ic h t w id e rsp re c h e n , o d e r m it d ir stre ite n «, fu h r e r fo rt, »ab er vielleicht w irst d u b ald G elegenheit hab en, jem and en zu fragen, der es m it S icherheit w e iß .« »N iem and kann d ies m it S icherheit w issen. D o n Juan.« »V ielleicht w irst d u auch d as nicht glaub en, ab er es gib t jem and e n , d e r a lle s b e stä tig e n k a n n . E in e s T a g e s w irst d u d ie se n M enschen kennenlernen.« »A c h , k o m m . D o n Ju a n , d u m a c h st W itz e . W e r k ö n n te b e stä ti gen, w as vo r sieb entausend Jahren geschah? « »S ehr einfach. E iner d er alten Z aub erer, üb er d ie w ir gesp ro chen h a b e n . D e rje n ig e , d e m ic h b e g e g n e t b in . E r ist e s. d e r m ir a lle s von den alten Z auberern erzählt h a t. Ich hoffe, du w irst dich späte r a n d a s e rin n e rn , w a s ic h d i r je tz t ü b e r d ie se n M a n n e rz ä h le n 69
will. Er ist der Schlüssel zu vielen unserer Unternehmungen, und darum mußt du ihn kennenlernen.« Ich versicherte Don Juan, daß ich begierig seinen Worten lauschte, auch wenn ich nicht verstand, was er sagte. Und er warf mir vor. ihm nur zu schmeicheln, während ich kein Wort über die alten Zauberer glaubte. Ich musste zugeben, daß ich im Zustand alltäglicher Bewußtheit natürlich nicht an so überspannte Ge schichten geglaubt hatte. Aber auch in der zweiten Aufmerksamkeit hatte ich nicht daran geglaubt, obwohl ich hier anders hätte reagieren sollen. »Nur wenn du darüber nachgrübelst, was ich gesagt habe, wird es eine überspannte Geschichte. Wenn du deine Vernunft beiseite lässt, ist es nur noch eine Frage von Energie.« »Wieso sagtest du, Don Juan, daß ich einen der alten Zauberer kennenlernen werde?« »Weil du ihn kennenlernen wirst. Es ist von entscheidender Be deutung, daß ihr beide euch eines Tages begegnet. Einstweilen will ich dir noch eine überspannte Geschichte über einen der Na guals meiner Linie erzählen, den Nagual Sebastian.« Der Nagual Sebastian, sagte Don Juan, habe zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts als Küster an einer Kirche im Süden Mexikos gelebt. Don Juan betonte bei seinem Bericht, daß die früheren und auch die modernen Zauberer in etablierten Institutionen wie der Kirche Zuflucht suchen - und auch finden. Er vermutete, daß die Zauberer - wegen ihrer überlegenen Disziplin - als vertrauenswürdige Arbeitnehmer gelten und von Institutionen, die immer Bedarf an solchem Personal haben, gerne beschäftigt werden. Solange niemand etwas vom Tun und Treiben der Zauberer erfahre, meinte Don Juan, lasse ihr Mangel an ideologischen Neigungen sie als vorbildliche Arbeiter erscheinen. Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte und sagte, daß eines Tages, während Sebastian seinen Küsterpflichten nachging, ein sonderbarer Mann in die Kirche gekommen sei. ein alter Indianer, der krank zu sein schien. Mit schwacher Stimme erzählte er Sebastian, er brauche Hilfe. Der Nagual glaubte, der Indianer wolle den Priester der Pfarrgemeinde sprechen, aber der Mann wandte sich mit großem Nachdruck an den Nagual. Streng und unverblümt sagte er ihm. er wisse, daß Sebastian nicht nur ein Zauberer, sondern auch ein Nagual sei. 70
S e b a stia n , se h r b e u n ru h ig t d u rc h d ie se p lö tz lic h e W e n d u n g d e r D in g e , z o g d e n In d ia n e r b e ise ite u n d v e rla n g te e in e E n tsc h u ld i gung. D er M ann erw id erte, er hab e keinesw egs d ie A b sicht, sich z u e n tsc h u ld ig e n , so n d e rn e rw a rte b e so n d e re H ilfe . E r b ra u c h e , sa g te e r, d ie E n e rg ie d e s N a g u a l. u m se in L e b e n z u v e rlä n g e rn , d a s - w ie e r S e b a stia n b e te u e rte - sc h o n Ja h rta u se n d e w ä h rte , ab er sich d am als zum E nd e neigte. S eb astian, ein sehr intelligenter M ann, w ar nicht b ereit, sich so l chen U nsinn anzuhö ren, und b at d en Ind ianer, m it seinen S p aß en a u fz u h ö re n . D e r a lte M a n n w u rd e w ü te n d u n d d ro h te S e b a stia n a n . ih n u n d se in e G ru p p e b e i d e r k irc h lic h e n O b rig k e it a n z u z e i g e n , w e n n e r se in e r F o rd e ru n g n ic h t n a c h k o m m e . D ie s g e sc h a h z u e in e r Z e it, e rin n e rte m ic h D o n Ju a n , a ls d ie kirchlichen B ehö rd en m it b rutaler H ärte d ie häretischen B räuche und K ulte b ei d en Ind ianern d er N euen W elt system atisch auszuro tte n su c h te n . D ie D ro h u n g d e s M a n n e s w a r a lso n ic h t a u f d ie leichte S chulter zu nehm en; d er N agual und seine G rup p e w aren ta tsä c h lic h in e rn ste r G e fa h r. S e b a stia n fra g te d e n In d ia n e r, a u f w elche W eise er ihm E nergie geb en kö nne. D er M ann e r k l ä r t e . d aß d ie N aguals d urch ihre D iszip lin e in e b eso nd ere E nergie ansam m eln, die sie in ihrem K örper speichern und die er schm erzlos a u s S e b a stia n s E n e rg ie Z e n tru m . a m N a b e l g e le g e n , a b z ie h e n w e rd e . A ls G e g e n le istu n g w ü rd e S e b a stia n n ic h t n u r d ie C h a n c e e rh a lte n , se in e A k tiv itä te n fo rtz u se tz e n , so n d e rn z u sä tz lic h a u c h e in G eschenk d er K raft. D ie E rkenntnis, vo n d em alten I n d i a n e r m anip uliert zu w erd en, gefiel d em N agual üb erhaup t n i c h t , ab er d er M ann w ar unerb ittlic h u n d lie ß i h m k e in e n a n d e re n W e g , a ls se in A n sin n e n z u erfüllen. D o n Ju a n v e rsic h e rte m ir, d a ß d e r a lte In d ia n e r m it se in e n B e h a u p tu n g e n k e in e sw e g s ü b e rtrie b e n h a b e . E r w a r. w ie sic h h e r a u sste llte , e in e r d e r Z a u b e re r a u s d e r V o rz e it, e in e r v o n d e n e n , d ie b e k a n n t sin d a ls »je n e , d ie d e m T o d e tro tz e n «. A n sc h e in e n d hatte er b is in d ie G egenw art üb erleb t, ind em er seinen M o ntage p u n k t a u f e in e n u r ih m b e k a n n te A rt m a n ip u lie rte . W as dann zw ischen S ebastian und dem M ann geschah, sagte D on Ju a n , w u rd e sp ä te r z u r G ru n d la g e fü r e in e n V e rtra g , a n d e n sic h alle sechs N aguals. d ie S eb astian nachfo lgten, geb und en fühlten. Je n e r, d e r d e m T o d e tro tz te , h ie lt se in W o rt: a ls G e g e n le istu n g 71
für die E nergie, die er von jedem dieser M änner erhielt, m achte er dem Spender ein G eschenk, eine G abe der K raft. A uch Sebastian hatte solch eine G abe akzeptieren m üssen, w enngleich w i derstrebend; er stand m it dem R ücken zur W and und hatte keine andere W ahl. A lle anderen N aguals, die ihm folgten, akzeptierten aber froh und stolz ihr G eschenk. D am it beendete D on Juan seine E rzählung. D er dem T ode T rot zende, sagte er, sei dann als der M ieter bekannt gew orden. U nd m e h r a ls z w e ih u n d e rt J a h re la n g h ä tte n d ie N a gu a ls v o n D o n Ju an s L in ie d iese b in d en d e V erein b aru n g ein geh alten u n d ein e sym biotische B eziehung gepflegt, die schließlich E ntw icklung und Z iel ihrer L inie verändern sollte. D on Juan w ar nicht bereit, diese G eschichte w eiter zu erläutern; doch er verm ittelte m ir einen m erkw ürdigen E indruck von W ahr heit, der beunruhigender w ar, als ich gedacht hätte. »W ie konnte er so lange leben?« fragte ich. »D as w eiß n iem an d «, erw id erte D o n Ju an . »S eit G en eratio n en w issen w ir von ihm nur, w as er uns erzählt. D er dem T ode trotzt ist d e rje n ige , d e n ic h ü b e r d ie a lte n Z a u b e re r b e fra gte , u n d e r sagte m ir, d aß sie vo r d reitau sen d Jah ren d en G ip fel ih rer E n tw icklung überschritten hätten.« »W oher w eißt du, daß er die W ahrheit sprach?« fragte ich. D o n Ju an sch ü ttelte verw u n d ert, so gar leich t m issb illigen d d en K opf. »A ngesichts des unvorstellbaren U nbekannten dort draußen«, sagte er, m it dem A rm in die Ferne deutend, »gibt m an sich nicht m it kleinlichen L ügen ab. K leinliche L ügen sind nur etw as fü r L eu te, d ie n iem als geseh en h ab en , w as d o rt d rau ß en ist u n d auf sie w artet.« »W as w artet dort draußen auf uns, D on Juan?« Seine A ntw ort, eine scheinbar harm lose Form ulierung, w ar beängstigender für m ich, als hätte er das G rauenhafteste beschrieben. »E tw as völlig U npersönliches«, sagte er. V ielleicht hatte er bem erkt, daß ich die Fassung verlor. So ver setzte er m ich in einen anderen B ew usstseinszustand, um m eine F urcht zu vertreiben. E in paar M onate später nahm en m eine T raum übungen eine son derbare W endung. E s begann dam it, daß ich in m einen T räum en auf einm al A ntw orten auf F ragen erhielt, die ich D on Juan hatte
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stellen w o llen . D as B em erken sw erteste an d ieser E n tw icklu n g w ar, daß sie bald auch auf m eine w achen Stunden übergriff. U nd eines T ages, w ährend ich am Schreibtisch saß, erhielt ich A ntw ort auf eine unausgesprochene Frage nach der R ealität anorganischer W esen. So oft hatte ich anorganische W esen im T raum gesehen, daß ich sie allm ählich für ganz real hielt. Ich erinnerte m ich, daß ich in einem Zustand halbnorm aler B ew ußtheit, in der W üste von S o n o ra, ein es vo n ih n en so gar kö rp erlich b erü h rt h atte. U n d in m ein en T räu m en h atte es im m er w ied er A u sb licke au f W elten gegeben, die w ohl kaum , so überlegte ich, P rodukte m einer eigen en m en talen P ro zesse sein ko n n ten . Ich w o llte D o n Ju an ein e präzise Frage vorlegen, und so form ulierte ich m ein P roblem fol genderm aßen: W enn m an akzeptieren w ill, daß die anorganischen W esen ebenso real sind w ie M enschen - w o befindet sich in der physikalischen R ealität des U niversum s dann die S phäre, in der sie existieren? N achdem ich m ir diese Frage im K opf zurechtgelegt h a t t e , hörte ich ein m erkw ürdiges G elächter, ähnlich w ie ich es an jenem T ag hörte, als ich m it dem anorganischen W esen rang. D ann antw or t e t e m ir d ie S tim m e ein es M an n es: »D iese S p h äre existiert in einer bestim m ten P osition des M ontagepunktes«, sagte sie. »Ä hnlich w ie deine W elt in der gew ohnten Position des M ontage punktes existiert.« Ic h h a tte n ic h t im S in n , e i n e n D ia lo g m it e in e r k ö rp e rlo se n S tim m e an zu fan gen , d aru m sp ran g ich au f u n d ran n te au s d em H aus. Ich glaubte, den V erstand zu v e rlie re n : eine Sorge m ehr zu m ein em S o rgen b ü n d el. D ie S tim m e w ar so k l a r u n d so vo ller A u to rität gew esen , d aß sie m ich n ich t n u r faszin ierte, so n d ern auch erschreckte. V oll B angen w artete ic h auf w eitere Ü berfälle dieser Stim m e, doch der V organg sollte sich n ie w iederholen. B ei d er ersten G elegen h eit, d ie sich b o t, h o lte ich m ir R at b ei D o n Juan. E i schien n i c h t im m indesten beeindruckt. »D u m ußt endlich be greifen, daß solche D inge im Leben eines Zauberers ganz norm al sind«, sagte er. »D u w irst keinesw egs verrückt. D u hast lediglich die Stim m e des T raum -B otschafters gehört. B eim D urchschreiten der ersten und zw eiten P forte des T räum ens erreichen die T räu m e r e in e n S c h w e lle n w e rt a n E n e rgie u n d b e gin n e n D in ge z u sehen oder S tim m en zu hören. N icht e i g e n t l i c h m ehrere S tirn 73
men, sondern eine einzelne Stimme. Die Zauberer nennen sie die Stimme des Traum-Botschafters.« »Was ist der TraumBotschafter?« »Fremde Energie, die Festigkeit angenommen hat. Fremde Energie, die den Träumern angeblich hilft, indem sie ihnen Dinge offenbart. Das Fragwürdige an der Stimme des Traumbotschafters ist, daß sie nur verraten kann, was die Zauberer bereits wissen oder wissen sollten, falls sie ihren Namen verdienen.« »Mit deiner Beschreibung, daß es festgewordene fremde Energie ist. kann ich nichts anfangen, Don Juan. Was für eine Energie ist das: eine wohltätige, schädliche, richtige, falsche - oder was?« »Es ist einfach fremde Energie, wie ich sagte. Eine unpersönliche Kraft, die wir zu einer persönlichen machen, weil sie eine Stimme hat. Manche Zauberer schwören darauf. Sie sehen sie sogar. Oder sie hören sie, wie du sie gehört hast, einfach als männliche oder weibliche Stimme. Und diese Stimme sagt ihnen Dinge, die diese Leute oft als geheiligte Ratschläge auffassen.« »Warum hören manche von uns diese Energie als Stimme?« »Wir sehen oder hören sie, weil wir unseren Montagepunkt in einer bestimmten, neuen Position fixiert halten; je stärker diese Fixierung ist, desto eindringlicher erleben wir den Botschafter. Paß nur auf! Am Ende siehst und fühlst du ihn als nacktes Weib.« Don Juan lachte über seinen eigenen Spaß, doch ich war zu er schrocken für derlei Frivolitäten. »Kann diese Kraft sich materialisieren?« fragte ich. »Aber gewiß«, antwortete er. »Und alles hängt davon ab, wie stark der Montagepunkt fixiert ist. Doch sei beruhigt; falls du dir eine gewisse Überlegenheit bewahren kannst, wird nichts passieren. Dann bleibt der Botschafter, was er ist: eine unpersönliche Kraft, die aufgrund der Fixierung unseres Montagepunktes auf uns einwirkt.« »Gibt er vernünftige Ratschläge?« »Es können gar keine Ratschläge sein. Er sagt uns nur, was was ist, und dann ziehen wir unsere eigenen Schlüsse.« Und nun erzählte ich Don Juan, was die Stimme mir gesagt hatte. »E s ist so, w ie ich dir sagte«, m einte D on Juan. »D er B otschafter 74
hat dir nichts N eues gesagt. Seine A ussage w ar richtig, aber er hat dir nur scheinbar etw as offenbart. D er B otschafter hat nichts andres getan, als dir zu w iederholen, w as du schon w ußtest.« »T u t m ir leid , D o n Ju an , ab er ich kan n n ich t b eh au p ten , d aß ich all dies bereits w ußte.« »A ber sicher. D u w eißt unendlich viel m ehr über das M ysterium d e s U n iv e rsu m s, a ls d u ra tio n a l v e rm u te n k a n n st. A b e r d a s ist unsere m enschliche M alaise - daß w ir m ehr über das M ysterium des U niversum s w issen, als w ir annehm en.« D ie T atsache, daß ich dieses unglaubliche P hänom en ganz allein en td eckt h atte, o h n e D o n Ju an s A n leitu n g, m ach te m ich b ein ah euphorisch. Ich brauchte m ehr Inform ationen über den B otschafte r. S o w o llte ic h D o n J u a n fra ge n , o b a u c h e r d ie S tim m e d e s B o tsch afters geh ö rt h ätte. E r u n terb rach m ich u n d sagte m it b reitem G rin sen : »Ja. j a . D er B o tsc h a fte r sp ric h t a u c h z u m ir. In m e in e r J u ge n d sa h ic h ih n im m er als M önch m it schw arzer K utte. E in schw atzender M önch, der m ir jedesm al höllische A ngst m achte. D ann, als ich besser m it m einer A ngst um gehen konnte, w urde er zur körperlosen Stim m e, die m ir bis heute D inge v e r r ä t .« »W as für D inge, D on Juan?« »A lles, w orauf ich m eine A bsicht richte. L auter D inge, die her auszufinden ich zu faul bin. Z um B eispiel, w as m eine Schüler so treiben, w enn ich nicht da b in . V or allem über dich erzählt sie m ir gew isse D inge. D er B otschafter verrät m ir alles, w as du tust.« M ir w ar es inzw ischen egal, w elche R ichtung unser G espräch ge n o m m en h atte. W äh ren d er sich vo r L ach en krü m m te, kreisten m e in e G e d a n k e n k ra m p fh a ft u m a n d e re T h e m e n , z u d e n e n ic h ihm Fragen s te lle n w ollte. »Ist d er T rau m b o tsch after ein an o rgan isch es W esen ? « fragte ich. »S a ge n w ir. d e r T ra u m b o tsc h a fte r ist e in e K ra ft, d ie a u s d e m R e ic h d e r a n o rga n isc h e n W e se n k o m m t. D a s ist d e r G ru n d , w arum die T räum er ihm im m er begegnen.« »W illst d u d am it sagen , D o n Ju an , d aß jed er T räu m er d en B o tsch after h ö rt o d er sieh t? « »J e d e r h ö rt d e n B o tsc h a fte r; n u r w e n ige se h e n o d e r fü h le n ihn.« 75
»H ast d u eine E rklärung d afür? « »N ein. A uß erd em ist m ir d er B o tschafter ziem lich gleichgültig. Irgend w ann in m einem L eb en m usste ich d ie E ntscheid ung treffen, ob ich m ich m it den anorganischen W esen befassen und in die F u ß sta p fe n d e r a lte n Z a u b e re r tre te n - o d e r a ll d ie s a b le h n e n sollte. M ein Lehrer, der N agual Julian, half m ir, m ich zu entscheiden und es abzulehnen. D iese E ntscheidung habe ich nie bedauert.« »G la u b st d u , d a ß a u c h ic h d ie a n o rg a n isc h e n W e se n a b le h n e n so llte. D o n Juan? « E r antw o rtete nicht. S tatt d essen erklärte er m ir, d aß d ie S p häre d e r a n o rg a n isc h e n W e se n ste ts b e re it se i, u n s e tw a s z u le h re n . V ielleicht w eil die anorganischen W esen ein höheres B ew usstsein hätten als w ir, fühlten sie sich gezw ungen, uns unter ihre F ittiche zu nehm en. »F ür m ich w ar es ab er sinnlo s, ihr S chüler zu w erd en«, fügte er hinzu. »D er P reis, d en sie fo rd ern, ist m ir zu ho ch.« »W elches ist ihr P reis?« »U nser L eben, unsere E nergie, unsere H ingabe an sie. M it anderen W o rten, unsere F reiheit.« »A ber w as lehren sie uns?« »D inge, die m it ihrer W elt zu tun haben. G anz ähnlich w ie w ir sie. fa lls w ir sie le h re n k ö n n te n , ü b e r D in g e u n se re r W e lt b e le h re n w ü rd e n . Ih re L e h rm e th o d e ist a b e r, u n se r in n e rste s S e lb st z u m M aßstab dessen zu nehm en, w as w ir benötigen, und uns entspre chend zu unterw eisen. E in sehr gefährliches U nterfangen.« » I c h sehe nicht ein, w arum es gefährlich sein sollte.« »W enn jem and dein innerstes Selbst zum M aßstab nähm e, m it a ll deinen Ä ngsten und deiner G ier und deinem N eid und so w eiter, und dich nur D inge le h r te , die diesen schrecklichen Z ustand befried igten - w as, glaub st d u, w äre d ie F o lge? « Ic h w u ß te n ic h ts z u e rw id e rn . N u n g la u b te ic h . d ie G rü n d e , w arum er all d ies ab gelehnt hatte, vo llko m m en zu verstehen. »D ie Schw ierigkeit bei den alten Zauberern w ar, daß sie w underb are D inge lernten, allerd ings auf d er E b ene ihres unverd o rb enen, unentw ickelten S elb st«, fuhr D o n Juan fo rt. »D ann w urd en d ie a n o rg a n isc h e n W e se n ih re V e rb ü n d e te n , u n d a n h a n d k lu g ausgew ählter B eispiele lehrten sie die alten Zauberer w ahre W und e r. D ie V e rb ü n d e te n v o llb ra c h te n e rsta u n lic h e T a te n , u n d d ie 76
alten Z au b erer w u rd en S ch ritt u m S ch ritt an geleitet, d iese T aten n ach zu ah m en , o h n e an ih rem in n ersten W esen etw as zu verän dern.« »G ibt es noch heute solche B eziehungen zu anorganischen W e sen?« »D arauf kann ich nicht w ahrheitsgem äß antw orten. Ich kann nur sagen, daß ich m ir nicht vorstellen kann, selbst eine solche B ezie hung einzugehen. Solche V erstrickungen hem m en unser Streben n ach F reih eit, in d em sie all u n sere verfü gb are E n ergie verb rau c h e n . U m w irk lic h d e m B e isp ie l d e r V e rb ü n d e te n z u fo lge n , m ußten die alten Z auberer ihr L eben im R eich der anorganischen W e se n v e rb rin ge n . U n d e s ist v e rb lü ffe n d , w e lc h e M e n ge n a n E n e rgie so lc h e in e la n ge R e ise in e in e a n d e re S p h ä re e rfo rdert.« »W illst du dam it sagen, D on Juan, daß die alten Z auberer in j e n e n S p h ä re n e x istie re n k o n n te n , ge n a u w ie w ir h ie r e x istie ren?« »N icht ganz so, w ie w ir hier existieren - aber sicherlich lebten sie: sie behielten ihr B ew usstsein, ihre Individualität. D er T raum bot sc h a fte r w u rd e fü r d ie se Z a u b e re r z u r w ic h tigste n W e se n h e it. W enn ein Zauberer im R eich der anorganischen W esen leben w ill, ist der B otschafter der perfekte M ittler; er spricht und ist bereit zu lehren und zu führen.« »W arst du je in diesem R eich, D on Juan?« »U n zäh lige M ale. G en au w ie d u . D o ch es ist sin n lo s, jetzt d ar ü b e r z u sp re c h e n . D u h a st d e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it n o c h nicht von allem B allast befreit. E ines T ages w erden w ir über diese S phäre sprechen.« »V e rste h e ic h d ic h ric h tig, D o n J u a n , d a ß d u d e n B o tsc h a fte r nicht liebst und nicht billigst?« »W e d e r lie b e n o c h b illige ic h i h n . E r ge h ö rt z u e in e r a n d e re n S ein sw eise - d er S ein sw eise d er alten Z au b erer. A u ß erd em sin d seine Lehren und R atschläge in unserer W elt nur U nsinn. U nd für d iesen U n sin n verlan gt d er B o tsch after u n s gew altige E n ergien ab. E ines T ages w irst du m ir beipflichten. D u w irst sehen.« D er T on, w ie D on Juan all dies sagte, verriet m ir seine B esorgnis, ich könnte über den B otschafter anders denken als er. Ich w o llte ih n d a ra u f a n sp re c h e n , a ls ic h d ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs in m ein em O h r h ö rte. »E r h at rech t«, sagte d ie S tim m e. »D u lieb st 77
m ic h , w e il d u b e re it b ist, a lle M ö g lic h k e ite n z u e rfo rsc h e n . D u v e rla n g st W isse n ; u n d W isse n ist M a c h t. D u h a st n ic h t d e n W unsch nach G eborgenheit in der R outine und in den A nsichten deiner A lltagsw elt.« A ll dies sagte der B otschafter auf englisch, m it einem deutlichen W e stk ü ste n -A k z e n t. D a n n fie l e r in s S p a n isc h e . Ic h h ö rte e in e leicht argentinische A ussprache heraus. N iem als früher h a t t e ich den B otschafter so sprechen hören. E s faszinierte m ich. D er B ot sc h a fte r sp ra c h z u m ir v o n S e lb stv e rw irk lic h u n g u n d W isse n ; d arüb er, w ie w eit ich vo n m einem G eb urtsland entfernt sei; üb er m eine S ehnsucht nach A b enteuern und m eine b einah b esessene S uche nach N euem , nach neuen H o rizo nten. S chließ lich sp rach die S tim m e sogar auf P ortugiesisch zu m ir, m it einer eindeutigen F lexion aus der südlichen P am pa. D a ß d ie se S tim m e m ir so sc h a m lo s sc h m e ic h e lte , e rsc h re c k te m ich nicht nur, so nd ern w ar m ir so gar w id erw ärtig. Ich sagte zu D o n Juan, ich w o lle m eine T raum üb ungen so fo rt ab b rechen. E r sa h m ic h ü b e rra sc h t a n . D o c h a ls ic h i h m w ie d e rh o lte , w a s ic h gehört hatte, pflichtete er m ir bei, ich solle aufhören - auch w enn ich glaubte, er sage es nur, um m ich zu beschw ichtigen. E inige W ochen später fand ich m eine R eaktion einigerm aßen hyste risc h und m e in e E n tsc h e id u n g , m ic h z u rü c k z u z ie h e n , se h r unvernünftig. Ich nahm m eine T raum üb ungen w ied er auf. U nd w a r m ir sic h e r, d a ß D o n Ju a n w u ß te , d a ß ic h m e in e n V e rz ic h t w iderrufen hatte. B e i e in e m m e in e r B e su c h e k a m e r g a n z u n v e rm itte lt a u f d ie T rä u m e z u sp re c h e n : »D ie T a tsa c h e a lle in , d a ß w ir n ie g e le rn t hab en, d ie T räum e als G egenstand ernster F o rschung aufzufas se n , h a t n ic h ts z u b e sa g e n «, e rk lä rte e r. »M a n a n a lysie rt d ie B ed eutung d er T räum e, m an nim m t sie als O m en, ab er niem and b egreift sie als S p häre realer E reignisse. D ie s a b e r ta te n d ie a l t e n Z a u b e re r, so v ie l ic h w e iß «, fu h r D o n Juan fort. »A ber le id e r verpatzten sie schließlich alles. S ie w urden anm aßend, und als sie vor einem w ichtigen Scheidew eg standen, gingen sie in die falsche R ichtung. Sie le g te n , sozusagen, alle E ier in einen K o rb . W as ich m eine, ist d ie F ixierung d es M o nta g e p u n k ts a u f a ll d ie z a h llo se n P o sitio n e n , d ie e r e in n e h m e n kann.« D o n Ju a n w u n d e rte sic h , d a ß v o n a ll d e n W u n d e rn , w e lc h e d ie 78
alten Zauberer beim Erforschen dieser unzähligen Positionen des Montagepunktes lernen durften, nur die Kunst des Träumens und die Kunst des Pirschens Übriggeblieben seien. Bei der Kunst des Träumens, wiederholte er, ginge es um die Verschiebung des Montagepunkts. Die Kunst des Pirschens hingegen definierte er als die Kunst, den Montagepunkt an der Stelle zu fixieren, an die er sich verschoben hat. »Den Montagepunkt an einer neuen Stelle zu fixieren bedeutet. Kohäsion oder Zusammenhalt zu gewinnen«, sagte er. »Genau dies tust du bei deinen Traumübungen.« »Ich dachte, ich sollte meinen Energiekörper schulen«, sagte ich, leicht erstaunt über seine Worte. »Ja, das tust du. Aber noch viel mehr. Du lernst dabei, Kohäsion zu gewinnen. Dies gelingt beim Träumen, denn der Träumer muß lernen, seinen Montagepunkt zu fixieren. Die Traum-Aufmerk samkeit, der Energiekörper, die zweite Aufmerksamkeit, die Beziehung zu anorganischen Wesens, der Traumbotschafter - all dies sind nur Nebenprodukte beim Erwerb von Kohäsion. Mit anderen Worten, sie alle sind Nebenprodukte der Fixierung des Montagepunktes auf eine Reihe von Traumpositionen.« »Was ist eine Traumposition, Don Juan?« »Eine neue Position, in die sich der Montagepunkt im Schlaf ver schoben hat.« »Wie fixieren wir den Montagepunkt in einer Traumposition?« »Indem wir den Anblick irgendeines Gegenstandes in einem Traum festhalten, oder indem wir bewußt die Träume wechseln. Bei deinen Traumübungen übst du in Wirklichkeit deinen Zusam menhalt ein; das heißt, du übst deine Fähigkeit, neue Energie gestalten beizubehalten, indem du den Montagepunkt in der Position eines bestimmten Traums fixierst, den du gerade träumst.« »Kann ich wirklich eine neue Energiegestalt beibehalten?« »Nicht eigentlich; und nicht deshalb, weil du's nicht tun könntest, sondern nur. weil du den Montagepunkt verlagerst, statt ihn zu bewegen. Verlagerungen des Montagepunkts bewirken winzige Veränderungen, die praktisch unbemerkt bleiben. Die Herausfor derung bei den Verlagerungen besteht darin, daß sie so klein und so zahlreich sind, daß es schon ein Triumph ist, bei alledem den Zusammenhalt zu wahren.« 79
»W ie erkennen w ir, d aß w ir unseren Z usam m enhalt w ahren?« »W ir e rk e n n e n e s a n d e r K la rh e it u n se re r W a h rn e h m u n g e n . Je klarer der A nblick unserer T räum e, desto größer ist unser Z usam m enhalt.« U nd d ann sagte er m ir, es sei an d er Z eit, d aß ich eine p raktische A n w e n d u n g fä n d e fü r d a s, w a s ic h b e im T rä u m e n g e le rn t h ä tte . O h n e m ir d ie C h a n c e z u w e ite re n F ra g e n z u la sse n , fo rd e rte e r m ich auf, m eine A ufm erksam keit - ganz w ie im T raum - auf d as L a u b e in e s B a u m e s z u k o n z e n trie re n , d e r n ic h t w e it v o n u n s in d er W üste stand , eines M esq uitestrauches. »S o ll ich ihn anstarren? « fragte ich. »D u sollst ihn nicht einfach anstarren; du sollst etw as ganz B eson d e re s m it se in e m L a u b m a c h e n «, sa g te e r. »E rin n e re d ic h d a ra n , d aß d u in d einen T räum en, so b ald d u d en A nb lick eines G egen stands festhalten kannst, in W irklichkeit die T raum position deines M o ntagep unktes b eib ehältst. S tarre jetzt also auf d ieses L aub , als o b d u im T raum w ärst, ab er m it einer leichten, w enn auch w ichtig e n A b w a n d lu n g : d u so llst d e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it a u f d ie B lätter d es M esq uitestrauchs richten, und zw ar in d einem all täglichen B ew uß tseinszustand .« Ic h w a r z u n e rv ö s, u m ih m z u fo lg e n . G e d u ld ig e rk lä rte e r m ir no ch einm al, d aß ich, ind em ich d as L aub anstarrte, eine w inzige V erschieb ung m eines M o ntagep unktes erzielen w ürd e. U nd d ann w ü rd e ic h , in d e m ic h b e im A n sta rre n e in z e ln e r B lä tte r m e in e T raum -A ufm erksam keit aktivierte, tatsächlich diese w inzige V er schieb ung fixieren; und m eine K o häsio n w ürd e m ir erlaub en, m it H ilfe d e r z w e ite n A u fm e rk sa m k e it w a h rz u n e h m e n . L a c h e n d m einte er no ch, d ie S ache sei so kind erleicht, d aß sich E rklärungen erüb rigten. N un j a , D o n Juan hatte recht. Ich b rauchte nur m einen B lick auf d a s L a u b z u ric h te n , ih n d o rt z u h a lte n - u n d sc h o n w u rd e ic h in ein w irbelndes G efühl hineingerissen, ganz ähnlich w ie die W irbel in m e in e n T rä u m e n . D a s L a u b d e s M e sq u ite stra u c h s w u rd e z u einem ganzen U niversum vo n S innesd aten. E s w ar, als hätte d as L aub m ich verschluckt, ab er nicht nur m ein B lick w ar d aran b e te ilig t. W e n n ic h d ie B lä tte r b e rü h rte , sp ü rte ic h sie ta tsä c h lic h . Ich ro ch sie auch. M eine T raum -A ufm erksam keit w ar m ulti-sen so risch, nicht nur visuell, w ie in m einen no rm alen T räum en. 80
Was als ein Starren auf das Laub des Mesquitestrauchs begonnen hatte, war zum Traum geworden. Ich glaubte, ich sei in einem geträumten Baum, wie ich schon selbst in unzähligen Träumen in einem Baum gesessen hatte. Und natürlich verhielt ich mich in diesem geträumten Baum, wie ich mich in meinen Träumen zu verhalten gelernt hatte; ich wechselte von Gegenstand zu Gegen stand, angezogen von der Macht eines Wirbels, der in jedem Teil des Baumes Gestalt annahm, auf den ich meine multi-sensorische Traum-Aufmerksamkeit richtete. Wirbel bildeten sich nicht nur, wenn ich ein Objekt anstarrte, sondern auch, wenn ich es mit einem Teil meines Körpers berührte. Mitten in dieser Vision, diesem Traum, bestürmten mich rationale Zweifel. Ich fragte mich, ob ich tatsächlich in betäubtem Zustand auf den Wipfel dieses Baumes geklettert war, ob ich tatsächlich die Blätter streichelte, ohne zu wissen, was ich tat. Oder ob ich eingeschlafen war, vielleicht hypnotisiert vom Rascheln der Blätter im Wind, und jetzt träumte? Aber, wie sonst beim Träumen, hatte ich nicht genug Energie für lange Überlegungen. Meine Gedanken flogen nur so dahin. Sie dauerten einen Augenblick, dann wurden sie durch die Macht der direkten Erfahrung gelöscht. Plötzlich geriet alles ringsum in Bewegung, und ich tauchte aus dem Blätterdickicht auf, als hätte eine magnetische Anziehung des Baumes mich losgelassen. Jetzt überblickte ich, aus einiger Höhe, einen unermeßlichen Horizont. Dunkle Berge und grüne Vegetation umgaben mich. Wieder erschütterte mich ein Energie stoß bis ins Innerste, und ich war wieder woanders. Riesige Bäume ragten vor mir auf, höher als die Douglaskiefern von Ore gon oder Washington. Nie hatte ich einen solchen Wald gesehen. Die Landschaft stand in so starkem Kontrast zur Trockenvegetation der Wüste von Sonora. daß ich nicht mehr bezweifeln konnte, daß ich in einem Traum war. Ich hielt diesen verblüffenden Anblick fest, hatte Angst loszulassen, und wußte doch, daß es tatsächlich ein Traum war und verschwinden würde, sobald meine Traum-Aufmerksamkeit zu Ende ging. Aber die Bilder blieben, auch als ich glaubte, daß meine Traum-Aufmerksamkeit längst erschöpft sei. Und nun kam mir ein beängstigender Gedanke: Wie, wenn dies weder ein Traum noch die alltägliche Welt wäre? Furchtsam - wie ein verängstigtes Tier - wich ich wieder ins Blät
terd ickich t zu rü ck, au s d em ich au fgetau ch t w ar. D er S ch w u n g m e in e r R ü c k w ä rtsb e w e gu n g lie ß m ic h im m e r w e ite r flie ge n , durch das L aub und um die harten Ä ste des B aum es herum . Ich w urde fortgerissen von diesem B aum , und im B ruchteil einer Se kunde stand ich neben D on Juan, vor der T ür seines H auses in der W üste von Sonora. Sofort m erkte ich, daß ich w ieder in einen Z ustand geraten w ar. w o ic h z w a r z u sa m m e n h ä n ge n d d e n k e n , a b e r n ic h t sp re c h e n konnte. D on Juan m einte, ich solle m ir keine Sorgen m achen. D ie Sprache sei eine gefährdete Sache, und A nfälle von Stum m heit nicht selten bei Zauberern, die über die G renzen norm aler W ahr nehm ung hinausgingen. In sgeh eim glau b te ich , D o n Ju an h ab e n u r M itleid m it m ir u n d w olle m ich trösten. A ber die Stim m e des T raum botschafters, die ic h im se lb e n A u ge n b lic k d e u tlic h v e rn a h m , sa gte , ic h w ü rd e m ich nach einer R uhepause w ieder w ohlfühlen. W ied er erw ach t, sch ild erte ich D o n Ju an in allen E in zelh eiten , w as ich gesehen und getan hatte. E r sagte, ich solle es aufgeben, m eine E rfahrungen verstandesm äßig begreifen zu w ollen. N icht etw a, w eil m ein V erstan d zu sch w ach w äre, so n d ern w eil d iese P hänom ene außerhalb aller L ogik und R ationalität lägen. Ic h w a n d te e in , e s k ö n n e u n d d ü rfe n ic h ts ge b e n , w a s fü r d ie m enschliche V ernunft unzugänglich sei. A uch w enn die P hänom ene noch so unklar w ären, finde die V ernunft stets einen W eg, alles aufzuklären. D ies w ar tatsächlich dam als m eine Ü berzeugung. M it größter G eduld entw ickelte m ir D on Juan dann seine A uffas su n g: d e r V e rsta n d , sa gte e r, se i n u r e in N e b e n p ro d u k t d e r gew ohnten P osition unseres M ontagepunktes. U nsere K ennt n isse , u n se re L o gik , u n se r G e fü h l, m it b e id e n B e in e n a u f d e r E rde zu stehen - w orauf w ir so stolz w ären, die ganze B asis unseres Selbstw ertgefühls -, ergäben sich aus der Fixierung des M on tagep u n ktes an sein em gew o h n ten P latz. Je starrer u n d u n ver rückbarer dieser sei. desto größer sei unser Selbstvertrauen, unser G lau b e, d ie W elt zu ken n en u n d V o rh ersagen m ach en zu kö n nen. D as T räu m en ab er sch en ke u n s d ie B ew eglich keit, sagte er. in an d ere W elten vo rzu d rin gen , u n d es ersch ü ttere u n sere G ew iß heit, alles über diese unsere W elt zu w issen. D as T räum en sei eine 82
Reise in unvorstellbare Dimensionen, sagte Don Juan. Eine Reise, die - weil sie uns alles wahrnehmen läßt. was Menschen nur wahrnehmen können - unseren Montagepunkt aus dem menschlichen Bereich herauslöst und uns das Unvorstellbare wahrnehmen läßt. »Und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt«, sagte er, »und plagen uns mit dem wichtigsten Punkt im Weltbild der Zauberer, nämlich der Position des Montagepunktes. Diesem Fluch der alten Zauberer und Stachel im Fleisch der Menschheit.« »Warum sagst du so etwas, Don Juan?« »Weil beide, die Menschheit insgesamt und auch die alten Zauberer, auf die Position des Montagepunktes hereingefallen sind: die Menschheit, weil wir nichts von der Existenz des Montagepunktes wissen und gezwungen sind, das bloße Nebenprodukt seiner ge wohnten Position als endgültig und unzweifelhaft hinzunehmen; und die alten Zauberer, weil sie alles über den Montagepunkt wußten und trotzdem der Versuchung erlagen, ihn zu manipulieren. H üte dich also, in solche Fallen zu tappen«, fuhr er fort. »E s w äre traurig, w enn du das Los der M enschheit teilen m üßtest, als w üß test du nichts von der E xistenz des M ontagepunktes. A ber noch tra u rig e r w ä re e s, d e n a lte n Z a u b e re rn n a c h z u e ife rn u n d d e n M ontagepunkt zynisch, um eines V orteils w ille n , zu m anipulie ren.« »Ich begreife nichts m ehr. W ie hängt dies alles m it m einem gestrigen E rlebnis zusam m en?« »G estern w arst d u in ein er an d eren W elt. A b er w en n d u m ich frag st, w o d iese W elt ist, u n d ich d ir sag e, sie ex istiert in ein er bestim m ten P osition des M ontagepunktes, dann verstehst du die A ntwort n ic h t.« D on Juan erklärte nun, daß m ir zw ei M öglichkeiten offenstünden. E inerseits konnte ich m ich an die P rinzipien der M enschheit h a lte n u n d d a m it in e in D ile m m a g e ra te n : m e in e E rfa h ru n g w ürde m ir sagen, daß andere W elten existieren, doch m eine V ern u n ft w ü rd e sag en , d aß es so lch e W elten n ich t g ib t u n d n ich t geben darf. A ndererseits könnte ich den P rinzipien der alten Z aub e re r fo lg e n u n d d a m it d ie E x iste n z a n d e re r W e lte n fra g lo s ak zep tieren . A b er M ach tg ier w ü rd e m ich verfü h ren , m ein en 83
Montagepunkt in der Position festzuhalten, die diese Welten her vorbringt. Die Folge wäre ein anderes Dilemma: nämlich der Zwang, mich körperlich in visionsartige Sphären zu begeben, ge trieben von der Aussicht auf Macht und Gewinn. Ich war zu verwirrt, um seine Erklärung zu begreifen. Dann aber wurde mir klar, daß ich gar nichts zu verstehen brauchte, weil ich ohnehin mit Don Juan übereinstimmte - abgesehen davon, daß ich keine Ahnung hatte, womit ich eigentlich einverstanden war. Dieses Einverständnis war wie ein unbestimmtes Gefühl, eine einstige Sicherheit, die ich verloren hatte und die mir nun allmählich wiederkehrte. Die Wiederaufnahme meiner Traumübungen beseitigte diese Be denken, rief aber neue hervor. Zum Beispiel hörte ich auf, die Stimme des Traumbotschafters, nachdem ich sie monatelang täglich gehört hatte, als Ärgernis oder als Wunder zu empfinden. Sie wurde für mich zur Selbstverständlichkeit. Und unter ihrem Einfluß machte ich so viele Fehler, daß ich Don Juan beinah verstehen konnte, der sich weigerte, all dies noch ernst zu nehmen. Ein Psychoanalytiker hätte seine Freude an mir gehabt und diesen Botschafter als Vexierspiel meiner verdrängten interpersonellen Dynamik gedeutet. Don Juans Standpunkt war eindeutig: der Botschafter sei eine unpersönliche, aber konstante Kraft aus der Sphäre der anorgani schen Wesen; darum erlebe jeder Träumer ihn mehr oder minder auf dieselbe Art. Wer aber seine Worte als gute Ratschläge an nehmen wollte, der wäre eben ein unverbesserlicher Narr. Ich jedenfalls war einer. Ich konnte ja nicht ungerührt bleiben - in direktem Kontakt mit einem so außerordentlichen Vorgang: eine Stimme, die mir klar und bestimmt, und in drei Sprachen, verbor gene Dinge verriet über alles und jeden, worauf immer ich meine Aufmerksamkeit richtete. Der einzige Nachteil, der aber für mich folgenlos blieb, lag darin, daß wir nicht synchron waren. Der Bot schafter verriet mir stets Dinge über Menschen oder Ereignisse, wenn ich tatsächlich schon vergessen hatte, daß ich mich für sie interessierte. Ich befragte Don Juan wegen dieser Merkwürdigkeit, und er meinte, es habe etwas mit der Starre meines Montagepunktes zu tun. Ich sei von bejahrten Eltern aufgezogen worden, sagte er. die mir die Ansichten alter Menschen einpflanzten. Daher sei ich ge 84
fährlich rechthab erisch. D aß er nun gezw ungen w ar, m ir halluzi no gene P flanzenextrakte einzugeb en, sei nur ein V ersuch, w ie er sagte, m einen M o ntagep unkt zu erschüttern und ihm eine m ini m ale B and b reite an B ew eglichkeit zu erm ö glichen. »W enn du diese B andbreite nicht w eiterentw ickelst«, fuhr er fort, »w irst d u e n tw e d e r n o c h re c h th a b e risc h e r o d e r e in h yste risc h e r Z aub erer w erd en. W enn ich d ir vo n d en alten Z aub erern erzähle, d a n n n ic h t in d e r A b sic h t, ih n e n ü b e l n a c h z u re d e n , so n d e rn u m sie d ir vo r A ugen zu führen. F rüher o d er sp äter w ird d ein M o ntagep unkt b ew eglicher w erd en, ab er nicht b ew eglich genug, um d e in e N e ig u n g a b z u g le ic h e n , z u w e rd e n w ie d ie se Z a u b e re r: rechthab erisch und hysterisch.« »W ie kann ich so etw as verm eid en, D o n Juan? « »E s gibt nur ein M ittel. D ie Z auberer nennen es das reine V ersteh e n . Ic h w ü rd e e s a ls L ie b e z u m W isse n b e z e ic h n e n . E s ist d ie K raft, d ie d ie Z aub erer zum W issen, zur E ntd eckung, zum S taun e n tre ib t.« D o n Ju a n lie ß d a s T h e m a fa lle n u n d fu h r fo rt, m ir d ie F ix ie ru n g d e s M o n ta g e p u n k te s z u e rk lä re n . A ls d ie a lte n Z a u b e re r sa h en . so erzählte er, d aß d er M o ntagep unkt b ei K ind ern d auernd o szilliert, w ie von einem T rem or geschüttelt und m it L eichtigkeit seine P osition w echselnd, seien sie zu dem S chluss gelangt, daß die ge w o h n te S te llu n g d e s M o n ta g e p u n k te s n ic h t a n g e b o re n , so n d e rn d u rc h G e w o h n h e it e rw o rb e n w ird . U n d d a sie sa h en , d a ß e r n u r b ei E rw achsenen an eine S telle fixiert ist. nahm en sie an, d aß d ie sp ezifische S tellung d es M o ntagep unktes eine b estim m te A rt d er W ahrnehm ung begünstigt. D urch G ew öhnung w erde diese spezi fische A rt d er W ahrnehm ung zu einem S ystem d er D eutung vo n S innesdaten. W eil w ir in dieses S ystem hineingeboren s in d , erklärte D on Juan, streb en w ir vo m A ugenb lick unserer G eb urt unausw eichlich d a n a c h , u n se re W a h rn e h m u n g a n d ie F o rd e ru n g e n d ie se s S yste m s anzup assen - ein S ystem , d as uns leb enslang b eherrscht. F o lglich h a tte n d ie a lte n Z a u b e re r im G ru n d e re c h t, w e n n sie g la u b te n , d aß es d ie A uflö sung d ieses S ystem s und d ie d irekte W ahrneh m u n g v o n E n e rg ie se i, w a s e in e n M e n sc h e n z u m Z a u b e re r m acht. S ehr verw undert äußerte sich D on Juan über die - w ie er m einte g rö ß te L e istu n g u n se re r m e n sc h lic h e n E rz ie h u n g : n ä m lic h d a s 85
Festmachen unseres Montagepunktes in seiner gewohnten Posi tion. Sobald dieser reglos in einer solchen Stellung verankert sei. wäre es möglich, unsere Wahrnehmung zur Interpretation dessen zu schulen und anzuleiten, was wir wahrnehmen. Mit anderen Worten, wir werden dann angeleitet, eher wahrzunehmen, was unser System uns sagt - und nicht das, was unsere Sinne uns sagen. Die Wahrnehmung des Menschen sei aber deshalb so universell einheitlich, weil die Montagepunkte aller Menschen an die gleiche Stelle fixiert sind. Bestätigung für all dies finden die Zauberer, fuhr er fort, wenn sie sehen, daß unsere Wahrnehmungen sinnlos erscheinen, sobald der Montagepunkt über eine gewisse Schwelle hinaus verschoben wird und neue universelle Energiefasern wahrgenommen werden. Die unmittelbare Ursache dafür sei. sagte er, daß neue Sinnesdaten unser System außer Funktion setzen. Es eigne sich dann nicht mehr zur Interpretation dessen, was wir wahrnehmen. »Wahrnehmung ohne unser System ist natürlich chaotisch«, fuhr Don Juan fort. »Doch wenn wir glauben, wirklich die Orientierung verloren zu haben, sammelt sich unser altes System seltsamerweise. Es kommt uns zu Hilfe und verwandelt unsere neue, unbegreifliche Wahrnehmung in eine durchaus verständliche neue Welt. Genau wie es dir passierte, als du das Laub des Mesquitestrauches anschautest.« »Was ist mir da eigentlich passiert. Don Juan?« »Deine Wahrnehmung war ein Weilchen chaotisch; alles stürmte gleichzeitig auf dich ein. und dein System zur Interpretation der Welt funktionierte nicht. Dann klärte sich das Chaos, und vor dir lag eine neue Welt.« »Und damit, Don Juan, sind wir wieder am Ausgangspunkt. Exi stiert diese Welt, oder habe ich sie mir nur eingebildet?« »Gewiß, wir sind wieder am Ausgangspunkt, und die Antwort ist noch immer dieselbe. Diese Welt existiert genau in der Position, in der dein Montagepunkt sich in jenem Augenblick befand. Um sie wahrzunehmen, brauchtest du Kohäsion, und das heißt, du mußtest deinen Montagepunkt in dieser Position festhalten, was du auch getan hast. Die Folge war, daß du eine Zeitlang eine ganz neue Welt wahrnehmen konntest.« »Würden auch andere diese Welt wahrnehmen?« »Ja, wenn sie Gleichförmigkeit und Kohäsion hätten. Gleichför 86
m igkeit heißt, gem einsam die gleiche P osition des M ontagepunktes festzuhalten. D en ganzen V organg des E rw erbs von G leichför m igkeit und Z usam m enhalt auß erhalb d er no rm alen W elt bezeichneten die alten Z auberer als das A npirschen an die W ahr nehm ung.« »D ie K unst des P irschens«. fuhr er fort, »hat etw as m it der F ixie ru n g d e s M o n ta g e p u n k te s z u tu n . w ie ic h sc h o n sa g te . D ie a lte n Z a u b e re r e n td e c k te n , d a ß e s z w a r w ic h tig se in m a g , d e n M o n tagepunkt zu verschieben, aber noch w ichtiger ist es. ihn in seiner n e u e n P o sitio n fe stz u h a lte n , w o im m e r d ie se n e u e P o sitio n se in mag.« U n d e r e rk lä rte , d a ß w ir, w e n n d e r M o n ta g e p u n k t n ic h t fe st a n e in e m O rt b lie b e , n ic h t z u sa m m e n h ä n g e n d w a h rn e h m e n k ö n n ten. In diesem F all w ürden w ir ein K aleidoskop zusam m enhanglo ser B ild er erleb en. A us d iesem G rund hätten d ie alten Z aub erer auf das P irschen ebensoviel W ert gelegt w ie auf das T räum en. D ie eine K unst kö nne nicht o hne d ie and ere b estehen, b eso nd ers b ei jenen A ktivitäten, m it d enen sich d ie alten Z aub erer b eschäftigten. »W as w aren d as für A ktivitäten. D o n Juan? « »D ie alten Z aub erer nannten sie d ie F einheiten d er zw eiten A ufm e rk sa m k e it o d e r d a s g ro ß e A b e n te u e r d e s U n b e k a n n te n .« D iese A ktivitäten, sagte D o n J u a n , resultierten jew eils aus V erschieb ungen des M ontagepunkts. N icht nur hätten die alten Z auberer gelernt, ihren M ontagepunkt in T ausende von P ositionen an der O berfläche oder im Innern ih r e s E nergiekörpers zu verschieb e n , so n d e rn sie h ä tte n a u c h g e le rn t, ih re n M o n ta g e p u n k t in diesen P ositionen zu fixieren und som it ihre K ohäsion unbegrenzt lange b eizub ehalten. »W elchen V o rteil hatte d ies. D o n Juan? « »W ir können h i e r nicht von V orteilen sprechen, sondern nur von R esultaten.« D ie a lte n Z a u b e re r h ä tte n e in e so lc h e K o h ä sio n d e r W a h rn e h m u n g e rre ic h t, e rk lä rte e r, d a ß sie w a h rn e h m u n g sm ä ß ig , u n d so gar kö rp erlich, sich in all d as verw and eln ko nnten, w as d ie j e w eilige P o sitio n d es M o ntagep unktes ihnen vo rschrieb . S ie ver m o chten sich in all d as zu verw and eln, w o für sie ein b estim m tes In v e n ta r h a tte n . E in In v e n ta r, sa g te e r , e n th a lte a lle D e ta ils d e r W ahrnehm ung, die beteiligt s in d , w enn m an sich zum B eispiel in 87
einen Jaguar, in einen Vogel, in ein Insekt und so weiter ver wandle. »Ich kann kaum glauben, daß eine solche Verwandlung möglich ist«, sagte ich. »Sie ist möglich«, beteuerte er. »Vielleicht nicht für dich oder mich, aber für jene Zauberer. Für sie war es eine Kleinigkeit.« Und er erzählte, daß diese alten Zauberer eine unglaubliche Be weglichkeit hatten. Sie brauchten nur die geringste Verlagerung ihres Montagepunktes, die leiseste Andeutung einer Wahrneh mung aus ihren Träumen, und sofort konnten sie ihre Wahrneh mung anpirschen, ihre Kohäsion gemäß ihrem neuen Bewußt seinszustand umgruppieren und ein Tier, ein anderer Mensch, ein Vogel werden, was immer sie wollten. »Aber ist es nicht das, was die Geisteskranken tun? Sich ihre eigene Realität erfinden, wie es ihnen eben paßt?« »Nein, es ist nicht das gleiche. Verrückte bilden sich eine eigene Realität ein, weil sie keinerlei vorgefaßtes Ziel haben. Die Verrückten bringen Chaos ins Chaos. Die Zauberer hingegen bringen Ordnung ins Chaos. Ihr vorgefaßtes, transzendentales Ziel ist, ihre Wahrnehmung zu befreien. Die Zauberer erfinden nicht die Welt, die sie wahrnehmen. Sie nehmen Energie direkt wahr, und dann entdecken sie. daß das, was sie wahrnehmen, eine unbekannte neue Welt ist, die einen ganz und gar verschlingen kann, weil sie ebenso real ist wie alles, was wir als Realität kennen.« Und dann gab Don Juan mir eine neue Darstellung dessen, was mit mir geschehen war, als ich den Mesquitestrauch anschaute. Anfangs hätte ich die Energie des Baumes wahrgenommen, sagte er. Subjektiv aber hätte ich geglaubt, ich träumte, weil ich Traum techniken einsetzte, um Energie wahrzunehmen. Solche Traum techniken in der Alltagswelt einzusetzen, beteuerte er, sei eines der wirksamsten Hilfsmittel der alten Zauberer gewesen. Es er laube, Energie direkt wie im Traum wahrzunehmen, statt auf chaotische Weise, bis etwas irgendwann die Wahrnehmung um gruppiere und der Zauberer sich vor eine neue Welt gestellt finde und genau dies sei mir geschehen. Ich erzählte ihm von dem Gedanken, der mir gekommen war und den ich kaum zu denken wagte: nämlich, daß die Szene, die ich sah, kein Traum - aber auch nicht unsere alltägliche Welt sei.
»Sie war es nicht«, meinte er. »Dies sage ich dir nun immer wieder, und du glaubst, ich wiederholte mich nur. Ich weiß, wie schwer es dem Verstand fällt, unbegreifliche Möglichkeiten als wirklich anzuerkennen. Aber die neuen Welten existieren! Sie sind eingehüllt, eine in die andere, wie die Schichten einer Zwiebel. Die Welt, in der wir existieren, ist nur eine dieser Schichten.« »Meinst du etwa, Don Juan, daß es das Ziel deiner Lehren ist, mich auf den Eintritt in diese Welten vorzubereiten?« »Nein, das meine ich nicht. Wir treten nur übungshalber in diese Welten ein. Solche Reisen sind für die heutigen Zauberer etwas Vorläufiges. Wohl üben wir uns im Träumen, genau wie die alten Zauberer, aber irgendwann schwenken wir ab und betreten Neuland. Die alten Zauberer hatten eine Vorliebe für Verlagerungen des Montagepunktes, darum bewegten sie sich immer auf mehr oder minder bekanntem und berechenbarem Boden. Wir bevorzugen die Bewegungen des Montagepunkts. Die alten Zauberer suchten das menschlich Unbekannte: wir suchen das nichtmenschlich Unbekannte.« »Ich habe es noch nicht erreicht, nicht wahr?« »Nein. Du stehst erst am Anfang. Und am Anfang muß jeder die Schritte der alten Zauberer nachvollziehen. Immerhin waren sie es, die das Träumen erfanden.« »Wann werde ich also endlich anfangen, das Träumen der neuen Zauberer zu lernen?« »Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Es kann noch Jahre dauern. Außerdem muß ich in deinem Fall außerordentlich vor sichtig sein. Charakterlich bist du eindeutig mit den alten Zauberern verwandt. Das sagte ich dir schon, aber du schaffst es immer, meinen Ermahnungen auszuweichen. Manchmal glaube ich gar, daß eine fremde Energie dich leitet - aber dann verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Du bist nicht unredlich.« »Wovon redest du eigentlich, Don Juan?« »Du hast ungewollt zwei Dinge getan, die mir höllische Angst machen. Als du zum erstenmal träumtest, bist du mit deinem Energiekörper an einen Ort jenseits dieser Welt gereist. Und dort spazierengelaufen! Und dann bist du mit deinem Energiekörper noch einmal an einen Ort jenseits dieser Welt gereist - aber aus gehend vom Bewusstsein dieser alltäglichen Welt.« 89
»W a s b e u n ru h ig t d ic h d a ra n , D o n Ju a n ? « »D as T räum en fällt d ir viel zu leicht. U nd d as ist ein F luch, w enn w ir nicht aufp assen. E s führt zum m enschlich U nb ekannten. U nd w ie ich d ir sagte, streb en d ie heutigen Z aub erer nach d em nicht m enschlich U nb ekannten.« »W as kö nnte d as nicht-m enschlich U nb ekannte sein? « »B efreiung vo m M enschsein. U nvo rstellb are W elten, d ie jenseits d er m enschlichen B and b reite liegen, d ie w ir ab er d enno ch w ahrn e h m e n k ö n n e n . U n d d o rth in n e h m e n d ie m o d e rn e n Z a u b e re r, so zusagen, eine A b zw eigung. Ihre V o rlieb e gilt d em , w as auß erhalb d es m enschlichen B ereichs liegt. U nd auß erhalb d ieses B ereichs liegen ganze W elten - nicht nur T eilbereiche, w ie das R eich der V ögel oder das R eich der S äugetiere oder das R eich des M ensc h e n , w e n n a u c h d e s u n b e k a n n te n M e n sc h e n . N e in , w a s ic h m e in e , sin d a llu m fa sse n d e W e lte n , w ie j e n e , in d e r w ir le b e n : to tale W elten m it unzähligen B ereichen.« »W o sin d d ie se W e lte n , D o n Ju a n ? In a n d e re n P o sitio n e n d e s M ontagepunkts?« »R ichtig. In and eren P o sitio nen d es M o ntagep unkts - P o sitio nen allerd ings, d ie d ie Z aub erer d urch eine B ew egung d es M o ntage p unkts erreichen, nicht d urch eine V erlagerung. D as E intreten in d iese W elten ist eine A rt d es T räum ens, d ie nur heutige Z aub erer üb en. D ie alten Z aub erer hielten sich fern d avo n, w eil es ein ho h e s M a ß a n L o sg e lö sth e it v e rla n g t u n d je g lic h e n E ig e n d ü n k e l v e rb ie te t: e in P re is, d e n sie n ic h t z u z a h le n b e re it w a re n . F ü r d ie Z a u b e re r, d ie h e u te d a s T rä u m e n p ra k tiz ie re n , ist T rä u m en d ie F reiheit. W elten jenseits aller V o rstellungskraft w ahrzunehm en.« »W elchen Z w eck hat es ab er, all d ies w ahrzunehm en? « »D ie g le ic h e F ra g e h a st d u m ir h e u te sc h o n e in m a l g e ste llt. D u sp ric h st w ie e in e e c h te K rä m e rse e le . W ie h o c h ist d a s R isik o ? fra g st d u . W ie v ie l P ro z e n t b rin g t m ir m e in e In v e stitio n ? W e rd e ich gew innen? A uf so lche F ragen gib t es keine A ntw o rt. D er K räm ergeist b efaß t sich m it dem K om m erz. F reiheit aber kann keine Investition sein. F reiheit ist ein A b enteuer o hne E nd e, b ei d em w ir unser L eb en und no ch viel m ehr - riskieren, für kurze A ugenb licke vo n etw as, d a s a lle W o rte , G e d a n k e n u n d G e fü h le ü b e rste ig t.« »In d iesem S inn hatte ich d ie F rage nicht gestellt, D o n Juan. W as 90
ich wissen will, ist vielmehr: Was könnte für einen Faulpelz wie mich die treibende Kraft sein, all dies zu tun?« »Nach Freiheit zu streben, das ist die einzige Triebkraft, die ich kenne. Freiheit, in die Unendlichkeit dort draußen davonzufliegen: Freiheit, sich aufzulösen und abzuheben; wie eine Kerzenflamme zu sein, die, obwohl sie dem Licht von Millionen Sternen gegenübersteht, doch intakt bleibt, weil sie niemals beansprucht, mehr zu sein, als sie ist: eine Kerze.«
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5. Die Welt der anorganischen Wesen
G etreu m einer E inw illigung, ab zuw arten, b is D o n Juan vo n sich a u s d a s G e sp rä c h a u f d a s T rä u m e n b rä c h te , b a t ic h ih n n u r in N otfällen um R at. N orm alerw eise aber schien er nicht nur abge n e ig t, d a s T h e m a a n z u sc h n e id e n , so n d e rn w a r a u c h irg e n d w ie unzufrieden m it m ir. E ine B estätigung für seine M ißbilligung w ar in m einen A ugen die T atsache, daß er, w ann im m er w ir über m ein T räum en sp rachen, stets d ie B ed eutung d essen, w as ich erreicht hatte, herab setzte. F ü r m ic h w a r z u je n e r Z e it d ie b e le b te E x iste n z a n o rg a n isc h e r W esen zum w ichtigsten A spekt m einer T raum übungen gew orden. N achdem ich ihnen in m einen T raum übungen begegnet w ar. vor a lle m n a c h m e in e m Z u sa m m e n sto ß m it ih n e n in d e r W ü ste b e i D o n Juans H aus, hätte ich w o hl b ereit sein so llen, ihre E xistenz e rn st z u n e h m e n . D o c h a ll d ie se E re ig n isse h a tte n e in e n g a n z gegenteiligen E ffekt auf m ich. Ich w urd e eigensinnig und leugnete hartnäckig d ie M ö glichkeit, d aß sie existierten. D a n n ä n d e rte ic h m e in e M e in u n g u n d b e sc h lo ß , e in e o b je k tiv e U n te rsu c h u n g ü b e r sie a n z u ste lle n . A ls M e th o d e e in e r so lc h e n U ntersuchung nahm ich m ir vor, alles zu protokollieren, w as sich in m einem T räum en zutrug, und dieses P rotokoll dann als B ezugsra h m e n z u v e rw e n d e n , u m fe stz u ste lle n , o b m e in T rä u m e n i r g e n d w e lc h e B e fu n d e ü b e r d ie a n o rg a n isc h e n W e se n b e w e ise n oder w iderlegen w ürde. Ich brachte sogar m ehrere hundert S eiten g e n a u e ste r, a b e r sin n lo se r D e ta ils z u P a p ie r, w ä h re n d ic h h ä tte einsehen so llen, d aß d ie B ew eise für ihre E xistenz sich häuften, kaum daß ich m it m einer U ntersuchung begonnen h a t t e . S o brauchte ich nur einige S itzungen, um zu entdecken, daß D on Ju a n s - w ie ic h m e in te b e ilä u fig e E m p fe h lu n g , n ä m lic h m e in U rteil hintanzustellen und die organischen W esen zu m ir kom m en zu lassen, tatsächlich genau das V erfahren w ar, das die Z auberer d e r V o rz e it a n g e w a n d t h a tte n , u m sie a n z u lo c k e n . In d e m D o n Juan m ich d ies selb st herausfind en ließ , b efo lgte er led iglich d ie 92
Grundsätze seiner Schulung als Zauberer. Er hatte immer wieder gesagt, daß wir unser Selbst nur sehr schwer dazu bringen können, seine sichere Festung zu verlassen - und nur durch Übung. Eines der stärksten Bollwerke unseres Selbst sei die Rationalität. Und diese sei nicht nur die verläßlichste Abwehr gegen die Taten der Zauberer und deren Erklärung, sondern auch eine der be drohtesten. Don Juan glaubte, daß die Existenz anorganischer Wesen ein frontaler Angriff auf unsere Ratio sei. Bei meinen Traumübungen hatte ich ein bewährtes Verfahren entwickelt, das ich jeden Tag ausnahmslos befolgte. Ich nahm mir vor, zuerst jeden nur denkbaren Gegenstand meiner Träume zu beobachten und dann in andere Träume zu wechseln. Ich darf aufrichtig sagen, daß ich in unzähligen Träumen ganze Welten kleinster Details beobachtete. Natürlich begann meine Traum-Aufmerksamkeit irgendwann zu erlahmen, und meine Traumübungen endeten entweder damit, daß ich einschlief und normale Träume hatte, bei denen sich keine Traum-Aufmerksamkeit einstellte, oder indem ich aufwachte und überhaupt nicht mehr schlafen konnte. Von Zeit zu Zeit aber, und genau wie Don Juan es geschildert hatte, drang eine Strömung fremder Energie - ein Scout, wie er es nannte - in meine Träume ein. Daß ich vorgewarnt war. half mir, meine TraumAufmerksamkeit darauf einzustellen und auf der Hut zu sein. Das erste Mal, als ich solch eine fremde Energie bemerkte, träumte ich vom Einkaufengehen in einem Kaufhaus. Ich lief von Theke zu Theke und suchte nach Antiquitäten. Endlich fand ich etwas. In einem Kaufhaus nach Antiquitäten zu suchen war so offenkundig widersinnig, daß ich kichern mußte. Aber nachdem ich etwas gefunden hatte, vergaß ich diese Ungereimtheit. Das antike Stück war der Griff eines Spazierstocks. Der Verkäufer sagte mir. er sei aus Iridium - eine der härtesten Substanzen der Welt, wie er sagte. Es war eine kleine Skulptur: Kopf und Schultern eines Affen. Es sah wie Jade aus, fand ich. Der Verkäufer war beleidigt, als ich andeutete, es könne Jade sein, und um seine Behauptung zu beweisen, schleuderte er das Objekt mit aller Kraft auf den BetonFußboden. Es zerbrach nicht, sondern hüpfte wie ein Ball und segelte davon, kreiselnd wie eine Frisbee-Scheibe. Ich folgte ihm, und es verschwand hinter etlichen Bäumen. Ich lief, um es zu suchen, und fand es im Boden steckend. Es hatte sich in einen außerordentlich 93
sc h ö n e n , tie fg rü n u n d sc h w a rz g e fä rb te n S p a z ie rsto c k v e rw a n delt. Ich w o llte ihn hab en. Ich p ackte d en S to ck und m ühte m ich, i h n a u s d e m B o d e n z u z ie h e n , b e v o r je m a n d a n d e re s v o rb e ik ä m e . D o c h so se h r ic h m ic h a n stre n g te , k o n n te ic h ih n n ic h t v o n d e r S telle rücken. Ich fürchtete, er kö nnte b rechen, w enn ich ihn lo s z u ste m m e n v e rsu c h te , in d e m ic h ih n h in u n d h e r rü tte lte . A lso b e g a n n ic h , ih n m it m e in e n n a c k te n H ä n d e n a u sz u g ra b e n . U n d w ä h re n d ic h g ru b , sc h m o lz d e r S to c k z u sa m m e n , b is n u r n o c h eine P fütze grünen W assers an seiner S telle üb riglieb . Ich starrte auf dieses W asser. P lötzlich schien es zu explodieren. E s verw and e lte sic h in e in e w e iß e B la se , u n d d a n n w a r e s v e rsc h w u n d e n . M e in T ra u m w a n d te sic h a n d e re n B ild e rn u n d D e ta ils z u , d ie nicht ungew ö hnlich schienen, auch w enn sie glasklar w aren. A ls ich D o n Juan vo n d iesem T raum erzählte, sagte er: »D u hast e in e n S c o u t iso lie rt. S c o u ts tre te n h ä u fig e r a u f, w e n n u n se re T räum e no rm al und d urchschnittlich sind . D ie T räum e vo n T räum e rn b le ib e n so n d e rb a r fre i v o n so lc h e n S c o u ts. W e n n sie a b e r a u ffie le n , sin d sie e rk e n n b a r a n d e r d a m it v e rb u n d e n e n F re m d h e it u n d U n g e re im th e it.« »W ieso U ngereim theit, D o n Juan? « »Ihre G egenw art m acht keinen S in n .« »A b er kaum etw as m acht S inn in einem T raum .« »N ur in d urchschnittlichen T räum en erscheinen d ie D inge sinnlo s. D a s ist so , m ö c h te ic h sa g e n , w e il d a n n m e h r S c o u ts e in g e führt w erden; w eil durchschnittliche M enschen stärkeren A ngriffen vo m U nb ekannten her ausgesetzt s in d .« »W e iß t d u a u c h , D o n Ju a n , w a ru m d a s so ist? « »Ich glaub e, hier liegt ein G leichgew icht d er K räfte vo r. N o rm ale M enschen haben verblüffend starke B arrieren, um sich gegen solc h e A n g riffe z u sc h ü tz e n . B a rrie re n , w ie z .B . d ie S o rg e u m d a s e ig e n e S e lb st. Je stä rk e r d ie B a rrie re , d e sto h e ftig e r d e r A n griff. T räum er hingegen haben w eniger B arrieren und w eniger S couts in ihren T räum en. A nscheinend verschw ind en unsinnige D inge aus d e n T rä u m e n d e r T rä u m e r, m ö g lic h e rw e ise u m sic h e rz u ste lle n , daß die T räum er die A nw esenheit von S couts auch bem erken.« D o n Ju a n e m p fa h l m ir, g u t a u fz u p a sse n u n d m ic h a n je d e n u r m ö g lic h e E in z e lh e il d e s T ra u m s z u e rin n e rn , d e n ic h g e trä u m t
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halle. E r hieß m ich sogar w iederholen, w as ich ihm bereits erzählt hatte. »D u verblüffst m ich«, sagte ich. »Zuerst w illst du nichts von m ei n e m T rä u m e n h ö re n - u n d je tz t p lö tz lic h d ie s. G ib t e s e in e gew isse O rdnung in deiner w echselnden B ereitschaft?« »A llerdings gibt es hier eine O rdnung«, sagte er. »G ut m öglich, daß du es eines T ages, bei einem anderen T räum er, ebenso hallen w irst. M an ch e T rau m gegen stän d e sin d vo n en tsch eid en d er B e deutung, w eil sie m it dem G eist zusam m enhängen. A ndere sind vö llig u n w ich tig, w eil sie m it u n serer C h araktern eigu n g zu tu n haben, uns gehenzulassen. D er erste Scout, den du isolierst, w ird im m er gegenw ärtig sein, in jeder F orm , sogar als Iridium . Ü brigens - w as ist Iridium ?« »W eiß ich w irklich nicht«, sagte ich w ahrheilsgem äß. »D a haben w ir's. U nd w as w ürdest du sagen, w enn sich heraus-stellte, d aß es ein e d er h ärtesten S u b stan zen d er W elt ist? « D o n Juans A ugen leuchteten vor E ntzücken, w ährend ich nervös auflachte: über diese absurde M öglichkeil, die, w ie ich später erfuhr, dennoch richtig ist. V on nun an begann ich auf das V orkom m en w idersinniger G egen stän d e in m ein en T räu m en zu ach ten . N ach d em ich D o n Ju an s D e fin itio n fre m d e r E n e rgie in d e n T rä u m e n a k z e p tie rt h a lle , konnte ich ihm völlig beipflichten. daß es sich bei solchen U nge reim th eiten stets u m frem d e E in d rin glin ge in m ein e T räu m e handelte. W enn ich sie is o lie rte , konzentrierte sich m eine T raum A ufm erksam keit m it einer In te n s itä t auf sie. die sich unter anderen B edingungen nicht so le ic h t einstellte. U nd noch etw as bem erkte ich: im m er dann, w enn frem de E nergien in m eine T räum e eindrangen, m ußte m eine T raum -A ufm erk sa m k e it sic h se h r a n stre n ge n , sie in e in b e k a n n te s O b je k t z u verw andeln. D ie Schw ierigkeit lag darin, daß es m einer T raum A ufm erksam keit nicht gelang, solch eine V erw andlung in vollem M aß durchzuführen. D as E ndergebnis w ar stets e in e M ischform ein m ir fast gan z u n b ekan n ter G egen stan d . D an n verflü ch tigte sich die frem de E nergie; der M isch-G egenstand verschw and und w u rd e zu ein em T ro p fen L ich t, d er rasch vo n an d eren , vo rd er gründigen D etails m einer T räum e absorbiert w urde. A ls ich D on Juan bat, m ir zu erklären, w as m it m ir geschah, sagte er: » Im gegenw ärtigen Stadium deines T räum ens sind die Scouts
so etw as w ie K undschafter, die vom R eich der anorganischen W esen ausgesandt w erden. Sie sind sehr schnell, und das heißt, daß sie nicht lange bleiben w erden.« »W arum , D on Juan, bezeichnest du sie als K undschafter?« »N u n , sie ko m m en u n d h alten A u ssch au n ach p o ten tiellem B ew u ß tse in . S ie h a b e n B e w u ß th e it u n d Z ie lric h tu n g, a u c h w e n n diese für uns unvorstellbar sind, vergleichbar vielleicht dem B ew ußtsein und Z iel von B äum en. D ie innere G eschw indigkeit von B äum en und anorganischen W esen ist unvorstellbar, w eil sie unendlich viel langsam er ist als unsere.« »W ie kom m st du dazu, so etw as zu sagen. D on Juan?« »B äum e und anorganische W esen haben beide eine viel längere D auer als w ir. Sie sind dazu bestim m t, an O rt und S telle zu bleiben. Sie sind unbew eglich, aber sie bew irken, daß alles um sie her sich bew egt.« »W illst du dam it sagen D on Juan, daß die anorganischen W esen stationär sind, w ie B äum e?« »G e w iß . W a s d u b e im T rä u m e n a ls h e lle o d e r d u n k le P flö c k e siehst, sind ihre P rojektionen. W as du als Stim m e des T raum bot schafters ansiehst, ist ebenfalls eine P rojektion. U nd dies g ilt auch für ihre Scouts.« A us irgendeinem unbegreiflichen G rund fühlte ic h m ich von diesen A uskünften überw ältigt. P lötzlich bekam ich A ngst. Ich fragte D o n Ju an , o b au ch B äu m e so lch e P ro jektio n en h ätten . »H aben sie«, sagte er. »Ihre P rojektionen sind uns aber noch w en ige r fre u n d lic h ge sin n t a ls d ie d e r a n o rga n isc h e n W e se n . D ie T räum er suchen sie niem als auf, es sei denn, sie w ären in einem Z ustand tiefer A usgeglichenheit m it den B äum en - e i n Z ustand. d er seh r sch w er zu erreich en ist. D u w eiß t j a , w ir h ab en kein e F reu n d e au f d ieser E rd e.« E r lach te au f u n d fü gte h in zu : »W arum , das ist kein G eheim nis.« »F ü r d ic h ist's v ie lle ic h t k e in G e h e im n is, D o n J u a n . A b e r fü r m ich ist es eines.« »W ir sind destruktiv. W ir haben jedes Lebew esen auf dieser E rde b e k ä m p ft. D a s ist d e r G ru n d , w a ru m w ir k e in e F re u n d e h a ben.« M ir w urde so unbehaglich, daß ich das G espräch überhaupt ab brechen w ollte. D ennoch fühlte ich m ich gezw ungen, zum T hem a der anorganischen W esen zurückzukehren.
»W as so llte ich tun. um d en S co uts zu fo lgen? « fragte ich. »W arum w illst d u ihnen fo lgen, um H im m els w illen? « »Ic h fü h re e in e o b je k tiv e U n te rsu c h u n g ü b e r d ie a n o rg a n isc h e n W esen durch.« »D u b ind est m ir einen B ären auf. nicht w ahr? Ich d achte, d u b ist u n b e irrb a r d e r M e in u n g , d a ß e s k e in e a n o rg a n isc h e n W e se n gibt?« S e in sp ö ttisc h e r T o n u n d se in h ä m isc h e s L a c h e n v e rrie te n m ir, w a s e r v o n m e in e r o b je k tiv e n U n te rsu c h u n g h ie lt. »Ic h h a b e m e in e M e in u n g g e ä n d e rt, D o n Ju a n . Je tz t m ö c h te ic h all d iese M ö glichkeiten erfo rschen.« »V ergiss nicht, d aß d ie S p häre d er ano rganischen W esen d as B e tä tig u n g sfe ld d e r a lte n Z a u b e re r w a r. U m d o rth in z u g e la n g e n , fix ie rte n sie ih re T ra u m -A u fm e rk sa m k e it h a rtn ä c k ig a u f d ie G egenständ e ihrer T räum e. A uf d iese W eise gelang es ihnen, d ie S c o u ts z u iso lie re n . U n d w e n n sie d ie S c o u ts im B lic k p u n k t h a tte n , rie fe n sie la u t ih re A b sic h t ih n e n z u fo lg e n . K a u m h a tte n d ie a lle n Z a u b e re r d ie se A b sic h t g e ä u ß e rt, d a flo g e n sie a u c h sc h o n d a v o n - a n g e z o g e n v o n je n e r fre m d e n E n e rg ie .« »Ist e s so e in fa c h , D o n Ju a n ? « E r a n tw o rte te n ic h t. E r la c h te m ic h n u r a n , a ls w o llte e r m ic h h e ra u sfo rd e rn , e s z u v e rsu c h e n . W ie d e r z u H a u se , fra g te ic h m ic h b is z u m Ü b e rd ru ß . w a s D o n Ju a n m it d ie se r A n d e u tlu n g g e m e in t h a b e n m o c h te . D a ß e r m ir ta tsä c h lic h e in p ra k tisc h e s V e rfa h re n e m p fo h le n h a b e n k ö n n te , zo g ich gar nicht in B etracht A b er eines T ages, als m eine G ed uld und auch m eine Ideen zu E nde w aren, gab ich alle V orsicht auf. In einem T raum , den ich dann träum te, sah ich verblüfft einen F isch, der plötzlich aus e in e m T eich sprang, an dem ich vorbeiging. D er F isc h z a p p e lte v o r m e in e n F ü ß e n - d a n n flo g e r d a v o n , w ie e in b unter V o gel, und land ete. im m er no ch als F isch, auf einem A st D a s S c h a u sp ie l w a r so u n g e w ö h n lic h , d a ß m e in e T ra u m -A u f m erksam keit stim uliert w urde. S ofort w ußte ich, es w ar ein S cout. Im nächsten M om ent als der F isch-V ogel sich in einen L ichtpunkt v e rw a n d e lte , rie f ic h m it la u te r S tim m e m e in e A b sic h t ih m z u fo lgen, und genau w ie D o n Juan gesagt hatte, flo g ich lo s in eine and ere W elt. Z uerst flo g ich d urch einen scheinb ar d unklen T unnel, als sei ich ein gew ichtloses F luginsekt. P lötzlich endete das G efühl, in einem
T unnel zu sein. E s w ar geradezu, als sei ich von einem R ohr aus gesp ien und m it S chw ung vo r eine ungeheure p hysische M asse gespült w orden. F ast konnte ich sie berühren. Ihr E nde w ar nicht abzusehen, in w elche R ichtung ich m ich auch w andte. D as G anze erinnerte m ich sehr an gew isse S cience-F iction-F ilm e, und ich w ar überzeugt, daß ich das B ild dieser M asse selbst konstruierte, ähnlich w ie m an einen T raum konstruiert. U nd w arum nicht? Im m e rh in , so d a c h te ic h , la g ic h d o c h sc h la fe n d im B e tt u n d träum te. Ich beruhigte m ich also und beobachtete die E inzelheiten m eines T raum es. W as ich erblickte, sah aus w ie ein riesiger Schw am m . E s w a r p o rö s u n d lö c h e rig . Ic h k o n n te d ie S tru k tu r d ie se r M a sse nicht befühlen, aber sie w irkte rauh und faserig und w ar von dun k e l-b rä u n lic h e r F a rb e . D a n n ü b e rfie le n m ic h Z w e ife l, o b d ie se stum m e M asse nicht m ehr w ar als nur ein T raum . D as D ing vo r m ir veränd erte nicht seine G estalt. E s b ew egte sich auch n i c h t . U nd als ich es fest anschaute, hatte ich d en E ind ruck vo n etw as R e a le m , a b e r S ta tisc h e m ; e s w a r irg e n d w o v e rw u rz e lt, u n d e s übte eine so m ächtige A nziehung aus. daß ich m eine T raum -A uf m erksam keit nicht d avo n ab ziehen ko nnte, um and ere D inge zu u n te rsu c h e n , n ic h t m a l m ic h se lb st. E in e so n d e rb a re K ra ft, d e r ich n ie zuvor bei m einem T räum en begegnet w ar, hielt m ich w ie festgenagelt an der S telle. D a n n sp ü rte ic h p lö tz lic h , w ie d ie se M a sse m e in e T ra u m -A u f m erksam keit lo sließ ; all m ein B ew usstsein ko nzentrierte sich auf den S cout, der m ich dorthin geführt hatte. Jetzt sah er aus w ie e in G lü h w ü rm c h e n in d e r D u n k e lh e it, ü b e r m ir u n d n e b e n m ir schw eb end . In seiner S p häre w ar er e i n T ro p fen reiner E nergie. A u c h k o n n te ic h se in e e n e rg e tisc h e V ib ra tio n seh en . E r sc h ie n sich m einer A nw esenheit b ew uß t. P lö tzlich taum elte er m ir ent gegen, zupfte an m ir oder stieß m ich a n . I c h em pfand es nicht als B e rü h ru n g , u n d d o c h w u ß te ic h , d a ß d e r S c o u t m ic h b e rü h rt hatte. D iese E m p find ung w ar erschreckend und neu. E s w ar, als se i e in T e il v o n m ir. d e r g a r n ic h t v o rh a n d e n w a r. d u rc h d ie se B e rü h ru n g e le k trisie rt w o rd e n ; W e lle n v o n E n e rg ie b ra n d e te n durch diesen nicht vorhandenen T eil hindurch. V on diesem A ugenblick an w urde alles beim T räum en viel realer. E s fiel m ir schw er, an dem G edanken festzuhalten, daß ich einen T ra u m trä u m te . H in z u k a m m e in e G e w issh e it, d a ß d e r S c o u t 08
durch seine B erührung eine V erbindung m it m ir hergestellt hatte. Im gleichen M om ent, als er m ich zu berühren oder anzustoßen schien, w ußte ich, w as er von m ir w ollte. Zunächst schob er m ich durch eine riesige H öhle oder Ö ffnung in die physische M asse hinein, vor der ich gestanden hatte. Im Innern dieser M asse angelangt, erkannte ich, daß sie hier innen ebenso gleichm äßig porös war wie außen, aber viel glatter wirkte, als sei die rauhe O berfläche m it Sandpapier abgeschliffen. W as ich vor m ir sah. w ar eine Struktur, die etw a w ie das vergrößerte B ild eines B ienenstocks aussah. U nzählige, geom etrisch geform te T unnel zw eigten in alle R ichtungen ab. M anche führten hinauf oder hinunter, nach links oder nach rechts: sie überkreuzten sich oder führten in steilem oder flachem W inkel hinauf oder hinunter. D as Licht w ar sehr trübe, aber alles w ar gut sichtbar. D ie Tunnel schienen lebendig zu sein und B ewusstsein zu haben. Sie zischten. Ich starrte sie an, und nun überfiel m ich die E rkenntnis, daß ich sah. D ies waren Tunnel von Energie. Im A ugenblick dieser Einsicht dröhnte die Stim m e des Traum botschafters in m einen O hren - so la u t, daß ich nicht verstehen konnte, w as sie sagte. »Sprich leiser«, schrie ich m it höchster U ngeduld und m erkte, daß ich, wenn ich sprach, m ein B ild dieser Tunnel ausblendete und in ein V akuum fiel, w o ich nur noch hören konnte. D er B otschafter däm pfte seine Stim m e und sagte: »D u bist im Innern eines anorganischen W esens. W ähle e in e n der Tunnel, und d u k a n n st d a rin l e b e n . « D ie S tim m e m a c h te e in e P a u se , d a n n fügte sie hinzu: »D as heißt, falls du es w ills t.« Ich ko nnte m ich nicht üb erw ind en, etw as zu sagen. Ich fürchtete, jed e A ussage vo n m ir kö nnte ins G egenteil d essen verd reht w erd en, w as ich m einte. »D ie V o rte ile fü r d ic h sin d u n e rm e ß lic h «, fu h r d ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs fo rt. »D u k a n n st in so v ie le n T u n n e ln le b e n , w ie d u n u r w illst. U n d je d e r w ird d ic h e tw a s a n d e re s le h re n . S o le b ten d ie Z aub erer d er V o rzeit, und sie lernten w und erb are D inge.« Ic h m e rk te , o h n e je d e s G e fü h l, d a ß d e r S c o u t m ic h v o n h in te n sc h o b . A n sc h e in e n d w o llte e r , d a ß ic h v o rw ä rtsg in g . Ic h w ä h lte d en T unnel gleich rechts vo n m ir. K aum w ar ich d arin, m erkte ich irgendw ie, daß ich in dem T unnel nicht ging; ich schw ebte in ihm , 99
ic h flo g . Ic h w a r e in T ro p fe n E n e rg ie , n ic h t a n d e rs a ls d e r Scout. W ieder tönte die S tim m e des B otschafters in m einen O hren: »Ja, du bist nur ein T ropfen E nergie«, sagte sie. Ihre W iederholungen erleichterten m ich sehr. »U nd du schw ebst im Innern eines anor ganischen W esens«, fuhr er fort. »A uf diese W eise, so w ill es der S cout, sollst du dich in dieser W ell bew egen. A ls er dich berührte, hat er d ich für im m er veränd ert. Jetzt b ist d u p raktisch einer vo n u n s. F a lls d u h ie r b le ib e n w illst, b ra u c h st d u n u r d e in e A b sic h t auszusprechen.« D er B o tschafter hö rte auf zu sp rechen, und d as B ild d es T unnels k e h rte m ir z u rü c k . A ls e r w ie d e r z u sp re c h e n a n fin g , h a lle sic h etw as reguliert: ich verlo r d iese W elt nicht m ehr aus d em B lick u n d k o n n te d e n n o c h d ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs h ö re n . »D ie alten Z auberer lernten alles, w as sie vom T räum en w ußten, indem sie hier b ei uns b lieb en«, sagte sie. Ich w ollte fragen, ob diese Z auberer all i h r W issen gelernt hätten, indem sie einfach in diesen T unneln lebten; aber bevor ich m eine F rage aussp rechen ko nnte, b eantw o rtete sie d er B o tschafter. »Ja, sie lernten alles, nur ind em sie im Innern d er ano rganischen W e se n le b te n «, a n tw o rte te e r. »U m h i e r d rin n e n z u le b e n , b rauchten d ie alten Z aub erer nur zu sagen, d aß sie d ies w o llten; ä h n lic h w ie d u , u m h ie rh e r z u g e la n g e n , n u r la u t u n d d e u tlic h d eine A b sicht auszusp rechen b rauchtest.« D er S co ut stieß m ich a n , zum Z eichen, d aß ich m ich w eiterb ew egen sollte. Ich zögerte, und nun tat er etw as, das sich anfühlte, a ls stie ß e e r m ic h m it so lc h e r K ra ft v o ra n , d a ß ic h w ie e i n G e scho ss d urch end lo se T unnel flo g. E nd lich b lieb ich stehen, w e il d e r S c o u t ste h e n b lie b . S o sc h w e b te n w ir e in e n M o m e n t, d a n n stü rz e n w ir in e in e n v e rtik a le n T u n n e l. Ic h sp ü rte d e n p lö tzlichen R ichtungsw echsel nicht. W as m eine W ahrnehm ung b etraf, so b ew egte ich m ich no ch im m er scheinb ar p arallel zum B oden. W ir w echselten m ehrm als d ie R ichtung, stets m it d em gleichen W ahrnehm ungs-E ffekt auf m ich. In m ir bildete sich ein G edanke ü b e r m e in e U n fä h ig k e il, z u sp ü re n , o b ic h m ic h a u fw ä rts o d e r abw ärts bew egte, als ich auch schon die S tim m e des B otschafters hörte: »Ich glaube, es ist angenehm er für dich, w enn du kriechst, statt zu fliegen«, sagte sie. »D u kannst dich auch w ie eine S pinne 100
o d e r e in e F lie g e b e w e g e n , se n k re c h t a u f o d e r a b , o d e r a u c h m it dem K opf nach u n te n .« S ofort sank ich nieder. E s w ar. als sei ich schw erelos gew esen und h a lle n u n p lö tz lic h G e w ic h t. d a s m ic h h in u n te rz o g . D ie W ä n d e d es T unnels fühlte ich nicht, d o ch d er B o tschafter halle recht ge h a b t, d a ß e s m ir a n g e n e h m e r w a r. w e n n ic h k ro c h . »In d ieser W elt b rauchst d u d ich nicht vo n d er S chw erkraft nied e rd rü c k e n z u la sse n «, sa g te e r. D ie s k o n n te ic h n a tü rlic h se lb st feststellen. »D u b rauchst auch nicht zu atm en«, fuhr d ie S tim m e fo rt. »U n d g a n z n a c h B e lie b e n k a n n st d u d e in e n G e sic h tssin n b e h a lle n u n d se h e n , w ie d u in d e in e r W e ll z u se h e n g e w ö h n t bist.« D er B otschafter schien zu überlegen, ob er noch etw as hinz u fü g e n so llte . E r h ü ste lte w ie je m a n d , d e r sic h rä u sp e rt, u n d sa g te : »D e r G e sic h tssin n w ird n ie b e e in trä c h tig t. D a ru m sp ric h t ein T räum er üb er sein T räum en im m er in F o rm vo n B ild ern, d ie er sieht.«
D e r S c o u t sc h o b m ic h in e in e n T u n n e l z u r R e c h te n . D ie se r w a r
e tw a s d u n k le r a ls d ie a n d e re n . A u f m ic h w irk te e r a u f g ro te sk e
A rt gem ütlicher als d ie and eren, freund licher, o d er so gar m ir b e kannt M ir kam d er G ed anke in d en S i n n , ich sei d iesem T unnel
ähnlich, o d er d er T unnel m ir.
»Ihr b eid e seid euch scho n b egegnet«, sagte d ie S tim m e d es B o t schaflers.
»W ie b itte ? « sa g te ic h . W o h l h a lle ic h v e rsta n d e n , w a s e r sa g te ,
ab er d ie A ussage w ar unb egreiflich.
»Ihr b eid e hab t m iteinand er gerungen, und d eshalb tragt i h r nun
e in e r d e s a n d e re n E n e rg ie .« M ir k a m e s v o r, a ls v e rra te d ie
S tim m e d e s B o tsc h a fte rs e in e S p u r v o n B o sh e it o d e r so g a r S a r kasm us.
»N ein, es ist nicht S arkasm us«, sagte d er B o tschafter. »Ich freue
m ich, daß du V erw andte hast, h i e r bei u n s . « »W as verstehst d u
unter V erw and ten? « fragte ich. »G e m e in sa m e E n e rg ie sc h a fft
V e rw a n d tsc h a ft«, a n tw o rte te e r. »E nergie ist w ie B lu t.«
Ich w uß te nichts m ehr zu sagen. D eutlich sp ürte ich m eine stei gende A ngst.
»A ngst ist etw as. das es in dieser W ell nicht gibt«, sagte der B ot
sc h a fte r. U n d d ie s w a r d ie e in z ig e se in e r A u ssa g e n , d ie n ic h t
richtig w ar.
Damit endete mein Träumen. Ich war so erschrocken über die Lebhaftigkeit all dessen, über die eindrucksvolle Klarheit und Folgerichtigkeit der Aussagen des Botschafters, daß ich es kaum erwarten konnte, Don Juan davon zu erzählen. Wie überrascht und verstört war ich. als er sich meinen Bericht nicht anhören wollte. Er sagte es nicht direkt, aber ich hatte das Gefühl, daß er wohl annahm, all dies sei nur Produkt meines Mich-Gehenlassens. »Warum verhältst du dich so zu mir?« fragte ich. »Bist du unzu frieden mit mir?« »Nein, ich bin gar nicht unzufrieden mit dir«, sagte er. »Das Pro blem ist nur. ich kann über diesen Aspekt deines Träumens nicht sprechen. In diesem Fall bist du ganz auf dich selbst gestellt. Ich sagte dir doch, daß die anorganischen Wesen real sind. Du wirst noch herausfinden, wie real sie sind. Aber was du aus dieser Fest stellung machst, ist allein deine Sache. Eines Tages wirst du den Grund einsehen, warum ich mich heraushalten muß.« »Aber, kannst du mir denn überhaupt nichts zu diesem Traum sagen?« beharrte ich. »Ich kann nur soviel sagen, daß es kein Traum war. Es war eine Reise ins Unbekannte. Eine notwendige Reise, darf ich wohl sa gen, und eine durchaus persönliche.« Dann wechselte er das Thema und begann über andere Aspekte seiner Lehre zu sprechen. Von diesem Tag an - trotz meiner Angst und Don Juans Weige rung, mir Ratschläge zu geben - machte ich regelmäßige Traum reisen in diese schaumartige Welt. Je besser es mir gelang, so entdeckte ich bald, die Einzelheiten meiner Träume zu beobachten, desto größer war meine Fähigkeit, die Scouts zu isolieren. Wenn ich bereit war. die Scouts als fremde Energie anzuerkennen, blieben sie eine Weile in meinem Wahrnehmungsfeld. Wenn ich darüber hinaus bereit war. die Scouts zu quasi bekannten Objekten zu machen, blieben sie noch länger, dabei radikal ihre Gestalt verändernd. Wenn ich ihnen aber folgte, indem ich laut meine Absicht bekundete, mit ihnen zu gehen, dann versetzten die Scouts meine Traum-Aufmerksamkeit wahrhaftig in eine Well jenseits dessen, was ich mir normalerweise vorstellen kann. Don Juan hatte gesagt, daß die anorganischen Wesen immer bereit sind, uns zu lehren. Er hatte mir aber nicht gesagt, daß es das
T rä u m e n w a r. w a s sie le h re n w o llte n . E r h a lte n u r fe stg e sle llt. d a ß d e r T ra u m b o tsc h a fte r. d a e r e in e S tim m e ist. a ls p e rfe k te r M ittler zw ischen jener W ell und d er unseren d ient. Ich fand nun h e ra u s, d a ß d e r T ra u m b o tsc h a fte r n ic h t n u r d ie S tim m e e in e s L ehrers w ar. so nd ern auch d ie S tim m e eines hö chst geschickten V erkäufers. E r p ries m ir im m er w ied er, b ei jed em p assend en A n la ß , d ie V o rte ile se in e r W e lt a n . A b e r e r le h rte m ic h a u c h u n sc h ä tz b a re K e n n tn isse d e s T rä u m e n s. In d e m ic h ih m z u h ö rte , lernte ich d ie V o rlieb e d er alten Z aub erer für ko nkrete P raktiken verstehen. »U m p erfekt zu träum en, m uß t d u als erstes d einen inneren D ialo g ab stellen«, sagte er m ir einm al. »A m b esten gelingt d ir d ieses A b ste lle n , w e n n d u d ir e i n p a a r se c h s b is a c h t Z e n tim e te r la n g e Q uarzkristalle oder ein paar g la tte , flache F lusskiesel zw ischen die F inger klem m st. K rüm m e d ie F inger und üb e leichten D ruck auf d ie K ristalle o d er K iesel aus.« A uch E isenstifte w ären gut geeignet, sagte d er B o tschafter, w enn sie L änge und B reite d er F inger hallen. D er T rick b estand d arin, w enigstens d rei so lcher flacher G egenständ e zw ischen d ie F inger b e id e r H ä n d e z u k le m m e n u n d e in e n b e in a h sc h m e rz h a fte n D ru c k in d e n H ä n d e n z u e rz e u g e n . D ie se r D ru c k h a b e d ie so n d e rb a re E ig e n sc h a ft, d e n in n e re n D ia lo g a b z u sle lle n . D e r B o tsc h a fte r b ekannte seine V o rlieb e für Q uarzkristalle. S ie ergäb en die besten R esultate, sagte er, w enngleich m it einiger Ü bung auch alles and ere geeignet w äre. In einem A ugenblick völliger S tille einzuschlafen garantiere einen p e rfe k te n Ü b e rg a n g in d a s T rä u m e n , sa g te d ie S tim m e . u n d e s garantiere auch eine S teigerung d er T raum -A ufm erksam keit. »T rä u m e r so llte n e in e n g o ld e n e n R in g tra g e n «, sa g te d e r B o tsc h a fte r ein and erm al, »vo rzugsw eise einen etw as eng sitzend en R ing.« D a z u e rk lä rte d e r B o tsc h a fte r, d a ß e in so lc h e r R in g a ls B rü c k e d ienen kö nne, b eim W ied erauftauchen vo m T räum en in d ie all tägliche W elt o d er b eim E insinken aus unserem alltäglichen B e w uß theit ins R eich d er ano rganischen W esen. »W ie funktio niert d iese B rücke? « fragte ich. D enn ich halle nicht verstand en, w o rum es ging. »D e r K o n ta k t d e r F in g e r m it d e m R in g b ild e t d e n B rü c k e n schlag«, sagte der B otschafter. »W enn e in T räum er in m eine W elt
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k o m m t u n d e in e n R in g trä g t, so z ie h t d ie se r R in g d ie E n e rg ie m einer W elt an und hält sie gefangen. D iese E nergie versetzt den T rä u m e r, w e n n n ö tig , w ie d e r z u rü c k in se in e W e lt, w o b e i d e r R ing d ie E nergie in d ie F inger d es T räum ers ab gib t. A uch der D ruck des R ings auf den F inger, den er um schließt, hilft m it, d ie R ückkehr d es T räum ers in seine W elt zu gew ährleisten. E r g ib t ih m e in a n h a lte n d v e rtra u te s G e fü h l a m F in g e r.« W ährend einer and eren T raum sitzung sagte d er B o tschafter, d aß u n se re H a u t d a s p e rfe k te W e rk z e u g se i, u m E n e rg ie w e lle n a u s d e m M o d u s d e r a lltä g lic h e n W e lt in d e n M o d u s d e r a n o rg a n ischen W esen zu transfo rm ieren, und um gekehrt. E r em p fahl m ir, m eine H aut tro cken und frei vo n Ö len o d er P igm enten zu halten. A u c h e m p fa h l e r, d ie T rä u m e r so llte n e in e n e n g e n G ü rte l, e in e K o p fb in d e o d e r e in H a lsb a n d tra g e n , u m e in e n D ru c k p u n k t z u sc h a ffe n , d e r a u f d e r H a u t a ls Z e n tru m fü r d e n A u sta u sc h v o n E nergie d iene. D ie H aut sei vo n N atur d azu geeignet, erklärte er, E n e rg ie a b z u sc h irm e n ; e s k o m m e a b e r d a ra u f a n , d a ß d ie H a u t n ic h t n u r E n e rg ie a b sc h irm e , so n d e rn a u c h a u sta u sc h e - u n d z u d iesem Z w eck b rauchten w ir nur b eim T räum en laut unsere A b sicht auszusprechen. E ines T ages gab m ir die S tim m e des B otschafters einen fabelhaften T ip . U m S chärfe und E xaktheit unserer T raum -A ufm erksam keit zu gew ährleisten, sagte er, m üß ten w ir sie vo n d er G aum enp latte herab ho len, w o b ei a l l e n M enschen ein gew altiger V o rrat an A ufm erksam keit vo rhand en sei. Insb eso nd ere em p fahl er m ir eine Ü bung, bei der es darum ging, die notw endige D isziplin und K o ntro lle zu lernen, b eim T räum en d ie Z ungensp itze gegen d as G aum endach zu drücken. D ies sei ebenso schw ierig und anstren g e n d , sa g te d e r B o tsc h a fte r, w ie d a s F in d e n d e r e ig e n e n H ä n d e im T raum . D och w enn sie gelinge, führe diese Ü bung zu erstaunlic h e n R e su lta te n b e im K o n tro llie re n d e r T ra u m -A u fm e rk sa m keit. S o erhielt ich reichlich B elehrungen zu allen nur denkbaren T hem e n - B e le h ru n g e n , d ie ic h so fo rt v e rg a ß , w e n n sie m ir n ic h t e n d lo s w ie d e rh o lt w u rd e n . Ic h b a t D o n Ju a n u m R a t, w ie ic h dieses P roblem des V ergessens lösen solle. S ein K om m entar w ar so kurz, w ie ich es erw artet hatte: »K onzentrie re d ic h n u r d a ra u f, w a s d e r B o tsc h a fte r ü b e r d a s T rä u m e n sagt«, m einte er. 104
A lle s, w a s d ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs m ir o ft g e n u g w ie d e r h o lte , e rfa sste ic h m it L e id e n sc h a ft u n d In te re sse . G e tre u D o n Juans R atschlag, b efo lgte ich seine A nw eisungen nur, w enn sie sich auf das T räum en bezogen, und den W ert solcher B elehrungen konnte ich persönlich bestätigen. D ie w ichtigste Inform ation w ar fü r m ic h , d a ß d ie T ra u m -A u fm e rk sa m k e it a u s d e r G e g e n d d e s G aum end achs ko m m t. M ühsam lernte ich d ann, b eim T räum en z u sp ü re n , w ie ic h d ie Z u n g e n sp itz e g e g e n m e in G a u m e n d a c h drückte. Sobald ich dies schaffte, gew ann m eine T raum -A ufm erk sa m k e it e ig e n e s L e b e n u n d w u rd e , w e n n ic h so sa g e n d a rf, sc h ä rfe r a ls m e in e n o rm a le A u fm e rk sa m k e it fü r d ie a lltä g lic h e W elt. U nschw er konnte ich erraten, w ie t i e f sich die a lte n Zauberer auf die anorganischen W esen eingelassen haben m ochten. D on Juans E rm ahnungen und W arnungen vor den G efahren solch einer V er strickung w urd en m ir w ichtiger d enn je. Ich gab m ir alle M ühe. se in e n M a ß stä b e n d e r S e lb stp rü fu n g g e re c h t z u w e rd e n , o h n e m ich gehenzulassen. S o w urde die S tim m e des B otschafters, und w a s sie sa g te , z u r g ro ß e n H e ra u sfo rd e ru n g fü r m ic h . Ic h m u sste um jeden P reis verm eiden, der V ersuchung des m ir vom B otschafte r v e rh e iß e n e n W isse n s n a c h z u g e b e n : u n d d a b e i w a r ic h g a n z allein auf m ich selb st gestellt, w eil D o n Juan no ch im m er nicht b ereit w ar, sich m eine B erichte anzuhö ren. »G ib m ir doch w enigstens e i n e n F ingerzeig, w as ich tun sollte«, b e h a rrte ic h e in m a l, a ls ic h d e n M u t a u fb ra c h te , i h n z u fra gen. »D as kann ich n i c h t « , sagte er in end gültigem T o n. »U nd frage m ich n ie w ieder. Ich habe d ir gesagt, daß T räum er in diesem F all auf sich a lle in angewiesen sin d .« »A ber du w eißt ja gar n ic h t, w as ich dich fragen w o llte .« »O h. doch, ich w eiß. D u m öchtest, daß ic h dir sage, es sei ganz in O rdnung, in einem dieser T unnel zu le b e n , und sei es nur aus dem einen G rund, um zu erfahren, w orüber die S tim m e des B otschafters spricht.« G e n a u d ie s, m u sste ic h z u g e b e n , w a r m e in P ro b le m . Z u m in d e st w o llte ic h w isse n , w a s e s m it d e r A u ssa g e a u f sic h h a t t e , m a n kö nne in d iesen T unnels leb en. »A uch ich hab e d iesen K o nflikt d urchgem acht«, fuhr D o n Juan fo rt, »u n d n ie m a n d k o n n te m ir h e lfe n , w e il d ie s e in e g a n z p e r
sö nliche und end gültige E ntscheid ung ist - eine end gültige E nt sc h e id u n g , d ie d u in d e m A u g e n b lic k triffst, d a d u d e n W u n sc h a u ssp ric h st, in d ie se r W e lt z u le b e n . U m d ic h so w e it z u b rin g e n , d a ß d u d ie se s V e rla n g e n a u ssp ric h st, w e rd e n d ie a n o rg a n isc h e n W e se n a u c h d e in e n g e h e im ste n W ü n sc h e n n a c h k o m m en.« »D as ist w ahrhaft teuflisch. D o n Juan.« »D as kann m an w ohl sagen. A ber nicht nur in dem Sinn, w ie du es m einst. F ür dich liegt das T euflische darin, der V ersuchung nach z u g e b e n - b e so n d e rs d a e s u m so g ro ß e B e lo h n u n g e n g e h t. F ü r m ich ist das R eich dieser anorganischen W esen deshalb eine teuf lische S ache, w eil es w om öglich die einzige Z uflucht sein könnte, d ie T räum er in einem feind seligen U niversum hab en.« »Ist es w irklich ein A syl für T räum er, D o n Juan? « »E in d e u tig , je d e n fa lls fü r m a n c h e T rä u m e r. N ic h t fü r m ic h . Ic h brauche keine S tützen oder S chutzgeländer. Ich w eiß, w as ich bin. Ich bin allein in einem feindseligen U niversum , und ich habe gelernt zu sagen: S ei es d rum !« D am it end ete unser G esp räch. E r hatte nicht gesagt, w as ich hö re n w o llte , u n d d o c h w u ß te ic h . d a ß sc h o n d a s V e rla n g e n , z u erfahren, w ie es w äre, in solch einem T unnel zu le b e n , beinah eine E n tsc h e id u n g fü r d ie se L e b e n sfo rm b e d e u te te . A n so e tw a s w a r ich nicht interessiert. U nd so entschlo ss ich m ich, m eine T raum übungen fortzusetzen, ohne m ich auf w eitere K onsequenzen ein z u la sse n . S o fo rt b e ric h te te ic h D o n Ju a n v o n m e in e m E n tschluß. »S a g e n o c h n ic h ts«, rie t e r m ir. »A b e r b e g re ife , d a ß d e in e E n t sc h e id u n g , fa lls d u b le ib e n w i l l s t , e n d g ü ltig ist. D u w irst fü r im m er dort bleiben.« E s ist m ir unm ö glich, o b jektiv zu b eurteilen, w as d ie unzähligen M a le , d ie ic h v o n d ie se r W e lt trä u m te , e ig e n tlic h sta ttfa n d . Ic h kann nur sagen, daß dies anscheinend eine W elt w ar, so r e a l, w ie ein T raum nur sein kann. O der ich könnte sagen, daß sie so real zu se in sc h ie n w ie u n se re a lltä g lic h e W e lt. V o n d ie se r W e lt trä u m e n d , w u rd e m ir b e w u ß t. w a s D o n Ju a n so o ft z u m ir g e sa g t hatte: d aß d ie W irklichkeit unter d em E influss d es T räum ens eine M etam orphose durchm acht. Ich sah m ich also vor zw ei A lternativen gestellt, zw ischen denen. D on Juan zufolge, alle T räum er sich entscheiden m üssen: entw eder strukturieren w ir unser S ystem zur 106
In terp retatio n vo n S in n esd aten so rgfältig u m , o d er w ir geb en es ganz auf. U n se r In te rp re ta tio n ssy ste m u m z u stru k tu rie re n h ie ß fü r D o n J u a n , d e sse n E rn e u e ru n g z u b e a b sic h tige n . U n d d a s b e d e u te te , daß m an sich bew ußt und sorgfältig bem ühte, dessen K apazitäten zu erw eitern . In d em d ie T räu m er in Ü b erein stim m u n g m it d em W eg der Zauberer leben, sparen und speichern sie die notw endige E n e rgie , u m ih r U rte il h in ta n z u ste lle n u n d so d ie b e a b sic h tigte U m strukturierung zu erm öglichen. W enn w ir uns dafür entschie d en , u n ser In terp retatio n ssystem zu ern eu ern , erklärte er. gerate die R ealität in B ew egung und die B andbreite dessen, w as real sein k a n n , w e rd e e rw e ite rt, o h n e d ie In te gritä t a lle r R e a litä t z u ge fä h rd e n . D a s T rä u m e n e rö ffn e t a lso ta tsä c h lic h d ie P fo rte z u an d eren A sp ekten vo n R ealität. F alls w ir uns dafür entscheiden, unser S ystem aufzugeben, so er w eitert sich d ie B an d b reite d essen , w as o h n e jed e In terp retatio n w ahrgenom m en w erden kann, ins U nerm essliche. U nser Zuw achs an W ahrnehm ung ist so gigantisch, daß uns nur noch sehr w enige Instrum ente zur Interpretation unserer Sinnesdaten bleiben - und som it ein irreales G efühl grenzenloser R ealität oder einer unend lic h e n I r r e a l i t ä t , d ie se h r w o h l re a l se in k ö n n te , e s a b e r n ic h t ist. Für m ich w ar der einzig akzeptable W eg, m ein Interpretationssy ste m z u e rn e u e rn u n d z u e rw e ite rn . W e n n i c h v o m R e ic h d e r a n o rga n isc h e n W e se n trä u m te , b e ge gn e te ic h - v o n T ra u m z u T ra u m - im m e r w ie d e r d e r K o n siste n z d ie se r W e lt, o b ic h d ie Scouts isolierte, der Stim m e des T raum botschafters lauschte oder m ich durch die T unnel bew egte. Ich ging oder schw ebte durch sie hindurch, ohne etw as zu f ü h l e n , und w ar m ir doch bew ußt. daß R au m u n d Z eit ko n stan t w aren , w en n au ch n ich t in ein em u n ter norm alen U m ständen rational f e s t s t e l l b a r e n Sinn. A ber w enn ich U nterschiede zw ischen diesen T unneln bem erkte, e in Fehlen oder ein Ü berm aß an D etails, oder w enn ich die D istanz zw ischen den T u n n e ln e m p fa n d o d e r d ie sc h e in b a re L ä n ge o d e r B re ite e in e s jed en T u n n els verm erkte, d u rch d en ich m ich b ew egte, so h atte ich doch ein G efühl objektiver B eobachtung. D ie n ach h altigste F o lge d ieser U m stru ktu rieru n g m ein es In terpretationssystem s w ar für m ich die E rkenntnis, in w elcher B eziehung ich zur W elt der anorganischen W esen stand. In dieser W elt, 107
die für mich Realität hatte, war ich ein Tropfen Energie. So konnte ich durch die Tunnel flitzen wie ein rasch bewegtes Licht, oder ich konnte wie ein Insekt über ihre Wände kriechen. Wenn ich flog, gab eine Stimme mir nicht willkürliche, sondern zusam menhängende Informationen über Details an den Wänden, auf die ich meine Traum-Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Diese Details waren komplizierte Protuberanzen, ähnlich wie die Zeichen der Braille-Schrift. Wenn ich über die Wände kroch, sah ich dieselben Details viel genauer und hörte, wie die Stimme mir komplexere Erläuterungen gab. Die unvermeidliche Folge war. daß sich bei mir eine doppelte Haltung entwickelte. Einerseits wußte ich. daß ich einen Traum träumte. Andererseits wußte ich. daß ich eine praktische Reise unternahm, ebenso real wie jede Reise in dieser Welt. Diese un willkürliche Spaltung bestätigte mir, was Don Juan gesagt hatte: daß die Existenz anorganischer Wesen der schwerste Angriff auf unsere Rationalität ist. Erst nachdem ich wirklich mein Urteil hintanstellen konnte, fand ich Erleichterung. Zu einer Zeit, als die Spannungen meiner un haltbaren Lage - meine ernsthafte Überzeugung von der nach prüfbaren Existenz anorganischer Wesen, während ich ebenso ernsthaft glaubte, es sei nur ein Traum - mich zu vernichten drohten, trat eine drastische Änderung meiner Haltung ein, ohne daß ich sie von mir aus gewünscht hätte. Don Juan behauptete, daß mein Energiepegel, der stetig gestiegen sei, eines Tages eine Schwelle erreicht habe, was mir erlaubte. alle Annahmen und Vorurteile über das Wesen von Mensch, Realität und Wahrnehmung aufzugeben. An diesem Tag habe ich mich in das Wissen verliebt, ganz unabhängig von dessen Logik oder praktischem Nutzen - und vor allem ohne Rücksicht auf meine persönliche Annehmlichkeit. Als meine objektive Untersuchung über die anorganischen Wesen mir schon nichts mehr bedeutete, brachte Don Juan von sich aus die Sprache auf meine Traumreisen in diese Welt. Er sagte: »Ich glaube, du bist dir gar nicht bewußt. daß du regelmäßige Begeg nungen mit anorganischen Wesen hast.« Er hatte recht. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Ich war selbst verwundert über mein Versehen. »Es ist kein Versehen«, sagte er. »Geheimniskrämerei liegt im 108
Wesen dieser Sphäre. Die anorganischen Wesen hüllen sich in Geheimnis und Dunkelheit. Denk nur an ihre Welt: statisch und geeignet, uns anzuziehen wie Licht oder Feuer die Motten. Aber da ist noch etwas, was der Botschafter dir bislang nicht zu sagen wagte: daß die anorganischen Wesen es auf unser Bewußtsein abgesehen haben, auf das Bewusstsein jedes Lebewesens, das ihnen ins Netz geht, Sie schenken uns Wissen, aber sie fordern eine Zahlung: unser ganzes Sein.« »Meinst du, Don Juan, die anorganischen Wesen sind wie Fi scher?« »Genau. Irgendwann wird der Botschafter dir Menschen zeigen, die sich dort verfangen haben, und andere, nicht-menschliche Wesen, die ebenfalls dort gefangen sind.« Eigentlich hätte ich mit Furcht oder Abscheu reagieren sollen. Don Juans Enthüllungen hatten große Wirkung auf mich, aber nur im Sinn einer unbeherrschbaren Neugier. Beinah hechelte ich vor Erwartung. »Die anorganischen Wesen können niemanden zwingen, bei ihnen zu bleiben«, fuhr Don Juan fort. »In ihrer Welt zu leben, ist freiwillig. Wohl aber können sie jeden von uns gefangennehmen, indem sie unsere Wünsche erfüllen, uns verwöhnen und uns gefällig sind. Hüte dich vor einem Bewusstsein, das unbeweglich ist. Ein solches Bewusstsein sucht zwangsläufig nach Bewegung, und dies tut es, wie ich dir sagte, indem es Projektionen erzeugt, manchmal phantasmagorische Projektionen.« Ich bat Don Juan, mir zu erklären, was er unter phantasmagorischen Projektionen verstand. Er sagte, daß die anorganischen Wesen sich an die innersten Gefühle der Träumer heften und erbarmungslos mit ihnen spielen. Sie schaffen Phantome, um die Träumer zu erfreuen oder zu erschrecken. Und er erinnerte mich daran, daß ich selbst mit einem dieser Phantome gerungen hatte. Die anorganischen Wesen, erklärte er, seien hervorragende Projektionskünstler, denen es Freude mache, sich wie Bilder an die Wand zu projizieren. »Die alten Zauberer scheiterten an ihrem törichten Vertrauen zu solchen Projektionen«, fuhr er fort. »Die alten Zauberer glaubten, daß ihre Verbündeten Macht hätten. Sie übersahen die Tatsache, daß ihre Verbündeten nur hauchfeine Energie waren, über Welten hinwegprojiziert wie in einem kosmischen Film.« 109
»Du widersprichst dir selbst, Don Juan. Sagtest du nicht, daß die anorganischen Wesen real sind? Jetzt behauptest du, sie wären bloße Bilder.« »Ich wollte sagen, daß die anorganischen Wesen in unserer Welt wie bewegte, auf eine Leinwand projizierte Bilder sind: und ich kann sogar hinzufügen, daß sie wie bewegte Bilder einer verdünnten Energie sind, die über die Grenzen zweier Welten hinweg projiziert werden.« »Was aber sind die anorganischen Wesen in ihrer Welt? Sind sie ebenfalls wie bewegte Bilder?« »Keineswegs. Diese Welt ist ebenso real wie unsere. Die alten Zauberer stellten sich die Welt der anorganischen Wesen als eine Ansammlung von Poren und Höhlen vor, schwebend irgendwo an einem dunklen Ort. Und die anorganischen Wesen stellten sie dar als hohle Rohre, zusammengefügt wie die Zellen unseres Körpers. Dieses gewaltige Bündel nannten die alten Zauberer das Labyrinth der Halbschatten.« »Sieht also jeder Träumer diese Welt auf die gleiche Weise?« »Ja, natürlich. Jeder Träumer sieht sie, wie sie ist. Hältst du dich etwa für einzigartig?« Ich musste gestehen, daß irgend etwas an dieser Welt mir immer schon das Gefühl vermittelt hatte, als sei ich einzigartig. Was aber dieses komische, höchst angenehme Gefühl von Exklusivität her vorrief, war nicht die Stimme des Traumbotschafters, auch nichts anderes, was ich mir bewußt vorstellen konnte. »Genau dies verwirrte die alten Zauberer«, sagte Don Juan. »Die anorganischen Wesen machten es mit ihnen genauso wie jetzt mit dir. Sie vermittelten ihnen das Gefühl, einzigartig und exklusiv zu sein. Und noch ein gefährlicheres Gefühl gaben sie ihnen: das Gefühl, Macht zu haben. Macht und Einzigartigkeit sind unübertroffen als korrumpierende Kräfte. Sei auf der Hut!« »Wie hast du selbst diese Gefahr vermieden, Don Juan?« »Ich bin einige Male in dieser Welt gewesen, und dann nie wieder.« Nach Meinung der Zauberer, erklärte Don Juan, sei das Universum gefährlich wie ein Raubtier, und mehr als sonst jemand müßten die Zauberer diesen Umstand bei ihren täglichen Aktivitäten berücksichtigen. Er war überzeugt, daß das Bewusstsein an sich auf Wachstum angelegt sei, und die einzige Art. wie es wach 110
se n k ö n n e , se i d e r K a m p f, d ie K o n fro n ta tio n a u f L e b e n u n d Tod. »D as B ew usstsein d er Z aub erer w ächst, w enn sie träum en«, fuhr e r fo rt. »U n d im se lb e n M o m e n t, d a e s w ä c h st, e rk e n n t irg e n d etw as d o rt d rauß en d ieses W achstum und b eginnt es zu um w erb e n . D ie a n o rg a n isc h e n W e se n sin d W e rb e r u m d ie se s n e u e , gesteigerte B ew uß tsein. D ie T räum er m üssen ihr L eb en lang auf der H ut sein. S ie sind eine leichte B eute, sobald sie sich in dieses räuberische U niversum hinausw agen.« »W a s m e in st d u . D o n Ju a n , so llte ic h tu n , u m m ic h z u sc h ü t zen?« »S ei auf der H ut, jede S ekunde! L aß nichts und niem and für dich entscheiden. G eh nur dann in die W elt der anorganischen W esen, w enn du selbst es w illst.« »E hrlich, D on Juan, ich w eiß nicht, w ie ich das tun sollte. S obald ic h e in e n S c o u t iso lie rt h a b e , e rfa sst m ic h e in u n g e h e u re r S o g , w eiterzugehen. B ei G o tt, ich hab e keine C hance, m ich and ers zu besinnen.« »A c h , k o m m ! W illst d u m ic h a u f d e n A rm n e h m e n ? N a tü rlic h kannst d u d ich w id ersetzen. D u hast es nur no ch nicht versucht, das ist's.« Ich beharrte aber ernstlich darauf, daß es m ir unm öglich sei. m ich zu w id ersetzen. E r w o llte nicht w eiter auf d as T hem a eingehen, und ich w ar ganz dankbar dafür. M ich plagte inzw ischen ein quälend es S chuld gefühl. D enn aus irgend einem G rund w ar m ir d er G e d a n k e , m ic h d e m S o g d e r S c o u ts z u w id e rse tz e n , n i e in d e n Sinn gekom m en. D o n Juan b ehielt recht. w ie im m er. D enn ich stellte fest, d aß ich d ie R ic h tu n g m e in e s T rä u m e n s v e rä n d e rn k o n n te , in d e m ic h d e sse n R ic h tu n g b e a b sic h tig te . Im m e rh in h a tte ic h ja b e a b sic h tig t, d a ß d ie S c o u ts m ic h in ih re W e lt v e rse tz te n . W e n n ic h nun bew ußt das G egenteil beabsichtigte, so w ar es doch m öglich, daß m ein T räum en die entgegengesetzte R ichtung nehm en w ürde. M it einiger Ü bung gelang es m ir im m er zuverlässiger, m eine R eisen in das R eich der anorganischen W esen zu beabsichtigen. D ie gesteigerte F ähigkeit, dies zu beabsichtigen, bew irkte bei m ir eine b e sse re K o n tro lle ü b e r m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it. D ie se r Z u w a c h s a n K o n tro lle m a c h te m ic h w a g e m u tig e r. Ic h g la u b te , 111
straflos solche R eisen unternehm en zu können, w eil ich die R eise anhalten konnte, w ann im m er ich w ollte. »D ein S elbstvertrauen ist unheim lich«, bem erkte D on Juan, als ich ihm - auf seine B itte - von diesem neuen A spekt m einer kon trollierten T raum -A ufm erksam keit berichtete. »W ieso ist es unheim lich?« fragte ich. D enn ich w ar tief überzeugt vom praktischen W ert m einer E ntdeckung. »W eil es d as S elb stvertrau en ein es N arren ist«, sag te er. »Ich w erde dir, hierzu passend, eine Z auberer-G eschichte erzählen. Ich habe sie nicht selbst erlebt, sondern der Lehrer m eines Lehrers, der N agual E lias.« U nd D on Juan erzählte m ir, w ie der N agual E lias und die Liebe seines L ebens, eine Z auberin nam ens A m alia, sich in ihrer Ju gend in die W elt der anorganischen W esen verirrten. N och nie hatte ich D on Juan davon sprechen hören, daß Z auberer für ein an d er d ie »L ieb e ih res L eb en s« sein k ö n n ten . D iese A u ssag e verblüffte m ich. Ich m achte ihn auf den W iderspruch aufm erk sam. »E s ist gar kein W iderspruch. Ich habe nur bislang darauf verzichtet, d ir G esch ich ten ü b er d ie L ieb e d er Z au b erer zu erzäh len «, sagte er. »D u bist dein Leben lang so in Liebe geschw om m en, daß ich dir eine P ause gönnen w ollte. N un also, der N agual E lias und die L iebe seines L ebens, die H exe A m alia, verirrten sich in die W elt der anorganischen W esen«, fuhr D on Juan fort. »Sie gingen nicht träum end dorthin, sondern m it ihrem physischen K örper.« »W ie konnte das geschehen. D on Juan?« »Ih r L eh rer, d er N ag u al R o sen d o , stan d in T em p eram en t u n d P raxis den alten Z auberern sehr nah. E r hatte die A bsicht. E lias u n d A m a lia z u h e lfe n , a b e r sta tt d e sse n stie ß e r sie ü b e r e in e tödliche G renze hinw eg. A n solch eine G renzüberschreitung hatte der N agual R osendo nicht gedacht. E r w ollte seine beiden S ch ü ler n u r in d ie zw eite A u fm erk sam k eit versetzen , ab er d ie Folge w ar ih r V erschw inden.« D on Juan m einte, er w olle nicht auf alle E inzelheiten dieser langen und kom plizierten G eschichte eingehen und m ir nur erzählen , w ie sie sich in d ieser W elt verirrten . D er N ag u al R o sen d o h atte sich n äm lich verrech n et, sag te er, als er an n ah m , d aß d ie anorganischen W esen sich nicht im m indesten für Frauen interes 112
sie rte n . D a b e i w a r se in e Ü b e rle g u n g ric h tig , g e le ite t v o n d e r E rkenntnis d er Z aub erer, d aß d as U niversum vo rw iegend w eib lic h ist u n d d a ß M ä n n lic h k e it, a ls A b le g e r d e r W e ib lic h k e it, ziem lich selten und d aher b egehrt ist. K u rz a b sc h w e ife n d , m e in te D o n Ju a n , d a ß d ie se S e lte n h e it d e s m ä n n lic h e n P rin z ip s v ie lle ic h t d e r G ru n d fü r d ie u n g e re c h tfe r tigte V o rherrschaft d er M änner auf unserem P laneten sei. D ieses T hem a interessierte m ich, und ich w ollte dabei verw eilen, doch er fuhr m it seiner G eschichte fo rt. D er N agual R o send o hab e näm lich den V orsatz gehabt, sagte er. E lias und A m alia ausschließlich im Z ustand der zw eiten A ufm erksam keit zu unterrichten. U nd zu d iesem Z w eck b efo lgte er d ie vo rgeschrieb ene T echnik d er alten Z auberer. E r verpflichtete im T raum einen S cout und befahl die se m , se in e S c h ü le r in d ie z w e ite A u fm e rk sa m k e it z u v e rse tz e n , indem er ihre M ontagepunkte in die entsprechende P osition ver schob. T heoretisch hätte ein m ächtiger S cout i h r e n M ontagepunkt ganz m ühelos in die richtige P osition verschieben können. W as der N agual R osendo aber nicht bedachte. w ar die L ist der anorganischen W esen. W o hl verscho b d er S co ut d ie M o ntagep unkte d er b eid en S c h ü le r, a b e r e r v e rsc h o b sie in e in e P o sitio n , a u s d e r e s g a n z leicht w ar, sie kö rp erlich in d as R eich d er ano rganischen W esen zu transp o rtieren. »Ist es d enn m ö glich, sich kö rp erlich transp o rtieren zu lassen? « fragte ich. »E s ist m öglich«, versicherte er m ir. »W ir sind E nergie, die durch die F ixierung des M ontagepunkts an einem O rt in einer bestim m te n F o rm u n d P o sitio n g e h a lte n w ird . W e n n d ie se r O rt sic h veränd ert, w erd en F o rm und P o sitio n sich entsp rechend verän dern. D ie anorganischen W esen brauchen nur unseren M ontage punkt an den richtigen O rt zu verschieben - und schon fliegen w ir lo s w ie eine R akete, m it S chuhen, H ut und allem .« »K ann d as jed em vo n uns p assieren, D o n Juan? « »G anz gew iß. B esonders w enn der G esam tbetrag unserer E nergie ric h tig ist. O ffe n b a r w a r d e r G e sa m tb e tra g d e r k o m b in ie rte n E nergie von E lias und A m alia etw as, das die anorganischen W ese n n ic h t ü b e rse h e n k o n n te n . E s ist a b su rd , d e n a n o rg a n isc h e n W esen zu vertrauen. S ie hab en ihren eigenen R hythm us, und es ist kein m enschlicher.« 113
Ich fragte D o n Juan, w as genau d er N agual R o send o getan hab e, um seine S chüler in diese W elt zu schicken. Ich w ußte, w ie dum m es vo n m ir w ar, üb erhaup t zu fragen, d enn er w ürd e m eine F rage igno rieren. D arum w ar ich w irklich üb errascht, als er zu erzählen anfing. »D ie S chritte d azu sind ganz einfach«, sagte er. »R o send o steckte seine S chüler in eine sehr kleine, ab geschlo ssene K am m er, so etw as w ie einen S chrank. D ann versenkte er sich ins T räum en und rief einen S co ut aus d em R eich d er ano rganischen W esen herb ei, ind em er seine A b sicht aussp rach, einen zu b eko m m en; und d ann ä u ß e rte e r d ie A b sic h t, se in e S c h ü le r d e m S c o u t z u ü b e ra n tw o rten. D er S co ut akzep tierte natürlich d as G eschenk und trug sie in e in e m u n b e w a c h te n A u g e n b lic k d a v o n , w ä h re n d sie sic h g e ra d e in d ie se m S c h ra n k lie b te n . A ls d e r N a g u a l d e n S c h ra n k a u fsp e rrte , w a re n sie n ic h t m e h r d a .« G enau d ies sei b ei d en alten Z aub erern d er B rauch gew esen, er k lä rte D o n Ju a n , n ä m lic h d ie S c h ü le r d e n a n o rg a n isc h e n W e se n als G ab e d arzub ringen. D ies hab e d er N agual R o send o nicht vo r gehab t, d o ch er ließ sich vo n seiner ab surd en Ü b erzeugung hin re iß e n , e r h a b e d ie a n o rg a n isc h e n W e se n u n te r K o n tro lle . »D ie M a n ö v e r d e r Z a u b e re r sin d le b e n sg e fä h rlic h «, fu h r D o n Ju a n fo rt. »Ic h b e sc h w ö re d ic h , se i g a n z a u ß e ro rd e n tlic h a u f d e r H u t. H ü te d ic h v o r a lle m v o r tö ric h te m S e lb stv e rtra u e n .« »W a s g e sc h a h sc h lie ß lic h m it d e m N a g u a l E lia s u n d A m a lia ? « fragte ich. »D er N agual R o send o m usste sich kö rp erlich in d iese W elt b egeb e n u n d sie su c h e n «, a n tw o rte te e r. »F and er sie?« »Ja , e r fa n d sie , n a c h u n sä g lic h e n M ü h e n . D o c h e r k o n n te sie n ic h t g a n z h e ra u sh o le n . D a ru m b lie b e n d ie b e id e n ju n g e n L e u te im m er halb G efangene d ieses R eiches.« »K a n n te st d u sie , D o n Ju a n ? « »N a tü rlic h k a n n te ic h sie , u n d ic h v e rsic h e re d ir, sie w a re n se h r so nd erb ar.«
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6. Die Welt der Schatten
»D u m uß t grö ß te V o rsicht w alten lassen, d enn d u b ist in G efahr, d en ano rganischen W esen zum O p fer zu fallen«, sagte D o n Juan ganz unerw artet, nachdem w ir uns über etw as unterhalten hatten, d as m it d em T räum en gar nichts zu tun hatte. Seine W orte erschreckten m ich. W ie im m er versuchte ich m ich zu rechtfertigen. »D u m ußt m ich nicht w arnen, ich bin sehr vorsichtig«, b eteuerte ich ihm . »D ie a n o rg a n isc h e n W e se n fü h re n e tw a s im S c h ild e «, sa g te e r. »Ich spüre es, und ich kann m ich nicht dam it abfinden und sagen, d a ß sie u n s ja v o n A n fa n g a n F a lle n ste lle n u n d so v e rsu c h e n , unb eho lfene T räum er w irksam und für im m er auszuschalten.« S o eindringlich sprach er zu m ir, daß ich ihm sofort beteuerte, ich hätte keinesw egs d ie A b sicht, in eine F alle zu tap p en. »D u d a rfst n ic h t v e rg e sse n , d a ß d ie a n o rg a n isc h e n W e se n ü b e r ganz erstaunliche M ittel verfügen«, fuhr er fort. »Ihre B ew ußtheit ist enorm . V erglichen dam it sind w ir nur K inder; und zw ar K inder m it viel E nergie, auf d ie es d ie ano rganischen W esen ab gesehen haben.« In ab straktem S inn, so sagte ich ihm , verstand ich seinen S tand punkt und seine B esorgnis durchaus: aber konkret h ie lt ich seine W arnung d enno ch für unb erechtigt, w eil ich m eine T raum üb ungen gut unter K o ntro lle hätte. D a ra u f fo lg te e in lä n g e re s, u n b e h a g lic h e s S c h w e ig e n , b is D o n Juan w eitersp rach. E r w echselte ab er d as T hem a und m einte, er m üsse m ich auf e in sehr w ichtiges P roblem seiner T raum -U nter w eisung aufm erksam m achen - ein P ro b lem , d as m ir no ch nicht bew ußt gew orden sei. »D u h a st n u n v e rsta n d e n , d a ß d ie P fo rte n d e s T rä u m e n s sp e z i fisc h e H in d e rn isse sin d «, sa g te e r. »A b e r d u h a st n o c h n ic h t v e rsta n d e n , d a ß d ie Ü b u n g e n , d ie d ir a u fg e g e b e n sin d , u m e in e P fo rte z u e rre ic h e n u n d z u d u rc h sc h re ite n , e ig e n tlic h g a r n ic h ts m it d ieser P fo rte zu tun hab en.« 115
»Damit kann ich nichts anfangen, Don Juan.« »Nun, ich meine damit, daß es falsch wäre zu sagen, die zweite Traumpforte sei erreicht und durchschritten, sobald der Träumer gelernt hat, in einem anderen Traum aufzuwachen, oder sobald er lernt, die Träume zu wechseln, ohne in der alltäglichen Welt zu erwachen.« »Warum ist es falsch, Don Juan?« »Weil die zweite Pforte des Träumens erst dann erreicht und durchschritten ist, wenn der Träumer gelernt hat, die Scouts fremder Energie zu isolieren und ihnen zu folgen.« »Warum wird das Wechseln der Träume dann überhaupt gelehrt?« fragte ich. »Das Erwachen in einem anderen Traum, oder das Wechseln der Träume, ist ein Training, ein Drill, von den alten Zauberern er sonnen zur Schulung der Fähigkeit eines Träumers, einen Scout zu isolieren und ihm zu folgen.« Einem Scout zu folgen sei eine hohe Leistung, erklärte nun Don Juan. Sobald einem Träumer dies gelungen sei, werde die zweite Pforte aufgestoßen, und er könne eintreten in das Universum hinter dieser Pforte. Dieses Universum sei immer vorhanden, sagte er, aber wir könnten nicht eintreten, weil es uns an Energie und Tapferkeil fehle. Die zweite Pforte des Träumens sei vor allem ein Tor zur Well der anorganischen Wesen, und der Schlüssel zu diesem Tor sei das Träumen. »Kann der Träumer einen Scout direkt isolieren, ohne sich dem Drill des Träume-Wechselns zu unterziehen?« fragte ich. »Oh, nein«, sagte er. »Der Drill des Träume-Wechselns ist sehr wichtig. Fragt sich nur, ob dies der einzig mögliche Drill ist. Oder könnte ein Träumer auch einen anderen Drill absolvieren?« Don Juan sah mich fragend an. Mir schien, als erwarte er tatsächlich von mir eine Antwort. »Es wäre schwierig, sich einen besser geeigneten Drill auszudenken, als die alten Zauberer ihn erfanden«, sagte ich, ohne zu wissen warum, aber mit unabweisbarer Überzeugung. Dies sei ganz richtig, gestand Don Juan. Aber die alten Zauberer hallen eine ganze Reihe solcher Drill-Methoden erfunden, sagte er, die es dem Träumer ermöglichten, durch die Pforten des Träu mens in die dahinterliegenden Welten einzutreten. Das Träumen müsse jedoch, wiederholte er, weil es eine Erfindung der allen
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Zauberer sei, auch nach deren Spielregeln gespielt werden. Und für die zweite Pforte gelle eine Regel, bestehend aus drei Schrillen: zuerst müßten die Träumer, indem sie das Wechseln der Träume üblen, die Scouts zu isolieren lernen, zweitens müßten sie den Scouts folgen, um in ein anderes Universum zu gelangen; und drittens müßten die Träumer in diesem Universum - allein auf sich gestellt, und durch ihre Taten dort - die in diesem Universum geltenden Gesetze und Regeln entdecken. Und nun meinte Don Juan, daß ich, bei meinen Begegnungen mit den anorganischen Wesen, diese Regeln so gut befolgt halle, daß er die katastrophalsten Konsequenzen befürchten müsse. Es wäre unvermeidlich, sagte er, daß diese Wesen jetzt versuchen würden, mich in ihrer Well festzuhalten. »Findest du nicht, Don Juan, du übertreibst ein wenig?« sagte ich. Denn so schwarz, wie er mir das Bild ausmalte, konnte ich es mir nicht vorstellen. »Oh, nein, ich übertreibe nicht«, sagte er gelassen und ernst. »Du wirst sehen. Die anorganischen Wesen lassen uns nicht mehr los. Nicht ohne wirklichen Kampf.« »Wieso aber nimmst du an, daß sie es auf mich abgesehen hal ten?« »Sie haben dir bereits zu vieles gezeigt. Glaubst du wirklich, sie würden sich solche Mühe machen, nur um sich zu amüsieren?« Don Juan lachte über seine eigene Bemerkung. Ich fand sie gar nicht komisch. Eine sonderbare Furcht beschlich mich, und ich fragte ihn, ob er glaube, ich sollte meine Traumübungen ausset zen oder sogar abbrechen. »Du mußt dein Träumen fortsetzen, bis du durch das Universum hinter der zweiten Pforte hindurchgegangen bist«, sagte er. »Und ich meine, du allein mußt die Lockung der anorganischen Wesen annehmen oder zurückweisen. Das ist auch der Grund, warum ich mich zurückhalle und kaum etwas zu deinen Traumübungen sagen kann.« Ich mußte gestehen, daß ich mich schon gefragt halle, warum er bei der Erläuterung anderer Aspekte seines Wissens so großzügig war - und so kurz angebunden beim Träumen. »Ich mußte dich das Träumen lehren«, sagte er, »nur weil dies die Regel ist, die die alten Zauberer aufgestellt haben. Der Pfad des 117
T räum ens ist voller F allgruben. O b m an diese F allen aber m eidet o d er hineintap p t, ist d ie ganz p ersö nliche und ind ivid uelle E nt scheidung eines jeden T räum ers - und, so darf ich hinzufügen, es ist eine endgültige E ntscheidung.« »S ind solche F allgruben eine F olge der K apitulation vor S chm ei cheleien o d er V erheiß ungen d er M acht? « »N icht nur d er K ap itulatio n vo r d iesen D ingen, so nd ern d er K apitulation vor allem , w as die anorganischen W esen uns anbieten. Ü ber einen gew issen P unkt hinaus ist es Z auberern ganz unm öglich, irgend ein A ngeb o t vo n ihnen anzunehm en.« »U nd w as ist d ieser gew isse P unkt, D o n Juan? « »D ieser P unkt ist vo n jed em einzelnen ab hängig. F ür jed en vo n u n s k o m m t e s d a ra u f a n , v o n d ie se r W e lt n u r d a s a n z u n e h m e n , w as w ir b rauchen, und nicht m ehr. Z u w issen, w as sie b rauchen, ist e in e K u n st d e r Z a u b e re r; a b e r n u r d a s z u n e h m e n , w a s sie brauchen, ist ihre höchste L eistung. D iese einfache R egel nicht zu b egreifen, ist d as sicherste M ittel, um in eine F allgrub e zu stürzen.« »W as geschieht, w enn m an stürzt, D o n Juan? « »W enn m an stürzt, zahlt m an den P reis. U nd der P reis richtet sich nach den jew eiligen B edingungen und nach der T iefe des S turzes. A ber eigentlich brauchen w ir über solche M öglichkeiten gar nicht zu sp rechen, d enn hier geht es nicht um B estrafung. H ier geht es um E nergieströ m e und zw ar E nergieströ m e, d ie B ed ingungen schaffen können, schrecklicher als der T od. A lles auf dem P fad der Zauberer ist eine Frage auf Leben und T od; auf dem P fad des T räum ens aber verschärft sich diese O ption noch hundertfältig.« Ich versicherte D on Juan, daß ich bei m einen T raum übungen stets höchste V orsicht w alten ließ und daß ich äußerst diszipliniert und gew issenhaft sei. »D as w eiß ich«, sagte er, »aber du m ußt noch disziplinierter sein und alles, w as m it dem T räum en zusam m enhängt, m it G lacehand schuhen anfassen. S ei vor allem w achsam . Ich kann nicht vorher sagen, w oher der A ngriff kom m en w ird.« » S ieh st d u d e n n , a ls S e h e r, e in e u n m itte lb a re G e fa h r fü r m ic h . D on Juan?« »Ich sehe unm ittelbare G efahr für dich, seit dem T ag, als du durch d iese geheim nisvo lle S tad t sp aziertest; als ich d ir zum erstenm al half, d einen E nergiekö rp er zu aktivieren.«
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»W eißt du denn im einzelnen, w as ich tun und w as ich verm eiden sollte?« »N e in , d a s n ic h t. Ic h w e iß n u r, d a ß d a s U n iv e rsu m je n se its d e r zw eiten P forte dem unseren am ähnlichsten ist; und unser U niversu m ist ziem lich grau sam u n d h erzlo s. A lso kö n n en d ie b eid en nicht so verschieden sein.« Ic h b e d rä n gte ih n d e n n o c h , m ir z u sa ge n , w a s m ir b e v o rsta n d . U nd er beharrte darauf, daß er als Z auberer eine allgem eine G efah r sp ü re, m ir ab er n ich ts G en au eres sagen kö n n e. »D as U niversum der anorganischen W esen ist im m er zum A ngriff b ereit«, fu h r er fo rt. »D o ch u n ser eigen es U n iversu m eb en falls. D arum m ußt du, w enn du dich in ihre Sphäre vorw agst, genauso v o rsic h tig se in , a ls b e w e gte st d u d ic h z w isc h e n S c h ü tz e n grä ben.« »G la u b st d u , D o n J u a n , d a ß T rä u m e r im m e r A n gst v o r d ie se r W elt haben sollten?« »N ein, das glaube ich nicht. Sobald ein T räum er durch das U ni v e rsu m h in te r d e r z w e ite n P fo rte h in d u rc h ge ga n ge n ist, o d e r so b ald er d ieses U n iversu m als m ö glich e A ltern ative ab geleh n t h at, gib t es kein e P ro b lem e m eh r.« N u r d a n n , b e to n te D o n J u a n , se i e s T rä u m e rn e rla u b t, w e ite r voranzugehen. Ich w ußte nicht recht, w as er dam it sagen w ollte. U nd er erklärte, daß das U niversum jenseits der zw eiten P forte so m ächtig und aggressiv sei, daß es als natürliche Selektion dienen k ö n n e , a ls P rü fsta n d so z u sa ge n , w o d ie T rä u m e r a u f je d e ih re r S chw ächen getestet w ürden. F alls sie die T ests überlebten, könnten sie voranschreiten zur nächsten P forte; falls nicht, blieben sie für im m er gefangen in diesem U niversum . E s w ü rgte m ic h b e in a h v o r A n gst, a b e r so se h r ic h D o n J u a n b ed rän gte, w o llte er m ir n ich ts w eiter zu d iesem T h em a sagen . W ieder zu H ause, fuhr ich fort m it m einen R eisen in die W elt der anorganischen W esen - aber ich w ar sehr vorsichtig. D iese V or sich t sch ien d en G en u ss so lch er R eisen n u r n o ch zu steigern . Ich w ar so w eit, daß ich nur an die W elt der anorganischen W esen zu d en ken b rau ch te, u m in b eisp iello se, u n b esch reib lich e E u p h o rie zu geraten. B einah fürchtete ich, diese H ochstim m ung könne ir gen d w an n en d en , ab er d ies w ar n ich t d er F all. E in u n erw arteter Z w ischenfall m achte sie noch intensiver. Irgendw ann einm al führte ein S cout m ich eilig durch eine U nzahl 11Q
von T unneln, als suchte er irgend etw as oder als w olle er all m eine E nergie erschöpfen. A ls er endlich halt m achte, hatte ich ein G e fü h l, als h ätte ich ein en M arath o n lau f h in ter m ir. M ir sch ien , als h ä tte ic h d a s E n d e d ie se r W e lt e rre ic h t. E s ga b k e in e T u n n e l m ehr, nur Schw ärze ringsum . D ann beleuchtete irgend etw as die S te lle , w o ic h m ic h b e fa n d . L ic h t fie l d o rt a u s e in e r in d ire k te n Q uelle. E s w ar ein gedäm pftes Licht, das alles in ein diffuses G rau o d e r B ra u n ta u c h te . N a c h d e m ic h m ic h a n d a s L ic h t ge w ö h n t hatte, unterschied ich einige dunkle, bew egliche G estalten. N ach einer W eile schien es m ir, als w ürden diese bew eglichen U m risse fester, w enn ich m eine T raum -A ufm erksam keit auf sie konzen trie rte . E s ga b d re i T y p e n v o n ih n e n , w ie ic h b e m e rk te : e in ige w a re n ru n d w ie K u ge ln . A n d e re w a re n w ie G lo c k e n ge fo rm t. U nd w ieder andere w ie riesige, flackernde K erzenflam m en. A lle w a re n m e h r o d e r m in d e r ru n d u n d v o n gle ic h e r G rö ß e . Ic h sc h ä tz te sie a u f e tw a e in e n M e te r im D u rc h m e sse r. E s w a re n H underte von ihnen, w ie ich sah, vielleicht sogar T ausende. Ich w ußte, dies w ar eine sonderbare und kom plizierte V ision, obgleich diese G estalten so real w aren, daß ich sofort m it Ü belkeit reagierte. Ich hatte das w iderliche G efühl, auf ein N est von riesige n ru n d e n , b rä u n lic h e n o d e r gra u e n K ä fe rn h in a b z u sc h a u e n . Irgendw ie fühlte ich m ich aber in Sicherheit, so hoch über ihnen. D och ich verw arf diese Ü berlegungen sofort, als m ir klarw urde, w ie d u m m es w ar, m ich in S ich erh eit zu w iegen , als w äre m ein T ra u m e in e S itu a tio n im w irk lic h e n L e b e n . U n d w ä h re n d ic h diese käferartigen G estalten um herw im m eln sah, beschlich m ich d er b eklem m en d e G ed an ke, d aß sie m ich b erü h ren kö n n ten . »W ir sind die m obile E inheit unserer W elt«, sagte die Stim m e des B otschafters plötzlich. »H ab keine A ngst. W ir s in d E nergie, und natürlich haben w ir nicht die A bsicht, dich zu berühren. E s w äre ohnehin unm öglich. W ir sind durch reale Schranken getrennt.« N ach einer langen P ause fügte die Stim m e hinzu: »W ir m öchten, daß du zu uns kom m st. H ier herunter, w o w ir sind. U nd sei ganz unbefangen. D u hast doch keine A ngst vor den Scouts, und gew iß n ich t vo r m ir. D ie S co u ts u n d ich , w ir sin d w ie d ie an d eren . Ich bin glockenförm ig, und die Scouts sind w ie K erzenflam m en ge form t.« D iese letzte A ussage w ar so etw as w ie ein S tichw ort für m einen 120
Energiekörper. Kaum hatte ich sie vernommen, verschwanden meine Übelkeit und Angst. Ich stieg zu ihnen hinab, und die Ku geln und Glocken und Kerzenflammen umringten mich. Sie ka men so nah, daß sie mich berührt hätten, hätte ich einen physischen Körper gehabt. Statt dessen schwebten wir durch ein ander hindurch, wie unsichtbar umhüllte Windstöße. In diesem Moment hatte ich ein unglaubliches Gefühl. Obwohl ich in meinem Energiekörper keinerlei Empfindung hatte, fühlte und registrierte ich - auf irgendwie andere Art - das erstaunlichste Kitzeln. Weiche Wesen von luftiger Konsistenz gingen eindeutig durch mich hindurch, aber nicht in meinem Hier und Jetzt. Die Empfindung war flüchtig und unbestimmt und ließ mir keine Zeit, mir darüber klarzuwerden. Statt meine Traum-Aufmerksamkeit auf dieses Gefühl zu konzentrieren, war ich ganz damit beschäftigt, diese riesigen, aus Energie bestehenden Käfer zu beobachten. Auf dem Niveau, wo ich mich nun befand, kam es mir vor, als hätten diese Schattenwesen und ich etwas gemeinsam: die Größe. Vielleicht weil ich annahm, daß sie etwa so groß wären wie mein eigener Energiekörper, fand ich es beinah anheimelnd bei ihnen. Und bei genauerer Prüfung fand ich, daß sie mir gar nicht unangenehm waren. Sie waren unpersönlich, kühl, zurückhaltend -und das gefiel mir sehr. Irgendwann fragte ich mich, ob die Tatsache, daß ich sie zuerst ablehnte und im nächsten Moment so angenehm fand, eine natürliche Folge des Träumens sei, oder das Produkt irgendeines energetischen Einflusses, den diese Wesen auf mich ausübten. »Sie sind sehr sympathisch«, sagte ich zu dem Botschafter - und im gleichen Moment fühlte ich mich überwältigt von einem Gefühl tiefer Freundschaft, oder sogar Liebe zu ihnen. Kaum hatte ich dieses Gefühl ausgesprochen, als die dunklen Gestalten auch schon davonhuschten wie rundliche Meerschweinchen und mich allein im Halbdunkel zurückließen. »Du hast zuviel Gefühl auf sie projiziert und sie verschreckt«, sagte die Stimme des Botschafters. »Gefühle sind zu schwierig für sie, und übrigens auch für mich.« Der Botschafter lachte sogar schallend. Hier endete meine Traumsitzung. Meine erste Reaktion beim Er wachen war, meinen Koffer zu packen und nach Mexiko zu fahren, um Don Juan aufzusuchen. Aber eine unerwartete Ent 111
wicklung in meinem Leben machte die Reise unmöglich, trotz meiner hektischen Vorbereitungen zum Aufbruch. Die Angst, die sich aus dieser Verzögerung ergab, unterbrach meine Traumübungen für einige Zeit. Nicht, daß ich sie aus bewußtem Willen abgebrochen hätte. Vielmehr hatte ich unbewusst so viel Bedeu tung in diesen einen Traum gelegt, daß ich einfach wußte, ich könne unmöglich weitermachen mit dem Träumen, wenn ich nicht zu Don Juan fahren konnte. Nach einer Unterbrechung, die mehr als ein halbes Jahr dauerte, wurde ich immer verwirrter durch das, was mir passiert war. Ich hatte nicht gewusst, daß meine Gefühle ausreichen würden, um meine Übungen abzubrechen. Und nun fragte ich mich, ob der Wunsch allein genügen würde, sie wiederaufzunehmen. So war es! Kaum hatte ich den Gedanken formuliert, das Träumen wie deraufzunehmen, gingen meine Übungen weiter, als wären sie nie unterbrochen worden. Der Scout machte dort weiter, wo wir auf gehört hatten, und führte mich direkt in die Vision zurück, die ich bei meiner letzten Sitzung gehabt hatte. »Dies ist die Welt der Schatten«, sagte die Stimme des Botschafters, als ich dort angekommen war. »Aber auch wenn wir Schatten sind, geben wir Licht ab. Nicht nur sind wir mobil, sondern wir sind auch das Licht in den Tunneln. Wir sind eine andere Art von anorganischen Wesen, die es hier gibt. Es gibt drei Arten: die eine ist wie ein unbeweglicher Tunnel, die andere ist wie ein be weglicher Schatten. Wir sind die beweglichen Schatten. Die Tunnel geben uns ihre Energie, und wir folgen ihren Befehlen.« Der Botschafter machte eine Pause. Mir schien, er wolle mich herausfordern, ihn nach der dritten Art anorganischer Wesen zu fragen. Und wenn ich ihn nicht fragte, so glaubte ich, würde der Botschafter es mir nicht sagen. »Welches ist die dritte Art anorganischer Wesen?« sagte ich. Der Botschafter hüstelte und kicherte. Ich hatte den Eindruck, als genieße er es, gefragt zu werden. »Oh, das ist unsere geheimnisvollste Eigenschaft«, sagte er. »Die dritte Art wird unseren Besuchern nur gezeigt, wenn sie sich ent scheiden, bei uns zu bleiben.« »Warum ist das so?« fragte ich. »Weil es viel Energie braucht, sie zu sehen«, antwortete der Bot schafter. »Und diese Energie müßten wir liefern.« 199
Ic h w u ß te , d a ß d e r B o tsc h a fte r d ie W a h rh e it sp ra c h . Ic h w u ß te auch, d aß d a eine furchtb are G efahr lauerte. U nd d o ch fühlte ich m ich vo n grenzenlo ser N eugier getrieb en. Ich w o llte d iese d ritte A rt se h e n . D er B otschafter schien zu w issen, w as ich em pfand. »M öchtest du sie sehen? « fragte er gleichgültig. »A b er sicher«, sagte ich. »D a n n b ra u c h st d u n u r la u t z u sa g e n , d a ß d u b e i u n s b le ib e n w illst«, sagte d er B o tschafter in no nchalantem T o n. »D och w enn ich es sage, m uß ich bleiben, nicht w ahr?« fragte ich. »N atürlich«, sagte d er B o tschafter, im T o n end gültiger Ü b erzeu g u n g . »A lle s, w a s d u in d ie se r W e lt la u t a u ssp ric h st, g ilt fü r im m er.« U n w illk ü rlic h d a c h te ic h d a ra n , d a ß d e r B o tsc h a fte r, h ä tte e r m ich zum B leiben überlisten w ollen, m ich nur anzulügen b ra u c h te . Ic h h ä tte d e n U n te rsc h ie d n ic h t g e m e rk t. »Ic h k a n n d ic h n ic h t a n lü g e n , w e il e in e L ü g e n ic h t e x istie rt«, sagte d er B o tschafter, in m eine Ü b erlegungen eind ringend . »Ich kann nur d arüb er etw as sagen, w as existiert. In m einer W elt existie rt n u r d ie A b sic h t; e in e L ü g e e n th ä lt k e in e A b sic h t. D a ru m existiert sie nicht.« Ich w o llte scho n einw end en, d aß es auch hinter L ügen eine A b sic h t g e b e n k ö n n e , a b e r b e v o r ic h d ie s ä u ß e rn k o n n te , sa g te d e r B o tsc h a fte r, d a ß L ü g e n w o h l e in e n V o rsa tz e n th a lte n k ö n n te n ; ein V o rsatz sei ab er no ch keine A b sicht. E s gelang m ir nicht, m eine T raum -A ufm erksam keit auf d ie D e b a tte z u k o n z e n trie re n , d ie d e r B o tsc h a fte r d a a n sc h n itt. S ie ric h te te sic h v ie lm e h r a u f d ie S c h a tte n w e se n . P lö tz lic h fie l m ir auf, d aß sie aussahen w ie eine H erd e seltsam er, kind licher T iere. D ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs e rm a h n te m ic h , m e in e E m o tio n e n zu ko ntro llieren; p lö tzliche G efühlsausb rüche seien geeignet, d ie W esen aufflattern zu lassen w ie einen V ogelschw arm . »W as so ll ich jetzt tun? « fragte ich. »K o m m h e ru n te r z u u n s u n d v e rsu c h e , u n s z u sc h ie b e n o d e r z u ziehen«, d rängte d ie S tim m e d es B o tschafters. »Je früher d u d ies lernst, d esto schneller w ird es d ir gelingen, in d einer W elt D inge vo m F leck zu b ew egen, ind em d u sie nur anschaust.« M eine K räm erseele zitterte vo r E rw artung. Im nächsten M o m ent w ar ich b ei ihnen und versuchte verzw eifelt, sie zu schieb en o d er
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zu ziehen. Nach einer Weile hatte ich meine Energie gründlich erschöpft. Inzwischen hatte ich den Eindruck, daß ich etwas Ähn liches zu tun versucht hatte, wie mit den Zähnen ein Haus hochzuheben. Auch hatte ich das Gefühl, daß die Zahl der Schatten sich vermehrte, je mehr ich mich anstrengte. Es war, als kämen sie aus allen Winkeln herbei, um mich zu beobachten oder sich an mir zu laben. Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, huschten die Schatten wieder davon. »Wir laben uns nicht an dir«, sagte der Botschafter. »Wir alle kommen nur, um deine Energie zu spüren, ähnlich wie du es an einem kalten Tag mit dem Sonnenlicht tun würdest.« Der Botschafter schlug vor, ich solle mich diesen Wesen öffnen, indem ich mein Misstrauen aufgäbe. Ich hörte die Stimme, und noch während ich ihr zuhörte, wurde mir klar, daß ich genauso hörte, fühlte und dachte, wie ich es in meiner alltäglichen Welt tue. Ich drehte mich langsam und schaute mich um. Gemessen an der Klarheit meiner Wahrnehmungen, musste ich folgern, daß ich mich in einer realen Welt befand. In meinen Ohren tönte die Stimme des Botschafters. Sie sagte, daß der einzige Unterschied zwischen dem Wahrnehmen meiner Welt und dem Wahrnehmen der ihren darin liege, daß die Wahr nehmung ihrer Welt für mich in der Zeitspanne eines Wimpern zuckens anfing und endete; nicht aber die Wahrnehmung meiner Welt, weil mein Bewusstsein - zusammen mit dem Bewusstsein einer Vielzahl von Menschen wie mir, die mit ihrer Absicht meine Welt im Gleichgewicht hielten - auf meine Welt fixiert sei. Für die anorganischen Wesen, fügte der Botschafter hinzu, fange die Wahrnehmung meiner Welt auf die gleiche Weise an, nämlich in der Zeitspanne eines Wimpernzuckens - nicht aber die Wahrneh mung ihrer eigenen Welt, weil es so viele von ihnen gebe, die mit ihrer Absicht diese Welt im Gleichgewicht hielten. In diesem Moment begann das Bild sich aufzulösen. Es war, als sei ich ein Taucher, und das Erwachen aus dieser Welt sei wie ein Aufwärtsschwimmen zur Oberfläche. In der folgenden Sitzung eröffnete der Botschafter das Gespräch und stellte noch einmal fest, daß es eine durchaus planmäßige und wechselseitige Beziehung gebe zwischen mobilen Schatten und stationären Tunneln. Zum Schluss seiner Erklärung sagte er: »Wir können ohne einander nicht existieren.« 124
»Ich verstehe, w as d u m einst«, sagte ich. L e ic h te r S p o tt la g in d e r S tim m e d e s B o tsc h a fte rs, a ls e r n u n sagte, daß ich unm öglich verstehen könne, w as es hieß, auf diese W eise verbunden zu sein, die unendlich viel m ehr bedeute als eine w e c h se lse itig e A b h ä n g ig k e it. Ic h w o llte d e n B o tsc h a fte r sc h o n b itte n , m ir z u e rk lä re n , w a s e r d a m it m e in te - a b e r im n ä c h ste n M o m ent w ar ich im Innern vo n etw as, w as ich nur als d en S to ff beschreiben kann, aus dem diese T unnel bestanden. Ich sah grote sk v e rsc h m o lz e n e , d rü se n a rtig e P ro tu b e ra n z e n , d ie e in trü b e s L icht aussand ten. M ir kam d er G ed anke, d ies kö nnten d ieselb en P rotuberanzen sein, die m ir w ie B raille-Schrift vorgekom m en w are n . E in g e d e n k d e r T a tsa c h e , d a ß e s E n e rg ie k lu m p e n v o n e tw a einem M eter D urchm esser w aren, fragte ich m ich staunend , w ie groß diese T unnel sein m ochten. »G rö ß e b e d e u te t h ie r n ic h t d a sse lb e w ie in d e in e r W e lt«, sa g te der B otschafter. »D ie E nergie dieser W elt ist eine andere A rt von E n e rg ie ; ih re M e rk m a le e n tsp re c h e n n ic h t d e n M e rk m a le n v o n E nergie in d einer W elt, und d o ch ist d iese W elt eb enso real w ie deine.« U n d n u n fu h r d e r B o tsc h a fte r fo rt u n d sa g te , e r h a b e m ir a lle s üb er d ie S chattenw esen erzählt, als er m ir d ie P ro tub eranzen an den T unnelw änden erklärte. Ich erw iderte, daß ich die E rklärung e n w o h l g e h ö rt, n ic h t a b e r d a ra u f g e a c h te t h ä tte , w e il ic h glaub te, sie b ezö gen sich nicht unm ittelb ar auf d as T räum en. »A lles hier in dieser W elt bezieht sich auf das T räum en«, sagte der B otschafter. Ic h w o llte m ir G e d a n k e n m a c h e n ü b e r d ie G rü n d e m e in e s Irr tu m s, a b e r m e in K o p f w a r le e r. M e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it n a h m a b . E s fie l m ir sc h o n sc h w e r, sie a u f d ie W e lt, d ie m ic h um gab , zu ko nzentrieren. Ich w ap p nete m ich für d as E rw achen. D o ch w ied er fing d er B o tschafter an zu sp rechen, und d er K lang seiner S tim m e riß m ich hoch. M eine T raum -A ufm erksam keit er holte sich w ieder. »D a s T rä u m e n ist d a s V e h ik e l, d a s d ie T rä u m e r in d ie se W e lt b ringt«, sagte d er B o tschafter, »und alles, w as d ie Z aub erer üb er d as T räum en w issen, hab en w ir ihnen b eigeb racht. U nsere W elt ist m it d e r e u re n d u rc h e in e P fo rte v e rb u n d e n , n ä m lic h d u rc h d ie T räum e. W ir w issen, w ie m an d urch d iese P fo rte hind urchgeht, aber die M enschen w issen es nicht. Sie m üssen es lernen.«
Und weiter erklärte die Stimme des Botschafters, was sie mir schon einmal erklärt hatte. »Die Protuberanzen an den Tunnelwänden sind Schattenwesen«, sagte sie. »Ich bin eines von ihnen. Wir bewegen uns durch die Tunnel, an ihren Wänden, und laden uns mit der Energie der Tunnel auf, die unsere Energie ist.« Mir kam ein müßiger Gedanke in den Sinn - nämlich, daß ich mir eine solche symbiotische Beziehung, wie ich sie hier sah, tatsächlich nicht vorstellen konnte. »Würdest du bei uns bleiben, dann könntest du lernen zu fühlen, wie es ist, so verbunden zu sein, wie wir es sind«, sagte der Bot schafter. Der Botschafter schien auf meine Antwort zu warten. Ich hatte das Gefühl, daß er eigentlich von mir hören wollte, daß ich be schlossen hätte zu bleiben. »Wie viele Schattenwesen gab es in jedem der Tunnel?« fragte ich, um die Stimmung in eine andere Richtung zu steuern. Aber sofort bereute ich es, denn der Botschafter fing an, mir ausführlich Rechenschaft über die Zahl und Funktion der Schattenwesen in jedem Tunnel zu geben. Jeder Tunnel, sagte er, habe eine be stimmte Anzahl von abhängigen Wesen, die bestimmte Funktionen erfüllten, im Zusammenhang mit den Bedürfnissen und Erwartungen der sie beherbergenden Tunnel. Ich wollte nicht, daß der Botschafter weiter ins Detail ging. Je weniger ich wußte über die Tunnel und über die Schattenwesen, dachte ich, desto besser für mich. Kaum hatte ich diesen Gedanken gedacht, unterbrach sich der Botschafter, und mein Energiekörper bäumte sich auf, wie an einem Kabel hochgezogen. Im nächsten Moment war ich hellwach in meinem Bett. Von nun an hatte ich keine Befürchtungen mehr, die meine Übungen hätten stören können. Aber ein anderer Gedanke beherrschte mich: der Gedanke nämlich, daß ich etwas beispiellos Faszinierendes gefunden hatte. Tag für Tag konnte ich es kaum erwarten, mit dem Träumen anzufangen und mich vom Scout in die Schattenwelt führen zu lassen. Eine zusätzliche Attraktion war, daß meine Visionen von dieser Schattenwelt noch lebensechter wurden als vorher. Gemessen am normalen Maßstab normalen Denkens, normaler visueller und auditiver Sinneswahrnehmungen sowie meiner normalen Reaktionen darauf, waren meine
Erfahrungen, solange sie andauerten, nicht weniger real als jede beliebige Situation in der Alltagswelt. Niemals hatte ich Wahr nehmungserlebnisse gehabt, bei denen der einzige Unterschied zwischen meinen Visionen und meiner Alltagswelt darin lag, wie plötzlich meine Visionen endeten. Eben noch war ich in einer fremden, realen Welt - und im nächsten Moment lag ich in mei nem Bett. Dringend sehnte ich mich nach Don Juans Kommentaren und Erklärungen, aber ich war noch immer in Los Angeles festgehalten. Je länger ich meine Situation bedachte, desto größer wurde meine Angst. Ich hatte sogar das Gefühl, daß sich im Reich der anorganischen Wesen irgend etwas mit ungeheurer Geschwindigkeit zusammenbraute. Und während meine Befürchtungen wuchsen, geriet ich körperlich in einen Zustand tiefster Angst, obwohl mein Verstand sich ekstatisch in die Betrachtung der Schattenwelt vertiefte. Um alles noch schlimmer zu machen, griff die Welt des Traum-Botschafters in mein alltägliches Bewusstsein über. Eines Tages, als ich in der Universität eine Vorlesung besuchte, hörte ich die Stimme immer wieder sagen, daß jeder Versuch meinerseits, meine Traumübungen abzubrechen, nachteilige Folgen für alle meine Ziele haben könnte. Die Stimme erklärte, daß Krieger vor keiner Herausfor derung zurückscheuen und daß ich keinen Grund hätte, meine Übungen zu beenden. Ich konnte dem Botschafter nur beipflichten. Ich hatte nicht die Absicht, irgendwie aufzuhören, und die Stimme bestätigte mir nur. was ich dachte. Nicht nur veränderte sich der Botschafter, sondern ein neuer Scout betrat den Schauplatz. Irgendwann einmal, bevor ich angefangen hatte, die Gegenstände meiner Träume zu untersuchen, sprang ein Scout buchstäblich vor mir auf und forderte aggressiv meine Traum-Aufmerksamkeit. Das Bemerkenswerte an diesem Scout war, daß er es nicht nötig hatte, irgendwelche energetischen Metamorphosen zu durchlaufen. Er war von Anfang an eine Energieblase. Im Handumdrehen versetzte mich der Scout, ohne daß ich meine Absicht geäußert hätte, ihn zu begleiten, in einen anderen Teil der Welt der anorganischen Wesen: in die Welt der Säbelzahntiger. Ahnungen von solchen Visionen habe ich bereits in meinen anderen Büchern geschildert. Ich sage: Ahnungen, weil ich damals
n ic h t g e n ü g e n d E n e rg ie h a tte , d ie se w a h rg e n o m m e n e n W e lte n verständ lich in m ein lineares D enken zu üb ersetzen. D iese nächtlichen V isionen von S äbelzahntigern kam en regelm äßig und lange Z eit, bis eines T ages der aggressive S cout, der m ich z u m e rste n m a l in d ie se s R e ic h e n tfü h rt h a tte , p lö tz lic h w ie d e r auftauchte. O hne m eine Z ustim m ung ab zuw arten, nahm er m ich m it zu den T unneln. Ic h h ö rte d ie S tim m e d e s B o tsc h a fte rs. S o fo rt v e rfie l e r in d ie längste und gerissenste R eklam e-S uad a. d ich ich je gehö rt hab e. E r p ries m ir d ie auß ero rd entlichen V o rteile an, d ie d ie W elt d er anorganischen W esen zu bieten hätte. E r erzählte m ir von atem b eraub end em W issen, d as m an erw erb en kö nne, und d aß m an es a u f d ie a lle re in fa c h ste W e ise e rw e rb e n k ö n n te , n ä m lic h , in d e m m an in diesen T unneln blieb. E r sprach von unglaublicher B ew eg lichkeit, von unbegrenzter Z eit, um alles m ögliche zu erforschen. und w ie es w äre, vo n ko sm ischen D ienern verw ö hnt zu w erd en. d ie jed e m einer L aunen erfüllen w ürd en. »B ei uns w o hnen b ew uß te W esen aus d en fernsten W inkeln d es K o sm o s«, sa g te d e r B o tsc h a fte r z u m A b sc h lu ß se in e r R e d e . »U n d e s g e fä llt ih n e n , b e i u n s z u w o h n e n . T a tsä c h lic h , k e in e r m öchte w ieder fort.« In d ie se m M o m e n t k a m m ir d e r G e d a n k e , d a ß D ie n stfe rtig k e it m ir z u tie fst z u w id e r w a r. N ie h a tte ic h m ic h in G e g e n w a rt v o n D ie n stb o te n w o h lg e fü h lt u n d m ic h n ie m a ls b e d ie n e n la ssen. D er S cout übernahm jetzt die F ührung und ließ m ich durch viele T u n n e l g le ite n . Ic h m a c h te h a lt in e in e m T u n n e l, d e r g rö ß e r z u sein schien als d ie and eren. M eine T raum -A ufm erksam keit hefte te sich auf die G röße und G estalt dieses T unnels und w äre dort w ie angeleim t haftengeblieben, w äre ich nicht veranlaßt w orden, m ich um zud rehen. M eine T raum -E nergie richtete sich auf einen K lum p en E nergie, d er etw as grö ß er w ar als d ie S chattenw esen. E r w ar b lau, w ie d as B lau in d er M itte einer K erzenflam m e. Ich w ußte, daß diese E nergie-K onfiguration kein S chattenw esen w ar und nicht hierher gehö rte. Ic h v e rtie fte m ic h g a n z in d a s G e fü h l se in e r G e g e n w a rt. D e r S c o u t g a b m ir Z e ic h e n , m ic h z u e n tfe rn e n , a b e r irg e n d e tw a s m achte m ich taub gegen seine A uffo rd erungen. Ich b lieb , w enn auch m it unb ehaglichem G efühl, w o ich w ar. D o ch d ie Z eichen. 128
die der S cout m ir gab. störten m eine K onzentration, und ich verlo r d ie b laue G estalt aus d en A ugen. P lötzlich w urde ich m it ziem licher K raft herum gew irbelt und genau vo r d ieses b laue G eb ild e gestellt. W ährend ich es anstarrte, v e rw a n d e lte e s sic h in d ie G e sta lt e in e s M e n sc h e n : se h r k le in , schlank, feingliedrig, beinah durchsichtig. Ich versuchte zu erkennen, ob es ein M ann oder eine F rau sei. doch es gelang m ir nicht, so sehr ich m ich anstrengte. M e in e V e rsu c h e , d e n B o tsc h a fte r z u fra g e n , w a re n v e rg e b lic h . P lö tzlich flo g er d avo n und ließ m ich schw eb end im T unnel zu rü c k , g e g e n ü b e r d e m U n b e k a n n te n . Ic h v e rsu c h te m it d ie se m M e n sc h e n z u sp re c h e n , ä h n lic h w ie ic h m it d e m B o tsc h a fte r sp rach. A b er ich b ekam keine A ntw o rt. I c h w ar frustriert, d a ich n ic h t d ie S c h ra n k e d u rc h b re c h e n k o n n te , d ie u n s tre n n te . D a n n überfiel m ich Furcht, m it jem andem a lle in zu s e in , der e in Feind sein m ochte. E ine R eihe von R eaktionen w urden von diesem F rem den bei m ir ausgelöst. Ich w ar sogar erfreut, w eil ich w ußte, daß der Scout m ir endlich einen anderen, in dieser W elt gefangenen M enschen gezeigt h a tte . N ur bedauerte ich. daß w ir w om öglich nicht m iteinander kom m unizieren konnten, w eil dieser F rem de v ie lle ic h t einer der alten Z auberer w ar und zu e i n e r anderen Z eit als der m einen gehörte. Je stärker m eine Freude und m eine N eugier w urden, desto schw erer w urde ic h , bis ich m ich irgendw ann so schw er f ü h l t e , daß ich w ied er in m einem K ö rp er w ar - und w ied er in m einer W elt. Ich w ar in L os A ngeles, in e i n e m P ark neben der U niversity of C ali fo rn ia . Ic h sta n d a u f d e m R a se n , in e in e r R e ih e m it L e u te n , d ie G olf sp ielten. D ie P erson vor m ir h a t t e , genau w ie i c h , eben erst feste G estalt a n g e n o m m e n . F lü c h tig sc h a u te n w ir e in a n d e r a n . E s w a r e in M ädchen, v ie lle ic h t sechs bis sie b e n J a h r e alt. Ic h glaubte, sie zu kennen. W ährend ich sie anschaute, w uchsen m eine F reud e und N eugier so üb er alle M aß en, d aß sie eine U m kehrung d es V o r gangs auslö sten: ich verlo r rasch an G ew icht und M asse, so d aß ic h im n ä c h ste n M o m e n t w ie d e r e in K lu m p e n E n e rg ie w a r, in je n e m R e ic h d e r a n o rg a n isc h e n W e se n . D e r S c o u t k a m z u m ir zurück und zerrte m ich eilig fo rt. Ich erw achte m it einem A nfall vo n A ngst. W ährend d es A uftau
chens in die Alltagswelt hatte irgend etwas mir eine Botschaft zukommen lassen. Meine Gedanken rotierten bei dem Versuch, zusammenzufügen, was ich wußte oder zu wissen glaubte. Mehr als achtundvierzig Stunden, ununterbrochen, versuchte ich Klarheit zu finden über ein verborgenes Gefühl oder verborgenes Wissen, das in mir hängengeblieben war. Mein einziger Erfolg war, daß ich eine Kraft spürte - außerhalb meines Körpers, wie ich mir einbildete -. die mir sagte, ich dürfe meinem Träumen nicht mehr vertrauen. Nach ein paar Tagen machte sich eine dunkle und rätselhafte Ge wißheit in mir breit, eine Gewissheit, die langsam wuchs, bis ich keine Zweifel mehr an ihrer Berechtigung hatte: ich war sicher, daß der Klumpen blauer Energie ein Gefangener im Reich der anorganischen Wesen sei. Mehr denn je brauchte ich jetzt Don Juans Rat. Ich wußte, ich stand im Begriff, die Frucht jahrelanger Arbeit aus dem Fenster zu werfen, aber ich konnte nicht anders. Ich ließ alles stehen und liegen und floh nach Mexiko. »Was willst du eigentlich?« fragte mich Don Juan, um mein hyste risches Geplapper zu besänftigen. Ich konnte ihm nicht erklären, was ich wollte, weil ich es selbst nicht wußte. »Dein Problem muß schwierig sein, wenn du so Hals über Kopf gelaufen kommst«, sagte Don Juan mit nachdenklichem Gesicht. »Das ist es. Auch wenn ich nicht herausfinden kann, was eigentlich mein Problem ist«, sagte ich. Er forderte mich auf. ihm meine Traumübungen mit allen dazu gehörigen Einzelheiten zu schildern. Ich erzählte ihm von dem kleinen Mädchen aus meiner Vision, und wie sie mich emotional berührt hatte. Er gab mir sofort den Rat. ich solle den Zwischenfall vergessen und darin einen offenkundigen Versuch der anorganischen Wesen erkennen, meine Phantasien zu nähren. Wenn man dem Träumen zuviel Bedeutung beimesse, bemerkte er. werde es zu dem, was es für die alten Zauberer war: eine unerschöpfliche Quelle des Sichgehenlassens. Aus einem unerklärlichen Grund war ich nicht bereit. Don Juan von dem Reich der Schattenwesen zu erzählen. Erst als er meine Vision des kleinen Mädchens so geringschätzig abtat, fühlte ich
m ich gezw ungen, ihm m einen B esuch in dieser W elt zu schildern. L ange schw ieg er. als sei er üb erw ältigt. A ls er end lich w eitersp rach, sagte er: »D u b ist no ch einsam er, als ich dachte. D enn ich kann über deine T raum übungen nicht m it dir sp re c h e n . D u b ist in d e r L a g e d e r a lte n Z a u b e re r. Ic h k a n n d ir nur no ch einm al w ied erho len, d aß d u alle V o rsicht w alten lassen m u ß t, d e re n d u fä h ig b ist.« »W ie so m e in st d u , ic h se i in d e r L a g e d e r a lte n Z a u b e re r? « »Ic h h a b e d ir im m e r w ie d e r g e sa g t, d a ß d e in e G ru n d stim m u n g je n e r d e r a lte n Z a u b e re r g e fä h rlic h v e rw a n d t ist. S ie w a re n se h r b e g a b te L e u te . Ih r F e h le r w a r, d a ß sie sic h in d a s R e ic h d e r a n o rg a n isc h e n W e se n stü rz te n w ie F isc h e in s W a sse r. D u sitz t im g le ic h e n B o o t. D u w e iß t D in g e ü b e r d ie se W e lt, d ie k e in e r v o n uns sich vorstellen kann. Ich zum B eispiel habe niem als die Schatte n w e lt k e n n e n g e le rn t; a u c h n ic h t d e r N a g u a l Ju lia n o d e r d e r N a g u a l E lia s - tro tz d e r T a tsa c h e , d a ß d ie se r sic h la n g e in d e r W elt der anorganischen W esen aufgehalten h a t . « »W e lc h e n U n te rsc h ie d m a c h t e s a b e r, d ie S c h a tte n w e lt z u k e n nen?« »E inen großen U nterschied. D orthin w erden die T räum er nur ge führt, w enn d ie ano rganischen W esen sicher sind , d aß d ie T räum e r in d ie se r W e lt b le ib e n w e rd e n . D a s w isse n w ir a u s d e n G e sc h ic h te n d e r a lte n Z a u b e re r.« »Ic h k a n n d ir v e rsic h e rn . D o n Ju a n , d a ß ic h n ic h t d ie A b sic h t h a b e , d o rt z u b le ib e n . D u sp ric h st, a ls se i ic h im B e g riff, m ic h d u rc h V e rh e iß u n g e n v o n M a c h t u n d p e rsö n lic h e n D ie n ste n k ö dern zu lassen. Ich habe an solchen D ingen kein Interesse, glaube m ir.« »Jetzt ist es nicht m ehr so einfach. D u bist über den P unkt hinaus, w o d u einfach aufhö ren kö nntest. A uß erd em hattest d u d as P ech, v o n e in e m w ä ssrig e n a n o rg a n isc h e n W e se n e n td e c k t z u w e rd e n . E rinnerst du d ic h , w ie du m it ih m gerungen hast? U nd w ie es sich anfühlte? D am als sagte ich d ir, d aß d ie w ässrigen ano rganischen W esen die lästigsten sind. S ie sind abhängig und besitzergreifend, und w enn sie ihren H aken erst ausgew orfen haben, geben sie nie mals a u f.« »U nd w as b ed eutet d ies in m einem F all. D o n Juan? « »E s b ed eutet ernste S chw ierigkeiten. D ie F äd en b ei d iesem S p iel zieht näm lich das anorganische W esen, das du an jenem verhäng
nisvollen Tag angefaßt hast. Im Lauf der Jahre ist es mit dir vertraut geworden. Es kennt dich genau.« Ich sagte Don Juan ganz aufrichtig, daß mir übel würde bei der bloßen Vorstellung, ein anorganisches Wesen könnte so eng vertraut mit mir sein. »Wenn Träumer erkennen, daß sie sich nicht zu den anorgani schen Wesen hingezogen fühlen«, sagte er, »ist es meistens zu spät. Bis dahin haben die anorganischen Wesen sie schon im Sack.« Im Innersten hatte ich allerdings das Gefühl, daß Don Juan nur abstrakt von Gefahren sprach, die wohl theoretisch, nicht aber in der Praxis existieren mochten. Insgeheim war ich überzeugt, daß ich nicht in Gefahr sei. »Ich werde mich nicht von den anorganischen Wesen verlocken lassen - falls du das meinst«, sagte ich. »Ich meine, daß sie dich überlisten werden«, sagte er. »Wie sie auch den Nagual Rosendo überlistet haben. Sie werden dich her einlegen, und du wirst die Falle nicht sehen, nicht mal argwöhnen. Sie verstehen ihr Handwerk. Jetzt haben sie sogar ein kleines Mädchen für dich erfunden.« »Aber für mich gibt es keinen Zweifel, daß dieses Mädchen exi stiert«, beharrte ich. »Es gibt kein kleines Mädchen«, herrschte er mich an. »Dieser bläuliche Energieklumpen ist ein Scout. Ein Kundschafter, gefangen im Reich der anorganischen Wesen. Ich habe dir doch gesagt. daß die anorganischen Wesen wie Fischer sind. Sie ködern und fangen Bewußtsein.« Don Juan war fest davon überzeugt, daß dieser bläuliche Klumpen Energie aus einer ganz anderen Dimension als der unseren gekommen sei - ein Scout, verirrt und gefangen wie eine Fliege im Netz einer Spinne. Sein Vergleich gefiel mir überhaupt nicht. Er beunruhigte mich so stark, daß ich körperliche Beklemmung spürte. Ich verriet Don Juan nichts davon, und er sagte mir, daß mein Interesse für den gefangenen Scout ihn zur Verzweiflung treiben könne. »Warum machst du dir Sorgen?« fragte ich. »Es braut sich etwas zusammen in dieser verdammten Welt«, sagte er. »Und ich finde nicht heraus, was es ist.« Solange ich bei Don Juan und seinen Gefährten blieb, träumte ich 132
n ie m a ls v o n d e r W e lt d e r a n o rg a n isc h e n W e se n . M e in T ra in in g b estand w ie im m er d arin, m eine T raum -A ufm erksam keit auf d ie G egenständ e m einer T räum e so w ie auf d as W echseln d er T räum e z u k o n z e n trie re n . U m m e in e Ä n g ste z u n e u tra lisie re n , lie ß D o n Ju a n m ic h a u f W o lk e n u n d fe rn e B e rg g ip fe l sta rre n . D ie F o lg e w a r, d a ß ic h m ic h so g le ic h a u f g le ic h e r H ö h e m it d e n W o lk e n fühlte - ein G efühl, als befinde ich m ich tatsächlich auf den fernen G ipfeln. »Ich b in sehr zufried en m it d ir, ab er auch sehr b eso rgt«, b em erkte D o n Ju a n z u m e in e n B e m ü h u n g e n . »D u le rn st w a h re W u n d e r k e n n e n , a b e r d u w e iß t e s n ic h t m a l. U n d ic h b e h a u p te n ic h t, d a ß ich d ich d iese D inge lehren w ürd e.« »D u m einst d ie ano rganischen W esen, nicht w ahr? « »Ja , d ie a n o rg a n isc h e n W e se n . Ic h m ö c h te d ir e m p fe h le n , n ic h ts m e h r a n z u sta rre n . D a s A n sta rre n w a r d ie T e c h n ik d e r a lte n Z a u b e re r. S ie v e rsta n d e n e s. im H a n d u m d re h e n ih re n E n e rg ie k ö rp e r z u e rre ic h e n , e in fa c h in d e m sie G e g e n stä n d e ih re r W a h l a n sta rrte n . E in e se h r e in d ru c k sv o lle T e c h n ik , a b e r n u tz lo s fü r m o d e rn e Z a u b e re r. S ie ist n ic h t g e e ig n e t, u n se re N ü c h te rn h e it o d e r u n se re S u c h e n a c h F re ih e it z u fö rd e rn . S ie n a g e lt u n s le d ig lic h a m K o n k re te n fe st, u n d d a s ist e in w e n ig w ü n sc h e n sw e rte r Z u sta n d .« Ic h m ü sse m ic h z u rü c k h a lte n , fü g te D o n Ju a n h in z u , so n st w ü rd e ic h m ic h z u e in e m g a n z u n e rträ g lic h e n M e n sc h e n e n tw ic k e ln , w e n n ic h d ie z w e ite A u fm e rk sa m k e it e rst m it d e r A u fm e rk sa m k e it m e in e s tä g lic h e n L e b e n s v e rsc h m o lz e n h ä tte . E s g e b e e in e g e fä h rlic h e K lu ft, sa g te e r. z w isc h e n m e in e r B e w e g lic h k e it in d e r z w e ite n A u fm e rk sa m k e it und m e in e r h a rtn ä c k igen U nb ew eglichkeit im alltäglichen B ew uß tsein. D ie K luft zw ischen b eid en sei so gro ß , m einte er. d aß ich in m einem no rm alen Z u sta n d fa st e in I d i o t , in d e r z w e ite n A u fm e rk sa m k e it a b e r e in V e rrü c k te r se i. B e v o r ic h n a c h H a u se fu h r, n a h m ic h m ir d ie F re ih e it, m it C a ro l T ig g s ü b e r m e in e T ra u m v isio n e n d e r S c h a tte n w e lt z u sp re c h e n , o b w o hl D o n Juan m ir d ringend em p fo hlen hatte, d iese E rfahrungen m it niem andem zu diskutieren. C arol w ar sehr verständnisvoll u n d in te re ssie rt, d e n n sie w a r d a s v o llk o m m e n e G e g e n stü c k z u m ir. D o n Ju a n w a r se h r v e rä rg e rt ü b e r m ic h , w e il ic h ih r v o n m e in e n S c h w ie rig k e ite n e rz ä h lt h a tte . Ic h k a m m ir se h r sc h le c h t
vo r. V o n S elb stm itleid gep lagt, jam m erte ich. w ieso ich d enn im m er d as F alsche tun m üsse. »B islang hast du noch gar nichts getan«, herrschte D on Juan m ich an. »D as ist m ir k la r .« O h, w ie recht hatte er! B ei m einer nächsten T raum üb ung, w ied er zu H ause, b rach d ie H ö lle lo s. Ich erreichte d ie S chattenw elt, w ie ich es unzählige M ale getan h a t t e ; d er U nterschied w ar d iesm al d ie A nw esenheit d er b lauen E nergiegestalt. S ie b efand sich unter d en and eren S chattenw esen. D ab ei hielt ich es w o hl für m ö glich, d a ß d ie se E n e rg ie fo rm a tio n frü h e r sc h o n d a g e w e se n w a r, o h n e d a ß ic h e s m e rk te . K a u m h a tte ic h sie e n td e c k t, w u rd e m e in e T raum -A ufm erksam keit vo n d ieser E nergiegestalt angezo gen. Im n ä c h ste n M o m e n t w a r ic h b e i ih r. W ie im m e r k a m e n a u c h d ie a n d e re n S c h a tte n h e ra n , a b e r ic h a c h te te n ic h t a u f sie . G a n z p lö tz lic h v e rw a n d e lte sic h d ie ru n d e b la u e G e sta lt in d a s kleine M äd chen, d as ich b eim letzten M al gesehen h a t t e . S ie b o g ih re n z ie rlic h e n la n g e n H a ls z u r S e ite u n d sa g te , k a u m h ö rb a r flü ste rn d : »H ilf m ir!« E n tw e d e r sa g te sie e s, o d e r ic h p h a n ta sie rte , d a ß sie e s g e sa g t h ä tte . D a s E rg e b n is w a r d a sse lb e : ic h stand w ie erstarrt, aufgew ühlt vo n echter A nteilnahm e. Ich sp ürte ein F rö steln, ab er nicht in m einer E nergiegestalt. E s w ar ein and erer T eil vo n m ir, d er d ieses F rö steln sp ürte. Z um erstenm al w ar m ir k la r b e w u ß t, d a ß m e in e E rfa h ru n g v ö llig g e tre n n t w ar von m e in e n S in n e se m p fin d u n g e n . Ic h e rle b te d ie S c h a tte n w e lt - m it all den B edingungen, die für m ich E rleben ausm achen: ic h konnte d e n k e n , u rte ile n , E n tsc h e id u n g e n tre ffe n ; ic h h a tte e in e p syc h isc h e K o n tin u itä t. M it a n d e re n W o rte n , ic h w a r ic h se lb st. D a s einzige, w as fehlte, w ar m ein senso risches S elb st. I c h hatte k e i n e rle i K ö rp e re m p fin d u n g e n . A l l e W a h rn e h m u n g e n w a re n a u f S e h e n u n d H ö re n b e sc h rä n k t. U n d n u n sta n d m e in ra tio n a le s D enken vo r einem so nd erb aren D ilem m a: S ehen und H ö ren w are n k e in e k ö rp e rlic h e n F ä h ig k e ite n , so n d e rn E ig e n sc h a fte n d e r V isio nen, d ie ich hatte. »D u siehst und hörst tatsächlich«, sagte die S tim m e des B otschaf te rs, in m e in e G e d a n k e n e in b re c h e n d . »D ie s ist d a s S c h ö n e a n u n se re r W e lt. D u k a n n st a lle s d u rc h S e h e n u n d H ö re n e rle b e n , o hne d aß d u atm en m üß test. D enk d o ch nur. d u b rauchst nicht zu a tm e n . D u k a n n st ü b e ra ll h in g e h e n , in d ie se m U n iv e rsu m , o h n e zu atm en.« 134
E ine W elle hö chst b eunruhigend en G efühls üb erschw em m te m ic h , u n d w ie d e r sp ü rte ic h e s n ic h t d o rt, in d e r S c h a tte n w e lt. M ein G efühl w ar andersw o. U nd dann überw ältigte m ich die of fenkund ige, w enn auch anfangs verschleierte E rkenntnis, d aß es e in e le b e n d ig e V e rb in d u n g g a b z w isc h e n d e m Ic h . d a s e rle b te . und einer E nergieq uelle, einer Q uelle senso rischer E m p find ung, die sich irgendw o anders befand. M ir kam der G edanke, daß dieses A ndersw o m ein w irklicher, physischer K örper sein m üsse, der schlafend in m einem B ett lag. Im selben A ugenblick, als ich dies dachte, huschten die S chatten w e se n d a v o n , u n d e in z ig d a s k le in e M ä d c h e n b lie b in m e in e m G esichtsfeld . Ich b eo b achtete sie und w ar üb erzeugt, d aß ich sie kannte. S ie schien zu w anken, als w ürd e sie gleich in O hnm acht fallen. U nd m ich erfaß te eine grenzenlo se L ieb e zu ih r . Ich versuchte m it ihr zu sp rechen, b rachte ab er keinen L aut herv o r. D a w u rd e m ir k la r, d a ß a lle m e in e D ia lo g e m it d e m B o tschafter durch die E nergie des B otschafters ausgelöst und b ew erkstelligt w o rd en w aren. A uf m ich selb st angew iesen, w ar ic h h ilflo s. A ls n ä c h ste s v e rsu c h te ic h m e in e G e d a n k e n a u f d as M äd chen zu lenken. E s w ar vergeb lich. W ir w aren getrennt d u rc h e in e n S c h irm v o n E n e rg ie , d e n ic h n ic h t d u rc h d rin g e n konnte. D as kleine M ädchen schien m eine N otlage zu begreifen und kom m u n iz ie rte ta tsä c h lic h m it m ir - d ire k t d u rc h m e in e G e d a n k e n . Im w esentlichen erzählte sie m ir . w as D on Juan m i r gesagt h a tte : daß sie ein S cout sei, gefangen in den N etzen dieser W elt. U nd sie fügte hinzu, daß sie die G estalt eines k le in e n M ädchens angenom m en hab e, w eil d iese G estalt m ir und auch i h r vertraut sei. und daß sie m eine H ilfe brauche, genau w ie ich die ih r e . A ll dies sagte sie m ir m it e in e m e in z ig e n B ü n d e l e n e rg e tisc h e n G e fü h ls - w ie W ö rter, d ie alle gleichzeitig auf m ich einströ m ten. Ich hatte gar kein P roblem , sie zu verstehen, obw ohl es das erste M al w ar, daß m ir so etw as w iderfuhr. Ich w ußte nicht, w as ich tun sollte. I c h versuchte i h r m ein G efühl der U nfähigkeit zu verm itteln. Sie schien m ich unm ittelbar zu ver stehen. S ie flehte m ich an. m it einem stum m en, lodernden B lick. S ie lä c h e lte so g a r, w ie u m m ic h w isse n z u la sse n , d a ß sie m ir z u tra u te , sie v o n ih re n F e sse ln z u b e fre ie n . A ls ic h - in G e d a n k e n - e rw id e rte , d a ß ic h k e in e rle i M ö g lic h k e ite n d a z u h ä tte . 135
m achte sie ganz den E indruck eines hysterischen K indes in hoff nungsloser W ut. A ufgeregt versuchte ich m it ihr zu sprechen. D as kleine M ädchen w einte sogar - w ie M ädchen ihres A lters w ohl w einen: aus F urcht und V erzw eiflung. Ich ertrug es nicht m ehr. Ich stürzte zu ihr hin a b e r o h n e e n tsp re c h e n d e W irk u n g . M e in e E n e rg ie m a sse g in g durch sie hindurch. Ich hatte daran gedacht, sie hochzuheben und m itzunehm en. U nd dies versuchte ich im m er w ieder, bis ich ganz erschöpft w ar. Ic h b lie b ste h e n , u m m e in e n n ä c h ste n S c h ritt z u ü b e rle g e n . Ic h b e fü rc h te te , d a ß m e in e T ra u m -A u fm e rk sa m k e it sc h w in d e n u n d ich d as M äd chen aus d em B lick verlieren kö nnte. D ab ei b ezw ei felte ich, ob die anorganischen W esen m ich noch einm al in diesen T e il ih re r W e lt fü h re n w ü rd e n . U n d z u d e m g la u b te ic h . d ie s se i m e in le tz te r B e su c h b e i ih n e n : d e r B e su c h , a u f d e n e s a n kam. D a n n ta t ic h e tw a s U n v o rste llb a re s. B e v o r m e in e T ra u m -A u f m erksam keit schw and, schrie ich laut und deutlich m eine A bsicht hinaus, m eine E nergie m it d er E nergie d ieses gefangenen S co uts zu verschm elzen und ihn zu b efreien.
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7. Der blaue Scout
Ich träumte einen ganz unsinnigen Traum. Carol Tiggs war neben mir. Sie sprach auf mich ein, obwohl ich nicht verstand, was sie sagte. Auch Don Juan kam in meinem Traum vor, wie alle übrigen Mitglieder seiner Gruppe. Anscheinend versuchten sie mich aus einer gelblichen Nebelwelt herauszuziehen. Nach schwersten Anstrengungen, und während ich mehrmals die Sicht verlor und wiedererlangte, schafften sie es, mich von diesem Ort loszureißen. Da ich nicht verstand, welchen Sinn das Ganze hatte, glaubte ich schließlich, ich hätte einen normalen, wenn auch absurden Traum. Wie überrascht war ich aber, als ich erwachte und mich im Bett fand, in Don Juans Haus. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hatte keine Energie mehr. Ich wußte nicht, was ich glauben sollte, auch wenn ich das Gefährliche meiner Lage spürte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß ich durch die Erschöpfung nach meinem Träumen all meine Energie verloren hatte. Don Juans Gefährten, so schien es, waren sehr mitgenommen von dem, was mit mir geschah. Einer nach dem anderen kamen sie immer wieder zu mir ins Zimmer. Jeder blieb ein Weilchen und schwieg, bis der nächste sich einstellte. Mir schien es, als wachten sie abwechselnd bei mir. Ich war zu schwach, als daß ich sie hätte bitten können, mir ihr Verhalten zu erklären. Im Lauf der folgenden Tage ging es mir etwas besser, und sie begannen mit mir über mein Träumen zu sprechen. Anfangs wußte ich nicht, was sie von mir wollten. Dann dämmerte mir, aufgrund ihrer Fragen, daß es ihnen um die Schattenwesen ging. Alle wirkten sie verängstigt und sagten mir mehr oder minder dasselbe: sie behaupteten, sie wären selbst nie in der Schattenwelt gewesen. Einige behaupteten sogar, nicht zu wissen, daß sie überhaupt existierte. Ihre Behauptungen und Reaktionen steigerten meine Verwirrung und Furcht. Sie stellten mir Fragen, wie etwa: »Wer hat dich in diese Welt 137
gefü h rt? « o d er »W o h er w u ß test d u . w ie m an d o rth in gelan gt? « A ls ich ihnen sagte, daß die Scouts m ir diese W elt gezeigt hätten, w o llten sie m ir n ich t glau b en . A n sch ein en d n ah m en sie an , d aß ich w ohl dort gew esen sei. aber da sie keinerlei persönliche E rfah ru n gen m it d ieser W elt h atten , ko n n ten sie n ich t erm essen , w as ich sagte. D ennoch w ollten sie alles w issen, w as ich ihnen über die Schattenw esen und ihre W elt berichten konnte. So tat ich ihnen den G efallen. U nd alle, m it A usnahm e D on Juans, saßen bei m ir am B ett und hingen an m einen Lippen. D och jedesm al, w enn ich sie um ihre M einung über m eine Situation befragte, huschten sie hinaus, genau w ie Schattenw esen. E ine w eitere alarm ierende R eaktion, die sie früher nicht gezeigt hatten, w ar, daß sie sich ängstlich bem ühten, jeglichen physischen K ontakt m it m ir zu verm eiden. Sie hielten A bstand, als hätte ich d ie P e st. Ih re R e a k tio n b e u n ru h igte m ic h so se h r, d a ß ic h sie deshalb befragen m ußte. Sie leugneten es. Sie schienen beleidigt u n d gin gen so gar so w eit, m ir b ew eisen zu w o llen , d aß ich im U nrecht sei. Ü ber die gespannte S ituation, die sich daraus ergab. m usste ich herzlich lachen. Jedes M al, w enn sie m ich zu um arm en versuchten, erstarrten sie am ganzen K örper. F lorinda G rau. D on Juans engste V ertraute, w ar die einzige aus seiner G ruppe, die sich m ir körperlich näherte und m ich pflegte. S ie versu ch te m ir au ch zu erklären , w as eigen tlich lo s w ar. S ie sagte, m ein e E n ergie sei in d er W elt d er an o rgan isch en W esen völlig entladen und dann w ieder aufgeladen w orden, doch m eine neue E nergie sei ziem lich beängstigend für die m eisten von i h nen. Jeden A bend brachte Florinda m ich zu B e t t , als sei ich ein Invalide. Sie sprach sogar in zärtlicher K indersprache zu m ir, w as alle an d eren m it sch allen d em G eläch ter b egleiteten . G an z gleich aber, w ie sehr m ich Florinda veralberte, w ar ich i h r dankbar für ihre A nteilnahm e, die echt zu sein schien. V on Florinda habe ich schon in einem früheren B uch erzählt, im Z usam m enhang m einer B egegnung m it ihr. Sie w ar bei w eitem d ie sch ö n ste F rau , d ie ich je geseh en h ab e. E in m al sagte ich zu ihr, und ich m einte es ganz ehrlich, sie hätte Fotom odell in einem M odejournal sein können. »In einem Journal aus dem Jahr 1910«. erw iderte sie. Florinda w ar alt, und doch nicht alt. Sie w ar jung und vibrierend
vo r E nergie. A ls ich D o n Juan nach ihrer ungew ö hnlich jugend lic h e n E rsc h e in u n g b e fra g te , a n tw o rte te e r. d a ß d ie Z a u b e re i sie so leb end ig halte. D ie E nergie d er Z aub erer, m einte er, w irke auf d e n B e tra c h te r a ls Ju g e n d u n d K ra ft. N a c h d e m D o n Ju a n s G e fä h rte n ih re a n fä n g lic h e N e u g ie r a u f d ie S c h a tte n w e lt b e frie d ig t h a tte n , ste llte n sie ih re B e su c h e in m e in e m Z im m e r e in . u n d ih re U n te rh a ltu n g b e w e g te sic h fo rta n im R ahm en gelegentlicher E rkund igungen nach m einer G esund heit. D o ch jed esm al. w enn ich aufzustehen versuchte, w ar jem and d a, d er m ich m it sanfter G ew alt w ied er zu B ett b rachte. Ich w ünschte ihre F ürso rglichkeit nicht, ab er anscheinend b rauchte ich sie. Ich w a r sc h w a c h . D ie s m u sste ic h a k z e p tie re n . W a s a b e r w irk lic h a n m e in e n N e rv e n z e rrte , w a r, d a ß n ie m a n d m ir e rk lä re n k o n n te , w a s ic h e ig e n tlic h in M e x ik o m a c h te , w ä h re n d ic h m ic h in L o s A n g e le s in s B e tt g e le g t h a tte , u m z u trä u m e n . Ic h b e fra g te sie im m er w ieder. A lle gaben sie m ir die gleiche A ntw ort: »F rage den N a g u a l. E r ist d e r e in z ig e , d e r e s e rk lä re n k a n n .« E n d lic h b ra c h F lo rin d a d a s E is: »D u w u rd e st in e in e F a lle g e lo c k t. D a s ist's, w a s d ir p a ssie rte .« »W o w urd e ich in eine F alle gelo ckt? « »N atürlich in der W elt der anorganischen W esen. D as ist die W elt, m it d e r d u d ic h se it Ja h re n b e sc h ä ftig st, n ic h t w a h r? « »G anz gew iß . F lo rind a. A b er kannst d u m ir verraten, w as d as für eine F alle w ar? « »N icht e ig e n tlic h . N ur soviel kann ich d ir sagen, daß du dort alle E n e rg ie v e rlo re n h a st. A b e r d u h a st d ic h se h r g u t g e w e h rt.« »W arum b in ich krank. F lo rind a? « »D u leidest an keiner K rankheit. D u w urdest energetisch verw und e t. E s w a r se h r k ritisc h , a b e r je tz t b ist d u n u r n o c h sc h w e r verletzt.« »W ie ko nnte all d as p assieren? « »D u hast d ic h auf einen tö d lichen K am p f m it d en ano rganischen W esen eingelassen, und d u w urd est b esiegt.« »Ic h k a n n m ic h a n k e in e n K a m p f e rin n e rn , F lo rin d a .« »O b d u d ich erinnerst o d er n i c h t , d arauf ko m m t es nicht an. D u h a st g e k ä m p ft, u n d d u h a st v e rlo re n . D u h a tte st k e in e C h a n c e gegen d iese M eister d er M anip ulatio n.« »Ich hab e m it d en ano rganischen W esen gekäm p ft? « »Ja. D u hattest m it ihnen eine B egegnung auf L eb en und T o d . Ich
w e iß ta tsä c h lic h n ic h t, w ie d u ih re n tö d lic h e n S c h la g ü b e rle b t hast.« S ie w a r n ic h t b e re it, m ir m e h r z u v e rra te n , u n d d e u te te a n . d e r N agual kö nne jed en T ag ko m m en und m ich b esuchen. A m nächsten T ag erschien D on Juan. E r gab sich jovial und hilfsb e re it. S c h e rz e n d v e rk ü n d e te e r. d a ß e r in se in e r E ig e n sc h a ft a ls E n e rg ie D o k to r g e k o m m e n se i. E r u n te rsu c h te m ic h , in d e m e r m ic h v o n K o p f b is F u ß a n sta rrte . »D u b ist b e in a h g e h e ilt«, e rklärte er. »W as ist m it m ir p assiert. D o n Juan? « fragte ich. »D ie a n o rg a n isc h e n W e se n h a b e n d ir e in e F a lle g e ste llt, u n d d u b ist h in e in g e ta p p t«, a n tw o rte te e r. »W ie b in ich hierher geko m m en? « »G enau d ies ist d as gro ß e R ätsel«, sagte er und lächelte gö nnerh a ft - o ffe n k u n d ig b e m ü h t, e in e sc h w ie rig e F ra g e le ic h tz u n e h m e n . »D ie a n o rg a n isc h e n W e se n sc h n a p p te n d ic h m it H a u t u n d H a a re n . Z u e rst b ra c h te n sie d e in e n E n e rg ie k ö rp e r in ih r R e ic h , a ls d u e in e m ih re r S c o u ts fo lg te st, u n d d a n n n a h m e n sie d e in e n physischen K örper.« D o n Ju a n s G e fä h rte n w irk te n sc h o c k ie rt. E in e r v o n ih n e n fra g te D o n Juan, o b d ie ano rganischen W esen einen gew altsam entführe n k ö n n te n . N a tü rlic h k ö n n te n sie d ie s, a n tw o rte te D o n Ju a n . U nd er erinnerte d ie and eren d aran, d aß d er N agual E lias in d iese W e lt e n tfü h rt w o rd e n se i, o b w o h l e r w irk lic h n ic h t d ie A b sic h t g e h a b t h a b e , d o rth in z u g e h e n . A lle stim m ten ko p fnickend z u . D o n Juan sp rach w eiter zu ihnen, m ic h in d e r d ritte n P e rso n e rw ä h n e n d . E r sa g te , d a ß d ie k o m b i n ie rte B e w u ß th e it e in e r G ru p p e so lc h e r W e se n z u e rst m e in e n E nergiekö rp er verzehrt hab e, ind em sie m ich zu einem G efühls ausb ruch zw angen: näm lich, d en b lauen S co ut zu b efreien. D ann h a b e d ie k o m b in ie rte B e w u ß th e it d ie se r G ru p p e v o n a n o rg a n i schen W esen m eine feste p hysische M asse in ihre W elt geschafft. D e n n o h n e d e n E n e rg ie k ö rp e r, fü g te D o n Ju a n h in z u , se i m a n nur ein K lum pen organischer M aterie, der vom B ew usstsein leicht m anip uliert w erd en kann. »D ie a n o rg a n isc h e n W e se n h ä n g e n a n e in a n d e r, w ie d ie Z e lle n unseres K örpers«, fuhr D on Juan fort. »W enn sie ihre B ew ußtheit b ünd eln, sind sie unschlagb ar. E s ist für sie eine K leinigkeit, uns a u s u n se re r V e ra n k e ru n g z u re iß e n u n d in ih re W e lt z u sto ß e n . 140
B eso nd ers w enn w ir uns so auffällig verfügb ar m achen, w ie er es getan h a t.« D ie S e u fz e r u n d S c h re c k e n sla u te d e r a n d e re n h a llte n v o n d e n W änd en w id er. A lle schienen sie t i e f entsetzt und b eso rgt. Ich w o llte scho n jam m ern und D o n Juan V o rw ürfe m achen, w eil er m ich nicht zurückgehalten h a t t e ; dann aber fiel m ir ein, w ie er m ic h im m e r w ie d e r g e w a rn t h a tte , w ie e r v e rg e b lic h v e rsu c h t h a tte , m ic h d a v o n a b z u h a lte n . D o n Ju a n w a r sic h d u rc h a u s b e w u ß t, w a s in m ir v o rg in g . E r sc h e n k te m ir e in w isse n d e s L ä cheln. »D u fü h lte st d ic h k ra n k «, sa g te e r. »w e il d e in e E n e rg ie v o n d e n anorganischen W esen entladen und dann m it ihrer E nergie w ieder aufgelad en w o rd en ist. S o etw as hätte genügt, um jed en zu tö ten. A b er als N agual hast d u zusätzliche E nergien, und d arum b ist d u m it k n a p p e r N o t e n tro n n e n .« Ich sagte zu D on Juan, daß ich m ich an B ruchstücke eines zusam m e n h a n g lo se n T ra u m s e rin n e rte , in d e m ic h m ic h in e in e r g e lb verneb elten W elt b efand . E r, C aro l T iggs und seine üb rigen G e fährten hätten m ich d o rt herausgezo gen. »D as R eich d er ano rganischen W esen erscheint vo r d em p hysi sc h e n A u g e a ls e in e g e lb e N e b e lw e lt«, sa g te e r. »A ls d u e in e n z u sa m m e n h a n g lo se n T ra u m z u trä u m e n g la u b te st, sc h a u te st d u tatsächlich zum erstenm al m it deinen physischen A ugen das U ni versum der anorganischen W esen. U nd so seltsam es d i r scheinen m a g , e s w a r a u c h fü r u n s d a s e rste M a l. W ir w isse n v o n d e m gelb en N eb el nur aus G eschichten d er Z aub erer, nicht aus eigener E rfahrung.« W as er d a sagte, w ar m ir vö llig unverständ lich. D o n Juan b eteue rte a b e r, d a ß e i n e u m fa sse n d e re E rk lä ru n g n i c h t m ö g lic h se i, w e il e s m ir a n E n e rg ie fe h le . I c h m ü sse m ic h d a m it a b fin d e n , m einte er, w as er m ir sagte und w ie ich es verstünd e. »Ich verstehe es üb erhaup t nicht«, b eharrte ich. »D a n n h a st d u n ic h ts v e rlo re n «, sa g te e r. »W e n n d u stä rk e r g e w o rd e n b ist, w irst d u se lb st A n tw o rte n a u f d e in e F ra g e n fin den .« Ic h g e sta n d D o n Ju a n , d a ß ic h H itz e w a llu n g e n h a tte . P lö tz lic h stie g m e in e T e m p e ra tu r, u n d w ä h re n d m ir h e iß w u rd e , b is ic h sc h w itz te , h a tte ic h a u ß e ro rd e n tlic h e , a b e r b e ä n g stig e n d e E in sichten in m eine S ituatio n.
D o n Ju a n p rü fte m e in e n g a n z e n K ö rp e r m it se in e m d u rc h d rin genden B lick. E r sagte, ich sei in einem energetischen S chockzu stand . D er E nergieverlust hab e m ich zeitw eilig geschw ächt, und w a s ic h n u n a ls H itz e w a llu n g e n e rle b te , w ä re n in W irk lic h k e it E nergieschüb e, b ei d enen ich augenb licklich d ie K o ntro lle üb er m einen E nergiekö rp er w ied ergew ann und erkannte, w as m it m ir geschehen sei. »S tre n g e d ic h a n u n d sa g e m ir se lb st, w a s d ir in d e r W e lt d e r anorganischen W esen geschehen ist«, befahl er m ir. U n d so e rz ä h lte ic h ih m , ic h h ä tte v o n Z e it z u Z e it d e n k la re n E indruck, daß er und seine G efährten m it ihrem physischen K örper in diese W elt gekom m en w ären und m ich den anorganischen W esen entrissen hätten. »R ichtig!« rief er. »G ut gem acht. U nd nun verw andle diesen E in d ruck in ein B ild d essen, w as p assierte.« S o sehr ich es auch versuchte, es w ollte m ir nicht gelingen, w as er von m ir verlangte. M ein S cheitern erlebte ich als ungew öhnliche M üd igkeit, d ie m ich vo n innen her auszutro cknen schien. B evo r D o n Ju a n h in a u sg in g , sa g te ic h z u ih m . d a ß ic h u n te r A n g st litte. »D as hat nichts zu b ed euten«, sagte er unb eküm m ert. »S ieh zu. d aß d u d eine E nergie w ied ergew innst, und so rge d ich nicht um solchen Q uatsch.« E s v e rg in g e n m e h r a ls z w e i W o c h e n , w ä h re n d la n g sa m m e in e E nergie w iederkehrte. D ennoch m achte ich m ir w eiterhin S orgen um alles und jedes. V or a lle m sorgte ich m ich um e in G efühl, m ir selber frem d gew orden zu sein - nam entlich eine gew isse K älte in m ir, die ich bislang nicht bem erkt h a t t e , eine A rt G leichgültigkeit u n d D ista n z ie rth e it, d ie ic h a u f m e in e n M a n g e l a n E n e rg ie z u rückführte, b is ich d iese w ied erfand . D ann ab er w urd e m ir k l a r . d aß es eine neue E igenschaft m eines W esens w ar - eine E igen sc h a ft, d ie m ic h d a u e rn d v o n m e in e n G e fü h le n tre n n te . U m G efühle hervo rzurufen, d ie ich gew ö hnt w ar, m usste ich sie um ständlich heraufbeschw ören und einen A ugenblick w arten, bis sie sich einstellten. E ine w eitere neue E igenschaft m eines W esen w ar eine befrem d lic h e S e h n su c h t, d ie m ic h v o n Z e it z u Z e it ü b e rfie l. Ic h se h n te m ich nach irgend jem and em , d en ich nicht kannte. E s w ar ein so üb erw ältigend es und verzehrend es G efühl, d aß ich. w enn ich es 142
erlebte, unaufhörlich im Zimmer auf und ab laufen mußte. um Linderung zu finden. Die Sehnsucht blieb mir. bis ich lernte, mir eine weitere Neuerung in meinem Leben zunutze zu machen: eine unbeugsame Selbstkontrolle, so neu und so mächtig, daß sie mir noch mehr Anlaß zur Sorge gab. Gegen Ende der vierten Woche glaubten alle, daß ich endlich genesen sei. Sie schränkten ihre Besuche drastisch ein. Die meiste Zeit blieb ich allein und schlief. Die Ruhe und Entspannung, die ich genoß. war so vollkommen, daß meine Energie merklich zu nahm. Ich fühlte mich wieder ich selbst werden. Ich begann sogar wieder zu üben. Eines Tages - gegen Mittag, nach einem leichten Imbiß -kehrte ich auf mein Zimmer zurück, um ein Schläfchen zu halten. Kurz bevor ich in tiefen Schlaf versank, wälzte ich mich im Bett hin und her und versuchte eine bequemere Lage zu finden, als ein sonder barer Druck auf meine Schläfen mich zwang, die Augen zu öffnen. Das kleine Mädchen aus der Welt der anorganischen Wesen stand am Fußende meines Bettes und sah mich mit ihren kalten, stahlblauen Augen an. Ich sprang aus dem Bett und schrie so laut, daß drei von Don Juans Gefährten bei mir im Zimmer waren, bevor ich zu schreien aufhörte. Sie waren sprachlos. Entsetzt schauten sie zu. wie sich das kleine Mädchen mir näherte und dann durch die Schranke meines leuchtenden Körpers zurückgehalten wurde. Eine Ewigkeit schauten wir einander an. Sie wollte mir etwas sagen, was ich zuerst nicht verstand, doch im nächsten Moment war es mir sonnenklar: damit ich verstehen könne, was sie sagte, so bedeutete sie mir, müsse ich mein Bewusstsein aus meinem physischen Körper in meinen Energiekörper verlagern. In diesem Augenblick trat Don Juan ins Zimmer. Das kleine Mädchen und Don Juan starrten einander an. Wortlos drehte sich Don Juan um und ging hinaus. Das kleine Mädchen huschte hinter ihm durch die Tür. Unbeschreiblich war der Aufruhr, den diese Szene unter Don Juans Gefährten auslöste. Alle verloren die Fassung. Anscheinend hatten sie alle gesehen, wie das kleine Mädchen mit dem Nagual aus dem Zimmer ging. Ich selbst glaubte zu explodieren. Ich befürchtete eine Ohnmacht und musste mich setzen. Die Anwesenheit des kleinen Mädchens
A ls ic h m e in e E n e rg ie m it d e r d e s S c o u t v e rm isc h te , so e rk lä rte m ir D o n Ju a n , h ä tte ic h w irk lic h a u fg e h ö rt z u e x istie re n . In a ll m einer K örperlichkeit sei ich in das R eich der anorganischen W esen versetzt w orden, und ohne den S cout, der D on Juan und seine G e fä h rte n d o rth in fü h rte , w o ic h w a r. w ä re ic h w o h l g e sto rb e n o d er in d ieser W elt geb lieb en, für im m er verlo ren. »W a ru m fü h rte d e r S c o u t e u c h d o rth in , w o ic h w a r? « fra g te ich. »D e r S c o u t ist e in e m p fin d e n d e s L e b e w e se n a u s e in e r a n d e re n D im ension. Jetzt ist er ein kleines M ädchen. U nd dieses M ädchen sa g te m ir, d a ß sie , u m d ie n ö tig e E n e rg ie z u g e w in n e n u n d d ie S chranken zu durchbrechen, die sie in der W elt der anorganischen W e se n g e fa n g e n h i e l t e n , d e in e g a n z e E n e rg ie v o n d i r n e h m e n m ußte. D ies ist nun ihr m enschlicher T eil. E tw as w ie D ankbarkeit fü h rte sie z u m ir. A ls ic h sie sa h , w u ß te ic h so fo rt, d a ß e s d ic h erw ischt hatte.« »W as m achtest d u d ann, D o n Juan? « »Ic h m o b ilisie rte a lle , d ie ic h e rre ic h e n k o n n te , v o r a lle m C a ro l T ig g s, u n d w ir flo g e n lo s - in s R e ic h d e r a n o rg a n isc h e n W e sen.« »W arum C arol T iggs?« »E rstens, w eil sie unerschöpfliche E nergie hat, und zw eitens, w eil sie sic h m it d e m S c o u t v e rtra u t m a c h e n so llte . W ir a lle h a b e n d urch d iese E rfahrung etw as unerm eß lich W ertvo lles gefund en. D u und C aro l T iggs, ihr fand et d en S co ut. U nd w ir and eren fand e n e in e n G ru n d , u n se re g a n z e p h ysisc h e E x iste n z a u f u n se re n E nergiekörper zu stellen: w ir w urden E n e r g ie .« »W ie hab t ihr d as gem acht, D o n Juan? « »W ir hab en gem einsam und gleichzeitig unseren M o ntagep unkt verschoben. D en R est besorgte unsere m akellose A bsicht, dich zu re tte n . D e r S c o u t fü h rte u n s im H a n d u m d re h e n d o rth in , w o d u als H albtoter lagst, und C arol schleppte dich h e r a u s . « S eine E rklärung w ar m ir unverständ lich. D o n Juan lachte nur, als ich dies einzuw enden versuchte. »W ie könntest du das verstehen, w o du nicht m al genügend E nerg ie h a st, u m a u s d e m B e tt z u ste ig e n ? « e rw id e rte e r. Ic h m u sste ih m g e ste h e n , d a ß ic h u n e n d lic h v ie l m e h r z u w isse n glaubte, als m ein V erstand zugeben w ollte; daß aber irgend etw as m eine E rinnerung unter V erschluß hielt. 146
»Mangel an Energie ist es. was deine Erinnerung unter Verschluß hält«, sagte er. »Wenn du genügend Energie hast, wird dein Ge dächtnis wieder ausgezeichnet arbeiten.« »Glaubst du. ich werde mich an alles erinnern können, woran ich mich erinnern will?« »Nicht ganz. Du magst wollen, soviel du willst, aber wenn das Maß deiner Energie nicht der Bedeutung dessen entspricht, was du weißt, kannst du deinem Wissen getrost Lebewohl sagen: es wird dir niemals zugänglich sein.« »Also, was soll ich tun, Don Juan?« »Energie hat die Neigung, zu akkumulieren. Folge nur makellos dem Pfad der Krieger, dann kommt der Moment, da dein Ge dächtnis sich öffnen wird.« Wenn ich Don Juan so sprechen hörte, gestand ich ihm, hatte ich das Gefühl, als ob ich mich nur vor Selbstmitleid gehenließ, als ob sonst alles in Ordnung sei. »Du lässt dich nicht nur gehen«, sagte er. »Du warst tatsächlich energetisch tot. vor vier Wochen. Jetzt bist du nur noch ein wenig betäubt. Betäubung und Mangel an Energie verbergen dir dein Wissen. Natürlich weißt du mehr als wir alle über die Welt der anorganischen Wesen. Diese Welt war es. wofür die alten Zauberer sich ausschließlich interessierten. Und wir haben dir gesagt, daß wir nur durch die Geschichten der Zauberer von dieser Welt erfahren haben. Am meisten verwundert mich, muß ich ehrlich sagen, daß du selbst nun für uns zum Gegenstand einer ZaubererGeschichte geworden bist.« Ich konnte nur wiederholen, daß es für mich unvorstellbar sei, ich könnte etwas getan haben, was er nicht getan hatte. Andererseits wollte ich auch nicht glauben, daß er mir nur schmeicheln wolle. »Weder schmeichle ich dir. noch rede ich dir nach dem Mund«, sagte er, sichtlich verärgert. »Ich stelle nur Tatsachen der Zauberei fest. Daß du mehr weißt über diese Welt als wir alle, sollte für dich kein Grund zur Zufriedenheit sein. Solch ein Wissen hat keine Vorteile. Immerhin konntest du dich nicht retten, trotz all deines Wissens. Wir konnten dich retten, weil wir dich fanden. Doch ohne die Hilfe des Scout wäre schon der Versuch, dich zu finden, sinnlos gewesen. Du warst so endgültig verloren in dieser Welt, daß mir graut, wenn ich nur daran denke.« 147
In m e in e m d a m a lig e n G e iste sz u sta n d fa n d ic h e s g a r n ic h t v e r w u n d e rlic h , a ls ic h n u n sa h , w ie e in e W e lle v o n G e fü h l a lle G e fä h rte n u n d L e h rlin g e D o n Ju a n s ü b e rsc h w e m m te . N u r C a ro l T iggs b lieb ungerührt. S ie schien ihre R o lle vö llig zu akzep tieren. S ie w ar eins m it m ir. »D u h a st d e n S c o u t b e fre it«, fu h r D o n Ju a n fo rt, »a b e r d u h a st d e in L e b e n a u fg e g e b e n . O d e r sc h lim m e r n o c h , d u h a st d e in e F reiheit aufgegeb en. N ur im A ustausch für d ich hab en d ie ano r ganischen W esen d en S co ut freigelassen.« »D as kann ich kaum glaub en, D o n Juan. N icht d aß ich an d einen W o rten zw eifle, verstehst d u, ab er d u schild erst m ir ein so hinterhältiges M anö ver, d aß ich sp rachlo s b in.« »B e tra c h te e s n ic h t a ls H in te rh ä ltig k e it, u n d d u h a st d ie g a n z e W ahrheil in einer N uß schale. D ie ano rganischen W esen sind im m er auf d er S uche nach B ew uß theit und E nergie. W enn d u b ereit b ist, ihnen b eid es zu b ieten - w as, glaub st d u, w erd en sie tun? D ir K u ssh ä n d c h e n ü b e r d ie S tra ß e z u w e rfe n ? « Ich w uß te, D o n Juan halle recht. D o ch d iese G ew iß heit hielt sich n ic h t la n g e b e i m ir. D ie K la rh e it d e r E in sic h t v e rflo g a llm ä h lich. D o n Juans G efährten b estürm ten ihn w eiter m it F ragen. S ie w o ll te n w isse n , o b e r sc h o n d a ra n g e d a c h t h a lle , w a s n u n m it d e m S cout geschehen solle. »Ja, d as hab e ich. E s ist ein schw ieriges P ro b lem , d as d er N agual hier lö sen m uß «, sagte er, auf m ich d eutend . »E r und C aro l T iggs sind die einzigen, die den S cout befreien können. U nd das w eiß er auch.« N atürlich stellte ich ihm die einzig m ögliche F rage: »W ie kann ich ih n befreien?« »S tatt es d ir vo n m ir sagen zu lassen, gib t es einen viel b esseren. v ie l ric h tig e re n W e g , e s h e ra u sz u fin d e n «, sa g te D o n Ju a n m it breitem G rinsen. »F rage den B otschafter. D ie anorganischen W ese n k ö n n e n n ic h t lü g e n , w ie d u w e iß t.«
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8. Die dritte Pforte des Träumens
»Die dritte Pforte des Träumens ist erreicht. wenn du im Traum jemand anderen schlafen siehst, und dieser andere bist du selbst«, sagte Don Juan. Meine Energie war damals so hochtransformiert, daß ich gleich an der dritten Aufgabe zu arbeiten begann, auch wenn er mir keine weiteren Informationen darüber gab. Das erste. was ich bei meinen Traumübungen bemerkte, war, daß ein Energieschub sofort den Schwerpunkt meiner Traum-Aufmerksamkeit verlagerte. Ich konzentrierte mich nun auf das Erwachen im Traum, wobei ich mich selbst schlafen sah. Reisen ins Reich der anorganischen Wesen beschäftigten mich nicht mehr. Bald danach sah ich mich schlafend in einem Traum. Sofort be richtete ich es Don Juan. Der Traum kam mir, während ich in seinem Haus war. »Zwei Phasen gibt es bei jeder Traumpforte«, sagte er. »Die erste ist, wie du weißt, das Erreichen der Pforte. Die zweite ist das Hindurchschreiten. Indem du träumtest, was du geträumt hast, nämlich daß du dich schlafen sahst, erreichtest du die dritte Pforte. Die zweite Phase ist nun, umherzugehen, nachdem du dich im Schlaf gesehen hast.« »Bei der dritten Traumpforte«, fuhr er fort, »beginnst du deine Traum-Wirklichkeil bewußt mit der alltäglichen Wirklichkeit zu verschmelzen. Dies ist der vorgesehene Ausbildungs-Drill, und die Zauberer bezeichnen es als Vervollständigung des Energie körpers. Die Verschmelzung der beiden Realitäten soll so gründlich erfolgen, daß du beweglicher sein mußt denn je. An der dritten Pforte mußt du alles untersuchen, mit großer Vorsicht und Neugier.« Ich beschwerte mich, seine Empfehlungen seien mir zu rätselhaft und unbegreiflich. »Was verstehst du unier Vorsicht und Neu gier?« fragte ich. »Vor der dritten Pforte haben wir die Neigung, uns in Details zu verlieren«, antwortete er. »Alles mit großer Vorsicht und Neugier 149
zu betrachten bedeutet, daß wir der beinah unwiderstehlichen Versuchung widerstehen, uns Hals über Kopf in Einzelheiten zu stürzen. Der vorgeschriebene Drill bei der dritten Pforte ist, wie ich sagte. die Konsolidierung des Energiekörpers. Die Träumer bauen den Energiekörper allmählich auf. indem sie die Aufgaben der ersten und zweiten Pforte erfüllen. Wenn sie die dritte Pforte erreichen, ist der Energiekörper bereit herauszukommen - besser gesagt, er ist bereit zu handeln. Leider heißt dies auch, daß er bereit ist, sich von Einzelheiten hypnotisieren zu lassen.« »Was heißt es, sich von Einzelheiten hypnotisieren zu lassen?« »Der Energiekörper ist wie ein Kind, das sein Leben lang einge sperrt war. Sobald er nun frei wird, saugt er alles auf, was er finden kann, und ich meine buchstäblich alles. Jedes belanglose, winzige Detail absorbiert den Energiekörper gänzlich.« Es folgte ein verlegenes Schweigen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte ihn genau verstanden, aber aus eigener Erfahrung konnte ich mir keine Vorstellung machen, was dies alles bedeuten mochte. »Die dümmste Kleinigkeit kann für den Energiekörper zu einer eigenen Welt werden«, erklärte Don Juan. »Die Träumer müssen alles daransetzen, den Energiekörper zu steuern. Ich weiß, es ist eine unbeholfene Umschreibung, wenn ich dir rate, die Dinge mit Vorsicht und Neugier zu betrachten, aber es ist die beste Bezeich nung für das, was du tun solltest. An der dritten Pforte müssen die Träumer den unwiderstehlichen Drang vermeiden, sich einfach auf alles zu stürzen - und sie vermeiden ihn. indem sie so neugierig darauf brennen, auch alles andere kennenzulernen, daß sie sich nicht von einer Einzelheit gefangennehmen lassen.« Er wisse wohl, fügte Don Juan hinzu, wie absurd seine Empfehlungen mir vorkommen müßten; er ziele damit aber direkt auf meinen Energiekörper. Immer wieder betonte er, daß mein Energiekörper all seine Kräfte aufbieten müsse, um handeln zu können. »Aber, handelt mein Energiekörper nicht schon die ganze Zeit?« fragte ich. »Zum Teil, ja. Sonst hättest du nicht ins Reich der anorganischen Wesen reisen können«, antwortete er. »Jetzt aber muß dein ge 150
samter Energiekörper sich daran beteiligen, die Aufgabe der dritten Pforte zu erfüllen. Um deinem Energiekörper die Sache zu erleichtern, solltest du deine Rationalität zurückhalten.« »Ich fürchte, du verbellst den falschen Baum«, sagte ich. »Nach allen Erfahrungen, die du in mein Leben gebracht hast, ist bei mir nur noch wenig Rationalität übrig.« »Ach, erzähle mir nichts. Unsere Rationalität ist es, die den Energiekörper an der dritten Pforte zwingt, sich so hartnäckig mit überflüssigen Details zu befassen. Was wir an der dritten Pforte brauchen, ist also irrationale Beweglichkeit, irrationale Selbstvergessenheit, um solche Hartnäckigkeit auszugleichen.« Don Juans Feststellung, daß jede der Traumpforten ein Hindernis sei, hätte sich nicht deutlicher bewahrheiten können. Um den Drill der dritten Traumpforte zu erfüllen, musste ich mich härter anstrengen als vor den beiden anderen Pforten zusammen. Don Juan setzte mich unter gewaltigen Druck. Außerdem war noch etwas in meinem Leben hinzugekommen: echte Furcht. Schon immer hatte ich mich vor diesem und jenem gefürchtet, normal und sogar im Übermaß, doch unter all meinen Erfahrungen gab es nichts, was vergleichbar gewesen wäre mit der Furcht, die ich nach meinem Zusammenstoß mit den anorganischen Wesen emp fand. Dieser ganze Erfahrungsschatz blieb meiner normalen Erin nerung jedoch unzugänglich. Nur in Don Juans Gegenwart standen mir solche Erinnerungen offen. Einmal, als wir im Nationalen Museum für Anthropologie und Geschichte in Mexico City waren, befragte ich ihn wegen dieser sonderbaren Situation. Was mich zu meiner Frage bewog, war, daß ich in jenem Augenblick die seltene Fähigkeit hatte, mich an alles zu erinnern, was mir im Lauf meiner Bekanntschaft mit Don Juan passiert war. Und dies machte mich so frei, so wagemutig und leichtsinnig, daß ich beinah umhertanzte. »Es passiert einfach, daß die Gegenwart des Nagual eine Verlagerung des Montagepunkts bewirkt«, sagte er. Dann führte er mich in einen der Säle des Museums und sagte, daß meine Frage recht gut zu dem passe, was er mir sagen wolle. »Ich hatte nämlich die Absicht, dir zu erklären, daß die Position des Montagepunktes wie ein Tresor ist, wo die Zauberer ihre Erinnerungsprotokolle aufbewahren«, sagte er. »Ich war außer mir 151
vor Freude, als dein Energiekörper meine Absicht spürte und du mich fragtest. Der Energiekörper weiß ungeheuer viel. Komm, ich werde dir zeigen, wieviel er weiß.« Er befahl mir, mich in völlige innere Stille zu versetzen. Und er erinnerte mich daran, daß ich mich bereits in einem besonderen Bewusstseinszustand befinde, weil mein Montagepunkt sich durch seine Gegenwart verlagert habe. Er versicherte mir, daß das Ein treten in völlige Stille es den Skulpturen in diesem Saal ermög lichen würde, mich Unausdenkbares sehen und hören zu machen. Offenbar um meine Verwirrung noch zu mehren, fügte er hinzu, daß einige der archäologischen Objekte in diesem Saal die Fähigkeit hätten, von sich aus eine Verlagerung des Montagepunkts zu bewirken; und daß ich, im Zustand völliger Stille, tatsächlich manches aus dem Leben der Menschen sehen würde, die diese Gegenstände gemacht hatten. Und dann begann für mich der sonderbarste Museumsrundgang, den ich je erlebt habe. Im Saal auf und ab schreitend, schilderte und interpretierte er mir erstaunliche Details all dieser großen Ausstellungsstücke. Ihm zufolge war jedes archäologische Stück in diesem Saal ein von den Menschen der Vorzeit absichtlich hin terlassenes Protokoll - ein Protokoll, das Don Juan als Zauberer mir vorlesen konnte, fast wie ein Buch. »Jedes Stück hier ist dazu bestimmt, eine Verlagerung des Mon tagepunkts auszulösen«, fuhr er fort. »Fixiere deinen Blick auf irgendeines, tauche ein ins innere Schweigen und finde heraus, ob dein Montagepunkt sich verlagern wird oder nicht.« »Wie soll ich wissen, ob er sich verlagert hat?« »Du wirst Dinge sehen und fühlen, die dir normalerweise nicht zugänglich sind.« Ich starrte also die Skulpturen an und sah und hörte Dinge, die zu erklären mir nicht möglich wäre. Früher schon hatte ich all diese Stücke mit dem Vorurteil anthropologischer Wissenschaft unter sucht, immer im Sinne von Schilderungen der Feldforscher. Ihre Beschreibungen der Funktion solcher Stücke, in der Weltsicht des modernen Menschen verwurzelt, kamen mir nun zum erstenmal sehr befangen, wenn nicht gar töricht vor. Was Don Juan über diese Stücke sagte und was ich selbst sah und hörte, während ich sie anstarrte, war weit von dem entfernt, was ich je über sie gelesen hatte. 152
Mir wurde so unbehaglich, daß ich mich bei Don Juan dafür ent schuldigen zu müssen meinte, daß ich. wie ich glaubte, so leicht gläubig war. Weder lachte er. noch spottete er über mich. Vielmehr erklärte er mir sehr geduldig, daß die Zauberer einst imstande waren, genaue Protokolle ihrer Entdeckungen in der Position des Montagepunkts zu hinterlegen. Um die Essenz eines schriftlichen Berichts zu erfassen, so sagte er, müßten wir uns doch auf unsere Einfühlung oder unsere innere Anteilnahme und Imagination verlassen und, über das Papier hinaus, in das Erlebnis selbst eintauchen. Doch in der Welt der Zauberer, wo es kein Schrifttum gebe, würden Protokolle, die wiedererlebt statt gelesen werden könnten, in der Position des Montagepunkts hinterlegt. Zur Veranschaulichung dessen, was er mir sagte, verwies Don Juan auf die Lehren der Zauberer über die zweite Aufmerksam keit. Diese Lehren, sagte er, würden vermittelt, sobald der Mon tagepunkt des Schülers sich an einer anderen als der normalen Stelle befinde. Auf diese Weise werde diese Position des Mon tagepunkts zum Protokoll der betreffenden Lektion. Um die Lektion noch einmal abzuspielen, müsse der Lehrling seinen Montagepunkt wieder in die Position zurückkehren lassen, in der er sich befand, als die Lektion erteilt wurde. Zum Schluss seiner Ausführungen wiederholte Don Juan noch einmal, daß es eine Leistung höchsten Grades sei. den Montagepunkt in all die Posi tionen zurückkehren zu lassen, die er einnahm, als die Lektionen vermittelt wurden. Beinah ein Jahr lang fragte Don Juan mich nie wieder nach meiner dritten Aufgabe des Träumens. Dann aber, eines Tages, wünschte er plötzlich, ich solle ihm alle Einzelheiten meiner Traumübungen schildern. Als erstes musste ich von einem verblüffenden Phänomen der Wiederholung berichten. Monatelang hatte ich nämlich immer wieder Träume, in denen ich feststellte, daß ich mich schlafend im Bett sah und anstarrte. Das Sonderbare war die Regelmäßigkeit solcher Träume; sie kamen alle vier Tage, pünktlich wie die Uhr. Während der anderen drei Tage war mein Träumen wie immer: ich untersuchte alle möglichen Gegenstände in meinen Träumen, ich wechselte die Träume - und getrieben von selbstmörderischer Neugier, folgte ich manchmal den Scouts fremder Energie, ob-
w ohl ich dabei starke Schuldgefühle hatte. Ich bildete m ir ein. es sei ähnlich w ie eine geheim e D rogensucht. D as R eale dieser W elt w ar für m ich unw iderstehlich. Insgeheim fühlte ich m ich irgendw ie von aller V erantw ortung be freit, w eil D on Juan selbst m ir vorgeschlagen hatte, den T raum b o tsch after zu fragen , w as ich tu n so llte, u m d en - n u n m eh r b ei u n s - ge fa n ge n e n b la u e n S c o u t z u b e fre ie n . E r h a tte w o h l ge m eint, ich solle diese Frage in m einem A lltagsbew ußtsein stellen, aber ich verdrehte seine W orte in dem Sinn, daß ich den B otschafter befragen m üsse, w ährend ich m ich in seiner W elt befand. D ie F rage, die ich dem B otschafter eigentlich stellen w ollte, w ar. ob die anorganischen W esen m ir eine Falle gestellt hätten. N icht nur k lä rte d e r B o tsc h a fte r m ic h a u f. d a ß a lle s, w a s D o n J u a n m ir ge sa gt h a tte , ge n a u z u tra f; e r b e le h rte m ic h a u c h d a rü b e r, w a s C arol T iggs und ich zu tun hätten, um den Scout zu befreien. »D ie R egelm äß igkeit d ein er T räu m e ist etw as, d as ich erw artet h ab e«, m ein te D o n Ju an , n ach d em er m ein en B erich t an geh ö rt hatte. »W arum hast du so etw as erw artet, D on Juan?« »A ufgrund deiner B eziehung zu den anorganischen W esen.« »D as ist vorbei und vergessen, D on Juan«, log ich - und hoffte, er w ürde das T hem a nicht w eiterverfolgen. »D as sagst du nur um m einetw illen, nicht w ahr? B rauchst du aber nicht. Ich kenne die W ahrheit. G laube m ir. nachdem du dich auf sie eingelassen hast, hängst du fest. Sie w erden im m er hinter d i r her sein. O der, noch schlim m er, du w irst im m er h i n t e r ihnen her sein.« E r starrte m ich an. und vielleicht w aren m eine Schuldgefühle so offenkundig, daß er lachen m ußte. »D ie einzig m ögliche E rklärung für eine solche R egelm äßigkeit ist, daß die anorganischen W esen dich schon w ieder verw öhnen«, sagte D on Juan in bedenklichem T on. R asch das Them a w echselnd. erzählte ich ihm von einem w eiteren. erw ähnensw erten A spekt m einer T raum übungen, näm lich m einer R eaktion auf den A nblick m einer selbst, w ie ich in tiefem S chlaf lag. D ieser A nblick w ar im m er so erschreckend, daß er m ich e n t w eder w ie angeleim t an der Stelle festhielt. bis der Traum w echselte, oder m ich so t i e f ängstigte, daß ich sofort aufw achte - schreiend, so laut ich nur konnte. Ich w ar an dem P unkt angelangt, daß
ich m ich an solchen T agen, an denen ich - w ie ich w ußte - diesen T raum haben w ürde. vor dem E inschlafen fürchtete. »D u b ist n o ch n ich t b ereit fü r ein e ech te V ersch m elzu n g d ein er T rau m W irklich keit m it d ein er alltäglich en W irklich keit«, fo lgerte D o n Ju an . »D u m u ß t n o ch w eiter d ein L eb en rekap itu lieren.« »Ich habe doch soviel rekapituliert, w ie ich nur konnte«, beharrte ich. »U nd ich rekapituliere schon seit Jahren. E s gibt nichts m ehr in m einem L eben, w oran ich m ich noch erinnern könnte.« »E s m uß noch m ehr geben«, sagte unerbittlich, »sonst w ürdest du nicht schreiend erw achen.« D ie V orstellung, noch w eiter m ein Leben rekapitulieren zu m üssen, gefiel m ir gar nicht. Ich hatte es ja getan, und ich glaubte es so gu t getan zu h ab en , d aß ich m ich n ie w ied er d am it b efassen m üßte. »D ie R ekap itu latio n u n seres L eb en s en d et n iem als, gan z egal, w ie gut w ir es getan haben«, sagte D on Juan. »D er G rund, w arum es norm alen M enschen beim T räum en an W illenskraft fehlt, ist, d aß sie n iem als rekap itu liert h ab en - u n d ih r L eb en d ah er ran d voll ist von schw er befrachteten E m otionen. E rinnerungen, H offnungen, B efürchtungen und so w eiter. Z auberer hingegen sind aufgrund ihrer R ekapitulation relativ frei von befrachteten und bindenden E m otionen. U nd w enn etw as sie aufhält, w ie du j e t z t aufgehalten w irst, ist jedenfalls anzunehm en, daß es im m er noch etw as U ngeklärtes bei ihnen gibt.« »D as R ekapitulieren geht zu stark an m eine Substanz. D on Juan. V ielleicht gibt es etw as anderes, w as ich tun könnte?« »N ein, gibt es nicht. R ekapitulation und T räum en gehen H and in H and. W ährend w ir unser L eben zurückspulen, w erden w ir im m er leichter und unbeschw erter.« Ü b e r d ie se R e k a p itu la tio n d e s e ige n e n L e b e n s h a tte D o n J u a n m ir sehr ausführliche und genaue A nw eisungen gegeben. Sie be stand darin, alle E rfahrung des L ebens noch einm al nachzuerle b e n , in d e m m a n je d e n o c h so k le in e E in z e lh e it e rin n e rte . In solcher R ekapitulation sah er den entscheidenden Faktor bei der en ergetisch en N eu b estim m u n g u n d N eu gestaltu n g ein es T räu m ers. »D ie R ekapitulation setzt E nergie frei, die sonst gefangen ist; und ohne diese befreite E nergie ist T räum en nicht m öglich.« D as w ar sein Standpunkt. 15S
V orjahren einm al hatte D on Juan von m ir verlangt, ein V erzeichnis von allen Leuten anzulegen, die ich in m einem Leben kennengelernt hatte, angefangen m it der G egenw art. E r half m ir, dieses V erzeichnis in eine ordentliche R eihenfolge zu bringen, und un terteilte sie in T ätigkeitsbereiche w ie A rbeitsplätze, die ich gehabt hatte, Schulen, die ich besucht hatte, usw . D ann hielt er m ich an. vo n d er ersten P erso n m ein er L iste au sn ah m slo s b is zu r letzten fo rtsc h re ite n d , je d e m e in e r In te ra k tio n e n m it d ie se n L e u te n nachzuerleben. D as R ekapitulieren eines E reignisses, erklärte er, beginnt dam it, daß m an im G eist alles zusam m enstellt, w as m it dem zu rekapitu lierenden E reignis zusam m enhängt. Solches Z usam m enstellen bedeutet, das E reignis zu rekonstruieren, Stück um Stück, ange fangen bei der E rinnerung an physische D etails der U m gebung, dann fortschreitend zu der P erson, m it der m an es bei der Inter a k tio n z u tu n h a tte , b is m a n z u sic h se lb st ge la n gt, u m se in e eigenen G efühle zu untersuchen. D on Juan lehrte m ich auch, die R ekapitulation m it einer natür lich en , rh yth m isch en A tm u n g zu ko m b in ieren . L an gsam au s a tm e n d , w ird d e r K o p f la n gsa m u n d sa c h te v o n re c h ts n a c h links bew egt; und langsam einatm end, schw enkt der K opf w ieder von links nach rechts. D ieses Schw enken des K opfes nannte er das »E ntfächern des E reignisses«. D abei w ird das E reignis in G e danken durchgespielt, von A nfang bis E nde, w ährend der K örper im m er w ieder entfächert, w orauf unser G eist sich konzentriert. D o n Ju an sagte, d aß d ie Z au b erer d er V o rzeit, als E rfin d er d er R ekapitulation, das A tm en als m agischen, lebenspendenden A kt betrachteten und es entsprechend als m agisches V ehikel nutzten. D as A usatm en diente dazu, die frem de E nergie auszustoßen, die w ä h re n d d e r re k a p itu lie rte n In te ra k tio n in ih n e n z u rü c k b lie b , und das E inatm en dazu, die E nergie zurückzuholen, die sie selbst w ährend der Interaktion zurückgelassen hatten. A ufgrund m einer w issenschaftlichen A usbildung faßte ich die R ekapitulation als Selbstanalyse des eigenen Lebens auf. D on Juan a b e r b e h a rrte d a ra u f, d a ß e s m e h r se i a ls e in e in te lle k tu e lle P sychoanalyse. E r bezeichnete die R ekapitulation als einen T rick der Zauberer, um eine w inzige, aber dauernde V erschiebung des M ontagepunkts zu bew irken. U nter dem E indruck einer solchen 156
Ü berprüfung der V ergangenheit, sagte er, w echselt der M ontage punkt zw ischen seinem gegenw ärtigen P latz und dem P latz hin und her, den er einnahm , als das rekapitulierte E reignis stattfand. D ie B egründung der alten Z auberer für diese R ekapitulation, erklärte D on Juan, w ar deren Ü berzeugung, daß es eine unvorstellbare K raft der A uflösung im U niversum gibt, die den O rganism en L eben schenkt, indem sie ihnen B ew usstsein verleiht. D iese K raft lässt auch die O rganism en sterben, um eben dieses verliehene B ew usstsein w iederzuerlangen, das die O rganism en durch die E rfah rungen ihres L ebens noch verm ehrt haben. D on Juan erklärte m ir d ie Ü b e rle g u n g d e r a lte n Z a u b e re r: w e il e s n ä m lic h u n se re L ebenserfahrung sei, auf die es diese K raft abgesehen habe, hielte n sie e s fü r ä u ß e rst w ic h tig , d ie se K ra ft d u rc h e in e K o p ie unserer L ebenserfahrung zufriedenzustellen: näm lich die R ekapitu la tio n d e s L e b e n s. W e n n d ie a u flö se n d e K ra ft a lso b e k o m m t, w a s sie w ü n sc h t, g ib t sie d ie Z a u b e re r f r e i : n ä m lic h fre i, ih re W ahrnehm ungsfähigkeit zu erw eitern und dam it bis an die G renzen vo n R aum und Z eit vo rzusto ß en. A ls ich nun w ieder zu rekapitulieren begann, w ar es für m ich eine große Ü berraschung, daß m eine T raum übungen autom atisch auf h ö rte n , so b a ld m e in e R e k a p itu la tio n b e g a n n . Ic h fra g te D o n Ju a n , w a s e s m it d ie se r u n g e w o llte n U n te rb re c h u n g a u f sic h habe.
»D as T räum en verlangt alle uns verfügbare E nergie«, antw ortete er.
»W enn es in unserem L eben etw as gibt, w as uns stark in A nspruch
nim m t, ist T räum en unm öglich.«
»Ich w ar schon öfter von etw as anderem in A nspruch genom m en,
a b e r n ie w u rd e n m e in e Ü b u n g e n d a d u rc h u n te rb ro c h e n «, sa g te
ich.
»D a n n w a rst d u w a h rsc h e in lic h n ic h t in A n sp ru c h g e n o m m e n ,
so n d e rn e in O p fe r d e in e r S e lb stü b e rsc h ä tz u n g «, la c h te e r. »In
A nsp ruch geno m m en zu sein heiß t für Z aub erer, d aß alle unsere
E nergieq uellen b eansp rucht w erd en. D ies ist d as erste M al, d aß d u
alle d eine E nergieq uellen heranziehen m uß t. S o nst ab er, auch
w enn du früher rekapituliertest, w arst du niem als ganz davon be ansprucht.«
D ie sm a l g a b D o n Ju a n m ir e in e n e u e F o rm d e r R e k a p itu la tio n
auf. Ich sollte verschiedene E reignisse m eines Lebens rekapitulieren,
scheinb ar o hne jed e O rd nung, w ie b ei einem P uzzle.
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»Das wird aber ein schönes Durcheinander«, protestierte ich. »Nein, wird es nicht«, versicherte er. »Es wird ein Durcheinander, wenn du dein kleinliches Eigeninteresse entscheiden läßt. welche Ereignisse du rekapitulieren willst. Laß doch statt dessen den Geist entscheiden. Werde ganz still, und dann befasse dich mit dem Ereignis, das der Geist dir zeigt.« Die Ergebnisse dieser Form von Rekapitulation waren in mancher Hinsicht schockierend für mich. Sehr eindrucksvoll war die Entdeckung, daß eine scheinbar unabhängige Kraft mich immer dann, wenn ich mich in inneres Schweigen versetzte, in eine sehr ausführliche Erinnerung an ein Ereignis meines Lebens stürzte. Aber noch eindrucksvoller war es, daß dies ein sehr geordnetes Bild ergab. Eine Methode, die ich für chaotisch gehalten hatte, erwies sich als äußerst effektiv. Ich fragte Don Juan, warum er mich nicht von Anfang an auf diese Weise hatte rekapitulieren lassen. Und er antwortete, daß es beim Rekapitulieren zwei wesentliche Phasen gebe: die erste nannte er Förmlichkeit und Starre, die zweite Beweglichkeit. Ich hatte keine Ahnung, wie verschieden meine Rekapitulation diesmal verlaufen sollte. Meine beim Träumen erworbene Konzentrationsfähigkeit erlaubte mir, mein Leben mit einer Gründlichkeit zu überprüfen, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Mehr als ein Jahr lang überprüfte ich mein Leben so genau, wie ich nur konnte. Am Ende musste ich Don Juan beipflichten. Es hatte bei mir allerlei befrachtete Emotionen gegeben, so tief verborgen, daß sie mir fast nicht zugänglich waren. Die Folge meiner zweiten Rekapitulation war eine neue, unbeschwertere Einstellung. Schon am selben Tag, als ich meine Traumübungen wiederaufnahm, träumte mir. ich sähe mich im Schlaf. Ich machte kehrt und ging forsch aus dem Zimmer, um dann zaghaft die Treppe hinunter und auf die Straße zu gehen. Ich war begeistert, was ich getan hatte, und berichtete Don Juan davon. Doch wie groß war meine Enttäuschung, als er diesen Traum nicht als Teil meiner Traumübungen gelten ließ. Er meinte, ich sei ja nicht mit meinem Energiekörper auf die Straße gegangen, denn hätte ich dies getan, dann hätte ich etwas anderes empfunden als das Gefühl, eine Treppe hinunterzusteigen. »Was für ein Gefühl meinst du denn, Don Juan?« fragte ich neugierig.
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»D u m ußt dir eine verlässliche R ichtschnur w ählen, um festzustel len, ob du tatsächlich deinen schlafenden K örper im B ett siehst«, sa gte e r, sta tt m e in e F ra ge z u b e a n tw o rte n . »V e rgiß n ic h t, d u m ußt in deinem w irklichen Z im m er sein und deinen w irklichen K örper sehen. Sonst ist das, w as du siehst, nur ein T raum . W enn dies der F all ist, versuche diesen T raum zu kontrollieren, entw ed er in d em d u E in zelh eiten b eo b ach test o d er in d em d u in ein en anderen T raum w echselst.« Ich verlangte, er solle m ir m ehr über die verlässliche R ichtschnur sa ge n , v o n d e r e r ge sp ro c h e n h a tte , a b e r e r fie l m ir in s W o rt: »F inde heraus, w ie du verlässlich überprüfen kannst, ob du w irk lich dich selbst siehst«, sagte er. »H a st d u d e n n k e in e V o rsc h lä ge , w a s e in e v e rlä sslic h e R ic h t schnur sein könnte?« fragte ich. »V erlass d ich au f d ein eigen es U rteil. U n sere gem ein sam e Z eit ge h t z u E n d e . U n d b a ld w irst d u a u f d ic h se lb st ge ste llt sein.« D ann w echselte er das T hem a, und ich behielt das schm erzliche G efühl m einer U nfähigkeit. Ich konnte m ir nicht vorstellen, w as er eigentlich von m ir w ollte oder w as er unter einer verlässlichen R ichtschnur verstand. In m einem nächsten T raum , als ich m ich schlafen sah, blieb ich, statt aus dem Z im m er und die T reppe hinunterzugehen oder gar schreiend aufzuw achen, lange Z eit reglos an dem P latz, von w o ich beobachtete. O hne zu verzagen oder zu verzw eifeln, beobachtete ich E in zelh eiten m ein es T rau m s. U n d jetzt fiel m ir au f, d aß ich als Schlafgew and ein w eißes T -Shirt trug, das an der Schulter ein gerissen w ar. Ich versu ch te n äh erzu treten u n d d iesen R iß zu untersuchen, aber ich konnte m ich nicht bew egen. Ich spürte eine Schw ere, die T eil m eines W esens zu sein schien. T atsächlich w ar ich nichts als G ew icht und Schw ere. O hne zu w issen, w as ich nun m achen sollte, geriet ich in eine furchtbare V erw irrung. Ich ver suchte in einen anderen T raum überzuw echseln, aber eine unbe kannte K raft zw ang m ich, w eiter auf m einen schlafenden K örper zu starren. In all m einer Q ual hörte ich den T raum botschafter sagen, daß das G efü h l, kein e S elb stb eh errsch u n g zu h ab en u n d m ich n ich t frei b ew egen zu kö n n en , fü r m ich so ersch recken d sei, d aß ich w o m ö glic h n o c h e in m a l m e in L e b e n re k a p itu lie re n m ü sse . D ie 159
S tim m e des B otschafters, und w as er sagte, überraschte m ich kei n e sw e g s. N ie h a tte ic h e in so b e ä n g stig e n d le b h a fte s G e fü h l g e h a b t, m ic h n ic h t b e w e g e n z u k ö n n e n . D e n n o c h ü b e rlie ß ic h m ich nicht der A ngst. V ielm ehr untersuchte ich dieses G efühl und stellte fest, daß es keine psychische A ngst w ar, sondern eine phy sische E m pfindung der H ilflosigkeit, V erzw eiflung und V erärge ru n g . E s ä rg e rte m ic h u n sä g lic h , d a ß ic h u n fä h ig w a r, m e in e G lied er zu b ew egen. M ein Ä rger steigerte sich m it d er E rkenntnis, d aß irgend etw as auß erhalb m einer selb st m ich b rutal an O rt und S telle festhielt. S o eigensinnig und verzw eifelt versuchte ich m ich zu bew egen, daß ich tatsächlich beobachten konnte, w ie e in B e in m e in e s im B e tt sc h la fe n d e n K ö rp e rs z u c k te u n d sc h e in b a r ausschlug. D ann w urde m ein B ew usstsein in m einen reglos schlafenden K örper gezogen, und ich erw achte so plötzlich, daß ic h m ehr als eine halbe S tunde brauchte, um m ich w ieder zu beruhigen. M ein H erz schlug w ild und unregelm äßig. Ich z itte r te am ganzen L eib, und d ie M uskeln in m einem B ein zuckten unko ntro llierb ar. Ich hatte einen so krassen V erlust an K ö rp erw ärm e erfahren, d aß ich D eck e n u n d e in e W ä rm fla sc h e b ra u c h te , u m m e in e T e m p e ra tu r z u halten. N atürlich fuhr ich sofort nach M exiko, um D on Juan w egen dieses lähm enden G efühls um R at zu fragen - auch w egen der T atsache, daß ich ein zerschlissenes T -S hirt getragen und m ich daher w irklich im S chlaf gesehen hatte. A ußerdem w ar ich sehr erschrocken ü b e r m e in e U n te rte m p e ra tu r. D o n Ju a n w a r a b e r n ic h t b e re it, ü b e r m e in P ro b le m z u sp re c h e n . D a s e in z ig e , w a s ic h a u s i h m herausb ekam , w ar eine zynische B em erkung. »D u lie b st d ra m a tisc h e Ü b e rtre ib u n g e n «, sa g te e r u n g e rü h rt. »N atürlich hast du dich w irklich im S chlaf gesehen. D as D um m e ist nur, d aß d u nervö s w urd est, w eil d ein E nergiekö rp er sich n i e z u v o r se in e r G a n z h e it b e w u ß t w a r. S o llte st d u je w ie d e r n e rv ö s w erd en und frieren, d ann halte d ich an d einem F im m el fest. D as w ird deine K örpertem peratur sofort und problem los w ieder in die H ö he treib en.« S eine D erb heit kränkte m ich. S ein R at ab er erw ies sich als w irk sa m . D a s n ä c h ste M a l, a ls ic h in P a n ik g e rie t, k o n n te ic h m ic h augenb licklich entsp annen und w ied er no rm al fühlen, ind em ich tat, w as er m ir em p fo hlen hatte. A uf d iese A rt entd eckte ich, d aß 160
ich, w enn ich nicht zaud erte und m einen Ä rger b eherrschte, nicht in P a n ik g e rie t. D ie K o n tro lle z u b e h a lte n h a lf m ir z w a r n ic h t, m ic h im T ra u m z u b e w e g e n , a b e r e s g a b m ir e in G e fü h l tie fe r R u h e u n d G e la sse n h e it. N ach M o naten vergeb lichen B em ühens, m ich im T raum vo n d er S te lle z u rü h re n , w a n d te ic h m ic h w ie d e r e in m a l a n D o n Ju a n . D iesm al w o llte ich ihn nicht um R at fragen, so nd ern m eine N ie d e rla g e e in g e ste h e n . Ic h sta n d v o r e in e r u n ü b e rw in d lic h e n B a r rie re , u n d ic h w u ß te m it u n b e stre itb a re r G e w issh e it, d a ß ic h versagt hatte. »T rä u m e r m ü sse n e rfin d e risc h se in «, sa g te D o n Ju a n , b o sh a ft grinsend . »U nd erfind erisch b ist d u nicht. Ich hab e d ir nicht ver ra te n , d a ß d u d e in e P h a n ta sie g e b ra u c h e n so llte st, u m d e in e n E nergiekö rp er zu b ew egen, d enn ich w o llte sehen, o b d u d as R ätsel selb st lö sen kö nntest. D u ko nntest es nicht, und d eine F reund e h a b e n d ir a u c h n ic h t g e h o lfe n .« In d e r V e rg a n g e n h e it h a tte ic h m ic h ste ts g e n ö tig t g e fü h lt, m ic h e n tsc h ie d e n z u re c h tfe rtig e n , w e n n e r m ir m a n g e ln d e P h a n ta sie vo rw arf. Ich fand m ich sehr p hantasieb egab t. Jem and en w ie D o n Juan als L ehrer zu hab en zw ang m ich ab er einzusehen. d aß ich es n ic h t b in . W e il ic h n u n m e in e E n e rg ie n ic h t a u f v e rg e b lic h e R echtfertigungen verschw enden w ollte, fragte ich lieber: »W as ist d a s fü r e in R ä tse l, v o n d e m d u sp ric h st. D o n Ju a n ? « »D as R ätsel, w ie unm ö glich und d o ch w ie leicht es ist, d en E nerg ie k ö rp e r z u b e w e g e n . D u v e rsu c h st d ic h z u b e w e g e n , a ls w ä rst d u in d e in e r a lltä g lic h e n W e lt. D a s L a u fe n le rn e n k o ste t u n s so viel Z eit und M ühe, d aß w ir nun glaub en, auch unser T raum kö rp e r so lle a u f z w e i B e in e n la u fe n . E s g ib t a b e r k e in e n G ru n d , w a ru m e r d ie s tu n so llte - a u ß e r d a ß w ir u n s n u r d ie se A rt z u laufen vo rstellen kö nnen.« Ic h sta u n te , w ie e in fa c h d ie L ö su n g w a r. S o fo rt w u ß te ic h , d a ß D o n Juan recht hatte. W ied er einm al w ar ich im L ab yrinth m einer In te rp re ta tio n e n ste c k e n g e b lie b e n . D o n Ju a n h a tte w o h l g e sa g t, ich so lle m ich b ew egen, so b ald ich d ie d ritte P fo rte d es T räum ens erreicht hätte - und m ich b ew egen hieß für m ich laufen. Ich sagte ih m , d a ß ic h se in e Ü b e rle g u n g v e rsta n d . »E s ist gar nicht m eine Ü b erlegung«, antw o rtete er knap p . »E s ist e in e Ü b e rle g u n g d e r Z a u b e re r. D ie Z a u b e re r sa g e n , d a ß d e r E n e rg ie k ö rp e r sic h a n d e r d ritte n P fo rte b e w e g e n k a n n , so w ie
E n e rg ie sic h b e w e g t: sc h n e ll u n d d ire k t. D e in E n e rg ie k ö rp e r w eiß genau, w ie er sich bew egen soll. E r kann sich bew egen, w ie er sich in d er W elt d er ano rganischen W esen b ew egt. U nd dies bringt uns zu der F rage, um die es hier eigentlich geht«, fügte D on Juan m it nachdenklichem G esicht hinzu. »W arum hab en d eine ano rganischen F reund e d ir nicht geho lfen? « »W arum nennst d u sie m eine F reund e. D o n Juan? « »A ch, sie sind doch die klassischen F reunde - nicht direkt w ohlg e sin n t, a b e r a u c h n ic h t b ö se . F re u n d e , d ie n u r d a ra u f w a rte n , daß w ir uns um drehen, dam it sie uns einen D olch in den R ücken stoßen können.« Ich verstand ihn genau und konnte ihm hundertprozentig zustim men. »A ber w arum gehe ich im m er w ieder hin? Ist es eine Selbstm ord neigung? « fragte ich ihn, eher rheto risch. »D u hast keinerlei S elb stm o rd neigung«, sagte er. »W as d u hast, ist der völlige Zw eifel daran, daß du dem T od nahe w arst. W eil du keine kö rp erlichen S chm erzen hattest, b ist d u nicht recht üb er zeugt, d aß d u in T o d esgefahr schw eb test.« W as er sagte, klang m ir ganz vernünftig. N ur glaubte ich w irklich, daß eine tiefe, unergründliche A ngst m ein L eben beherrsche, seit ich d iesen Z usam m ensto ß m it d en ano rganischen W esen gehab t hatte. D on Juan lauschte schw eigend, w ährend ich ihm m ein D ilem m a schild erte. M einen D rang, im m er w ied er in d ie W elt d er ano rganischen W esen zurückzukehren, ko nnte ich nicht leugnen o d er hinw egerklären, tro tz allem , w as ich üb er sie w uß te. »Ich glaube, ich bin leicht verrückt«, sagte ich. »W as ich da m ache, ist unbegreiflich.« »W ohl ist es begreiflich. D ie anorganischen W esen sind noch im m er dabei, dich an L and zu ziehen - w ie einen F isch am H aken«, sagte er. »V o n Z eit zu Z eit w erfen sie d ir w ertlo se K ö d er zu. um dich bei L aune zu halten. D ieses S chem a zum B eispiel, daß deine T räum e alle vier T age w ied erkehren, ist so lch ein w ertlo ser K ö d er. A b er sie hab en d ich nicht gelehrt, d einen E nergiekö rp er zu bewegen.« »W arum , glaub st d u, hab en sie d as nicht getan? « »W eil du, w enn dein E nergiekörper lernen w ürde, sich zu bew egen, für sie nicht m ehr erreichbar w ärst. E s w ar voreilig von m ir. a n z u n e h m e n , d u h ä tte st d ic h v o n ih n e n b e fre it. D u b ist re la tiv
fre i, a b e r n ic h t g a n z . S ie w e rb e n im m e r n o c h u m d e in B e w u ß t sein.« E in S c h a u d e r lie f m ir ü b e r d e n R ü c k e n . E r h a tte b e i m ir e i n e n w u n d e n P u n k t b e rü h rt. »S a g e m ir, D o n Ju a n , w a s ic h tu n so ll. und ich w erd e es tun«, sagte ich. »V erhalte d ich m akello s, d as hab e ich d ir d utzend e M ale gesagt. M a k e llo s se in h e iß t, d e in L e b e n g a n z a u f d e in e E n tsc h e id u n g e n auszurichten - und d ann eine M enge m ehr als d ein B estes zu t u n , um d iese E ntscheid ungen zu verw irklichen. W enn d u nichts e n t sc h e id e st, sp ie lst d u n u r a u fs G e ra te w o h l R o u le tte m it d e in e m L eben.« D am it b eend ete D o n Juan unser G esp räch und fo rd erte m ich auf. üb er seine W o rte nachzud enken. B e i d e r e rste n G e le g e n h e it, d ie sic h m ir b o t, e rp ro b te ic h D o n Juans E m pfehlung, w ie ich m einen E nergiekörper bew egen könnte. A ls ich w ied er einm al m einen K ö rp er im S chlaf sah. faß te ich e in fa c h d e n W ille n sv o rsa tz , n ä h e r a n s B e tt z u tre te n , u n d m ü h te m ich nicht, auf m einen B einen dorthin zu gehen. S ofort w ar ich so nah, d aß ich b einah m einen K ö rp er anfassen ko nnte. Ich sah m ein G esicht, ich sah jed e P o re in m einer H aut. I c h kann nicht sagen, daß es m ir gefallen h ä tte , w as ich da sah. D er A nblick m eines K örpers w ar viel zu genau und d e ta illie r t, um ästhetisch angenehm zu sein. D ann fuhr etw as w ie e i n W indstoß durchs Z im m er, der alles durcheinander brachte und das B ild vor m einen A ugen auslöschte. B e i m e in e n fo lg e n d e n T rä u m e n fa n d ic h a b e r B e stä tig u n g , d a ß d ie e in z ig e A rt, w ie d e r E n e rg ie k ö rp e r sic h b e w e g e n k a n n , im G le ite n o d e r S c h w e b e n b e ste h t. I c h sp ra c h d a rü b e r m it D o n Juan. E r schien ausnahm sw eise zufried en m it m ir. w as m ich sehr ü b e rra sc h te . Ic h w a r sc h o n g e w ö h n t a n se in e k ü h le R e a k tio n a u f alles, w as ich b ei m einen T raum üb ungen ta t. »D ein E nergiekö rp er ist d aran gew ö hnt, sich nur d ann zu b ew egen, w enn etw as ihn z i e h t « , sagte er. »D ie ano rganischen W esen z ie h e n d e in e n E n e rg ie k ö rp e r n a c h l i n k s u n d n a c h re c h ts, w ie e s ih n e n b e lie b t, u n d b isla n g h a st d u i h n n o c h n ie m a ls se lb st, a u s e ig e n e m W ille n , b e w e g t. E s m a g d ir u n b e d e u te n d v o rk o m m e n . d ich so zu b ew egen, w ie d u 's getan hast: ab er ich m uß d ir sagen. d a ß ic h sc h o n e rn stlic h e rw o g e n h a b e , d e in e Ü b u n g e n z u b e e n d e n . E in e Z e itla n g g la u b te ic h g a r. d u w ü rd e st n i e le rn e n , d ic h vo n selb st zu b ew egen.«
»Wolltest du meine Traumübungen beenden, weil ich zu langsam bin?« »Du bist nicht langsam. Bei Zauberern dauert es eine Ewigkeit. bis sie lernen, ihren Energiekörper zu bewegen. Ich wollte deine Traumübungen beenden, weil ich keine Zeit mehr habe. Es gibt andere Themen, wichtigere als das Träumen, an die du deine Energie wenden kannst.« »Jetzt aber, Don Juan, da ich gelernt habe, meinen Energiekörper zu bewegen - was sollte ich jetzt noch tun?« »Dich weiterbewegen. Die Bewegung des Energiekörpers hat dir ein neues Feld eröffnet, einen Bereich ganz außerordentlicher Forschungen.« Wieder drängte er mich, mir etwas einfallen zu lassen, wie ich die Richtigkeit meiner Träume überprüfen könnte; diese Aufforde rung erschien mir nicht mehr so seltsam wie beim ersten Mal, als er sie vorbrachte. »Von einem Scout sich transportieren zu lassen, ist, wie du weißt, die eigentliche Traum-Aufgabe der zweiten Pforte«, erklärte er. »Es ist eine schwierige Sache, aber nicht so schwierig wie das Komplettieren und Bewegen des Energiekörpers. Darum mußt du dich aus eigenen Stücken vergewissern, ob du wirklich dich selbst im Schlaf siehst oder ob du lediglich träumst, daß du dich schlafen siehst. Deine neuen, außerordentlichen Forschungsmöglichkeiten sind davon abhängig, ob du dich wirklich schlafen siehst.« Nach langem Grübeln und Suchen glaubte ich. den richtigen Plan entwickelt zu haben. Die Tatsache, daß ich mein zerrissenes TShirt gesehen hatte, brachte mich auf die Idee, was ich mir als verläßliche Richtschnur wählen könnte. Ich ging von der An nahme aus, daß ich, falls ich mich wirklich im Schlaf beobachtete, wohl auch beobachten würde, ob ich das gleiche Nachtgewand trug, mit dem ich zu Bett gegangen war: und nun beschloß ich. dieses Gewand alle vier Tage gründlich zu ändern. Ich war zuver sichtlich, daß ich mich in den Träumen mühelos erinnern könnte, was ich angezogen hatte, als ich zu Bett ging. Meine in Traum übungen erworbene Disziplin machte mich glauben, daß ich die Fähigkeit hätte, mir solche Dinge zu merken und mich später im Traum daran zu erinnern. Ich tat mein Bestes, um dieser Richtschnur zu folgen, aber die
erwarteten Resultate stellten sich nicht ein. Mir fehlte die nötige Kontrolle meiner Traum-Aufmerksamkeit, und ich konnte mich nicht an Einzelheiten meines Nachtgewandes erinnern. Doch etwas anderes war hier im Spiel: irgendwie wußte ich immer, ob meine Träume gewöhnliche Träume waren oder nicht. Solche Träume, die nicht nur gewöhnliche Träume waren, zeichneten sich dadurch aus, daß mein Körper schlafend im Bett lag, während mein Bewusstsein ihn beobachtete. Ein bemerkenswertes Merkmal solcher Träume war mein Zimmer. Nie war es mein Zimmer, wie in der Wirklichkeit des Alltags, sondern eine riesige leere Halle, an deren einem Ende mein Bett stand. Immer musste ich über eine ziemliche Distanz bis an mein Bett gleiten, wo mein Körper lag. War ich dort angekommen, dann ließ eine Kraft, wie ein Windhauch, mich über dem Bett schweben - wie ein Kolibri. Manchmal verschwand das Zimmer auch ganz Stück um Stück schwindend, bis nur noch mein Körper und das Bett übrig waren. Bei anderen Gelegenheiten erlebte ich den völligen Verlust meiner Willenskraft. Meine TraumAufmerksamkeit schien unabhängig von mir zu funktionieren. Entweder war sie ganz absorbiert vom erstbesten Gegenstand, den sie im Zimmer entdeckte, oder sie konnte nicht entscheiden, was nun zu tun sei. In solchen Fällen hatte ich das Gefühl, hilflos von Gegenstand zu Gegenstand zu schweben. Die Stimme des Traumbotschafters erklärte mir einmal, daß alle Elemente der Träume, und zwar solcher Träume, die nicht nur gewöhnliche Träume waren, tatsächlich energetische Konfigurationen seien, ganz verschieden von denen unserer Welt. Zum Beispiel machte der Botschafter mich darauf aufmerksam, daß die Wände flüssig wären. Er forderte mich auf, mich in eine hineinzustürzen. Ohne nachzudenken, hechtete ich in eine der Wände, als ob ich in einen See tauchte. Ich spürte die Wand, die sich wie Wasser ver hielt, überhaupt nicht. Was ich empfand, war nicht das körperliche Gefühl, ins Wasser einzutauchen. Es war eher wie der Gedanke an einen Kopfsprung, so etwas wie die visuelle Empfindung, durch flüssige Materie hindurchzugehen. Ich tauchte kopfüber in etwas ein, das nachgab, wie Wasser es tut, während ich weiter abwärtsschoß. Das Gefühl, kopfüber abwärtszuschießen, war so real, daß ich
m ich b ereits fragte, w ie lange o d er w ie tief o d er w ie w eit ich tau chen w ürd e. A us m einer S icht b lieb ich eine ganze E w igkeit d o rt. Ich sah W o lken und M assen steinerner M aterie in einer w ässrigen S ub stanz schw eb en. D a gab es leuchtend e geo m etrische F iguren, d ie K rista lle n g lic h e n , u n d F le c k e n v o n in te n siv ste n P rim ä rfa rb e n , w ie ic h sie n ie g e se h e n h a b e . E s g a b a u c h Z o n e n g re lle n L ichtes und and ere vo n tiefer S chw ärze. A ll d ies zo g an m ir vo rb e i, la n g sa m o d e r m it h o h e r G e sc h w in d ig k e it. M ir k a m d e r G e d a n k e , ic h sä h e d e n g a n z e n K o sm o s. Im se lb e n A u g e n b lic k , als ich dies dachte, steigerte sich m eine G eschw indigkeit so ungeh e u e r, d a ß a lle s w ie v e rw isc h t e rsc h ie n , u n d p lö tz lic h fa n d ic h m ic h w a c h lie g e n , u n d v o r m e in e r N a se d ie W a n d m e in e s Z im m ers. E ine heim liche F urcht zw ang m ich, D o n Juan um R at zu fragen. E r h ö rte a u fm e rk sa m z u , h in g g e ra d e z u a n m e in e n L ip p e n . »A n d ie se m P u n k t d e r E n tw ic k lu n g m u ß t d u e in e n d ra stisc h e n R ichtungsw echsel vo rnehm en«, sagte er. »D er T raum b o tschafter hat kein R echt, sich in d eine T raum üb ungen einzum ischen. O d er v ie lm e h r, d u so llte st e s ih m u n te r k e in e n U m stä n d e n e rla u ben.« »W ie kann ich ihn d aran hind ern? « »D a h ilft e in e in fa c h e s, a lle rd in g s sc h w ie rig e s M a n ö v e r. B e i m E in tre te n in d a s T rä u m e n so llst d u la u t d e in e n W u n sc h ä u ß e rn , d e n T ra u m b o tsc h a fte r n ic h t m e h r b e i d ir z u h a b e n .« »H eiß t d as, d aß ich i h n nie w ied er hö ren w erd e? « »G enau. D u w irst i h n für im m er los s e in .« »A b e r ist e s d e n n ra tsa m , ih n fü r im m e r lo sz u w e rd e n ? « »G a n z b e stim m t, je d e n fa lls z u d ie se m Z e itp u n k t.« M it d ie se n W o rte n stü rz te D o n Ju a n m ic h in e i n se h r b e u n ru h i g e n d e s D ile m m a . Ic h w o llte m e in e B e z ie h u n g z u m B o tsc h a fte r e ig e n tlic h n ic h t b e e n d e n , a b e r z u g le ic h h a tte ic h d e n W u n sc h . D o n Ju a n s R a tsc h la g z u fo lg e n . E r b e m e rk te m e in Z ö g e rn . »Ich w eiß, es ist ein schw ieriges V orhaben«, gab er zu, »aber w enn d u 's n ic h t tu st, w e rd e n d ie a n o rg a n isc h e n W e se n im m e r e in e n D raht zu d ir hab en. F alls d u d ies verm eid en w illst, tu nur, w as ich gesagt hab e, und tu es gleich.« B ei m einer nächsten T raum sitzung, w ährend ich m ich darauf vor b e re ite te , m e in e A b sic h t a u sz u sp re c h e n , u n te rb ra c h m ic h d ie S tim m e des B otschafters. S ie sagte: »W enn du darauf verzichtest.
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deinen Wunsch auszusprechen, verspreche ich dir. mich nie mehr in deine Traumübungen einzumischen und nur dann zu dir zu sprechen, wenn du mir direkte Fragen stellst.« Sofort akzeptierte ich den Vorschlag und glaubte aufrichtig, dies sei eine gute Abmachung. Ich war sogar erleichtert, daß die Sache so ausgegangen war. Ich fürchtete aber, daß Don Juan enttäuscht sein würde. »Das war ein gutes Manöver«, bemerkte er lachend. »Du warst jedenfalls aufrichtig. Du hattest wirklich die Absicht, deinen Wunsch zu äußern. Aufrichtig zu sein ist alles, worauf es an kommt. Du hattest ja eigentlich nicht nötig, den Botschafter auszuschalten. Statt dessen konntest du ihn zwingen, eine andere, dir angenehme Möglichkeit vorzuschlagen. Ich bin überzeugt, der Botschafter wird sich nicht mehr einmischen.« Don Juan hatte recht. Ich konnte meine Traumübungen fortsetzen, ohne vom Botschafter belästigt zu werden. Die bemerkenswerte Folge war, daß ich nun Träume hatte, in denen die Zimmer im Traum meinem Zimmer in der alltäglichen Wirklichkeit entsprachen - mit einem Unterschied: in den Träumen war mein Zimmer stets so schief, so verzerrt, daß es aussah wie ein riesiges kubistisches Gemälde. Stumpfe und spitze Winkel herrschten vor. statt der normalen rechten Winkel von Wänden, Decke und Fußboden. In meinem schiefen Zimmer war die durch stumpfe und spitze Winkel hervorgerufene Verzerrung ein Mittel, um gewisse absurde, überflüssige, aber reale Details hervorzuheben; zum Beispiel verschlungene Linien im Parkettboden oder witterungsbedingte Verfärbungen des Wandanstrichs, Staubflecken an der Decke oder verwischte Fingerabdrücke an einer Türkante. In diesen Träumen verirrte ich mich unvermeidlich in den wasserähnlichen Universen der durch die Verzerrung hervorgehobenen Details. Bei all diesen Traumübungen gab es eine solche Fülle von Einzelheiten in meinem Zimmer, und deren Sog war so intensiv. daß ich immer sofort gezwungen war. darin einzutauchen. Sobald ich mich wieder freimachen konnte, war ich bei Don Juan und befragte ihn nach diesem Stand der Dinge. »Ich werde nicht mit meinem Zimmer fertig«, sagte ich, nachdem ich ihm die Details meiner Traumübungen geschildert hatte. »Wie kommst du auf die Idee, du müßtest damit fertig werden?« fragte er grinsend.
»Ich habe das G efühl, ich sollte m ich über m ein Z im m er hinaus bew egen, D on J u a n .« »A ber du bew egst dich doch über dein Zim m er hinaus. V ielleicht solltest du dich fragen, ob du dich nicht w ieder in deinen Inter p re ta tio n e n v e rfa n ge n h a st. W a s gla u b st d u d e n n , b e d e u te t in diesem Fall, sich zu bew egen?« U nd so erzählte ich ihm . daß das H inausgehen aus m einem Zim m er, hinunter auf die Straße ein so eindringlicher T raum für m ich gew esen w ar, daß ich m ich w irklich gedrängt sah, es noch einm al zu tun. »A b e r d u tu st je tz t v ie l grö ß e re D in ge «, p ro te stie rte e r. »D u dringst in unglaubliche R egionen vor. W as w illst du m ehr?« Ich versuchte ihm klarzum achen, daß ich geradezu einen physisch en D ran g versp ü rte, m ich au s d er F essel d er D etails zu b efreien. W as m ich am m eisten beunruhigte, w ar m eine U nfähigkeit, m ich loszum achen von allem , w as m eine A ufm erksam keit fesselte. E in M inim um an eigenem W illen zu haben, w ar für m ich unerläßlich. D arauf folgte ein langes Schw eigen. Ic h erw artete m ehr über die Fessel der D etails zu erfahren. Im m erhin hatte er m ich vor deren G efahren gew arnt. »D u m ach st d ein e S ach e g u t « , sagte er sch ließ lich . »E s d au ert seh r lan ge, b is T räu m er ih ren E n ergiekö rp er vervo llstän d igen . U nd genau darum geht es hier: näm lich um die V ervollständigung des E nergiekörpers.« D er G rund, w arum m ein E nergiekörper a lle rle i D etails untersu chen und sich unlösbar darin verstricken m üsse, erklärte m ir D on Ju an , sei d essen U n erfah ren h eit, sein e U n vo llstän d igkeit. E r sagte, daß Zauberer e in Leben la n g dam it beschäftigt s in d , i h r e n Energiekörper zu konsolidieren, indem sie i h n alles m ögliche auf saugen lassen. »B evor der E nergiekörper vollständig und reif entw ickelt ist. neigt er zur Selbstvergessenheit. E r kann sich nicht von dem Zw ang befreien, sich von allem und jedem absorbieren zu lassen. W enn m an d ies ab er b erü cksich tigt, statt gegen d en E n ergiekö rp er an zu käm pfen, w ie du es jetzt tu st, kann m an ih m behilflich se in .« »W ie könnte ich das t u n . D on Juan?« »Indem du sein V erhalten steuerst, das heißt indem du i h n an pirschst.«
Und er erklärte mir, daß das Pirschen - weil alles, was mit dem Energiekörper zusammenhängt, von der richtigen Position des Montagepunktes abhängig ist und weil Träumen nichts anderes ist, als diesen zu verschieben - folglich das geeignete Mittel sei. um den Montagepunkt in der richtigen Position verweilen zu lassen; in diesem Fall dort, wo der Energiekörper sich konsolidieren und von wo er schließlich hervorgehen kann. Nun glauben die Zauberer, sagte Don Juan, daß die optimale Position des Montagepunktes erreicht ist, sobald der Energiekörper sich von selbst bewegen kann. Der nächste Schritt ist dann, den Montagepunkt anzupirschen, das heißt ihn in dieser Position zu fixieren, um den Energiekörper zu komplettieren. Und er meinte, daß dieser Vorgang das Einfachste von der Welt sei: man braucht nur die Absicht, ihn anzupirschen. Schweigen und erwartungsvolle Blicke folgten auf diese Eröffnung. Ich erwartete, er würde noch mehr sagen. Und er erwartete, daß ich verstanden hätte, was er gesagt hatte. Das hatte ich nicht. »Du lässt deinen Energiekörper einfach beabsichtigen, die opti male Traumposition zu erreichen«, erklärte er. »Dann lässt du deinen Energiekörper beabsichtigen, in dieser Position zu bleiben, und schon pirschst du.« Er sah mich an und drängte mich augenzwinkernd, über seine Worte nachzudenken. »Das Geheimnis liegt in der Absicht; aber das weißt du schon«, sagte er. »Die Zauberer verschieben ihren Montagepunkt, indem sie es beabsichtigen, und sie fixieren ihn auch, indem sie es beabsichtigen. Für das Beabsichtigen aber gibt es keine Technik. Man beabsichtigt einfach, indem man beabsichtigt.« An diesem Punkt war es unvermeidlich, daß ich mir wieder einmal kühne Vorstellungen über meinen Wert als Zauberer machte. Ich hatte grenzenloses Vertrauen, daß irgend etwas mich auf die richtige Spur bringen würde, wie ich meinen Montagepunkt in die Idealposition beabsichtigen könnte. Schon früher waren mir alle möglichen Manöver gelungen, ohne daß ich wußte, wie sie mir gelangen. Don Juan selbst staunte über meine Fähigkeit oder mein Glück, und ich war sicher, daß es auch diesmal klappen würde. Das war ein schwerer Irrtum. Was ich auch tat, wie lange ich auch wartete, gelang es mir doch nie, meinen Montagepunkt
a n irg e n d e in e r S te lle z u fix ie re n , g e sc h w e ig e d e n n a n d e r id e a len. N ach M onaten ernsten, w enn auch erfolglosen B em ühens gab ich e s a u f. »Ic h d a c h te w irk lic h , ic h k ö n n te e s«, sa g te ic h z u D o n Ju a n , k a u m w a r ic h b e i ih m e in g e tre te n . »Ic h fü rc h te , ic h le id e m ehr d enn je an S elb stüb erschätzung.« »N icht w irklich«, sagte er lächelnd . »T atsächlich b ist d u w ied er einm al auf deine N eigung hereingefallen, B egriffe falsch zu inter p re tie re n . D u su c h st d ie id e a le S te lle d e s M o n ta g e p u n k te s, a ls su c h te st d u d e in e v e rlo re n e n A u to sc h lü sse l. U n d d a n n w illst d u d en M o ntagep unkt festb ind en, als ginge es d arum , d eine S chuhe zu binden. D ie ideale S telle und die F ixierung des M ontagepunkte s sin d d o c h M e ta p h e rn . B e id e s h a t n ic h ts m it d e n W ö rte rn z u tun, d ie w ir zu ihrer B eschreib ung verw end en.« U n d n u n b a t e r m ic h , ih m v o n d e n le tz te n E re ig n isse n m e in e r T ra u m ü b u n g e n z u b e ric h te n . A ls e rste s e rz ä h lte ic h , d a ß m e in Z w ang, m ich vo n E inzelheiten ab so rb ieren zu lassen, tatsächlich n a c h g e la sse n h a tte . V ie lle ic h t la g e s d a ra n , m e in te ic h , d a ß ic h m ich in den T räum en unaufhörlich - w ie zw anghaft - bew egte. S o kö nnte d iese B ew egung m ich d aran gehind ert hab en, m ich in d ie D etails zu stürzen, die ich beobachtete. A uf diese W eise gebrem st zu w erden, gab m ir aber die C hance, den V organg des A bsorbiertw e rd e n s d u rc h D e ta ils n ä h e r z u u n te rsu c h e n . Ic h k a m z u d e m S c h lu ss, d a ß u n b e le b te M a te rie w irk lic h e in e lä h m e n d e K ra ft h a tte : ic h sa h sie ste ts a ls d u n k le n L ic h tstra h l, d e r m ic h a n O rt und S telle festhielt. M anchm al sand te zum B eisp iel ein w inziger F le c k a n d e n W ä n d e n o d e r a u f d e m P a rk e ttb o d e n m e in e s Z im m ers eine L ichtlinie aus, die m ich versteinerte. V on dem A ugenb lic k , d a m e in e T ra u m A u fm e rk sa m k e it sic h a u f d ie s L ic h t k o n z e n trie rte , d re h te sic h d e r g a n z e T ra u m u m d ie se n w in z ig e n F le c k . Ic h sa h ih n v e rg rö ß e rt m a n c h m a l b is z u m U m fa n g d e s ganzen K osm os. S olche B ilder hielten a n , bis ich erw achte - m eist m it d er N ase an d er W and o d er am H o lzb o d en d es Z im m ers. Ich h a tte d a n n im m e r d e n E in d ru c k , d a ß d ie se s D e ta il, e rste n s, re a l w a r; u n d d a ß ic h e s, z w e ite n s, b e o b a c h te t h a tte , w ä h re n d ic h schlief. D o n Ju a n lä c h e lte u n d sa g te : »A ll d ie s g e sc h a h d ir, w e il d e in E n e rg ie k ö rp e r v o llstä n d ig w a r, a ls e r sic h v o n se lb st b e w e g te . D ie s h a b e ic h d ir n ic h t g e sa g t, a b e r im m e rh in a n g e d e u te t. Ic h
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wollte sehen, ob du es allein herausfinden könntest - was dir na türlich gelungen ist.« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Don Juan sah mich. wie immer, prüfend an. Sein durchdringender Blick glitt über meinen ganzen Körper. »Was habe ich eigentlich allein herausgefunden. Don Juan?« musste ich ihn fragen. »Du hast herausgefunden, daß dein Energiekörper komplett war«, antwortete er. »Ich habe nichts dergleichen herausgefunden, das kann ich dir versichern.« »Doch, das hast du. Angefangen hat es schon vor einiger Zeit, als es dir nicht gelang, eine Richtschnur zu finden, um die Realität deiner Träume zu überprüfen. Dann aber begann irgend etwas für dich zu arbeiten - und ließ dich wissen, ob du einen normalen Traum hattest oder nicht. Dieses Etwas war dein Energiekörper. Und jetzt verzweifelst du daran, daß du nicht die ideale Stelle finden kannst, um deinen Montagepunkt zu fixieren. Aber ich sage dir, du hast sie schon gefunden. Der Beweis ist, daß dein Energiekörper, wenn er sich umherbewegt, nicht mehr so zwanghaft an den Details interessiert ist.« Ich war verblüfft. Ich konnte nicht einmal eine meiner törichten Fragen stellen. »Was dir nun bevorsteht, ist ein Juwel für die Zauberer«, fuhr Don Juan fort. »Du wirst üben, in deinen Träumen Energie zu sehen. Die Aufgabe der dritten Traumpforte hast du erfüllt, nämlich, den Energiekörper von selbst sich bewegen zu lassen. Jetzt sollst du die eigentliche Aufgabe erfüllen: Energie zu .sehen, mit deinem Energiekörper. Tatsächlich hast du schon oft Energie gesehen«, fuhr er fort. »Aber das Sehen war jedesmal Zufall. Jetzt sollst du es aus eigenem Willen tun. Die Träumer haben eine Faustregel«, fuhr er fort. »Wenn ihr Energiekörper komplett ist. sehen sie Energie immer dann, wenn sie einen Gegenstand der alltäglichen Welt anstarren. Wenn sie im Traum die Energie eines Gegenstandes sehen, wissen sie, daß sie es mit einer realen Welt zu tun haben, ganz gleich, wie verzerrt diese Welt ihrer Traum-Aufmerksamkeit erscheinen mag. Wenn sie nicht die Energie eines Gegenstands sehen, 171
sind sie in einem gewöhnlichen Traum, nicht in einer realen Welt.« »Was ist eine reale Welt, Don Juan?« »Eine Welt, die Energie hervorbringt; das Gegenteil einer Phan tomwelt von Projektionen, wo keine Energie erzeugt wird, wie in den meisten unserer Träume, wo nichts einen energetischen Effekt hat.« Und dann gab Don Juan mir eine neue Definition des Träumens: ein Prozeß, durch den Träumer jene Bedingungen des Träumens isolieren, durch die sie Energie erzeugende Elemente im Traum finden können. Anscheinend guckte ich verständnislos. Don Juan erkannte mein Dilemma und gab mir lachend noch eine weitere. noch kompliziertere Definition: Träumen ist ein Prozeß, durch den wir beabsichtigen, adäquate Positionen des Montagepunktes zu finden - Positionen, die uns erlauben, Energie erzeugende Ge genstände in traumverwandten Zuständen wahrzunehmen. Und er erklärte mir, daß der Energiekörper auch solche Energie wahrnehmen kann, die ganz verschieden ist von jener unserer Welt, wie im Fall der Traumgegenstände im Reich der anorgani schen Wesen, die der Energiekörper als brutzelnde Energie wahr nehme. In unserer Welt, fügte er hinzu, brutzeln die Dinge nicht; hier flimmern sie. »Von nun an«, sagte er, »geht es bei deinem Träumen darum, her auszufinden, ob die Gegenstände, auf die du deine Traum-Auf merksamkeit konzentrierst, Energie erzeugen. Ob sie bloße Phan tomprojektionen sind, oder Generatoren fremder Energie.« Don Juan gestand mir, er habe gehofft, daß ich selbst auf die Idee kommen würde, Energie selbst als Maßstab zu wählen, um zu bestimmen, ob ich meinen realen Körper im Schlaf beobachtete oder nicht. Er lachte herzlich über meinen dürftigen Trick, alle vier Tage beim Schlafengehen eine ausgesuchte Verkleidung an zulegen. Wohl hätte ich alle nötigen Informationen zur Verfügung gehabt, meinte er, um herauszufinden, was die eigentliche Auf gabe an der dritten Pforte des Träumens sei; aber mein Interpre tationsschema habe mich gezwungen, ausgefallene Lösungen zu suchen, denen vor allem eines fehlte: die Einfachheit und Direktheit der Zauberei. 172
9. Das neue Forschungsgebiet
Um beim Träumen zu sehen, sagte Don Juan, müsse ich nicht nur das Sehen beabsichtigen, sondern auch meine Absicht laut aus sprechen. Aus Gründen, die er allerdings nicht erklären wollte. beharrte er darauf, ich müsse dies laut sagen. Wohl räumte er ein. es gebe auch andere Mittel zum selben Zweck, aber er war überzeugt, das Aussprechen der eigenen Absicht sei der einfachste und direkteste Weg. Als ich nun zum erstenmal meine Absicht, zu sehen, in Worte faß-te, träumte ich von einem Kirchen-Basar. So viele Gegenstände waren dort aufgeboten, daß ich mich nicht entschließen konnte, welchen ich anstarren sollte. Eine auffällige große Vase in einer Ecke nahm mir die Entscheidung ab. Ich starrte sie an und äußerte meine Absicht, zu sehen. Die Vase blieb kurz in meinem Blick, dann verwandelte sie sich in einen anderen Gegenstand. In diesem Traum starrte ich so viele Dinge an, wie ich nur konnte. Hatte ich meine Absicht ausgesprochen, zu sehen, dann verschwand jeder dieser Gegenstände oder verwandelte sich in etwas anderes, wie es schon immer in meinen Traumübungen geschehen war. Schließlich war meine Traum-Aufmerksamkeit erschöpft, und ich erwachte sehr frustriert, beinah wütend. Endlose Monate starrte ich dann im Traum auf Hunderte von Gegenständen und äußerte vorsätzlich meine Absicht, zu sehen, aber nie geschah etwas. Des Wartens müde, musste ich schließlich Don Juan um Rat fragen. »Du brauchst Geduld«, sagte er. »Du bist im Begriff, etwas ganz Außerordentliches zu lernen. Du lernst, im Traum das Sehen zu beabsichtigen. Eines Tages wirst du nicht mal mehr deine Absicht aussprechen müssen. Du wirst sie einfach durch deinen stummen Willen verwirklichen.« »Ich glaube, ich habe nicht verstanden, was ich da mache«, sagte ich. »Nichts geschieht, wenn ich meine Absicht, zu sehen, laut hinausrufe. Was hat das zu bedeuten?« 173
»E s bedeutet, daß deine T räum e bislang gew öhnliche T räum e w are n . E s w a re n P h a n to m p ro je k tio n e n - B ild e r, d ie n u r in d e in e r T raum -A ufm erksam keit lebendig sind.« E r w ollte genau w issen, w as m it den G egenständen passierte, auf d ie ich m ein en B lick rich tete. Ich sagte, d aß sie versch w an d en . ih re G e sta lt v e rä n d e rte n o d e r so ga r W irb e l v e ru rsa c h te n , d ie m ich schließlich in einen anderen T raum überw echseln lie ßen. »S o w ar es bei all m einen regelm äßigen T raum übungen«, sagte ich. »D as einzig U ngew öhnliche ist, daß ich lerne, im T raum aus vollem H als zu brüllen.« B ei m einen letzten W orten bog sich D on Juan vor Lachen, w as ich ziem lich unangenehm fand. Ich sah w eder das K om ische m einer Ä ußerung noch den G rund für seine R eaktion. »E ines T ages w irst du erkennen, w ie kom isch das ist«, sagte er - gleichsam als A ntw ort auf m einen stum m en P rotest. »E instw eilen ab er gib n ich t au f u n d laß d ich n ich t en tm u tigen . B em ü h e d ich w eiter. F rü h er o d er sp äter triffst d u d en rich tigen T o n .« E r h a tte re c h t, w ie im m e r. E in p a a r M o n a te sp ä te r m a c h te ic h ein en gro ß en T reffer. E s w ar ein gan z u n gew ö h n lich er T rau m . G leich anfangs erschien ein Scout aus der W elt der anorganischen W esen . D ie S co u ts, w ie au ch d er T rau m b o tsch after, h atten b is d ah in seltsam erw eise in m ein en T räu m en gefeh lt. Ich h atte sie n ich t verm iß t, au ch n ich t n ach ged ach t ü b er ih r V ersch w in d en . T atsächlich w ar ich so zufrieden m it ihrer A bw esenheit, daß ich vergessen hatte, D on Juan davon zu berichten. In diesem T raum w ar der Scout zuerst e in riesiger gelber T opas, d en ich in ein er S ch u b lad e fan d . K au m äu ß erte ich m ein e A b sicht, zu sehen, da verw andelte der T opas sich in einen T ropfen brutzelnder E nergie. Ich fürchtete schon, ihm folgen zu m üssen, d aru m w an d te ich m ein en B lick ab vo n d em S co u t u n d rich tete ihn auf ein A quarium m it tropischen F ischen. Ich äußerte m eine A bsicht, zu sehen, und erlebte eine gew altige Ü berraschung. D as A quarium leuchtete m it einem schw achen, grünlichen L icht und verw andelte sich in das große, surrealistische P orträt einer juw elengeschm ückten Frau. D as P orträt strahlte das gleiche grünliche L icht aus, w enn ich m eine A bsicht aussprach, zu sehen. W ä h re n d ic h in d ie se s L ic h t sta rrte , v e rä n d e rte sic h d e r ga n z e T raum . N un w anderte ich durch eine Straße- in einer Stadt, die m ir 17/1
bekannt vorkam. Es hätte Tucson sein können. Ich starrte auf Da menbekleidung in einem Schaufenster und äußerte laut meine Ab sicht, zusehen. Sofort begann eine schwarze Kleiderpuppe im Vor dergrund zu leuchten. Dann starrte ich eine Verkäuferin an, die in diesem Augenblick hinzutrat, um das Schaufenster umzudekorie ren. Sie sah mich an. Nachdem ich meine Absicht ausgesprochen hatte, sah ich sie leuchten. Es war so verblüffend, daß ich schon fürchtete, von irgendeinem Detail in ihrem strahlenden Glanz ge fesselt zu werden, aber die Frau trat wieder in die Tür zurück, bevor ich Zeit fand, meine Aufmerksamkeit ganz auf sie zu konzentrieren. Natürlich hatte ich die Absicht, ihr ins Innere des Geschäfts zu folgen. Doch meine Traum-Aufmerksamkeit wurde von einem beweglichen Lichtschein gefangengenommen. Hasserfüllt kam er auf mich losgestürzt. Ja, es lag Abscheu und Bosheit in diesem Licht. Ich sprang zurück. Das Licht verhielt in seinem Angriff. Eine schwarze Substanz verschlang mich, und ich erwachte. So lebhaft waren diese Bilder gewesen, daß ich fest glaubte, ich hätte Energie im Traum gesehen und dieser Traum sei einer jener Zustände, die Don Juan als traumverwandt bezeichnet hatte und die Energie erzeugten. Die Vorstellung, daß Träume in der geläufigen Realität unserer Alltagswelt stattfinden können, faszinierte mich sehr, genau wie die Bilder im Reich der anorganischen Wesen mich fasziniert hatten. »Diesmal hast du nicht nur Energie gesehen, sondern eine gefähr liche Grenze überschritten«, sagte Don Juan, nachdem er meinen Bericht angehört hatte. Er wiederholte mir. daß der Drill der dritten Traumpforte den Zweck habe, den Energiekörper von selbst sich bewegen zu lassen. In meiner letzten Traumsitzung, sagte er, hätte ich ungewollt den Effekt dieses Trainings übertroffen und sei in eine andere Welt hinübergewechselt. »Dein Energiekörper hat sich bewegt«, sagte er. »Er hat von selbst eine Reise angetreten. Doch eine solche Reise übersteigt momentan deine Fähigkeiten. Und irgend etwas hat dich ange griffen.« »Was, glaubst du, war es, Don Juan?« »Dies ist ein räuberisches Universum«, sagte er. »Es mag eines der unzähligen Wesen gewesen sein, die es dort draußen gibt.« »Warum, glaubst du, hat es mich angegriffen?« 17S
»A us dem gleichen G rund, w eshalb die anorganischen W esen dich angriffen: w eil du dich zugänglich m achtest.« »Ist es so einfach, D on Juan?« »G ew iß. E s ist so einfach w ie das, w as du tun w ürdest, w enn e in e unheim liche Spinne über deinen T isch krabbelte, w ährend du m it S ch reib en b esch äftig t w ärst. D u w ü rd est sie zerd rü ck en , au s Furcht, statt ihre Schönheit zu bew undern oder zu studieren.« Ich w ar verlegen und suchte nach W orten, um die richtige Frage zu stellen. Ich w ollte ihn fragen, w o m ein T raum w ohl stattgefunden hatte oder in w elcher W elt ich in jenem T raum gew esen w ar. S o lc h e F ra g e n a b e r w ä re n sin n lo s g e w e se n , d a s v e rsta n d ic h selbst. D on Juan w ar sehr m itfühlend. »D u m öchtest w issen, w orauf deine T raum -A ufm erksam keit sich konzentrierte, nicht w ahr?« fragte er grinsend. G enau das w ar es, w as ich m it m einer Frage ausdrücken w o llte . Ich unterstellte, daß ich in dem betreffenden T raum w ohl e in reales O b jek t an g esch au t h atte. G en au d as g leich e, w as g esch ah . w enn ich in m einen T räum en die w inzigsten D etails am Fußboden, an den W änden oder an der T ür m eines Zim m ers sah - la u te r E inzelheiten, die, w ie ich später bestätigt fand, tatsächlich e x istierten. D on Juan sagte, daß unsere T raum -A ufm erksam keit bei besonderen T räu m en w ie jen em , d en ich g eh ab t h atte, sich au f u n sere A lltagsw elt konzentriere und in dieser W elt von einem realen O bjekt zum anderen springe. W as diese B ew egung erm ögliche, sei die T atsache, daß der M ontagepunkt sich in der richtigen P osition befinde. A us dieser P osition könne der M ontagepunkt der T raum A ufm erksam keit solche B ew eglichkeit verleihen, daß sie im B ruchteil einer S ekunde unglaubliche D istanzen zurücklege und dabei so rasche und flüchtige W ahrnehm ungen hervorrufe. daß diese einem gew öhnlichen T raum glichen. In m einem T raum , erklärte D on Juan, hätte ich eine reale V ase gesehen, und dann habe sich m eine T raum -A ufm erksam keit über eine w eite D istanz bew egt, um das surrealistische B ild einer juw elengeschm ückten Frau zu sehen. D as E rgebnis - abgesehen davo n , d aß ich E n erg ie g eseh en h ätte - sei ein em g ew ö h n lich en T rau m seh r äh n lich g ew esen , b ei d em d ie G eg en stän d e, w en n m an sie anstarrt, sich rasch in etw as anderes verw andeln.
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»Ic h w e iß , w ie b e u n ru h ig e n d d a s a lle s ist«, fu h r e r fo rt, m e in e r B e stü rz u n g w o h l b e w u ß t. »A u s irg e n d e in e m G ru n d , d e r m it d e r F u n k tio n u n se re s G e iste s z u sa m m e n h ä n g t, ist e s e rsc h ü tte rn d e r als alles and ere, w enn m an E nergie im T raum sieh t.« Ich w andte ein, ich hätte schon früher E nergie im T raum gesehen. N ie ab er hab e es m ich so m itgeno m m en. »D e in E n e rg ie k ö rp e r ist je tz t k o m p le tt u n d e in sa tz fä h ig «, sa g te er. »W enn du also E nergie im T raum siehst, nim m st du eine reale W e lt w a h r - w e n n a u c h im G e w a n d e in e s T ra u m e s. D a s ist d ie B ed eutung d er R eise, d ie d u unterno m m en hast. S ie w ar real. E s gab E nergie erzeugend e O b jekte, d ie d ich b einah d as L eb en ko steten.« »W ar es denn so gefährlich. D on J u a n ? « »D a kannst d u w etten! D as W esen, d as d ich angriff, b estand aus reiner B ew ußtheit und w ar so gefährlich, w ie etw as nur gefährlich sein kann. D u hast seine E nergie gesehen. Ich bin sicher, du w eißt jetzt, daß w ir, solange w ir nicht im T raum sehen, ein reales, E nerg ie e rz e u g e n d e s O b je k t n ic h t v o n e in e r P h a n to m p ro je k tio n u n terscheid en kö nnen. A uch w enn d u also in einen K am p f m it d en a n o rg a n isc h e n W e se n v e rw ic k e lt w u rd e st, a u c h w e n n d u d ie S couts und die T unnel tatsächlich gesehen h a s t, w eiß dein E ner giekö rp er nicht m it G ew iß heit. o b sie real w aren, d as heiß t o b sie E nergie erzeugten. D u bist dir zu neunundneunzig P rozent sicher. nicht zu hund ert P ro zent.« D o n Ju a n w o llte n o c h w e ite r ü b e r d ie R e ise sp re c h e n , d ie ic h u n te rn o m m e n h a tte . A u s e i n e m u n e rk lä rlic h e n G ru n d w id e r strebte es m ir, dieses T hem a zu behandeln. W as er sagte, r i e f bei m ir so fo rt eine so nd erb are R eaktio n hervo r. Ich m erkte, d aß ich m ic h m it e in e r tie fe n u n d se ltsa m e n F u rc h t a u se in a n d e rse tz e n m u sste ; e in e r d u n k le n F u rc h t, d ie im In n e rn a n m ir n a g te . »D u b ist e in d e u tig in e in e a n d e re H a u t d e r Z w ie b e l v o rg e sto ß en«, sagte D o n Juan zum A b schluß einer E rklärung, auf d ie ich nicht w eiter geachtet hatte. »W as ist d iese and ere H aut d er Z w ieb el. D o n Juan? « »D ie W elt ist w ie eine Z w iebel. S ie hat viele S chichten. D ie W elt, d ie w ir kennen, ist nur eine d avo n. M anchm al üb erschreiten w ir die G renzen und stoßen in eine andere S chicht vor: in eine andere W elt, dieser ganz ähnlich, aber nicht dieselbe. U nd du bist in eine d avo n vo rgesto ß en, ganz vo n selb st.« 177
»W ie ist diese R eise m öglich, von der du sprichst. D on Juan?« »D as ist eine sinnlose F rage, denn niem and kann sie beantw orten. N a c h A u ffa ssu n g d e r Z a u b e re r ist d a s U n iv e rsu m in S c h ic h te n a u fg e b a u t, d ie d e r E n e rg ie k ö rp e r d u rc h q u e re n k a n n . W e iß t d u . w o d ie alten Z aub erer no ch b is zum heutigen T ag leb en? In einer a n d e re n S c h ic h t; in e in e r a n d e re n H a u t d e r Z w ie b e l.« »F ür m ich ist d ie V o rstellung einer realen und p raktischen R eise, d ie ic h im T ra u m u n te rn e h m e , se h r sc h w e r z u v e rste h e n o d e r z u akzeptieren, D on J u a n . « »D ie se s T h e m a h a b e n w ir d o c h e rsc h ö p fe n d d isk u tie rt. Ic h w a r ü b e rz e u g t, d u h ä tte st v e rsta n d e n , d a ß d ie R e ise d e s E n e rg ie k ö rpers ausschließlich von der P osition des M ontagepunkts abhängig ist.« »D a s h a st d u m ir g e sa g t. U n d ic h h a b e im m e r w ie d e r d a rü b e r nachged acht. D enno ch ist d ie A ussage, d aß d ie R eise in d er P o sitio n d es M o ntagep unktes stattfind et, für m ich sinnlo s.« »D eine S chw ierigkeit ist d ein Z ynism us. F rüher w ar ich w ie d u. D e r Z yn ism u s e rla u b t u n s n i c h t , u n se r W e ltv e rstä n d n is k o n se q uent zu veränd ern. E r zw ingt uns auch zu d er Ü b erzeugung, d aß w ir im m er recht h ä tte n .« Ic h v e rsta n d d u rc h a u s, w a s e r m e in te . A b e r ic h m u sste ih n d o c h d a ra n e rin n e rn , w ie ic h g e g e n a ll d ie s a n g e k ä m p ft h a tte . »Ic h m ö c h te d ir e tw a s g a n z V e rrü c k te s v o rsc h la g e n , d a s e in e W endung herbeiführen könnte«, sagte er. »W iederhole dir unauf h ö rlic h , d a ß d a s M yste riu m d e s M o n ta g e p u n k te s d e r D re h - u n d A ngelpunkt der Z auberei ist. W enn du es dir lange genug w ieder h o lst, w ird e in e u n sic h tb a re K ra ft d ie F ü h ru n g ü b e rn e h m e n u n d d ie geeigneten V eränd erungen in d ir b ew irken.« D o n Ju a n m a c h te n ic h t d e n E in d ru c k , a ls o b e r sc h e rz te . Ic h w u ß te , e r m e in te je d e s W o rt e rn st. W a s m ic h stö rte , w a r se in e F o rd erung, ich so llte m ir d iese F o rm el unaufhö rlich w ied erho len. E s kam m ir b lö d e vo r, m usste i c h m ir gestehen. »G ib deine zynische H altung auf«, herrschte er m ich an. »W iederh o le d ie F o rm e l in g u te m G la u b e n .« »D a s G e h e im n is d e s M o n ta g e p u n k te s ist a lle s in d e r Z a u b e re i«. fu h r e r fo rt, o h n e m ic h a n z u se h e n . »O d e r b e sse r g e sa g t, a lle s in d e r Z a u b e re i b e ru h t a u f d e r M a n ip u la tio n d e s M o n ta g e p u n k te s. D a s w e iß t d u w o h l, a b e r d u m u ß t e s d ir w ie d e rh o le n .«
Einen Augenblick, während ich ihn so sprechen hörte, glaubte ich vor Qual zu sterben. Eine unglaubliche Traurigkeit legte sich mir auf die Brust, so daß ich vor Schmerz aufschrie. Mir war, als schiebe sich mein Magen gegen das Zwerchfell, in die Brusthöhle hinauf. Der Druck war so stark, daß ich die Bewußtseinsebene wechselte und wieder in meinen normalen Zustand eintrat. Was wir eben noch besprochen hatten, wurde zu einem unbestimmten Gedanken an irgend etwas, das geschehen sein mochte, in Wirk lichkeit aber nicht geschehen war - wenn ich die vernünftigen Maßstäbe meines Alltagsbewußtseins anlegte. Das nächste Mal. als Don Juan und ich über das Träumen sprachen, diskutierten wir über die Gründe, warum es mir monatelang nicht gelungen war. Fortschritte bei meinen Traumübungen zu erzielen. Don Juan warnte mich aber, daß er, um meine Situation zu erklären, weit ausholen müsse. Zuerst wies er mich darauf hin, daß es einen gewaltigen Unterschied gebe zwischen den Gedanken und Taten moderner Menschen und den Menschen der Vorzeit. Und dann meinte er. die Menschen der Vorzeit hätten eine sehr realistische Auffassung von Bewusstsein und Wahrnehmung gehabt, denn ihre Auffassung resultierte aus der Beobachtung des sie umgebenden Universums. Die modernen Menschen hingegen hätten eine absurd unrealistische Auffassung von Bewusstsein und Wahrnehmung, weil ihre Ansichten auf ihrer Beobachtung der Sozialordnung und ihrem Verhalten in dieser sozialen Welt beruhten. »Warum sagst du mir all diese Dinge?« fragte ich. »Weil du ein moderner Mensch bist, natürlich, aber verstrickt in die Auffassungen und Beobachtungen der Menschen der Vorzeit«, antwortete er. »Und all diese Beobachtungen und Auffassungen sind dir fremd. Mehr denn je brauchst du jetzt Mut und Nüchternheit. Ich versuche eine Brücke zu bauen - eine Brücke, die du beschreiten kannst - zwischen den Ansichten der Menschen der Vorzeit und jenen der modernen Menschen.« Unter allen transzendentalen Beobachtungen der Menschen alter Zeiten, sagte er, sei eine einzige mir vertraut - nämlich die, daß wir, um Unsterblichkeit zu erlangen, unsere Seele dem Teufel verkaufen, was für Don Juan, wie er einräumte, viel Ähnlichkeit habe mit der Beziehung der alten Zauberer zu den anorganischen Wesen. Er erinnerte mich daran, wie der Traumbotschafter ver
sucht hatte, mich zum Bleiben in seinem Reich zu bewegen, indem er mir die Möglichkeit bot, meine Individualität und mein Bewusstsein beinah eine Ewigkeit lang zu bewahren. »Vor den Verlockungen der anorganischen Wesen zu kapitulieren, ist, wie du weißt, nicht nur eine Idee: es ist real«, fuhr er fort. »Aber die Konsequenzen dieser Realität hast du noch nicht ganz erkannt. Ähnlich ist auch das Träumen real. Es ist ein Energie erzeugender Zustand. Du hörst meine Worte, und gewiß verstehst du, was ich meine. Aber dein Bewusstsein hat noch nicht die ganze Tragweite dessen erfaßt.« Don Juan meinte, daß meine Rationalität wohl um die Bedeutung einer solchen Erkenntnis wisse. Bei unserem letzten Gespräch habe sie mich gezwungen, die Bewußtseinsebene zu wechseln. Ich sei schließlich in meinen normalen Bewusstseinszustand zurückge kehrt, bevor ich auf alle Nuancen meines Traums eingehen konnte. Auch habe meine Rationalität sich durch die Unterbre chung meiner Traumübungen zu schützen versucht. »Ich versichere dir, ich bin mir voll bewußt, was ein Energie er zeugender Zustand ist«, sagte ich. »Und ich versichere dir, du bist es nicht. Wärst du es, dann würdest du beim Träumen vorsichtiger und bewusster vorgehen. Da du aber glaubst, es wären nur Träume, gehst du blindlings Risiken ein. Deine irrende Vernunft sagt dir, daß der Traum, was immer passieren mag, irgendwann vorbei sein wird und du erwachen wirst.« Er hatte recht. Trotz all dessen, was ich bei meinen Traumübungen erlebt hatte, war ich noch immer allgemein überzeugt, daß es sich nur um Träume handle. »Ich spreche zu dir von den Ansichten der Menschen der Vorzeit und von den Ansichten moderner Menschen«, fuhr Don Juan fort, »weil dein Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein eines modernen Menschen, mit einem fremden Konzept so umgeht, als sei es ein leeres Idealbild. Wärst du dir selbst überlassen, dann würdest du das Träumen als Idee auffassen. Natürlich nimmst du das Träumen ernst, da bin ich mir sicher. Aber du glaubst nicht recht an die Realität des Träumens.« »Ich verstehe, was du sagst. Don Juan. Aber ich verstehe nicht. warum du es sagst.« 180
»Ich sage dies alles, weil du jetzt, zum erstenmal, in der Lage bist. zu verstehen, daß Träumen ein Energie erzeugender Zustand ist. Zum erstenmal kannst du jetzt verstehen, daß gewöhnliche Träume vorbereitende Mittel sind, eingesetzt, um den Montage punkt auf das Erreichen jener Position zu trainieren, die den Energie erzeugenden Zustand schafft, den wir als Träumen be zeichnen.« Und er warnte mich, daß Träumer, da sie sich - mit allumfassenden Konsequenzen - in reale Welten begeben, die größte Vorsicht und Wachsamkeit walten lassen sollten. Denn jede Abweichung von absoluter Wachsamkeit gefährde den Träumer auf mehr als tödliche Art. In diesem Moment spürte ich wieder eine Bewegung in meiner Brusthöhle, einen Druck, wie ich ihn an dem Tag empfunden hatte, als mein Bewusstsein von selbst in einen anderen Zustand überging. Don Juan schüttelte kräftig meinen Arm. »Betrachte das Träumen als etwas extrem Gefährliches!« befahl er mir. »Und fange gleich damit an. Spare dir deine komischen Fluchtmanöver.« So eindringlich war der Ton seiner Worte, daß ich sofort bleiben ließ, was immer ich im Sinn hatte. »Was ist los mit mir, Don Juan?« fragte ich. »Was mit dir los ist? Du kannst deinen Montagepunkt rasch und mit Leichtigkeit verschieben«, sagte er. »Aber diese Leichtigkeit hat die Tendenz, daß die Verschiebung aufs Geratewohl geschieht. Korrigiere diese Leichtigkeit. Und erlaube dir keine Umwege, nicht einen Millimeter breit.« Wie leicht hätte ich nun einwenden können, daß ich nicht wisse. wovon er sprach - aber ich wußte es. Ich wußte auch, daß mir nur Sekunden blieben, um all meine Energie aufzubieten und meine Einstellung zu ändern. Und das tat ich. Damit endete unser Gespräch an diesem Tag. Ich fuhr nach Hause, und fast ein Jahr lang wiederholte ich jeden Tag getreulich den Satz, den Don Juan mir zu wiederholen aufgetragen hatte. Das Ergebnis meiner beschwörenden Litanei war unglaublich. Ich warfest überzeugt, daß es auf mein Bewusstsein die gleiche Wir kung hatte, die ein sportliches Training auf die Muskulatur hat. Mein Montagepunkt wurde beweglicher, was bedeutete, daß das Sehen von Energie beim Träumen zum einzigen Ziel meiner 181
Ü b u n gen w u rd e. M ein e F äh igkeit, d as S eh en zu b eab sich tigen . w uchs im M aßstab m einer A nstrengungen. U nd dann gelang es m ir irgendw ann, das Sehen nur zu beabsichtigen, ohne ein W ort zu äußern, w obei ich die gleichen R esultate erzielte, w ie w enn ich m eine A bsicht, zu sehen, laut aussprach. D on Juan beglückw ünschte m ich zu m einer Leistung. Ich glaubte natürlich, er m eine es nur ironisch. D och er versicherte m ir. daß er es au frich tig m ein te; allerd in gs b esch w o r er m ich , w eiterh in m eine A bsicht m it lauter Stim m e kundzutun, zum indest w enn ich m ich unsicher fühlte. Sein V erlangen erschien m ir auch gar nicht sonderbar. Ich hatte ja selbst jedesm al, w enn ich es für nötig h ie lt, laut im T raum geschrien. Ich entdeckte, daß die E nergie unserer W elt flim m ert. S ie oszil lie rt. N ic h t n u r d ie L e b e w e se n , so n d e rn a lle s in u n se re r W e lt flim m ert von einem eigenen Licht. D on Juan erklärte m ir, daß die E nergie unserer W elt aus Schichten schim m ernder Farbtöne be steh t. D ie o b erste S ch ich t ist w eiß lich , d ie n äch ste, u n m ittelb ar daran angrenzend, ist resedagrün, und w ieder eine andere, etw as w eiter entfernt, ist bernsteingelb. Ich fand all diese Farbtöne w ied e r, o d e r v ie lm e h r sa h ic h d e n S c h im m e r im m e r d a n n , w e n n G egen stän d e, d ie ich im T rau m an traf, ih re F o rm verän d erten . D o ch ein w eiß lich er S ch im m er w ar im m er d as erste, w en n i c h D inge sah, die E nergie erzeugten. »G ibt es nur drei verschiedene Farbtöne?« fragte ich D on Juan. »E s gibt unendlich viele«, antw ortete er. »F ür den A nfang aber solltest du dich auf diese drei beschränken. Später kannst du dich auf kom pliziertere D inge einlassen und D utzende von Farbtönen isolieren, falls du es w illst und kannst. D ie w eißliche Schicht ist die Farbe der gegenw ärtigen P osition des M ontagepunktes«, fuhr D on Juan fort. »M an könnte sagen, es ist ein m oderner Farbton. D ie Z auberer glauben, daß alles, w as der M ensch heute tut, in dieses w eißliche Licht getaucht ist. Zu anderen Z eiten ließ d ie P o sitio n d es m en sch lich en M o n tagep u n ktes die Färbung der in der W elt vorherrschenden E nergie resedagrün erscheinen. U nd w ieder zu anderen, noch ferneren Zeiten w ar sie bernsteingelb. D ie E nergie der Z auberer ist bernsteinfarben, und das heißt, daß sie energetisch m it den M enschen verbunden sind, die in ferner V ergangenheit lebten.« 182
»G la u b st d u , D o n J u a n , d a ß d ie h e u tige , w e iß lic h e F a rb e sic h eines T ages ändern w ird?« »F alls d er M en sch fäh ig ist, sich w eiterzu en tw ickeln . D ie gro ß e A u fgab e d er Z au b erer b esteh t d arin , d ie Id ee zu verb reiten , d aß der M ensch, um sich w eiterzuentw ickeln, zuerst sein B ew usstsein von allen B indungen an die Sozialordnung befreien m uß. Sobald das B ew usstsein frei ist, w ird die A bsicht es auf einen neuen, evo lutionären W eg steuern.« »G laubst du, dies w ird den Z auberern gelingen?« »E s ist ih n en sch o n gelu n gen . S ie selb st sin d d er B ew eis. E tw as an d eres ist es ab er, an d ere M en sch en vo n W ert u n d W ich tigkeit solcher W eiterentw icklung zu überzeugen.« Jen e an d ere E n ergie, d ie ich in u n serer W elt zw ar gegen w ärtig. w enn auch frem d fand, w ar die E nergie der Scouts - näm lich die E n ergie, d ie D o n Ju an als b ru tzeln d b esch rieb en h atte. Ich en tdeckte unzählige G egenstände in m einen T räum en, die sich, w enn ich sie sah, in E nergieblasen verw andelten, anscheinend siedend u n d b ro d eln d vo r in n erer A ktivität, d ie w ie H itze ersch ien . »B e d e n k e , d a ß n ic h t je d e r S c o u t, d e n d u a n tre ffe n w irst, z u m R eich der anorganischen W esen gehört«, sagte D on Juan. »Jeder S co u t, d en d u b islan g getro ffen h ast, b is au f d en b lau en S co u t. stam m te aus diesem R eich - aber nur deshalb, w eil die anorganischen W esen dich verw öhnen w ollten. S ie führten R egie bei der S h o w . Jetzt b ist d u au f d ich allein gestellt. M an ch e d er S co u ts, denen du begegnen w irst, stam m en nicht aus dem R eich der anorganischen W esen, sondern aus anderen, noch ferneren E benen des B ew ußtseins.« »H aben die S couts ein B ew usstsein?« fragte ich. »A ber gew iß«, antw ortete er. »W arum stellen sie dann keinen K ontakt m it uns her. solange w ir w ach sind?« »D as tu n sie d o ch . A b er leid er ist u n ser B ew u sstsein so seh r vo n anderen D ingen beansprucht, daß w ir keine Zeit haben, auf sie zu achten. Im Schlaf aber öffnet sich die zw eiseitige Falltür: w ir träum e n . U n d in u n se re n T rä u m e n ste lle n w ir K o n ta k t m it ih n e n her.« »W ie kann m an feststellen, ob Scouts aus einer anderen W ell als jener der anorganischen W esen stam m en?« »Je stärker ihr B rutzeln, aus desto w eiterer F erne kom m en sie. E s 183
hört sich so einfach an. aber du mußt dir von deinem Energiekörper sagen lassen, was los ist. Ich kann dir versichern, er trifft sehr feine Unterscheidungen und unfehlbare Urteile, wenn er's mit fremder Energie zu tun hat.« Und wieder hatte Don Juan recht. Mühelos unterschied mein Energiekörper zwei allgemeine Typen von fremder Energie. Da gab es, erstens, die Scouts aus dem Reich der anorganischen Wesen. Ihre Energie brutzelte leicht. Es war geräuschlos, hatte jedoch alle Merkmale siedenden Wassers, das eben zu brodeln anfängt. Die Scouts des zweiten Typs von Energie machten mir den Eindruck, als hätten sie wesentlich mehr Macht. Diese Scouts schienen im Begriff, flammend aufzulodern. Sie vibrierten von innen, als wären sie mit komprimiertem Gas gefüllt. Meine Begegnungen mit fremder Energie waren stets flüchtig. weil ich meine ganze Aufmerksamkeit auf das richtete, was Don Juan mir empfohlen hatte. Er sagte: »Solange du nicht genau weißt, was du tust oder was du willst und was du von der fremden Energie erwartest, mußt du dich mit kurzen Blicken begnügen. Alles, was über einen kurzen Blick hinausgeht, ist gefährlich -und so dumm, als streicheltest du eine Klapperschlange.« »Warum ist es so gefährlich, Don Juan?« fragte ich. »Scouts sind immer sehr aggressiv und sehr wagemutig«, sagte er. »Das müssen sie sein, um ihre Erkundungsfahrten zu überstehen. Wenn wir unsere TraumAufmerksamkeit auf sie richten. so heißt dies nichts anderes, als daß wir sie auffordern, ihre Aufmerksamkeit auf uns zu richten. Sobald sie ihre Aufmerksamkeit auf uns gerichtet haben, sind wir gezwungen, mit ihnen zu gehen. Und das ist natürlich die Gefahr. Möglicherweise geraten wir in Welten jenseits unserer energetischen Möglichkeiten.« Don Juan erklärte mir. es gebe mehr Typen von Scouts als die beiden, die ich unterscheiden konnte. Beim gegenwärtigen Stand meiner Energie könne ich mich aber nur auf drei von ihnen konzentrieren. Die ersten beiden Typen, sagte er. seien am leichtesten zu entdecken. In unseren Träumen treten sie in so auffälliger Verkleidung auf, daß sie sofort unsere Traum-Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Scouts vom dritten Typ bezeichnete er als die gefährlichsten, was ihre Aggressivität und Macht betrifft, weil sie sich hinter unauffälliger Tarnung versteckten. »Eine der Merkwürdigkeiten, die Träumer entdecken und die 1S4
a u c h d u se lb st b a ld e n td e c k e n w irst«, fu h r D o n Ju a n fo rt, »ist d ieser d ritte T yp vo n S co uts. B islang hast d u nur E xem p lare d er e rste n b e id e n T yp e n k e n n e n g e le rn t, a b e r n u r d e sh a lb , w e il d u nicht an d er richtigen S telle gesucht hast.« »U nd w as ist d ie richtige S telle. D o n Juan? « »W ieder m al bist du auf W örter hereingefallen. D iesm al ist es das W ort >G egenstände<. von dem du glaubst, es bezeichne nur D inge o d e r O b je k te . A b e r d ie w ild e ste n S c o u ts v e rb e rg e n sic h h in te r M enschen in unseren T räum en. M ir selb st stand b eim T räum en eine schreckliche Ü b erraschung b evo r, als ich m einen B lick auf d as T raum b ild m einer M utter richtete. N achd em ich m eine A b sicht, zu sehen, ausgesprochen hatte, verw andelte sie sich in eine grim m ige, beängstigende B lase brutzelnder E nergie.« D on Juan m achte eine P ause, um seine W orte auf m ich einw irken zu lassen. Ich w ar verlegen, w eil ich die M öglichkeit, hinter dem T raum b ild m einer M utter einen S co ut zu entd ecken, unheim lich fand. »E s ist ä rg e rlic h , d a ß sie ste ts m it T ra u m b ild e rn u n se re r E lte rn oder naher F reunde verbunden s in d « , fuhr er fort. »V ielleicht ist d a s d e r G ru n d , w a ru m w ir u n s m a n c h m a l u n b e h a g lic h fü h le n . w enn w ir von ihnen träum en.« S ein G rinsen m achte m ir den E in druck, als genieße er m eine V erw irrung. »A ls F austregel nehm en d ie T rä u m e r a n , d a ß e in S c o u t d ie se s d ritte n T yp s im m e r d a n n zugegen ist, w enn sie sich in einem T raum vo n ihren E ltern o d er F reunden belästigt fühlen. I c h kann dir vernünftigerw eise nur raten, solche T raum bilder zu m eiden. Sie s in d reines G i f t . « »W o ste h t d e r b la u e S c o u t im V e rh ä ltn is z u a n d e re n S c o u ts? « fragte ich. »B laue E nergie brutzelt n i c h t « , antw ortete er. »S ie ist der unsere n ä h n lic h . S ie flim m e rt, a b e r sie ist b l a u sta tt w e iß . B la u e E nergie gib t es in unserer W elt nicht im N aturzustand . U nd d ies b ringt uns zu einer F rage, üb er d ie w ir nie gesp ro chen haben. V on w elcher F arbe w aren die S couts. die du bislang gesehen hast?« B is zu diesem A ugenblick, da er davon sprach, hatte ich es m ir nie überlegt. N un erzählte ich D on J u a n , daß die S couts. die ich ge se h e n h a tte , rö tlic h o d e r ro sa ro t w a re n . U n d e r sa g te , d a ß d ie gefährlichen S couts vom dritten T yp leuchtend orange w ären. Ich konnte selbst feststellen, daß j e n e r dritte T yp von Scouts w irk
lieh erschreckend ist. Jedes Mal, wenn ich einen entdeckte, ver barg er sich hinter Traumbildern meiner Eltern, vor allem meiner Mutter. Immer wenn ich dies sah, erinnerte es mich an die Ener giewolke, die mich in jenem Traum, als ich zum erstenmal bewußt sehen konnte, angegriffen hatte. Diese fremde KundschafterEnergie schien sich jedesmal, wenn ich sie antraf, auf mich stürzen zu wollen. Mein Energiekörper reagierte darauf mit Entsetzen, bevor ich sie sah. Bei unserem nächsten Gespräch über das Träumen befragte ich Don Juan nach dem völligen Fehlen anorganischer Wesen bei meinen Traumübungen. »Warum tauchen sie nicht mehr auf?« fragte ich. »Sie tauchen nur zu Anfang auf«, erklärte er. »Nachdem ihre Scouts uns in ihre Welt geführt haben, sind Projektionen anorga nischer Wesen nicht mehr notwendig. Wenn wir die anorgani schen Wesen sehen wollen, führt ein Scout uns dorthin. Denn niemand - ich wiederhole, niemand - kann allein in diese Welt reisen.« »Warum ist das so, Don Juan?« »Ihre Welt ist versiegelt. Niemand kann sie ohne Zustimmung der anorganischen Wesen betreten oder verlassen. Man kann ledig lich, wenn man einmal darin ist. seine Absicht äußern, dort zu bleiben. Dies laut auszusprechen bedeutet. Energieströme in Be wegung zu setzen, die irreversibel sind. Worte waren in alten Zeiten unglaublich mächtig. Heute sind sie es nicht mehr. Im Reich der anorganischen Wesen haben sie ihre Macht aber nicht verloren.« Don Juan lachte und meinte, er habe kein Recht, etwas über die Welt der anorganischen Wesen zu sagen, weil ich darüber wirklich mehr wisse als er und alle seine Gefährten zusammen. »Eine Frage gibt es noch, hinsichtlich dieser Welt, über die wir noch nicht gesprochen haben«, sagte er. Lange schwieg er, als suchte er nach den passenden Worten. »Letzten Endes«, begann er, »ist meine Abneigung gegen die Aktivitäten der alten Zauberer eine sehr persönliche Sache. Als Nagual lehne ich ab, was sie taten. Feige suchten sie Zuflucht in der Welt der anorganischen Wesen. In einem räuberischen Universum wie dem unseren, das uns jederzeit in Stücke reißen kann, glaubten sie, jene Welt sei unser einziges Asyl.«
»Warum glaubten sie dies?« fragte ich. »Weil es so ist«, sagte er. »Da die anorganischen Wesen nicht lügen können, sind die Werbesprüche des Traumbotschafters ganz zutreffend. Diese Welt kann uns Obdach bieten und unser Bewusstsein fast eine Ewigkeit verlängern.« »Die Werbesprüche des Botschafters, auch wenn sie stimmen. sind für mich nicht attraktiv«, sagte ich. »Willst du dich etwa leichtsinnig auf etwas einlassen, das dich in Stücke reißen könnte?« fragte er, mit Bestürzung in der Stimme. Ich versicherte Don Juan, daß ich nicht in der Welt der anorgani schen Wesen sein wolle, ganz gleich, welche Vorteile sie zu bieten hatte. Was ich sagte, schien ihm unerhört zu gefallen. »Dann bist du bereit für eine letzte Aussage über diese Welt. Die schrecklichste Aussage, die ich machen kann«, sagte er - und versuchte zu lächeln, schaffte es aber nicht ganz. Don Juan sah mir forschend in die Augen. Ich glaube, er suchte nach einem Funken Zustimmung oder Einverständnis. Dann schwieg er eine Weile. »Die Energie, die nötig ist. um den Montagepunkt der Zauberer zu bewegen, kommt aus dem Reich der anorganischen Wesen«, sagte er, als beeile er sich, es hinter sich zu bringen. Mir blieb fast das Herz stehen. Mich schwindelte, und ich musste mit dem Fuß aufstampfen, um nicht in Ohnmacht zu fallen. »Dies ist die Wahrheit«, fuhr Don Juan fort. »Und es ist das Vermächtnis der alten Zauberer an uns. Sie haben uns damit gefesselt, bis auf den heutigen Tag. Dies ist der Grund, warum ich sie nicht leiden kann. Ich hasse es. nur aus einer Quelle schöpfen zu müssen. Ich persönlich weigere mich, es zu tun. Und ich habe versucht, dich davon abzuhalten. Doch erfolglos, weil etwas dich magnetisch in diese Welt zieht.« Ich verstand Don Juan besser, als ich gedacht hätte. In diese Welt zu reisen, das hatte für mich immer - energetisch betrachtet -einen Schub dunkler Energie bedeutet. Ich hatte es sogar so gesehen, lange bevor Don Juan seine schweren Worte aussprach. »Was können wir tun?« fragte ich. »Wir dürfen uns nicht auf sie einlassen«, antwortete er. »und doch können wir uns nicht von ihnen fernhalten. Meine Lösung ist, ihre
Energie zu nehmen, aber nicht ihrem Einfluss nachzugeben. Dies nennen wir das endgültige Pirschen. Es geschieht, indem man mit unbeugsamer Absicht an der Freiheit festhält, auch wenn kein Zauberer weiß, was Freiheit wirklich ist.« »Kannst du mir erklären, Don Juan, warum Zauberer ihre Energie aus dem Reich der anorganischen Wesen beziehen müssen?« »Es gibt keine andere brauchbare Energie für Zauberer. Um den Montagepunkt so zu manipulieren, wie sie es tun, brauchen die Zauberer ein Übermaß an Energie.« Ich erinnerte ihn an seine eigenen Worte: nämlich, daß zum Träu men eine Umstrukturierung von Energie notwendig sei. »Das ist richtig«, erwiderte er. »Um mit dem Träumen anzufangen, müssen die Zauberer ihre Prämissen neu bestimmen und Energie sparen. Solch eine Neubestimmung dient aber nur dazu, die nötige Energie zu erlangen, um das Träumen zu arrangieren. Etwas anderes ist es, in andere Welten zu fliegen, Energie zu sehen, den Energiekörper zu komplettieren, und so weiter. Für solche Manöver brauchen die Zauberer ungeheure Mengen dunkler, fremder Energie.« »Aber wie bekommen sie diese Energie aus der Welt der anorga nischen Wesen?« »Einfach, indem sie in diese Welt gehen. Alle Zauberer unserer Linie haben dies getan. Aber keiner von uns ist so töricht, das zu tun, was du getan hast. Allerdings nur. weil keiner deine Veran lagung hat.« Don Juan schickte mich nach Hause und riet mir, nachzudenken über alles, was er mir offenbart hatte. Ich hatte noch unendlich viele Fragen, aber er wollte nichts davon hören. »Alle Fragen, die du hast, kannst du dir selbst beantworten«, sagte er. als er winkend Abschied nahm.
10. Die Pirscher anpirschen
W ie d e r z u H a u se , e rk a n n te ic h b a ld , d a ß e s m ir u n m ö g lic h w a r. auch nur eine m einer F ragen zu b eantw o rten. Ich ko nnte sie nicht e in m a l fo rm u lie re n . D e r G ru n d w a r v ie lle ic h t, d a ß d ie S c h ra n k e d er zw eiten A ufm erksam keit für m ich zusam m engeb ro chen w ar. D ies geschah, als ich F lorinda G rau und C arol T iggs im norm alen A lltag b egegnete. D ie V erw irrung, sie üb erhaup t nicht zu kennen und d o ch so eng m it ihnen vertraut zu sein, d aß ich jed erzeit m ein L eb en für sie hingegeb en hätte, w ar für m ich verhängnisvo ll. E in p aar Jahre vo rher hatte ich T aisha A b elar getro ffen, und allm ählic h g e w ö h n te ic h m ic h a n d a s v e rtra c k te G e fü h l, sie z u k e n n e n . o h n e z u w isse n , w ie so . D a ß j e t z t z w e i M e n sc h e n z u sä tz lic h in m e in ü b e rla ste te s S yste m e in tra te n , w a r z u v ie l fü r m ic h . Ic h e rk ra n k te v o r E rsc h ö p fu n g u n d m u sste D o n Ju a n u m H ilfe b i t t e n . A lso fuhr ich nach jener S tadt in M exiko, w o er und seine G efährten leb ten. D o n Juan und d ie and eren Z aub erer lachten herzlich b ei d er b lo ß e n E rw ä h n u n g m e in e s K o n flik te s. D o n Ju a n e rk lä rte m ir a b e r, d aß sie eigentlich nicht üb er m ich, so nd ern üb er sich selb st lachte n . M e in e k o g n itiv e n P ro b le m e e rin n e rte n sie d a ra n , w a s sie durchgem acht hatten, als die S chranke der zw eiten A ufm erksam keit vo r ihnen zusam m enb rach, genau w ie es m ir geschehen w ar. Ih r B e w u sstse in , g e n a u w ie m e in e s, se i n ic h t d a ra u f v o rb e re ite t gew esen, sagte er. »Je d e r Z a u b e re r m a c h t d ie g le ic h e n Q u a le n d u rc h «, fu h r D o n Ju a n fo rt. »D a s B e w u sstse in ist e i n F e ld e n d lo se r F o rsc h u n g fü r die Z auberer, auch für die M enschen im allgem einen. E s gibt kein R isiko, das w ir scheuen, kein M ittel, das w ir ablehnen sollten, um unser B ew usstsein zu steigern. V ergiß aber n ic h t, daß B ew ußtheit nur b ei nüchternem V erstand gesteigert w erd en kann.« U n d d a n n b e to n te D o n Ju a n w ie d e r e in m a l, d a ß se in e Z e it z u E n d e g in g e u n d d a ß ic h m e in e K rä fte k lu g e in se tz e n m ü sse , u m m ö g lic h st w e it v o ra n z u k o m m e n , b e v o r e r m ic h v e rlie ß . S o lc h e 189
Reden stürzten mich immer in tiefe Depression. Da aber die Zeit seines Fortgehens näherkam, hatte ich angefangen, mich damit abzufinden. Ich war nicht mehr deprimiert, geriet aber dennoch in Panik. Danach wurde nichts mehr gesprochen. Am nächsten Tag fuhr ich Don Juan, auf seine Bitte, nach Mexico City. Wir trafen gegen Mittag ein und fuhren direkt ins Hotel Del Prado, am Paseo Ala meda gelegen, das Haus, in dem er stets abstieg, wenn er in der Stadt war. Don Juan hatte an diesem Tag, um vier Uhr nachmit tags, eine Verabredung mit einem Anwalt. Da wir viel Zeit hatten, gingen wir zum Lunch ins berühmte Cafe Tacuba, ein Restaurant im Zentrum der Stadt, wo man angeblich noch echtes Essen servierte. Don Juan war nicht hungrig. Er bestellte nur zwei süße Tamales. während ich mich an einer reichhaltigen Mahlzeit labte. Er lachte über mich und zeigte stumme Verzweiflung über meinen gesunden Appetit. »Ich möchte dir eine Handlungsanweisung geben«, sagte er. un vermittelt, nachdem wir gegessen hatten. »Und zwar für die letzte Aufgabe an der dritten Pforte des Träumens. Diese Aufgabe be steht darin, die Pirscher anzupirschen - und ist ein beinah uner klärliches Manöver. Die Pirscher anzupirschen bedeutet, bewußt Energie aus dem Reich der anorganischen Wesen abzuziehen, um ein Meisterstück der Zauberei auszuführen.« »Was für ein Meisterstück der Zauberei. Don Juan?« »Eine Reise - und zwar eine Reise, bei der Bewußtheit als Bestandteil der Umwelt eingesetzt wird«, erklärte er. »In der Alltagswelt ist das Wasser ein Element der Umwelt, das wir zur Fortbewegung nutzen können. Stelle dir nun Bewußtheit als ähnliches Element vor. das zur Fortbewegung benutzt werden kann. Durch das Medium des Bewußtseins kommen Scouts aus dem ganzen Universum zu uns. und umgekehrt. Durch das Bewußt-sein reisen Zauberer bis an die Enden des Universums.« Unter der Fülle von Ideen, mit denen Don Juan mich im Verlauf seiner Lehren bekannt gemacht hatte, gab es gewisse Konzepte, die ohne weitere Anleitung mein volles Interesse fanden. Dies war eines von ihnen. »Die Idee, daß Bewusstsein ein physikalisches Element sei. ist revolutionär«, sagte ich. staunend vor Ehrfurcht. 190
»Ich habe nicht gesagt, es sei ein physikalisches Element«, korri gierte er mich. »Es ist ein energetisches Element. Diesen Unter schied mußt du beachten. Für Zauberer, die sehen, ist Bewusstsein eine leuchtende Glut. Sie können ihren Energiekörper an diese Glut ankoppeln und damit fliegen.« »Was ist der Unterschied zwischen einem physikalischen und einem energetischen Element?« fragte ich. »Der Unterschied ist, daß physikalische Elemente in unserem In terpretationssystem vorgesehen sind, energetische Elemente aber nicht. Energetische Elemente, wie das Bewusstsein, existieren in unserem Universum. Wir aber, als normale Menschen, nehmen nur die physikalischen Elemente war, weil man uns dies gelehrt hat. Die Zauberer nehmen energetische Elemente aus dem glei chen Grund wahr: sie haben dies gelernt.« Don Juan erklärte mir, es sei der Kern aller Zauberei, Bewußtheit als Element unserer Umwelt zu nutzen. Praktisch betrachtet, ginge es bei der Zauberei erstens darum, die in uns existierende Energie freizusetzen, indem wir makellos dem Weg der Zauberer folgen; zweitens, diese Energie zu nutzen, um den Energiekörper mit Hilfe des Träumens zu entwickeln; und drittens. Bewußtheit als Element der Umwelt zu nutzen, um mit dem Energiekörper und all unserer Körperlichkeit in andere Welten vorzudringen. »Es gibt zwei Arten von EnergieReisen in andere Welten«, fuhr er fort. »Die eine ist, wenn Bewußtheit den Energiekörper des Zauberers aufhebt und hinwegführt, wohin immer sie mag; die andere, wenn der Zauberer sich ganz bewußt entscheidet, den Pfad des Bewußtseins zu nutzen, um eine Reise zu machen. Du hast Reisen von ersterer Art unternommen. Um die zweite anzutreten, braucht es gewaltige Disziplin.« Don Juan schwieg lange, und dann erklärte er, es gebe im Leben der Zauberer manche Situationen, die eine meisterhafte Beherr schung verlangten. Die wichtigste, gefährlichste und entschei dende dieser Situationen aber sei der Umgang mit dem Bewusstsein als einem energetischen - dem Energiekörper zugänglichen -Element. Ich hatte nichts anzumerken. Plötzlich saß ich wie auf glühenden Kohlen und hing an jedem seiner Worte. »Du allein wirst nicht genug Energie haben, um die letzte Auf gabe der dritten Traumpforte zu erfüllen«, fuhr er fort. »Aber du
u n d C a ro l T ig g s, ih r b e id e w e rd e t g a n z g e w iß sc h a ffe n , w a s m ir vorschw ebt.« E r m achte eine P ause und verleitete m ich d urch sein S chw eigen. ihm d ie F rage zu stellen, w as ihm d enn vo rschw eb e. D as tat ich. S ein L achen steigerte nur no ch d ie unheilschw ere S tim m ung. »Ih r b e id e so llt d ie G re n z e n d e r a lltä g lic h e n W e lt d u rc h b re c h e n und , B ew usstsein als energetisches E lem ent nutzend , in eine andere W elt eintreten«, sagte er. »D ieses D urchbrechen und E intreten ist nichts and eres als d as A np irschen d er P irscher. W enn m an B ew uß theit als E lem ent d er U m w elt b enutzt, so um geht m an d en E in flu ss d e r a n o rg a n isc h e n W e se n , n u tz t a b e r g le ic h w o h l d e re n E nergie.« D a rü b e r h in a u s w o llte e r m ir k e in e In fo rm a tio n e n m e h r g e b e n , u m m ic h n ic h t z u b e e in flu sse n , w ie e r sa g te . Je w e n ig e r ic h im v o ra u s w isse , so se in e Ü b e rz e u g u n g , d e sto b e sse r fü r m ic h . Ic h w a r n ic h t e in v e rsta n d e n , d o c h e r b e te u e rte , d a ß m e in E n e rg ie k ö rp e r sic h in d e r N o t g a n z g u t se lb e r h e lfe n k ö n n e . N ach dem E ssen gingen w ir in die K anzlei des A nw alts. D on Juan b eso rgte rasch seine A ngelegenheit, und b ald saß en w ir in einem T a x i z u m F lu g h a fe n . D o n Ju a n k lä rte m ic h a u f, d a ß w ir C a ro l T iggs m it einer M aschine aus L os A ngeles erw arteten und daß sie n a c h M e x ic o C ity k ä m e , n u r u m d ie se le tz te A u fg a b e d e s T rä u m ens m it m ir zu vo llend en. »D as T al von M exiko ist ein hervorragender O rt, um das M eister stü c k d e r Z a u b e re i a b z u le g e n , d a s d ir b e v o rste h t«, sa g te e r. »D u hast m ir no ch nicht verraten, w elche S chritte d a einzuhalten sind«, sagte ich. E r a n tw o rte te n ic h t. W ir sc h w ie g e n d a n n , a b e r w ä h re n d w ir a u f d ie L and ung d es F lugzeugs w arteten, w ar er d o ch b ereit, m ir unsere V orgehensw eise zu erläutern. D azu m üsse ich m ich auf C arol T iggs' Z im m er b egeb en, im R egis - H o tel. und nachd em ich m ich in den Z ustand absoluten inneren S chw eigens versetzt h ä t t e , sollte n w ir la n g sa m z u sa m m e n in e in e n T ra u m g l e i t e n u n d d a b e i unsere A b sicht aussp rechen, i n s R eich d er ano rganischen W esen zu gelangen. Ich unterb rach ihn und erinnerte d aran, d aß ich stets auf d as E r scheinen eines S co uts w arten m uß te. b evo r ich m eine A b sicht, in die W elt der anorganischen W esen zu gehen, laut äußern konnte. 192
D on Juan kicherte und sagte: »D u hast noch nicht m it C arol T iggs zusam m en geträum t. D u w irst sehen, es ist ein E rleb nis. Z aub e rin n e n b ra u c h e n k e in e H ilfsm itte l. S ie g e h e n e in fa c h in d ie se W elt, w ann im m er sie w o llen. F ür sie steht ein S co ut im m er ab rufb ereit.« Ic h w a r n ic h t re c h t ü b e rz e u g t. d a ß e in e Z a u b e rin z u lu n v e r m ochte, w as er behauptete. Ich glaubte doch eine gew isse E rfah ru n g im U m g a n g m it d e r W e ll d e r a n o rg a n isc h e n W e se n z u haben. A ls ich ihm sagte, w as m ir durch den K opf ging, erw iderte er, ich sei allerd ings no ch ganz unerfahren m it D ingen, zu d enen Z aub erinnen fähig w ären. »W ieso , glaub st d u, m uß te ich C aro l T iggs m itnehm en, um d ich kö rp erlich aus jener W elt zu ho len? « fragte er. »G laub st d u etw a, w eil sie so schön ist?« »W arum d enn, D o n Juan? « »W eil ich es allein nicht geschafft h a lte . U nd für sie w ar es eine K leinigkeit. S ie ist einfach vertraut m it d ieser W ell.« »Ist ihr F all eine A usnahm e, D o n Juan? « »F rauen hab en im allgem einen einen natürlichen H ang zu d ieser W elt. Z auberinnen sind natürlich M eister darin; doch C arol T iggs ist besser als alle anderen, denn als N agual-F rau hat sie eine über ragend e E nergie.« Ich glaub te, D o n Juan b ei einem b ed enklichen W id ersp ruch er tap p t zu hab en. E r hatte m ir d o ch erzählt, d aß d ie ano rganischen W esen sich nicht für F rauen interessierten. U nd jetzt b ehaup tete er d as G egenteil. »N e in , ic h b e h a u p te k e in e sw e g s d a s G e g e n te il«, m e in te e r, a ls ic h ih m d ie s v o rh ie lt. »Ic h h a b e d i r g e sa g t d a ß d ie a n o rg a n i sc h e n W e se n n ic h t h in te r F ra u e n h e r s i n d . S ie h a b e n e s n u r a u f M ä n n e r a b g e se h e n . A b e r ic h h a b e d i r a u c h g e sa g t, d a ß d ie ano rganischen W esen w eib lichen G eschlechts s i n d und d aß d as g a n z e U n iv e rsu m ü b e rw ie g e n d w e ib lic h ist. A lso , z ie h d e in e eigenen S chlüsse.« W eil ich aber daraus keine S chlüsse zu ziehen w ußte, erklärte m ir D o n Juan, d aß Z aub erinnen, zum ind est in d er T heo rie, aufgrund ih re r g e ste ig e rte n B e w u ß th e it u n d ih re r W e ib lic h k e it im sta n d e w ären, in d ieser W ell nach B elieb en aus und ein zu gehen. »W eiß t d u d as aus E rfahrung? « fragte ich. »D ie F ra u e n m e in e r G ru p p e h a b e n e s n ie g e ta n «, g e sta n d e r.
»N icht, w eil sie es nicht kö nnten, so nd ern w eil ich ihnen d avo n a b g e ra te n h a b e . D ie F ra u e n d e in e r G ru p p e d a g e g e n tu n e s w ie K leiderw echseln.« Ich sp ürte eine L eere im B auch. Ich w uß te w irklich nichts üb er d ie F ra u e n m e in e r G ru p p e . D o n Ju a n trö ste te m ic h u n d sa g te , daß m eine Situation eine ganz andere sei als die seine, w ie es auch m eine R olle als N agual w äre. E r versicherte m ir. daß es m ir nicht gegeben sei, die F rauen m einer G ruppe von so etw as abzuhalten, und w enn ich m ich auf den K opf stellte. W ä h re n d d a s T a x i u n s z u C a ro ls H o te l fu h r, e n tz ü c k te sie D o n Juan und m ich m it ihren P arodien auf L eute, die w ir kannten. Ich versuchte ernst zu bleiben und befragte sie nach unserer A ufgabe. S ie m u rm e lte e in e E n tsc h u ld ig u n g , w e il sie m ir n ic h t m it d e m g le ic h e n E rn st a n tw o rte n k ö n n e , d e n ic h v e rd ie n te . D o n Ju a n lachte schallend darüber, w ie sie m einen feierlichen T onfall nach ahm te. N achdem C arol sich im H otel angem eldet hatte, schlenderten w ir drei durch die S tadt, auf der S uche nach B uch -A ntiquariaten. W ir aß en ein leichtes D inner b ei S anb o rn's, in d er C a sa d e lo s a zu le jo s. G e g e n 1 0 U h r g in g e n w ir z u m R e g is z u rü c k . W ir stie g e n direkt in den A ufzug. M eine A ngst schärfte m eine W ahrnehm ung für D etails. D as H otel w ar ein altes, m assives G ebäude. D ie M öbel im V estibül hatten offenbar bessere Z eiten gesehen. D ennoch um gab uns noch im m er e in R est alter P racht, der eindeutig etw as fü r sic h h a tte . Ic h k o n n te g u t v e rste h e n , w a ru m C a ro l d ie se s H otel liebte. B evo r w ir in d en A ufzug t r a t e n , steigerte sich m eine A ngst in so lc h e H ö h e n , d a ß ic h D o n Ju a n u m le tz te In stru k tio n e n b itte n m ußte. »S age m ir noch einm al, w ie w ir vorgehen sollen«, sagte ich. D o n Ju a n z o g u n s z u d e n rie sig e n P o lste rstü h le n in d e r L o b b y hinüber und erklärte uns geduldig, daß w ir, in der W elt der anor ganischen W esen angekom m en, unsere A bsicht aussprechen sollte n , u n se r n o rm a le s B e w u sstse in a u f u n se re n E n e rg ie k ö rp e r z u üb ertragen. E r schlug vo r, C aro l und ich so llten gem einsam unsere A b sicht aussp rechen, o b gleich d ies eigentlich nicht so b ed eutsam w ar. W ichtig sei d agegen, sagte er, d aß w ir b eid e, jed er für sich, die Ü bertragung unseres gesam ten A lltags - B ew ußtseins auf d en E nergiekö rp er b eab sichtigten. 194
»Wie soll uns dieser Transfer von Bewußtheit gelingen?« fragte
ich. »Beim Übertragen von Bewußtheit kommt es nur darauf an. daß wir unsere Absicht aussprechen und die nötige Energie haben«. sagte er. »Carol weiß das alles. Sie hat es doch schon getan. Sie ging körperlich in die Welt der anorganischen Wesen, als sie dich von dort rettete, erinnerst du dich? Ihre Energie wird es schaffen. Sie wird die Waagschale zum Kippen bringen.« »Die Waagschale zum Kippen bringen? Was verstehst du darunter, Don Juan? Ich tappe völlig im dunkeln.« Die Waagschale zum Kippen bringen bedeute, erklärte er. daß man seine gesamte physische Masse dem Energiekörper hinzufügt. Und wenn man Bewußtheit als Mittel benutze, um eine Reise in andere Welten zu unternehmen, so sei dies nicht Folge irgendwelcher angewandter Techniken, sondern einzig der Tatsache, daß man es beabsichtigt und genügend Energie hat. Wenn Carol Tiggs' ganze Energie der meinen hinzugefügt würde oder meine gesamte Energie der Energie Carols. so würde uns dies zu einer einzigen Einheit verbinden, die energetisch imstande wäre. unsere Körperlichkeit aufzuheben und sie auf den Energiekörper zu übertragen - um auf diese Weise die Reise anzutreten. »Was müssen wir genau tun, um in diese andere Welt einzutreten?« fragte Carol. Ihre Frage erschreckte mich beinah zu Tode: ich hatte geglaubt, sie wisse, was uns bevorstand. »Es geht darum, eure gesamte körperliche Masse auf den Ener giekörper zu übertragen«, antwortete Don Juan und sah ihr in die Augen. »Die große Schwierigkeit dieses Manövers liegt darin. den Energiekörper zu disziplinieren - aber das habt i h r beide schon getan. Mangelnde Disziplin wäre der einzige Grund. warum ihr bei der Aufgabe scheitern könntet, diese höchste Form des Pirschens zu verwirklichen. Manchmal gelingt es einem normalen Menschen aus Zufall, dies Meisterstück zu bewältigen und in eine andere Welt vorzustoßen. Dies aber wird unweigerlich als Wahnsinn oder als Halluzination erklärt.« Ich hätte alles darum gegeben, hätte Don Juan nur weitergespro chen. Aber er brachte uns zum Aufzug, und trotz meiner Proteste, trotz meinem Verlangen nach rationalem Wissen, fuhren wir hinauf in den zweiten Stock, auf Carols Zimmer. Es war aber nicht mein Verlangen nach Wissen, was mich im Innersten quälte: 195
d a s E n tsc h e id e n d e w a r m e in e F u rc h t. Irg e n d w ie w u ß te ic h , d a ß dieses Z auber-M anöver schrecklicher sein w ürde als alles, w as ich b is d ahin üb erstand en hatte. D o n Ju a n s A b sc h ie d sw o rte a n u n s b e id e w a re n : »V e rg e sst e u e r S e lb st, u n d ih r w e rd e t n ic h ts fü rc h te n .« M it e in e m G rin se n u n d einem K o p fnicken fo rd erte er uns auf, üb er seine W o rte nachzu denken. C a ro l la c h te u n d b e g a n n w ie e in C lo w n d ie S tim m e D o n Ju a n s nachzum achen, m it der er uns diese rätselhafte A nw eisung gegeb e n h a tte . Ih r L isp e ln v e rlie h D o n Ju a n s W o rte n z u sä tz lic h e n R eiz. M anchm al fand ich ihr L isp eln lieb ensw ert. M eistens ab er verabscheute ich es. Z um G lück w ar ihr L ispeln an diesem A bend nicht so auffällig. W ir gingen in ihr Z im m er und setzten uns auf die B ettkante. M ein le tz te r b e w u sste r G e d a n k e w a r, d a ß d a s B e tt e in F o ssil a u s d e r Z e it d e r Ja h rh u n d e rtw e n d e se in m o c h te . B e v o r ic h Z e it h a tte , noch ein W ort zu sagen, fand ich m ich in einem sehr sonderbaren B ett liegen. C arol lag neben m ir. Z ugleich m it m ir richtete sie sich h a lb a u f. W ir la g e n b e id e n a c k t, u n te r le ic h te n D e c k e n . »W as ist los?« fragte sie m it schw acher S tim m e. »B ist du w ach?« fragte ich, sinnloserw eise. »N atürlich bin ich w ach«, sagte sie ungeduldig. »E rinnerst d u d ich, w o w ir w aren? « fragte ich. E s fo lg te e in la n g e s S c h w e ig e n , w ä h re n d sie ih re G e d a n k e n z u ordnen versuchte. »Ich glaube, ich bin real, aber du bist es nicht«, sagte sie schließ lich. »Ich w eiß , w o ich vo rher w ar. U nd d u versuchst, m ich m it einem T rick hereinzulegen.« N un, ich fand, daß sie das gleiche m it m ir m achte. S ie w ußte, w as lo s w a r, u n d w o llte m ic h w o h l a u f d ie P ro b e ste lle n o d e r m ic h h ä n se ln . Ih r D ä m o n , g e n a u w ie m e in e r, se i V o rsic h t u n d M iß trauen, hatte D o n Juan m ir einm al gesagt. D ies w ar ein w und erb ares B eisp iel d afür. »Ic h w e ig e re m ic h , irg e n d w e lc h e n B lö d sin n m itz u m a c h e n , b e i d e m d u d ie K o n tro lle h a st«, sa g te sie . S ie sa h m ic h m it g iftig e n B lic k e n a n . »H ö r m a l, ic h re d e m it d ir, w e r im m e r d u se in m agst.« S ie nahm eine d er W o lld ecken, m it d enen w ir zuged eckt w aren. und hüllte sich d arin ein. »Ich w erd e m ich hinlegen und zurück k e h re n , w o h e r ic h g e k o m m e n b in «, sa g te sie , m it e n d g ü ltig e r
Entschlossenheit. »Du und der Nagual. ihr könnt hier euer Spiel chen spielen.« »Hör auf mit dem Quatsch«, sagte ich mit Nachdruck. »Wir sind in einer anderen Welt.« Sie beachtete mich nicht und kehrte mir den Rücken zu. wie ein gelangweiltes und verwöhntes Kind. Ich hatte keine Lust, meine Traum-Aufmerksamkeit an müßige Diskussionen über Realität und Irrealität zu verschwenden. So begann ich, meine Umgebung zu untersuchen. Das einzige Licht im Zimmer war der Mond, der durch ein Fenster genau vor uns hereinschien. Wir befanden uns in einer kleinen Kammer, auf einem hohen Bett. Mir fiel auf, daß das Bett primitiv konstruiert war. Vier dicke Pfosten waren in die Erde gerammt, und der Bettrahmen war ein Lattenrost aus langen. an den Pfosten befestigten Stangen. Das Bett hatte eine feste Matratze, oder vielmehr eine kompakte Matratze aus einem Stück. Kissen oder Laken gab es keine. An den Wänden waren Säcke aus Leinwand aufgestapelt. Zwei Säcke, am Fußende des Bettes übereinander gelegt, dienten als Trittleiter, um hinaufzusteigen. Während ich nach einem Lichtschalter suchte, wurde mir klar. daß dieses Hochbett in einer Ecke der Kammer stand, an der Wand. Wir lagen mit den Köpfen zu dieser Wand. Ich lag außen. und Carol auf der inneren Seite des Bettes. Als ich mich nun auf die Bettkante setzte, merkte ich, daß es fast einen Meter bis zum Boden war. Plötzlich richtete Carol sich auf und sagte, mit deutlichem Lis peln: »Das ist widerlich! Der Nagual hat mir gewiß nicht gesagt, daß es so enden würde.« »Ich hab's auch nicht gewußt«. sagte ich. Ich wollte noch mehr sagen, wollte ein Gespräch anfangen, aber meine Angst hatte sich inzwischen unglaublich gesteigert. »Halt den Mund«, schrie sie mich an, ihre Stimme krächzend vor Wut. »Du existierst gar nicht. Du bist ein Geist. Verschwinde! Verschwinde!« Ihr Lispeln war wirklich süß, und es lenkte mich ab von meiner panischen Furcht. Ich rüttelte sie an den Schultern. Sie schrie auf nicht aus Schmerz, sondern aus Wut oder Überraschung. »Ich bin kein Geist«, sagte ich. »Wir sind zusammen auf die Reise gegangen, weil wir unsere Energien vereinigt haben.« Carol war bei uns berühmt für die Schnelligkeit, mit der sie sich 197
auf jede Situation einstellen konnte. Im Handumdrehen war sie überzeugt von der Realität unserer misslichen Lage, und nun be gann sie im Halbdunkel nach unseren Kleidern zu suchen. Ich wunderte mich darüber, daß sie keine Angst hatte. Sie zappelte umher und rätselte laut, wohin sie ihre Kleider wohl getan hätte. wäre sie in diesem Zimmer zu Bett gegangen. »Siehst du vielleicht einen Stuhl?« fragte sie. Verschwommen sah ich einen Stapel von drei Säcken, die als Tisch oder hohe Bank gedient haben mochten. Carol sprang aus dem Bett und ging hin und fand ihre Kleider, und meine: ordentlich zusammengefaltet, wie es ihre Art war. Sie gab mir meine Sachen. Es waren zwar meine Kleider, aber nicht dieselben, die ich vor kurzem in Carols Zimmer, im Hotel Regis. getragen hatte. »Das sind nicht meine Kleider«, lispelte sie. »Und doch sind es meine. Wie seltsam.« Schweigend zogen wir uns an. Ich wollte ihr sagen, daß ich beinah platzte vor Angst. Auch wollte ich etwas über das Tempo unserer Reise sagen, aber nach der kurzen Zeit, die ich zum Anziehen brauchte, war der Gedanke an unsere Reise nur noch sehr ver schwommen. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wo wir vor dem Erwachen in diesem Zimmer gewesen waren. Mir war. als hätte ich das Hotelzimmer nur geträumt. Ich machte jede An strengung, mich zu erinnern, diese Verschwommenheit abzu schütteln, die mich einzuhüllen begann. Es gelang mir. den Nebel zu vertreiben, doch dies erschöpfte all meine Energie. Keuchend und schwitzend saß ich schließlich da. »Irgend etwas hat mich beinah - beinah - geschafft«, sagte Carol. Ich schaute sie an. Sie war. wie ich. schweißgebadet. »Dich aber beinah auch. Was. glaubst du. ist das?« »Die Position des Montagepunktes«, sagte ich mit absoluter Ge wißheit. Sie war anderer Meinung. »Die anorganischen Wesen sind es. die ihren Tribut fordern«, sagte sie fröstelnd. »Der Nagual hat mir gesagt, es würde schrecklich sein - aber nie hätte ich mir so etwas Schreckliches vorgestellt.« Ich konnte ihr nur zustimmen. Wir waren in einer schrecklichen Zwangslage - und dennoch konnte ich nicht erfassen, was eigentlich das Schreckliche unserer Situation war. Carol und ich waren ja keine Novizen. Wir hatten so vieles getan und gesehen - und man-
ches davon wirklich beängstigend. In diesem geträumten Raum aber gab es etwas, das mich in unvorstellbare Angst versetzte. »Wir träumen doch, nicht wahr?« fragte Carol. Ohne Zögern versicherte ich ihr. daß wir tatsächlich träumten: obwohl ich alles darum gegeben hätte, wäre Don Juan hier gewesen, um mir dasselbe zu bestätigen. »Warum hab ich solche Angst?« fragte sie mich, als wüßte ich eine rationale Erklärung. Bevor ich etwas dazu sagen konnte, fand sie selbst eine Antwort auf ihre Frage. Was ihr solche Angst mache, sagte sie. sei die Erkenntnis - und zwar die körperliche Erkenntnis -, daß die Wahrnehmung eine allumfassende und absolute wird, sobald der Montagepunkt reglos in seiner Position verharrt. Carol erinnerte mich daran, wie Don Juan uns einmal erklärte, daß unsere All tagswelt nur deshalb solche Macht über uns habe, weil unser Montagepunkt reglos in seiner gewohnten Position bleibe. Diese Starre des Montagepunktes bewirke eine so allumfassende und überwältigende Wahrnehmung, daß wir uns ihr nicht entziehen könnten. Und noch etwas fiel Carol ein, was der Nagual gesagt hatte: daß wir, um diese totale und allbeherrschende Kraft zu fiberwinden, nur den Nebel zu vertreiben brauchen - und das heißt den Montagepunkt zu verschieben, indem wir dessen Ver schiebung einfach beabsichtigen. Ich hatte eigentlich nie verstanden, was Don Juan damit meinte bis zu dem Augenblick, da ich meinen Montagepunkt in eine an dere Position bringen musste, um den Nebel dieser Welt zu vertreiben, der mich zu verschlucken drohte. Ohne weitere Worte traten Carol und ich nun zum Fenster und schauten hinaus. Wir waren auf dem flachen Land. Das Mondlicht zeigte die dunklen, geduckten Umrisse einiger Wohngebäude. Allem Anschein nach waren wir in der Geräte- oder Vorratskammer einer Farm oder eines großen Landhauses. »Kannst du dich daran erinnern, daß du hier zu Bett gegangen bist?« fragte Carol. »Beinah«, sagte ich, und meinte es tatsächlich. Ich erzählte ihr, daß ich nur noch mit Mühe das Bild ihres Hotelzimmers in Ge danken festhalten konnte - als Bezugspunkt, sozusagen. »Mir geht es genauso«, sagte sie, ängstlich flüsternd. »Ich weiß, wenn wir diese Erinnerung loslassen, sind wir erledigt.«
auf jede Situation einstellen konnte. Im Handumdrehen war sie überzeugt von der Realität unserer mißlichen Lage, und nun begann sie im Halbdunkel nach unseren Kleidern zu suchen. Ich wunderte mich darüber, daß sie keine Angst hatte. Sie zappelte umher und rätselte laut, wohin sie ihre Kleider wohl getan hätte. wäre sie in diesem Zimmer zu Bett gegangen. »Siehst du vielleicht einen Stuhl?« fragte sie. Verschwommen sah ich einen Stapel von drei Säcken, die als Tisch oder hohe Bank gedient haben mochten. Carol sprang aus dem Bett und ging hin und fand ihre Kleider, und meine: ordentlich zusammengefaltet, wie es ihre Art war. Sie gab mir meine Sachen. Es waren zwar meine Kleider, aber nicht dieselben, die ich vor kurzem in Carols Zimmer, im Hotel Regis. getragen hatte. »Das sind nicht meine Kleider«, lispelte sie. »Und doch sind es meine. Wie seltsam.« Schweigend zogen wir uns an. Ich wollte ihr sagen, daß ich beinah platzte vor Angst. Auch wollte ich etwas über das Tempo unserer Reise sagen, aber nach der kurzen Zeit, die ich zum Anziehen brauchte, war der Gedanke an unsere Reise nur noch sehr ver schwommen. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wo wir vor dem Erwachen in diesem Zimmer gewesen waren. Mir war. als hätte ich das Hotelzimmer nur geträumt. Ich machte jede An strengung, mich zu erinnern, diese Verschwommenheit abzu schütteln, die mich einzuhüllen begann. Es gelang mir. den Nebel zu vertreiben, doch dies erschöpfte all meine Energie. Keuchend und schwitzend saß ich schließlich da. »Irgend etwas hat mich beinah - beinah - geschafft«, sagte Carol. Ich schaute sie an. Sie war. wie ich. schweißgebadet. »Dich aber beinah auch. Was. glaubst du. ist das?« »Die Position des Montagepunktes«, sagte ich mit absoluter Ge wißheit. Sie war anderer Meinung. »Die anorganischen Wesen sind es. die ihren Tribut fordern«, sagte sie fröstelnd. »Der Nagual hat mir gesagt, es würde schrecklich sein - aber nie hätte ich mir so etwas Schreckliches vorgestellt.« Ich konnte ihr nur zustimmen. Wir waren in einer schrecklichen Zwangslage - und dennoch konnte ich nicht erfassen, was eigentlich das Schreckliche unserer Situation war. Carol und ich waren ja keine Novizen. Wir hatten so vieles getan und gesehen - und man-
ches davon wirklich beängstigend. In diesem geträumten Raum aber gab es etwas, das mich in unvorstellbare Angst versetzte. »Wir träumen doch, nicht wahr?« fragte Carol. Ohne Zögern versicherte ich ihr. daß wir tatsächlich träumten: obwohl ich alles darum gegeben hätte, wäre Don Juan hier gewesen, um mir dasselbe zu bestätigen. »Warum hab ich solche Angst?« fragte sie mich, als wüßte ich eine rationale Erklärung. Bevor ich etwas dazu sagen konnte, fand sie selbst eine Antwort auf ihre Frage. Was ihr solche Angst mache, sagte sie. sei die Erkenntnis - und zwar die körperliche Erkenntnis -, daß die Wahrnehmung eine allumfassende und absolute wird, sobald der Montagepunkt reglos in seiner Position verharrt. Carol erinnerte mich daran, wie Don Juan uns einmal erklärte, daß unsere All tagswelt nur deshalb solche Macht über uns habe, weil unser Montagepunkt reglos in seiner gewohnten Position bleibe. Diese Starre des Montagepunktes bewirke eine so allumfassende und überwältigende Wahrnehmung, daß wir uns ihr nicht entziehen könnten. Und noch etwas fiel Carol ein, was der Nagual gesagt hatte: daß wir, um diese totale und allbeherrschende Kraft zu fiberwinden, nur den Nebel zu vertreiben brauchen - und das heißt den Montagepunkt zu verschieben, indem wir dessen Ver schiebung einfach beabsichtigen. Ich hatte eigentlich nie verstanden, was Don Juan damit meinte bis zu dem Augenblick, da ich meinen Montagepunkt in eine an dere Position bringen musste, um den Nebel dieser Welt zu vertreiben, der mich zu verschlucken drohte. Ohne weitere Worte traten Carol und ich nun zum Fenster und schauten hinaus. Wir waren auf dem flachen Land. Das Mondlicht zeigte die dunklen, geduckten Umrisse einiger Wohngebäude. Allem Anschein nach waren wir in der Geräte- oder Vorratskammer einer Farm oder eines großen Landhauses. »Kannst du dich daran erinnern, daß du hier zu Bett gegangen bist?« fragte Carol. »Beinah«, sagte ich, und meinte es tatsächlich. Ich erzählte ihr, daß ich nur noch mit Mühe das Bild ihres Hotelzimmers in Ge danken festhalten konnte - als Bezugspunkt, sozusagen. »Mir geht es genauso«, sagte sie, ängstlich flüsternd. »Ich weiß, wenn wir diese Erinnerung loslassen, sind wir erledigt.«
D ann fragte sie m ich, ob ich glaubte, w ir sollten diese H ütte ver la sse n u n d n a c h d ra u ß e n g e h e n . Ic h fa n d n i c h t , d a ß w ir g e h e n so llte n . D o c h m e in e A h n u n g w a r so b e d rü c k e n d , d a ß ic h k e i n W ort hervorbrachte. Ich konnte ihr nur m it dem K opf ein Z eichen geben. »D u hast ganz recht, d aß d u nicht hinaus w illst«, sagte sie. » I c h habe das G efühl, w enn w ir diese H ütte verlassen, kom m en w ir nie m ehr zurück.« Ich w ollte die T ür aufstoßen, nur um hinauszusehen, aber sie h ie lt m ich zurück. »T u's nicht«, sagte sie. »D u kö nntest hereinlassen. w as d a d rauß en ist.« Je tz t k a m m ir d e r G e d a n k e in d e n S in n , d a ß w ir u n s in e i n e m z e rb re c h lic h e n K ä fig b e fa n d e n . A lle s, z u m B e isp ie l d a s Ö ffn e n d er T ür, ko nnte d as p rekäre G leichgew icht d ieses K äfigs stö ren. Im se lb e n A u g e n b lic k , a ls ic h d ie s d a c h te , h a tte n w ir b e id e d e n gleichen Im puls: w ir rissen uns die K leider vom L eib, als gelte es u n se r L e b e n ; d a n n sp ra n g e n w ir a u f d a s h o h e B e t t , o h n e d ie T re p p e a u s S ä c k e n z u b e n u tz e n - n u r u m so fo rt w ie d e r h in u n te r zu springen. E s w ar k la r , daß C arol und ich gleichzeitig die gleiche E rkenntnis hatten. U nd sie bestätigte m eine V erm utung, als sie sagte: »A lles. w as zu d ieser W elt gehö rt, kann uns nur schw ächen, w enn w ir es b e n u tz e n . S o la n g e ic h h ie r n a c k t ste h e n b le ib e , w e it g e n u g v o m B e tt u n d v o m F e n ste r, k a n n ic h m ic h n o c h e rin n e rn , w o h e r i c h gekom m en bin. W enn ich m ich aber ins B ett lege oder diese K l e i d er trage o d er aus d em F enster schaue, b in ich v e r l o r e n . « L ange blieben w ir in der M itte des Z im m ers stehen, eng aneinander geschm iegt. E in unheim licher V erdacht stieg in m ir auf. »W ie w erden w ir in unsere W elt zurückkehren?« fragte ich - und hoffte, daß sie es w isse. »D ie R ü c k k e h r in u n se re W e lt e rfo lg t a u to m a tisc h , w e n n w i r n ic h t z u la sse n , d a ß d ie se r N e b e l sic h v e rb re ite t«, sa g te sie m i t je n e r u n e rsc h ü tte rlic h e n Ü b e rz e u g u n g , d ie ih r M a rk e n z e ic h e n war. U nd sie hatte recht. C aro l und ich erw achten gleichzeitig im B ett ihres Zim m ers, im H otel R egis. So offenkundig w ar unsere R ückkehr in die norm ale A lltagsw elt, daß w ir keine F ragen zu s te lle n b ra u c h te n u n d k e in e B e m e rk u n g e n d a rü b e r m a c h te n . D a s S o n nenlicht w ar b lend end hell.
»Wie sind wir zurückgekehrt?« fragte Carol. »Oder vielmehr,
wann sind wir zurückgekehrt?«
Ich wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte. Ich war zu
betäubt, um Spekulationen anzustellen - und mehr hätte ich oh nehin nicht tun können.
»Glaubst du, wir sind eben erst zurückgekehrt?« wollte Carol wissen.
»Oder - vielleicht haben wir die ganze Nacht hier geschlafen. Sieh
nur! Wir sind nackt. Wann haben wir uns denn ausgezogen?«
»Wir haben in jener anderen Welt unsere Kleider ausgezogen«,
sagte ich, selbst überrascht vom Klang meiner Stimme. Meine
Antwort schien Carol zu verblüffen. Sie sah mich verständnislos an,
dann ihren nackten Körper.
So blieben wir eine Ewigkeit sitzen, ohne uns zu bewegen. Beide
schienen wir aller Willenskraft beraubt. Dann, ganz plötzlich.
hatten wir genau im selben Augenblick den gleichen Gedanken. In
Rekordzeit streiften wir unsere Kleider über, rannten aus dem
Zimmer, stürmten die Treppe hinunter, liefen über die Straße und
stürzten in Don Juans Hotel.
Völlig außer Atem - unerklärlicherweise, denn wir hatten uns
körperlich gar nicht angestrengt - erklärten wir ihm abwechselnd,
was wir getan hatten.
Er bestätigte unsere Vermutungen. »Was ihr beide getan habt, war
das Gefährlichste, was man sich vorstellen kann«, sagte er.
Und an Carol gewandt, fuhr er fort und sagte, daß unser Versuch
ein totaler Erfolg, aber auch ein Fiasko gewesen sei. Wir hätten es
zwar geschafft, unser Alltagsbewußtsein auf unseren Energie
körper zu übertragen und somit die Reise in all unserer Körper
lichkeit anzutreten, aber es sei uns nicht gelungen, dem Einfluss
der anorganischen Wesen zu entgehen. Gewöhnliche Träumer,
sagte er, erleben dieses ganze Manöver als eine Reihe langsamer
Übergänge und müssen ihre Absicht aussprechen, um das Be wußtsein als Element der Umwelt zu nutzen. In unserem Fall
waren all diese Schritte unnötig. Aufgrund einer Intervention der
anorganischen Wesen seien wir beide tatsächlich, und mit beäng
stigender Geschwindigkeit, in eine tödlich gefährliche Welt ge
schleudert worden. »Was eure Reise ermöglichte, war nicht eure
kombinierte Ener
gie«. fuhr er fo rt. »E tw as and eres hat d ies getan. E s suchte so gar die richtige K leidung für euch a u s .« »G laub st d u, N agual, d aß d ie K leid er und d as B ett und d as Z im m er nur da w aren, w eil w ir von den anorganischen W esen gesteuert w urd en? « fragte C aro l. »D a ra u f k a n n st d u d e in L e b e n v e rw e tte n «, a n tw o rte te e r. »F ü r gew ö hnlich sind T räum er nur Z uschauer. N ach d er A rt ab er, w ie e u re R e ise v e rlie f, h a b t ih r b e id e e in e n L o g e n p la tz b e k o m m e n u n d d e n F lu c h d e r a lte n Z a u b e re r e rle b t. Ih n e n p a ssie rte e in st genau d as gleiche, w as euch p assierte. D ie ano rganischen W esen führten sie in W elten, aus d enen sie nicht zurückkehren ko nnten. Ich hätte es w issen sollen, aber ich w äre nie auf die Idee gekom m en, daß die anorganischen W esen die F ührung übernehm en und versuchen könnten, euch beiden die gleiche F alle zu s te lle n .« »G laub st d u, sie w o llten uns d o rt b ehalten? « fragte C aro l. »H ättet ihr euch aus d ieser H ütte hinausgew agt, d ann m üß tet i h r jetzt ho ffnungslo s d urch d iese W elt irren«, sagte D o n Juan. W eil w ir in all unserer K ö rp erlichkeit in d iese W elt eintraten, so erklärte er, sei d ie F ixierung unseres M o ntagep unktes in d er vo n d en ano rganischen W esen d afür vo rgesehenen P o sitio n so üb er w ältigend gew esen, daß eine A rt N ebel hervorgerufen w urde, der je d e E rin n e ru n g a n d ie W e lt, a u s d e r w ir k a m e n , a u sg e lö sc h t hätte. D ie natürliche F olge solcher S tarre, fügte er hinzu, sei - w ie im F a lle d e r Z a u b e re r d e r V o rz e it -, d a ß d e r M o n ta g e p u n k t d e s T räum ers nicht in seine gew o hnte P o sitio n zurückkehren kann. »Ü berlegt einm al«, forderte er uns auf. »V ielleicht ist es dies, w as uns in unserer A lltagsw elt stets p assiert. W ir sind hier geland et. und d ie F ixierung unseres M o ntagep unktes ist so üb erw ältigend stark, d aß sie uns vergessen m acht, w o her w ir ko m m en und w as der Zw eck unseres K om m ens w a r .« M e h r w o llte D o n Ju a n ü b e r u n se re R e ise n ic h t sa g e n . Ic h h a tte d a s G e fü h l, d a ß e r u n s w e ite re S k ru p e l u n d Ä n g ste e rsp a re n w o llte . E r lu d u n s e in , a u f e i n v e rsp ä te te s L u n c h . B is w ir d a s R estaurant erreichten, ein p aar S traß enecken w eiter an d er A ve nid a F rancisco M ad ero , w ar es sechs U hr N achm ittag. C aro l und ic h h a tte n u n g e fä h r a c h tz e h n S tu n d e n g e sc h la fe n - fa lls e s d ie s w ar. w as w ir taten. N ur D on Juan w ar hungrig. E r äße w ie ein S chw ein, m einte C arol
m it einem A nflug vo n Ä rger. K ö p fe d rehten sich in unsere R ich tu n g , a ls sie D o n Ju a n s L a c h e n h ö rte n . E s w a r e in w a rm e r A b e n d . D e r H im m e l w a r k l a r . E in e l e i c h t e B rise u m fä c h e lte u n s. a ls w ir u n s a u f e in e B a n k a m P a se o A la m ed a setzten. »E ine F rage brennt m ir noch auf den N ägeln«, sagte C arol zu D on Juan. »E s gelang uns nicht, das B ew usstsein als M edium der R eise zu nutzen, nicht w ahr? « »G a n z ric h tig «, sa g te D o n Ju a n u n d se u fz te t i e f . »D ie A u fg a b e w ar, an d en ano rganischen W esen vo rb eizuschleichen, nicht sich vo n ihnen steuern zu lassen.« »W as w ird nun p assieren? « fragte sie. »Ihr w erd et d as A np irschen d er P irscher verschieb en m üssen, b is ihr b eid e stärker seid . O d er v i e l l e i c h t w ird es euch nie gelingen. E ig e n tlic h ist e s e g a l. W e n n e tw a s n ic h t g e h t, d a n n g e h t e b e n e tw a s a n d e re s. D ie Z a u b e re i i s t e i n e e n d lo se H e ra u sfo rd e rung.« U nd w ieder erklärte er uns, eindringlich, als w olle er diese E rkläru n g fü r im m e r in u n s v e ra n k e rn , d a ß d ie T rä u m e r, u m d a s B e w u sstse in a ls E le m e n t d e r U m w e lt z u n u tz e n , z u e rst e in m a l e in e R e ise in s R e ic h d e r a n o rg a n isc h e n W e se n u n te rn e h m e n m ü ß te n . D a n n m ü ß te n sie d ie se R e ise a ls S p ru n g b re tt b e n u tz e n , und während sie im B esitz dieser u n e r lä ß lic h e n . d u n k l e n Energie seien, m üß ten sie d ie A b sicht äuß ern, d urch d as M ed ium d es B e w uß tseins in eine and ere W elt geschleud ert zu w erd en. »D er F ehlschlag eurer R eise w ar, d aß i h r k e i n e Z eit h a t t e t . B e-w ußtheit als E lem ent der F ortbew egung zu n u t z e n « , fuhr er fort. »N och bevor ihr in die W elt der anorganischen W esen g e la n g te t, w art ihr bereits in e in e r anderen W e lt.« »W as em p fiehlst d u uns nun'.'« fragte C aro l. »Ich em pfehle euch, einander m öglichst s e l t e n zu s e h e n « , sagte e r. »Ic h b in m ir sic h e r, d ie a n o rg a n isc h e n W e se n w e rd e n sic h n ic h t d ie G e le g e n h e it e n tg e h e n la sse n , e u c h b e id e a u f e i n e n S c h la g z u e n tfü h re n - b e so n d e rs, w e n n i h r e u re K rä fte v e r e i nigt.« U n d d a ru m b lie b e n C a ro l u n d ic h u n s se it d a m a ls g e flisse n tlic h fe rn . D ie A u ssic h t, w ir k ö n n te n u n v e rh o fft e in e ä h n lic h e R e ise erleben, w ar für uns ein zu großes R isiko. D on Juan bestätigte uns •n unserer E ntscheid ung. G em einsam hätten w ir genügend E ner
gie, sagte er, um die anorganischen Wesen in Versuchung zu führen, auf daß sie uns jederzeit wieder köderten. Don Juan hielt mich wieder dazu an, bei meinen Traumübungen Energie in Energie erzeugenden, traumverwandten Zuständen zu sehen. Im Lauf der Zeit sah ich alles, was sich mir darbot. Auf diese Weise geriet ich in eine höchst eigenartige Verfassung. Ich war nicht mehr fähig, zusammenhängend zu beschreiben, was ich da sah. Und immer hatte ich das Gefühl, daß ich Zustände der Wahrnehmung erreichte, für die ich keine Worte mehr hatte. Meine unbegreiflichen und unbeschreiblichen Visionen erklärte Don Juan damit, daß mein Energiekörper nun Bewußtheit als Element zu nutzen wisse - nicht zur Fortbewegung, denn dazu hätte ich nicht genug Energie, sondern zum Eintritt in die Energiefelder von unbelebter Materie oder von anderen Lebewesen.
11. Der Mieter
E s sollte keine T raum übungen m ehr für m ich geben, w ie ich sie gew ö h n t gew esen w ar. D as n äch ste M al, als ich D o n Ju an sah . u n terstellte er m ich d er F ü h ru n g zw eier F rau en sein er G ru p p e: F lo rin d a u n d Z u leica, sein e zw ei n äch sten G efäh rtin n en . D eren U nterw eisungen handelten m itnichten von den P forten des T räu m en s, so n d ern vo n d en versch ied en en A rten , d en T rau m kö rp er e in z u se tz e n ; u n d a ll d ie s d a u e rte n ic h t la n ge ge n u g, u m e in e n E indruck bei m ir zu hinterlassen. D ie beiden Frauen schienen m ir eh er d aran in teressiert, m ich zu p rü fen , als m ich etw as zu leh ren. »E s gib t n ic h ts m e h r, w a s ic h d ic h ü b e r d a s T rä u m e n le h re n könnte«, sagte D on Juan, als ich ihn zu diesem Stand der D inge b efragte. »M ein e Z eit au f E rd en ist ab gelau fen . A b er F lo rin d a w ird bleiben. Sie w ird die Führung übernehm en, nicht nur über dich, sondern über all m eine anderen Schüler.« »W ird sie m eine T raum übungen fortsetzen?« »D as w eiß ich nicht, und sie w eiß es auch nicht. E s hängt a l l e s vom G eist ab, dem w ahren Spieler. W ir selbst sind keine Spieler. W ir sind nur Figuren in seiner H and. D en B efehlen des G eistes ge h o rc h e n d , m u ß ic h d ir n u n sa ge n , w a s d ie v ie rte P fo rte d e s T rä u m e n s ist, a u c h w e n n ic h d ic h n ic h t m e h r d o rth in fü h re n kann.« »W elchen Sinn h ä tte es, m ich neugierig zu m achen? Ic h m öchte es lieber nicht w issen.« »D ies stellt der G eist nicht d i r oder m ir anheim . Ic h m uß dir die v ie rte P fo rte d e s T rä u m e n s z e ige n , o b e s m ir ge fä llt o d e r nicht.« U n d D o n Ju an erklärte, d aß d er E n ergiekö rp er an d er v i e r t e n T raum pforte zu ganz spezifischen, konkreten O rten reisen kann u n d d aß es d rei A rten gib t, d ie vierte P fo rte zu n u tzen : ersten s. um zu konkreten O rten in dieser W elt zu reisen; zw eitens, um zu ko n kreten O rten au ß erh alb d ieser W elt zu reisen ; u n d d ritten s,
um zu Orten zu reisen, die nur in der Absicht anderer existieren. Die letztere Art. sagte er. sei die schwierigste und gefährlichste von allen dreien; sie sei bei weitem die Vorliebe der alten Zauberer gewesen. »Was soll ich mit diesem Wissen anfangen?« fragte ich. »Im Augenblick - nichts. Hefte es ab, bis du es brauchst.« »Glaubst du, ich kann die vierte Pforte allein durchschreiten, ohne Hilfe?« »Ob du es kannst oder nicht, liegt ganz beim Geist.« Er ließ das Thema abrupt fallen, aber er gab mir nicht das Gefühl, als sollte ich versuchen, die vierte Pforte allein zu erreichen und zu durchschreiten. Dann traf Don Juan eine letzte Verabredung mit mir - um mir, wie er sagte, ein letztes Lebewohl der Zauberer zu entbieten: den krönenden Abschluß meiner Traumübungen. Zu diesem Zweck, sagte er, solle ich ihn in einer kleinen Stadt im Süden Mexikos aufsuchen, wo er und seine Zauberer-Gefährten lebten. Am Spätnachmittag traf ich dort ein. Don Juan und ich saßen im Patio seines Hauses, auf unbequemen, mit dicken und übergroßen Kissen gepolsterten Korbsesseln. Don Juan lachte mir augen zwinkernd zu. Die Sessel waren ein Geschenk von einer der Frauen seiner Gruppe, und wir waren verpflichtet, darauf zu sitzen, ob es uns, besonders ihm, nun gefiel oder nicht. Die Sessel waren für ihn in Phoenix, Arizona, gekauft und unter großen Schwierigkeiten nach Mexiko importiert worden. Don Juan bat mich, ihm ein Gedicht von Dylan Thomas vorzulesen, das, wie er meinte, zu jenem Zeitpunkt von größter Bedeutung für mich sei. Ich sehne mich fortzugehen vom Geklapper verbrauchter Lügen. vom Geschrei alter Ängste. das schrecklicher wird, wenn der Tag über die Berge schwindet ins Meer . . . Ich sehne mich fortzugehen, aber ich fürchte, etwas vom unverbrauchten Leben wird bersten aus alten, am Boden brennenden Lügen, die in der Luft explodieren und mich fast blenden.
Don Juan stand auf und meinte, er wolle einen Spaziergang um die Plaza im Stadtzentrum machen. Er forderte mich auf, mitzu kommen. Ich musste annehmen, daß das Gedicht eine negative Stimmung bei ihm ausgelöst hätte, die er vertreiben müsse. Wir kamen auf die rechteckige Plaza, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Immer noch schweigend, umrundeten wir sie einige Male. Es gab viele Leute dort, die vor den Läden an den Straßen an der Nord- und Ostseite des Parks umherschlenderten. Alle Straßen rund um die Plaza waren unregelmäßig gepflastert. Die Häuser waren massive, einstöckige Bauten aus Lehmziegeln, mit Segeldächern, gekalkten Wänden und blau oder braun gestrichenen Türen. In einer Seitenstraße, eine Ecke von der Plaza entfernt, ragten die hohen Mauern einer riesigen Kirche im Kolonialstil, fast wie eine maurische Moschee wirkend, über das Dach des einzigen Hotels in der Stadt. An der Südseite gab es zwei Restaurants, die in unbegreiflicher Eintracht lebten, gute Geschäfte machten und praktisch die gleichen Menüs zum gleichen Preis anboten. Ich brach das Schweigen und fragte Don Juan, ob er es nicht merkwürdig finde, daß die beiden Restaurants sich in allem so glichen. »Alles ist möglich in dieser Stadt«, erwiderte er. Die Art, wie er dies sagte, versetzte mich in eine unbehagliche Stimmung. »Warum bist du so nervös?« fragte er, mit ernstem Gesicht. »Weißt du etwas, das du mir nicht sagen willst?« »Warum ich nervös bin? Das ist lächerlich. Ich bin immer nervös in deiner Gegenwart. Don Juan. Manchmal mehr, manchmal weniger.« Erschien sehr bemüht, nicht schallend herauszulachen. »Naguals sind wirklich nicht die angenehmsten Menschen auf dieser Welt«, sagte er entschuldigend. »Das musste ich auf die harte Art lernen, da ich's mit meinem Lehrer zu tun hatte, dem Nagual Julian. Seine bloße Gegenwart versetzte mich in Angst und Schrecken. Und wenn er auf mich losging, glaubte ich, mein Leben sei keinen Heller mehr wert.« »Zweifellos, Don Juan, hast du die gleiche Wirkung auf mich.« Er lachte unkompliziert. »Nein, nein. Du übertreibst maßlos. Ich "in ein Engel, im Vergleich zu ihm.« »Vielleicht bist du vergleichsweise ein Engel, nur kenne ich den
N agual Julian nicht und kann dich nicht m it ihm vergleichen.«
E r la c h te n o c h e in m a l a u f, d a n n w u rd e e r w ie d e r e rn st. »Ic h w e iß
n ic h t, w ie so , a b e r ic h h a b e e in d e u tig A n g st«, e rk lä rte ich.
»G laub st d u, d aß d u G rund zur A ngst hast? « fragte er und b l i e b
stehen, um m ich aufm erksam anzusehen.
D e r T o n se in e r S tim m e u n d se in e h o c h g e z o g e n e n A u g e n b ra u e n
m achten m ir den E indruck, als verdächtige er m ich, etw as zu w issen,
w as ich ihm nicht offenbaren w ollte. E s w ar klar, er erw artete ein
G eständ nis vo n m ir.
»D eine B eharrlichkeit erstaunt m ich«, sagte ich. »B ist d u sicher.
d a ß n ic h t d u e s b ist, d e r e tw a s in p e tto h a t? « »A lle rd in g s h a b e ic h
e tw a s in p e tto «, g a b e r g rin se n d z u . »A b e r das ist jetzt unw ichtig.
W ichtig ist, daß dich h ie r , in dieser S t a d t , etw as erw artet. E ntw eder
du w eißt nicht, w as es ist, oder du w eißt e s, w a g st a b e r n i c h t , e s
m ir z u sa g e n , o d e r d u w e iß t ü b e rh a u p t nichts davon.«
»N a, w as erw artet m ich hier? «
S tatt einer A ntw o rt b eschleunigte D o n Juan ab rup t seinen S c h ritt,
u n d w ie d e r m a rsc h ie rte n w ir sc h w e ig e n d u m d ie P la z a . W ir
u m ru n d e te n sie e in ig e M a le u n d su c h te n n a c h e in e m P la tz , w o
w ir u n s se tz e n k ö n n te n . Je tz t sta n d e i n e G ru p p e j u n g e r F ra u e n
v o n e in e r B a n k a u f u n d g in g fo rt.
»S eit Jahren schon schildere ich dir die irrigen P raktiken der Z au
berer im alten M exiko«, sagte D on J u a n , w ährend er sich auf die
B ank setzte und m ich m it einer G ebärde e i n l u d , neben i h m P la tz z u
n e h m e n . M it e in e r L e id e n sc h a ft, a ls h a b e e r n i e z u v o r d a v o n
g e sp ro c h e n , b e g a n n e r a b e rm a ls z u e rz ä h le n , w a s e r m ir so o ft
g e sa g t h a tte - n ä m lic h , d a ß je n e Z a u b e re r, g e le ite t v o n s e h r
selb stsüchtigen Interessen, all ihr B em ühen in d ie V ervo llko m m nung vo n P raktiken legten, d ie sie im m er w eiter vo n nüchternem
D enken oder geistiger B alance entfernten, bis sie schließlich aus g e lö sc h t w u rd e n , a ls ih re k o m p liz ie rte n G la u b e n sg e b ä u d e u n d
P raktiken so hind erlich gew o rd en w aren, d aß sie d iese nicht w ei te rfü h re n k o n n te n .
»D ie Z a u b e re r d e r V o rz e it le b te n u n d w e b te n n a tü rlic h h ie r in
d ieser G egend «, sagte er und b eo b achtete m eine R eaktio n. »H ier
in d ie se r S ta d t. D ie se S ta d t ist w irk lic h a u f d e n F u n d a m e n te n
e in e r ih re r S tä d te e rb a u t. H ie r in d ie se r G e g e n d b e trie b e n d ie Z a u b e re r d e r V o rz e it a lle ih re G e sc h ä fte .« »W o her w eiß t d u d as so sicher. D o n Juan? « »Ich w eiß es, und auch d u w irst es b a l d w issen.« M e in e z u n e h m e n d e A n g st z w a n g m ic h , e tw a s z u t u n . w a s ic h nicht gern tat: m ich auf m ich selb st ko nzentrieren. D o n Juan, d er m e in e F ru stra tio n sp ü rte , sta c h e lte m ic h w e ite r a n . »S ehr bald w erden w ir w issen, ob du w irklich den a lte n Z auberern ä h n lic h b ist, o d e r d o c h d e n n e u e n «, sa g te e r. »D u m achst m ich verrückt m it all diesen düsteren, seltsam en A nd e u tu n g e n «, p ro te stie rte ic h . M e in e d re iz e h n jä h rig e V e rb in d u n g m it D o n Ju a n h a tte m ic h v o r allem daran gew öhnt, m it einer P anik zu leben, die ständig lauerte und jed erzeit lo sgelassen w erd en ko nnte. D o n Ju a n sc h ie n z u z a u d e rn . I c h b e m e rk te se in e v e rsto h le n e n B licke in R ichtung d er K irche. E r w ar so gar ein w enig zerstreut. A ls ic h ih n a n sp ra c h , h ö rte e r n ic h t z u . Ic h m u sste m e in e F ra g e w ie d e rh o le n . »E rw a rte st d u je m a n d e n ? « »Ja «, sa g te e r. »Ja . g a n z g e w iß . Ic h h a b e e b e n d ie U m g e b u n g gefühlt. D u hast m ich b eim Ü b erp rüfen d er G egend m it m einem E n e rg ie k ö rp e r ü b e rra sc h t.« »W as hast d u gefühlt, D o n Juan? « »M e in E n e rg ie k ö rp e r f ü h l t e , d a ß a lle s in O rd n u n g ist. H e u te ab end s geht d er V o rhang auf. D u b ist e in H aup td arsteller. Ich b in eine C harakter-C harge m it einer k l e i n e n , ab er w ichtigen R o lle. Im ersten A kt gehe ich a b .« »W as, um H im m els w ille n , sprichst du da?« E r antw ortete m ir n ic h t. E r lä c h e lte nur w issend. » I c h bereite die B ühne vor«, sagte er. »U m dich sozusagen auf die Idee einzustim m e n , d a ß d ie m o d e rn e n Z a u b e re r e in e h a rte L e k tio n z u le rn e n h a b e n . S ie h a b e n e rk a n n t, d a ß sie n u r d a n n , w e n n sie v ö llig lo s gelö st b leib en, genügend E nergie aufb ringen kö nnen, um frei zu se in . Ih r G e sc h ic k ist e in e b e so n d e re L o sg e lö sth e it, n ic h t a u s A n g st o d e r T rä g h e it g e b o re n , so n d e rn a u s Ü b e rz e u g u n g .« D o n Ju a n h ie lt in n e u n d sta n d a u f, e r stre c k te d ie A rm e n a c h vo rne, zur S eite und d ann nach hinten. »M ach es genauso «, em p fa h l e r m ir. »E s e n tsp a n n t d e n K ö rp e r, u n d d u m u ß t se h r e n tsp annt sein, und gefaß t auf d as. w as d i r heute ab end s b evo rsteht.« E r g rin ste b re it. »H e u te a b e n d s ste h t d ir e n tw e d e r v ö llig e L o slö
sung oder totales Sichgehenlassen bevor. Es ist eine Wahl, die jeder Nagual meiner Linie einmal treffen muß.« Er setzte sich wieder und holte tief Luft. Was er gesagt hatte, schien all seine Energie aufgebraucht zu haben. »Ich glaube, ich kann Losgelöstheit und Sichgehenlassen ganz gut unterscheiden«, fuhr er fort, »weil ich das Vorrecht hatte, zwei Naguals zu kennen: meinen Wohltäter, den Nagual Julian. und dessen Wohltäter, den Nagual Elias. Ich habe den Unterschied zwischen den beiden gesehen. Der Nagual Elias war in einem Maße losgelöst, daß er ein Geschenk der Kraft ausschlagen konnte. Der Nagual Julian war ebenfalls losgelöst, aber nicht genug, um solch ein Geschenk abzulehnen.« »Nach der Art, wie du sprichst«, sagte ich. »muß ich annehmen, daß du mich heute abend auf die Probe stellen willst, irgendwie. Ist das wahr?« »Ich habe nicht die Macht, dich auf irgendwelche Proben zu stellen, aber der Geist wird es tun.« Dies sagte er grinsend, und dann fuhr er fort: »Ich bin nur sein Handlanger.« »Was wird der Geist mit mir machen. Don Juan?« »Ich kann nur sagen, du wirst heute nacht eine Lektion im Träumen bekommen, in der Art. wie Traumlektionen einmal waren. aber du wirst diese Lektion nicht von mir bekommen. Jemand anders wird heute nacht dein Lehrer und Führer sein.« »Wer wird mein Lehrer und Führer sein?« »Ein Besucher, der eine gewaltige Überraschung für dich sein könnte - oder gar keine Überraschung.« »und was ist das für eine Lektion im Träumen, die ich erhalten soll?« »Es ist eine Lektion über die vierte Pforte des Träumens. Und sie zerfällt in zwei Teile. Den ersten Teil werde ich dir gleich erklären. Den zweiten Teil kann dir niemand erklären, weil es etwas ist. was nur dich betrifft. Alle Naguals meiner Linie erhielten diese zweiteilige Lektion, aber keine zwei solcher Lektionen waren sich gleich. Sie waren maßgeschneidert und angepaßt an die persönlichen Charakterneigungen dieser Naguals.« »Deine Erklärung hilft mir nicht weiter. Don Juan. Ich werde immer nervöser.« Lange schwiegen wir. Ich war aufgeregt und zappelig und wußte nicht, was ich sagen sollte, ohne wieder einmal zu nörgeln. 210
»Wie du schon weißt, ist das direkte Wahrnehmen von Energie für moderne Zauberer eine persönliche Leistung«, sagte Don Juan. »Nur durch Selbstdisziplin bewegen wir unseren Montagepunkt. Für die alten Zauberer war die Verschiebung des Montagepunktes eine Folge ihrer Unterwerfung unter andere, nämlich ihre Lehrer. die diese Verschiebung durch dunkle Praktiken erreichten und sie dann ihren Schülern als Geschenke der Kraft überließen. Denn jemand, dessen Energie stärker ist als die unsere, kann alles mögliche mit uns anstellen«, fuhr er fort. »Der Nagual Julian zum Beispiel hätte alles aus mir machen können, ganz nach seinem Belieben, einen Schurken oder einen Heiligen. Aber er war ein makelloser Nagual und erlaubte mir, ich selbst zu sein. Die alten Zauberer waren nicht so makellos, und durch ihr unermüdliches Bemühen, Herrschaft über andere zu gewinnen, schufen sie eine Situation der Angst und Finsternis, die von Lehrer zu Schüler weitergereicht wurde.« Erstand auf und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. »Wie du siehst, ist dies keine besondere Stadt«, fuhr er fort. »Aber für die Krieger meiner Linie hat sie eine einzigartige Anziehung. Hier liegt der Ursprung dessen, was wir sind, und der Ursprung dessen, was wir nicht sein wollen. Da ich am Ende meiner Zeit angekommen bin. muß ich dir ge wisse Ideen weitergeben, dir gewisse Geschichten erzählen, dich mit gewissen Wesen bekannt machen, und zwar unmittelbar hier. in dieser Stadt, genau wie mein Wohltäter es bei mir tat.« Und Don Juan sagte, daß er nur etwas wiederhole, was mir bereits vertraut sei, nämlich daß alles, was er war. und alles, was er wußte, ein Vermächtnis seines Lehrers sei. des Nagual Julian. Dieser wiederum erbte alles von seinem Lehrer, dem Nagual Elias. Der Nagual Elias vom Nagual Rosendo. Und dieser vom Nagual Lujan; der Nagual Lujan vom Nagual Santisteban; und der Nagual Santisteban vom Nagual Sebastian. Und in sehr offiziellem Ton sagte er mir noch einmal, was er mir schon oft erklärt hatte, nämlich, daß es acht Naguals vor dem Nagual Sebastian gegeben habe, daß diese aber ganz anders geartet gewesen seien. Sie hätten eine andere Einstellung zur Zaubereigehabt, eine andere Vorstellung davon, obwohl sie dennoch in unmittelbarer Verbindung zu seiner Linie von Zauberern standen. 211
»Je tz t e rin n e re d ic h u n d w ie d e rh o le m ir a lle s, w a s ic h d ir v o m N agual S eb astian erzählt hab e«, verlangte er. S ein A nsinnen kam m ir sonderbar vor. aber ich w iederholte alles. w a s m ir v o n ih m o d e r se in e n G e fä h rte n ü b e r d e n N a g u a l S e b a stia n u n d d e n sa g e n h a fte n a lte n Z a u b e re r e rz ä h lt w o rd e n w a r. ü b e r d e n , d e r d e m T o d e tro tz t, d e n sie d e n M ie te r n a n n te n . »D u w eißt, daß j e n e r , der dem T ode trotzt, uns in j e d e r G eneratio n e in G e sc h e n k d e r K ra ft m a c h t«, sa g te D o n Ju a n . »D ie b e so n d e re A rt d ie se r G e sc h e n k e d e r K ra ft h a t d ie E n tw ic k lu n g unserer L inie veränd ert.« U n d e r e rk lä rte , d a ß d e r M ie te r, a ls Z a u b e re r d e r a lte n S c h u le . von seinen L ehrern alle F einheiten der V erlagerung seines M on ta g e p u n k te s g e le rn t h a b e . D a e r w o h l a u f Ja h rta u se n d e e i n e s so nd erb aren L eb ens und B ew uß tseins zurückb licke - Z eit genug. um all dies zu vervollkom m nen -. verstünde er sich auf das E r r e i chen und F esthalten von H underten, gar T ausenden solcher P osi tio n e n d e s M o n ta g e p u n k te s. S e in e G e sc h e n k e d e r K ra ft s e i e n W egw eiser zum V erlagern des M ontagepunkts an gew isse S te lle n , w ie auch A nleitungen, ihn in jed er d ieser P o sitio nen festzuhalten und auf d iese W eise innere K o häsio n zu erreichen. D on Juan w ar in seiner H öchstform als E rzähler. N ie hatte ich i h n d ram atischer erleb t. H ätte ich ihn nicht b esser gekannt, ich hätte geschw o ren, d aß d er tiefe, b eso rgte K lang seiner S tim m e e i n e n M e n sc h e n v e rrie t, d e r v o n F u rc h t u n d S o rg e g e p a c k t ist. S e in e G eb ärd en zeigten ihn m ir als guten S chausp ieler, d er N ervo sität und B eso rgnis p erfekt d arzustellen w eiß . M it einem S eitenb lick zu m ir erö ffnete m ir D o n Juan - ganz im T on, als habe er eine schm erzliche O ffenbarung zu m achen -, daß zum B eispiel der N agual L ujan vom M ieter gar fünfzig P ositionen d e s M o n ta g e p u n k te s z u m G e sc h e n k e rh a lte n h a b e . D o n Ju a n schüttelte d en K o p f, als gäb e er m ir w o rtlo s zu b ed enken, w as er eb en gesagt hatte. I c h b lieb stum m . »Fünfzig P ositionen!« rief er staunend aus. »A ls G eschenk s o llte n e in o d e r z w e i P o sitio n e n d e s M o n ta g e p u n k te s v o lla u f g e n ü gen.« E r z u c k te d ie S c h u lte rn u n d d e u te te B e stü rz u n g a n . » I c h h a b e gehört, daß der M ieter den N agual L ujan sehr gern m ochte«, fuhr e r fo rt. »S ie sc h lo sse n so e n g e F re u n d sc h a ft, d a ß sie p ra k tisc h unzertrennlich w aren. I c h hab e auch gehö rt, d aß d er M ieter und 212
der N agual L ujan jeden M orgen zur F rühm esse in die K irche dort drüben gingen.« »H ier, in d ieser S tad t? « fragte i c h , vö llig üb errascht. »G e n a u h ie r«, e rw id e rte e r. »W o m ö g lic h sa ß e n sie v o r h u n d e rt Jahren genau an d ieser S telle, auf einer and eren B a n k . « »D er N agual L ujan und der M ieter - sind sie w irklich hier herum gelaufen? « fragte ich no ch einm al, unfähig, m eine Ü b erraschung zu verw inden. »D arauf kannst d u w etten!« rief er. »Ich b rachte d ich heute ab end h ie rh e r, w e il d a s G e d ic h t, d a s d u m ir v o rg e le se n h a s t , m ir e in Z e ic h e n g a b , d a ß e s Z e it fü r d ic h ist. d e m M ie te r z u b e g e g nen.« P a n ik b e fie l m ic h m it d e r M a c h t e in e s W a ld b ra n d e s. Ic h m u sste so gar eine W eile d urch d en M und atm en. »Ü b er d ie so nd erb aren E rrungenschaften d er Z aub erer d er V o rz e it h a b e n w ir sc h o n g e sp ro c h e n «, fu h r D o n Ju a n fo rt. »A b e r e s ist im m e r sc h w ie rig , a u ssc h lie ß lic h in Id e a lb ild e rn z u sp re c h e n , ohne K enntnis aus erster H and. U nd bis zum jüngsten T ag könnte ich d ir etw as w ied erho len, d as m ir glasklar ist. d as d u ab er w ed er b e g re ife n n o c h g la u b e n k a n n st, w e il d u k e in e rle i p ra k tisc h e K enntnis davon h a s t.« E r stand auf und m usterte m ich von K opf bis F uß. »K om m , gehen w ir z u r K irc h e «, sa g te e r. »D e r M ie te r lie b t d ie K irc h e u n d i h r e U m geb ung. Ich b in sicher, d ies ist d er richtige M o m ent, um hin zugehen.« N ur w enige M ale im L auf m einer V erbindung m it D on Juan h a t t e ic h so b a n g e A h n u n g e n g e h a b t. Ic h w a r w ie b e tä u b t v o r A n g st. A ls ic h a u fsta n d , z itte rte ic h a m g a n z e n L e ib . M e in M a g e n w a r e in ste in h a rte r K n o te n , u n d d o c h fo lg te ic h i h m w o rtlo s, a ls e r ach auf den W eg zur K irche m achte - m eine K nie schlotternd und b e i je d e m S c h ritt u n w illk ü rlic h e in k n ic k e n d . B is w ir d ie k u rz e S traß e vo n d er P laza zur S teintrep p e vo r d em K irchenp o rtal zu rückgelegt hatten, w ar ich einer O hnm acht nahe. D o n Juan legte n u r d e n A rm u m d ie S c h u lte r u n d stü tz te m ic h . »D a ist d e r M ie te r«, sa g te e r so b e ilä u fig , a ls h a b e e r n u r e i n e n a lte n F re u n d e n td e c k t. Ic h b lic k te in d ie R ic h tu n g , d ie e r g e z e ig t h a tte , u n d sa h e in e G rup p e vo n fünf F rauen und d rei M ännern auf d er gegenüb erlie g e n d e n S e ite d e s P o rtik u s. M e in ra sc h e r, ä n g stlic h e r B lic k re g i 213
strierte nichts Ungewöhnliches an diesen Leuten. Ich konnte nicht einmal feststellen, ob sie in die Kirche gingen oder herauskamen. Ich merkte allerdings, daß sie nur zufällig hier beisammen standen. Sie gehörten nicht zusammen. Bis Don Juan und ich die kleine, in das massive, hölzerne Portal der Kirche eingelassene Tür erreicht hatten, waren drei der Frauen in die Kirche eingetreten. Die drei Männer und die zwei anderen Frauen gingen fort. Einen Augenblick war ich verwirrt und sah Don Juan fragend an. Er deutete mit einer Kopfbewegung nach dem Weihwasserbecken. »Wir müssen die Regeln befolgen und uns bekreuzigen«, flüsterte er. »Wo ist der Mieter?« fragte ich, ebenfalls flüsternd. Don Juan tauchte die Fingerspitzen ins Becken und schlug das Kreuzzeichen. Mit einer gebieterischen Kopfbewegung drängte er mich, es ihm gleichzutun. »War der Mieter einer der drei Männer, die gegangen sind?« flü sterte ich ihm ins Ohr. »Nein«, flüsterte er zurück. »Der Mieter ist eine der drei Frauen, die geblieben sind. Sie kniet dort, in der hinteren Reihe.« In diesem Moment drehte eine Frau in der hinteren Reihe sich nach mir um, lächelte und nickte. Mit einem Satz war ich an der Tür und draußen. Don Juan lief hinter mir her. Mit unglaublicher Behendigkeit holte er mich ein und packte mich am Arm. »Wohin läufst du?« fragte er. sein Gesicht und sein ganzer Körper vor Lachen verzerrt. Er hielt mich unerbittlich am Arm. während ich nach Luft schnappte. Ich glaubte zu ersticken. Sein Lachen schwoll an. don nernd wie Meeresbrandung. Ich riß mich gewaltsam los und marschierte zur Plaza. Er folgte mir. »Ich hätte nie geglaubt, daß es dich so umwerfen würde«, meinte er, noch immer von Lachen geschüttelt. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß der Mieter eine Frau ist?« »Dieser Zauberer ist der. der dem Tode trotzt«, sagte er feierlich. »Für solch einen Zauberer, so erfahren im Verlagern seines Mon tagepunktes, ist es eine Frage der Wahl oder Vorliebe, ob er als Mann oder als Frau auftreten will. Dies ist der erste Teil der Lek
tion im Träumen, die du - wie ich sagte - heute erhalten wirst. Und der dem Tod Trotzende ist jener geheimnisvolle Besucher. der dich dabei führen wird.« Er hielt sich noch immer den Bauch, geschüttelt von hustendem Lachen. Ich war sprachlos. Dann packte mich plötzliche Wut. Ich war nicht wütend auf Don Juan oder mich selbst oder auf sonst jemanden. Es war ein kalter Zorn, der sich anfühlte, als ob meine Brust und meine Halsmuskeln bersten wollten. »Komm, gehen wir zurück zur Kirche«, schrie ich und kannte meine eigene Stimme nicht wieder. »Na, na«, sagte er leise. »Nur nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand. Denke mal nach. Überlege. Wäge die Dinge. Kühle erst mal deine Wut ab. Noch nie im Leben bist du auf eine solche Probe gestellt worden. Was du jetzt brauchst, ist Gelassenheit. Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst«, fuhr er fort. »Ich kann dich nur, wie jeder Nagual es tut, vor die Herausforderung stellen, nachdem ich dir, wenn auch indirekt, alles gesagt habe, was du wissen mußt. Dies ist wieder eines dieser Nagual-Manöver: alles zu sagen, ohne es direkt zu sagen; oder zu fragen, ohne direkt zu fragen.« Ich wollte es rasch hinter mich bringen. Aber Don J uan meinte, daß eine kurze Pause mir den Rest meiner Selbstsicherheit wie dergeben würde. Mir zitterten noch die Knie. Fürsorglich half mir Don Juan, mich auf den Rinnstein zu setzen. Er setzte sich neben mich. »Der erste Teil dieser Traum-Lektion besagt, daß das Männliche und das Weibliche nicht endgültige Zustände, sondern die Folge einer spezifischen Position des Montagepunktes sind«, sagte er. »Und dies ist natürlich eine Frage von Willenskraft und Training. Weil dies ein Thema ist, ganz nach dem Herzen der alten Zauberer, können sie als einzige Licht in die Sache bringen.« Vielleicht weil es das einzig Vernünftige war, was mir zu tun blieb. fing ich an, mit Don Juan zu streiten. »Was du sagst, kann ich Weder glauben noch akzeptieren«, rief ich. Und spürte Hitze in mein Gesicht steigen. »Aber du hast die Frau doch gesehen«, erwiderte Don Juan. »Glaubst du, all dies sei nur ein Trick?« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« 215
»Das Wesen in der Kirche ist eine echte Frau«, sagte er mit Nach druck. »Wieso ist das so beunruhigend für dich? Die Tatsache, daß sie als Mann geboren ist, bestätigt doch nur. welche Kraft die Machenschaften der alten Zauberer hatten. Es sollte dich nicht überraschen. Du hast doch alle Prinzipien der Zauberei am eigenen Leib erfahren.« Ich glaubte vor innerer Spannung zu explodieren. Und Don Juan warf mir jetzt vor, ich sei wohl nur streitlustig. Mit bemühter Geduld und wahrer Großspurigkeit erklärte ich ihm die biologischen Grundlagen von Männlichkeit und Weiblichkeit. »Das weiß ich doch alles«, sagte er. »Und du hast recht mit allem, was du sagst. Dein Fehler ist nur. daß du deine Urteile verallgemeinern willst.« »Wir sprechen hier über Grundprinzipien«, schrie ich. »Sie gelten für Menschen hier und überall im Universum.« »Richtig, richtig«, sagte er mit leiser Stimme. »Alles, was du sagst, ist richtig solange unser Montagepunkt in seiner gewohnten Position bleibt. Aber sobald er über gewisse Grenzen hinaus verschoben ist und unsere Alltagswelt keine Geltung mehr hat, verlieren all die Prinzipien, von denen du sprichst, ihren absoluten Wert. Dein Fehler ist, zu vergessen, daß der dem Tod Trotzende diese Grenzen tausendabertausendmal überschritten hat. Man und braucht kein Genie sein, um zu erkennen, daß der Mieter nicht mehr durch dieselben Kräfte gebunden ist. die dich jetzt bin den.« Ich sagte ihm, daß mein Sträuben - falls man es als Sträuben bezeichnen konnte - nicht ihm galt, sondern den praktischen Seiten der Zauberei, die ich noch nie akzeptieren konnte und die mir schon immer so abstrus erschienen waren, daß sie eigentlich nie ein Problem für mich darstellten. Und ich wiederholte, daß ich als Träumer wohl aus eigener Erfahrung bestätigen könne, daß beim Träumen alles möglich ist. Ich erinnerte ihn daran, daß er selbst diese Überzeugung bei mir genährt und gehegt habe, zusammen mit dem Sinn für die Notwendigkeit gesunder Vernunft. Was er nun aber im Fall des Mieters vorbrachte, sei nicht vernünftig. Es sei lediglich ein Motiv für das Träumen, nicht aber für die alltäg liche Welt. Ich gab ihm klar zu verstehen, daß es für mich ein unhaltbarer und abscheulicher Standpunkt sei.
»Warum diese heftige Reaktion?« fragte er lächelnd. Seine Frage traf mich unvorbereitet. Ich wurde verlegen. »Ich glaube, es bedroht mich im Innersten«, gestand ich: und meinte es aufrichtig. Mir vorzustellen, daß die Frau in der Kirche ein Mann sei, war irgendwie ekelhaft. Und nun verfiel ich auf einen Gedanken: wie, wenn der Mieter ein Transvestit wäre? Ich fragte Don Juan allen Ernstes nach dieser Möglichkeit. Er lachte so unbändig, daß es fast schien, er müsse sich übergeben. »Das ist eine zu profane Möglichkeit«, sagte er. »Vielleicht würden deine alten Freunde so etwas tun. Deine neuen Freunde sind einfallsreicher und weniger onanistisch. Ich wiederhole: Dieses Wesen in der Kirche ist eine Frau. Es ist eine >Sie<. Und sie hat alle Organe und Attribute einer Frau.« Er lächelte boshaft. »Du bist doch immer von Frauen fasziniert, nicht wahr? Mir scheint, diese Situation ist maßgeschneidert für dich.« Erfreute sich so ausgelassen und kindlich, daß seine Fröhlichkeit ansteckend war. Wir lachten beide - er ganz unbeschwert, ich völlig verklemmt vor Angst. Und nun kam ich zu einem Entschluß. Ich stand auf und sagte mit lauter Stimme, daß ich nichts mit dem Mieter zu tun haben wolle. in welcher Gestalt auch immer. Ich hatte mich entschieden, die ganze Sache zu vergessen und zurückzukehren - zuerst zu Don Juans Haus, dann nach Hause. Don Juan meinte, er sei mit meiner Entscheidung völlig einver standen, und so machten wir uns auf den Rückweg zu seinem Haus. Meine Gedanken rasten dahin. Mache ich das Richtige? Laufe ich aus Angst davon? Natürlich rechtfertigte ich meine Ent scheidung sofort als die einzig richtige und unvermeidliche. Im merhin, so versicherte ich mir selbst, hatte ich kein Interesse an irgendwelchen Erwerbungen, und die Geschenke des Mieters waren fast wie erworbener Besitz. Dann beschlichen mich Zweifel und Neugier. Ich hatte so viele Fragen, die ich dem stellen könnte, der dem Tode trotzte. Mein Herz schlug so stark, daß ich sein Pochen bis in die Magen grube fühlte. Auf einmal verwandelte sich dieses Pochen in die Stimme des Botschafters. Er brach sein Versprechen, sich nicht mehr einzumischen, und sagte, daß eine unglaubliche Kraft meinen Herzschlag beschleunige, um mich zurück zur Kirche zu
z ie h e n : d e n n n a c h D o n Ju a n s H a u s z u rü c k z u g e h e n b e d e u te d e n sicheren T od. Ich b lieb stehen und w ied erho lte D o n Juan hastig d ie W o rte d es B o tschafters. »Ist es w ahr? « fragte ich. »Ich fürchte, j a « , gestand er einfältig. »W arum hast du es m ir nicht selbst gesagt. D on Juan? W olltest du m ic h ste rb e n la sse n , w e il d u m ic h fü r e in e n F e ig lin g h ä ltst'.'« fragte ich ihn aufgeb racht und w ütend . »D u w ärst schon nicht gleich gestorben. D ein E nergiekörper v e r fü g t ü b e r u n b e g re n z te M itte l. U n d d ic h fü r e in e n F e ig lin g z u halten w äre m ir nie in den S inn gekom m en. Ich respektiere d e in e E ntscheidungen und küm m ere m ich nicht darum , w elche M otive dich dabei leiten. D u bist am E nde des W eges angekom m en, genau w ie ich. Sei also ein w ahrer N agual. S chäm e dich nicht für das, w as du bist. W ärst du ein Feigling, glaube ich. dann w ärest du schon längst vor A ngst g e sto rb e n . A b e r w e n n d u d ic h fü rc h te st, d e m z u b e g e g n e n , d e r d e m T o d e tro tz t, d a n n stirb lie b e r, a ls ih m e n tg e g e n z u tre te n . A uch d as ist keine S chand e.« »L o s, g e h e n w ir z u rü c k z u r K irc h e «, sa g te ic h , so ru h ig i c h konnte. »Jetzt kom m en w ir zum K ern der S ache!« rief D on Juan. »Z uerst a b e r la ß u n s n o c h e in m a l in d e n P a rk g e h e n , u n s a u f e in e B a n k setzen und so rgfältig d eine A lternativen üb erlegen. W ir kö nnen die Z eit ja w ieder aufholen; außerdem ist es zu früh für die S ache. die w ir vorhaben.« W ir w a n d e rte n z u rü c k z u m P a rk u n d fa n d e n so fo rt e in e fre ie B ank und setzten uns. »D u m uß t b egreifen, d aß nur d u selb st d ie E ntscheid ung treffen kannst, dem M ieter zu begegnen und sein G eschenk der K raft a n zunehm en o d er zurückzuw eisen«, sagte D o n Juan. »A b er d e i n e E ntscheid ung m uß t d u d er F rau in d er K irche selb st sagen - vo n A ngesicht zu A ngesicht und a lle in . Sonst w ürde sie nicht g e lte n .« U nd D o n Juan sagte, d aß d ie G ab en d es M ieters zw ar gro ß artig seien, der P reis dafür aber ungeheuer. E r selbst könne keines von b e id e n a k z e p tie re n , w e d e r d ie G a b e n o c h d e n P re is. »B evor du w irklich deine E ntscheidung t r i f f s t « , sagte D on J u a n . »m u ß t d u a lle D e ta ils u n se re r V e rb in d u n g z u d ie se m Z a u b e re i kennen.«
»Ich möchte lieber nichts davon hören. Don Juan«, flehte ich. »Es ist deine Pflicht, es zu erfahren«, sagte er. »Wie sonst könntest du dich entscheiden?« »Glaubst du nicht, es ist besser für mich, je weniger ich von dem Mieter weiß?« »Nein. Hier kann man sich nicht verstecken, bis die Gefahr vorbei ist. Dies ist der Augenblick der Wahrheit. Alles, was du bislang in der Welt der Zauberer getan und erlebt hast, führte dich bis an diesen Punkt. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich wußte, daß dein Energiekörper es dir sagen würde, aber es gibt kein Auswei chen vor dieser Verabredung. Nicht einmal durch den Tod. Ver stehst du?« Er rüttelte mich an den Schultern. »Verstehst du?« wiederholte er. Ich verstand so gut. daß ich ihn fragte, ob es ihm möglich wäre. mich auf eine andere Bewußtseinsebene zu versetzen, um meine Angst und Panik zu lindern. Ich duckte mich unter seinem don nernden »Nein«. »Du mußt dem, der dem Tode trotzt, kaltblütig und äußerst be wußt entgegentreten«, fuhr er fort. »Du kannst es nicht stellver tretend tun.« Ganz ruhig begann Don Juan nun alles zu wiederholen, was er mir bereits über jenen, der dem Tode trotzt, erzählt hatte. Während er sprach, wurde mir klar, daß meine Verwirrung zum Teil durch seine Wortwahl bedingt war. Er gab die Bezeichnung »der dem Tode trotzt« auf Spanisch wieder, mit el desafiante de la muerte. und »Mieter« mit el inquilino - beides Worte, die automatisch ein männliches Wesen bezeichnen. Doch in der Schilderung der Be ziehung zwischen dem Mieter und den Naguals seiner Linie vermischte Don Juan dauernd den männlichen und weiblichen Genus des Spanischen, was mich einigermaßen verwirrte. Er sagte, daß der Mieter für die Energie bezahlen müsse, die er von den Naguals unserer Linie beziehe, doch der Preis, den er bezahle, verpflichte diese Zauberer seit Generationen. Als Bezahlung für die von allen diesen Naguals bezogene Energie habe die Frau in der Kirche sie gelehrt, was sie tun müßten. um ihren Montagepunkt in gewisse Positionen zu bringen, die sie selbst ge wählt habe. Mit anderen Worten, sie verpflichte jeden dieser Männer durch ein Geschenk der Kraft, bestehend aus einer vor
bestimmten, spezifischen Position des Montagepunktes - mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. »Was verstehst du unter >allen daraus resultierenden Konsequenzen< Don Juan?« »Ich meine die negativen Folgen dieser Gaben. Die Frau in der Kirche kennt nur das Sichgehenlassen. Bei dieser Frau gibt es keine Nüchternheit, keine Mäßigung. Zum Beispiel lehrte sie den Nagual Julian, seinen Montagepunkt so zu arrangieren, daß er. genau wie sie, eine Frau werden konnte. Meinen Wohltäter so etwas zu lehren, der ein unheilbarer Lüstling war - das war. als gäbe man einem Säufer Schnaps zu trinken.« »Aber liegt es nicht an jedem von uns, verantwortlich zu sein für das. was wir tun?« »Ja, gewiß. Manchen von uns fällt es aber schwerer als anderen, verantwortlich zu sein. Diese Schwierigkeit absichtlich noch zu steigern, wie diese Frau es tut. heißt, uns unnötig unter Druck setzen.« »Woher weißt du, daß die Frau in der Kirche dies absichtlich tut?« »Sie hat es bei jedem Nagual meiner Linie so gemacht. Wenn wir uns ehrlich und aufrichtig betrachten. müssen wir zugeben, daß der dem Tode Trotzende uns durch seine Gaben zu einer Linie von sehr selbstgefälligen, abhängigen Zauberern gemacht hat.« Ich konnte nicht länger über seinen unstimmigen Sprachgebrauch hinwegsehen und beklagte mich bei ihm. »Du solltest diesen Zauberer entweder als männlich oder als weiblich bezeichnen, nicht aber als beides«, sagte ich streng. »Ich bin zu spießig, und dein willkürlicher Gebrauch des Geschlechtspronomens ist mir wirklich unangenehm.« »Mir selbst ist es sehr unangenehm«, gestand er. »Die Wahrheit ist, daß der dem Tode Trotzende beides ist: männlich und weib lich. Ich konnte mich nie mit den Verwandlungen dieses Zauberers abfinden. Ich war mir sicher, daß es dir genauso ergehen würde, nachdem du ihn zuerst als Mann gesehen hattest.« Don Juan erinnerte mich daran, wie er mich einmal, vor Jahren. zu einer Begegnung mit dem, der dem Tode trotzt, mitgenommen habe und ich einen Mann kennengelernt hatte, einen sonderbaren Indianer, der nicht alt und auch nicht j ung war, und von sehr grazilem Körperbau. Hauptsächlich erinnere ich mich an seinen
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merkwürdigen Akzent, und wie er eine sonderbare Metapher be nutzte, wenn er von Dingen sprach, die er angeblich gesehen hatte. Er sagte: mis ojos se pasearon - meine Augen wanderten auf.. • Zum Beispiel konnte er sagen: »Meine Augen wanderten auf den Helmen der spanischen Eroberer.« Es war ein so flüchtiges Ereignis in meiner Erinnerung, daß ich glaubte, die Begegnung habe nur Minuten gedauert. Don Juan sagte mir später, daß ich einen ganzen Tag mit dem. der dem Tode trotzt, zusammen gewesen war. »Weißt du, warum ich vorhin von dir erfahren wollte, ob du weißt, was hier vor sich geht?« fuhr Don Juan fort. »Weil ich glaubte. daß du selbst vor Jahren eine Verabredung mit dem. der dem Tode trotzt, getroffen hättest.« »Du schmeichelst mir unverdient, Don Juan. In diesem Fall weiß ich nicht ein noch aus. Aber was brachte dich auf die Idee, ich könnte es wissen?« »Der dem Tode Trotzende hatte anscheinend Zuneigung zu dir gefaßt. Und das bedeutete für mich, daß er dir vielleicht ein Ge schenk der Kraft gegeben haben mochte, auch wenn du dich nicht daran erinnerst. Oder vielleicht hatte er dich zu einer Verabredung mit ihm als Frau bewogen. Ich vermutete sogar, sie habe dir präzise Anweisungen gegeben.« Und Don Juan erzählte mir, daß der dem Tode Trotzende, offenbar ein Freund ritueller Gewohnheiten, den Naguals seiner Linie immer zuerst als Mann, wie im Falle des Nagual Sebastian, und anschließend als Frau begegnete. »Warum bezeichnest du die Gaben dessen, der dem Tode trotzt, als Geschenke der Kraft? Und wozu all dieses Geheimnis?« fragte ich. »Du selbst kannst deinen Montagepunkt nach Belieben an jede Stelle verschieben, nicht wahr?« »Wir nennen diese Gaben Geschenke der Kraft, weil sie Produkte dieses spezialisierten Wissens der Zauberer aus der Vorzeit sind«. sagte er. »Das Geheimnis der Gaben liegt darin, daß niemand auf Erden, mit Ausnahme dessen, der dem Tode trotzt, uns eine Probe dieses Wissens geben kann. Und natürlich kann ich meinen Montagepunkt an jede Stelle verschieben, wohin ich will, inner halb wie außerhalb der menschlichen Energiegestalt. Was ich aber nicht kann und was nur der dem Tode Trotzende kann, ist zu wissen, was ich in jeder dieser Positionen mit meinem Energie
körper tun soll, um die totale W ahrnehm ung, die totale K ohäsion zu erreichen.« U nd dann erklärte er m ir. daß die m odernen Z auberer nichts von d e n D e ta ils d e r ta u se n d u n d a b e rta u se n d m ö g lic h e n P o sitio n e n des M ontagepunktes w üßten. »W as verstehst du unter D etails?« fragte ich. »B esondere A rten, den E nergiekörper einzusetzen, um den M ontagepunkt in bestim m ten P ositionen fixiert zu halten«, antw ortete er. E r verw ies auf sein eigenes B eispiel. E r sagte, das K raftgeschenk d e s d e m T o d T ro tz e n d e n a n ih n se i d ie M o n ta g e -P o sitio n e in e r K rähe gew esen, sow ie das V erfahren, den E nergiekörper auf solche W eise zu m anipulieren, daß er die totale W ahrnehm ung einer K rähe erlangte. N ach d ieser to talen W ahrnehm ung, d ieser to tale n K o h ä sio n , sa g te D o n Ju a n , h ä tte n d ie a l t e n Z a u b e re r u m jeden P reis gestrebt bei seinem eigenen K raftgeschenk, der und K rähe, habe er die totale W ahrnehm ung erst W ahrnehm ung einer d urch einen W illensp ro zeß erlangt, d en er lernen m usste: S chritt für S chritt, w ie m an eine sehr kom plizierte M aschine zu bedienen lernt. W e ite r e rk lä rte D o n Ju a n , d a ß d ie m e iste n V e rla g e ru n g e n d e s M ontagepunkts, w ie m oderne Zauberer sie erleben, leichte V erla gerungen innerhalb eines schm alen B ündels energetischer Leucht fasern in der leuchtenden E igestalt seien - ein B ündel, genannt das m enschliche B and oder der rein m enschliche A spekt der universalen E nergie. Jenseits dieses B andes, aber gleichw ohl im Innern der leuchtenden E iform , liege der B ereich der großen V erlagerungen. W enn der M ontagepunkt sich an irgendeine S telle in diesem B e reich verlagert, sei die W ahrnehm ung zw ar noch im m er verständlich für u n s. doch es bedürfe d e ta illie rte r V erfahrensweisen, um z u r totalen W ahrnehm ung zu gelangen. »D ie anorganischen W esen haben dich und C arol T iggs arg her eingelegt, auf eurer letzten R eise, ind em sie euch halfen, to talen Z usam m enhalt bei einer großen V erlagerung zu erreichen«, sagte D o n Juan. »S ie verscho b en euren M o ntagep unkt an d ie w eitest m ö gliche S telle. D ann halfen sie euch, d o rt w ahrzunehm en, als o b ihr no ch in d er A lltagsw elt w äret. E tw as, d as b einah unm ö glich ist. U m auf d iese A rt w ahrzunehm en, b raucht e in Z aub erer praktisches W issen oder einflußreiche F reunde. 222
D eine Freunde hätten dich w ohl am E nde betrogen. Sie hätten es dir und C arol selbst überlassen, praktische K enntnisse zum Ü ber le b e n in d ie se r W e lt z u e rle rn e n . Ih r b e id e w ä re t sc h lie ß lic h ran d vo ll gew esen vo n so lch en p raktisch en K en n tn issen , gen au w ie jene hochgelehrten Z auberer der V orzeit. Jede große V erlagerung funktioniert nach einem anderen inneren A blauf«, fuhr er fort. »D ies könnten die m odernen Z auberer lernen, w enn sie den M ontagepunkt bei einer größeren V erlagerung lange genug fixieren könnten. N ur die alten Z auberer hatten das spezielle W issen, das dafür erforderlich ist.« D ie besonderen V erfahren bei solchen V erlagerungen, fuhr D on Juan fort, hätten die acht N aguals, die dem N agual Sebastian vora n gin ge n , n o c h n ic h t ge k a n n t: d a n n a b e r h a b e d e r M ie te r d e n N a gu a l S e b a stia n ge le h rt, to ta le W a h rn e h m u n g in z e h n n e u e n P ositionen des M ontagepunkts zu erreichen. D er N agual Santisteban erhielt sieben solcher P ositionen, der N agual L ujan fünfzig. d er N agu al R o sen d o sech s, d er N agu al E lias v i e r , d er N agu al Ju lian sech zeh n , u n d er selb st b ekam zw ei gezeigt. D as m ach e insgesam t fünfundneunzig spezifische P ositionen des M ontagepunkts, die in seiner L inie bekannt seien. Falls ich ihn fragte, so m e in te e r, o b e r d ie s a ls V o rte il fü r se in e L in ie b e tra c h te , so m üsse er sagen, nein, w eil die Last dieser G aben sie der D aseinslage der alten Z auberer näherbringe. »J e tz t b ist d u a n d e r R e ih e , d e n M ie te r z u tre ffe n «, sa gte e r. »V ielleicht w erden die G eschenke, die er dir gibt, unser W issen ganz aus dem G leichgew icht bringen, und unsere Linie w ird in das D u n k e l stü rz e n , d a s d e n a lte n Z a u b e re rn d e n G a ra u s b e re itete.« »D as klingt so schrecklich gefährlich, es m acht m ich ganz krank«. sagte ich. »E hrlich, ich kann m it dir fühlen«, antw ortete er m it ernstem G e sicht. »Ich w eiß, es ist k e in T rost für dich, w enn ic h sage, daß dies d ie h ärteste P ro b e fü r ein en m o d ern en N agu al ist. M it etw as so A ltem und G eheim nisvollem w ie dem M ieter zusam m enzutreffen , fin d e ich n ich t eh rfu rch tgeb ieten d , so n d ern ab sto ß en d . F ü r m ich w enigstens w ar es das, und ist es noch im m er.« »W arum m uß ich da w eiterm achen, D on Juan?« »W eil du, ohne es zu w issen, die H erausforderung des dem T ode T rotzenden angenom m en hast. Im V erlauf deiner L ehrzeit habe 223
ich eine Einwilligung von dir verlangt, genau wie mein Lehrer mir heimlich - eine abverlangte. Ich habe denselben Schrecken durchgemacht, nur etwas härter als du jetzt.« Er kicherte. »Der Nagual Julian hatte eine Vorliebe für makabre Scherze. Er erzählte mir, es gäbe da eine sehr schöne und leidenschaftliche Witwe, die unsterblich in mich verliebt sei. Der Nagual nahm mich häufig mit zur Kirche, und ich hatte diese Frau gesehen, die mich anstarrte. Ich fand, sie sah gut aus. Und ich war ein geiler Bursche. Als der Nagual sagte, daß sie mich wollte, fiel ich darauf herein. Mein Erwachen war grausam.« Ich bemühte mich, nicht laut herauszulachen über Don Juans Miene verlorener Unschuld. Dann kam mir die Vorstellung seiner mißlichen Lage nicht mehr spaßig, sondern abscheulich vor. »Bist du sicher, Don Juan, daß diese Frau der Mieter ist?« fragte ich - in der Hoffnung, es möge ein Irrtum oder ein schlimmer Scherz sein. »Ich bin mir ganz, ganz sicher«, sagte er. »Aber selbst wenn ich so dumm wäre, den Mieter zu vergessen, könnte mein Sehen mich nicht betrügen.« Willst du damit sagen. Don Juan, daß der Mieter eine andere Art von Energie hat?« »Nein, nicht eine andere Art Energie, aber gewiß eine andere Energie-Konfiguration, als ein gewöhnlicher Mensch sie hat.« »Bist du absolut sicher, Don Juan, daß diese Frau der Mieter ist?« beharrte ich, getrieben von sonderbarer Abscheu und Furcht. »Diese Frau ist der Mieter!« sagte Don Juan mit einer Stimme, die keinen Zweifel mehr duldete. Wir schwiegen. In unbeschreiblicher Panik erwartete ich den nächsten Schritt. »Ich sagte dir schon, daß die Position des Montagepunktes darüber entscheidet, ob jemand von Natur ein Mann oder eine Frau ist«, sagte Don Juan. »Wenn ich >von Natur< sage, so meine ich jemanden, der entweder als Mann oder als Frau geboren ist. Für einen Seher ist der am stärksten leuchtende Teil des Montagepunkts bei Frauen nach außen gekehrt, bei Männern nach innen. Der Montagepunkt des Mieters war ursprünglich nach innen gerichtet, aber er veränderte ihn, drehte ihn um - und jetzt sieht seine eiförmige Energiegestalt aus wie eine in sich eingerollte Muschel.«
12. Die Frau in der Kirche
Don Juan und ich saßen und schwiegen. Ich wußte nichts mehr zu fragen, und er hatte mir anscheinend alles gesagt, was es zu sagen gab. Es war nicht später als sieben Uhr. aber die Plaza war unge wöhnlich menschenleer. Es war ein warmer Abend. In dieser Stadt streiften die Menschen am Abend meistens bis zehn oder elf Uhr um die Plaza. Ich brauchte eine Weile, um mir klarzuwerden, was mit mir ge schah. Meine Zeit mit Don Juan ging zu Ende. Er und seine Gruppe wollten den Traum der Zauberer erfüllen, diese Welt zu verlassen und in unvorstellbare Dimensionen einzugehen. Auf grund meiner beschränkten Erfolge im Träumen glaubte ich. daß ihr Anspruch keineswegs illusorisch, sondern durchaus verständig sei, wenn auch im Gegensatz zur Vernunft. Sie strebten nach Wahrnehmung des Unbekannten, und sie hatten es geschafft. Don Juan hatte recht, wenn er sagte, daß das Träumen, indem es eine systematische Verschiebung des Montagepunktes bewirkt, die Wahrnehmung befreit und den Bereich dessen erweitert, was wahrgenommen werden kann. Für die Zauberer seiner Gruppe hatte das Träumen nicht nur die Tür zu anderen wahrnehmbaren Welten aufgestoßen, sondern sie auch darauf vorbereitet, bei voller Bewußtheit in diese Regionen einzutreten. Das Träumen war für sie etwas Unbeschreibliches und Beispielloses geworden - etwas, dessen Wesen und Reichweite nur umschreibend benannt werden konnte, etwa wenn Don Juan sagte, daß es das Tor zu Licht und Dunkel des Universums sei. Eines noch gab es, was ihnen bevorstand: meine Begegnung mit demjenigen, der dem Tode trotzt. Ich bedauerte, daß Don Juan mich nicht im voraus unterrichtet hatte, damit ich mich besser hätte vorbereiten können. Aber er war ein Nagual, der alles Wichtige aus der Eingebung des Augenblicks tat. ohne Vorankün digung. Eine Weile fühlte ich mich recht wohl, wie ich dort im Park saß.
mit Don Juan, und auf den Fortgang der Dinge wartete. Dann aber war es mit meinem Gleichgewicht zu Ende, und im Handumdrehen stürzte ich in schwärzeste Verzweiflung. Mich überfielen kleinliche Befürchtungen um meine Sicherheit, meine Ziele, meine Hoffnungen auf dieser Welt, meine Sorgen. Bei näherer Prüfung aber musste ich zugeben, daß die einzige wirkliche Sorge. die ich hatte, meinen drei Gefährtinnen in Don Juans Welt galt. Doch wenn ich es recht überlegte, war nicht einmal dies eine echte Sorge für mich. Don Juan hatte sie gelehrt, Zauberinnen zu sein, die immer wußten, was sie zu tun hatten; und vor allem hatte er sie darauf vorbereitet, immer zu wissen, was sie mit ihrem Wissen zu tun hatten. Nachdem alle diesseitigen Gründe, Angst und Leid zu empfinden, lange schon von mir genommen waren, blieb mir nur noch die Sorge um mich selbst. Und dieser überließ ich mich schamlos. Ein letzter Anfall von Sichgehenlassen, für unterwegs: die Furcht, von der Hand dessen zu sterben, der dem Tode trotzt. Ich geriet so in Angst, daß mir übel wurde. Ich wollte mich entschuldigen, aber Don Juan lachte nur. »Du bist nicht der einzige, dem vor Angst schlecht wird«, sagte er. »Als ich dem begegnete, der dem Tode trotzt, machte ich mir die Hose naß. Glaube mir.« Schweigend wartete ich einen langen, unerträglich langen Augen blick. »Bist du bereit?« fragte er. »Ja«, sagte ich. Und aufstehend, fügte er hinzu: »Gehen wir also und sehen, wie du dich im Feuer bewährst.« Den Weg zur Kirche ging er voraus. So sehr ich mich auch an strenge, kann ich mich bis zum heutigen Tag nur daran erinnern, daß er mich buchstäblich den ganzen Weg schleppen mußte. Ich erinnere mich nicht, wie ich vor der Kirche ankam oder eintrat. Ich weiß nur noch, daß ich dann auf einem langen, abgewetzten Betstuhl kniete, neben der Frau, die ich zuvor gesehen hatte. Sie lächelte mir zu. Verzweifelt sah ich mich um, versuchte Don Juan zu entdecken, doch er war nirgends zu sehen. Am liebsten wäre ich abgehauen, wie eine Fledermaus aus der Hölle, hätte die Frau mich nicht am Arm zurückgehalten. »Warum hast du solche Angst vor mir armem Weiblein?« fragte sie mich auf englisch. Ich blieb wie angewurzelt auf der Stelle, dort wo ich kniete. Was mich sofort und ganz für sie eingenom 226
men hatte, war ihre Stimme. Ich kann gar nicht beschreiben, was es mit diesem heiseren Klang auf sich hatte, der die geheimsten Erinnerungen in mir wachrief. Es war. als hätte ich diese Stimme schon immer gekannt. Reglos blieb ich knien, hypnotisiert von diesem Klang. Sie fragte mich noch irgend etwas, wieder auf englisch, aber ich kam nicht dahinter, was sie sagte. Sie lächelte mir wissend zu. »Ist in Ord nung«, flüsterte sie auf spanisch. Sie kniete zu meiner Rechten. »Ich verstehe die wahre Angst. Ich lebe mit ihr.« Ich wollte schon etwas sagen zu ihr, als ich die Stimme des Botschafters in meinem Ohr hörte. »Es ist die Stimme Hermelindas. deiner Amme«, sagte sie. Das einzige, was ich von Hermelinda je erfahren habe, war die Geschichte, die man mir erzählte, wie sie bei einem Unfall ums Leben kam. überfahren von einem steuerlosen Lastwagen. Daß die Stimme der Frau so tiefe, alte Erinnerungen in mir wachrufen konnte, schockierte mich. Einen Moment spürte ich quälende Unruhe. »Ich bin deine Amme!«, rief die Frau leise. »Wie ungewöhnlich! Willst du meine Brust?« Sie bog sich vor Lachen. Mit aller Anstrengung versuchte ich ruhig zu bleiben, aber ich wußte, daß ich rasch an Boden verlor - und bald würde ich meinen Geist aufgeben. »Vergib mir meine Spaße«, sagte die Frau mit leiser Stimme. »Die Wahrheit ist, daß ich dich sehr gern habe. Du brodelst vor Energie. Und wir werden uns gut verstehen.« Zwei ältere Männer knieten direkt vor uns. Einer von ihnen drehte sich um und sah uns neugierig an. Sie achtete nicht auf ihn und flüsterte weiter in mein Ohr. »Laß mich deine Hand halten«, flehte sie. Doch ihr Flehen war wie ein Befehl. Ich überließ ihr meine Hand, unfähig, nein zu sagen. »Danke. Danke für deine Zuversicht, für dein Vertrauen zu mir«, flüsterte sie. Der Klang ihrer Stimme machte mich verrückt. Diese Heiserkeit war so exotisch, so außerordentlich weiblich. Unter keinen Um ständen hätte ich sie für die Stimme eines Mannes gehalten, der sich als Frau verstellte. Es war eine heisere Stimme, aber nicht kehlig oder guttural. Es war eher wie das Geräusch nackter Füße. die leise über den Sand tappen. Mit äußerster Anstrengung versuchte ich den unsichtbaren Ener227
gieschirm zu durchbrechen, der mich einzuhüllen schien. Mir war, als gelinge es mir. Ich stand auf. wollte gehen - und das hätte ich getan, wäre nicht die Frau ebenfalls aufgestanden, um mir ins Ohr zu flüstern: »Geh nicht fort. Ich habe dir so viel zu sagen.« Ich setzte mich automatisch wieder, festgehalten von meiner Neugier. Seltsamerweise war meine Angst auf einmal verschwunden, auch meine Beklommenheit. Ich hatte sogar genügend Geistes gegenwart, die Frau zu fragen: »Sind Sie wirklich eine Frau?« Sie kicherte leise, wie ein junges Mädchen. Dann brachte sie einen ge wundenen Satz hervor: »Falls du wagen solltest zu glauben. daß ich mich in einen fürchterlichen Mann verwandeln und dir ein Leid zu fügen würde, bist du in schwerem Irrtum befangen«, sagte sie. mit noch stärkerer Modulation dieser seltsamen, hypnotischen Stimme. »Du bist mein Wohltäter. Ich bin deine Dienerin, wie ich die Dienerin all der Naguals war, die dir vorangegangen sind.« All meine Energie sammelnd, sprach ich zu ihr die Wahrheit: »Sei willkommen und nimm meine Energie«, sagte ich. »Sie ist ein Geschenk von mir an dich, aber ich möchte keine Kraftgeschenke von dir. Und das meine ich aufrichtig.« »Ich kann deine Energie nicht umsonst annehmen«, flüsterte sie. »Ich bezahle für das, was ich bekomme, so ist der Vertrag. Es ist närrisch von dir, deine Energie zu verschenken.« »Ich war mein Leben lang ein Narr. Glauben Sie mir«, sagte ich. »Und ich kann mir wohl leisten. Ihnen ein Geschenk zu machen. Das ist kein Problem für mich. Sie brauchen die Energie, also nehmen Sie sie. Aber ich will mich nicht mit unnötigen Dingen belasten. Ich besitze nichts, und es gefällt mir.« »Vielleicht«, sagte sie nachdenklich. Aggressiv fragte ich sie, ob sie meinte, sie würde vielleicht meine Energie annehmen, oder ob sie mir vielleicht nicht glaubte, daß ich nichts besaß und daß es mir gefiel. Sie kicherte vergnügt und sagte, vielleicht werde sie meine Energie annehmen, da ich sie ihr so großzügig anbiete, aber sie müsse dennoch dafür bezahlen. Sie müsse mir etwas von ähnlichem Wert schenken. Während ich sie sprechen hörte, wurde mir bewußt, daß sie spa nisch mit einem höchst auffälligen, fremden Akzent sprach. Bei jedem Wort fügte sie der mittleren Silbe noch ein Phonem hinzu. Nie im Leben hatte ich jemanden so sprechen hören.
»Ihr Akzent ist ganz ungewöhnlich«, sagte ich. »Wo stammt er
her?« »B einah aus d er E w igkeit«, sagte sie seufzend . Je tz t h a tte n w ir K o n ta k t m ite in a n d e r. Ic h v e rsta n d , w a ru m sie seufzte. S ie w ar von beinah ew iger D auer, w ährend ich vergänglic h w a r. D a s w a r m e in V o rte il. D ie d e m T o d e T ro tz e n d e h a tte sich in eine E cke m anö vriert, und ich w ar frei. Ic h sa h sie g e n a u e r a n . S ie w a r a n sc h e in e n d fü n fu n d d re iß ig b is vierzig Jahre alt. S ie w ar eine Ind ianerin vo n d urchaus d unklem T yp , b e in a h stä m m ig , a b e r n ic h t fe tt o d e r g a r sc h w e r. D ie H a u t ih re r H ä n d e u n d A rm e w a r g la tt, d ie M u sk e ln fe st u n d ju g e n d lich. S ie w ar etw a einen M eter sechzig, schätzte ich. S ie trug ein langes K leid , ein schw arzes S chultertuch und G uaraches. In ihrer kniend en H altung sah ich auch ihre glatten F ersen und ein S tück ih re r k rä ftig e n W a d e n . Ih re T a ille w a r sc h la n k . S ie h a t t e g ro ß e B rü ste , d ie sie n ic h t u n te r ih re m S h a w l v e rb e rg e n k o n n te o d e r auch w o llte. Ihr H aar w ar jettschw arz und zu einem langen Z o p f g e flo c h te n . S ie w a r n ic h t sc h ö n , a b e r a u c h n ic h t h ä ß lic h . Ih re Z üge w aren in keiner W eise auffällig. U nm öglich konnte sie einen faszinieren, d achte ich, b is auf ihre A ugen, d ie sie hinter gesenkten L idern verbarg. Ihre A ugen w aren w underbar - k l a r und v o l l F rie d e n . A b g e se h e n v o n D o n Ju a n , h a t t e ic h n ie m a ls so stra h lend e und leb end ige A ugen gesehen. Ihre A ugen nahm en m ir jede B efangenheit. S olche A ugen konnte n n ic h ts B ö se s w o lle n . P lö tz lic h w a r ic h v o ll V e rtra u e n u n d O ptim ism us. Ich h a t t e das G efühl, sie schon m ein L eben lang zu kennen. A ber noch etw as w urde m ir stark bew ußt: m eine em otionale Instab ilität. S cho n in D o n Juans W elt hatte sie m ir im m er zu sc h a ffe n g e m a c h t, m ic h h o c h u n d n ie d e r z ie h e n d w ie e in Jo -Jo . Ic h h a tte A u g e n b lic k e to ta le n V e rtra u e n s u n d D u rc h b lic k s, n u r u m im n ä c h ste n M o m e n t v o n a b g rü n d ig e m Z w e ife l u n d M iß trauen gep lagt zu sein. D iesm al w ürd e es nicht and ers sein. M ein M iß trauen m eld ete sich ganz p lö tzlich m it d em w arnend en G e danken, daß ich völlig in den B ann dieser F rau geraten könnte. »S ie h a b e n S p a n isc h e rst sp ä t im L e b e n g e le rn t, n ic h t w a h r? « sagte ich, nur um m eine G ed anken ab zuschütteln - b evo r sie sie e rra te n k o n n te . »E rst g e ste rn «, e rw id e rte sie , in g lo c k e n h e lle s L a c h e n a u sb re
ch en d , w ob ei ih re klein en , ü b errasch en d w eiß en Z äh n e w ie P erlen schim m erten. L eute drehten sich um und sahen uns an. Ich senkte die Stirn, w ie in tiefem G eb et. D ie F rau rü ckte n äh er h eran . »G ib t es ein en O rt, w o w ir sp rech en kö n n en ?« fragte ich . »W ir sp rech en h ier«, sagte sie. »H ier h ab e ich m it allen N agu als eu rer L in ie gesp roch en . W en n d u flü sterst, w ird n iem an d m erken , d aß w ir red en .« Ich b ran n te d arau f, sie n ach i h r e m A lter zu fragen . A b er ein e ern ü ch tern d e E rin n eru n g b ew ah rte m ich d avor. Ich erin n erte m ich an ein en F reu n d , d er m ir vor Jah ren alle m ö glich en F allen geste llt h atte, u m m ich so w eit zu b rin gen , d aß ich ih m m ein A lter verriet. Ich verab sch eu te solch klein lich e N eu gier, u n d jetzt w ar ich n ah e d aran , m ich gen au so zu verh alten . S ofort ließ ich es. Ich w ollte ih r ab er von m ein em K on flikt erzäh len , n u r u m d as G espräch in G ang zu h a l t e n . Sie schien zu w issen, w as m ir durch d en K op f gin g. M it ein er freu n d lich en G este d rü ckte sie m ir d en A rm , als w ollte sie sagen , d aß w ir u n s verstan d en . »S tatt m ir ein G esch en k zu m ach en , kö n n ten S ie m ir n ich t etw as sagen , w as m ir h elfen w ü rd e au f m ein em W eg?« b at ich . S ie sch ü ttelte d en K op f. »N ein «, flü sterte sie. »W ir sin d e x t r e m verschieden. V erschiedener, als ich es für m öglich g e h a l t e n hätte.« Sie stand auf und glitt seitlich aus dem B e t s t u h l . T ief knickste sie vor d em H au p taltar. S ie b ekreu zigte sich u n d gab m ir e i n Z eichen, i h r zu einem großen S e i t e n a l t a r zu folgen, im l i n k e n Schiff. W ir kn ieten vor e i n e m leb en sgroß en K ru zifix . B evor ich Z eit fand, etw as zu sagen, sprach sie zu m i r . » Ic h lebe schon sehr, sehr lan ge«, sagte sie. »D er G ru n d fü r m ein lan ges L eb en i s t , d aß i c h d ie B ew egu n gen u n d V erlageru n gen m ein es M on tagep u n ktes kontrolliere. A uch bleibe i c h nie zu lange h i e r in eurer W elt. I c h m u ß sp arsam u m geh en m it d er E n ergie, d ie ich von d en N agu als eu rer L in ie b ekom m e.« »W ie ist es, in an d eren W elten zu ex istieren ?« fragte ich . »E s ist w ie d ein T räu m en , n u r d aß ich b ew eglich er b i n . U n d ich kan n län ger b leib en , w o ich w ill. G an z so. als k ö n n test d u . so lan ge d u w illst, in d ein en T räu m en b leib en .«
»W e n n d u in d ie se r W e lt b ist - b ist d u d a n n a u f d ie se G e g e n d festgelegt?« »N ein. Ich kann gehen, w o hin ich w ill.« »K om m st du im m er als F rau?« »Ich bin schon länger F rau, als ich M ann w ar. E indeutig gefällt es m ir b e sse r. Ic h h a b e b e in a h v e rg e sse n , g la u b ' ic h . w ie e s ist. e in M ann zu sein. Ich b in ganz F rau!« S ie n a h m m e in e H a n d u n d lie ß m ic h i h r e L e iste fü h le n . M e in H erz p o chte b is zum H als hinauf. S ie w ar t a t s ä c h l i c h eine Frau. »Ic h k a n n n ic h t so e in fa c h d e in e E n e rg ie a n n e h m e n «, sa g te sie , d a s T h e m a w e c h se ln d . »W ir m ü sse n e i n e a n d e re V e re in b a ru n g treffen.« W ieder überfielen m ich G edanken w e ltlic h e r V ernunft. Ich w ollte sie fragen, w o sie lebte, w enn sie in dieser W elt w ar. I c h brauchte m e in e F ra g e n ic h t a u sz u sp re c h e n , u m e in e A n tw o rt z u b e k o m men. »D u bist viel, viel jünger als ic h « , sagte sie. »und selbst d ir fällt es sc h w e r, d e n L e u te n z u sa g e n , w o d u le b st. A u c h w e n n d u sie in d a s H a u s fü h rst, d a s d ir g e h ö rt o d e r d a s d u g e m ie te t h a st, ist e s nicht d o rt, w o d u leb st.« »E s gäbe so vieles, w as ich dich fragen w i l l , und dabei denke ich nur d um m e G ed anken«, sagte ich. »D u brauchst m ich gar nichts zu fragen«, fuhr sie fort. »D u w eißt ja schon, w as ich w eiß. W as du noch brauchst, ist e in A nstoß, um d ir a n z u e ig n e n , w a s d u sc h o n w e iß t. Ic h w e rd e d ir d i e s e n S to ß versetzen.« N icht nur d achte ich d um m e G ed anken, so nd ern ich w ar auch in einem so suggestiblen Z ustand, daß ich. kaum hatte sie i h r e n S atz b e e n d e t, d a ß ic h w ü ß te , w a s sie w isse , a u c h sc h o n d a s G e fü h l ..hatte, alles zu w issen, und keine Fragen m ehr zu s te lle n brauchte. L achend erzählte ich i h r von m einer L eichtgläubigkeit. »D u b ist nicht leichtgläub ig«, versicherte sie m ir m it N achd ruck. »D u w eiß t alles, w eil d u jetzt ganz in d er zw eiten A ufm erksam keit bist. S ieh dich u m . « E ine W eile konnte ich m einen B lic k nicht zentrieren. E s w ar. als se i m ir W a sse r in d ie A u g e n g e ra te n . A ls ic h w ie d e r k la r se h e n k o n n te , e rk a n n te ic h . d a ß e tw a s U n h e im lic h e s g e sc h e h e n w a r. D ie K irche w ar and ers, d unkler, unheilvo ller und irgend w ie här
ter. Ich stand auf und tat ein paar Schritte ins Mittelschiff. Was mir gleich auffiel, waren die Betstühle. Sie waren nicht mehr aus Brettern, sondern aus knorrigen Ästen. Es waren handgemachte Betstühle, eingebaut in einen prächtigen steinernen Bau. Auch das Licht in der Kirche war anders. Es war gelblich, und sein trüber Glanz warf die schwärzesten Schatten, die ich je gesehen habe. Es kam von den Kerzen auf den vielen Altären. Mich überfiel die Einsicht, wie gut Kerzenlicht zu dem massiven Mauerwerk einer kolonialen Kirche paßte. Die Frau starrte mich an; am erstaunlichsten war das Leuchten ihrer Augen. Ich wußte, daß ich mich in einem Traum befand und daß sie diesen Traum steuerte. Aber ich hatte keine Angst vor ihr oder dem Traum. Ich trat vom Seitenaltar zurück und überblickte wieder das Hauptschiff. Dort knieten Menschen im Gebet. Viele waren es, sonderbar kleine, dunkelhäutige, harte Menschen. Ich sah ihre gesenkten Köpfe bis hinab zu den Stufen des Hauptaltars. Die wenigen in meiner Nähe starrten mich an, offenbar mißbilligend. Staunend sah ich sie an, und auch alles andere. Ich hörte aber keinerlei Geräusche. Menschen gingen umher, aber es war kein Ton zu hören. »Ich kann nichts hören«, sagte ich zu der Frau - und meine Stimme dröhnte und hallte wider, als sei die Kirche eine hohle Muschelschale. Fast alle Köpfe wandten sich um und sahen mich an. Die Frau zog mich zurück ins Dunkel des Seitenaltars. »Du wirst hören, wenn du nicht mehr mit den Ohren lauschst«, sagte sie. »Lausche mit deiner Traum-Aufmerksamkeit.« Anscheinend brauchte ich nichts anderes als ihre Aufforderung. Plötzlich überflutete mich das summende Geräusch einer betenden Menschenmenge. Sofort fühlte ich mich erhoben. Ich fand es das köstlichste Geräusch, das ich je gehört hatte. Ich wollte der Frau davon vorschwärmen, aber sie war nicht mehr neben mir. Ich sah mich nach ihr um. Sie hatte schon fast das Portal erreicht. Dort drehte sie sich um und gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Im Portikus holte ich sie ein. Die Straßenlaternen waren verschwun den. Das einzige Licht kam vom Mond. Auch die Fassade der Kirche war anders. Sie war unvollendet. Überall lagen rechtek kige Kalksteinblöcke umher. Es gab keine Häuser oder andere
Gebäude rund um die Kirche. Unheimlich war die Szene im Mondlicht. »Wohin gehen wir?« fragte ich sie. »Nirgendwohin«, antwortete sie. »Wir sind einfach herausgekom men, um mehr Platz zu haben, um vertraulich zu sprechen. Hier können wir schwatzen nach Herzenslust.« Sie bedeutete mir, mich auf einen rohen, halb schon behauenen Steinblock zu setzen. »Die zweite Aufmerksamkeit hat unendliche Schätze zu bieten, die der Entdeckung harren«, fing sie an. »Von entscheidender Wichtigkeit ist die Ausgangsposition, in die der Träumer seinen Körper bringt. Und genau hier liegt das Geheimnis der alten Zauberer, die schon zu meiner Zeit so alt waren. Stell dir nur vor.« Sie saß so nah, daß ich ihre Körperwärme fühlte. Sie legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich an ihren Busen. Ihr Körper hatte einen höchst eigenartigen Duft. Es erinnerte mich an Bäume oder an Salbeibüsche. Nicht daß sie Parfüm aufgelegt hätte. Ihr ganzes Wesen schien diesen charakteristischen Duft weiter Pinien-Wälder zu verströmen. Auch war ihre Körperwärme anders als meine, anders als bei jedem, den ich kannte. Es war eine kühle, herbfrische Wärme, ausgeglichen und gleichmäßig. Mir kam der Gedanke in den Sinn, daß ihre Wärme gnadenlos berückend sei, aber ohne Eile. Und dann begann sie mir ins linke Ohr zu flüstern. Sie sagte, daß die Gaben, die sie den Naguals meiner Linie geschenkt habe. etwas damit zu tun hätten, was die alten Zauberer die Zwillings positionen nannten. Das heißt, die Ausgangsposition, in die der Träumer seinen physischen Körper bringt, um mit dem Träumen zu beginnen, die eine Spiegelung finde in der Position, in die er seinen Energiekörper bringt, um seinen Montagepunkt an einer nach Belieben gewählten Stelle zu fixieren. Diese zwei Positionen bilden, sagte sie, eine Einheit, und die alten Zauberer brauchten Jahrtausende, um die perfekte Beziehung zwischen den beiden Positionen zu finden. Kichernd meinte sie. daß die heutigen Zau berer niemals Zeit oder Lust hätten, solche Mühen auf sich zu nehmen - und die Männer und Frauen meiner Linie könnten sich glücklich schätzen, sie zu haben, die ihnen solche Geschenke machte. Ihr Lachen hatte einen bemerkenswerten, kristallklaren Klang.
Ihre E rklärung d er Z w illingsp o sitio nen hatte ich nicht ganz ver standen. G anz unbefangen sagte ich ihr. daß ich diese D inge nicht praktizieren, sondern nur als i n t e l l e k t u e l l e M öglichkeiten ken nenlernen w olle. »W as genau m öchtest du w issen?« fragte sie leise. »E rkläre m ir, w as d u unter d en Z w illingsp o sitio nen v e r s t e h s t , o d e r d e r A u sg a n g sp o sitio n , in d ie d e r T rä u m e r se in e n K ö rp e r b ringt, um m it d em T räum en zu b eginnen.« »W ie legst du dich h in . um m it dem T räum en anzufangen?« fragte sie. »Ich habe keine feste G ew ohnheit. D on Juan hat nie W ert darauf gelegt.« »N un. ich lege W ert d arauf«, sagte sie und stand auf. S ie w echselte m it m ir d en P latz. S ie saß nun zu m einer R echten und flüsterte m ir ins andere O hr. daß die P osition, in die m an den K örper bringt - nach a lle m , w as sie w isse - von höchster B edeutung sei. U m dies auszuprobieren, schlug sie m ir eine h e ik le , aber ganz einfache Ü bung vor. »L e g e d ic h z u B e g in n d e s T rä u m e n s a u f d ie re c h te S e ite , d ie K nie leicht angezogen«, sagte sie. »D ie D isziplin besteht d a r i n , d iese P o sitio n b eizub ehalten und in ihr einzuschlafen. Im T räum en b esteht d ie Ü b ung nun d arin, d aß d u träum st, d ich genau in derselben P osition hinzulegen und w iederum einzuschlafen.« »U nd w as bew irkt das?« fragte ich. »E s b e w irk t, d a ß d e r M o n ta g e p u n k t g e n a u - j a , g e n a u - a n d e r S telle bleibt, w o er sich im A ugenblick des zw eiten E inschlafens befindet.« »W as is t das E rgebnis e in e r solchen Ü bung?« »D ie totale W ahrnehm ung. I c h b i n überzeugt, deine L ehrer haben d ir gesagt, daß m eine G eschenke die G aben totaler W ahrnehm ung sind.« »Ja. A ber ich w eiß nicht recht, w as totale W ahrnehm ung bedeu tet«, log ich. S ie ging üb er m einen E inw and hinw eg und verriet m ir d ann d ie vier V ariatio nen d ieser Ü b ung, näm lich d as E inschlafen auf d er rechten S eite, auf der linken S eite, auf dem R ücken und auf dem B auch. B eim T räum en bestand die Ü bung nun darin, ein zw eites M al in d er gleichen P o sitio n einzuschlafen. in d er m an m it d em 714
Träumen begonnen hatte. Sie verhieß mir außerordentliche Re sultate, die, wie sie sagte, nicht vorhersehbar wären. Unvermittelt wechselte sie das Thema und fragte mich: »Was wünscht du dir als Geschenk?« »Kein Geschenk für mich. Das sagte ich dir bereits.« »Ich bleibe dabei. Ich muß dir ein Geschenk machen, und du mußt es annehmen. Das ist unsere Vereinbarung.« »Unsere Vereinbarung ist, daß wir dir Energie schenken. Also. nimm sie von mir. Das geht auf meine Rechnung. Mein Geschenk für dich.« Die Frau schien verblüfft. Und ich sagte ihr immer wieder, sie solle doch meine Energie nehmen, ich hätte nichts dagegen. Ich sagte ihr sogar, daß ich sie ungeheuer gern hätte. Natürlich meinte ich es aufrichtig. Sie hatte etwas sehr Trauriges und zu gleich sehr Faszinierendes an sich. »Komm, gehen wir wieder in die Kirche«, murmelte sie. »Wenn du mir wirklich ein Geschenk machen willst«, sagte ich. »nimm mich mit auf einen Spaziergang durch die Stadt, im Mondschein.« Sie nickte zustimmend. »Vorausgesetzt, daß du kein Wort sprichst«, meinte sie. »Warum nicht?« fragte ich - aber ich wußte die Antwort schon. »Weil wir träumen«, sagte sie. »Ich werde dich tiefer in meinen Traum mitnehmen.« Und sie erklärte mir, daß ich, solange wir in der Kirche blieben, genügend Energie hätte zum Denken und zum Gespräch. Doch außerhalb der Bannmeile der Kirche sei dies etwas anderes. »Wieso das?« fragte ich unbefangen. In sehr ernstem Ton, der nicht nur das Unheimliche an ihr unter strich, sondern mich erschreckte, sagte die Frau: »Weil es kein Draußen gibt. Dies ist ein Traum. Du stehst an der vierten Pforte des Träumens und träumst meinen Traum.« Es sei ihre Kunst, verriet sie mir. ihre Absicht projizieren zu können - und alles, was ich um mich her sah, sei ihre Absicht. Flüsternd sagte sie, daß die Kirche und die ganze Stadt nur die Folge ihrer Absicht wären. Sie existierten nicht, und dennoch existierten sie. Mir in die Augen blickend, fügte sie hinzu, daß es eines der großen Geheimnisse sei, in der zweiten Aufmerksam 71S
keit die Zw illingspositionen des T räum ens zu beabsichtigen. M an k ö n n e e s tu n . a b e r m a n k ö n n e e s n ic h t e rk lä re n o d e r v e rste hen. U nd dann sagte sie m ir, sie stam m e aus einer L inie von Z aube re rn , d ie e s v e rsta n d e n , sic h in d e r z w e ite n A u fm e rk sa m k e it u m h erzu b ew egen , in d em sie ih re A b sich t p ro jizierten . S ie er zäh lte, d aß d ie Z au b erer ih rer L in ie d ie K u n st p raktizierten , im T raum ihre G edanken zu projizieren, um eine getreuliche R epro d u ktio n jed es G egen stan d es u n d jed es B au w erks, jed er L an d sc h a ft u n d je d e s S c h a u p la tz e s z u e rre ic h e n , ga n z n a c h ih re m B elieben. D ie Z au b erer ih rer L in ie, sagte sie, fin gen d am it an , d aß sie ein e in fa c h e s O b je k t a n sta rrte n u n d e s in a lle n D e ta ils ih re m G e dächtnis einprägten. D ann schlossen sie die A ugen und visuali sierten das O bjekt, im m er w ieder ihr inneres B ild korrigierend, bis sie es m it geschlossenen A ugen in aller V ollständigkeit sehen konnten. D er n äch ste S ch ritt in d er E n tw icklu n g ih res S ystem s w ar. m it dem O bjekt zusam m en zu träum en und im T raum - aus der Sicht ih rer eigen en W ah rn eh m u n g - e i n e to tale M aterialisieru n g d es O b je k ts z u e rz e u ge n . D ie s n a n n te n sie . so sa gte d ie F ra u , d e n ersten S chritt zur totalen W ahrnehm ung. V on einem einfachen O bjekt schritten jene Z auberer fort zu im m er kom plexeren G egenständen. I h r endliches Ziel w ar. daß sie alle zusam m en eine ganze W elt visualisierten, dann diese W elt träum ten und so ein ganz authentisches R eich neu erschufen, w o sie existieren konnten. »A ls die Zauberer m einer L in ie das zu tun verm ochten«, fuhr die F rau fo rt, »d a ko n n ten sie au ch o h n e w eiteres ein en an d eren in ihre A bsicht, in ihren Traum hineinziehen. D as ist es, w as ich je tz t m it dir m ache und w as ich m it allen N aguals eurer Linie gem acht habe.« D ie F ra u k ic h e rte . »D u d a rfst e s w o h l gla u b e n «, sa gte sie . a ls hätte ich daran gezw eifelt. »G anze B evölkerungen verschw anden so im T raum . D ies ist der G rund, w arum ich dir sagte, daß diese K irche und diese Stadt eines der G eheim nisse des B eabsichtigens in der zw eiten A ufm erksam keit s in d .« »D u sagst, daß ganze B evölkerungen auf diese W eise verschw an den. W ie w ar das m öglich?« fragte ich.
»S ie visu alisierten ein e L an d sch aft u n d ersch u fen sie d an n im Traum noch einm al n e u « , antw ortete sie. »D u hast noch nie etw as visualisiert, darum ist es gefährlich für d ic h , in m einen T raum zu kom m en.« U n d sie w arn te m ich , d aß es gefäh rlich sei, d ie vierte P fo rte zu durchschreiten und an O rte zu reisen, die nur in der A bsicht e in e s anderen existierten; denn alle G egenstände in solch einem T raum m üßten zw angsläufig ganz persönliche G egenstände sein. »W illst du im m er noch kom m en?« fragte sie. »Ja«, sagte ich. D ann erzählte sie m ir noch m ehr über die Zw illingspositionen. Im w esentlichen besagte ihre E rklärung, daß ich, w enn ich zum B ei spiel von m einer H eim atstadt träum te und auf der rechten Seite liegend zu träum en begonnen h ä t t e , ganz leicht in der Stadt m ein es T rau m es b leib en kö n n te, w en n ich m ich im T rau m au f d i e re c h te S e ite h in le gte u n d trä u m te , d a ß ic h e in ge sc h la fe n w a r. N icht nur w äre dieser zw eite T raum dann zw angsläufig ein T raum vo n m ein er H eim atstad t, so n d ern es w äre au ch e i n T rau m vo n denkbar größter K onkretion. Sie w ar überzeugt, daß ic h in m einer T raum -A usbildung unzählige T räum e von großer K onkretion geträum t habe, doch versicherte sie m ir, daß sie alle nur Z ufall gew esen sein konnten. D ie einzige A rt, absolute K ontrolle über die T räum e zu behalten, sei die B efolgung jener T echnik der Zw illingspositionen. »U nd frage m ich n ic h t, w arum «, fügte sie h i n z u . »E s geschieht einfach, w ie alles andere.« Sie hieß m ich aufstehen und erm ahnte m ich noch einm al, w eder zu sp rech en n o ch m ich vo n ih r zu en tfern en . S ach te n ah m sie m ich an d er H an d , w ie ein K in d , u n d sch ritt au s, ein er G ru p p e d u n kel ab gezeich n eter H äu ser en tgegen . W ir w aren au f e i n e r Straße m it K opfsteinpflaster. E ckige Flußkiesel w aren einfach in d ie E rd e geklo p ft. U n gleich m äß iger D ru ck h atte fü r u n gleich m äßige O berflächen gesorgt. A nscheinend w aren die P flasterer d en U n eb en h eiten d es G elän d es gefo lgt, o h n e sie erst zu glätten. D ie H äuser w aren große, gekalkte G ebäude, einstöckig und staubig, m it ziegelgedeckten D ächern. L eute schlenderten schw eigend um her. D unkle Schatten im Innern der H äuser m achten m ir den E indruck von neugierigen, aber verängstigten N achbarn, die
hinter verschlossener Tür ihre Gerüchte tauschten. Auch sah ich flache Berge rund um die Stadt. Im Gegensatz zu allem, was mir beim Träumen sonst passierte. war mein Denken völlig unbeeinträchtigt. Meine Gedanken wurden nicht durch die Macht der Ereignisse im Traum verdrängt. Und meine verstandesmäßige Überlegung sagte mir. daß ich mich in der Traum-Version jener Stadt befinden mußte. in der Don Juan lebte - aber zu einer anderen Zeit. Meine Neugier war grenzenlos. Ich war tatsächlich mit jener, die dem Tode trotzte, zusammen in einem Traum. Aber war es ein Traum? Sie selbst hatte gesagt, es wäre ein Traum. Ich wollte alles beobachten und über-wachsam sein. Ich wollte alles prüfen, indem ich Energie sah. Ich wurde verlegen, aber die Frau nahm mich an die Hand, wie um mir zu zeigen, daß sie einverstanden war mit mir. Noch immer absurd verschämt, äußerte ich wie mechanisch mit lauter Stimme meine Absicht, zu sehen. Bei meinen Traumübungen hatte ich immer den Satz gesprochen: »Ich will Energie sehen.« Manchmal musste ich es öfter sagen, bis ich ein Resultat bekam. Diesmal, in der TraumStadt dieser Frau, und während ich diesen Satz auf gewohnte Art zu wiederholen begann, fing die Frau an zu lachen. Sie lachte ganz wie Don Juan: ein tiefes, unbeschwertes Lachen aus vollem Hals. »Was ist denn so spaßig?« fragte ich, irgendwie angesteckt von ihrer Heiterkeit. »Juan Malus kann die alten Zauberer ganz allgemein nicht leiden. und mich im besonderen nicht«, sagte die Frau zwischen Lach anfällen. »Um in unseren Träumen zu sehen, brauchen wir nur mit dem kleinen Finger auf den Gegenstand zu deuten, den wir sehen wollen, mehr nicht. Daß er dich aber in meinem Traum losbrüllen ließ, das war seine Art. mir eine Botschaft zu schicken. Ich muß schon sagen, er ist sehr witzig.« Sie machte eine Pause, dann sagte sie im Ton einer Offenbarung: »Wie ein Esel zu brüllen, das funk tioniert natürlich auch.« Dieser Humor der Zauberer konnte mich immer wieder verblüffen. Sie lachte so sehr, daß sie unfähig schien, unseren Spaziergang fortzusetzen. Ich kam mir dümmlich vor. Als sie sich beruhigt und wieder gefangen hatte, meinte sie, ich könne auf jeden Gegenstand in ihrem Traum deuten, ganz wie ich wolle, auch auf sie selbst.
Ich deutete mit dem linken kleinen Finger auf ein Haus. Es war keine Energie in dem Haus. Das Haus war wie jeder beliebige Gegenstand in einem gewöhnlichen Traum. Ich deutete auf alles mögliche in der Umgebung - mit gleichem Resultat. »Deute auf mich«, forderte sie mich auf. »Du sollst bestätigt finden, daß dies die Methode ist, die Träumer einhalten, um zu sehen.« S ie h a tte v ö llig re c h t. D ie s w a r d ie M e th o d e . K a u m d e u te te ic h m it dem F inger auf sie, als sie zu einer E nergieblase w urde. E iner sehr eigenartigen E nergieblase, darf ich hinzufügen. Ihre energe tisc h e G e sta lt w a r g e n a u so , w ie D o n Ju a n sie m ir b e sc h rie b e n hatte: sie sah aus w ie eine riesige M uschel, eingero llt längs d em S p alt in ihrer M itte. »Ich b in d as einzige E nergie erzeugend e W esen in d iesem T ra u m «, sa g te sie . »E s w ä re a lso ric h tig e r fü r d ic h , a lle s a n d e re nur zu b eo b achten.« In diesem M om ent däm m erte m ir zum erstenm al die ganze U nge h e u e rlic h k e it v o n D o n Ju a n s S tre ic h . E r w a r a lso w irk lic h im stande gew esen, m ich im T raum brüllen zu lassen, nur dam it ich in d e r T ra u m stille d ie se r d e m T o d e T ro tz e n d e n lo sb rü lle n w ü rd e . Ic h fa n d d e n T ric k so w itz ig , d a ß ic h v o r L a c h e n b e in a h e rstickte. E s gab nur zw ei S traß en, d ie sich kreuzten: an j e d e r gab es d rei H ä u se rb lo c k s. W ir sc h ritte n b e id e S tra ß e n in g a n z e r L ä n g e a b . n ic h t e in m a l, so n d e rn v ie rm a l. Ic h sa h m ir a lle s a n u n d la u sc h te m it m einer T raum -A ufm erksam keit auf irgendw elche G eräusche. E s g a b n u r se h r w e n ig e - e i n p a a r b e lle n d e H u n d e in d e r F e rn e o d er M enschen, d ie im V o rb eigehen flüsterten. D ie b e lle n d e n H u n d e b ra c h te n in m ir e in e u n g e a h n te u n d tie fe S e h n su c h t h e rv o r. Ic h m u sste ste h e n b le ib e n . I c h su c h te L in d e rung, indem ich m ich m it der S chulter an e in e M auer le h n te . D er K o n ta k t m it d e r M a u e r w a r sc h o c k ie re n d fü r m ic h , n ic h t w e il d ie se M a u e r so u n g e w ö h n lic h g e w e se n w ä re , so n d e rn w e il d a s. w o ran ich m ich lehnte, eine s t a b i l e M auer w ar. w ie jed e and ere M auer auch, die ich je berührt h a t t e . Ich betastete sie m it m einer freien H and . Ich strich m it d en F ingern üb er i h r e rauhe O b erfläche. E s w ar w irklich eine M auer! Ihre üb erw ältigend e W irklichkeit m achte m einer S ehnsucht so fo rt ein E nd e und erneuerte m ein Interesse, alles zu b eo b achten. 239
Insbesondere suchte ich nach M erkm alen, die m it j e n e r S tadt - in u n se re r Z e it - in V e rb in d u n g z u b rin g e n w ä re n . D o c h w ie a u f m erksam ich auch schaute, es w ar vergeb lich. D a w ar eine P laza in d ieser S tad t, ab er sie w ar vo r d er K irche, gegenüb er d em P o rtikus. Im M o n d lic h t w a re n d ie B e rg e ru n d u m d ie S ta d t d e u tlic h z u se h e n u n d b e in a h w ie d e rz u e rk e n n e n . Ic h v e rsu c h te m ic h z u orientieren und sah nach dem M ond und den S ternen, als befände ich m ich in der geläufigen R ealität des A lltags. E s w ar ein abneh m ender M ond, vielleicht einen T ag nach V ollm ond. E r stand hoch ü b e r d e m H o riz o n t. E s m o c h te z w isc h e n a c h t u n d n e u n U h r abends sein. Ich sah O rion, rechts vom M ond. S eine zw ei H aupt sterne, B eteigeuze und R igel, stand en in w aagrecht gerad er L inie m it d em M o nd . Ich schätzte, es m o chte A nfang D ezem b er sein. In unserer Z eit w ar es M ai. Im M ai ist O rio n um d iese Z eit n i r g e n d s z u se h e n . Ic h sta rrte in d e n M o n d , so la n g e ic h k o n n te . N ichts veränd erte sich. E s w ar tatsächlich d er M o nd , so w eit ich feststellen ko nnte. D ie zeitliche D isp arität ab er b eunruhigte m ich sehr. W ä h re n d ic h n o c h e in m a l d e n sü d lic h e n H o riz o n t a b su c h te . g la u b te ic h je n e n g lo c k e n fö rm ig e n B e rg g ip fe l z u e rk e n n e n , d e r von D on Juans P atio zu sehen w ar. N un versuchte ich m ir vorzu ste lle n , w o se in H a u s ste h e n m o c h te . E in e n A u g e n b lic k m e in te ic h e s g e fu n d e n z u h a b e n . Ic h w a r so g e b a n n t, d a ß ic h m e in e H a n d d e m G riff d e r F ra u e n tw a n d . S o fo rt ü b e rfie l m ic h u n g e h e u re A n g st. Ic h w u ß te , ic h m u sste z u r K irc h e z u rü c k k e h re n , d enn falls ich es nicht t a t , w ürd e ich auf d er S telle to t um fallen. Ic h d re h te m ic h u m u n d ra n n te lo s, z u r K irc h e . D ie F ra u p a c k te rasch m eine H and und fo lgte m ir. W ährend w ir uns im L aufschritt d er K irche näherten, w urd e m ir bew ußt, daß die S tadt in diesem T raum hinter der K irche gelegen w a r. H ä tte ic h d ie s b e rü c k sic h tig t, d a n n w ä re v ie lle ic h t e in e O rientierung m ö glich gew esen. Jetzt ab er hatte ich keine T raum A ufm erksam keit m ehr. W as m ir d avo n geb lieb en w ar, ko nzen trie rte ic h a u f d ie A rc h ite k tu r u n d d ie o rn a m e n ta le n D e ta ils a n d er R ückseite d er K irche. D iesen T eil d es G eb äud es hatte ich in d er A lltagsw elt nie gesehen, und falls ich m ir sein A ussehen ins G edächtnis einprägen konnte, so glaubte ich, könnte ich es später m it d en D etails d er realen K irche vergleichen. 240
S o w a r m e in P la n , d e n ic h m ir a u s a u g e n b lic k lic h e r E in g e b u n g zurechtlegte. D och irgend etw as in m ir spottete über m einen V er such d er O b jektivierung. W ährend m einer ganzen L ehrzeit hatte m ic h e in B e d ü rfn is n a c h o b je k tiv e n T a tsa c h e n b e h e rrsc h t, w a s m ic h ste ts z w a n g , a lle s in D o n Ju a n s W e lt z u ü b e rp rü fe n u n d no chm als zu üb erp rüfen. A b er nicht um O b jektivierung an sich ging es m ir, sondern ich w ollte dieses V erlangen nach O bjektivität als K rücke benutzen, die m ir in A ugenblicken kognitiver V erw irrung einen H alt b ieten so llte. W enn es d ann Z eit w ar. d ie T atsachen zu üb erp rüfen, kam ich d o ch nie d azu. W ied er in d er K irche, knieten d ie F rau und ic h vo r d em kleinen A ltar auf d er linken S eite, w o w ir zuvo r gew esen w aren, und im nächsten A ugenblick erw achte ich in der hell erleuchteten K irche - in m einer Z eit. D ie F rau b ekreuzigte sich und stand auf. Ich tat es ihr m echanisch gleich. S ie nahm m einen A rm und w andte sich zur T ür. »W arten S ie, w arten S ie«, sagte ich - und w ar überrascht, daß ich sp rechen ko nnte. Ich ko nnte nicht klar d enken, und d o ch w o llte ic h ih r e in e k o m p liz ie rte F ra g e ste lle n . W a s ic h w isse n w o llte , w ar, w ie jem and nur die E nergie haben konnte, alle D etails einer ganzen S tadt zu visualisieren. L ächelnd b eantw o rtete d ie F rau m eine unausgesp ro chene F rage. S ie se i se h r g u t im V isu a lisie re n , sa g te sie , n a c h d e m sie e s e in L eb en lang getan hatte - und d ann d ie Z eit v i e l e r , vieler L eb en gehabt hatte, es zu vervollkom m nen. D iese S tadt, die ich gesehen hätte, und d ie K irche, in d er w ir m iteinand er gesp ro chen hätten, fuhr sie fo rt, seien nur B eisp iele ihrer jüngsten V isualisierungen. D ie K irche sei dieselbe K irche, in der S ebastian als K üster gear b eitet hab e. A us d er N o tw end igkeit, zu üb erleb en, hab e sie sich d ie A u fg a b e g e ste llt, sic h a lle D e ta ils u n d je d e n W in k e l d ie se r K irche ins G edächtnis einzuprägen, und übrigens auch die ganze Stadt. Sie beendete ihre R ede m it einem höchst beunruhigenden G edank e n . »N a c h d e m d u n u n d ie se S ta d t e in ig e rm a ß e n k e n n st, a u c h w enn d u nie versucht hast, sie zu visualisieren«, sagte sie, »w irst d u m ir jetzt helfen, sie zu b eab sichtigen. Ich m ö chte w etten, d u w irst m ir nicht glauben, w enn ich dir sage, daß diese S tadt, die du vor dir siehst, außerhalb deiner und m einer A bsicht gar nicht existiert.« 241
Sie schaute mich an und lachte über mein Entsetzen, denn ich hatte mir eben erst klargemacht, was sie sagte. »Träumen wir?« fragte ich erstaunt. »Oh. ja«, sagte sie. »Aber dieser Traum ist wirklicher als der an dere, weil du mir hilfst. Man kann es unmöglich erklären - man kann nur sagen, daß es geschieht. Wie alles andere.« Sie deutete mit der Hand in die Runde. »Es ist unmöglich zu sagen, wie es passiert, aber es passiert. Erinnere dich immer daran, was ich dir gesagt habe: dies ist das Geheimnis des Beabsichtigens in der zweiten Aufmerksamkeit.« Sie zog mich sachte näher zu sich. »Komm, schlendern wir zur Plaza dieses Traumes«, sagte sie. »Aber vielleicht sollte ich mich, dir zuliebe, ein wenig zurechtmachen.« Ich sah sie verständnislos an, während sie mit geschickten Hand griffen ihr Äußeres veränderte. Es geschah mit einem sehr einfa chen, irdischen Manöver. Sie legte ihren langen Rock ab, und zum Vorschein kam der ganz normale, dreiviertellange Rock, den sie darunter trug. Dann steckte sie ihren langen Zopf zu einem Knoten auf und vertauschte ihre Guaraches gegen halbhohe Schuhe, die sie in einem kleinen Leinenbeutel bei sich hatte. Dann wendete sie ihren schwarzen Shawl, und es war eine beige Stola. Jetzt sah sie aus wie die typische Mittelschicht-Mexikanerin aus der City, vielleicht auf Besuch in dieser Stadt. Mit fraulicher Selbstsicherheit nahm sie meinen Arm und führte mich auf dem Weg zur Plaza. »Was ist mit deiner Zunge passiert?« sagt sie auf Englisch. »Hat die Katze sie gefressen?« Ich war in Gedanken ganz bei der unvorstellbaren Möglichkeit, daß ich noch immer in einem Traum sei; mehr noch, ich fing an zu glauben, daß ich, falls es sich so verhielt, in Gefahr war, nie wieder aufzuwachen. In gleichgültigem Ton, den ich gar nicht als meine Stimme er kannte, sagte ich: »Mir wird eben erst klar, daß Sie vorhin englisch zu mir sprachen. Wo haben Sie es gelernt?« »In der Welt dort draußen. Ich spreche viele Sprachen.« Sie hielt inne und musterte mich. »Ich hatte Zeit genug, sie zu lernen. Da wir viel Zeit zusammen verbringen werden, kann ich dir irgendwann meine eigene Sprache beibringen.« Sie kicherte, zweifellos über mein ratloses Gesicht. 242
Ich b lieb stehen. »W ir w erd en viel Z eit zusam m en verb ringen? « fragte ich und verriet m eine A hnungen. »N atürlich«, antw ortete sie fröhlich. »D u w irst, w as ich sehr groß z ü g ig fin d e , m ir k o ste n lo s d e in e E n e rg ie sc h e n k e n . D a s h a st d u selb st gesagt, nicht w ahr? « Ich w ar entgeistert. »W a s ist lo s? « sa g te d ie F ra u , w ie d e r in s S p a n isc h e w e c h se ln d . »S a g e m ir n ic h t, d a ß d u d e in e E n tsc h e id u n g b e re u st. W ir sin d Z a u b e re r. E s ist z u sp ä t, d e in e n E n tsc h lu ß z u ä n d e rn . D u h a st d o ch keine A ngst, nicht w ahr? « Ic h w a r sc h o n w ie d e r m e h r a ls v e rä n g stig t, a b e r h ä tte ic h m ic h fe stle g e n so lle n , w o v o r ic h e ig e n tlic h A n g st h a tte , ic h h ä tte e s n ic h t g e w u ß t. G a n z b e stim m t h a tte ic h k e in e A n g st d a v o r, m it je n e r, d ie d e m T o d e tro tz te , in e in e m a n d e re n T ra u m z u se in o d e r d a v o r, m e in e n V e rsta n d o d e r g a r m e in L e b e n z u v e rlie re n . H atte ich A ngst vo r d em B ö sen? fragte ich m ich. D o ch d ie V o r s te llu n g des B ösen h ie lt genauerer P rüfung nicht stand. Infolge all d ie se r Ja h re a u f d e m W e g d e r Z a u b e re r w u ß te ic h o h n e je d e n Z w eifel, d aß es im U niversum nur E nergie gib t; d as B ö se ist nur eine A usgeb urt d es m enschlichen D enkens, b eherrscht d urch d ie F ixierung d es M o ntagep unktes in seiner üb lichen P o sitio n. L o gi scherw eise gab es also nichts, w ovor ich m ich hätte fürchten sollen. D as w ußte ich, aber ich w ußte auch, daß m eine w ahre Schw äche in der m angelnden B ew eglichkeit lag, m einen M ontagepunkt augen b licklich in d er P o sitio n, in d ie er verscho b en w urd e, zu fixieren. D er K ontakt m it der. die dem T ode trotzt, verschob m einen M on tagepunkt in gew altigem M aß, und ich hatte nicht die K raft, diesem S chub stand zuhalten. E rgeb nis w ar ein P seud o -G efühl d er A ngst, ich könnte vielleicht nicht w ieder aufw achen. »K e in P ro b le m «, sa g te ic h . »K o m m e n S ie , se tz e n w ir u n se re n T raum -S paziergang fort.« S ie h a k te sic h b e i m ir u n te r, u n d sc h w e ig e n d k a m e n w ir in d e n P ark. E s w ar keinesw egs ein gezw ungenes S chw eigen. M eine G e danken aber rasten im K reis. W ie seltsam , dachte ich. V or kurzem e rst w a r ic h m it D o n Ju a n v o m P a rk z u r K irc h e g e la u fe n , b e h e rrsc h t v o n sc h re c k lic h e r, a b e r n o rm a le r A n g st. Je tz t lie f ic h z u rü c k v o n d e r K irc h e z u m P a rk - m it d e m G e g e n sta n d d ie se r m e in e r A n g st, u n d ic h w a r fu rc h tsa m e r d e n n je - a b e r a u f e in e a n d e re , re ife re , tö d lic h e re A rt.
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U m m e in e B e fü rc h tu n ge n a b z u w e h re n , sc h a u te ic h m ic h u m . F a lls d ie s e i n T ra u m w a r, w ie ic h v e rm u te te , d a n n ga b e s e in e M öglichkeit, dies zu bew eisen oder zu w iderlegen. Ich deutete m it dem Finger auf die H äuser, auf die K irche, auf das Straßenpflaste r. Ic h d e u te te a u f M e n sc h e n , ic h d e u te te a u f a lle s. T o llk ü h n griff ich sogar ein paar M al m it der H and nach M enschen, die ich dam it ziem lich zu erschrecken schien. Ich spürte ihre feste M asse. Sie w aren so w irklich w ie alles, w as für m ich W irklichkeit bedeut e t , n u r d aß sie kein e E n ergie erzeu gten . N ich ts in d ieser S tad t erzeugte E nergie. A lles w irkte real und norm al, und doch w ar es ein T raum . Ic h d re h te m ic h u m z u d e r F ra u , d ie n o c h im m e r m e in e n A rm festh ielt, u n d b efragte sie d esh alb . »W ir trä u m e n «, sa gte sie m it ih re r h e ise re n S tim m e u n d k i cherte. »A ber w ie können M enschen und D inge um uns her so w irklich sein, so dreidim ensional?« »D as G eheim nis des B eabsichtigens in der zw eiten A ufm erksam k e it!« rie f sie e h rfü rc h tig. »D ie se L e u te d o rt d ra u ß e n sin d so w irklich, daß sie sogar G edanken haben.« D ies w ar für m ich der letzte S treich. Ich w ollte nichts w eiter frage n . Ic h w o llte m ic h d ie se m T ra u m ü b e rla sse n . E in k rä ftige r R uck an m einem A rm brachte m ich w ieder zurück ins Jetzt. W ir w aren auf der P laza angekom m en. D ie F rau w ar stehengeblieben und zog m ich neben sich auf eine B ank. Ich w ußte gleich, als ich m ic h se tz te u n d d ie B a n k n i c h t u n te r m ir fü h lte , d a ß ic h in S ch w ierigkeiten w ar. Ich b egan n h eru m zu w irb eln . M ir w ar, als zöge es m ich em por. Ich w arf noch einen letzten, flüchtigen B lick au f d en P ark, als säh e ich ih n vo n w eit o b en . »D a s ist e s!« sc h rie ic h . Ic h d a c h te , ic h ste rb e . D ie w irb e ln d e A ufw ärtsbew egung verw andelte sich in einen taum elnden Sturz in die D unkelheit.
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13. Auf den Flügeln der Absicht fliegen
»Strenge dich an, Nagual«, beschwor mich die Stimme einer Frau. »Laß dich nicht fallen. Tauche auf, tauche auf. Setze deine Traum-Techniken ein!« Mein Verstand begann zu arbeiten. Mir war, als sei es eine Englisch sprechende Stimme, und ich glaubte auch, daß ich, sollte ich meine Traum-Techniken einsetzen, einen Ausgangspunkt finden musste, um meine Energie zu aktivieren. »Mach die Augen auf«, sagte die Stimme. »Mach sie auf, jetzt. Nutze das erste, was du siehst, als Ausgangspunkt.« Mit größter Anstrengung schlug ich die Augen auf. Ich sah Bäume und blauen Himmel. Es war Tag. Ein verschwommenes Gesicht blickte mich an. Aber ich konnte meinen Blick nicht zentrieren. Ich glaubte, es sei die Frau aus der Kirche, die mich anschaute. »Benutze mein Gesicht«, sagte die Stimme. Es war eine vertraute Stimme, aber ich konnte sie nicht identifizieren. »Mach mein Ge sicht zu deinem Basislager. Dann schau auf alles andere«, fuhr die Stimme fort. Meine Ohren wurden aufnahmebereit, auch meine Augen. Ich starrte auf das Gesicht der Frau, dann auf die Bäume im Park, auf die schmiedeeiserne Bank, auf Leute, die vorbeischlenderten, und wieder auf ihr Gesicht. Trotz der Tatsache, daß ihr Gesicht sich jedesmal veränderte, wenn ich es anstarrte, spürte ich doch ein Minimum an Selbstkon trolle. Als ich mich etwas besser in der Hand hatte, erkannte ich. daß eine Frau auf der Bank saß und meinen Kopf auf ihrem Schoß hielt. Und es war nicht die Frau aus der Kirche. Es war Carol Tiggs. »Was machst du hier?« stieß ich hervor. Ich war so erschrocken und überrascht, daß ich aufspringen und davonlaufen wollte; aber mein Körper wollte meinem bewußten Verstand nicht gehorchen. Qualvolle Augenblicke folgten, wäh245
rend ich so verzweifelt wie vergeblich aufzustehen versuchte. Die Welt um mich her war zu deutlich, als daß ich glauben konnte, ich sei noch immer im Traum. Und doch ließ die Hemmung meiner motorischen Kontrolle mich annehmen, daß dies wirklich ein Traum sei. Außerdem war Carols Anwesenheit allzu überra schend. Es gab nichts, was mich darauf vorbereitet hätte. Vorsichtig versuchte ich mich mit Willenskraft aufzurichten, wie ich es hunderte Male im Traum getan hatte, aber nichts geschah. Wenn ich jemals Objektivität gebraucht hätte, dann dieses Mal. So vorsichtig, wie ich nur konnte, begann ich alles in meinem Gesichtkreis anzuschauen, zuerst mit einem Auge und dann mit dem anderen Auge. Die Übereinstimmung zwischen den Bildern meiner beiden Augen nahm ich als Zeichen dafür, daß ich in der geläufigen Realität der Alltagswelt war. Sodann prüfte ich Carol. Im gleichen Moment merkte ich, daß ich meine Arme bewegen konnte. Nur die untere Hälfte meines Körpers war regelrecht paralysiert. Ich berührte Carols Gesicht und ihre Hände. Ich umarmte sie. Sie war fest - und, wie ich glaubte, die echte Carol Tiggs. Ich empfand enorme Erleichterung, denn für einen Moment hatte ich den dunklen Verdacht gehabt, sie sei die, die dem Tode trotzt, verkleidet als Carol Tiggs. Ganz behutsam half Carol mir, mich auf der Bank aufzurichten. Ich hatte flach auf dem Rücken gelegen, halb auf der Bank und halb am Boden. Und jetzt bemerkte ich etwas völlig Ungewöhnliches. Ich trug verwaschene Blue Jeans und abgetragene braune Lederstiefel. Auch hatte ich eine Levi's-Jacke und ein Jeans-Hemd an. »Warte mal«, sagte ich zu Carol. »Sieh mich an. Sind das meine Kleider? Bin ich ich selbst?« Carol lachte und rüttelte mich an den Schultern, wie sie es gerne tat, um Kameradschaft und Jungenhaftigkeit zu unterstreichen und daß sie »ein Kumpel« sei. »Was ich vor mir sehe, bist du, in aller Schönheit«, sagte sie - mit ihrem spaßig gepreßten Falsett. »Oh, Massa, wer sonst könnte es denn sein?« »Wieso, zum Teufel, trage ich Levi's-Jeans und Stiefel«, beharrte ich. »So etwas besitze ich nicht.« »Du hast meine Kleider an. Als ich dich fand, warst du nackt.« 746
»W ie? W ann?«
»V o r d e r K irc h e . V o r e in e r S tu n d e , u n g e fä h r. Ic h k a m a u f d ie
P laza hier, um d ich zu suchen. D er N agual hatte m ich geschickt,
nach d ir zu sehen. D ie K leid er hatte ich m itgeb racht, nur für alle
Fälle.«
Ic h sa g te ih r, w ie v e rle g e n ic h m ic h fü h lte ; e s se i m ir p e in lic h .
o hne K leid er herum gelaufen zu sein. »S eltsam erw eise w ar niem and in d er N ähe«, versicherte sie. A b er ich glaub te, sie sagte es nur, um m ir m eine V erlegenheit zu neh m e n . Ih r v e rsp ie lte s L ä c h e ln v e rrie t e s m ir. »Ich w ar w o hl d ie ganze N acht zusam m en m it d er, d ie d em T o d e tro tz t, v ie lle ic h t so g a r lä n g e r«, sa g te ic h . »W e lc h e r T a g ist heute?« »K üm m ere dich nicht um das D atum «, sagte sie lachend. »W enn du w ieder im G leichgew icht bist, kannst du selbst die T age zählen.« »M ach keine S paße m it m ir, C arol T iggs. W elcher T ag ist heute?« Ic h sp ra c h m it e in e r ra u h e n , g e sc h ä ftsm ä ß ig e n S tim m e , d ie m ir g a r n ic h t b e k a n n t v o rk a m . »E s ist d e r T a g n a c h d e r g ro ß e n F ie sta «, sa g te sie u n d g a b m ir e in e n K la p s a u f d ie S c h u lte r. »W ir a lle h a b e n d ic h se it g e ste rn ab end gesucht.« »A b er, w as m ache ich hier? « »Ic h h a b e d ic h in s H o te l g e b ra c h t, h i e r a n d e r P la z a . Ic h k o n n te d ich nicht d en ganzen W eg b is zum H aus d es N aguals schlep p en. V or ein paar M inuten bist du aus dem Z im m er gelaufen - und hier sind w ir geland et.« »W arum hast d u nicht d en N agual um H ilfe geb eten? « »W eil dies eine S ache ist, die nur dich und m ich betrifft. W ir m üssen sie zusam m en d urchstehen.« D as brachte m ich zum S chw eigen. W as sie sagte, klang m ir völlig v e rn ü n ftig . Ic h ste llte ih r n o c h e in e m e in e r n ö rg e ln d e n F ra g e n : »W as sagte ich, als d u m ich hier gefund en hattest? « »D u sagtest, d u w ärst so t i e f in d er zw eiten A ufm erksam keit gew esen, und so lange, d aß d u d einen V erstand no ch nicht b eisam m e n h ä tte st. U n d d a ß d u n u r e in e n W u n sc h h ä tte st, z u sc h la fen.« »W ann habe ich m eine m otorische K örperkontrolle verloren?« »E b e n e rst. D u w irst sie w ie d e rfin d e n . W e n n m a n in d ie z w e ite A u fm e rk sa m k e it e in tritt u n d e in e n sta rk e n E n e rg ie -S to ß e rh ä lt, 947
das weißt du selbst, ist es doch ganz normal, daß man die Körper kontrolle und die Sprache verliert.« »Und wann hast du dein Lispeln verloren?« Sie war völlig überrascht. Sie sah mich an und fing an, schallend zu lachen. »Ich arbeite schon lange daran«, gestand sie. »Ich glaube, es ist ziemlich ärgerlich, eine erwachsene Frau lispeln zu hören. Außerdem verabscheust du es.« Das Geständnis, daß ich ihr Lispeln verabscheut hatte, fiel mir nicht schwer. Don Juan und ich hatten versucht, sie zu heilen. Aber wir waren zu dem Schluss gekommen, daß sie gar kein In teresse daran hatte, geheilt zu werden. Ihr Lispeln machte sie ganz reizend, und Don Juan war der Meinung, es gefiele ihr so gut, daß sie sich nie davon trennen würde. Sie jetzt ohne Lispeln sprechen zu hören, war ermutigend und erfreulich für mich. Es bewies mir, daß sie zu radikalen Veränderungen fähig war - was Don Juan und ich immer bezweifelt hatten. »Was sagte der Nagual noch, als er dich nach mir ausschickte'.'« fragte ich. »Er sagte, du hättest einen Zusammenstoß mit dem, der dem Tode trotzt.« Geheimnisvoll vertraute ich Carol an, daß der, dem Tode trotzt, eine Frau sei. Unbeeindruckt sagte sie. das wisse sie längst. »Wie kannst du das wissen?« schrie ich. »Niemand hat es gewußt. bis auf Don Juan. Hat er selbst es dir gesagt?« »Natürlich«, antwortete sie, wenig beeindruckt von meinem Geschrei. »Vielleicht ist dir entgangen, daß auch ich die Frau aus der Kirche getroffen habe. Und ich traf sie vor dir. Wir haben uns in der Kirche ein Weilchen freundlich unterhalten.« Ich wollte gern glauben, daß Carol die Wahrheit sprach. Was sie da erzählte, konnte ich Don Juan durchaus zutrauen. Wahrscheinlich hatte er Carol als Kundschafterin ausgesandt, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. »Wann trafst du sie. die dem Tode trotzt?« fragte ich. »Oh, vor ein paar Wochen«, antwortete sie, in beiläufigem Ton. »Es war nichts Besonderes für mich. Ich hatte ihr keine Energie zu geben - oder nicht die Energie, die diese Frau braucht.« »Warum also hast du dich mit ihr getroffen? Gehört die Begeg nung mit der Nagual-Frau ebenfalls zur Vereinbarung der dem Tode Trotzenden mit den Zauberern?«
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»Ich habe sie getroffen, weil der Nagual sagte, daß wir beide - du und ich - austauschbar sind. Aus keinem anderen Grund. Unsere Energiekörper haben sich oft vereinigt. Erinnerst du dich nicht? Die Frau und ich sprachen darüber, wie leicht wir uns vereinigen können. Ich blieb etwa drei bis vier Stunden bei ihr, bis der Na gual mich holen kam.« »Bist du die ganze Zeit in der Kirche geblieben?« fragte ich. Denn ich konnte kaum glauben, daß die beiden so lange - drei bis vier Stunden - dort drinnen gekniet hatten, nur um über die Vereini gung unserer Energiekörper zu reden. »Sie nahm mich mit, in einen anderen Aspekt ihrer Absicht«. gestand Carol nach kurzem Nachdenken. »Sie ließ mich sehen. wie sie tatsächlich ihren Zwingherren entkam.« Und dann erzählte Carol eine ganz faszinierende Geschichte. Nach allem, was die Frau in der Kirche ihr gezeigt hatte, sagte sie. mußten alle Zauberer der Vorzeit unvermeidlich den anorganischen Wesen zum Opfer fallen. Nachdem die anorganischen Wesen sie eingefangen hatten, gaben sie ihnen Macht, um sie als Mittler zwischen unserer Welt und der ihren zu benutzen, die bei den Menschen die Unterwelt hieß. Auch der, der dem Tode trotzt, verfing sich unvermeidlich in den Netzen der anorganischen Wesen. Jahrtausende, so schätzte Carol, verbrachte er in Gefangenschaft, bis zu dem Augenblick, da es ihm gelang, sich in eine Frau zu verwandeln. Dies hatte er klar als seinen Fluchtweg aus jener Welt erkannt - an dem Tag, als er herausfand, daß die anorganischen Wesen das weibliche Prinzip für unbesiegbar halten. Sie glauben, daß das weibliche Prinzip eine solche Geschmeidigkeit, eine solche Bandbreite hat. daß seine Angehörigen unangreifbar sind durch Fallen oder Tricks und kaum gefangengehalten werden können. Die Verwandlung dessen, der dem Tode trotzt, war so vollkommen und weitgehend. daß er sofort aus dem Reich der anorganischen Wesen ausgestoßen wurde. »Hat sie dir erzählt, ob die anorganischen Wesen noch immer hinter ihr her sind?« fragte ich. »Natürlich sind sie hinter ihr her«, versicherte Carol. »Die Frau sagte mir, daß sie jeden Augenblick ihres Lebens ihre Verfolger abwehren muß.« »Was können sie ihr anhaben?«
»Erkennen, daß sie in Wahrheit ein Mann ist, und sie wieder ge fangennehmen, vermute ich. Ich glaube, sie fürchtet sie mehr, als du es für möglich halten würdest.« Unbekümmert erzählte Carol mir, daß die Frau in der Kirche genau über meinen Zusammenstoß mit den anorganischen Wesen informiert sei und daß sie auch von dem blauen Scout wisse. »Sie weiß alles von dir und mir«, fuhr Carol fort. »Nicht, weil ich ihr etwas erzählt hätte, sondern weil sie zu unserem Leben und unserer Linie gehört. Sie sprach davon, daß sie alle von uns be gleitet hat, immer, besonders dich und mich.« Und Carol erzählte Beispiele dafür, daß die Frau Dinge wußte, die Carol und ich gemeinsam getan hatten. Und während sie erzählte, spürte ich eine unglaubliche Sehnsucht nach eben der Person, die vor mir saß: Carol Tiggs. Wie sehr wünschte ich mir. sie zu umarmen. Ich streckte die Arme nach ihr aus. verlor aber das Gleichgewicht und fiel von der Bank. Carol half mir vom Boden auf und untersuchte besorgt meine Beine, die Pupillen meiner Augen, meinen Hals und meinen Rük ken. Sie sagte, daß ich wahrscheinlich noch immer unter den Folgen eines Energie-Schocks litte. Sie zog meinen Kopf an ihre Brust und liebkoste mich - als versuchte sie ein simulierendes Kind zu trösten. Nach einer Weile ging es mir wirklich besser. Ich fand sogar meine motorische Kontrolle wieder. »Wie bin ich angezogen?« fragte mich Carol ganz unvermittelt. »Findest du mich zu aufgetakelt für den Anlaß? Oder gefalle ich dir?« Carol war immer tadellos angezogen. Wenn sie einen unbestreit baren Vorzug hatte, so war es ihr sicherer Geschmack, was Kleider betraf. Tatsächlich war es. solange ich sie kannte, ein ständiger Witz zwischen Don Juan und uns anderen, daß ihre einzige Tugend in ihrem Sinn für schöne Kleider bestünde, die sie mit Anmut und Stil zu tragen wußte. Ich war befremdet von ihrer Frage und sagte ihr dies. »Warum sorgst du dich um dein Aussehen? Es hat dich noch nie geküm mert. Willst du jemandem imponieren?« »Dir will ich natürlich imponieren«, sagte sie. »Jetzt ist aber nicht der richtige Zeitpunkt«, protestierte ich. 250
»Was mich interessiert, ist, was los ist mit der dem Tode Trotzenden - und nicht dein Aussehen.« »Du würdest dich wundern, wie wichtig es ist. mein Aussehen.« Sie lachte. »Es ist für uns beide eine Frage auf Leben und Tod.« »Was redest du da? Du erinnerst mich an den Nagual, als er meine Begegnung mit dem, der dem Tode trotzt, arrangierte. Er machte mich ganz verrückt mit seinen geheimnisvollen Reden.« »Waren seine geheimnisvollen Reden etwa nicht berechtigt?« fragte Carol mit todernstem Gesicht. »Doch, natürlich«, musste ich zugeben. »Also, das gilt auch für mein Aussehen. Sag deine Meinung - wie findet du mich? Anziehend? Abstoßend, attraktiv, durchschnittlich, widerlich, überwältigend, übertrieben?« Ich überlegte einen Augenblick, dann traf ich mein Urteil. Ich fand Carol sehr anziehend. Das war mir ganz fremd. Noch nie hatte ich bewußt über ihre Anziehung nachgedacht. »Ich finde dich göttlich schön«, sagte ich. »Tatsächlich, du bist regelrecht überwältigend.« »Dann ist mein Aussehen wohl richtig.« Sie seufzte. Ich sinnierte noch über die Bedeutung ihrer Worte, als sie weitersprach. Sie fragte: »Wie war es mit der, die dem Tode trotzt?« Kurz und bündig erzählte ich ihr von meinem Erlebnis, haupt sächlich von dem ersten Traum. Ich sagte, ich sei überzeugt, daß die, die dem Tode trotzt, mir diese Stadt gezeigt habe, doch in einer anderen Zeit, in der Vergangenheit. »Aber das ist unmöglich«, platzte Carol heraus. »Es gibt weder Zukunft noch Vergangenheit im Universum. Es gibt nur den Augenblick.« »Ich weiß, es war die Vergangenheit. Es war dieselbe Kirche, aber die Stadt war anders.« »Denk einmal nach. Im Universum gibt es nur Energie. Und Energie kennt nur ein Hier und Jetzt: ein endloses und immer gegenwärtiges Hier und Jetzt.« »Was glaubst du also. Carol. ist mit mir passiert?« »Mit Hilfe derer. die dem Tode trotzt, hast du die vierte Pforte des Träumens durchschritten«, sagte sie. »Die Frau in der Kirche nahm dich mit in ihren Traum, in ihre Absicht. Sie nahm dich mit in ihr Visualisieren dieser Stadt. Offenbar hatte sie die Stadt in
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der Vergangenheit visualisiert, und dieses Visualisieren ist noch immer intakt in ihr. Wie auch ihre Visualisierung der jetzigen Stadt in ihr lebendig sein muß.«
Wir schwiegen lange, dann stellte Carol eine weitere Frage: »Was
hat die Frau sonst noch mit dir gemacht?«
Ich erzählte Carol von dem zweiten Traum. Dem Traum von der
Stadt, wie sie heute aussieht.
»Da haben wir's«, sagte sie. »Nicht nur hat die Frau dich in ihre
frühere Absicht mitgenommen, sondern sie half dir auch, die
vierte Pforte zu durchschreiten, indem sie deinen Energiekörper in
eine andere Stadt reisen ließ, die heute existiert - nur eben in ihrer
Absicht.«
Carol wartete ab. dann fragte sie mich, ob die Frau in der Kirche
mir erklärt habe, was das Beabsichtigen in der zweiten Aufmerk samkeit bedeute.
Wohl erinnerte ich mich, daß sie davon gesprochen hatte, ohne
mir aber eigentlich zu erklären, was es bedeute, in der zweiten
Aufmerksamkeit zu beabsichtigen. Carol hantierte hier mit Be griffen, über die Don Juan noch niemals gesprochen hatte.
»Woher hast du all diese neuen Ideen?« fragte ich, echt erstaunt
darüber, wie klarsichtig sie war.
In beiläufigem Ton versicherte Carol. die Frau in der Kirche habe
ihr eine Menge über solche Feinheiten beigebracht. »Wir
beabsichtigen gerade jetzt in der zweiten Aufmerksamkeit«, fuhr sie
fort. »Die Frau in der Kirche ließ uns einschlafen. Dich hier, mich
in Tucson. Und dann schliefen wir noch einmal ein. in unserem
Traum. An diesen Teil erinnerst du dich nicht, aber ich wohl. Das
Geheimnis der Zwillingspositionen. Erinnerst du dich, was die Frau
dir sagte? Der zweite Traum ist das Beabsichtigen in der zweiten
Aufmerksamkeit: die einzige Art. die vierte Pforte des Träumens
zu durchschreiten.«
Nach langer Pause, während ich kein Wort hervorbringen konnte,
sagte sie: »Ich glaube, die Frau in der Kirche hat dir wirklich ein
Geschenk gemacht: auch wenn du keines annehmen wolltest. Ihr
Geschenk war. daß sie ihre Energie mit der unseren verband, um
sich rückwärts und vorwärts im energetischen Hier und Jetzt des
Universums zu bewegen.«
Ich war außer mir vor Erregung. Carols Worte waren so exakt, so
zutreffend. Sie hatte mir etwas definiert, was ich für undefinierbar
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h ie lt, auch w enn ich nicht w ußte, w as es sei, das sie da definiert h a tte . H ätte ich m ich bew egen können, ich w äre aufgesprungen und hätte sie um arm t. S ie lächelte selig, w ährend ich w eiterhin d rauflo s schw atzte, w ie einsichtig ihre W o rte m ir w ären. P athe tisc h v e rk ü n d e te ic h , D o n Ju a n h ä tte m ir n ie e tw a s ä h n lic h B edeutsam es gesagt. »V ielleicht w eiß er es nicht«, sagte C aro l - ab er nicht vo rw urfs voll, sondern versöhnlich. Ich w ollte ihr nicht w idersprechen. Ich schw ieg eine W eile, son d e rb a r g e d a n k e n le e r. D a n n b ra c h e n W ö rte r u n d G e d a n k e n a u s m ir hervo r, w ie aus einem V ulkan. L eute, d ie um d ie P laza sp a zierten, starrten uns an oder blieben vor uns stehen und beobach te te n uns. W elch einen A nblick m ochten w ir bieten! C arol T iggs, d ie m e in G e sic h t k ü ß te u n d lie b k o ste , w ä h re n d ic h u n e n tw e g t drauflos schw atzte über ihre K larsicht und über m eine B egegnung m it d e r , die dem T ode tr o tz te . A ls ich w ied er laufen ko nnte, führte sie m ich üb er d ie P laza zu d e m e in z ig e n H o te l in d e r S ta d t. S ie ü b e rz e u g te m ic h , d a ß ic h no ch nicht genug E nergie h ä t t e , um d en W eg b is zu D o n Juans H aus zu gehen; daß aber alle anderen w üßten, w o w ir uns befanden. »W ie können sie w issen, w o w ir uns befinden?« »D er N agual ist ein sehr tüchtiger alter Z auberer«, antw ortete sie lachend. »E r w ar es, der m ir sagte, falls ich dich in einem Zustand b e sc h ä d ig te r E n e rg ie v o rfä n d e , so llte ic h d ic h lie b e r in s H o te l b rin g e n , sta tt d a s R isik o e in z u g e h e n u n d d ic h d u rc h d ie g a n z e S tadt zu schleppen.« Ih re W o rte u n d b e so n d e rs ih r L ä c h e ln b ra c h te n m ir so lc h e E r leichterung, daß ich in seliger B eschw ingtheit w eiterm arschierte. W ir gingen um die E cke, zum E ingang des H otels - einen halben S tra ß e n b lo c k w e ite r, g e n a u g e g e n ü b e r d e r K irc h e . W ir g in g e n d u rc h d ie tro stlo se L o b b y, d a s b e to n ie rte T re p p e n h a u s h in a u f und auf den zw eiten S tock, direkt in ein unfreundliches Z im m er, das ich noch nie gesehen h a tte . C arol sagte, ich sei schon einm al hier gew esen. D o ch ich hatte keinerlei E rinnerung, w ed er an d as H o tel no ch an d as Z im m er. Ich w ar ab er so m üd e, d aß ich nicht d a rü b e r n a c h d e n k e n k o n n te . Ic h lie ß m ic h v o rn ü b e r a u fs B e tt fallen. Ich w ollte nur schlafen, und doch w ar ich zu aufgeregt. E s g a b d a z u v ie le o ffe n e F ra g e n , a u c h w e n n a lle s so g e o rd n e t e r 253
schien. P lötzlich überfiel m ich N ervosität, und ich richtete m ich auf. »Ich habe dir nie erzählt, daß ich die G abe derer. die dem T ode trotzt, nicht annehm en w ollte«, sagte ich - und sah C arol an. »W ie konntest du das w issen?« »O h, w eil du es m ir selbst gesagt hast«, protestierte sie, w ährend sie sich neben m ich setzte. »D u w arst so stolz darauf. E s w ar das erste, w om it du herausplatztest, als ich dich fand.« D ies w ar die erste A ntw ort, bislang, die m ich nicht ganz befried igte . W a s sie m ir b e ric h te te , k la n g n ic h t so , a ls h ä tte ic h e s gesagt. »Ic h gla u b e , d u h a st m ic h fa lsc h v e rsta n d e n «, sa gte ic h . »Ic h w o llte n u r n ich ts h ab en , w as m ich vo n m ein em Z iel ab b rin gen könnte.« »D u m einst also, du hast dich nicht stolz gefühlt bei deiner W ei gerung?« »N ein. Ich habe überhaupt nichts gefühlt. Ich kann nichts m ehr fühlen, außer Furcht.« Ich streckte die B eine aufs B ett und legte den K opf auf das K issen. Ich w ar überzeugt, daß ich sofort einschlafen w ürde, w enn ich die A ugen schloß oder nicht w eitersprach. A lso erzählte ich C arol, w ie ich m it D on Juan am A nfang m einer B ekanntschaft gestritten hatte - über sein eingestandenes M otiv, auf dem W eg der K rieger zu bleiben. E r hatte gesagt, die Furcht halte ihn auf geradem W eg, und w as er am m eisten fürchte, sei, das N agual zu verlieren, das A bstrakte, den G eist. »D er T o d ist n ich ts, verglich en m it d em V erlu st d es N agu al«, hatte er dam als gesagt, m it echter L eidenschaft in der S tim m e. »M eine Furcht, das N agual zu verlieren, ist die einzige W irklich k e it, d ie ic h h a b e . D e n n o h n e d ie s w ä re ic h sc h lim m e r a ls tot.« Ich hatte D on Juan sofort w idersprochen, w ie ich nun C arol er zählte, und dam als geprahlt, daß einzig Liebe für m ich die m oti vierende K raft sein könne, falls ich schon auf einem begrenzten P fad bleiben m üsse, w eil Furcht m ir nichts anhaben könne. U n d D o n Ju an h atte erw id ert, d aß d ie F u rch t, w en n d er S ch lag w irklich kom m t, der einzig w ürdige Z ustand für einen K rieger sei. In sgeh eim verach tete ich sein e, w ie ich glau b te, h eim lich e Engstirnigkeit.
»S o h a t d a s R a d e in e v o lle U m d re h u n g g e m a c h t«, sa g te ic h z u C arol. »D enn, sieh m ich an. Ich schw öre dir. das einzige, w as m ir die K raft gibt w eiterzum achen, ist die F urcht, das N agual zu ver lieren.« C arol starrte m ich an - m it einem seltsam en B lick, den ich nie bei ih r b e m e rk t h a tte . »D a m ö c h te ic h w id e rsp re c h e n «, sa g te sie le ise . »D ie F u rc h t ist nichts, verglichen m it L iebe. D ie F urcht lässt dich kopflos davon laufen. D ie L ieb e lässt d ich klug hand eln.« »W as sagst d u d a, C aro l T iggs? S ind d ie Z aub erleute neuerd ings L iebesleute?« S ie antw ortete nicht. S ie legte sich neben m ich und legte den K opf a n m e in e S c h u lte r. S o b lie b e n w ir lie g e n , in d ie se m so n d e rb a r unfreund lichen Z im m er, lange Z eit, in vö lligem S chw eigen. »Ic h fü h le , w a s d u fü h lst«, sa g te C a ro l u n v e rm itte lt. »U n d je tz t v e rsu c h e d u , z u fü h le n , w a s ic h fü h le . D u k a n n st e s. A b e r tu n w ir's im D unkeln.« C a ro l stre c k te d e n A rm n a c h o b e n u n d m a c h te d ie L a m p e ü b e r dem B ett aus. Ich aber fuhr m it einer einzigen B ew egung hoch. W ie ein S trom schlag hatte m ich die A ngst getroffen. D enn kaum hatte C aro l d as L icht ausgem acht, w ar es N acht in d iesem Z im m er. In höchster E rregung fragte ich C arol, w ie das m öglich sei. »D u bist noch nicht ganz beisam m en«, sagte sie beschw ichtigend. »D u h a tte st e in e n u n g e h e u re n Z u sa m m e n sto ß . S o tie f in d ie zw eite A ufm erksam keit einzutauchen hat d ich - gew isserm aß en -ein w enig beschädigt. N atürlich ist es jetzt T ag, aber deine A ugen können sich nicht recht an das trübe Licht h ie r im Zim m er gew öhnen .« M e h r o d e r m in d e r ü b e rz e u g t, le g te ic h m ic h w ie d e r h i n . C a ro l sp rach w eiter, ab er ich hö rte nicht m ehr z u . Ich b efühlte d ie L ak e n . E s w a re n e c h te L a k e n . Ic h stric h m it d e n H ä n d e n ü b e r d a s B e tt; e s w a r e in B e tt. Ic h b e u g te m ic h h in a u s u n d fu h r m it d e r fla c h e n H a n d ü b e r d ie k a lte n B o d e n flie se n . Ic h stie g a u s d e m B e tt u n d ü b e rp rü fte je d e n G e g e n sta n d im Z im m e r u n d im B a d . A lle s w a r v ö llig n o rm a l, v ö llig w irk lic h . Ic h e rz ä h lte C a ro l, d a ß ic h . a ls sie d a s L ic h t a u sm a c h te , d e n k la re n E in d ru c k g e h a b t h ä tte , d a ß ic h trä u m te . »L aß doch m al los«, sagte sie. »H ör auf m it diesem w issenschaft lichen B lö d sinn und ko m m ins B ett. R uhe d ich aus.« 255
Ich zog die Vorhänge am Fenster zur Straße auf. Draußen war es Tag, aber sobald ich sie schloß. war es drinnen Nacht. Carol flehte mich an, ins Bett zurückzukommen. Sie äußerte die Befürchtung, ich könnte davonlaufen und auf der Straße landen, wie ich es schon einmal getan hätte. Dies klang ganz vernünftig. Also stieg ich wieder ins Bett, ohne zu merken, daß mir keinen Moment in den Sinn gekommen war, mit dem kleinen Finger auf die Dinge zu deuten. Es war, als sei dieses Wissen ausgelöscht aus meinem Gedächtnis. Die Dunkelheit in diesem Hotelzimmer war ganz ungewöhnlich. Sie schenkte mir ein köstliches Gefühl von Frieden und Harmonie. Sie brachte mir aber auch eine tiefe Traurigkeit, eine Sehnsucht nach menschlicher Wärme, nach Freundschaft. Ich war mehr als bestürzt. Nie war mir so etwas geschehen. Ich lag im Bett und versuchte mich zu erinnern, ob ich so etwas wie diese Sehnsucht wohl kannte. Ich kannte es nicht. Die Sehnsuchtsgefühle, die ich hatte, galten nicht menschlicher Freundschaft. Sie waren abstrakt. Sie waren eher eine Art von Trauer, etwas Unbestimmtes nicht erreichen zu können. »Ich werde verrückt«, sagte ich zu Carol. »Ich fange an, um Men schen zu weinen.« Ich dachte, sie würde meine Worte spaßig auffassen. Ich hatte es eher scherzhaft gemeint. Aber sie sagte nichts. Sie schien mich zu verstehen. Sie seufzte. In meiner instabilen Geistesverfassung fühlte ich Rührseligkeit in mir aufsteigen. Ich beugte mich in der Dunkelheit über sie und murmelte etwas, das mir in einem klaren Augenblick eher irrational vorgekommen wäre: »Ich liebe dich tief und innig«, sagte ich. Worte wie diese, zwischen Zauberern von Don Juans Linie, waren undenkbar. Carol Tiggs war die Nagual-Frau. Zwischen uns beiden war es nicht nötig. Gefühle zu zeigen. Tatsächlich wußten wir nicht einmal, was wir für einander fühlten. Don Juan hatte uns gelehrt, daß Zauberer weder die Zeit noch das Bedürfnis nach solchen Gefühlen hätten. Carol lächelte und umarmte mich. Und ich war von so verzehrender Liebe zu ihr erfüllt, daß ich unwillkürlich zu weinen anfing. »Dein Energiekörper bewegt sich vorwärts, auf den leuchtenden Energiefasern des Universums«, flüsterte sie immer wieder. »Wir 256
sin d g e tra g e n v o n d e r A b sic h t, d e m G e sc h e n k d e rje n ig e n , d ie d e m T o d e tro tz t.« Ich hatte no ch genug E nergie, um zu verstehen, w as sie sagte. Ich fragte sie so gar, o b sie selb st verstand , w as d ies alles b ed eute. S ie legte m ir d en F inger an d ie L ip p en und flüsterte in m ein O hr: »Ja, ich verstehe. D as G eschenk d erjenigen, d ie d em T o d e tro tzt, w are n d ie F lü g e l d e r A b sic h t. U n d a u f d ie se n F lü g e ln trä u m e n d u u n d ic h u n s in e in e a n d e re Z e it. In e in e Z e it, d ie k o m m e n w ird.« Ich stieß sie von m ir und setzte m ich auf. D ie A rt, w ie C arol diese k o m p liz ie rte n Z a u b e re r-G e d a n k e n a u ssp ra c h , w a r m ir u n h e im lich. E s w ar nicht ihre A rt, begriffliches D enken ernst zu nehm en. S te ts h a tte n w ir u n te r u n s g e w itz e lt, d a ß C a ro l e in fa c h n ic h t d e n K o p f z u r Z a u b e re r-P h ilo so p h in h ä tte . »W a s ist lo s m it d i r ? « fra g te ic h . »D e in W e se n ist m ir v ö llig n e u : C a ro l, d ie Z a u b e re r-P h ilo so p h in . D u sp ric h st w ie D o n Juan.« »N och n ic h t.« S ie lachte. »A ber es kom m t. E s rollt m ir entgegen, u n d w e n n e s m ic h trifft, w ird e s m ir le ic h t fa lle n , e in e Z a u b e re rP hilo so p hin zu sein. D u w irst sehen. U nd niem and w ird es erklären können, w eil es einfach geschehen w ir d .« E ine A larm glo cke klingelte in m einem K o p f. »D u b ist nicht C aro l«. sc h rie ic h . »D u b ist d ie . d ie d e m T o d e tro tz t, v e rk le id e t a ls C a ro l. Ic h h a b 's g e w u ß t.« C a ro l la c h te , u n b e e in d ru c k t v o n m e in e r A n sc h u ld ig u n g . »R e d e n ic h t so a b su rd «, sa g te sie . »D u b ist d a b e i, e in e L e k tio n z u v e r p a sse n . Ic h w u ß te , d u w ü rd e st frü h e r o d e r sp ä te r n a c h g e b e n u n d d ich gehen lassen. G laub e m ir. ich b in C aro l. A b er w ir tun etw as, w a s w ir n o c h n ie g e ta n h a b e n : w ir b e a b sic h tig e n in d e r z w e ite n A ufm erksam keit, w ie es d ie Z aub erer d er V o rzeit t a t e n . « Ic h w a r n ic h t ü b e rz e u g t, a b e r ic h h a tte k e in e E n e rg ie m e h r, u m m e in e n S ta n d p u n k t z u v e rfe c h te n , d e n n irg e n d e tw a s, v ie lle ic h t d e r g ro ß e W irb e l m e in e s T rä u m e n s, b e g a n n m ic h e in z u sa u g e n . S c h w a c h h ö rte ic h C a ro ls S tim m e , d ie m ir in s O h r sa g te : »W ir trä u m e n u n s. T rä u m e d e in e A b sic h t v o n m ir. B e a b sic h tig e m ic h vorw ärts! B eabsichtige m ich vorw ärts!« M it g rö ß te r A n stre n g u n g sp ra c h ic h m e in in n e rste s G e fü h l a u s: »B le ib e b e i m ir, fü r im m e r«, sa g te ic h - m it d e r L a n g sa m k e it eines d efekten T o nb and geräts. S ie antw o rtete etw as U nverstand
liches. Ich wollte schon lachen über meine Stimme, aber dann verschluckte mich der Wirbel. Als ich erwachte, war ich allein im Hotelzimmer. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Ich war sehr enttäuscht, Carol nicht neben mir zu finden. In aller Eile zog ich mich an und lief hinunter in die Lobby, sie zu suchen. Außerdem wollte ich die sonderbare Schläfrigkeit abschütteln, die mich gefan genhielt. An der Rezeption sagte mir der Portier, daß die Amerikanerin, die das Zimmer gemietet hätte, eben abgereist sei. Ich lief auf die Straße hinaus und hoffte, sie noch einzuholen, aber sie war spurlos verschwunden. Es war Mittag. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel. Es war irgendwie zu warm. Ich ging zur Kirche. Mit echter, aber dumpfer Überraschung stellte ich fest, daß ich in jenem Traum tatsächlich die Details ihrer Architektur gesehen hatte. Interesselos spielte ich meinen eigenen Advocatus diaboli und dachte: im Zweifel für den Angeklagten. Vielleicht hatten Don Juan und ich tatsächlich die Rückseite der Kirche inspiziert, und ich erinnerte mich einfach nicht. Aber es war mir egal. Ich dachte nicht darüber nach. Mein ObjektivierungsSchema hatte ohnehin keinen Sinn mehr für mich. Ich war zu schläfrig, als daß es mich noch interessierte. Von dort schlenderte ich langsam zu Don Juans Haus, immer noch auf der Suche nach Carol. Ich war sicher, daß ich sie dort antreffen würde, daß sie mich erwartete. Don Juan begrüßte mich, als sei ich von den Toten auferstanden. Er und seine Ge fährtinnen waren in höchster Erregung, während sie mich mit unverhohlener Neugier anschauten. »Wo hast du gesteckt?« fragte Don Juan ungeduldig. Ich begriff einfach nicht den Grund all der Aufregung. Ich hätte die Nacht mit Carol im Hotel an der Plaza verbracht, sagte ich ihm, weil ich keine Energie mehr hatte, von der Kirche zu seinem Haus zurückzukehren. Aber das wüßten sie bereits. »Wir wußten nichts dergleichen«, herrschte er mich an. »Hat Carol dir nicht gesagt, daß sie mit mir zusammen sei?« fragte ich, während mir ein Verdacht dämmerte, der mich alarmiert hätte, wäre ich nicht so erschöpft gewesen. Niemand antwortete. Fragend sahen sie einander an. Ich wandte 258
m ich an D on Juan und sagte ihm , ich sei der M einung gewesen, er habe C arol ausgeschickt, m ich zu suchen. D on Juan schritt im Zim m er auf und ab, ohne ein W ort zu sagen. »Carol Tiggs war gar nicht bei uns«, sagte er. »U nd du warst neun Tage lang fort.« M eine M üdigkeit bew ahrte m ich davor, bei diesen W orten tot um zufallen. D er Ton seiner Stim m e und die besorgten B licke der anderen waren B eweis genug, daß sie es ernst m einten. A ber ich war so betäubt, daß ich nichts zu sagen wußte. D on Juan forderte m ich auf, ihnen in aller A usführlichkeit zu erzählen, w as sich zw ischen m ir und der, die dem T ode trotzt, zugetragen habe. Ich war schockiert darüber, daß ich m ich an so vieles erinnern konnte und daß ich davon berichten konnte, trotz m einer M üdigkeit. E in A ugenblick unbeschw erter Fröhlichkeit brach die S pannung, als ich ihnen erzählte, w ie sehr die F rau gelacht hatte, als ich in ihrem Traum m eine A bsicht, zu sehen, wie ein Esel hinausbrüllte. »M it dem kleinen F inger zu deuten, das funktioniert besser«, sagte ich zu D on Juan, ohne jeden V orwurf. D o n Ju an fragte, o b d ie F rau n o ch ein e w eitere R eaktio n au f m ein G ebrüll gezeigt hätte, außer ihrem G elächter? Ich hätte keine E rinnerung daran, sagte ich, bis auf ihre Fröhlichkeit und die T atsache, daß sie darüber gesprochen hatte, w ie sehr er sie verabscheute. »Ich verabscheue sie überhaupt nicht«, protestierte D on Juan. »Ich verab sch eu e n u r d ie Z w an gh aftigkeit d er alten Z au b e rer.« A n alle A nwesenden gewandt, sagte ich. daß ich persönlich diese Frau ungeheuer und vorbehaltlos gern gehabt hätte. U nd daß ich C arol T iggs geliebt hatte, w ie ich nie geglaubt hätte, jem anden lieben zu können. Sie schienen gar nicht zu verstehen, w as ich sagte. Sie sahen einander an, als sei ich plötzlich verrückt gewor den. Ich w ollte noch m ehr sagen, m eine G efühle erklären. A ber D o n Ju a n - ic h g la u b e , w e il e r m ic h d a v o n a b h a lte n w o llte , D um m heiten zu plappern - zerrte m ich förm lich aus dem H aus, und zurück zum H otel. D erselbe Portier, m it dem ich zuvor gesprochen hatte, hörte sich höflich unsere B eschreibung an, die wir von C arol Tiggs gaben,
leugnete aber rundheraus, sie oder mich jemals gesehen zu ha ben. Er rief sogar die Zimmermädchen, die seine Aussage bestä tigten. »Was kann das alles bedeuten?« fragte Don Juan sich laut. An scheinend fragte er aber nur sich selbst. Sachte führte er mich aus dem Hotel. »Komm, laß uns verschwinden von diesem verdammten Ort«, sagte er. Kaum draußen, befahl er mir, mich nicht umzudrehen, nicht das Hotel oder die Kirche jenseits der Straße anzuschauen, sondern den Blick gesenkt zu halten. Ich sah meine Schuhe an und merkte sofort, daß ich nicht mehr Carols Kleider trug, sondern meine eigenen. Aber wie sehr ich mich auch anstrengte, konnte ich mich nicht erinnern, wann ich mich umgezogen hatte. Wahrscheinlich, als ich im Hotelzimmer erwachte, dachte ich. Da mochte ich meine eigenen Sachen angezogen haben, obwohl mein Gedächtnis leer war. Inzwischen waren wir auf der Plaza angekommen. Bevor wir hin übergingen und uns nach Don Juans Haus wandten, erklärte ich ihm die Sache mit meinen Kleidern. Er schüttelte rhythmisch den Kopf und lauschte jedem Wort. Dann setzte er sich auf eine Bank, und nun ermahnte er mich mit einer Stimme, in der echte Sorge mitschwang, daß ich im Augenblick gar nicht wissen könne, was im Zustand der zweiten Aufmerksamkeit zwischen der Frau und der Kirche und meinem Energiekörper vorgegangen sei. Mein Erlebnis mit der Carol Tiggs aus dem Hotel sei nur die Spitze eines Eisbergs. »Es ist grauenhaft, sich vorzustellen, daß du neun Tage lang in der zweiten Aufmerksamkeit warst«, fuhr Don Juan fort. »Neun Tage, das ist nur eine Sekunde für die, die dem Tode trotzt, aber eine Ewigkeit für uns.« Bevor ich protestieren oder etwas sagen oder erklären konnte, gebot er mir Schweigen. »Bedenke ein mal«, sagte er. »Wenn du dich nicht mal an all das erinnern kannst, was ich dich in der zweiten Aufmerksamkeit lehrte und mit dir machte, dann kannst du dir vorstellen, um wieviel schwie riger es sein mag, sich daran zu erinnern, was die, die dem Tode trotzt, dich gelehrt und mit dir gemacht hat. Ich ließ dich nur die Bewußtseinsebene wechseln; die dem Tod Trotzende führte dich in ein anderes Universum.« Ich fühlte mich kleinlaut und abgeschlagen. Don Juan und seine
zwei Gefährtinnen drängten mich, ich solle mich anstrengen und versuchen, mich zu erinnern, wann ich meine Kleider gewechselt hätte. Ich konnte es nicht. Mein Kopf war leer: keine Gefühle, keine Erinnerungen. Irgendwie war ich nicht ganz da, nicht bei ihnen. Die Nervosität Don Juans und seiner zwei Gefährtinnen erreichte einen Höhepunkt. Nie hatte ich ihn so verwirrt gesehen. Da gab es immer eine Spur von Humor bei ihm, ein Sich-nicht-ganzErnstnehmen bei allem, was er tat und was er sagte. Diesmal aber nicht. Wieder versuchte ich nachzudenken, versuchte noch eine Erinne rung auszugraben, die Licht in die Sache bringen könnte. Wieder schaffte ich es nicht, aber ich war nicht niedergeschlagen: ein un wahrscheinlich gewisser Optimismus beherrschte mich. Ich hatte das Gefühl, daß alles so kam, wie es kommen sollte. Don Juans größte Sorge war, wie er sagte, daß er nichts über das Träumen wußte, das ich mit der Frau aus der Kirche erlebt hatte. Ein TraumHotel zu erzeugen, eine Traum-Stadt, eine geträumte Carol Tiggs, all dies war für ihn nur ein Beispiel für die Kunst der alten Zauberer im Träumen, für ihre totale Bandbreite, die menschlicher Vorstellungskraft spottete. Don Juan breitete überschwänglich die Arme aus und lächelte endlich - mit seiner gewohnten Fröhlichkeit. »Wir können nur annehmen, daß die Frau in der Kirche dir gezeigt hat, wie es geht«, sagte er in bedächtigem Ton. »Es wird eine ungeheure Auf gabe für dich sein, ein unverständliches Manöver verständlich zu machen. Es war ein meisterhafter Schachzug von dem, der dem Tode trotzt - verkleidet als Frau in der Kirche. Sie hat Carols und deinen Energiekörper benutzt, um abzuheben - um aus aller Ver ankerung auszubrechen. Sie entführte dich - mit deiner Gabe geschenkter Energie.« Was er da sagte, hatte für mich keine Bedeutung. Seinen beiden Gefährtinnen bedeutete es offenbar sehr viel. Sie waren sehr auf geregt. An sie gewandt, erklärte Don Juan, daß derjenige, der dem Tode trotzt, und die Frau in der Kirche verschiedene Aus drucksformen derselben Energie wären. Die Frau in der Kirche sei die mächtigere und komplexere von den beiden. Als sie die Führung übernahm, benutzte sie den Energiekörper von Carol Tiggs auf eine dunkle, unheimliche Art, wie es den Praktiken der 261
alten Z au b erer en tsp rach , u n d sch u f jen e C arol T iggs au s d em H otel - ein e C arol T iggs d er rein en A b sich t. V ielleich t, so fü gte D on Ju an h in zu , h atten C arol T iggs u n d d ie F rau b ei ih rer B egegn u n g ein e A rt von V erein b aru n g getroffen . In d iesem M om en t kam D on Ju an offen b ar ein G ed an ke. U n gläu b ig starrte er sein e G efäh rtin n en an . Ih re A u gen h u sch ten h in u n d h er, von ein em zu m än d ern . N ich t n u r Z u stim m u n g h eisch en d , d essen w ar ich m ir sich er. D en n an sch ein en d h atten sie gleich zeitig etw as b egriffen . »A lle u n sere S p eku lation en sin d sin n los«, sagte D on Ju an , m it ru h iger, gelassen er S tim m e. »Ich glau b e, es gib t kein e C arol T iggs m eh r. E s gib t au ch kein e F rau au s d er K irch e. B eid e h ab en sich verein igt u n d sin d au f d en F lü geln d er A b sich t d avon geflogen . V orw ärts, glau b e ich .« »D er G ru n d , w aru m d ie C arol T iggs au s d em H otel sich S orgen u m ih r A u sseh en m ach te, w ar d ieser«, sagte er: »S ie w ar d ie F rau in d er K irch e, d ie d ich ein e an d ere C arol T iggs träu m en ließ . E in e u n en d lich viel m äch tigere C arol T iggs. E rin n erst d u d ich , w as sie sagte? > T räu m e d ein e A b sich t von m ir. B eab sich tige m ich vor wärts<.« »Was bedeutet das, Don Juan?« fragte ich, wie betäubt. »Es bedeutet, daß die, die dem Tode trotzt, ihren letzten Ausweg gesehen hat. Sie ist mit dir auf und davon geflogen. Dein Schicksal ist ihr Schicksal.« »Und das heißt, Don Juan?« »Das heißt, daß sie. wenn du die Freiheit findest, sie ebenfalls finden wird.« »Wie will sie das schaffen?« »Durch Carol Tiggs. Aber sei unbesorgt um Carol.« Dies sagte er, noch bevor ich meine Ahnung aussprechen konnte. »Sie versteht ein solches Manöver. Und noch viel mehr.« Unendlichkeiten türmten sich vor mir auf. Schon fühlte ich ihr erdrückendes Gewicht. In einem Augenblick der Klarheit fragte ich Don Juan: »Was ist das Ergebnis von alledem?« Er antwortete nicht. Er starrte mich an, musterte mich von Kopf bis Fuß. Dann sagte er, langsam und wohlerwogen: »Die Gabe derer, die dem Tode trotzt, besteht aus unendlichen Möglichkeiten des Träumens. Eine davon war dein Traum von Carol Tiggs in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Einer umfassenderen
Welt, weit und grenzenlos. Einer Welt, wo sogar das Unmögliche wahrscheinlich werden könnte. Und die Bedeutung ist. daß du nicht nur diese Möglichkeiten erleben wirst, sondern daß du sie eines Tages verstehen wirst.« Er stand auf, und wir machten uns schweigend auf den Weg zu seinem Haus. Meine Gedanken begannen zu rasen. Es waren ei gentlich keine Gedanken, sondern Bilder - eine Mischung von Erinnerungen an die Frau in der Kirche und an Carol Tiggs. wie sie im Dunkel des geträumten Hotelzimmers zu mir sprach. Ei nige Male war ich nahe daran, diese Bilder zu einem Gefühl meines gewohnten Selbst zu verdichten, aber ich musste es auf geben; ich hatte keine Energie für eine solche Aufgabe. Bevor wir beim Haus ankamen, blieb Don Juan stehen und sah mich an. Wieder musterte er mich sorgfältig, als suchte er nach Zeichen an meinem Körper. Und jetzt fühlte ich mich verpflichtet, ihn auf ein Thema anzusprechen, bei dem er, wie ich glaubte, in tödlichem Irrtum befangen war. »Ich war mit der echten Carol Tiggs im Hotel zusammen«, sagte ich. »Einen Augenblick glaubte ich selbst, sie sei die, die dem Tode trotzt, aber nach sorgfältiger Überlegung kann ich nicht an dieser Überzeugung festhalten. Es war Carol. Auf irgendeine un heimliche, erschreckende Art war sie in dem Hotel, genau wie ich selbst in dem Hotel war.« »Natürlich war es Carol«, pflichtete Don Juan mir bei. »Aber nicht die Carol, die wir beide kennen. Dies war eine geträumte Carol. wie ich dir sagte: eine Carol, bestehend aus reiner Absicht. Du halfst der Frau in der Kirche, diesen Traum auszuspinnen. Ihre Kunst war es. diesen Traum zu einer allumfassenden Realität zu machen: die Kunst der alten Zauberer, das Schrecklichste, was es gibt. Habe ich dir nicht gesagt, du würdest die krönende Lektion im Träumen erfahren?« »Was, glaubst du, geschah mit Carol Tiggs?« fragte ich. »Carol Tiggs ist fortgegangen«, antwortete er. »Aber eines Tages wirst du eine neue Carol Tiggs finden - die Carol aus dem geträumten Hotelzimmer.« »Was meinst du damit, daß sie fortgegangen sei?« »Sie ist fortgegangen von dieser Welt«, sagt er. Nervosität brandete gegen mein Zwerchfell. Ich war hellwach. Mein wiedergekehrtes Bewusstsein wurde mir allmählich vertraut.
aber ich konnte es noch nicht ganz kontrollieren. Doch es durch brach schon den Nebel des Traumes. Begonnen hatte es als eine Mischung zwischen dem Nicht-Wissen, was hier vor sich ging, und der gefühlten Ahnung, daß das Unbegreifliche gleich an der nächsten Ecke wartete. Wahrscheinlich zeigte sich ein ungläubiger Ausdruck auf meinem Gesicht, denn Don Juan sagte mit vollem Nachdruck: »Dies ist das Träumen. Und du solltest jetzt wissen, daß alles, was darin geschieht, endgültig ist. Carol Tiggs ist gegangen.« »Aber wohin, glaubst du, Don Juan, ist sie gegangen?« »Wohin die Zauberer der Vorzeit gingen. Ich habe dir gesagt, die Gabe derjenigen, die dem Tode trotzt, sei die Endlosigkeit möglichen Träumens. Du wolltest nichts Konkretes annehmen, darum schenkte die Frau in der Kirche dir eine abstrakte Gabe: die Möglichkeit, auf den Flügeln der Absicht zu fliegen.«