BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DIE LETZTE ENKLAVE von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nac...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DIE LETZTE ENKLAVE von Michael Marcus Thurner 2041, gut zwei Jahrzehnte nach dem Scheitern der ersten Marsmission, sucht ein rätselhaftes Phänomen das Sonnensystem heim. Auf der Erde kommt es zu apokalyptischen Szenen, und der Jupiter verwandelt sich in ein Schwarzes loch, aus dem heraus eine fremde Invasionsflotte Kurs auf die Erde nimmt. Durch genau dieses Black Hole verschlägt es die Besatzung der RUBIKON in unbekannte Tiefen des Alls. John Cloud sowie die GenTecs Scobee, Resnick und Jarvis werden Zeugen einer Raumschlacht, an der irdische Schiffe beteiligt sind. Hat es sie in die Zukunft verschlagen? Die Irdischen Schiffe werden auch für die RUBIKON-Crew zur tödlichen Bedrohung. Und dann ist da auch noch das »Phantom« - das sich als Außerirdischer erweist. oamok besitzt ein eigenes Fahrzeug - und kaum haben die Menschen es betreten, katapultiert es sie auch schon aus dem gekaperten ÄskulapRaumer hinaus Ins Weltall. Cloud und die GenTecs sinken besinnungslos zu Boden. Das letzte, was sie hören, sind die Worte: »Endlich! Endlich lerne ich die Mörder meines Volkes kennen... « 1. Jiim packte den hölzernen Speer fester und nutzte die Aufwinde über dem Schrund, um sich spiralförmig nach oben tragen zu lassen. Die günstige Thermik fuhr in seine weit ausgebreiteten Flügel. Ein paar kurze, instinktive Bewegungen sorgten für die notwendigen Korrekturen, um im warmen Luftstrom zu bleiben. Er genoss den kurzen Moment des Sich-Treiben-Lassens; genoss das Hochgefühl der Kraft seiner jungen Jahre; genoss den seltenen Augenblick der absoluten Ruhe. Jiim spähte hoch zu den glänzenden Sternen. Mit einem Mal verflog seine gute Laune, als Maron, derVernichter, in sein Gesichtsfeld geriet. Der geborstene Mond, dessen schroffes, zerrissenes Gesicht kalt herab leuchtete. Ein Zittern durchfuhr Jiims Gefieder, und kurzzeitig verlor er die Kontrolle über seine Flugkurve. Er schüttelte den Kopf und verwarf die trüben Gedanken. Konzentriere dich auf die Jagd! Seine Augen legten ein Netzmuster über den Teil des Schrundes, den er überblickte. Heiß glühende Ströme bildeten Orientierungshilfen, ebenso wie erkaltete, schroffe Felsnasen, die weit in die Höhe ragten und ihm den Eindruck von >Blau< vermittelten. Seine Sinne verrieten ihm binnen weniger Momente, wohin ihn die Thermik getrieben hatte. Es war eines seiner liebsten Jagdgebiete, nicht weit von der Ansiedlung entfernt, in einem der vielen versteckten Seitentäler. Die anderen seines Volkes flogen selten hierher; es gab wenig Landemöglichkeiten, und das Navigieren wurde durch unberechenbare Seitenwinde erschwert. Doch Jiim war einer der besten Flieger der Nargen, und das Jagdfieber hatte ihn gepackt.
»Krie! «, schrie er, und nochmals: »Krie! «
Der Ruf schallte durch die dünne, kalte Luft und würde den anderen Jägern in der
Umgebung sagen, dass er dieses Gebiet für die heutige Jagd beanspruchte.
Chex, sein bester Freund, der mit ihm gekommen war, antwortete aus hundert
Nargenlängen Entfernung und flog dann in einem weiten Bogen nach rechts davon.
Sie verstanden sich gut und hatten auch keine Geheimnisse voreinander, doch bei der
Jagd blieb jeder auf sich alleine gestellt. So verlangte es die Ordnung der Nargen.
Jiim entdeckte eine bewegliche Wärmequelle am Grund des Schrundes. Annähernd
rund, in der Mitte blau, zu den Seiten hin violett und rötlich leuchtend. Das Hinterteil
schwänzelt heftig hin und her. Massiv und langsam. Ein Cherss, vermutlich ein
Einzelgänger!
Cherss waren gefährliche Gegner, selbst für einen ausgezeichneten Jäger wie Jiim.
Doch die Nargen waren auf das Fleisch angewiesen, und das Fieber hatte ihn
gepackt.
Das Cherss würde ihm gehören!
Bald.
So wie er hochgestiegen war, begann er auch den Abstieg. In sanften, weiten Kurven. Bis er durch die näher rückenden Wände des Seitentals gezwungen war, engere und abruptere Manöver zu fliegen. Jiim begann, heftig mit den Flügeln zu arbeiten. Kurze, manchmal hektische Bewegungen retteten ihn mehrmals vor den heimtückischen Seitenböen, deren Wirkung niemals vorhersehbar war. Er rang um die Stabilität in der Luft und behielt gleichzeitig die Jagdbeute im Auge. Das reptiloide Cherss kroch gemächlich auf seinen Stummelfüßen über den scharfgratigen Boden und mied die wenigen offenen Feuerlöcher. Schmutziggelbe Nebelschwaden trübten von Zeit zu Zeit Jiims Sehvermögen, doch sein Instinkt sagte ihm, wo das Cherss hinwollte. Noch vielleicht zwanzig Körperlängen bis zum Erdboden. Er wich einer spitzen Felsnadel aus, umrundete einen der Feuerseen und näherte sich dem Reptil gegen den Wind, schon knapp über der Oberfläche dahinschwebend. Noch eine kurze Korrektur, dann... Das Glück war ihm heute nicht hold. Eine forsche, seitliche Windböe fuhr durch das Schluchtenlabyrinth, erfasste Jiim, verfing sich in seinem Federkleid, und schleuderte ihn unsanft zu Boden. Dann war nur noch Dunkelheit.
Der Narge richtete sich mühsam auf und wischte die Benommenheit beiseite. Das Cherss, wo war es? Er hörte das Grunzen und ließ sich rasch zur Seite fallen. Die Flügel hatte er möglichst nahe an den Körper gezogen, und doch behinderten sie ihn im Nahkampf. Ungelenk kam er wieder hoch. Das Cherss war knapp an ihm vorbeigestürmt und benötigte einige Nargenlängen, um zu wenden. Lange genug für Jiim, um sich neu zu orientieren, und zu kurz, um in die Luft zu entfliehen. Hastig griff Jiim nach dem dünnen, hölzernen Speer, den er beim Absturz verloren hatte. Seine einzige Waffe! Eine nutzlose Waffe. Das Cherss, ein Monstrum, massig wie drei Nargen, zischte und fauchte, als es auf ihn zugestürmt kam. Seine Augen glühten. Fauliger Geruch entströmte seinen breiten Nüstern. Das weit aufgerissene Maul gestattete Jiim einen Blick auf zwei Reihen kräftiger Reißzähne. Die hornigen Krallen der kurzen Beine erzeugten ein scharrendes Geräusch, als das Cherss an Geschwindigkeit gewann. Der knöcherne Schuppenkammpanzer flüsterte trocken, als die Glieder aneinander schabten. In der Luft hätte ich eine reelle Chance gehabt. Ich hätte ihn am Schwanz gepackt, auf den Bauch gedreht und den Spieß in die empfindliche Stelle am Halsansatz gedreht. Aber so... Das Cherss überrannte Jiim, zerfetzte den Speer und fegte ihn mit einem kräftigen Hieb seines Schwanzes weit durch die Luft. Jiim landete hart. Viel zu hart, um rasch genug wieder hochzukommen. Und das Cherss stürmte schon wieder heran...
Jiim hatte sich in sein Schicksal ergeben und blickte hoch zu Maron, dem Vernichter.
Er achtete nicht mehr auf das heranstürmende Cherss. Der Mond stand voll am
nächtlichen Himmel. Ein schlechtes Omen. Er hätte es wissen müssen.
»Chiu!«, schrie er. Der Todesschrei der Nargen. Die anderen würden es hören, aber
zu spät kommen.
Noch ein paar kurze Momente, dann würde das Reptil über ihm sein. Er hörte, spürte
und roch den Tod kommen, wandte aber dennoch nicht den Blick von Maron, dem
Symbol der Unvollkommenheit. Er leuchtete rot wie ein Fanal.
Rot?
Wärme?
Ein lautes Pfeifen und Zischen ertönte. Die Luft erhitzte sich noch mehr.
Das Cherss blieb irritiert aus vollem Lauf stehen, keine Nargenlänge von Jiim
entfernt. Es witterte. Ein Zittern durchlief seinen mächtigen Körper - dann rannte es
in entgegengesetzter Richtung davon, während sich der Narge aufrappelte und wie
hypnotisiert den Feuerball anstarrte, der scheinbar aus dem Mond herausfiel.
Das unheimliche Gebilde fegte vom Himmel herab, zischte dicht an Jiim vorbei - und verschwand im Schrund. Der Narge verlor fast das Bewusstsein vor Schreck und fühlte sich von einer unsichtbaren Klaue gepackt...
Rückblende - kurz zuvor: GT Jarvis kontrollierte seinen Körper. Puls- und Atemfrequenz, Blutdruck sowie der Kortikosteronspiegel waren durch Genmanipulationen seiner Mandelkerne oberhalb des Hirnstammes ohnehin gedämpft. Durch einen gezielten Gedanken konnte er darüber hinaus seinen Hypothalamus, das Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Prozesse beeinflussen. Die Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark war steuerbar, ebenso die Produktion von Kortisol in der Nebennierenrinde. Jarvis empfand auch weniger Schmerz als ein Mensch, doch das, was zu ihm durchdrang, reichte aus, um ihn an die Grenzen des Erfahrbaren zu bringen. Es zerquetschte seinen Körper, als das Askulap-Schiff transparent wurde, sich zu einem scheinbar infiniten Punkt zusammenzog und seinen Körper zu einem unbedeutenden Etwas schrumpfen ließ. Und nach einer nicht messbaren Zeitspanne kehrte sich alles um: Jarvis wurde gedehnt und gestreckt, wandelte sich vom eindimensionalen Nichts wieder zu dem Wesen, das er glaubte, einmal gewesen zu sein. War es so? Oder hatte er auf dieser unglaublichen inneren und äußeren Reise Substanz, individuelles Wissen und Milliarden Neutronen verloren? Der GenTec merkte keinen Unterschied, spürte nur einen gewaltigen Muskelkater. Sein bewusstes Sehen kehrte zurück. Er stand noch immer in seinem Raumanzug in der Steuerzentrale des Askulaps. Mittlerweile schwamm er jedoch regelrecht in seinem eigenen, übelriechenden Sud aus Schweiß und Kondenswasser. Im Inneren des Schiffes herrschte Vakuum, und die Anzeige seiner Sauerstoffreserve wanderte unbarmherzig in Richtung des roten Bereiches. »Scobee und Resnick, seid ihr okay?« Kurzes Zögern, dann kam ein doppeltes, rast zeitgleiches »Ja!« aus dem Funkempfänger. »Wie sieht es mit euren Sauerstoffreserven aus?« »Frag besser nicht. Wir sind beide nahe dem roten Bereich«, antwortete die tiefe Stimme von Resnick. »Wie geht es John?« »Er ist ohnmächtig.« Diesmal antwortete eine Frauenstimme - Scobee.
»Ich schätze, dass er gleich wieder zu sich kommt. Er besitzt eine gute Konstitution -
für einen Menschen.«
»Habt ihr dem Phantom folgen können?«
»Wir brechen gerade ein großes, hohes Schott auf, durch das er uns entwischt ist.
Warte mal...« In der Atmosphärelosigkeit war nichts von einer Detonation zu hören,
dennoch hatte Jarvis das Gefühl, dass gerade eine stattfand. Scobees nächste Worte
schienen dies zu bestätigen. »Jetzt sind wir durch.«
Kurzes, heftiges Atmen.
»John wacht auf. Wir melden uns später wieder.« Es knackte im Empfänger, und die
Verbindung war tot.
Jarvis sah sich in der Zentrale des Raumschiffs um. Es hatte sich nicht viel geändert.
Nur die wandhohen Monitore - eigentlich waren alle Wände zusammen ein einziger
großer Bildschirm - zeigten eine andere Szene.
Das angreifende irdische Schiff war verschwunden. Ab und zu rückten Planeten, die
Sonne des fremden Systems oder das düstere Wurmloch ins Bild - von einer
unbegreiflichen Automatik herangezoomt - und unverständliche Zeichenkolonnen
surrten in rascher Abfolge über die Schirme.
Wie weit mögen wir von der Erde und unserer Sonne entfernt sein?, dachte Jarvis. Es
gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Theoretisch konnten sie sich in einer anderen
Galaxis befinden, nicht nur in einem fremden Sektor der Milchstraße...
Dabei hatte bis vor wenigen Stunden noch die Reise zum Mars als das größte
Abenteuer der Menschheit gegolten. Nun saßen sie im Raumschiff einer fremden
Rasse fest, waren zum Spielball geworden und hatten eine Technik kennen
gelernt, die alles überstieg, was selbst der GenTec mit seinen erweiterten Fähigkeiten
zu erfassen vermochte.
»Jarvis?«
»Ja, Scobee?«
»Hinter dem zerstörten Schott liegt ein Hangar, und darin befindet sich etwas, was
ich als Unterschlupf des Phantoms bezeichnen würde, dem wir gefolgt sind.«
»Wie sieht dieser Unterschlupf aus?«
»Er ähnelt einem Schildkrötenpanzer, der mit einer Eisschicht überzogen ist. Kommt
ziemlich abweisend rüber. Ich denke, es handelt sich um ein kleines Raumschiff, das
aber einer anderen Technologie entsprungen zu sein scheint als der Askulap.«
»Also kein Beiboot? Bist du sicher?«
»Was heißt in unserer Situation schon sicher? Jedenfalls gibt es keinen erkennbaren
Zugang... Moment mal.«
In der folgenden Pause hörte Jarvis nur die Atemzüge der GenTec.
»Eine Art Luke hat sich plötzlich geöffnet. John und ich gehen da jetzt rein - Resnick
bleibt zur Sicherheit im Hangar.«
Zur Sicherheit... Jarvis wollte etwas sagen, seine Bedenken äußern, entschied sich
dann aber dagegen. Scobee konnte das Risiko vor Ort besser abschätzen als er. »Viel
Glück!«, murmelte er, doch es kam keine Antwort mehr.
Seine Sauerstoffanzeige war nun im roten Bereich.
Noch etwa siebzig Minuten, verinnerlichte er sich.
Eine möglichst unaufgeregte Atmung vorausgesetzt. Aber im Folgenden überschlugen sich die Ereignisse. Jarvis entdeckte Anzeichen für eine angelaufene Selbstvernichtungssequenz. Er verließ seinen Posten und eilte so schnell er konnte ebenfalls zu dem Hangar, den die anderen entdeckt hatten. Dort gelang es ihm gerade noch mit Resnick in das eigentümliche, schildkrötenartige Fahrzeug zu flüchten - ehe dieses sich auch schon schloss und in den offenen Weltraum hinauskatapultierte. Durch das geschlossene Hangartor hindurch? Im Inneren warteten Scobee und Cloud - und ein »Ding« in einer kreisrunden Wanne, dessen Aussehen an einen riesigen Herzmuskel erinnerte. Und das sie mit den Worten empfing: »Endlich! Endlich lerne ich die Mörder meines Volkes kennen!« Aber bei allem Schrecken gab es auch Grund zur Hoffnung: Während hinter ihnen der Äskulap in einer kleinen Sonne verging, entdeckten sie, dass es an Bord der »Schildkröte« offenbar atembare Luft gab. Cloud wagte als Erster, den Helm abzunehmen. Die anderen folgten seinem Beispiel, als derVersuch folgenlos blieb. Scheinbar folgenlos. Denn schon kurz darauf wurde ihr Mut zum Risiko bestraft. Etwas in der Luft bekam ihnen überhaupt nicht. Jarvis fiel und verlor das Bewusstsein. Sah nur noch, dass auch die anderen in dem fremden, kleinen Schiff zu Boden sanken... 2. Die mächtige Druckwelle war über Jiim hinweg gefahren und hatte ihn einige Meter weit in Richtung eines Feuersees gewirbelt. Das Federkleid des Nargen war zerrupft und voller Staub und bedurfte einer sorgfältigen Reinigung. Der Rücken und sein linkes Bein schmerzten, doch sonst schien er keine Blessuren davongetragen zu haben. Warum lebe ich noch? Was war das? Wo ist der Feuerball niedergegangen? Wirre Fragen. und Gedanken schossen ihm durch den Sinn. Panik und abergläubische Furcht vermischten sich und erzeugten den instinktiven Impuls, sofort fliehen zu wollen. Jiim flatterte aufgeregt mit den schmerzenden Flügeln. Das Rot aus dem Himmel konnte nichts anderes als eine Zornesträne ihres Kriegsgotts Rigo gewesen sein, den die Nargen aus irgendeinem Grund gereizt hatten. Sein Instinkt hatte das Cherss binnen weniger Momente in die Flucht geschlagen. Ihn jedoch, Jiim, hatte ein anderes, überaus zwiespältiges Gefühl an seinen Platz gebannt. Neugier. Jenes Empfinden, das den Nargen vom Tier unterschied. Nenn es Neugier oder Interesse, es macht mich auf jeden Fall zu dem, was ich bin: ein denkendes Wesen. Und jetzt gehe ich zur Zornesträne.
Humpelnd machte er sich auf den Weg.
Das intensive Rot war leicht zu orten. Es kam aus einem weiten Nebental, das sich so wusste Jiim - zur großen Hauptebene des Schrundes hin öffnete. Doch das Rot wurde rasch dunkler, verlor deutlich an Leuchtkraft und würde binnen kürzester Zeit zu Blau werden. Und damit schwerer zu orten sein in den Netzfeldlinien aus Farben und Formen. Jiim schritt kräftiger aus. Fliegen schien ihm bei der Annäherung an die Zornesträne nicht angebracht zu sein; es hätte von den Göttern leicht als Überheblichkeit ausgelegt werden können. Also ging er und hob die Arme leicht an, um das Gefieder nicht über den Boden schleifen zu lassen. Da war sie! Gleich beim Übergang von einem Tal ins andere. Noch leuchtete sie in dunklem Rot und dampfte. Wasser tropfte da und dort herab und erzeugte neben dem Knistern brennender Büsche in der näheren Umgebung die einzigen Geräusche, die Jiims empfindliche Ohren auffangen konnten. Die Zornesträne erinnerte an eine Nargen-Behausung, nur war sie weitaus schwungvoller und sanfter geformt. Sie erreichte eine Höhe von vielleicht drei Nargenlängen und war annähernd doppelt so breit wie hoch. Und dort, wo auch in Jiims Behausung der Eingang zu finden war... stand sie offen. Die Zornesträne war hohl.
Jiim würgte vor Aufregung die letzte Mahlzeit hoch, zerkaute nachdenklich nochmals die Reste des kleinen Nagers, den er verzehrt hatte, und verschluckte sie wieder. Danach fühlte er sich besser. Wer hatte schon jemals davon gehört, dass die Zornesträne eines Gottes auf Kaiser, seiner Heimat, gelandet war? In wenigen Augenblicken würden die anderen Nargen herbeiströmen, angezogen von der Erschütterung, den Bränden und dem Hitzeschein. Caar, der Suprio, würde mit ihnen kommen und eine Entscheidung treffen, wie mit die sein Sendboten aus dem Hohen Himmel zu verfahren sei. Vorsichtig ging Jiim näher, setzte einen kurzen Schritt vor den anderen. Das dunkle Loch in der Zornesträne lockte ihn. War es vielleicht so, dass dieses... Etwas... ihm geschickt worden war? Schließlich hatte es sich genau in dem Moment genähert, als er sich zum Sterben bereit gemacht
hatte. Stellte diese Öffnung eine Einladung nur an ihn dar? War er so etwas wie ein...
Auserwählter?
Jiim war neugierig.
Neugier führte zu Verstehen. Verstehen führte zu Wissen. Wissen führte zu... Wissen
führte zu...
Jiim trat durch das dunkle Tor.
Aha. Götterboten waren also blass, hatten keine Flügel und waren in seltsame, steife Stoffe gehüllt. Und - soweit war seine gedankliche Blasphemie bereits gediehen - sie stanken. Rasch flüsterte Jiim ein Gebet und flehte mehrere Dutzend hoher Wesen aus der reichhaltigen Götterwelt der Nargen um Verzeihung an. Gleichzeitig sah er sich genauer um. Es war dunkel, und seine Sinne konnten im Inneren nur diffuse Wärmequellen ausmachen. Blau und Violett dominierten den Raum. In der Mitte der Zornesträne waberte etwas rundes, Gewölbtes in allen Farben des Spektrums. Zögernd ging Jiim darauf zu. Seine Flügel flüsterten sanft mit jeder Bewegung. Vorsichtig griff er in die grüne - nein, jetzt gelbe! - Farbe. Er drang langsam ein, bis er auf Widerstand stieß und nicht mehr weiterkam, während es orangerotblauviolett wurde. Mit einem unterdrückten Schrei zog er die schmale, aber kräftige Hand zurück. Es hatte ihn... gekitzelt. Dann... gereizt. Und schlussendlich... geschmerzt. Mit gesträubten Federn trat er zurück und konzentrierte sich auf die vier auf dem Boden liegenden Gestalten. Götter? Götterboten? Egal. Sie rührten sich nicht, und er hatte keine Lust, auch nur einen Moment länger als unbedingt notwendig in der Zornesträne zu bleiben. Noch dazu bei einem derart schlechten Licht und dem unheimlichen Lichterbogen, den er berührt hatte. Durfte man diese... Wesen überhaupt anfassen? Jetzt hätte er gerne Chex oder einen anderen aus der Jagdgruppe, mit der er das Dorf verlassen hatte, bei sich gehabt. Auch Alef, Cur und Pheens waren tapfere junge Nargen, auf die er sich verlassen konnte. Bevor er von einem neuen Gefühl überwältigt wurde, das er nicht mochte, handelte er lieber. Mühsam schleppte er eine der vier Gestalten nach der anderen ins Freie. Sie waren annähernd so schwer wie er selbst, obwohl sie keine Flügel besaßen. Erst danach leistete sich Jiim den Luxus, Angst zu empfinden. Er war stolz auf sich. Denn die Neugier hatte die Angst besiegt.
Kurz zuvor: Caar stand, das linke Bein angezogen, den Rumpf nach vorne gebeugt und die Flügel weit von sich gestreckt, auf der Gemeinschaftsplattform seines Volkes. »... Nach Sermon kam Plephes, auf Plephes folgte Anteri, den Coors begleitete. Sermon brachte die Feder, Plephes gab das Feuer, Anteri blies den Wind, und Coors modellierte das Fleisch aus Feuerstaub, den er vom Boden aufhob, und so ward Nargor geboren, der Stammeselter aller Nargen...« Caar beugte das rechte Knie und ignorierte geflissentlich das Brennen und den Schmerz in seinen Knochen. Er wurde alt. Nein. Er war alt. Schon seit langem. »Sermon, Plephes, Anteri, Coor, so hört mich an: Ich bitte euch um die Gunst der vier Windrichtungen, über die ihr gebietet. Ich bitte euch um die Gunst des Jagdglücks für unsere vier mal vier Krieger, die heute Nacht nach Nahrung für unser Volk suchen. Ich bitte euch um die Gunst der vier Jagd-Tugenden Schnelligkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit und Kraft. Ich bitte euch...« Die Litanei ging viermal vier Strophen weiter, und immer wieder beugte Caar das schmerzende Knie, spie ehrfurchtsvoll auf den Boden und erhob sich wieder. Nachdem er mit dem abendlichen Gebet fertig war, erhob er sich, reinigte die Hände in einem hölzernen Gefäß und knabberte an einer heiligen TorfyrRanke. Die Gebete erschöpften ihn, doch es war noch lange nicht Zeit, die Macht an einen jüngeren Nargen weiter zu reichen. Wem hätte er die Geheimnisse seinesVolkes auch anvertrauen sollen? Die neue Generation von Nargen war verkommen. Sie zweifelte heimlich an den Göttern, er wusste es; sie verstand es nicht, die Qualen, die seinem Volk auferlegt worden waren. duldend hinzunehmen. Doch Caar würde dafür sorgen, dass die Zeit des Zweifelns bald vorüber ging. Er, der Grimmige, wie sie ihn heimlich nannten, würde die Geschicke der Nargen weiter mit eiserner Hand bestimmen. Er würde... »Chiu!«, hörte er den Todesschrei eines jungen Jägers. Er wusste sofort, dass es sich um Jiim handelte. Jiim, den Leichtsinnigen. Tollkühn, neugierig und respektlos war er, aber auch einer der besten Jäger. Es wäre ein herber Verlust für die Gemeinschaft gewesen, wenn er umkam. Dann sah Caar den roten Feuerball. Der Suprio sah ihn nicht nur, er roch auch den bitteren Geschmack in der Luft, fühlte die herannahende Hitze und spürte in seinen Beinen die Wucht des Aufpralls. »Ihr Götter!«, schrie ein Halbwüchsiger im Nest seines Elters. Überall flatterten die Nargen aufgeregt aus ihren Behausungen, brüllten in Panik, flogen orientierungslos herum und behinderten einander gegenseitig.
Caar kämpfte gegen den Kloß in seinem Kropf an und gegen den Instinkt, ebenfalls emporzusteigen. Eine rotgelbe Wolke stieg dort auf, wo der Feuerball in den Schrund gestürzt sein musste, und formte einen grinsenden, hautlosen Schädel, über dem unheildräuend Maron leuchtete. »Pias! Seid ruhig! «, forderte Caar seinen Stamm mit aller Stimmgewalt, zu der er fähig war, auf. Er flatterte heftig mit seinen mächtigen, sonnengelben Flügeln und erzeugte ein Geräusch, das Respekt gebot. Langsam beruhigten sich die Nargen, nur der Halbwüchsige war kaum zu bändigen. Erst, als ihm sein Elter mit einem Flügel auf den nur spärlich beflaumten Kopf hieb, verstummte auch er endlich. »Mein Volk!«, rief der Suprio, »die Götter haben uns ein Zeichen gegeben, genau in der heiligen Stunde des Gebetes.« »Ein Zeichen!« »Eine Geste der Götter! « »Die Götter blicken auf uns herab! « Wieder hob Caar seine Flügel, und gleich darauf herrschte wieder Stille. »Es mag ein gutes Zeichen sein...« Ehrfürchtiges Raunen. »Oder ein böses...« Beunruhigtes Gemurmel. »Wir müssen dieses Zeichen finden und es interpretieren!« Caar drehte seinen Kopf fließend in alle Richtungen, fast um dreihundertsechzig Grad. Seine schwarzen Augen funkelten fanatisch. »Ich fordere euch auf, mit mir zu kommen, euch alle, und das Wirken der Götter mit anzusehen. Folgt mir! « Er schlug zwei-, dreimal mit den schweren Flügeln, bis er genug Aufwind spürte, und ließ sich dann von der Plattform gleiten. Die gute Thermik war einer der Gründe für die Ahnen gewesen, gerade an dieser Stelle das Gemeindehaus zu errichten, und mit graziöser Leichtigkeit fädelte sich Caar in die Luftströme ein, die ihn zum Zeichen der Götter tragen würden. Er sah sich nicht mehr um. Er wusste, dass die anderen ihm folgten. Das verlangte der Respekt vor dem Suprio, selbst wenn er sie in den Tod geführt hätte.
Jiim betrachtete die vier Gestalten näher. Sie trugen ein dichtes Flaumkleid auf den hässlichen Köpfen, noch dazu in unterschiedlichen Farben. Hässlich? Hatte er das soeben gedacht? Hastig verbeugte er sich in die vier Himmelsrichtungen und deutete mit den Fingern einen Kreis an; das Symbol der göttlichen Vollkommenheit, das den Nargen für immer verloren gegangen war. Nacht für Nacht wurde ihnen ihre Schuld in Form Marons - des zerstörten Mondes eindringlich vor Augen geführt. Dann wandte sich Jiim wieder den Lebewesen zu, die zu schlafen schienen. Sie besaßen Augen, die durch eine Art Hautlappen geschützt waren und muschelförmige,
nur rudimentär ausgebildete Ohren, die auf ein schlechtes Gehör schließen ließen. Außerdem hatten sie ein allein stehendes, weit vorspringendes Riechorgan und dicke Wülste rund um den Mund. Die Gesichtshaut war faltig und zerknautscht, nur das kleinste Wesen wirkte zarter. Vorsichtig griff er dessen Körper ab. Die Außenhaut fühlte sich spröde und kalt an, das Fleisch darunter weich und untrainiert. Nicht so zäh und sehnig wie der Körper eines Nargen. Das Wesen besaß zwei handgroße Höcker auf dem Oberkörper, die es von den anderen unterschied. Zwei voneinander getrennte Mägen? Gewachsene Geschwüre? Riesige Pusteln wie bei sterbenden Cherss, deren Eiter im Augenblick des Todes weit umherspritzte? Jiim fuhr mehrmals vorsichtig über die Außenhaut und fühlte mit seinen sensiblen Fingern, dass kleine, spitze Dinger aus den beiden Eiterpusteln emporwuchsen. Hastig richtete er sich auf und wich zurück. Hatte er das unheimliche Wesen in seiner Unwissenheit so sehr gereizt, dass sein Tod unmittelbar bevorstand? Wie hatte er nur wagen können, es zu berühren? Der junge Narge trat noch einen Schritt weiter zurück - und purzelte ungeschickt über die Beine eines Nargen, der hinter ihm stand. Jiim landete im Staub. Ein toller Jäger bin ich, dass ich nicht einmal merke, wenn sich der ganze Stamm um mich herum versammelt, dachte Jiim bitter. Aber immerhin brauche ich nicht mehr auf die Knie zu fallen, um dem Suprio meine Ehrerbietung zu erweisen.
Jiim. du dreimal verfluchter Abkömmling Marons, was treibst du hier? Warum wissen wir nicht, was du tust? Und warum hast du vorher den Todesschrei ausgestoßen?« Das Federkleid des Suprio wirkte etwas kräftiger als sonst. Er war zornig. »Verzeih mir. Ehrwürdiger Oberster Eierhüter. ich war erschrocken! Ich wollte nur...« »Du hast nichts zu wollen! Was sind das für Lebewesen? Warum hast du sie berührt, Frevler?« Caar tanzte um ihn herum, flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln und demütigte ihn damit bewusst vor den anderen Nargen. Rang und Ansehen des jungen Jägers würden in dieser Nacht erheblichen Schaden nehmen. Verzweifelt richtete sich Jiim an die anderen Nargen: »Ihr habt sicher alle diesen mächtigen Feuerschein gesehen?« Fast alle Nargen bestätigten es stumm. »Und ihr habt auch gespürt und gerochen, wie die Zornesträne Rigos hier niedergegangen ist? Sie hat mich gerettet vor dem Ansturm eines Cherss, das mich im selben Moment töten wollte!«
Unruhe breitete sich aus. »Zornesträne?«
»Aber die mächtigen Vier, Sermon, Plephes, Anteri und Coor werden uns doch vor
Unglück bewahren?«
»Rigo. der Kriegsgott?«
»Die Götter wollten dich schützen?«
Der Suprio unterbrach die Gespräche und hob Ehrfurcht gebietend den linken Flügel.
»Schweigt! « Dann wandte er sich an den jungen Jäger: »Was soll das Geschwätz
von einer Zornesträne, Jüm? Die Götter haben heute Abend zu mir gesprochen und
Frieden und Ruhe für die nächsten Monde prophezeit, wenn wir ihnen in aller Demut
dienen.« Er keckerte höhnisch. »Hast du vielleicht gefehlt? War diese...
Zornesträne... nur für dich bestimmt? Hast du uns deswegen nicht gleich informiert?
Und was sind das für unbekannte Geschöpfe?« Er deutete auf die vier Bewusstlosen.
»Sie waren im Inneren der Zornesträne, und ich habe sie herausgeholt«, antwortete
Jiim trotzig.
»Und wo ist diese Zornesträne jetzt? Wir können sie nirgends sehen.« Caars Stimme
war voller Hohn, sein Flügel beschrieb einen allumfassenden Kreis.
»Na da, gleich hinter...«
Als sich Jiim umdrehte, war der dunkle Brocken weg. Wie von den Göttern des
Feuers verschluckt.
Der Suprio stolzierte um die vier merkwürdigen, wie leblos daliegenden Gestalten herum. Mit seinen viergeteilten Füßen kratzte er etwas Staub vom rauen Boden und schleuderte ihn in ihre Richtung - als Zeichen seines Misstrauens und seiner Missachtung. Er fürchtet diese Wesen, und er weiß nicht, wie er mit ihnen umgehen soll, dachte Jiim und verdrängte den Schock über das Verschwinden des merkwürdigen Behälters. Wenn der Suprio einen Grund fände, würde er die Fremden auf der Stelle töten. Ich kenne seine engstirnigen Gedanken: Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Wenn er sie tötet und ins Feuer stößt, braucht er nicht länger über die Unfassbarkeit ihrer Existenz nachzusinnen. »Ehrwürdiger Suprio, ich versichere dir als Jäger und Mitglied der Gemeinde, dass diese Wesen in einem dunklen Gefäß zu uns kamen. Bei meiner Ehre!« Jiim schlug sich mit der rechten Faust gegen die linke Schulter, sodass sich die mächtigen Flügel überkreuzten. Gemurmel brandete auf. Ein Schwur auf die Ehre war nichts, was man leichtfertig abgab. In ihrer kleinen Gemeinde galt das versprochene Wort genau so viel wie eine Tat. Caar wusste das. Doch das Wort eines Suprio zählte nun einmal mehr als das eines einfachen Jägers. Der Ehrwürdige Oberste Eierhüter machte eine Kunstpause, als
würde er zögern. In Wirklichkeit wollte er nur andeuten, dass er die Ehrenbezeugung Jiims zwar hinnahm, sie ihm aber letztlich gleichgültig war. Er würde die vier Lebewesen wohl dennoch zum Tode verurteilen. »Caar, es müssen Abgesandte unserer Götter sein!«, unternahm Jiim einen letzten, verzweifelten Versuch. »Oder glaubst du, dass es Zufall ist, dass sie ausgerechnet zu viert hier auftauchen? Ist >vier< nicht die heilige Zahl? Sind es vielleicht Boten von Sermon, Plephes, Anteri und Coor?« Zischen und heftiges Flattern war die Reaktion der Nargen. Mehrere Junge brachen in Weinen aus. Alle wichen um mehrere Schritte zurück. Der Suprio blickte Jiim mit unverhülltem Zorn an. Dann lächelte er listig, wobei aber nur der junge Jäger sein Gesicht sehen konnte. »Gut«, sprach Caar, »mit deiner Ehrenbezeugung hast du uns...« Er wies mit einem Flügel in Richtung der zurückdrängenden Nargen und meinte in Wirklichkeit alle, nur nicht sich selbst, »... davon überzeugt, dass es Götterboten sein mögen. Aber es wird deine Pflicht sein, sie in deiner Behausung aufzunehmen und zu versorgen. Binnen vier Tagen hast du den Beweis zu erbringen, dass du Recht hast. Sollte es so sein, werde ich als Mittler zwischen uns Nargen und der Welt der Götter einschreiten. Solltest du dich aber irren und nur in überheblicher Ignoranz einen falschen Schwur geleistet haben, so kennst du dein Schicksal.« Er hat auf jeden Fall gewonnen, der alte Eierklau. Egal, was auch rauskommt, er hat mich bei den Ohren. Jetzt hilft wirklich nur noch ein Wunder - diese flaumlosen Wesen müssen tatsächlich Götterboten sein. Allerdings habe ich meinen Bedarf an Wundern in letzter Zeit reichlich überstrapaziert, dachte Jiim selbstkritisch, hob aber den Arm zur Bestätigung. 3. Cloud träumte von hohen, grünen Bäumen, dem Geruch von leicht feuchtem Heu und einer sanften Brise, die sein Gesicht kühlte. Der Holzboden unter ihm knarrte leise, und die Wolken, die er durch eine große Luke vor14 beiziehen sah, bildeten immer neue Formen. Die Ferien auf Onkel Richards Farm in Virginia - ein Kaleidoskop voll Erinnerungen an spannende, lustige, abenteuerliche Momente. Die zahlreichen Raufereien, die er und sein dicker Vetter Pete sich auf dem riesigen Heuboden geliefert hatten. Die erste und einzige Zigarette seines Lebens, Marke »Lucky Strike«. Das pickelgesichtige Mädchen namens Cibyl. Eine Dorfpomeranze, die von morgens bis abends einen Kaugummi im viel zu großen Mund hatte, und ihre Hautverunreinigungen mit einer mächtig dicken Schicht Schminke zu verbergen versuchte. Cloud hatte mit ihr geschlafen. Er war dreizehn Jahre alt gewesen, und er erinnerte sich kaum mehr im Detail an das Aussehen des Mädchens, nur die Schminke, der Kaugummi und die ständigen Trauerränder unter ihren Fingernägeln waren ihm im Gedächtnis haften geblieben. Und wie merkwürdig es sich angefühlt hatte, als er...
»Cibyl«, flüsterte er in diesem seltsamen Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit.
Dann öffnete er wohlig seufzend die Augen...
... und blickte geradewegs in die Fratze des Monsters.
»Geh weg!«, schrie Cloud, rappelte sich halb auf, stolperte über den Strohhaufen, auf dem er gelegen hatte, und fiel schwer nach hinten. Das Gewicht des Raumanzugs zog ihn zu Boden, und der metallene Wulst des offenen Kragens schlug schmerzlich gegen seinen Nacken. Mühsam stand Cloud wieder auf und wich langsam auf dem schwankenden Boden nach hinten. Er ließ das Monstrum nicht aus den Augen, bis er an die Veranda gelangte, die das seltsame Haus mit merkwürdigen, hanfähnlichen Schnüren begrenzte. »Komm bloß nicht näher, du Ausgeburt der Hölle!«, knurrte er. Wo, verdammt noch mal, war er? Und wie kam er hierher? Das Wesen dachte nicht daran, stehen zu bleiben. Es stakste mit seltsam unbeholfenen Schritten näher heran und schlug bedrohlich mit den gewaltigen Flügeln. Es hielt eine Art Schüssel in den Händen und keckerte ununterbrochen in einer Sprache, die aus rauen Konsonanten und lang gezogenen Vokalen bestand. Cloud sah die drei GenTecs im Hintergrund des luftigen Raumes liegen, hinter dem fauchenden Monster. Sie rührten sich nicht. Wahrscheinlich waren sie bewusstlos, wie er es auch gewesen war. Aber wer hatte sie in dieses... Haus... gebracht - und warum? Egal. Er musste erst einmal verschwinden, irgendwohin, wo er seine Gedanken sammeln konnte. Vielleicht würde sich das Durcheinander in seinem Kopf lichten... »Sayonara, Vogelgesicht«, knurrte Cloud und kletterte zwischen den Hanfseilen hindurch, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen. Er tat einen Schritt rückwärts, stieß ins Leere und fiel ins Nichts. Im Fallen zwang er seinen erschöpften Körper zu einer unmenschlichen Anstrengung, drehte sich in der Luft und bekam das Endstück eines herabbaumelnden Seiles zu fassen. Doch es glitt zwischen seinen Händen hindurch, und ungebremst fiel Cloud weiter nach unten. Geschätzte hundert Meter tief.
Hundert Meter im freien Fall bedeuteten vier, fünf Sekunden Restleben. Aber Cloud dachte nicht über den Tod nach, und auch sein Leben zog nicht vor seinem inneren Auge vorbei. Er schrie einfach, während er sich überschlug. Er schrie auch noch, als ihn kräftige Arme auffingen und ihm Federn übers Gesicht schlugen. Vielleicht zehn Meter fehlten noch bis zum felsigen Boden, der nass und grün glänzte, dann wurde die Distanz wieder größer. Das »Monster« mit den großen, schwarzen Kulleraugen hatte ihm das Leben gerettet.
»Was... wer bist du?«, fragte John den Geflügelten, der ihn sanft oben im Baumhaus absetzte. »Wäär ssst uu?«, wiederholte das Wesen keckernd und seltsam singend. Sein lippenloser Mund bewegte sich lediglich starr auf und ab, und auch die Möglichkeit, mit der Mimik seines Gesichtes etwas auszudrücken, schien eingeschränkt. Die Ohren, wenn man sie so nennen durfte, wuchsen nahe der Backenknochen seitlich aus dem Kopf und endeten fein verästelt in zarten, flaumigen Haaren, die sich im stetigen Wind bewegten. Beeindruckend und Ehrfurcht gebietend waren die Flügel, die nahezu zwei Meter in die Höhe ragten. Kein Wunder, dass ich an einen Dämon dachte, als ich aufwachte. Cloud bemühte sich um ruhige Atmung. Der Schock des Sturzes saß noch tief. Die Flügel und die kohlrabenschwarzen, riesigen Augen, der feuerrote, nackte Körper - die erste Assoziation war die zu einem Racheengel... Das Vogelwesen betrachtete ihn interessiert. Dann reichte es Cloud die Schüssel, die es bereits bei seinem Erwachen in den Händen gehalten hatte. »Essen?«, fragte Cloud und deutete auf den undefinierbaren Brei, der sich in der Holzschüssel befand. »Ssen!«, wiederholte das Wesen und zeigte mit der Hand auf Schüssel und Mund. Dabei bewegte es den Kopf in hastigen Bewegungen mehrmals hin und her. Zögernd kratzte Cloud mit Zeige- und Mittelfinger ein wenig von dem Brei aus dem Gefäß. Er ließ die Zunge darüber fahren und schmeckte. Er zögerte. Es war sauer-fruchtig, wie eine Mischung aus Äpfeln, Kiwis und Bananen. Er war mehr als hungrig. Wie lange hatte er nichts mehr gegessen? Das letzte lukullische Highlight waren ein paar mikrowellenerhitzte Putenflügel gewesen, die sie zu Darcys Geburtstag an Bord der RUBIKON gegessen hatten. Vor mindestens zwei Ewigkeiten, dachte Cloud und kostete vorsichtig von dem Brei. Und der war gut! Eine wahre Götterspeise! Exotische Früchte, erntefrisch, mit einem Etwas an Geschmack, das Clouds Zunge nicht zu identifizieren vermochte. Es schmeckte einfach... fremd, exotisch. Und so was von gut!
John beherrschte sich mühsam, um nicht gleich noch mehr von dem Brei zu sich zu nehmen. Eine halbe Stunde würde reichen, um die Wirkung des Mischobstes auf seine Verdauung abzuwarten. Dann noch einmal kosten, eine halbe Stunde verstreichen lassen, und wenn ich noch lebe, werde ich drei, vier Schüsselchen von diesem Manna bei meinem geflügelten Kellner ordern. Er schielte an dem Vogelwesen vorbei zu seinen Begleitern. Sie ruhten auf ähnlichen Strohsäcken wie er, alle zur Seite gedreht, und er konnte ihre ruhigen Atemzüge hören. Ein Problem nach dem anderen, John. Zuerst musst du dich um den komischen Vogel kümmern. Er sah ihm in die schwarzen Augen. Dann deutete er mit der Hand auf sich und sagte möglichst betont: »John Cloud.« Das Vogelwesen zögerte kurz. Fast scheu blickte es ihn an. Es schien äußerst nervös zu sein. So nervös wie er selbst. Dann zeigte es auf ihn und wiederholte: »Tschonk Laut.« Es keckerte verhalten, fast belustigt. Der Amerikaner blickte in die dunklen Augen, und plötzlich musste er lachen. Es war ein befreiendes, lautes Lachen, das langsam in seinem Magen begann, sich durch die Luftröhre den Weg nach oben bahnte und wie Donner hervorbrach. Er musste lachen, lachen, lachen. All die Anspannung und all die Ängste brachen aus ihm hervor und äußerten sich in einem gewaltigen, krampfartigen Gelächter. Das Vogelwesen trat zurück. Es war erschreckt und sichtlich von Respekt erfüllt, aber auch neugierig. »Bleib... huahua... hier, du komischer... Vogel. Tschonk... hihihuahu!« John lachte, bis die Bauchmuskeln schmerzten und die Tränen hervor schossen. Der Geflügelte war bis ans Ende des großen Raumes zurückgewichen. Dort stand er und beobachtete. Cloud lachte, bis er weinte - und dann schlief er ein.
Es war dunkel, als er wieder erwachte. Der Vogelmensch war nirgends zu sehen. Diesmal fiel ihm der Wechsel in die Realität wesentlich leichter. Der Lachkrampf und die Tränen hatten die psychische Erschöpfung weggewischt - oder auch nur verdrängt. Wie auch immer, er und seine Begleiter befanden sich in einer Situation, die noch nie ein Mensch erlebt hatte und auf die die Schulpsychologie wohl keine Antwort gewusst hätte. Das Lachen hatte auf jeden Fall geholfen. Er stand auf und sah nach den anderen. Scobee, Jarvis und Resnick schliefen nach wie vor tief und fest. John hatte keine Erklärung dafür, da die GenTecs eigentlich wesentlich robuster waren als er.
Einerlei. Er sah keinen Grund zur Beunruhigung. Bei der Frau und den beiden Männern funktionierte die Atmung einwandfrei, auch der Ruhepuls war für ihre Verhältnisse normal. Cloud näherte sich nochmals Scobee und beugte seinen Kopf nahe zu dem ihren hinab. Das Licht eines fremden Mondes half ihm, ihr schmales Gesicht zu betrachten. Der rechte Arm der GenTec zuckte hoch und strich über ihr Gesicht. Er musste sie mit seinem Atem gekitzelt haben. Erschrocken richtete sich Cloud auf. Nach einer Weile spürte er wieder Hunger. Wo war der Breitopf? Hatte ihn der Vogelmensch dagelassen? Cloud tastete sich vorsichtig durch den Raum, der von Sternenlicht, das von zwei offenen Seiten einfiel, erfüllt war. Er stolperte über sein Strohlager, tastete an seinem Rand entlang und fand schließlich das Holzgefäß. Gierig fasste er mit einer Hand hinein, holte einen großen Breibatzen heraus und aß. Herrlich! Wenn ich das Zeugs auf die Erde exportieren könnte, wäre ich ein gemachter Mann! Falls es die Erde und die dortigen Menschen noch gab... Gesättigt stand er wenig später auf, ging vorsichtig zur Öffnung, durch die er abgestürzt war, und blickte ehrfürchtig zu den Sternen hinauf. Ist das nicht der Traum und die Sehnsucht eines jeden Astronauten? Unter einem fremden Sternenhimmel zu stehen und emporzublicken? Seltsam: Eigentlich ist das Gefühl fast enttäuschend. Es sieht genau so aus wie auf der Erde, nur sind mir die Sternbilder unbekannt. Und dass dem Mond ein knappes Drittel seiner Masse fehlt, als ob ein Riese ein Stück daraus abgebissen hätte, ist vielleicht auch ein wenig merkwürdig. Cloud kicherte. Derzeit konnte ihn nichts erschüttern. Er hatte zu viel erlebt, und sein Geist akzeptierte keinen weiteren Schock mehr. Er war einfach überfrachtet mit Eindrücken. Auch die Vielzahl der fremdartigen Vogelwesen, die mit kräftigen Flügelschlägen herumkreisten und ab zu einen spitzen Schrei ausstießen, irritierte ihn nicht über Gebühr. Er hatte sich damit abgefunden, sich in einer vollkommen abstrusen, einzigartigen Situation zu befinden, in der keine herkömmlichen Maßstäbe mehr galten. Seufzend genoss Cloud die klare Nacht.
Zwei Stunden später rührte sich Scobee, wälzte sich unruhig hin und her. Schließlich
richtete sie ihren Oberkörper ruckartig auf und blickte sich um.
»John?«, fragte sie leise und blickte in seine Richtung. Übergangslos, als hätte sie
einen Schalter betätigt, war sie wach.
»Ja, Scob, hier bin ich! Komm her zu mir!«
Sie zögerte keinen Moment und glitt mit geschmeidigen Bewegungen auf ihn zu.
Sie hat auf Infrarotsicht Umgeschalten. Sie erkennt alles um sich herum, als wäre es
heller Tag.
»Wo sind wir hier? Wie sind wir hergekommen? Was ist passiert?«
Sie ist neugierig, aber ihre Stimme klingt so unbeteiligt. Als würde sie außerhalb
ihres Körpers stehen und sich selbst beobachten, selbst zuhören.
»Wo soll ich da beginnen?« Cloud seufzte. »Wir sitzen im Wipfel eines riesigen
Baumes fest, um uns kreisen riesige, intelligente Vogelgeschöpfe, vom hiesigen
Mond fehlt sichtlich ein ziemlicher Brocken, und es dauert zirka fünf Sekunden, bis
man auf dem Boden aufschlägt, wenn man so dumm ist wie ich. Dein Haar sieht
übrigens wunderschön im Mondlicht aus, wusstest du das?«
Sie sah ihn verstört an, und über der Nasenwurzel bildete sich eine tiefe Falte.
Cloud hatte sie irritiert. Er grinste. »Nein, nein, mach dir keine Sorgen, ich bin nicht
durchgedreht. Die ganze Situation ist nur ein wenig... merkwürdig, nicht wahr?«
Er wurde ernst und erzählte Scobee von seiner Begegnung mit dem Vogelmenschen,
seinem Sturz und der Rettung in letzter Sekunde.
Die GenTec hörte konzentriert zu. Dann sah sie hinaus und studierte die
Vogelmenschen mit ihren hochsensiblen Augen. Sie sagte kein Wort, fragte nicht
nach, hörte ihm nur zu.
Als Cloud ans Ende seiner Schilderung kam, nickte sie, als ob sie alles begriffen
hätte.
Im hinteren Teil des Hauses bewegten sich die beiden anderen GenTecs, Jarvis und
Resnick. Ohne einen Laut standen sie auf und näherten sich.
Cloud erhob sich. Ein schwacher Streifen Helligkeit war am wolkenverhangenen
Horizont zu sehen. Die fremde Sonne würde bald aufgehen.
Würde sie gelb, rot oder violett sein?
»Scobee, informiere du die beiden über die Geschehnisse. Und bereite sie darauf vor,
dass >unser< Vogelmensch bald zurückkommen wird. Diese Rasse scheint
nachtaktiv zu sein_ Ich nehme an, dass sie während des Tages Schlaf benötigt.«
Die GenTec nickte ausdruckslos. Cloud grüßte Resnick und Jarvis knapp und legte
sich dann auf sein Strohbett. Er wollte noch etwas nachdenken.
Ein leises Kratzen auf dem Dach, das aus groben, unbehandelten Ästen und dazwischen gestopften Grasbüscheln bestand, kündete von der Rückkehr des Hausherrn. Cloud stand langsam auf. Sein Herz klopfte heftig. Nahe dem zentralen Baumstamm, der den Raum förmlich durchbohrte, öffnete sich eine Luke im Dach. Der Vogelmensch hangelte sich an einem langen Seil herab. Er bewegte sich vorsichtig und, wie es Cloud schien, auch ein wenig müde. Er trug eine
Art geflochtenen Beutel über der Schulter; darin befanden sich gelbgrüne, ovale Früchte. Oder war es ein Gemüse? In der linken Armbeuge hielt er ein etwa armlanges reptiloides Tier, das sein Leben ausgehaucht hatte. Eine abgebrochene Speerspitze steckte in der Schulter des Tieres, und das mittlerweile gestockte Blut hatte sich über den gezackten Hornkämmen verteilt. Wenigstens ist das Blut rot und nicht etwa pink oder dottergelb, dachte Cloud sarkastisch. Die großen Augen des Vogelwesens richteten sich auf ihn. »Tschonk Laut«, wisperte es und zeigte zuerst auf den Menschen und dann auf die drei erwachten GenTecs. Es keckerte halblaut. Grundgütiger, ich glaube, der Kerl lacht über mich! Cloud nannte ihre Namen. Der Geflügelte wiederholte sie: »Sko Pi, Res Nick, TscharVis.« Dann deutete er auf sich selbst und klopfte viermal mit der Faust gegen seine schmale Brust. »Jiim!« sang er und klapperte mehrmals mit dem schmalen Mund nach. Dann trat er respektvoll einen Schritt zurück. Ohne die Augen von dem Vogelmenschen zu nehmen, raunte Cloud in Scobees Richtung: »Scob, wie deutest du das, was er sagt? Versteht er, was ich ihm sagen will? Versteht er die Bedeutung der Worte, die er gebraucht, oder äfft er sie nur nach?« Sie hatte eine philosophisch-wissenschaftliche Ausbildung genossen, die sich mit der friedlichen Kontaktaufnahme mit Außerirdischen beschäftigte. Die NCIA hatte an alle Eventualitäten gedacht, bevor sie die GenTecs in die RUBIKON verpflanzt hatte. »Ich denke schon«, wisperte Scobee zurück. »Es scheint mir, dass die Gestik durchaus menschenähnlich ist. Körperbau und Gliederanzahl deuten darauf hin, dass die evolutionäre Entwicklung ähnlich der irdischen verlaufen ist. Abgesehen von den Flügeln ist...« »Ja, ja, schon gut, Scob.« An den Vogelähnlichen gewandt, sagte Cloud: > Jiim, freut mich, dich kennen zu lernen. Wie geht's denn so, altes Haus? War die Jagd erfolgreich? Schmeckt das hässliche, schlabberige Gürteltier, das du dir über die Schulter gehängt hast, wenigstens? Ich hätte nämlich riesigen Appetit auf ein dick geschnittenes Steak, blutig, dazu noch eine riesige, gengezüchtete Folienkartoffel und cholesterinarme Kräuterbutter. Auf die Dekoration mit Petersilie und BroccoliSträußchen verzichte ich ausnahmsweise, aber...« »Mach mal halblang, John, du überforderst das arme Wesen total! Siehst du nicht, wie es vor dir zurückweicht?« Scobees Stimme klang ärgerlich. »Wenn du erlaubst, werde ich den Erstkontakt übernehmen.« »Kommt gar nicht in Frage! Ich lass mich aber gern von dir beraten.« Er grinste noch breiter. Sie ließ sich nicht provozieren. »Diese Wesen scheinen ein ähnliches Schlafbedürfnis zu haben wie wir, sonst hätte Jiim uns während unserer Bewusstlosigkeit nicht auf die Strohmatten gelegt. Ich empfehle dir, dich hinzusetzen..
Das erweckt den Eindruck von Friedfertigkeit.« Sie zögerte. »Wir alle sollten uns hinsetzen.« Am Rascheln der Kleidung erkannte John, dass sich die drei GenTecs bereits niederließen. Er wagte nicht, den Blick von Jiim zu wenden. Dann nahm auch er Platz und schaute erwartungsvoll zu dem Geflügelten hoch. Jiim schien die symbolische Geste zu verstehen. Er kam wieder ein paar Schritte näher. »Ich vermute«, flüsterte Scobee nahe an Clouds Ohr, »dass er einen Heidenrespekt vor uns hat. Wir wissen zwar nicht, wie wir hier gelandet sind. Aber das einfache, soziale Gefüge, das hier zu herrschen scheint, weist auf eine primitive und endemische Kultur hin, die noch nie Kontakt mit anderen intelligenten Spezies hatte.« Sie zögerte. »Wie wir ja bislang auch noch nicht.« »Was willst du damit zum Ausdruck bringen, Scob?« Cloud bemühte sich, leise zu sprechen. Er wollte den Vogelmenschen nicht verängstigen. Starke Schwankungen in der Stimmlage konnten ihn aufgrund seines wahrscheinlich empfindlichen Gehörs erschrecken. »Ich meine, dass Jiim uns als höhergestellte Lebewesen betrachtet. Möglicherweise als... Götter.« »Ist es für Götter nicht ein wenig merkwürdig, wenn sie so bewusstlos sind, dass man sie mühelos irgendwohin verfrachten kann?« »Genau das ist, schätze ich, Jiims größtes Problem. Er hat keine Ahnung, wie er uns einschätzen soll. Um so mehr, als du vor ihm Ängste zeigst, und er dich vorhin, wie du sagst, retten musste. Er ist sich augenscheinlich nicht sicher, was er mit uns anfangen soll. Und vielleicht ist das auch unsere Rettung. Wie du an dem erlegten Tier sehen kannst, sind er und sein Volk Fleischfresser. Wenn du also von Steaks sprichst, scheint mir dies ein wenig... unsensibel. Schließlich könnten wir als genau solche bald in einer großen Pfanne brutzeln - sobald Jiim erkennt, dass wir gar keine so genannten >Götter< sind.«
Auf Scobees Anraten bedeutete Cloud dem Vogelmenschen mit einer herrischen Geste, sich ebenfalls hinzusetzen. Jiim verstand und gehorchte. Er hielt dabei ausreichend Abstand zu den Menschen und kreuzte die Flügel, die an der Rückseite der zähen, dürren Arme angewachsen waren, vor seiner Brust. Das Rot seines nackten Körpers und die weit ausladenden Schwingen erzeugten gehörigen Respekt in Cloud, und er hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Er folgt dir. Gut.« Scobee flüsterte ihm ins rechte Ohr, und er spürte die Wärme ihres Atems. »Er ist offensichtlich bereit zur Kontaktaufnahme. Er will lernen. « »Wie soll ich vorgehen?«
»Hm, vielleicht sollte doch besser ich...«
»Nein, Scob! Lass es mich versuchen.«
Sie zögerte. »Von mir aus. Probiere es mit der >Ich Tarzan - du Jane<-Methode.
»Sehr witzig.«
»Keinesfalls. Ich meine es ernst. Du deutest auf Gegenstände und benennst sie.
Fordere Jiim mit Gesten auf, die Namen der Gegenstände in seiner Sprache zu
wiederholen. Er lernt von uns, wir lernen von ihm. So sollte es möglich sein, uns
einen Grundwortschatz anzueignen.
Der nächste Schritt wird sein, so genannte Tun-Wörter mit Gesten anzudeuten...«
John unterbrach sie: »Wie lange wird es dauern, bis wir uns verständigen können?«
»Seine Bereitschaft und ein wenig Sprachgefühl vorausgesetzt, ein paar Wochen.«
»Wochen...?« Cloud hatte Mühe, nicht die Stimme zu erheben. Jiim betrachtete ihn
ohnehin schon misstrauisch.
»Das ist eine verdammt lange Zeit, Scob«, sagte Cloud, schließlich und lächelte
dabei in Richtung des Geflügelten. »Gibt es keine schnellere Lehrmethode?«
»Doch, die gibt es natürlich«, antwortete die junge Frau nüchtern. »Die NCIA hat
einige interessante Gedankenanstöße geliefert, die sich mit der Lernbereitschaft
Gefangener auseinandersetzen, welche man einer hochnotpeinlichen Befragung
unterzieht.«
»Hochnotpeinliche Befragung? Sprich Klartext! «
»Ich spreche von Folter. Menschen, die psychisch und physisch unter Druck gesetzt
werden, können sich besser aufs Lernen konzentrieren. Ihr Geist ist
aufnahmebereiter.«
»Vielen Dank für diesen konstruktiven Vorschlag. Aber ich glaube, wir probieren es
doch lieber auf altherkömmliche Weise... «
4. Jiim lernte schnell, unheimlich schnell. Selbst ein GenTec konnte mit seinem Arbeitseifer nicht mithalten. Der Narge, wie er sich und andere Angehörige seines Volkes nannte, merkte sich alles, was ihm gezeigt oder mit Händen und 22 Füßen erklärt wurde, bereits beim ersten Mal. Cloud und er unterhielten sich zweieinhalb Stunden. Dann stand Jüm auf und bereitete sich und den Astronauten ein leckeres Mahl aus mitgebrachten Früchten zu. Währenddessen beschrieb der Vogelähnliche fröhlich in radebrechendem, aber akzentfreiem Englisch plappernd, was er denn alles gerade tat, intonierte dann inbrünstig ein »besinnliches amerikanisches Volkslied aus dem zwanzigsten Jahrhundert namens »Bat Out Of Hell«, wie Cloud es ihm verkauft hatte, und konjugierte zwischendurch einen Grundstamm an unregelmäßigen Verben. Wasser schöpfte er aus einer breiten, trichterförmigen Holztonne, die auf dem Dach stand. Es regnete häufig und ausgiebig. Wahre Sturzfluten brachen während des Tages über das nur an zwei Seiten geschützte Haus herein, und das Hämmern Abertausender
schwerer, ölig wirkender Regentropfen, die gleichzeitig auf Dach und Seitenwände einprasselten, machte Cloud nervös. Doch die Holzverschalung hielt überraschend dicht. Der Sturm, der mit den Regengüssen kam, kühlte die Luft empfindlich ab. Am Stoizismus, mit der Jiim es hinnahm, erkannten die vier Erdbewohner, dass die häufigen Wetterumschwünge offenbar zur allgemeinen Klimalage gehörten.
Es war schwierig, dem Geflügelten die Problematik menschlicher Bedürfnisse nahe
zu bringen.
»Warum verstehst du nicht, was ich meine, du...? Du ...?«
»Es nützt nichts, wenn du ihn anschreist und beleidigst, John. Im Gegenteil! Du
gefährdest unsere Situation«, ging Scobee dazwischen.
»Dann sag mir doch mal, wie die das handhaben!«
»Bei... Flug, Guma Tschonk! «, mischte sich Jiim in gutmütigem Schnatterton ein.
»Zu Spalte Flug und... flaps!«
»Spalte? Flaps?«
»Ich glaube, wir sollten wieder zu unserer ursprünglichen Kommunikationsbasis
zurückkehren«, sagte Scobee kopfschüttelnd.
Cloud setzte sich und kreuzte die Beine. Die unbequemen Raumanzüge hatten er und
die GenTecs längst ausgezogen und mit Hilfe von Wasser und einiger
Mikroreinigungstücher, die Jarvis mit sich geführt hatte, leidlich gereinigt.
Die Rezeptoren der Solarenergiezellen hatten sie entfaltet und auf das Dach gelegt.
Der Ladevorgang würde einige Zeit in Anspruch nehmen, aber immerhin!
Sie hatten während der letzten Tage gehörig viel Energie verbraucht und wussten
nicht, wie bald sie wieder auf Funkverbindung oder Heizung angewiesen sein
würden.
Da saß er nun, in weißen Strümpfen, beiger Thermo-Unterwäsche und einem
schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift »MX-Convention 2039 - Issue One Thousand -
Carnegie Hall«, das er vor Ewigkeiten an den Offiziellen vorbeigeschmuggelt hatte.
John kratzte sich geistesabwesend an den bleichen Unterschenkeln und fragte den
Nargen: »Jiim, können wir das Haus verlassen?«
Der Gefiederte bewegte den Kopf mehrmals ruckartig und antwortete: »Ja, du sein
Guma.«
Guma, so hatten sie mittlerweile herausgefunden, war die Bezeichnung für einen
Gott zweiter oder dritter Klasse am hiesigen Olymp.
Der junge Narge bewegte sich auf unsicherem Boden, und hatte sich mit dieser
Bezeichnung selbst eine goldene Brücke gebaut. Richtige Götter benötigten keine
Hilfe und fielen nicht aus Häusern. Aber als normale Sterbliche konnte er seine Gäste
schon aufgrund von deren Aussehen auch nicht bezeichnen. Ein niederer Gott oder
ein Götterbote, sozusagen ein Lakai der Obersten, durfte durchaus seine Schwächen haben. John hatte während der letzten Stunden schon mehrmals an die griechische Mythologie denken müssen. Zeus, Hera, Ares, Pallas Athene, Artemis und wie sie alle hießen - hatten sie nicht ausgesprochen menschliche Züge aufgewiesen? Hatten sie nicht auch Fehler gehabt, sich bekämpft und gegeneinander intrigiert? Die Denkweise des Nargen schien in eine ähnliche Richtung wie die der alten Griechen zu laufen. So war es Jiim durchaus erklärlich, dass ein Gott ab und zu fluchte und unbeherrscht reagierte. Nur kapiert das Scobee mit ihrem Logik-Tick und ihren deduktiven Methoden, wie sie es nennt, einfach nicht. Gesunder Menschenverstand ist nicht ihre Sache. Wie auch - sie ist ja gar kein richtiger... John drängte den aufkeimenden Gedanken zurück und sah dem Nargen tief in die riesigen, schwarzen Augen, die wie polierte Billardkugeln wirkten. »Ja, ich bin der Guma! Und ich will hinunter auf den Erdboden.« Mit einfachen Gesten verdeutlichte Cloud seinen Wunsch. »Du Guma Tschonk, du alleine flaps Boden!« »Wenn ich alleine flaps auf Boden muss, dann bin ich böse auf Jiim. Sehr böse. Ich bin Guma!« Das Federkleid des Nargen bewegte sich flüsternd im Wind, als Jiim aufstand. Er war nervös, und er hatte Angst. Natürlich durfte er einem Götterboten nicht widersprechen. Die heimische Mythologie kannte möglicherweise - oder sogar wahrscheinlich - drastische Strafen für solche Vergehen. John tat es Leid, Jiim unter Druck zu setzen, aber er fühlte sich in dem Baumhaus mit einer Grundfläche von dreißig mal zwanzig Metern einfach eingesperrt. Der Narge wich Schritt um Schritt zurück. Er wich auch mit seinen Worten aus, als er sagte: »Jiim müde. Jiim schlafen. Morgen reden.« Dann schnappte er sich einen frischen Strohballen, schleppte ihn in die Ecke, die am weitesten von den vier Erdenbewohnern entfernt lag, und sank darauf nieder. Die Arme kreuzte er über der Brust, so dass sich die Flügel überlappten und bestens vor den niedrigen Temperaturen schützten. Sofort begann Jiim gleichmäßig zu atmen, als wäre er im selben Augenblick auch schon eingeschlafen. Doch John war sich sicher, dass sie dem Vogelwesen nicht einmal auf fünf Schritte nahe hätten kommen dürfen, und es wäre sofort aufgesprungen. »Was nun, >Commander« Zum ersten Mal seit langem meldete sich auch Jarvis wieder zu Wort. »Wenn ich das so genau wüsste. Wir warten, bis er sich ausgeruht hat und wieder aufwacht. Bis dahin können wir die Funktionstüchtigkeit unserer Anzüge checken.« Er blickte nach draußen, wo es regnete. Was ihn an eines seiner dringenderen Bedürfnisse erinnerte...
Während Jiim und die GenTecs schliefen, entfaltete Cloud eine geradezu hektische
Aktivität.
Wobei er sich Mühe gab, niemanden zu wecken.
Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne stand im Zenit. Es war warm.
John brachte das hanfähnliche Seil zur Dachluke und zog sich schwerfällig nach
oben. Auch wenn er an Bord der RUBIKON während der Wachphasen trainiert und
seine Muskulatur mit hochwirksamen Medikamenten in Form gehalten hatte - ein
gewisser Substanzschwund war nicht zu leugnen.
Er rollte sich keuchend auf den Rücken und schloss die Augen - doch die flirrenden,
weißen Sternchen konnte er nicht sofort vertreiben. Nach einer Minute hatte er sich
aber so weit erholt, dass er sich erheben konnte.
Der Ausblick war noch viel atemberaubender als im Inneren des Baumhauses.
Der Hauptstamm, der durch den Raum wuchs, ragte noch zirka zwanzig Meter weiter
in die Höhe und teilte sich dort. Der Blick auf die tatsächliche Baumspitze wurde
Cloud von dichter werdendem Blattbewuchs verwehrt.
Ein heftiger Windstoß beutelte das Blattwerk; schwere Tropfen platschten herab und
durchnässten Cloud binnen weniger Sekunden völlig.
Mit vorsichtigen Schritten wagte sich Cloud dennoch bis vor an die Kante des
Daches. Der Boden war rutschig und dampfte vor Feuchtigkeit und Hitze.
Rundherum ragten Laubbäume derselben Gattung in allen Größen empor. manche
dicht an dicht wachsend, manche als stolze Einzelgänger - so wie der Baum, auf dem
er sich befand. In der von Jarvis als Norden bezeichneten Himmelsrichtung
versperrte eine dichte Nebelbank die Sicht, im Süden glomm rotes Licht. Was
mochte es damit auf sich haben? John spürte, dass der Lichtschein einen Teil des
Rätsels darstellte, das diesen Planeten umwob.
Aber momentan hatte er andere Sorgen.
Er sah sich sorgfältig um.
Keine Verästelungen, an denen ich zu benachbarten Bäumen klettern könnte.
Nirgendwo brauchbare Lianen, mit denen ich mich wie weiland Tarzan von Ast zu
Ast schwingen könnte. Die hanfähnlichen Schnüre, so dünn sie auch sein mögen,
widerstehen unseren Messern.
Resignierend zuckte Cloud die Schultern.
Ich sehe keine Möglichkeit, ohne Hilfe eines Nargen von hier oben zu verschwinden
- von einem wenig eleganten und noch weniger der Gesundheit zuträglichen Sturz
einmal abgesehen.
Der ehemalige Kommandant der RUBIKON gönnte sich noch ein paar Atemzüge
von der würzigen Luft, blickte wehmütig auf den nahezu geschlossenen Regenbogen,
der sich am azurblauen Himmel gebildet hatte, und kletterte dann durch die Dachluke
zurück zu den anderen. Zurück in ihr luftiges Gefängnis, dreißig Schritte lang, zwanzig Schritte breit...
Cloud weiß, dass er träumt. Wenn er will, kann er seinen Traum sogar ein wenig
steuern.
Er befindet sich in jener merkwürdigen Phase zwischen Schlaf und Erwachen, in der
dem Geist so vieles möglich ist. Das Erinnern genau so wie das Vergessen.
Er sieht sich auf der labyrinthartigen Mondwerft der Chinesen, wo der Körper der
RUBIKON von metallenen Greifzangen festgehalten wird. Er hört sich Abschied
nehmen von ein paar Technikern, Medizinern und Militärs, die er kennen und
schätzen gelernt hat. Dann betreten die drei Menschen Cloud, Darcy und Seymor das
Schiff, gefolgt von den GenTecs Scobee, Jarvis und Resnick.
(weiter, weiter)
Die RUBIKON wirkt auf John trotz aller Psychologie, die in Ausstattung, Innenoptik
und räumliche Freundlichkeit gesteckt wurde, wie ein metallener Sarg. Der eintönige
Rhythmus des dröhnenden Energiemeilers ist wie ein Uhrwerk, das den Tagesverlauf
vorbestimmt. Alles hat seine spezielle Zeit, alles hat nach strengen Regeln
abzulaufen. Wie perfekt geölte Maschinen funktionieren sie, die drei Menschen - und
die GenTecs ohnehin.
Dann dreht Seymor durch, und John träumt von diesem besonderen Glücksgefühl,
das er im ersten Moment genießt.
Die Maschine hat einen Schaden in Form eines nicht mehr funktionierenden Teils,
hahaha!
Endlich sieht er Seymors Augen, die Augen eines Wahnsinnigen, und er meint, auf
sein Spiegelbild zu starren.
(weiter, weiter)
Das Versagen der so zuverlässigen Maschine RUBIKON; die minutenlange
Finsternis; der unendlich entsetzliche Tod Seymors und Dutzender schlafender
GenTecs, deren Existenz ihm verheimlicht wurde, bis...
(weiter, bitte weiter)
John steht auf dem Mars und spürt das überwältigende Gefühl des Triumphes.
Aber nur für einen kurzen, viel zu kurzen Moment.
Dann wird es endgültig zur Tatsache, dass es außerirdisches Leben gibt. Doch nicht,
wie erwartet, auf dem Mars, sondern dieses stammt von viel weiter draußen! Das
Askulap-Schiff landet, zerstört, entführt... und dann schleichen Menschen und
GenTecs durch das fremde Schiff, das so fremd ist, so gnadenlos fremd...
(weiter, weiter)
Ein Strudel an Unwahrscheinlichkeiten zieht John immer tiefer in den Abgrund. Das
Wurmloch an Stelle des Jupiter. Die Raumschlacht. Der Tod Dareys... Jetzt ist er also
ganz allein mit diesen... Supermenschen. Diesen GenTecs. Diesen...
(weiter, weiter)
Dann der Sturz durch das Wurmloch. Das molluskenartige Lebewesen, das in diesem
anderen, in diesem kleinen Raumschiff liegt und leicht pulsiert. Das PHANTOM.
Und der Sauerstoff geht zur Neige...
(weiter, weiter)
Die Ohnmacht. Das Erwachen. Der Vogelmensch. Die Panik.
Und Cloud denkt sich im Traum: Wie kann das ein einzelner Mensch alles ohne
Schaden überstehen?
Er gibt sich im Traum selbst die Antwort: Indem er träumt und so die Tatsachen zu
verarbeiten versucht. Die Tatsachen!
John denkt sich im Traum: Wie kann er in einer solch unwahrscheinlichen Situation
bestehen?
Cloud gibt sich im Traum auch darauf selbst die Antwort: Indem er die Angst
überwindet! Indem er den GenTecs, die auch so fremd, so furchtbar fremd sind, zu
trauen beginnt! Es sind Menschen. Die einzigen Menschen, die es hier auf Kaiser
gibt.
(Das ist es! Die Erkenntnis. Ich muss daran denken, wenn ich aufwache...)
Clouds Traum endete langsam in einer intensiven, grellen und lauten Flut von
psychedelischen Eindrücken. Ein gewaltiger Knall ertönte - dann folgte
schmerzhafte, ohrenbetäubende Stille.
Doch er schlief nochmals ein und vergaß. Die Feuchtigkeit in seinem Gesicht, eine
Mischung aus Tränen und Schweiß, trocknete langsam ein...
Es dämmerte, und ein Rascheln verriet, dass der Narge sich erhob. Der Regen hatte aufgehört. Kräftiges Abendrot zeigte sich zwischen den großen Wolkenbänken, die sich langsam hinter den Wald am Horizont zurückzogen. Jiim kam näher. Er tauchte den Kopf in einen flachen, mit Wasser gefüllten Holzbottich, richtete sich auf und schüttelte sich. Die zerfledderten Ohren wrang er herzhaft aus, klebte sie mit weißer Spucke am Hinterkopf fest und bürstete die feinen Härchen an der Spitze mit den langgliedrigen Fingern auf. Dann gab Jiim einen scheinbar zufriedenen Gurrlaut von sich. Das wäre also die Morgentoilette! Cloud grinste. »Lernen wollen, Guma Tschonk.« Der Narge blickte auf sie herab. Er maß gute zwei Meter, und die Flügel ließen ihn noch größer erscheinen. »Na gut, Jiim. Wir lernen, und dann beantwortest Du uns endlich Fragen.«
»Abend lernen, dann jagen, jagen fertig, dann fragen.« »Er will die Antworten hinauszögern«, raunte Cloud Scobee zu. »Dieser seltsame Vo ... « »Stopp! Ich glaube, er versteht mehr, als er zugibt.« Scobees Stimme an seinem Ohr war nur ein Hauch. »Das könnte in der Tat sein, Scob. Er ist raffinierter, als er sich gibt. Er spielt mit uns, zögert Antworten raus, will uns nicht zur Erde hinablassen. Er soll ruhig hören, dass wir ihn durchschauen.« »Morgen sagen. Heute lernen. Caar böse sonst.« Die vier Menschen blickten den Nargen überrascht an. Caar? Es war das erste Mal, dass Jiim einen anderen Namen erwähnte. Und die Ehrfurcht, die Cloud aus seiner Stimme heraushörte, deutete darauf hin, dass Caar höher gestellt war als Jiim. Aber da war nicht nur Ehrfurcht gewesen. Auch eine Art Angst. Oder sogar... Abscheu? Cloud fasste einen Entschluss. » Gut, Jiim. Heute lernen, morgen Fragen beantworten.« Er grinste sardonisch und hoffte, dass der Narge mittlerweile ein wenig Gefühl für seine Mimik entwickelt hatte. »Und wenn du morgen nicht mitspielst, wird dir Guma Tschonk die Ohren noch länger ziehen. Götterboten dürfen das...«
Als sich Jiim mit elegantem Flügelschlag in die Lüfte erhob, hatte er sich bereits einen Wortschatz angeeignet, der dem eines irdischen Schulanfängers entsprach. »Woher glaubst du, Scobee, kommt diese ungeheure Sprachbegabung?« Die GenTec zuckte ratlos mit den Schultern. »Es ist, als ob man einen leeren Datenträger beschreiben würde. Er saugt das Wissen auf und benötigt kein zweites Mal, um sich ein neues Wort zu merken.« Sie strich sich durch das schulterlange, zersauste Haar. »Was mich fasziniert, ist seine Fähigkeit, die Struktur der Sprache zu durchschauen. Er hat mir heute mindestens drei Redewendungen gesagt, die wir ihn so nicht gelehrt hatten, und die er auch nicht aus unseren Gesprächen aufgeschnappt haben kann. Er extrapoliert und baut sich mit enormer Geschwindigkeit ein grammatikalisches Netz auf.« Jarvis mischte sich ein. »Verzeiht mir den vielleicht etwas hinkenden Vergleich: Als ob er mathematische Aufgaben löste, ohne die dazugehörige Formel zu kennen.« »Genau so ist es«, fuhr Scobee fort. Sie strich sich fahrig über die nackten Unterarme. »Wenn er nicht derart sympathisch und so erfrischend naiv wäre - und wenn ich Lust dazu hätte - würde ich Angst vor ihm bekommen... «
5.
Die nächsten Stunden verbrachten sie damit, Versäumtes nachzuholen. Jarvis und Resnick kümmerten sich um profane Messungen der Durchschnittstemperaturen, der Schwerkraft oder der Tagesdauer. Ihre Infrarotsicht half ihnen dabei, sich so sicher wie bei Tageslicht zu bewegen und zu arbeiten. Auch ohne Messgeräte hätte John ihnen sagen können, dass alle Parameter denen auf der Erde ähnelten. Im Einzelnen hieß das: Der Tag dauerte knapp sechsundzwanzig irdische Stunden, es gab Temperaturschwankungen wie in einer gemäßigten Klimazone, und die Sonne wies ein ähnliches Spektralmuster auf wie Sol. Nur was die Schwerkraft anging, irrte sich Cloud. Sie lag mit rund 0,85 Gravo niedriger als angenommen. Aber die monatelange Schwerelosigkeit an Bord der RUBIKON hatte sein diesbezügliches Gespür auch stark in Mitleidenschaft gezogen. Scobee analysierte mit Hilfe der bescheidenen Mittel, die ihnen die Anzüge zur Verfügung stellten, das Trinkwasser, mehrere der bunten Früchte, die sie im Laufe der letzten Tage und Stunden zu sich genommen hatten, sowie einige der Kleintiere und Schädlinge, die im Gebälk hausten. Cloud unterstützte sie dabei. als...
Shanna O’Donnel, kratzte mit einen weichen Stift über die Oberfläche ihr Arbeitstisches, und gleichzeitig erschien, die einfache Skizze vor den Augen jedes einzelnen Studenten im überfüllten Lehrsaal. Früher waren es gelangweilte Achtzehnjährige gewesen, die mit müden, blutunterlaufenen Augen Shannas langweiligen Vorträgen gefolgt waren, bis... bis sie am Experiment einer britischen Forschungsgruppe teilgenommen hatte, das den unumstößlichen Beweis erbracht hatte, dass Leben auch auf anorganischen Strukturen basieren konnte. Der Nobelpreis für Biochemie hatte Shanna Tür und Tor geöffnet, und heute hielt sie Vorlesungen in Eton, Oxford oder Cambridge, vor der intellektuellen Elite Großbritanniens und blickte in aufmerksame Gesichter. Das Leben war in letzter Zeit gut zu ihr gewesen, nach Jahrzehnten eher mühsamen Broterwerbs... Der Stich in ihrer Brust war schlimmer als alles, was sie jemals gespürt hatte. Der glühende Dolch des Schmerzes bohrte sich in ihr Herz und stocherte unbarmherzig darin herum... ... bis Cloud schwitzend und schreiend zu sich kam. Er stolperte über irgendetwas und rannte weiter, den Schmerz in der Brust immer noch wahrnehmend. Dann hielt ihn ein kräftiger Arm fest, und so sehr er auch wollte, er konnte sich nicht aus dem Griff lösen. »John! « Eine Stimme...
»Ich bin's! Scobee! Reiß dich zusammen! Einer deiner Anfälle - du weißt schon. Die
Wissensimplantate. Bleib ruhig! Sprich mir nach: Ich heiße John Cloud...«
Er murmelte: »Ich heiße Shanna Cloud...«
und war Kommandant der RUBIKON... «
»... und war... Biochemikerin...«
»... auf einer Mission zum Mars...«
»... diese Schmerzen... Herzattacke... Arzt, bitte!«
Ein wuchtiger Schlag traf ihn an der Wange, und seine Verkrampfung löste sich. Mit
einem Mal sah er die GenTec mit den violettschwarzen Haaren nur wenige
Zentimeter vor sich. Sie hielt ihn mit aller Gewalt fest. Seine Fingernägel hatten sich
in einen Holzstamm gegraben und bluteten.
»Ich bin John Cloud«, murmelte der Mann, der gleichzeitig Shannon, Peter, Steve
und wahrscheinlich noch ein Dutzend mehr Namen hatte. Es sind lediglich
Erinnerungsfetzen Verstorbener, denen noch Seelenfragmente anhaften, dachte er.
Und fügte düster hinzu: Ich bin ein moderner Frankenstein...
»Danke, Scob, es... es geht schon wieder. Danke«, murmelte er niedergeschlagen.
Warum haben wir das alles nicht bei Tag gemacht? Dann könnten wir jetzt schlafen. Wahrscheinlich haben wir noch denselben Rhythmus wie auf der RUBIKON. Wir sollten uns allmählich umgewöhnen... Als ihn Scobee mit vollem Ernst um eine Stuhlprobe bat, um sie auf Keime und fremde Viren zu untersuchen, zeigte er ihr uncharmant den Vogel. Was nie passender gewesen war als hier. Cloud setzte sich an die Kante, von der er vor zwei Tagen abgestürzt war. Der bereits bekannte rötliche Schimmer glomm hinter den dicht stehenden Baumriesen hervor, die Resnick nüchtern >Südwald< getauft hatte. Cloud zerrieb nachdenklich ein dreizackiges Blatt, das von >ihrem< Baum ins Haus geweht worden war und schnupperte daran. Der feuchte Brei, der Zeigefinger und Daumen leicht grünlich färbte, roch nach den letzten naturbelassenen Reservaten in Idaho oder Nevada, in denen er des öfteren Ruhe und Abstand von seinem hektischen Leben zu finden gehofft hatte. Es roch nach... Heimat. Ein heller, spitzer Schrei ertönte, und drei der Vogelwesen schwangen sich von ihren weit auseinander stehenden Häusern in die Lüfte. Mit wenigen mächtigen Flügelschlägen gewannen sie an Höhe und verschmolzen bald mit der Dunkelheit. Aus der Ferne wehte ein Singsang, der für menschliche Ohren absolut fremd klang. Gegen das Licht des >abgebissenen< Mondes sah John eine einsame Gestalt auf einer Plattform in einem der höchsten Gipfel tanzen. Sie beugte sich auf und nieder, hielt dabei ein Bein fast waagrecht vorgestreckt, und bewegte kaum die Flügel.
»Was für ein merkwürdiger Planet. Was für merkwürdige Geschöpfe«, murmelte John Cloud von der Erde
»Caar ist Suprio«, wisperte Jiim, und zeichnete einen Kreis in die Luft. »Und ein Suprio ist... was?«, fragte John. Sie saßen einander gegenüber. Auf der einen Seite befanden sich die vier Menschen in ihrer Unterwäsche, und in der Mitte stand eine große Schale aufgekochter Früchte, die leicht alkoholisch schmeckten. Cloud und die GenTecs langten ebenso zu wie der leuchtend rote Narge, der auf der anderen Seite hockte. »Ein Suprio ist... Krieekaoa!« Unvermittelt fiel Jüm in sein heimisches Idiom zurück. Er suchte verzweifelt nach einer englischen Entsprechung und kratzte sich schließlich ratlos an der haarlosen Stirn. Doch plötzlich wurden seine dunklen Augen noch ein wenig größer und schienen fast aus den Höhlen fallen zu wollen. »I've got it, hot patootie!«, sagte er, und John zog die Schultern unter den vorwurfsvollen Blicken der GenTecs ein. Was konnte er dafür, dass dieser Vogel sich jeden Satz auf Anhieb einprägte...? »Guma Tschonk, du hast viel erzählt von Freund, auch Guma, der macht jede Saison ganz viele Home Runs, und alle anderen Gumas jubeln und schreien und tanzen und springen. Und alle Gumas sagen, Freund ist der Größte, und alle glauben, was Freund in Werbung sagt, und alle kaufen, was Freund kauft...« Cloud krümmte sich wie ein Regenwurm, und die GenTecs rückten von ihm ab. Scobee bedachte ihn mit verächtlichen Blicken. Aber was konnte denn er dafür? Muhammad McKenzie war ein guter Freund, und er war zweifellos der Baseball-Spieler der Dreißiger Jahre gewesen. Na gut, ihm waren beim Erzählen die Pferde ein wenig durchgegangen, aber dass die GenTecs gar so humorlos reagierten... »Soso, Caar ist also eine Art... Idol, ein Vorbild.« Unbehaglich rutschte er auf der Strohmatte hin und her. »Befiehlt er auch, was du und die anderen Nargen zu tun haben?« »Caar befehlen, aber er muss einhalten die Spielregeln. Darf nicht laufen von erste zu dritte Base, okay?« »Ja, schon gut, ich habe den Vergleich verstanden.« Die Stelle im Nacken, wo er Scobees Blick fühlte, brannte heiß. »Und Caar redet auch mit... uns Gumas?« Der Narge zögerte. »Suprio redet mit Göttern im Himmel. Hat aber Schiss vor Guma, die was leben und sprechen und essen. Ist böse und... eifelzüchtig auf Jiim.« »Das heißt eifersüchtig, Jiim, und man sagt >Angst< und nicht >Schiss<. Auch wenn gewisse Gumas so reden, darf ein Narge nicht dieselben Worte in den Mund nehmen«, meinte Scobee so brutal sanft, dass Cloud eine Gänsehaut bekam. Wirklich, was konnte er dafür...?
Jüm schlug sich mehrmals rasch mit der rechten Hand auf den Mund, als könnte er so das Guma-Wort wieder verjagen. Er machte Anstalten, aufzustehen und davonzulaufen. »Ist schon gut, Jiim«, warf John hastig ein und betonte jedes Wort sorgfältig. »Wir sind dir nicht böse. Du hast uns sehr gut geantwortet. Hast Du jetzt eine Frage an uns?« Der junge Jäger entkrampfte sich und blieb sitzen. Eine Weile schob er den Kopf hin und her und platzte dann heraus: »Sco Pi stirbt bald?« Die vier Menschen sahen einander verwundert an. Die GenTec fragte den Nargen: »Wie kommst du da drauf? Ich bin ganz gesund, und ich fühle mich gut!« Jiim zuckte verlegen mit den Ohren; die Federspitzen raschelten mit. »Du bist kleiner als andere, hast dünne, kaputte Stimme und zwei große Wunden mit Eiter«, sagte er und setzte sich auf. Vorsichtig drückte er auf die linke Brustwarze der Frau, und zwirbelte danach die andere zwischen zwei Fingern. John brauchte sich nicht zur Seite zu drehen, um zu sehen, wie Scobee rot anlief. So rot wie der Narge. »Ich dummes Zwonk«, zwitscherte Jiim ängstlich, »jetzt du werden auch noch ganz warm. Ich dich machen noch kaputter. Entschuldigung, Sko Pi! Entschuldigung!« Er warf den Kopf nach hinten und schluchzte laut auf. »Nur keine Panik, Jiim, es ist alles... hua... in Ordnung mit Sko Pi.« John hielt krampfhaft die Luft an und dachte mit aller Macht an eine Infinitesimalgleichung. Selbst die beiden männlichen GenTecs, Jarvis und Resnick, trugen ein Grinsen auf den Lippen. »Ich muss kurz... huahua... unterbrechen und flaps machen. Scobee wird dir alles... erklären.« So schnell er konnte, stand er auf und rannte zur offenen Seite des Baumhauses, wo er vor Lachen losprustete. Tat das gut! 6. In der folgenden Stunde gab es viel Gelächter. Cloud fühlte sich an den Aufklärungsunterricht in der puritanischen Primary School seiner Heimatstadt Sulphur Springs, Oklahoma, zurückversetzt. Die eingetrocknete Religionslehrerin, Miss Brown, war damals unter dem Gegrinse und Gekicher der neunjährigen Jungen und Mädchen kläglich daran gescheitert, die Kinder über Funktion und Aussehen der Geschlechtsorgane zu informieren. Auch Scobee scheiterte. Vergeblich verwies sie auf die reichhaltige Tierwelt des Planeten Kaiser. Sicher gebe es dort zweigeschlechtliche Lebewesen? Nein. Alle Tiere, denen Jiim jemals begegnet war oder die er gejagt hatte, waren Hermaphroditen, die ähnlich manchen irdischen Schneckenarten bei Bedarf eine Selbstbefruchtung durchführten. In der kalsischen Tierwelt erfolgte dies instinktiv im
Jahresrhythmus. Die Nargen hatten eine gewisse Kontrolle über ihren Zyklus und
konnten die Geburt eines Kindes über Jahre hinausschieben.
An dieser Stelle stockte Jiim und erzählte nicht mehr weiter. Cloud und Scobee
verzichteten darauf, nachzuhaken, obwohl die GenTec sichtlich Mühe hatte, ihre
Neugier zu zügeln.
Cloud wechselte schließlich das Thema: »Erzähl uns mal, wie du uns gefunden hast.«
»Weißt du das nicht, Tschonk? Du bist Guma, du musst wissen! «
Cloud bemühte sich, Selbstbewusstsein auszustrahlen. »Natürlich weiß ich es, Jiim,
aber ich muss prüfen, ob du unserer Aufmerksamkeit würdig bist.«
Zweifelnd wippte der Vogelmensch mit dem Oberkörper vor und zurück. Langsam
bekam Cloud ein Gefühl für Gestik und Körpersprache des fremden Wesens. Der
Narge war unsicher.
Jiim sagte: »Ihr habt geschlafen, während ihr gekommen. Deswegen wisst ihr nicht,
wie hergekommen?«
Erleichtert nickte Cloud. Als er merkte, dass Jiim ihn nicht verstand, sagte er hastig:
»Ja.«
Es war ganz offensichtlich, dass der Narge ihnen glauben wollte.
Jiim erzählte den vier Menschen von der dunklen Zornesträne, die ihn vor dem
Angriff des Cherss gerettet hatte.
Wie er über seinen eigenen Schatten gesprungen und ins Innere geklettert war, um
die Gumas herauszuzerren. Wie die Zornesträne mit einem Mal verschwand. Wie er
fast seine Ehre vor den anderen Nargen und, noch schlimmer, vor dem Suprio
verloren hätte.
Cloud blickte die GenTecs an. Er glaubte Jiim, und er bewunderte ihn für seine
Tapferkeit. Doch seine Erzählungen brachten kein bisschen Licht in das Rätsel ihres
Hierseins.
Als Jiim mit kurzen, abgehackten Lauten andeutete, dass er müde sei, war Cloud
darüber nicht unglücklich.
Mit jeder Frage, die Jiim ihnen beantwortete, wurden neue aufgeworfen.
»Wie ich es sehe, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Der mysteriöse Pilot des Schildkrötenschiffes ist aus unbekannten Gründen abgestürzt...«, setzte Jarvis an, die Art und Weise aufzuhellen, wie sie in diesen Schlamassel geraten waren - der ihnen aber immerhin das Leben gerettet hatte. Wenn man es genau nahm. Denn allein auf die Sauerstoffvorräte ihrer Anzüge angewiesen, wären sie jetzt bereits tot gewesen. Ausnahmslos alle. »Wie erklärst du dir dann, dass das Schiff nach Jiims Aussage verschwunden ist, G.T.?« Cloud ging unruhig auf und ab. Zwanzig Schritte vor, zwanzig Schritte zurück. Er achtete darauf, dem Ruhebereich des Nargen nicht zu nahe zu kommen.
»Jiims Bericht ist zweifelsohne religiös verbrämt. So aufgeschlossen er auch sein mag - auf diesem niedrigen kulturellen Niveau sieht man gerne nur das, was man sehen will.« »Du meinst also, dass sich das Schildkrötenschiff noch immer am Absturzort befinden könnte - mit einem toten Piloten an Bord?« »Durchaus möglich.« Jarvis lehnte an der Holzwand, die Hände entspannt vor der Brust verschränkt. Scobee wandte sich an ihn: »Ich sehe eine zweite Möglichkeit...« »Ich auch«, unterbrach Cloud sie. »Wir wurden bewusst hier ab- beziehungsweise ausgesetzt, und der Fremde, der uns aus dem Askulap rettete, hat sich danach auf und davon gemacht...« »Aber welchen Sinn sollte das machen? Vergessen wir nicht, dass er uns... dass er uns als Mörder seines Volkes titulierte, bevor uns das Bewusstsein schwand«, erinnerte Scobee. Cloud nickte. »Das Wenige, was wir wissen, könnte auch darauf hindeuten, dass er uns bestrafen will...« »Gegen diese Theorie spricht, dass uns Jiim aus dem Schiff zerren musste. Wenn das molluskenartige Wesen, das wir in der >Schildkröte< gesehen haben, uns hier auf Kaiser hätte aussetzen wollen, hätte es sicherlich andere Möglichkeiten gehabt, um uns aus dem Schiff zu entfernen - was meint ihr?«, sagte Jarvis. »Vielleicht fehlte ihm die Kraft dazu. Ist dir nicht aufgefallen, wie geschwächt seine Stimme klang? Obwohl das auch täuschen kann. Sie war allem Anschein nach technisch erzeugt...« John unterbrach seine unruhige Wanderung und blickte Jarvis in die dunklen Augen. »Diese Diskussion bewegt sich im Kreis. Wir wissen mehr, wenn wir an den Ort der Landung zurückkehren. Ich bin dafür, dass wir morgen - das heißt, heute Abend, sobald Jiim aufgewacht ist - ordentlich Druck auf ihn ausüben. Es reicht! Wir dürfen uns nicht länger vertrösten lassen.« Er blickte die drei GenTecs an, und erntete uneingeschränkte Zustimmung.
Sie erwachten durch Jiims Gurren. Die GenTecs richteten sich auf und waren hellwach, während sich Cloud erst einmal den Schlaf aus den Augen reiben musste. Er sah auf die Uhr. Es waren kaum drei Stunden vergangen, seitdem sie sich hingelegt hatten. Jiim tänzelte auf den Zehenspitzen im Raum auf und ab, umrundete leichtfüßig den mächtigen Hauptstamm und schlug dabei die Flügel vor die Brust. »Jiiahe-Ha! Jooahe-Ha!«, schrie er, und reckte den Kopf in Richtung Decke. Ein mächtiger Drehsprung, ein wuchtiges Aufstampfen, eine zarte Pirouette, ein Grätschsprung - der Narge bewegte sich wie besessen.
Das Schauspiel dauerte fünf, sechs Minuten, dann fiel Jiim mit der Brust voraus zu
Boden und blieb schwer atmend liegen.
Cloud wollte aufspringen und ihm hochhelfen, doch Scobee hielt ihn zurück: »Nein,
John! Ich bin mir sicher, dass es sich um ein Ritual handelt. Entweder wollte er sich
Mut ertanzen, oder dies war bereits ein Teil dessen, was er uns mitteilen will. Ich
halte es für das Beste, abzuwarten.«
Cloud zögerte, nickte dann aber. Wahrscheinlich hatte sie Recht.
Nach wenigen Sekunden richtete sich Jiim auf und kam müde auf die vier
Erdenmenschen zu. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserbottich und sah
seine Gäste an.
In einem merkwürdigen Singsang trällerte er: »Kaiser ist alte Welt. Kaiser ist die
Zerstörte.
Maron ist verfluchter Mond. Maron ist der Vernichter.
Großer Schrund ist Heiligtum. Großer Schrund ist der Retter.
Suprio weiß die alte Zeit. Suprio ist der Bewahrer.«
Dann setzte sich der Narge auf den Boden, als sei bereits alles gesagt.
Schweigend blickten sie den Nargen an - schweigend und voller Ungeduld. »In alter Zeit war Kaiser schöne, wunderschöne Welt.« Jiim seufzte tief. »Überall Sonne, überall Bäume, überall Gras, überall Nahrung, überall glückliche Nargen. Viele Nargen. Heute nur noch zweihundert, früher vierhundert mal vierhundert mal vierhundert. Kaiser ist die Zerstörte.« Die Menschen blickten sich betreten an. Nur noch zweihundert Nargen bildeten die Gesamtbevölkerung dieses Planeten? Jiim fuhr fort: »Als noch alle Nargen glücklich, kommt Unglück über Kalser. Mond Maron kaputt. Stücke fliegen weg von Mond, viele Zornestränen, oh weh! Zornestränen landen auf Kaiser, machen Planeten kaputt. Überall Feuer, überall viel Wasser, überall tote Nargen. Nargen weinen, Nargen leiden, Nargen sterben.« Die Augen des Vogelmenschen sonderten ein hellgelbes Sekret ab, das langsam an seinen glatten Wangen hinabrann. »Viele sterben, aber auch viele überleben. Doch dann kommt Wind, dann kommt Staub, dann kommt Dunkelheit. Sonne verschwindet, wird kalt, so kalt! Schnee, viel Schnee, Eis und Wind. Alles stirbt. Bäume, Gras, Nahrung. Große Dörfer sterben, kleine Dörfer sterben, überall Tote. Mond Maron ist der Vernichter. « Cloud begriff. Die Puzzlestücke fügten sich langsam zusammen. Eine gewaltige Naturkatastrophe hatte das Leben auf dem Planeten ausgelöscht. Verursacht durch Teile des Mondes, die die Oberfläche getroffen und die Welt mit Dunkelheit überzogen hatten. Stürme, Eis und Schnee hatten über Jahrhunderte hinweg offenbar jegliches Leben pflanzlicher und tierischer Natur sterben lassen.
Aber warum hatte dann ausgerechnet diese Population an Nargen überlebt, bei der sie sich nun aufhielten? Jiim erzählte weiter: »Ganz Kaiser unter Eis und Schnee. Nur hier bei Schrund explodiert Boden. Gewaltiges Feuer spritzt in Luft, mit viel Wucht. Kalte Luft von warmer Luft aufgefressen. Viele Stürme, viele drehende Stürme, immer und immer wieder. Heiße Luft gut, treibt böse Wolken, treibt Schmutz fort. Sonne scheint hier, nur hier. Kleines Dorf überlebt, geschützt von Feuer aus Schrund, geschützt von heiliger Wärme und Auftrieb. Großer Schrund ist der Retter.« Jiims Stimme klang jetzt monoton und übertünchte jede Gefühlsregung. Er musste in Gedanken lange daran gearbeitet haben, den Stammesgesang in die für Menschen verständliche Sprache zu übersetzen. »Großer Schrund ist der Retter, aber nur für wenig Nargen. Wenig Tiere, wenig Pflanzen, wenig Sonne. Platz für viermal vierzig und noch einmal vierzig Nargen. Suprio sorgt dafür, dass Volk überlebt. Sorgt für Gebete, sorgt für Wissen, sorgt für Stammesgesänge.« Mit merklichem Zögern fügte er hinzu: »Sorgt dafür, dass alles immer gut bleibt. Suprio ist der Bewahrer.« Jiim atmete tief ein, und sein Brustkorb zitterte. Dann wischte er sich fahrig über die großen, nassen Augen, stand auf und legte sich etwas abseits wieder hin. Die vier Menschen blickten einander betroffen an. Mit wenigen Worten hatte ihnen der Narge das traurige Schicksal seines einst stolzen Volkes offenbart. Es musste ihn große Überwindung gekostet haben, die Geschichte Fremden zu erzählen. Es zeigte aber auch, dass Jiim mittlerweile weit davon entfernt war, an Götterboten zu glauben. Denn Gumas hätten die Geschichte gekannt, nicht erst erzählt bekommen müssen...
Mit der Dämmerung kam auch wieder Regen, der für Cloud nun etwas Bedrohliches bekommen hatte, rief er ihm doch das Wechselspiel ins Bewusstsein - das Wechselspiel zwischen der immer noch extremen Kälte, die Kaiser im Würgegriff hielt, und der hier aufsteigenden Wärme, die wahrscheinlich vulkanischen Ursprungs war und die die Existenzgrundlage für die Enklave der Nargen schuf. Jiim war merkwürdig still an diesem Morgen. Seine Lernleistungen waren nach wie vor famos und Respekt einflößend, aber er verzichtete auf jene Keckheit, mit der er in den zurückliegenden Tagen die Herzen seiner Gäste erobert hatte. Bis Cloud in die Offensive ging. »Jiim, wir alle bedauern das Schicksal deiner Heimatwelt, und wir trauern mit dir. Aber gibt es einen bestimmten Grund, dass du uns diese Geschichte erzählt hast?« Der Narge blickte zu Boden und antwortete nicht. Es lag ihm sichtlich etwas auf dem Herzen, doch er wagte offenbar nicht, es auszusprechen.
»Es geht um Caar, euren Suprio, nicht wahr? Du hast Probleme mit ihm.« Cloud schoss seinen Pfeil ins Blaue ab, ungeachtet der warnenden Blicke Scobees. Jiim schaute auf. Seine Ohrhaare zuckten nervös. Er fuhr sich mit der langen, schmalen Zunge über die dünnen Lippenwülste. Der junge Narge setzte zum Reden an, stockte dann aber wieder. Er brachte einfach keinen Ton heraus. »Der Suprio ist der Bewahrer. Er sorgt dafür, dass immer alles gleich - gut, wie du sagst - bleibt, nicht wahr?«, bohrte Cloud weiter. Scobee presste wütend, wenn auch kaum hörbar die Luft aus ihren Lungen, doch Cloud ließ sich davon nicht beirren. Die GenTec mochte mehr theoretisches Wissen über fremde Kulturen und Erstbegegnungen haben, doch er besaß Instinkt. Zumindest bildete er es sich ein. Jedenfalls spürte er, dass er auf der richtigen Spur war. »Der Suprio will, dass sich nichts verändert. Keine Vergrößerung des Stammes, kein Erforschen der Umgebung, kein...« »... keine neuen Sachen.« Mit einem Mal sprudelte es aus dem Nargen nur so hervor. »Suprio ist uralt. Dinge sollen bleiben, wie sie in seiner Jugend waren. Wenn aber alles gleich bleibt, wird alles immer schlechter. Verstehst du, was ich meine, Guma Tschonk?« Stillstand bedeutet Rückschritt. Ich weiß nur zu gut, was du meinst, dachte John Cloud von der Erde, während der Narge schon längst weitersprach. »Wetter wird stabiler. Mein Elter erzählte mir, wie sehr er und sein Elter früher unter häufigen Schneeschauern und Frosteinbrüchen litten. Wind brachte oft Wolken voll schmutzigen Staubs, der sich über ihr Federkleid legte und sie am Fliegen hinderte. Musste sich mühsam reinigen und benötigte Zeit, viel Zeit dafür.« Der junge Narge redete sich immer mehr in Rage. »Wir haben noch immer wenig Fleischnahrung, das stimmt! Aber wir könnten Cherss, Rumals und Baaken aus dem Schrund heraufholen und in die Wildnis, in Richtung der Eislands schicken. Dann würden wir ja sehen, ob sie überleben und sich dort vermehren oder nicht. Ich war dort, bin dreimal heimlich während des Tages über die erlaubte Grenze hinausgeflogen und habe mich umgeschaut. Bin mir sicher, dass die Tiere und wir auch weiter draußen überleben können. Nargenvolk würde wachsen, wir würden uns wieder... ausbreiten...« »... doch der Suprio erlaubt es nicht! « »Stimmt, stimmt.« »Du widersprichst Caar und willst die Dinge ändern.« »Ich und ein paar andere Jäger, junge Jäger.« Der Narge drehte die Flügel nach außen. »Da passiert eines Tages kleines Wunder, und vier Anderswesen kommen nach Kaiser. Der tapfere Jäger Jiim erkennt, dass diese Anderswesen nicht von seiner Welt stammen können- aber auch keine Götter sind. Götter liegen nicht bewusstlos in der Gegend herum, Götter können fliegen wie die Nargen - tragen keine seltsamen Sachen und... und sie riechen auch nicht streng.« Als ihm bewusst wurde, was er soeben gesagt hatte, versteckte Jiim ver4 schämt den Kopf unter einem Flügel. »Ähm, gut.Vergesst das. Bitte.«
John grinste und fuhr an Stelle des Nargen fort: »Aber der tapfere Jäger erkennt seine Chance. Wenn er die vier Wesen auf seine Seite zu ziehen vermag und sie zumindest dem Suprio als Götterboten unterjubeln kann, könnten sie ja gewisse Änderungen im Leben der Nargen herbeiführen, vielleicht sogar befehlen...« Jiim blickte zu Boden und murmelte ein fast unhörbares »Ja«. Stille. Schließlich brach Cloud den Bann, indem er in die Hände klatschte und lächelnd erklärte: »Du gefällst mir, Freund. Lange niemanden mehr getroffen, der so erfrischend natürlich ist. Außerdem meine ich, dass du absolut im Recht bist, wenn du gegen den Suprio revoltieren willst. Deine Gründe sind nachvollziehbar.« Und durchaus in unserem Sinne, fügte er in Gedanken hinzu. Es sah fast so aus, als wollte ihm der Narge um den Hals fallen. Cloud streckte vorsorglich die Arme aus, abwehrbereit, und sagte: »Ich bin dafür, dass wir jetzt sofort besprechen, wie wir weiter vorgehen. Je eher eine Entscheidung fällt, desto rascher können wir auch diesen goldenen Käfig verlassen. Ich würde sagen, wir helfen dir, Jiim, schon aus hygienischem Eigennutz...« 7. Jiim hatte im strengen Stammesgefüge der Nargen wenig Freizeit zur Verfügung. Sein Leben bestand aus den täglichen religiösen Ritualen, der Jagd, Gemeinschaftsarbeiten wie der anstrengenden Pflege der Gemüse- und Obstgärten und der Mithilfe bei ständig anfallenden Reparaturen am Allgemeingut. Die Stunden, die er mit den vier Gumas verbrachte, hatte er sich teuer erkauft. Er würde in Zukunft wenig Schlaf bekommen und stattdessen während der Tagesstunden zusätzliche Arbeitsschichten auf den Feldern verrichten müssen. Wenn sich nicht ohnehin bald alles änderte... Als er sich zur täglichen Jagd in die Lüfte erhob, rückten Cloud und die GenTecs eng zusammen. Es war nahezu dunkel. Von allen Seiten hörten sie die schrillen Rufe der Nargen, für die die Zeit der höchsten körperlichen Aktivität nahte. »Wir werden bei Jiims kleinem Spielchen mitmachen und ein paar Götterweisheiten verkünden. Sermon, Plephes, Anteri, Coor und wie sie alle heißen, werden durch unsere Münder verkünden, dass es für das Volk der Nargen an der Zeit ist, seine Grenzen zu öffnen.« »Ich finde es schön, dass du den Nargen helfen willst, aus ihrer geistigen Isolation auszubrechen, Ex. Aber sollten wir nicht auch unsere eigenen Probleme ein wenig im Auge behalten?«, warf Resnick ein. »Genau das habe ich vor. Wir müssen morgen die Rolle der Götterboten glaubhaft spielen und gleichzeitig dafür sorgen, dass Jiim als unser Sprachrohr anerkannt wird. Erstens wird uns das hoffentlich Tür und Tor öffnen, und zweitens haben wir ihn damit in der Hand. Wir werden ihn zwingen, nach dem Raumschiff des fremden Wesens suchen zu lassen, das uns hier abgesetzt hat. Auch wenn es rücksichtslos klingen mag.«
Die eher skeptische Natur Jarvis warf ein: »Glaubst du nicht, dass dieser Suprio da ein Wörtchen mitreden wird?« »Ganz sicherlich sogar«, antwortete Cloud. »Deswegen müssen wir uns in den nächsten Stunden darauf vorbereiten, wie wir ihn in Zaum halten. Unser großerVorteil ist, dass nur Jiim uns versteht. Während unseres Auftrittes können wir uns also jederzeit mit ihm besprechen. Mein Vorschlag wäre also, den Suprio...« Die Diskussion dauerte mehrere Stunden und umfasste eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien. Doch als der Morgen graute, Jiim eintraf und sie nacheinander in ihren schweren Raumanzügen huckepack zum Gemeinschaftshaus transportierte, zeigte sich, dass alle ihre Überlegungen auf falschen Grundlagen beruhten.
»Das sind also die Wesen, die du uns als Gumas präsentieren willst, Jiim?«, fragte der Suprio in lupenreinem Englisch. Sein Körper war gelb, heller als die der anderen Nargen. Ehrfürchtig zeichneten die Versammelten Kreis um Kreis in die Luft. Es mussten mehr als hundertfünfzig sein, die sich auf der Gemeinschaftsplattform eingefunden hatten. Wahrscheinlich alle, die innerhalb der nargischen Gesellschaft als erwachsen galten. Cloud blieb starr stehen und wagte für ein paar Momente nicht einmal zu atmen. Warum spricht der Suprio Englisch - und wieso können ihn alle verstehen, wenn er das tut? Verzweifelt blickte er zu Scobee, aber diese zuckte nur ebenso ratlos mit den Schultern. Sie war blass geworden. Ihr ganzer schöner Plan hatte sich soeben in Luft aufgelöst. Jetzt blieb ihnen nur noch zu improvisieren. »Du hattest vier Tage Zeit, Jiim. Wie wir alle sehen, hast du dir die Sprache der vier... Wesen... angeeignet. Dein Wissen ist auch auf uns übergeflossen, es gehört nun uns allen. Wir danken dir dafür, und wir danken den Göttern für die Gnade dieses Tages.« Du Heuchler, dachte Cloud, dem der Suprio vom ersten Augenblick an unsympathisch erschien. Du hättest einen erfolgreichen Politiker auf der Erde abgegeben. Jetzt kommt sicherlich das große Aber. »Aber«, fuhr der Suprio tatsächlich fort, »diese Wesen kommen mir recht hilflos vor für Götterboten. Ist es nicht so?« Er war von seinem kleinen Podest aufgestanden und wandte sich den Zuhörern zu. »Sie stellen eine Spur zu viel Fragen, um sich hier überhaupt zurechtfinden zu können-unter uns. Sie scheinen von unseren Gebräuchen wenig oder gar keine Ahnung zu haben. Aber dann können sie nicht unsere Götter sein! «Cloud trat vor und klopfte sich gegen die Brust. Eine Geste, um
Cloud trat vor und klopfte sich gegen die Brust. Eine Geste, um Aufmerksamkeit zu erregen, die er sich von Alm abgeschaut hatte. »Es stimmt, euer Suprio hat Recht.« Hohes, schrilles Fiepen klang auf. »Wir sind hierher verschlagen worden, ohne Wissen über das große Volk der Nargen. Wir sind keine Götter.« Vereinzelte Schmährufe wurden laut, manche Nargen bewegten gefährlich laut die Flügel. »Denn wir sind lediglich die Auserwählten der hohen Götter Sermon, Plephes, Anteri und Coor! Sie weckten uns aus ewigem Schlaf, um dem Volk der Nargen neue Hoffnung zu bringen und ihm neue Wege aufzuzeigen.« Die Menge wurde unruhig, und Caar hob herrisch beide Schwingen. Sofort verstummten alle Geräusche. »Schöne Worte, Götterbote. Doch es fällt mir schwer, dir zu glauben, denn als ich gestern mit Plephes in meinen Wachträumen sprach, erwähnte er euch mit keinem einzigen Wort.« »Ist es denn nicht so, dass nicht immer wahr wird, was der Suprio prophezeit? Kann es nicht sein, dass der Suprio von den Göttern der List getäuscht wurde?« John wandte sich an die gesamte Zuhörerschaft. Vereinzelt schienen Nargen in sich gekehrt, nachdenklich. Jiim hatte Cloud von Fehlinterpretationen Caars erzählt. Der Suprio hatte dann stets die Schuld auf die Arglistigkeit böser Götter geschoben. »Das ist natürlich schon vorgekommen, aber...« John ließ den Suprio nicht ausreden. »Wäre es kein Beweis für meine Rede, wenn das große Volk der Nargen hier, an dieser Stelle, die Stimme des Gottes Sermon hören könnte? In der Sprache der Götter?« Totenstille. Keiner bewegte einen Flügel. Selbst Jiim war erstarrt. Cloud drehte mit einer demonstrativen Bewegung den Außenlautsprecher auf volle Leistung und schaltete auf Empfang. Hoffentlich durchschaut einer meiner GenTecFreunde, was ich vorhabe! Drei, vier Sekunden passierte überhaupt nichts. Dann sah John aus den Augenwinkeln, wie sich Jarvis das Mikrophon an den Kehlkopf hielt. Dem Himmel sei Dank, der Meister der Skepsis denkt mit! Eine krächzende Stimme meldete sich, und mit mehr als einhundertzehn Dezibel schallte es über die Wipfel der Bäume: «Cömment allez-vous? Voulezvous coucher avec moi ce soir, mon petit baobab?« Hut ab, dachte Cloud, während sich die Nargen ehrfürchtig in den imaginären Staub warfen, G.T. hat doch verdammt mehr Humor, als ich ihm zugetraut hätte.
Das Gelb des Suprio schien noch mehr zu verblassen. Fast durchsichtig stand er als Einziger noch da, wenn auch mit hängenden Flügeln. Geschlagen und an sich zweifelnd, wie es schien. «Nous vous remercions de votre facture ... «, fuhr Jarvis fort. Kein Zweifel, sein Französisch war schwach und von einem deutlich hörbaren Westküsten Akzent durchsetzt. Wahrscheinlich reduzierten sich seine Kenntnisse auf SchriftverkehrPhrasen und derbe Umgangssprache. Aber immerhin - die Überraschung war gelungen. Unauffällig griff Cloud zum Regler und dimmte die Lautstärke langsam herab, bis sich die Stimme in einem leisen Flüstern verlor und ganz verstummte. »Sermon hat zu euch gesprochen! Sermon ist traurig, dass ihr den Götterboten misstraut. Er ist traurig, aber nicht böse. Noch nicht jedenfalls.« Mit lauter Stimme >übersetzte< Cloud die Worte des Gottes, und er wusste, dass er gewonnen hatte. Die Nargen würden ihm nun aus der Hand fressen. Der Suprio ergriff zögerlich das Wort. »Ich bitte euch, verzeiht dem alten Caar, dass er die Zeichen in seinen Träumen falsch gedeutet hat! Auch ein Suprio kann irren und von schlechten Göttern in die Dunkelheit der Verwirrung geleitet werden! « Wie gesagt: Er würde einen guten Politiker abgeben. Dreht sich wie ein Fähnchen im Wind. »Doch es wird auch weiterhin meine Aufgabe sein, als Suprio zwischen Götterboten und Nargen zu vermitteln. Ich werde eure Aussagen interpretieren und das Volk sicher leiten.« »Es ist unser Wille, dass Jiim in Zukunft diese Funktion ausübt. Er besitzt alle Eigenschaften, die wir uns für diese Mittlerrolle wünschen. Aber du magst weiterhin direkten Kontakt zu den anderen, niederen Göttern halten und die täglichen Zeremonien durchführen. Ich bin sicher, dass du damit vollauf beschäftigt sein wirst.« »Ich befürchte, dass die Götterboten schlecht beraten sind, wenn sie auf die falschen, boshaften Einflüsterungen des jungen Jägers Jiim hören.« Die Stimme des Suprio wurde wieder kräftiger und selbstsicherer. »Ich habe unwiderlegbare Beweise dafür, dass er und einige andere das Volk der Nargen in die Dunkelheit führen wollen.« »Das ist nicht wahr, Caar!«, wandte Jiim voller Empörung ein. »Ich...« »Hinter dem Rücken des Suprio hat er intrigiert und andere Verblendete um sich geschart. Er will uns ins Verderben stürzen. Er will das Volk zwingen, in das Ewige Schneereich vorzudringen. Er wollte unsere Gewohnheiten ändern und das göttliche Gleichgewicht stören!« »Nein, das stimmt alles nicht! Ich hatte lediglich...« »Hört nicht auf ihn, den Verdorbenen, der mit den madigen Flügeln eines hinterlistigen Chuntas schlägt! Seht her, wer mir von seinen bösartigen Plänen berichtete. Schaut her, und ihr werdet mir glauben!« Er wies zu einer Ansammlung Nargen, in der anfänglich einer den anderen verdutzt ansah. Dann öffnete sich eine kleine Gasse und hervor trat eine Gestalt, die ähnlich rot war wie Jiim. Sie ging mit vorsichtigen, trippelnden Schritten auf den Suprio zu. «Du, Chex?« Jiim fiel fassungslos auf die Knie.
»Hab keine Angst, Chex. Sprich, was Jiim, der Verräter, dir in den letzten Monden für Lügen aufgetischt hat. Kläre die Gemeinschaft auf, mit welch üblen Einflüsterungen der Jäger dich auf die Seite der dunklen Götter ziehen wollte.« Jiim wollte sich nach vorne stürzen, doch mit dem Wink eines Flügels befahl der Suprio zwei kräftigen Nargen, ihn festzuhalten. Der junge Vogelmensch Chex, etwa zehn Zentimeter kleiner als Jiim und äußerst schmächtig, wandte sich mit gesenktem Kopf von dem Jäger ab und erklärte mit zitternder Stimme: »Caar hat Recht. Jiim wollte gegen die göttliche Ordnung aufbegehren, den Suprio stürzen und unsere Gemeinschaft in das Ewige Schneereich hinausführen.« Lauter fuhr er fort: »Doch es war keine böse Absicht, die ihn dazu trieb! Vielleicht Ehrgeiz und Unvernunft. Aber...« »Das genügt, Chex!« Caars grollende Stimme, die man dem Alten gar nicht zugetraut hätte, übertönte alles. »Was auch immer ihn antrieb, wird das Geheimnis der Dunklen Götter bleiben. Sermon, der Gott der Wahrheit, warnte mich vor wenigen Tagen in einer Vision, dass es so kommen würde, und bat mich, die natürliche Ordnung im Reich der Nargen wieder herzustellen. Nenne nun die Namen der anderen Verblendeten, die sich an den aufrührerischen Reden Jiims begeistern! « Chex zögerte und flüsterte dann kaum hörbar: »Es waren die Jäger Alef, Ciir und Pheens.« Unruhe entstand, als drei weitere Nargen in das große, leere Rund, das sich gebildet hatte, getrieben wurden. Stumm und mit hängenden Köpfen standen sie da. Der alte Suprio drehte sich um die eigene Achse und verkündete laut: »Da stehen sie, die Verräter. Junge Nargen, die die Prinzipien der Alten vergessen, die Pfade der Vernunft verlassen und ewiges Unglück über uns alle bringen wollen. Und...« Die Augen voller Hass wandte der Suprio sich an Jiim. »...nicht nur das: In einem ungeheuren Akt der Blasphemie wollte dieser arglistige Chresch selbst die Götterboten täuschen und auf seine Seite ziehen. Doch dank meiner Wachsamkeit ist ihm dies nicht gelungen.« Verhaltenes Raunen ertönte. So wenig wie große Begeisterung zu spüren war, so wenig wagte es jemand, dem Suprio zu widersprechen. »Heißt es nicht schon seit Aonen, dass viermal vierzig und noch einmal vierzig Nargen in dieser Enklave leben sollen?«, fuhr Caar fort. »Dieses Gleichgewicht darf nicht gestört werden.« Die Unruhe wurde größer. Alles in Cloud drängte darauf, einzuschreiten. Gerade als er vortreten und das Wort ergreifen wollte, fasste ihn Scobee am Arm: »Bleib um Himmels willen ruhig! Wir haben gerade etwas Boden gut gemacht, und es wäre nicht ratsam, unseren Ruf gleich wieder zu zerstören.« »Aber Jiim...«
»Jiim hat sich seine Suppe selbst eingebrockt und kannte das Risiko, als er Stimmung
gegen den Suprio machte. Es handelt sich um eine innere Angelegenheit der Nargen,
in die sich auch >Götterboten< nicht einmischen sollten. Außerdem ergibt sich
vielleicht später die Gelegenheit, ihm und seinen Freunden zu helfen. Aber nicht
jetzt, die Situation ist noch zu instabil für uns.«
Cloud hatte während des kurzen Zwiegesprächs den Schlussteil von Caars Rede
verpasst.
»Kiin-tu!«, schmetterte der Suprio in diesem Moment - und kurz darauf nochmals:
»Kiin-tu!« Ein Teil der Nargen stimmte in den Ruf ein.
»Kiin-tu«, hallte es von den Wipfeln der umliegenden Bäume wider, bis der Schrei
von der großen Masse der Vogelmenschen aufgenommen wurde.
«Kiin-tu!«
»G.T., hast du mitbekommen, was dieser Ruf bedeutet?«
Jarvis zögerte. »Nicht genau. Es dürfte sich um ein religiöses Zeremoniell handeln,
in dessen Mittelpunkt die Angeklagten stehen. Und wenn ihr mich fragt, sind die vier
jungen Jäger nicht besonders begeistert davon.« So konnte man das auch ausdrücken.
Jiim jedenfalls tänzelte nervös hin und her, und die drei anderen zitterten wie
Espenlaub.
Nacheinander wurden Cloud und die GenTecs von einem kräftigen, dunkelgelben Nargen zurück in Jiims Hütte getragen. Der Jäger selbst tauchte nicht mehr auf, und auf diesbezügliche Fragen antwortete ihr »Chauffeur« lakonisch: »Am Abend ist Kiin-tu.« Als ob damit bereits alles gesagt sei. Die Flüge waren ein besonderes Erlebnis, selbst für einen Raumfahrer. Doch die Begeisterung dafür verblasste unter der Burde der Sorge um ihren Gastgeber Jiim. Als sie allein waren und sich notdürftig mit einem etwas schalen Fruchtbrei versorgt hatten, sagte Cloud: »Bevor wir uns über die neue Situation unterhalten, möchte ich von euch wissen, ob ihr eine Idee habt, wie es kommt, dass plötzlich alle Nargen perfekt Englisch sprechen.« Sekundenlang herrschte Schweigen. Schließlich meldete sich Resnick zu Wort. Sein kahler Schädel glänzte in der bereits hoch stehenden Sonne. »Es gibt da diese Theorie... Schon mal von morphogenetischen Feldern gehört?« Cloud dachte kurz nach und spürte, dass eine bestimmte Erinnerung in ihm hochgespült wurde. Eine Erinnerung, die nicht von ihm stammte, sondern von Shanna O'Donnel, der Biochemikerin. »Du meinst die Theorie von Rupert Sheldrake? Der sich in Gelehrtenkreisen nie richtig durchsetzen konnte und schlussendlich dorthin verdammt wurde, wohin man alle unkonventionellen Denker schickt: in die Wüste der Esoteriker?«
Der GenTec nickte und fuhr fort, wobei er unbewusst über eine kleine Narbe am linken Nasenflügel strich: »Vor mehr als einhundertzwanzig Jahren wurde erstmals ein Konzept formuliert, das besagt, dass ein Organismus bei seinem Wachstum von form gebenden Feldern beeinflusst wird. Wir können zum Beispiel einen kleinen Teil einer Pflanze abschneiden, ihn in die Erde stecken, und er wird zu einer neuen Pflanze. In diesem Fall bringt also der Teil ein neues Ganzes hervor. Das Ganze ist deshalb mehr als die Summe seiner Teile, weil wir einen Teil entfernen können, und das Ganze bleibt erhalten. Und aus dem Teil kann selbst wieder ein Ganzes werden.« »Und was hat das mit den Englischkenntnissen unserer nargischen Freunde zu tun?«, warf Scobee stirnrunzelnd ein. »Dazu komme ich gerade. Rupert Sheldrake prägte den Begriff >morphogenetische Felder<. Laut seiner Theorie gibt es einen unterbewussten Informationskanal für alle Angehörigen einer Spezies, in dem jedem Einzelnen die Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aller anderen zur Verfügung stehen. Die Felder selbst sind so etwas wie das kollektive Gedächtnis der Art. Jedes Mitglied wird durch das spezifische morphogenetische Feld seiner Rasse geformt. Der Einfluss solcher Felder baut sich über die Zeit auf, er wird kumulativ stärker und durch Wiederholung intensiviert. Sheldrake geht auch noch näher auf die Archetypen nach C.G. Jung ein...« »Ich glaube, wir haben halbwegs verstanden. Danke, Resnick«, unterbrach Cloud.. »Du glaubst also, dass Jiim sich von uns das Wissen der englischen Sprache angeeignet und unterbewusst an den Wissenspool - beziehungsweise das morphogenetische Feld der Nargen weitergegeben hat. Je mehr und je häufiger er englisch sprach, desto besser verstanden auch die anderen diese Sprache: Sie experimentierten womöglich damit und >schickten< ihr erworbenes Wissen wieder an Jiim zurück.« »So ähnlich, ja.« Resnick räusperte sich. »Wobei die Schnelligkeit des Lernens sicherlich nicht mit den Ideen Sheldrakes konform geht. Und wobei die von mir gerade formulierte Theorie im Endeffekt mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.« »Das ist in letzter Zeit nichts Neues«, warf Jarvis sarkastisch ein. Er schleckte sich die Reste des Obstbreis von den Fingern. »Wenn man den Gedanken Sheldrakes folgt, wären morphogenetische Felder eng mit dem Phänomen der Telepathie verwandt. Was hier auf Kalser kaum zutreffen kann, denn Jiim konnte ganz offenbar seine Geheimnisse für lange Zeit vor dem Suprio verbergen«, fügte Cloud hinzu. »Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht wüsste, wie der wahrscheinlich hohe Intellekt der Nargen vor der Katastrophe dann auf eine derart niedrige Stufe hätte herabfallen sollen«, sagte Scobee. »Meiner Meinung nach stehen sie zivilisatorisch auf dem Stand der Menschen der frühen Eisenzeit.« Cloud nickte nachdenklich. »Es wäre möglich, dass für das vollständige Funktionieren des morphogenetischen Feldes eine höhere Anzahl von Nargen notwendig ist. Sie sind einfach zu wenig Lebewesen, um Wissen untereinander auszutauschen und auf Dauer behalten zu können. Wichtig wäre auch zu wissen, welche Rolle der Suprio in diesem geistigen Netzwerk spielt. Lenkt er vielleicht das Wissen der Nargen?«
»Kann schon sein, dass ihm eine besondere Rolle zufällt«, sagte Resnick. »Schließlich ist er laut Jiims Aussage viele Generationen alt. Möglicherweise ist er eine Art Dirigent. Übrigens: Warum hat uns Jiim nicht auf dieses morphogenetische Feld hingewiesen? Hätten wir es gewusst, hätten wir bei der Versammlung eine wesentlich bessere Figur abgegeben.« Sie schwiegen, dann sagte Cloud: »Ist doch ganz klar. Für Jiim ist dieser Vorgang etwas Selbstverständliches. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass es bei uns Götterboten anders funktionieren könnte. Eines beunruhigt mich allerdings... « »Und das wäre?«, fragte Scobee. »Wenn ein kleiner Haufen Nargen innerhalb weniger Tage Struktur und Grammatik einer Sprache durchschauen kann - wozu waren sie dann vor der großen Katastrophe fähig? Man überlege sich - sechzig, siebzig Millionen Lebewesen mit der geistigen Aufnahmefähigkeit unseres Jiim? Nicht auszudenken...« Cloud schüttelte sich. 8. Die verregneten Tagesstunden waren mit end- und nutzlosen Diskussionen zu Ende gegangen. Cloud war beinahe froh, als sie schließlich von einem Nargen abgeholt wurden. Mit zittriger Stimme eröffnete er ihnen: »Der Suprio bittet euch eindringlich, diese weiten... Dinger, in denen ihr euch bewegt, abzulegen. Ihr erschreckt das Volk damit. Es handelt sich beim Kiin-tu um ein Ritual, bei dem die volle Aufmerksamkeit aller Nargen erforderlich ist. Den eng anhegenden... Gefiederersatz... könnt ihr jedoch anbehalten.« Führte der Suprio wieder etwas im Schilde? Hatte er vielleicht doch erkannt, woher die Stimme der Götter« gekommen war? Caars Bitte klang jedenfalls mehr wie ein Befehl. und der ängstliche Überbringer der Botschaft tat Cloud beinahe Leid. Ohne sich seine Beunruhigung anmerken zu lassen, begann er seinen Raumanzug abzulegen; er behielt nur die Thermounterwäsche und die Innenschuhe an. Die GenTecs taten es ihm zögernd gleich. Die Situation war nach wie vor zu heikel, um sich auf riskante Spielchen einzulassen. Sie mussten den Glauben und die Rituale der Vogelmenschen respektieren.
Nach einigen Kilometern aufregenden Fluges wurden sie auf dem Boden abgesetzt. Auf dem Boden! Cloud hätte sich am liebsten gebückt und die von weichem Moos begrünte Erde geküsst. Es roch feucht und nach Zwiebelgewächsen. Die gewaltigen Stämme der Bäume waren hier in der Tiefe dicht mit giftgrünen und blauen Pilzschädlingen bedeckt. Die bis zu zwei Meter hohen Luftwurzeln bildeten ein
irrwitziges, ineinander verschlungenes Dickicht. An Plätzen, die etwas Sonnenlicht abbekamen, wuchsen meterhohe rotbraune Farne, dicht an dicht. Es gab keinen spürbaren Wind. Die Luftfeuchtigkeit war immens hoch. Schon nach wenigen Augenblicken brach Cloud der Schweiß aus. Die GenTecs waren auch in dieser Hinsicht robuster. Der Narge, der ihnen nach mehrmaligem Fragen seinen Namen verraten hatte Frings -, führte sie durch das Dickicht auf eine offene Ebene, die von mächtigen Gesteinsblöcken beherrscht wurde. Sie mussten mühsam über eine Vielzahl kleinerer Geröllhaufen klettern, und Cloud fragte sich, warum Frings sie nicht näher an ihr Ziel herangebracht hatte. Nach dem nächsten Steinhügel entdeckten sie eine Ansammlung von Nargen, etwa hundertfünfzig Meter voraus. Hinter ihnen endete der Horizont wie abgeschnitten. Heiße Luft waberte dort empor, und ein Schwarm kleiner, scheinbar unbeholfen manövrierender Vögel ließ sich tschilpend von der Thermik aufwärts tragen. Der Schrund! Dort unten, irgendwo, lag möglicherweise das Raumschiff des molluskenartigen Wesens, das sie gerettet hatte. Nach dem religiösen Zeremoniell mussten sie alles daran setzen, dorthin zu gelangen! Ob die Nargen sie nach unten bringen würden? Scobee wandte sich plötzlich an ihn. Sie bediente sich des gebräuchlichsten chinesischen Idioms. »Ich glaube, dass die Hautfarbe der Nargen etwas mit ihrem Alter zu tun hat.« Sie sah Cloud fest in die Augen, und die Tattoos, die sie an Stelle von Brauen hatte, schienen unscharf zu werden. »Du meinst, dass sich ihre Hautfarbe mit zunehmendem Alter ändert?« »Ganz recht, >Commander<, Sir.« Sie zwinkerte ihm zu. »Denk an Jiim und die drei anderen Jäger, die fast rot gefärbt sind. Frings an unserer Seite ist dunkelgelb, dürfte also ein Narge im besten Alter sein. Und Caar, der Suprio...« »... ist nahezu ausgebleicht! Deine Theorie könnte stimmen, Scob. Apropos: Dort vorne steht er ja, unser spezieller Freund! Sehe ich richtig, dass er eine Art Schärpe um die Hüfte trägt?« »Ja,« antwortete Scobee, die nicht nur in den späten Nachmittagsstunden über die bessere Fernsicht verfügte. »Ein dunkelblaues Tuch. Eigentlich eine Art Fetzen. Merkwürdig. Das ist das erste Mal, dass wir ein Stück Kleidung bei einem Nargen sehen...« Sie beendeten die Unterhaltung. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Versammlung. Der Suprio stand ein wenig abseits. Neben ihm befanden sich mit hängenden Köpfen Chex und drei dunkelgelbe Nargen, die lange, biegsame Spieße in den Händen hielten. Ganz vorne, dort wo die Felsen endeten und die Sicht ins Nichts begann, standen die vier jungen Jäger. Vielleicht zwanzig Meter vom Abgrund entfernt. Sie trugen die Arme und damit auch die Flügel merkwürdig hoch. Als ob sie... »... sie sind gefesselt!«, wisperte Jarvis, wiederum auf chinesisch.
Was für eine Teufelei hatte der Suprio vor? Es war naheliegend, dass er mit den vier augenscheinlichen Verrätern nicht zimperlich verfahren würde... aber was hatte das zu bedeuten? Wenn er sie kaltblütig ermorden wollte, dann... Dröhnend hallte die Stimme des Suprio über die Ebene, während Frings die GenTecs und Cloud zu einer primitiven hölzernen Plattform am Rande des Schrunds führte. Cloud war kaum in der Lage, den Ausführungen des besessenen Alten zu folgen, der sich des Englischen bediente. Er wiederholte im Prinzip noch einmal dieselben Anschuldigungen, die er bereits am Morgen von sich gegeben hatte. Der Blick in das mehrere Kilometer tiefe Schluchtenwirrwarr des Schrundes, das sich am Horizont in Nebel und heißem, schwefelhaltigem Dampf verlor, bannte Cloud regelrecht. Er fühlte sich an den Grand Canyon erinnert, an dessen South Rim er mehrmals gestanden war. Damals hatte er hinab auf die kleinen, ameisenförmigen Lebewesen inmitten der schroffen, rötlich gefärbten Landschaft geschaut. In Wirklichkeit waren es Menschen und Packesel gewesen, die durch die trockene Hitze hinab gestiegen waren, um am Colorado River ein oder zwei Nächte auf der Phantom Ranch zu verbringen. »Die Verfehlungen, die Jiim und die anderen drei Jäger begangen haben, wiegen schwer«, rief der Suprio nun, und lenkte die Aufmerksamkeit der vier Menschen wieder auf sich. »Sehr schwer. Doch unser Volk ist klein, und eine jede Seele, die verloren geht, schwächt uns. Das Gleichgewicht, das uns die Götter anbefohlen haben, muss eingehalten werden. Vier mal vierzig und nochmals vierzig - so viele Wesen sollen nach den Wünschen der Heiligen Obersten friedlich in unserer kleinen Enklave leben.« Der Suprio schwenkte herum und deutete auf die vier Menschen. Das blaue Tuch flatterte im Wind um seinen ausgemergelten Körper. »Seht her, meine Kinder! Diese Wesen, die Götterboten, wurden gesandt, damit sie uns in unserem Glauben an Sermon, Plephes, Anteri und Coor stärken. Mit all seiner Hinterlistigkeit, die selbst ich anfangs nicht durchschaute, hat der Chunta Jiim versucht, sie auf seine Seite zu ziehen, ihre Verwirrung auszunutzen. Er wollte mich, den Suprio, stürzen - und damit die Nargen in den Untergang.« Cloud blickte zu Jiim, der gefesselt .war und knappe dreißig Meter entfernt stand. Es schien, als wolle dieser gegen die Worte des Suprio aufbegehren, doch dann ließ er den Kopf hängen. Gegen die tückisch gewobenen Lügennetze Caars schien er nicht anzukommen. »Doch ist es nicht ein Zeichen«, fuhr der Suprio fort, »dass sie uns in den Stunden der Gewissensnot vier Götterboten sandten? Mit ihrer Hilfe gelang es uns, die Verräter zu enttarnen. Und mit ihrer Hilfe dürfen und müssen wir Kiin-tu durchführen. Kiin-tu ist notwendig geworden, damit die göttlich vorbestimmte Einheit der vier mal vierzig und nochmals vierzig eingehalten werden kann!« Caar hatte die letzten Worte mit aller Kraft geschrien. Jetzt stand er da, eingefallen und schwankend, doch sein zweifellos vorhandenes Charisma hatte die Stimmung endgültig zu seinen Gunsten beeinflusst. Alle Nargen reckten die Arme und damit
die Flügel in die Höhe, brüllten laut »Kiin-tu!« und stampften mit dem rechten Bein auf den Boden. Alle, außer den vier Angeklagten - und außer Chex, der wie ein Häuflein Elend zwischen seinen Begleitern stand. Der monotone Rhythmus verwandelte sich in eine Art Stepptanz, der anVolumen und Heftigkeit stetig zunahm. »Dieser Bastard! Jetzt durchschaue ich seinen teuflischen Plan«, keuchte Cloud. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst, Ex«, sagte Resnick halblaut. »Die Gemeinschaft der Nargen ist seit der Katastrophe unverändert groß. Wahrscheinlich hat irgendeiner der früheren Suprio bestimmt, dass nicht mehr als zweihundert Wesen am Schrund leben dürfen, um die Ernährung zu sichern und das Überleben zu gewährleisten. Damals war dies wahrscheinlich eine vernünftige, wenn auch brutale und moralisch zweifelhafte Regelung.« »Aber was hat das mit uns zu tun?«, fragte Resnick, noch immer verständnislos. »Ja, begreifst du es denn nicht? Gegen diese verknöcherte Regelung wollte Jiim angehen. Und genau sie soll ihm nun zum Verhängnis werden. Denn mit uns, den vier Götterboten, sind es zweihundertvier Lebewesen! Um vier zu viel! Und jetzt rate mal, wer über die Klippe hüpfen wird...« Jarvis lenkte das Thema in eine andere Richtung: »Du meinst, dass jedes Mal, wenn neues Leben auf die Welt kommt, ein Mitglied der Gemeinschaft sterben muss?« »Ja. Und es liegt nahe, dass es zumeist die Älteren trifft.« John deutete über seinen Rücken zu Frings, der wenige Schritte hinter ihnen stand. »Ich traue mir nicht zu, seine Körpersprache zu deuten, aber er ist einer der Ältesten des Stammes und scheint dementsprechend erleichtert zu sein, dass es nicht ihn getroffen hat.« Das Stampfen wurde hektischer, lauter, ungeduldiger... und erstarb mit einem letzten, schrillen, kollektiven Schrei. »Wir müssen etwas unternehmen, John«, flüsterte Scobee in die plötzlich entstandene Ruhe. Nervös trat sie von einem Bein aufs andere. »Ich weiß, ich weiß. Lass mich überlegen.« Dann rief Cloud so laut er konnte: »Ich möchte als Götterbote für Jiim sprechen, dessen Pläne und Ansinnen niemandem schaden sollten...« »Da seht ihr es«, fuhr der Suprio dazwischen, »wie weit der böse Einfluss Jums bereits gediehen ist, dass er selbst die Gumas mit seiner Hinterlist täuschen kann. Es ist die richtige Entscheidung, mein Volk, das Kiin-tu an ihm und den drei anderen Frevlern zu vollziehen.« »Mit Worten kommen wir gegen den Suprio nicht an«, sagte Scobee. »Er hat seine Leute unter Kontrolle. Er verdreht uns das Wort im Munde, dieser... Tyrann! Auf einen Wink Caars wurden die vier Jäger noch näher an den Abgrund geführt. Der Blick hinab in die Tiefe war für die Vogelmenschen sicherlich nichts Ungewöhnliches, aber... Noch zwölf Meter. »John! Ihnen wurden nicht nur die Handgelenke gefesselt, sondern auch die Armbeugen durchstochen! Selbst wenn sie wollten, könnten sie ihre Flügel nicht mehr bewegen! «
»Ist ja gut, Scob!« Eine Idee, er brauchte eine Idee... »Suprio«, rief er verzweifelt,
»wir Götterboten können nicht ewig auf Kaiser, der Heimat der Nargen, bleiben. Wir
werden auch an anderen Orten des Himmels benötigt, um Sermons Wort zu
verbreiten. Ist es nicht besser, die vier Jäger zu verschonen, Gnade vor Recht ergehen
zu lassen, damit sie nach unserer... hm... Himmelfahrt wieder ihren angestammten
Platz als Jäger einnehmen können? Ich bin mir sicher, dass sie nicht länger an der
Ordnung zweifeln werden...«
Noch acht Meter,
»Das Gesetz muss eingehalten werden!«, rief Caar, Triumph in der Stimme. »Vier
mal vierzig und noch mal vierzig, und keiner mehr! Es ist nicht schwer, vier neue
Nargen auszubrüten. Und zwar solche, die dem Willen des Suprio gehorchen! «
Die Prozession aus Wächtern und Verurteilten bewegte sich vorwärts, Schritt um
Schritt. Jiim wurde an der Spitze geführt. Er würde als erster hinabstürzen, und nach
ihm die anderen...
Noch sechs Meter.
»John! Rasch!«
»Ja, ja, Scob, ich weiß!« Noch vier Meter.
»Bitte! «
Cloud blickte die GenTec an...
Noch drei Meter.
... und nickte ihr zu...
Noch zwei Meter.
... und sie rannte los, und schneller, als er es jemals bei einem Menschen gesehen
hatte...
Noch ein Meter.
... flog sie regelrecht über die trennende Distanz hinweg und...
Jiim machte einen letzten, endgültigen Schritt nach. vor, tapste ins nichts. In einem
instinktiven Reflex bewegte er die Finger, um den Flügeln einen Befehl zu geben,
doch sie schlugen nicht, und er fiel hinab, scheinbar im Zeitlupentempo.
Und GT Scobee stürzte herbei, ergriff ihn mit der Linken an der Hüfte, trieb sie beide
mit dem Schwung ihres Körpers noch weiter hinaus...
... und griff in einer unwahrscheinlichen Bewegung mit der Rechten nach hinten,
erfasste eine vorragende Felsnase...
... rutschte ab, fiel mit dem Gewicht des Nargen hinab in die Tiefe...
... tastete, suchte nach einem Halt und stürzte, stürzte, stürzte...
... und kam zehn Meter unterhalb der Kante zu abruptem Halt.
Eine einzelne Hand mit fünf übermenschlich kraftvollen Fingern hielt das Gewicht
von mehr als einhundertfünfzig Kilogramm am Rande eines Vorsprungs fest!
Cloud konnte es natürlich nicht sehen, aber er bildete sich ein zu sehen, wie aus
weißen, aufgeschürften und aufgeplatzten Fingerspitzen Blut schoss, während sie die
Last daran hinderte, in die Tiefe zu stürzen.
Mit dem Schwung des Fallens drehte sich Scobee um die eigene Achse, prallte gegen
die Felswand und drückte den Nargen dagegen. Sie ließ Jiim fallen, und John blieb
das Herz fast stehen. Doch mit ihren Oberschenkeln fing sie den Jäger auf und klemmte ihn fest. Langsam, tastend fand ihre zweite Hand einen Halt. Kurz blieb sie so hängen, wahrscheinlich, um zu Atem zu kommen. Dann redete sie auf den Nargen ein, dessen Kopf zwischen ihren Brüsten ruhte. Sie fasste in einer blitzschnellen Bewegung nach oben, zerfetzte mit einem Ruck Jiims Fesselung und führte die Hand zurück auf den Felsvorsprung, bevor sie den Halt verlor. Scobee schwankte kurz, und für einen Moment dachte Cloud, die beiden endgültig fallen zu sehen. Die GenTec sprach nochmals heftig auf den Nargen ein, und endlich, endlich erwachte der junge Jäger aus seiner Lethargie. Er suchte mit seinen schlaksigen Beinen Halt, und erst als er halbwegs sicher auf einem schmalen, gras bewachsenen Vorsprung stand, lockerte Scobee die Umklammerung durch ihre Beine. Die Todesprozession an der Felskante war gleich nach dem waghalsigen Sprung der GenTec zum Stillstand gekommen, und sowohl Wächter als auch Verurteilte blickten hinab auf den Überlebenskampf der beiden so ungleichen Lebewesen. Auch die Mehrzahl der unbeteiligten Nargen war herangeeilt und blickte in den Abgrund. Stumm standen die Geflügelten da, schockiert und fasziniert zugleich. Selbst der Suprio schwieg. Unendlich langsam kletterte Scobee mit Jiim hinauf und nutzte jede kleine Unebenheit in der fast senkrechten Felswand. Die GenTec schwang sich nach einer scheinbaren Ewigkeit über die Kante, griff nach unten und zog den jungen Nargen mit einem gewaltigen Ruck in Sicherheit. Dann rollte sie sich auf den Rücken und blieb schwer atmend liegen. Cloud spürte sein Herz rasen, und sein Körper zitterte. Er hatte sich mehr um das GenTec gesorgt, als er sich gegenüber zugeben wollte. Oder hatte seine Angst doch in erster Linie der Frau gegolten?
Cloud ließ sich von Frings' zögerlichen Versuchen, ihn aufzuhalten, nicht bremsen. Er stürmte los und stieß die Nargen, die ihm den Weg zu Scobee verstellten, grob beiseite. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er und setzte sich neben ihr hin. Die Fingerkuppen ihrer rechten Hand waren eine einzige blutige, zerfetzte Masse, und John sog erschrocken die Luft ein. Hastig nestelte er seinen Erste-Hilfe-Kit aus der Brusttasche des Thermo-Overalls, desinfizierte die offenen Wunden und brachte die Verbände an, die sich selbsttätig um die Finger schlangen. Scobee blickte verwundert. War sie über seine Anteilnahme erstaunt? Cloud half ihr sanft hoch. Dann standen die beiden Menschen zwischen den ratlos wirkenden Nargen, die fast vollends einen Kreis um sie geschlossen hatten. Die GenTecs
Resnick und Jarvis kümmerten sich um Jiim, dessen Stichwunden in den Armbeugen heftig bluteten. Wo war der Suprio? Da stand er. Klein, blass und erschrocken. Mit dem direkten Eingreifen der Götterboten hatte er allem Anschein nach nicht gerechnet, und schon gar nicht mit dem Kraftakt des vermeintlich schwächsten der vier Wesen. »Caar! «, sagte Cloud mit nur mühsam unterdrücktem Zorn, »die Götterboten sind keine einfachen Erfüllungsgehilfen ohne Macht, die wie niedere Kreaturen behandelt werden dürfen. Die Kraft Sermons steckt in uns, die Weisheit Plephes, die Tapferkeit Anteris und die Hingabe Coors.« Hatte er die Namen richtig betont? Offenbar, denn die Nargen wirkten beeindruckt. »Wir sind enttäuscht, dass der Suprio unserem Wunsch, das Leben Jiims zu verschonen, nicht entsprochen hat. Und wenn wir enttäuscht sind, sind es auch die Götter!« Schockierte, angstvolle Gesichter. »Deswegen werden wir euch bereits morgen wieder verlassen. Für immer. Die Gumas werden hinabsteigen in den Schrund und nach dem Göttergefährt, der Zornesträne, Ausschau halten. Wir werden andere Völker mit den Weisheiten der Ewigen beglücken, denn die Nargen sind unserer Anteilnahme nicht wert.« Es schmerzte Cloud, die verstörten Nargen in Klagen und Wehgeschrei ausbrechen zu sehen, war doch seine Wut einzig und allein auf den Suprio ausgerichtet. »Um den Groll der Götter nicht weiter zu steigern, fordern wir euch auf, den Verurteilten ihr Leben zu schenken und sie erneut in die Gemeinschaft aufzunehmen. Sie haben genug Ängste ausgestanden, haben genug gelitten...« »Niemals!«, sagte Caar unnachgiebig. »Die drei jungen Jäger mögen genug gebüßt haben, doch Jiim stellte mit seinem Frevel das Überleben aller Nargen in Frage!« Götterbote und Suprio standen sich gegenüber, und dazwischen duckte sich sinnbildlich - das Volk. Egal wie sie sich entschieden - der Zorn des Verlierers, glaubten sie, würde sich in jedem Fall gegen sie richten. Die Macht des alten Nargen über sie musste weit über das hinausgehen, was Cloud bislang angenommen hatte. Nach einer Weile stieß Caar hasserfüllt hervor: »Es ist mein Zeichen des guten Willens an die Götterboten, dass ich Jiim vom Kiin-tu befreie. Doch der Chunta ist aus der Gemeinschaft ausgestoßen und muss die Grenzen des Dorfes verlassen! Er wird ins Eisland verbannt!« Vereinzelt ertönte verhaltenes Flüstern und Zischen, kam dieser Spruch doch einem Todesurteil gleich... Aber hatte Jiim nicht selbst gesagt, dass sich die Grenzen des Lebensraumes zu Gunsten der Nargen verschoben? Dann hätte er noch eine Chance gehabt! Mehr als dieses Zugeständnis würde Cloud dem alten, verstockten Nargen nicht entlocken können, ohne einen blutigen Konflikt, einen Bürgerkrieg unter den Nargen, zu riskieren. »So sei es«, sagte er deshalb würdevoll, und rundherum erklang ein kollektives Aufatmen. Selbst Jiim, der Entrechtete, schien froh über die Entscheidung zu sein.
9.
Mit der einsetzenden Dämmerung waren mächtige Wolkenbänke über der Steinebene aufgezogen. Sie hatten sintflutartigen Regen mit sich gebracht und gleichzeitig die Gemüter ein wenig abgekühlt. Man hatte Jiim eine letzte Nacht im Dorf zugestanden, und gemeinsam mit den vier Götterboten war er von kräftigen Nargen in sein luftiges Domizil zurückgetragen worden. Die hässlichen Wunden in seinen Armbeugen, die von Speerstichen herrührten, hatten sich als vergleichsweise harmlos erwiesen. Die breiten Sehnenstränge, welche die Flügel steuerten, waren lediglich verletzt, aber nicht vollends durchtrennt worden. »Faszinierend«, murmelte Resnick und stocherte mit unterkühlter Begeisterung in den offenen Wunden herum. »Zwei, drei Nächte Ruhe, und alles funktioniert wieder wie gehabt«, sagte er und wickelte Wundverbände um die verletzten Arme. Er stopfte kleine Bänder mit einer Stärke im Mikromillimeter-Bereich ins Innere des beschädigten Gewebes. Sie hafteten dort selbsttätig an den kritischen Stellen. So rasch, dass man fast zusehen konnte, bildeten sich um das unterstützende, synthetische Band Knoten und Streifen, die der Sehne mehr und mehr Festigkeit verleihen würden. Das artifizielle Band würde sich, nachdem seine Aufgabe beendet war, von selbst auflösen und innerhalb von zwei irdischen Wochen ausgeschieden werden. Der GenTec hoffte, dass der innere Aufbau der Nargen so weit mit dem der Menschen verwandt war, dass es zu keinen Abstoßungsreaktionen kommen würde. »Haben die Schmerzen nachgelassen, Jiim?« Cloud stand nachdenklich über ihm und rieb sich den juckenden Sechstagebart. »Ich spüre fast nichts. Meine Arme sind wie betäubt. Ist das ein Zauber? Werde ich jemals wieder fliegen können?« »Mach dir keine Sorgen, junger Jäger. Morgen wirst du dich wieder stark und erholt fühlen. Und in zwei Tagen kannst du wieder fliegen.« »Es... es tut mir Leid, dass ich an euch zweifelte. Ihr müsst wirklich Boten der Götter sein.« John lachte bitter auf. »Jetzt erstarre nur nicht in zu viel Respekt, Jiim! Wir sind genau wie du Ausgestoßene! Es kann sogar sein, dass wir vier die letzten unserer Art sind - auch wenn andere Beobachtung_ en uns daran zweifeln lassen.« Er dachte an die irdischen Großraumschiffe. Wenn sie wirklich von der Erde stammten... »Aber wir wollten eigentlich nicht von uns reden«, fuhr er fort, »sondern von deiner Situation. Mir scheint, du bist gar nicht unglücklich darüber, ins Eisland verbannt worden zu sein?« Jiim legte die Ohren eng an und versteifte sich. Ein deutliches Zeichen, dass er seinen starken Willen wieder gefunden hatte. »Keineswegs. Der Suprio hat mir sogar einen großen Gefallen getan. So kann ich meinem Volk demonstrieren, dass wir eine Zukunft, dass wir Platz genug für Wachstum haben. Ich werde überleben und nach
einigen Monden zurückkehren. Ich werde Caar beweisen, dass es möglich ist, weiter draußen zu überleben. Dann wird er seine starre Haltung aufgeben müssen.« »Bist du dir sicher, Jiim? So, wie ich ihn heute erlebt habe, ist er unnachgiebig bis in den Tod.« Der Narge zischte erschrocken. »So etwas darfst du nicht einmal denken, Guma Tschonk! Der Tod des Suprio wäre der Tod unseres Volkes. Er ist der Alleinige!« »Warum ist der Suprio so wichtig für euer Volk, Jiim? Ich verstehe den Respekt, den ihr für ihn hegt, schließlich führt und leitet er die Nargen. Doch gerade du müsstest allen Grund der Welt haben, ihn zu hassen. Er hat dich schließlich heute zwei Mal zum Tod verurteilt. Er hat gelogen und dich hinterlistig vor deinen eigenen Leuten schlecht gemacht.« »Der Suprio mag ein... schlechter... Narge sein, doch er ist immer noch der Suprio«, kam die fast trotzige Erwiderung. Dass gerade er Caar verteidigen musste, fiel Jiim sichtlich schwer. »Der Alleinige. Wenn er nicht mehr ist, stirbt auch das Volk.« »Sagt wer?« »Sagen die Erzählungen der Elter, die es von ihrem Elter und deren Elter überliefert bekommen haben...« »Aber du hast doch selbst gesagt, dass der Suprio aus unbekannten Gründen uralt ist und schon mehrere Generationen von Nargen überlebt hat. Ist es nicht wahrscheinlich, dass er selbst vor langer Zeit das Gerücht aus gestreut hat, euer Volk könnte nicht ohne ihn überleben? So sichert er sich eure Hörigkeit.« »Du verstehst nicht, Tschonk! « Jiim reagierte heftig, und ließ in seiner Erregung sogar die ehrfürchtige Bezeichnung >Guma< weg. »Es ist keine Hörigkeit, es ist kein Respekt, es ist... es ist... nun, der Suprio ist einfach der Alleinige! Ohne ihn gibt es keine Zukunft für die Nargen. Nur noch Tod!« John gab es auf. Wenn sogar der größte Rebell unter den Nargen derart überzeugt von Caars Wichtigkeit war, gab es für die Menschen nicht den Hauch einer Chance, die Situation zu ändern - auch nicht kraft ihres Status als Götterboten. Aber wäre eine Änderung überhaupt zwangsläufig einer Besserung gleich gekommen? Er hegte seine Zweifel. »Ich möchte nochmals mit dem Suprio sprechen. Sozusagen unter vier Augen«, sagte er, und blickte Jiim in die runden, schwarzen Augen. »Das darfst du nicht! Das geht nicht! Niemand darf Caars Haus betreten. Niemand darf den Suprio besuchen - er besucht immer dich. Es ist...« »Sag mir nicht, was ich darf oder nicht darf. Auch wenn du weißt, dass ich kein Götterbote bin, hast du doch unsere Macht kennen gelernt! « Unbeherrscht trat Cloud gegen einen großen, leeren Strohkorb. »Und schließlich haben wir dir das Leben gerettet, vergiss das nicht. Wenn du uns schon nicht für dich und dein Volk helfen willst, so bist du uns immer noch einen Gefallen schuldig.« »Wohl mehr aus Eigensucht als aus Mitgefühl«, unterbrach ihn Cloud. »Du wolltest uns benutzen, hast du das schon vergessen?« Ich behandle ihn von oben herab, genau wie der Suprio. Ich benutze meine Autorität und setze ihn unter Druck - aber was soll's! Wenn sich die Nargen nicht selbst helfen können, dann müssen wir sie eben zu ihrem Glück zwingen. Ich habe dieses religiös verbrämte Gerede satt. Jetzt werden Nägel mit Köpfen gemacht!
Jiim antwortete eingeschüchtert: »Selbst wenn ich euch helfen wollte - ich kann es nicht_ Habt ihr vergessen, dass meine Flügel noch taub sind? Ich kann euch nicht hinunter bringen, damit ihr den Suprio aufsuchen könnt...« »Hinunter? Lebt Caar denn nicht in einer dieser Baumhütten, irgendwo dort, wo er die schönste Aussicht hat?« John konnte sich den zynischen Unterton nicht verkneifen. »Der Suprio wohnt nicht unter uns, sondern in einer Höhle in der Steilwand des Schrundes, nur einige Nargenlängen von dem Ort entfernt, an dem das... Kiin-tu stattfinden sollte.« »Ja, warum sollte er sich auch mit dem Fußvolk abgeben, nicht wahr? Der schönste Platz an der Sonne ist ihm gerade gut genug!« Cloud war wütend. Richtig wütend. Er musste eine Möglichkeit finden, dem Suprio die Meinung zu sagen. Wie, in Dreiteufels Namen, kam er nur hinab zu dessen Höhle? Und als ob ihn Sermon tatsächlich erhört hätte, landete ein dunkler, voluminöser Schatten an einer offenen Seite des Hauses. Nestelnd öffnete der Ankömmling die Verschnürungen und schlüpfte leise hindurch, als hätte er etwas zu verbergen. Das Licht der Scheinwerfer reichte für John nicht aus, um zu erkennen, wer der Eindringling war. Aber die GenTecs, die zweifellos mehr sahen als er, blieben ruhig, und so entspannte er sich. Indes krächzte Jiim überrascht: »Chex! Du traust dich hierher?«
Der schmächtig wirkende Narge trat in den schmalen Lichtkegel und senkte den
Kopf. Er bewegte den Oberkörper unruhig hin und her, das Gefieder hielt er leicht
nach vorne geneigt. »Jiim, es... es tut mir so Leid. Ich... wollte das alles nicht! «
Jiim richtete sich zu seiner vollen Größe auf und breitete die Flügel trotz der
Schmerzen, die er haben musste, weit aus. Der Zorn machte ihn taub für alle anderen
Gefühle.
Cloud fühlte sich unbehaglich, als er den jungen Jäger anblickte. Das unstete Licht
warf Schatten gegen die Holzwand und schuf eine eigenartige Atmosphäre.
»Hast du Alef, Cür, Pheens und mich hintergangen?«, herrschte Jiim seinen Freund
an, der ihn verraten hatte.
»Ja, aber...«
»Hast du uns vor dem Suprio verleumdet?«
»Es stimmt schon, aber...«
»Hast du uns mit deiner Aussage zum Kiin-tu verurteilt?« Jiims Flügel erhoben sich
immer weiter, als ob er sich auf Chex stürzen wollte.
»Ja, aber jetzt hör doch mal zu!« Der schmächtige Narge schrie auf und krümmte
sich, sichtlich erschrocken über den eigenen Mut. Dann fuhr er mit zitternder Stimme
fort: »Der Suprio ist ein widerwärtiger Chresch und spaltzüngiger Altfe in einem! Er muss schon seit einiger Zeit geahnt haben, dass ein faules Ei in seinem Nest liegt. Zuerst hat er mit sanftem Keckern versucht, mich zu umgarnen und es herauszufinden. Als ich mich weigerte, mein Ehrenwort euch gegenüber zu brechen, hat er mir mit dem Tod gedroht. Ich habe ihn angelacht und gemeint, dass es ähnliche Worte wie diese seien, die ihn und das Volk der Nargen immer weiter entzweiten. Ja, ausgelacht habe ich ihn! Du weißt, dass ich keine Angst vor dem Tod habe.« ihm hatte die Flügel halb gesenkt. »Und? Wie hat er dich dann doch noch... überzeugt?« »Frings und Perses. Er hat meinen Elter und mein fünfjähriges Geschwister kommen lassen. Er hat gesagt, dass Frings alt und daher reif für das Kiintu sei. Perses wiederum wäre zu dumm und nicht wert, weiter unter den Nargen zu leben. Jüm, er wollte meine Familie ausrotten, mir alles nehmen, was ich auf dieser Welt habe!« Chex brach zusammen und verbarg seinen Körper unter den eng angezogenen Flügeln. Sein Federkleid sträubte sich sichtbar. Jiim stand noch immer da, Kopf und Schwingen nun gesenkt, mit nach wie vor blutenden Armbeugen. Das Bild eines Racheengels verschwamm in Clouds Vorstellung. Der Jäger zögerte kurz, dann ging er trippelnd auf seinen Freund zu. Er griff ihm mit einer Hand sanft zwischen die Schwingen und tätschelte ihm fast zärtlich die Schulter. Das nargische Idiom war für Cloud nach wie vor unverständlich, doch die Geste war unschwer zu verstehen. Der Narge wirkte um Jahre gereift, als er von Chex abließ und mit ausdruckslosem Gesicht sagte: »Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werde euch helfen. Chex wird einen von euch an die Kiin-tu-Klippe bringen. Von dort muss er dann sein Glück alleine versuchen; kein Narge wird sich näher an die Behausung des Suprio heranwagen. Ich bitte euch: Wenn wir es schon nicht können, dann stellt ihr ihn zur Rede. Es ist an der Zeit, die Dinge in Ordnung zu bringen.«
Cloud bereitete sich auf seinen Ausflug vor. Den Raumanzug würde er in Jiims
Behausung zurücklassen, schließlich wartete ein halsbrecherischer Abstieg auf ihn...
»John, lass mich zum Suprio gehen.«
»Dich, Scob? Mach dich nicht lächerlich! Denk an deine Verletzungen.«
Die GenTec nahm demonstrativ die Heilverbände von den Fingerkuppen. Die
Narben waren fast verheilt, nur das Fleisch war noch hell und weich. »Bis zum
Morgen ist auch der letzte Schmerz vergessen«, sagte sie betont nüchtern.
Die Selbstheilungsmechanismen der GenTecs sind unglaublich!, erschrak Cloud,
doch er fing sich rasch. »Mag sein, Scob, aber ich sehe keinen Grund, warum du dich
sofort wieder in Gefahr bringen solltest...«
»Zumindest habe ich zwei Gründe mehr als du!«
»Was für Gründe meinst du?«, fragte er, obwohl er sich die Antwort schon vorstellen
konnte.
»Erstens komme ich in der Steilwand sicherlich besser. zurecht als du. Und
zweitens...« Sie zögerte.
»Ja?«
»Zweitens ist es eine persönliche Angelegenheit geworden. Ich möchte dieses
Menschen... ich meine, Nargen verachtende Ungeheuer zur Rede stellen. Nach dem,
was ich beim Kiin-tu erlebt habe...«
John hatte diese Antwort erwartet. Nur zu gut konnte er sich erinnern, wie sehr sie
gelitten hatte, als man Jiim und die anderen an den Abgrund führte.
Er machte einen letzten Versuch, sie
Glaubst du, die Aufgabe mit der notwendigen Objektivität erledigen zu können?«
»Ist es tatsächlich das, was du von mir erwartest? Objektivität? Ich glaube nicht,
John. oder?«
Er war nicht in der Lage, sie zu belügen.
Als der Morgen graute und die Jäger kreischend in ihre luftigen Behausungen zurückkehrten, setzte der junge Chex Scobee auf der Plattform ab, von der aus sie einen halben Thg zuvor Jiims Leben gerettet hatte. Mit einer letzten, gestotterten Entschuldigung erhob sich Chex wieder in die Luft, glitt hinab in den Schrund, und verschwand in den Morgennebeln. Die Sonne stieg langsam hinter den roten Schleiern hervor und zauberte ein prachtvolles Bild. Die Ruhe nach dem Sturm. Scobee hatte kein Auge dafür. Sie folgte Jiims Anweisungen, und nutzte einen schmalen Kamin, in den sie knapp unterhalb der Plattform einsteigen konnte. Sie stützte sich mit Schulter und Beinen an den gegenüber liegenden Wänden ab und begann den kraftraubenden Abstieg. Zwanzig, dreißig und schließlich vierzig Meter kam sie ohne größere Probleme vorwärts, dann endete der Kamin. Auf einem schmalen Grat stehend, krallte sie sich mit den frisch verheilten Fingern in den Fels und lehnte sich, so weit es ihr möglich war, vor. Eine plötzliche Windböe erfasste sie, verwirbelte ihr Haar und drückte sie zurück an die Wand. >Genmcs kennen keine Angst<, hatte sie Cloud erklärt. >Es sei denn, sie ist ihnen nützlich.<
Warum dachte sie gerade jetzt an Cloud? Sie verdrängte den Gedanken, musste
weiter hinab. Sie schob sich noch einmal nach vorn, stemmte sich gegen den heftigen
Wind und orientierte sich.
Da war die Höhle des Suprio! Vielleicht fünfzig Meter schräg rechts unterhalb ihres
Standortes.
Mit aller Kraft hielt sie die Position im Wind und las die Wand. Sie studierte jeden
Vorsprung, jeden Grat, jede Felsnase, jeden Riss im Fels und legte ihre Route fest.
Sie würde es schaffen.
Cloud hätte keine Chance, dachte sie und machte sich auf den Weg weiter hinab.
Eine halbe Stunde später schwang sie sich in den Eingang der Höhle, ein unregelmäßig geformtes, dunkles Loch mit mehr als vier Metern Durchmesser. Für einen kurzen Moment ruhte sich Scobee aus, kontrollierte Atem und Puls, und schlich dann leise tiefer hinein. Instinktiv schaltete sie ihr Sehen auf Infrarot. Sie schob einen dicken, schweren Teppich beiseite - einen Teppich? Die Nargen kannten doch gar keine Stoffe! Lediglich das Gürtelband des Suprio... Sie betrat den Raum... ... und Caar sehen, den Gegenstand in seiner Hand als Waffe zu identifizieren und sich fallen zu lassen, war eins. Mit unmenschlicher Wucht und Geschwindigkeit rollte sie nach vorne, ignorierte die Hitze des blau leuchtenden Strahls, der über ihre eingezogene linke Schulter hinweg strich, und riss den Suprio von den Beinen. Der Gefiederte klammerte sich im Fallen an ein massives, hölzernes Regal, drehte sich und schlug dann schwer mit den Flügeln auf. Scobee hörte die alten Knochen brechen wie morsches Holz. Dann fiel das Regal samt seinem Inhalt auf den Suprio und begrub ihn unter sich.
Jiim brüllte auf, und wie ein fernes Echo hörte Cloud Schreie aus allen Wipfeln, in denen sich Nargen eingenistet hatten. Der junge Jäger taumelte von seinem Lager hoch und wankte wie blind durch sein Haus. Er prallte gegen den Hauptstamm, wich einen Schritt zurück und torkelte nochmals dagegen. Resnick und Jarvis rannten reaktionsschnell zu ihm und hielten ihn an den geflügelten Armen fest. Er entwickelte unfassbare Kräfte und konnte kaum von den
beiden GenTecs gebändigt werden. Erst, als John ihm eine Kelle Wasser ins Gesicht spritzte, zeigte sich so etwas wie Erkennen in den dunklen, melancholischen Augen. »Narg'es tin-tu. Narg'es kom sein pars«, krächzte er. Wie ein Gebet wiederholte er die beiden Sätze, immer und immer wieder. Schließlich ließ er sich auf die Knie fallen. Das gelbe Sekret, das John schon mehrmals in Momenten der Aufregung und der Trauer gesehen hatte, floss Jiim in Strömen die hageren, eingefallenen Wangen herab. Dann schluchzte er noch einmal auf und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Ich weiß jetzt, was wir waren! Ich weiß jetzt, wer wir waren! Oh ihr Götter, warum habt ihr uns das alles genommen...?« Dann wandte er sich mühsam beherrscht an John: »Der Suprio stirbt. Und ohne den Suprio sterben wir alle.« »Das ist doch lächerlich, Jum! Ich...« »Lass mich jetzt in Ruhe, Guma Tschonk! «, fiel ihm der Jäger schroff ins Wort. »Ich und die anderen müssen zum Suprio. Das Tabu seiner Höhle hat keine Gültigkeit mehr.« Kalt blickte er den Erdenmenschen an_ »Ich hoffe, dass Guma Sco Pi nicht dort ist, sonst kann ich nicht für ihre Sicherheit garantieren.« Er ging an des Menschen vorbei, ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Die Wunden in den Armbeugen waren wieder aufgebrochen, und die Verbände färbten sich rot. Er erhob sich in die Luft. Schwankend schloss er sich den anderen Nargen an, die alle einer Richtung entgegenstrebten: der Höhle des Suprio.
Mit aller Kraft stemmte Scobee das Regal hoch. Der Suprio lag begraben unter einem Sammelsurium von Gegenständen, die im krassen Gegensatz zu dem standen, was die Menschen bislang über die Nargen gewusst hatten. Ein kunstvoll gestalteter Globus des Planeten; zwei millimeterdünne Bildschirme, nun zerbrochen; Eingabegeräte mit achtzig, neunzig Tasten; Flügel-Prothesen aus golden schimmerndem Metall; ein Ölgemälde mit rotbraunem Rahmen; Sprechgeräte; Multifunktionsuhren; Flugtornister; ein Tiegel mit Salben; ein Schrank voll mit Tabletten, Hochdruckspritzen, Cremes, Pulvern, vierfingrigen Handschuhen und Verbandszeug; eine Beinprothese mit kompliziert gesteuerter Motorik; ein... Scobee achtete nicht mehr darauf, was sie in die Hand bekam. Sie räumte die teilweise zu Bruch gegangenen Relikte einer untergegangenen Zeit beiseite und befreite den Körper des Suprio. Er ächzte leise, brachte aber kein Wort hervor. Ein grauer Schleier lag über den sonst so ausdrucksvoll schwarzen Augen. Dennoch meinte sie, Caars vorwurfsvollen, durchdringenden Blick zu spüren. Scobee griff unter seine Schulter und richtete ihn vorsichtig auf, sodass er nicht mehr auf den gebrochenen Flügeln lag. Die dünne, ledrige Haut knisterte unter ihren
Fingern, und die so fragilen, nunmehr zerschmetterten Knochen waren darunter zu spüren. Was hatte den alten Nargen angetrieben, welche unheilige Kraftquelle hatte ihn so lange am Leben erhalten? Scobees Zorn war verflogen. Das habe ich nicht gewollt!, dachte sie, und wischte Caar eine schmale Bahn des gelblichen Tränensekrets aus einer tiefen Falte entlang des Riechorgans. Der Narge schnappte nach Luft und hustete schwach. Er versuchte, etwas zu sagen, doch seine Stimme versagte. Die GenTec raffte hastig einige bunte Stoffbahnen zusammen, die unter dem Wirrwarr des zerstörten Regals lagen, und bettete Caars Kopf darauf. Sie musste Hilfe holen - oder würden die Nargen nicht ohnehin herbeiströmen? Was konnten diese morphogenetischen Felder und was konnten sie nicht? Neu gewonnenes Wissen fließt von einem Nargen auf alle anderen über, aber dieser Narge hier steht augenscheinlich außerhalb dieses Systems - wie man unschwer am Inhalt seiner Höhle erkennt. Sie lernen rascher, als es ein Mensch jemals könnte, und trotzdem ist ihre Zivilisation binnen weniger Generationen degeneriert. Sie geben Wissen und Erfahrung weiter, und dennoch behalten sie ihre kleinen Geheimnisse. Fragen über Fragen -und der einzige, der Antworten darauf geben könnte, ist schwer verletzt. »Lass sofort den Suprio los, sonst... ! « Das Wort »sonst« stand als lebensgefährdende Drohung im Raum. Im Eingang der Höhle flatterten fünf, sechs Nargen nervös mit ihren Flügeln. Immer mehr von ihnen landeten dahinter, bis sie mit ihren gelben, orangefarbenen und roten Körpern die Sicht nach draußen vollends versperrten. »Es war ein Unfall, ihr müsst mir glauben! «, keuchte Scobee. »Er hat mich mit einer Waffe angegriffen, und ich wollte mich nur verteidigen.« Die Nargen schienen sie nicht zu hören. Langsam rückten sie näher...
»Lasst den Guma in Ruhe«, sagte Jiim auf Englisch - und wiederholte die Aufforderung in der Sprache seines Volkes. Rücksichtslos schob er seine kräftige, rote Gestalt in den Vordergrund, breitete die Flügel aus und schützte Scobee damit vor der Masse seiner Artgenossen. Einer der zuvorderst befindlichen Vogelmenschen zischte hasserfüllt in seine Richtung: »Warum hilfst du dem bösen Guma? Er hat den Suprio verletzt und soll dafür büßen! Was soll aus uns werden, wenn Caar stirbt?« Der orangefarbene, untersetzte Narge griff sich schmerzerfüllt an den Kopf. »Spürst du nicht, wie alle Ordnung verloren geht? Wie sich alles verwirrt?«
»Natürlich spüre ich es, Keeschna! Aber warum verurteilst du jemanden, bevor du ihn angehört hast? Sieh dich doch um, was der Suprio vor uns verborgen hat! All diese... namenlosen Dinge.« Jiim senkte die Flügel. Trotz seiner Jugend war er in den letzten Thgen zu einer beeindruckenden Persönlichkeit gereift. Er fuhr fort: »Ist er denn ein guter Suprio? Wer von euch ist wirklich überzeugt, dass ich und die anderen Jäger das Kiin-tu verdient haben? Fragt Chex, wie er von Caar zu einer falschen Aussage gezwungen wurde, um mich loszuwerden! « Unruhe entstand, als sich Chex und sein Elter Frings nach vorne drängten. »Caar hat Recht«, wisperte er und senkte beschämt den Kopf. Zuerst war Stille, dann kam betroffenes Geflüster auf. »Jiim, es ist dennoch der Suprio, der hier stirbt! Wir brauchen den Suprio!« Keeschna hielt sich den Kopf und fiel schwer auf die Knie. »Wir brauchen Caar!«, schluchzte er. »Noch lebt er«, erwiderte Jiim. »Kümmert euch um ihn. Bringt Kräuter, Wundblätter und brüht Wasser auf. Du bist doch ein erfahrener Heiler, Keeschna! Lege ihn auf die Strohballen, taste seine Knochen ab und reinige seine Wunden. Vielleicht können wir sein Leben retten. Chex und Frings, ihr bringt den Guma zurück in mein Nesthaus. Ihr anderen verlasst die Behausung des Suprio. Es wird stickig hier drinnen, ihr nehmt uns die Atemluft. Alle, die in der Höhle nichts verloren haben, verschwinden. Sofort!« So unglaublich es auch war: die Nargen gehorchten! Sie verließen die Höhle einer nach dem anderen. Manche mit bedenklichen Orientierungsschwierigkeiten. Doch wie Jiim sehen konnte, erwischten alle den notwendigen thermischen Aufwind und flogen zurück zur Siedlung. Auch Jiim spürte die schreckliche, bedrohliche Leere in seinem Inneren. Die Omnipräsenz des Suprio, derer er sich erst heute vollends bewusst geworden war, schwand von Sekunde zu Sekunde. Er wandte sich an den Guma. Eigentlich die Guma, verbesserte er sich. Er konnte dieses faszinierende Phänomen der Zweigeschlechtlichkeit noch immer nicht richtig einordnen - doch momentan hatte er andere Sorgen. »Chex und sein Elter werden dich zurückbringen, Guma Sco Pi. Sie bürgen mit ihrem Leben für deine Sicherheit.« Ein beiläufiger Blick auf seinen Freund ließ diesen zusammenzucken. »Du kannst dich auf mich verlassen, Jiim. Ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen«, flüsterte Chex und griff sich an den Kopf. Auch er litt sichtlich unter innerer Leere und Desorientierung, doch er folgte dem Befehl. Scobee drehte sich nochmals zu Jiim um, flüsterte ein heiseres »Danke!« in seine Richtung, und schwang sich dann auf den Rücken von Chex. Keeschna hatte zwischenzeitlich Caars zerbrechlichen Körper weiter in die Höhle hineingetragen und auf ein schmutziges, verwahrlostes Strohlager gebettet. Der Suprio schien keinen gesteigerten Wert auf Hygiene zu legen. Jiim war mit einem Mal allein. Allein mit seinen Gedanken und den fremden Gegenständen, die ihn einerseits verwirrten und ihm andererseits ein merkwürdiges Gefühl der Vertrautheit vermittelten.
Ist das unser... Erbe? Die Reste unserer alten Hochkultur? Behutsam und ehrfürchtig
nahm er ein Ding nach dem anderen, hielt es vor die Augen und lauschte in sich
hinein. Bei manchen Gegenständen kamen vage, verschüttete Erinnerungen in ihm
auf, bei anderen spürte und sah er gar nichts.
Er griff nach einem der größten Gegenstände und...
Bei Sermon! Das ist... das ist...
Mit einem Mal wusste er, was er in der Hand hielt. Doch nicht nur dieses Wissen
floss auf ihn über, sondern noch mehr. Viel, viel mehr. Alles.
»Scob, dem Himmel sei Dank, dass du wieder hier bist! Wir haben uns schon die größten Sorgen gemacht...« Cloud half der Frau vom Rücken des roten Vogelmenschen herab. An einem Flaumbüschel im Nacken erkannte er, dass es Chex war, der sie brachte. Sein Elter Frings war ebenfalls gelandet, hielt jedoch respektvollen Abstand zu den Menschen. »Was ist passiert?« Die GenTec kam rasch wieder zu Atem und schilderte ihre Erlebnisse in der Höhle des Suprio. Sie schloss mit den Worten: »Es ist allein die Autorität Jiims, die uns das Leben garantiert. Die Nargen sind auf eine ungewöhnliche Art und Weise mit dem Suprio verbunden. Wenn Caar ohne einen Nachfolger stirbt, ist auch der gesamte Volksstamm in Gefahr. Dies hängt sicherlich mit der Existenz der morphogenetischen Felder zusammen. Die Vogelmenschen sind orientierungslos, haben Koordinationsprobleme und fühlen, laut Chex, eine innere Leere, die Todessehnsucht auslöst.« John blickte nach draußen. Wahrscheinlich mehr als hundert Nargen flogen rund um Jiims Behausung und ließen sie nicht mehr aus den Augen. Wütende, grelle Schreie erklangen, aber auch solche, die von Angst und Panik erfüllt waren. »Ich fürchte, die Worte Jiims werden die Nargen nicht endlos davon abhalten, uns anzugreifen. Sie suchen einen Schuldigen, einen Sündenbock«, sagte Cloud. »Werden sie es wagen, die Götterboten anzugreifen?«, fragte Jarvis. »Seit der Verletzung Caars sind die herkömmlichen Werte ohne Bedeutung. Schließlich haben sie auch die tabuisierte Höhle des Suprio betreten. Ihr hättet die Vogelmenschen sehen müssen. Sie wirkten ganz... verändert.« Von oben erklang heftiger Lärm. Ein Narge hackte ganz offensichtlich mit einem Gegenstand auf das Holz des Daches ein. Staub rieselte herab. Das Getöse wurde immer lauter, immer mehr Vogelmenschen landeten und schlugen auf das Gebälk ein. Das Haus schwankte zunehmend. Eine schmale Speerspitze bohrte sich durch den Spalt zwischen zwei Stämmen. Sonnenstrahlen stachen mit einem Mal durch ein Dutzend Stellen im Dach. Immer ungestümer wurden die Angriffe.
Ein kurzer Balken löste sich und fiel polternd herab. Mit einem Sprung brachte sich
Resnick aus der Gefahrenzone. Die vier Menschen drängten sich dicht aneinander.
Chex und Frings hatten sich in die Luft geschwungen und versuchten, die Nargen
vom Dach zu verscheuchen. Auch die Jäger Alef, Cur und Pheens standen ihnen zur
Seite, doch gegen die von Wut und Panik erfüllte Übermacht waren sie chancenlos.
Cloud sah Scobee an. »Ein bisschen Angst könnte jetzt nicht schaden...«
Ein weiterer Balken löste sich, knallte wuchtig herab und riss zwei Bodendielen aus
der Verankerung. Das Haus legte sich schief und drohte, auseinander zu brechen und
Stück für Stück in die Tiefe zu stürzen.
Die Menschen klammerten sich verzweifelt an die raue Borke des Hauptstammes.
Scobee rief über den Lärm der Angreifer hinweg: »Ich beginne, mich ausführlich mit
diesem Gefühl auseinander zu setzen.«
Und gerade, als sich die letzten Stricke zu lösen drohten, als immer mehr Holzbalken
in die Tiefe stürzten und sich das Haus buchstäblich auflöste, donnerte eine laute
Stimme über das Geschehen hinweg: »Hört sofort auf! Ich, Jiim, befehle es euch!«
Noch folgten vereinzelte Schläge, dann aber kehrte abrupt Ruhe ein. Cloud blinzelte
gegen den herabbröselnden Staub und das Licht der im Zenit stehenden Sonne.
Jiim schwebte hoch oben, wurde ohne sichtbare Bewegung in der Luft gehalten.
Brust, Rumpf und Flügel waren von einer metallenen, golden schimmernden Rüstung
bedeckt. Der Schein der Sonne zauberte eine grelle, fließende Aura um den Körper
des Nargen.
»Schaut her, schaut das Erbe der Vergangenheit!«, schrie der Narge.
Er löste sich in einer Kaskade aus irrlichternden Feuerstrahlen auf - wie ein Engel.
Und Cloud wurde unter herabstürzendem Gebälk begraben.
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