Lene Gammelgaard
Die letzte Herausforderung Wie ich die Tragödie am Mount Everest überlebte
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Lene Gammelgaard
Die letzte Herausforderung Wie ich die Tragödie am Mount Everest überlebte
scanned 11/2008 corrected 1/2009 Zwischen Himmel und Hölle – der tragische Todeskampf auf dem Dach der Welt. Der Mount Everest gilt als eine der größten menschlichen Herausforderungen. Voller Abenteuergeist war Lene Gammelgaard im Frühjahr 1996 aufgebrochen, um als erste Skandinavierin den höchsten Berg der Welt zu bezwingen – und verlor in der Eishölle beinahe ihr Leben: Beim Abstieg geriet sie mit ihren Gefährten in einen wütenden Sturm. Hilflos mußte sie zusehen, wie acht Bergsteiger starben – darunter auch der berühmte Bergführer, ihr Freund Scott Fischer. ISBN: 3-548-36254-0 Original: Climbing High Aus dem Amerikanischen von Annika Tschöpe Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 2001 Umschlaggestaltung: Hilden Design, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
»Wir wußten von Anfang an, daß wir mit unserem Leben spielten«, bekennt Lene Gammelgaard, eine Überlebende der tragischen Mount-Everest-Expedition von Scott Fischer im Jahr 1996. Die Dänin erreichte als erste Skandinavierin den höchsten Punkt der Erde. Doch im Augenblick ihres größten Triumphes ahnte sie nichts von der sich anbahnenden Katastrophe: Ein Schneesturm kostete beim Abstieg acht ihrer Gefährten das Leben. Nur ihrer schieren Willenskraft hat Lene Gammelgaard es zu verdanken, daß sie der Eishölle entkam. Mit schweren Erfrierungen überlebte sie die Tragödie im Himalaya. Ihr mitreißender Bericht gehört zu den faszinierendsten und spannendsten Zeugnissen der Bergsteigerliteratur.
Autorin
Lene Gammelgaard, Jahrgang 1961, gehört zu den weltweit erfolgreichsten Bergsteigerinnen. Die Journalistin, Rechtsanwältin und Therapeutin lebt in Kopenhagen und arbeitet heute als Motivationstrainerin.
Lene Gammelgaard
Die letzte Herausforderung Wie ich die Tragödie am Mount Everest überlebte Aus dem Amerikanischen von Annika Tschöpe
Ullstein
Für alle Kinder dieser Welt, die ihre Eltern an die Berge verloren haben
Der Ullstein Taschenbuchverlag ist ein Unternehmen der Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München 1. Auflage 2001 © 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München © 1999 für die deutsche Ausgabe by Verlagshaus Goethestraße GmbH & Co. KG, München © 1999 by Lene Gammelgaard Titel der amerikanischen Originalausgabe: Climbing High (Seal Press, Seattle, USA) Übersetzung: Annika Tschöpe Umschlagkonzept: Lohmüller Werbeagentur GmbH & Co. KG, Berlin Umschlaggestaltung: Hilden Design, München Titelabbildung: oberes Bild: Thomas Ulrich, adventure photography, Interlaken; unteres Bild: Jürgen Winkler, Penzberg So nicht anders vermerkt, stammen die Fotos des Innenteils aus dem Privatarchiv der Autorin. Satz: Josefine Urban – KompetenzCenter, Düsseldorf Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-548-36254-0
Inhalt
Vorwort......................................................................... 9 Prophezeiung ............................................................. 18 Nepal: Sommer 1991 ....................................................18 Basislager am Mount Everest: 4.4. 1996 ......................19 1. Entscheidung .......................................................... 20 Die Einladung: Sommer 1995 ......................................20 Basislager am Broad Peak 16.8. 1995 ..........................24 Vorbereitungen, Route und Programm: Sommer 1995 bis Frühjahr 1996 ..........................................................26 Die Erlaubnis: Frühjahr 1996 .......................................36 Mentales Training ..........................................................39 Besessenheit ...................................................................44 Unsicherheit ...................................................................46 2. Ankunft................................................................... 49 Abflug in Kopenhagen: 23.3. 1996 ..............................49 Katmandu: 24.–28.3. 1996 ...........................................57 Namche Bazaar: 29.–31.3. 1996 ...................................87 Dengboche: 2.–4.4. 1996 ..............................................94 Gorak Shep: 7.4. 1996................................................ 106 3. Am Berg ................................................................ 111 Basislager am Mount Everest: 8.–9.4. 1996 .............. 111 Khumbu-Eisbruch: 10.4. 1996 .................................. 133 Basislager: 11.–15.4. 1996.......................................... 141 Lager II: 19.4. 1996..................................................... 151 Basislager: 20.–22.4. 1996.......................................... 169
Vom Basislager zum Lager II: 23.4. 1996 ................. 177 Von Lager II zu Lager III: 27.–28.4. 1996.................. 189 Basislager: 30.4.–5.5. 1996......................................... 200 4. Der Gipfel ............................................................. 212 Vom Basislager zum Lager II: 6.5. 1996 .................... 212 Lager II: 7.5. 1996 ....................................................... 218 Von Lager II zu Lager III: 8.5. 1996 ........................... 222 Von Lager III zu Lager IV: 9.5. 1996 .......................... 226 Von Lager IV auf den Gipfel: 9.–10.5. 1996 ............. 240 Abstieg vom Gipfel: 10.5. 1996 ................................. 258 Auf dem Südsattel verirrt ........................................... 263 Lager IV: 11.5. 1996 ................................................... 271 Von Lager IV zu Lager II: 11.5. 1996 ......................... 278 5. Nach dem Sturm................................................... 284 Lager II: 12.5. 1996..................................................... 284 Basislager: 13.5. 1996 ................................................. 287 Die Gedenkzeremonie: 14.5. 1996 ........................... 289 Basislager: 15.–20.5. 1996.......................................... 289 Syangboche-Landebahn oberhalb von Namche Bazaar: 20.5. 1996 ................................................................... 290 Nach dem Mount Everest ......................................... 293 Nachwort .................................................................. 296 Anhang ..................................................................... 298 Teammitglieder der Sagarmatha-Umweltexpedition 1996 ............................................................................. 298 Glossar ......................................................................... 299 Danksagung.............................................................. 304
Ich habe gelernt, die Verantwortung für große Schwierigkeiten zu übernehmen, und bleibe mir selbst immer treu. Reinhold Messner
Vorwort
Im Frühjahr des Jahres 1996 bestieg ich den Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, und war somit die erste Frau aus Skandinavien, die je auf dem Gipfel stand. Ich gehörte zum Team der SagarmathaUmweltexpedition, die von dem international bekannten und geschätzten amerikanischen Bergsteiger Scott Fischer geleitet wurde. Was die krönende Bergbesteigung meines Lebens in Begleitung Gleichgesinnter werden sollte – unser charismatischer Führer Scott war bekannt dafür, daß er Teams * zusammenstellte, mit denen Spaß und Abenteuer garantiert waren –, wurde überschattet von einer Tragödie. Die Ereignisse, die sich am 10. und 11. Mai 1996 oben auf dem Mount Everest abspielten, wurden auf der ganzen Welt bekannt. Während die Kletterer aus Scotts Team und aus dem Team, das von dem neuseeländischen Führer Rob Hall geführt wurde, noch auf dem Gipfel waren oder sich gerade an den Abstieg machten, wurde der Berg von einem heftigen Unwetter heimgesucht. Innerhalb von achtundvierzig Stun*
Die vollständige Liste der Expeditionsteilnehmer findet sich im Anhang. 9
den gab es eine noch nie dagewesene Zahl an Todesopfern. Fünf Menschen auf der South Col Route und drei auf der North Col Route kamen in dem Unwetter um, darunter auch mein lieber Freund Scott. In der Klettersaison des Frühjahrs 1996 starben am Mount Everest insgesamt zwölf Menschen. Wegen des Ausmaßes dieser Katastrophe wurde in der Presse unglaublich ausführlich darüber berichtet. Für uns, die wir bei der Bergbesteigung dabeigewesen waren, und für diejenigen, die geliebte Menschen auf dem Berg verloren hatten, war die Beharrlichkeit der Medien manchmal schrecklich. In den folgenden Wochen und Monaten versuchte jedes Teammitglied für sich, mit seinen oder ihren persönlichen Erlebnissen während der Tragödie zurechtzukommen. Unterdessen drängte der Rest der Welt darauf, Details zu erfahren: Was ist dort oben wirklich passiert? Und auf diese Frage gibt es natürlich keine einfache Antwort. Seit dieser schicksalhaften Bergbesteigung im Mai sind drei verschiedene Bücher über die Mount-EverestKatastrophe geschrieben worden, einschließlich des vorliegenden, das im Herbst des Jahres 1996 in Dänemark herauskam – als allererster Bericht in Buchform. 1997 erschien »Into Thin Air« – 1998 deutsch unter dem Titel »In eisige Höhen« – von Jon Krakauer (der Rob Halls Team »Adventure Consultants« angehört hatte) und wurde über Nacht zu einem Bestseller in den Vereinigten Staaten. Zuletzt schließlich schrieb 10
Anatoli Boukreev, der weltbekannte Bergführer, der bei der Leitung von Scotts Team geholfen hatte, selbst einen Bericht, der 1998 unter dem Titel »The Climb« * , deutsch »Der Gipfel«, veröffentlicht wurde. Jedes Buch hat einen eigenen Blickwinkel auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Mount-EverestBestei-ger und auf die Ereigniskette, die den Triumph zur Katastrophe werden ließ. Und jedes liefert Einblicke in jene Kombination aus Faszination und Angst, die die Bezwingung des höchsten Gipfels der Welt mit sich bringt. Der Grund dafür, daß Bergsteiger sich durch nichts abschrecken lassen, scheint mir darin zu liegen, daß sie aus jeder Tragödie, die sich ereignet, ihre Lehren zu ziehen versuchen. Aber die wirkliche, letztgültige Lehre ist eigentlich, daß die Natur sich eben nicht kontrollieren läßt. Und für diese Erkenntnis, auf welch schmerzliche Art ich sie auch lernen mußte, bin ich dankbar. Ich bin auf dem Gipfel des Mount Everest gewesen – des Berges, den die Tibeter Chomolongma oder göttliche Mutter der Erde nennen –, und ich hatte das Glück, die Expedition zu überleben und darüber berichten zu können. Ich empfinde ungeheuren Respekt für diesen furchteinflößenden Berg – und Liebe. Ich hatte das Ziel, mich selbst auf die Probe zu stellen, und ich hatte die Ehre, daß der größte Berg der Welt mir meine wahre Größe gezeigt hat. *
Koautor des Buches ist Gary Weston DeWalt. 11
Meine Einstellung zum Bergsteigen ist noch immer die gleiche wie damals, als ich beschloß, mich der Herausforderung des Mount Everest zu stellen: Man muß lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Die höchsten Gipfel der Welt sind in dieser Hinsicht ausgezeichnete Lehrmeister. In der sogenannten Todeszone oberhalb von 7 900 Metern muß man einfach wissen und voll und ganz akzeptieren, daß »hoch hinaus zu wollen« ein Spiel auf Leben und Tod ist. Es kann eine außergewöhnliche und zutiefst befriedigende Erfahrung sein, doch steht die unentrinnbare Tatsache fest, daß man auch mit dem Tod rechnen muß. Des weiteren darf man nicht erwarten, daß einem irgend jemand hilft, wenn man einmal dort oben ist. Dein Schicksal liegt dort in deinen eigenen Händen, deinen eigenen Füßen. Natürlich gibt es ungeschriebene Gesetze für das Verhalten am Berg, und es gibt immer wieder spektakuläre Rettungsaktionen. Aber alles, was man tut oder läßt, ist letzten Endes die eigene Entscheidung. Man ist für sich selbst verantwortlich – aber ist das im Leben eigentlich nicht immer so? *** Ich war schon immer auf der Suche, geleitet von dem ununterdrückbaren Drang, die vorgegebenen Grenzen meiner kleinen Welt zu überschreiten. Als junges Mädchen fiel ich meinen Eltern auf die Nerven, weil ich alles in Frage stellte: Normen, soziale Anpassung, Geschlechterrollen, das Schicksal selbst. Als Erwachse12
ne bin ich wegen meiner Lebensweise oft auf Ablehnung gestoßen, was zweifellos damit zu tun hatte, daß ich eine Frau bin. Oft wurde mir gesagt, ich könne oder solle dieses oder jenes nicht tun, weil ich eine Frau sei. Ich tat es trotzdem. Ich hatte nie das Gefühl, eine Wahl zu haben – ich bin einfach so. Seit gut zwanzig Jahren schreibe ich in kleinen schwarzen Notizbüchern über die Welt, die mich umgibt. Mein innerstes Wesen drängt mich, mit Hilfe von Worten die Realität wiederzugeben. Ich bin Schriftstellerin. Als ich mich also entschloß, den Mount Everest zu besteigen, schrieb ich. Ich schrieb, bevor ich Dänemark verließ, ich schrieb im Basislager, ich schrieb auf dem Berg, und ich schrieb, nachdem sich die Tragödie in ihrem ganzen Ausmaß ereignet hatte. Unmittelbar nach der Besteigung brauchte ich unbedingt Zeit für mich selbst, um das Geschehene verarbeiten zu können. Auf dem Heimweg vom Himalaya nach Dänemark machte ich auf einer einsamen Insel in Thailand Station. Ich lebte zwei Wochen in vollkommener Isolation und versuchte, die Tatsache zu verarbeiten, daß meine größte sportliche Herausforderung und mein großartiges Abenteuer zu einer entsetzlichen Tragödie geworden waren. Ich fühlte mich gleichzeitig extrem hilflos und gefühllos. Als ich zu schreiben versuchte, konnte ich nur einen einzigen Satz bilden: »Scott ist tot.« Das war alles, was ich ausdrücken konnte, bis ich mit der Arbeit an diesem Buch begann. Als ich nach Dänemark zurückgekehrt war, versuch13
te mein dänischer Verleger Stig Andersen, mir mit zahlreichen Ratschlägen zu helfen, das Buchprojekt voranzubringen. Weil ich nicht darauf eingehen konnte, sagte ich ihm schließlich, er müsse auf meinen inneren Kreativitätsprozeß bauen, Vertrauen haben und mich eine Weile in Ruhe lassen. Ich wußte, daß das Buch in meinem Inneren bereits geschrieben war. »Dieses Buch ist fertig, das fühle ich. Es muß nur noch niedergeschrieben werden.« Den Spätsommer 1996 verbrachte ich in Schreibklausur. Dort tippte ich vom frühen Morgen bis zum späten Abend. In der Abgeschiedenheit gelang es mir endlich, die stummen Schreie aus meinem Inneren zutage zu fördern. Schreie der Trauer und Wut und ein Gefühl der Verzweiflung – eine Gier nach Leben folgte auf so viel Eis und Tod. Es war ein schmerzlicher Prozeß, der mich zwang, mich all meiner Schutzmechanismen zu entledigen und mich der Wirklichkeit des Geschehenen zu stellen. Scott war tot, doch ich saß hier Tag für Tag und erweckte ihn mit meinen Worten wieder zum Leben. Ich konnte seine Stimme hören und ihn grinsen sehen. Der Akt des Schreibens erwies sich als tröstlich und erlösend, als ein Mittel, meine Trauer zu verarbeiten und langsam das Geschenk meiner Bergerfahrungen wiederzuentdecken: die reine Freude an der Begegnung mit der Natur. Ich habe versucht, in diesem Buch als Kameralinse zu fungieren, die Dinge, die ich selbst erlebt und mit eigenen Augen gesehen habe, aufzuzeichnen und meine Teamkollegen so darzustel14
len, wie ich sie wahrgenommen habe. Jeder Leser wird sich natürlich selbst eine Meinung bilden, und mir ist klar, daß ich als Schriftstellerin und Bergsteigerin nicht vollkommen objektiv sein kann. Das kann niemand – besonders nicht bei Sauerstoffmangel in extremer Höhe. Nicht nur den Tod und die Tragödie möchte ich vermitteln, sondern auch die majestätische Schönheit der hohen Berge und die unglaubliche Erfahrung, sich vom Mount Everest herausfordern zu lassen. Der starke Wille und die persönliche Disziplin, die erforderlich sind, um es mit diesem Berg aufzunehmen, sind ein Teil dieser Erfahrung. Doch gehört auch die menschliche Verbindung mit anderen Bergsteigern dazu, die nie frei von Fehlern, aber dennoch phantastische Menschen sind. Ich möchte meine Liebe zu den Bergen, zu ihrer schroffen Wildheit, in der ich mich zuhause fühle, anderen mitteilen. Wenn ich von einer Bergbesteigung zurückkomme, fühle ich mich wie neugeboren – als besserer Mensch, stärker und besser gerüstet, das Leben mit seinen Ungewißheiten zu bewältigen. Heute bin ich dankbar für die unbezahlbaren Lektionen, die mir die Berge erteilt haben, und für all die Abenteuer, die ich gemeinsam mit meinen Teamkollegen erlebt habe – mit Scott, mit Anatoli, der im Jahre 1997 auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, und mit Lopsang Jangbu Sherpa, der wenige Monate nach unserer Bergbesteigung von einer Lawine auf dem Mount Everest getötet wurde. Ich bin dankbar für 15
die neuen Dimensionen, die diese Leute meinem Dasein verliehen haben, und immer weniger wütend darüber, daß sie nicht mehr da sind, um mit mir Spaß zu haben, mich herauszufordern, mir neue Wege in den Bergen und in meinem Leben zu zeigen. Ich fühle mich noch immer einsam ohne sie, ich weine noch immer. Aber heute versuche ich, das fortzuführen, was sie so gut konnten – für andere Menschen Abenteuer zu schaffen. Ein Weg, dies zu tun, bestand in der Herausforderung, alle Erlebnisse niederzuschreiben. In den ersten Monaten nach der Veröffentlichung des Buches in Dänemark fühlte ich mich schrecklich verwundbar. Es ist eine Geschichte über reale Menschen und keine Fiktion, und daher hatte das, was ich schrieb, auch Konsequenzen in der Realität. Ich zweifelte an meiner Fähigkeit, ein wahres Bild der Ereignisse zu zeichnen und mit einigen Mythen über das Bergsteigen aufzuräumen, die schnell die Tatsachen verzerren. Denn ich wollte auf keinen Fall meine MitBergsteiger und mich selbst der Kritik von Leuten aussetzen, die nicht dabeigewesen waren. Schließlich kam ich jedoch zu der Einsicht, daß dieses Buch mein eigener Bericht ist, und nur meiner. In Dänemark war die Reaktion der Öffentlichkeit auf »Die letzte Herausforderung« überwältigend positiv, und ich bin den vielen Leuten zutiefst dankbar, die Zeit und Mühe geopfert haben, um mich anzurufen, mich auf der Straße anzusprechen und mir zu schreiben, wie sehr sie das Buch begeistert hätte. Man hat mir gesagt, ich sei ein Vorbild für junge Mädchen, 16
die Träume verwirklichen wollen, die nicht so konventionell sind, wie man es von ihnen erwartet – eine Verantwortung, die ich sehr ernst nehme. Denn mit »Die letzte Herausforderung« habe ich nicht so sehr das Ziel verfolgt, ein weiteres Buch über das Bergsteigen zu schreiben. Davon gibt es schon genug. Ich hoffte vielmehr, es würde mir gelingen, Menschen dazu anzuregen, ihr eigenes Leben genauer zu betrachten und sich zu fragen, ob sie ihre Träume ausleben oder sie nur vor sich herschieben. Ich bin der Überzeugung, daß das Leben dazu da ist, voll und ganz gelebt und vierundzwanzig Stunden am Tag erfahren zu werden. Man sollte nicht zögern, die innersten Bestrebungen zu erfüllen. Man muß sein Ziel verfolgen und den Mut haben, nicht lockerzulassen, selbst im Angesicht des Scheiterns. Die Fähigkeit, aus Fehlschlägen zu lernen und durch Verlust zu wachsen, ist ein wichtiger Bestandteil jedes Bemühens, ganz gleich, wie der jeweilige Traum aussehen mag. Ich habe die Hoffnung, daß alle Leser sich von diesen Seiten inspirieren lassen. Vielleicht wird meine Geschichte sie ermutigen, ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Denn wenn man seine Grenzen niemals auslotet, woher will man dann wissen, wo sie liegen? Lene Gammelgaard Dänemark Januar 1999
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Prophezeiung
Nepal: Sommer 1991 Das Unverdorbene, das Unbekannte war es, was ich suchte, als die Zigeunerin und die Abenteurerin in mir das Bedürfnis verspürten, die Beschränkungen des Alltags hinter sich zu lassen. Die Aborigines in Australien nennen das »walkabout« – sie lassen ihre Arbeit liegen, wandern im Einklang mit der Natur monatelang im Busch herum, kehren schließlich zurück und setzen das Leben einfach fort, als wären sie gar nicht weggewesen. Nach drei Monaten, in denen ich meine Belastungsgrenze auf größerer Höhe ausgetestet hatte, als Europa bieten kann, war für mich die Zeit gekommen, nach Hause zurückzukehren, Risiko und Abenteuer hinter mir zu lassen, erwachsen zu werden, reifer zu werden. Zu lernen, wie man friedlich lebt, und in dem alltäglichen Leben, das im Dasein der meisten Menschen vorherrscht, Gelassenheit und Zufriedenheit zu finden. Ich glaube, ich war ein wenig erleichtert, als ich begriff, daß die hohen Berge von Verrückten bevölkert waren, von Leuten, die offenbar nicht fähig waren, im Leben Befriedigung zu finden. Andererseits war ich auch ein bißchen enttäuscht von meiner eigenen 18
Durchschnittlichkeit – weil ich offensichtlich nicht diesen besonderen Drang hatte. Aber diese Gefühle gestand ich nur mir selbst ein. Ich wußte tief in meinem Inneren, daß es absolut dumm war, unter Einsatz meines Lebens zu versuchen, den höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen. Ich war nicht der Überzeugung, daß auf der Spitze dieses Berges die Glückseligkeit läge, und ich war auch nicht der Überzeugung, daß ich selbst und mein Leben sich ändern oder bessern würden, wenn ich einmal oben gestanden hätte. »Du wirst zurückkommen und den Mount Everest besteigen«, sagte mir ein älterer Bergsteiger aus Großbritannien. Ich konnte seiner Prophezeiung nicht zustimmen, war aber von dem Bild, das er von mir hatte, so geschmeichelt, daß ich nichts entgegnete.
Basislager am Mount Everest: 4.4. 1996 »Wäre es nicht toll, wenn wir diese Expedition ohne Verletzungen oder größere Unfälle hinter uns bringen könnten?« fragt Scott bei einem Becher Starbucks-Kaffee. Ich gebe keine Antwort. Wir wissen beide: Was passiert, passiert. Aber es ist ein gutes Gefühl, wieder hier zu sein. Toll, wieder in Nepal zu sein. Wieder im Land der Sherpas zu sein. Hier fühle ich mich zuhause. Heute, im Basislager – wo ich an die Kette von Ereignissen zurückdenke, die mich wieder zum Mount Everest gebracht haben –, bin ich glücklich. 19
1. Entscheidung
Die Einladung: Sommer 1995 Es ist früh am Morgen auf dem Baltoro-Gletscher in Pakistan. Scott und ich sind auf dem Weg nach Concordia, einer riesigen Kreuzung aus einigen der größten Gletscher, die es im Himalaya gibt. Ich habe einen Monat in Pakistan verbracht und bin ins Basislager am Broad Peak in der Karakorumkette getreckt. Der Broad Peak (8 047 Meter), direkt neben dem berüchtigten K2, ist das Ziel von Scotts nächster Expedition. Ich bin gerade dabei, das Basislager zu verlassen, um mich mit meinem Team zu treffen und den steilen GondogoroLa-Paß hinaufzusteigen. Scott besteht darauf, mich auf der zweistündigen Wanderung zu begleiten. Enorme Massive umgeben uns: Gasherbrum II, III und IV, Mitre Peak, Chogolisa, Broad Peak, und hinter uns die charakteristische Pyramidenform des K2. Und hier auf dem Gletscher, kurz bevor sich unsere Wege trennen, stellt Scott mir die Frage, die mein Leben verändern wird. »Willst du im Frühjahr 1996 mit mir auf den Mount Everest gehen?« Ich brauche von dem Augenblick, in dem die Nach20
richt die Rezeptoren meines Hirns erreicht hat, nur eine Sekunde, um meine Antwort zu formulieren: »Ja!« Keine spontanen Zweifel. Nichts. Nur innere Gewißheit. Ich weiß, daß Scott diese Einladung ernst meint, und er weiß, daß ich meine Zustimmung ernst meine. Was ich sage, mache ich auch. Jetzt muß er nur noch die Broad Peak-Expedition überleben. Das, was gerade geschehen ist – seine Frage, meine Antwort – erinnert mich an etwas, was ich einmal in mein Tagebuch geschrieben habe: »Wir können das Leben feiern und das Unsichtbare sichtbar machen. Erfahren, daß unser Dasein eine Einheit ist. So kann der kreative Mensch das Leben wahrnehmen. Denn wenn wir den Punkt erreichen, an dem wir nicht mehr versuchen, die Realität zu kontrollieren, sind wir in der Lage, das, was uns widerfährt, anzunehmen, es willkommen zu heißen.« Für mich bedeutet Freiheit: zu lernen, die Realität zu akzeptieren, mit all ihren Widersprüchen und Paradoxen, die schwierigen und entmutigenden Seiten genauso wie die wundervollen, anregenden – die Freiheit der Einschränkung. Daher kann ich die Besteigung des Mount Everest hundertprozentig – ohne irgendeinen Zweifel – wollen. Mein Ja ist ein Tribut an die Kostbarkeit des Lebens. Eine Rückkehr zur Unschuld, bei der ich die Rückschläge und den Kummer der Vergangenheit hinter mir lasse. Es ist ein Ja zum Vertrauen an meine Kraft, dieses Projekt erfolgreich durchzuführen, ein Ja 21
zur Großartigkeit des Lebens, ein Ja zu der Hoffnung, daß mein Leben einen Sinn haben könnte. Und ein Ja zu der Naivität, die nicht zu meinen Lebenserfahrungen und meinem Zynismus paßt, sondern eher den Zustand der Reinheit darstellt, der auf die vollkommene Resignation eines Menschen folgen könnte. Mehrere Jahre habe ich mit Drogensüchtigen gearbeitet, die Energie meines Lebens der dunklen Seite des Daseins geschenkt, und jetzt brauche ich Input von Menschen, die es im Leben zu etwas gebracht haben. Menschen, die sich erfreuliche Ziele setzen und sie verwirklichen. Menschen, die sich selbst nicht zu ernst nehmen, weil ihre Lebenseinstellung von Erfolgen geprägt ist. Die Aussicht, den höchsten Berg der Welt mit Seelenverwandten zu besteigen, verlockt mich, wieder ans Licht zurückzukehren. Es ist ein Ja, das die Schleusen in meinem Inneren öffnet – alle blockierten Energien werden jetzt frei. Sie wollen den Mount Everest! Und wieso sollte ich den höchsten Berg der Welt nicht besteigen? Tief in mir weiß ich, daß dieser Drang mehr ist als der Wunsch, den Mount Everest zu erklimmen, daß es um mehr geht als nur darum, den Gipfel dieses Berges zu erreichen. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich mich vor der Welt versteckt habe, weil ich das Bedürfnis dazu hatte. Aber es ist offensichtlich, daß ich jetzt wachsen, mein volles Potential entwickeln muß – obwohl ich mir wünsche, der Verantwortung, die sich daraus ergibt, auszuweichen. Vielleicht bin ich ja jetzt bereit, Verantwortung 22
zu übernehmen, indem ich ein bedeutsames Leben mit einem breiteren Horizont führe. *** 13.8. 1995 Liebe Lene, viele Grüße aus Islamabad. Ich freue mich, Dir mitteilen zu können, daß Scott Fischer und zwei Klienten heute morgen um 9.05 Uhr den Gipfel des Broad Peak erreicht haben. Weitere sind auf dem Weg zum Gipfel. Wir wünschen ihnen allen viel Glück und einen guten Abstieg und senden Dir viele Grüße. Schade, daß wir uns nicht treffen konnten, als Du aus Chitral zurückgekommen bist, aber ich hatte dringende Geschäfte zu erledigen. Ich hoffe, alles ist in Ordnung – wir sprechen uns später. Ich hoffe, wir treffen uns, wenn Du das nächste Mal in Pakistan bist. Alles Gute, Abdul Quddus Geschäftsführer Nazir Sabir Expeditions Später an diesem Tag hatte ich eine Mitteilung von Scott selbst auf dem Anrufbeantworter: »Ich habe den Gipfel erreicht und bin wieder heil im Basislager gelandet. Willst du immer noch das große Ding mit mir besteigen?« 23
Schließlich ist die Zeit gekommen, auf den Mount Everest hinzuarbeiten: mein Klettertraining zu intensivieren und Sponsoren zu finden, die meinen Anteil der Kosten übernehmen. Kurz nach Scotts Anruf kommt ein Brief: * Basislager am Broad Peak 16.8. 1995 Liebe Lene, vielen herzlichen Dank für Deine Briefe. Im Augenblick sieht es so aus, als ob es sieben Tote am K2 gegeben habe. Am 13. sind wir alle auf den Broad Peak gestiegen, und »Mountain Madness« ** hat sich prima geschlagen. Am späten Nachmittag kam ein schlimmer Sturm auf (wir waren bereits zu Lager III hinabgestiegen). Alle, die noch auf dem K2 waren, sind umgekommen. Um 18.00 Uhr hatten wir noch Funkkontakt – das war das letzte, was wir von ihnen hörten. Meine Freunde Rob Slater, Geoff Lakes und Alison Hargreaves sind unter den Toten. Außerdem drei Spanier und ein Typ aus Neuseeland. Der einzige Kontakt zur Außenwelt ist unser illegales Satellitentelefon. Das macht mir klar, wie *
Auszüge aus einem fünfseitigen Brief von Scott Fischer an Lene Gammelgaard, 16.8. 1995. ** »Mountain Madness« ist der Name der von Scott Fischer begründeten Firma. 24
verwundbar wir wirklich sind. Daß wir ein Spiel auf Leben und Tod spielen! Ich will nicht sterben – ich will leben … Hast Du meine Nachricht auf Deinem Anrufbeantworter erhalten? Ich hoffe es. Es ist wirklich schrecklich – Alison hinterläßt zwei Kinder. Genauso alt wie meine. (Viele Tränen.) Schlimme Sache. Laß mich nicht sterben, Lene. Sorg dafür, daß ich demütig bleibe. (Ich bin wahrscheinlich nicht demütig, aber ich sollte es sein.) Die Berge sind uns überlegen. Äußerst mächtig. Du hättest das sehen sollen, Lene, ein Wind kam auf und hat sie einfach umgebracht. Geoff Lakes kehrte um und kämpfte sich zurück zum Lager IV, aber er wurde in der Nacht von einer Lawine getötet, die sein Zelt traf. Bivvier kam runter bis zum Lager III, das er aber zerstört vorfand. Er zwang sich, hinunter bis zum Lager II zu kriechen, wo seine Freunde waren, aber in der Nacht ist er gestorben. Von den anderen ist keinem der Abstieg gelungen. Wir können auf dem Abhang eine Leiche sehen. Es ist eine ungeheure Tragödie. Alison war beim Aufstieg zum Gipfel die treibende Kraft, mit nur wenig bis gar keinem Respekt vor der Macht des K2. Der K2 hat gewonnen. Mir fällt jetzt auf, daß ich volles Vertrauen in meine Überlebensfähigkeit habe. Aber das gleiche Vertrauen hatte ich auch in die Überle25
bensfähigkeit von denen, die jetzt tot sind, und sie hatten das gleiche Vertrauen in sich selbst. Und sie sind gestorben. Ich muß aufpassen … Im Moment habe ich genug von Expeditionen. Ich werde wohl mit Wandern anfangen … Scott
Vorbereitungen, Route und Programm: Sommer 1995 bis Frühjahr 1996 Erwachsenwerden bedeutet, zu lernen, daß das Leben als reifer Mensch aus einer Reihe von persönlichen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen besteht, und zu begreifen, daß diese Entscheidungsmöglichkeiten Freiheit bedeuten. Das Wagnis einzugehen, bei dieser Form von Freiheit Verantwortung und Mühe auf sich zu nehmen, ist die Bedingung für das Leben. Mein Leben und die Zeit, die mein Leben dauert, sind meine Angelegenheit. Ich, und nur ich allein, kann entscheiden, wie ich mein Leben verbringen werde –, und für die Konsequenzen jeder Entscheidung bin ich selbst verantwortlich. Eines Tages erhalte ich einen Brief von Scott mit einer kurzen Route für den Treck und den Besteigungsplan für den Mount Everest: Wir haben das Ziel, so viele Kletterer wie möglich so sicher wie möglich auf den Gipfel zu 26
bringen. Den höchsten Berg der Welt zu besteigen wird Körper und Geist das Äußerste abverlangen. Die Spitze des Mount Everest zu erreichen ist eine der größten sportlichen Herausforderungen der Welt. Richtiges Training ist unbedingt nötig, damit wir alle gut auf diese außerordentliche Herausforderung vorbereitet sind. Auf dem Mount Everest werden die innere Einstellung und die geistige Belastbarkeit darüber entscheiden, wer den Gipfel erreicht. Das Programm sieht folgendermaßen aus: 23.3. 1996: Abflug mit Thai Air nach Katmandu, Nepal 24.–27.3. 1996: Ankunft des Bergsteigerteams. Wir treffen uns im Hotel Manang im Thamel-Viertel von Katmandu. Unser Agent vor Ort, P.B. Thapa, wird sich um die letzten Details kümmern, und die Expedition lernt unsere Höhensherpas kennen. Lopsang Jangbu Sherpa ist der Sirdar, der Führer der Klettersherpas. 28.–30.3. 1996: Hubschrauber nach Lukla (2 800 Meter). Wir ruhen uns in Namche drei Tage aus, um uns zu akklimatisieren. 27
Zusammenschluß mit der BasislagerMannschaft und den Trägern. Kontrolle von Gepäck und Ausrüstung. 31.3. 1996: »Wenn man zu Fuß in der Heimat der Sherpas ankommt, gewinnt man eine Vorstellung davon, wie es für die Juden gewesen sein muß, als sie ins Heilige Land kamen«, schreibt Mike Thompson, Anthropologe und Bergsteiger. Wir beginnen den Treck zum Basislager am Mount Everest. In etwa einer Woche werden wir 2000 Meter an Höhe gewinnen müssen. Am ersten Tag wandern wir über den Berghang entlang des Dudh-Kosi-Tals, überqueren den Fluß und steigen durch einen Pinien-, Kiefern- und Rhododendronwald höher. Hinauf nach Tengboche (3870 Meter), wo wir am Kloster von Tengboche kampieren. 1.4. 1996: Von Tengboche aus überqueren wir den Fluß Imja Khola, wandern hinauf nach Pheriche (4 270 Meter) und zum Rettungsposten der Himalayan Rescue Association. 2.4. 1996: Ruhetag in Pheriche. Eine einfache Tour nach Dengboche, um die Akklimatisierung zu verbessern. Großartige Aussicht auf die Ama Dablam und die Nuptse-Lhotse-Wand. 28
3.4. 1996: Von Pheriche aus steigt der Pfad steil zur Endmoräne des Khumbu-Gletschers an und folgt ihm bis Lobuche (4 930 Meter). Von Lobuche aus sehen wir die Südwand des Mount Everest und den Großteil der Route entlang dem Westgrat. 4.4. 1996: Wir erreichen zwei Hirtenhütten in Gorak Shep (5 170 Meter) und errichten unser Lager am Fuß des Kala Pattar. Ausblick auf Pumori, Nuptse und Mount Everest. Unsere Route folgt dem Khumbu-Gletscher, sowohl auf der Moräne als auch auf dem Gletscher selbst. 5.4. 1996: Früh aufstehen, um auf den Kala Pattar (5 554 Meter) hinaufzusteigen. Vom Gipfel aus läßt sich der Mount Everest am besten fotografieren. Wir steigen von diesem berühmten Aussichtspunkt herab und wandern auf Yak-Wegen durch das Labyrinth des Khumbu-Gletschers zum Basislager am Mount Everest. 6.–26.4. 1996: Wir kommen im Basislager am Mount Everest an (5 364 Meter) und richten uns am Gletscher unterhalb des berüchtigten Khumbu-Eisbruchs ein, wobei wir uns ausreichend Zeit zur Akklimatisierung nehmen. Wir erklettern den Eisbruch, 29
richten Lager I und II in der Western Cwm ein, erklettern die Lhotse-Wand und errichten ein Camp im exponierten Lager III. Einige Übernachtungen in Lager III (7 300 Meter), um die Akklimatisierung auf den höchsten Stand zu bringen. 27.–30.4. 1996: Das ganze Team ist in hervorragender Verfassung, und wir kehren zum Basislager zurück. Ruhe ist unsere höchste Priorität. Trekker besuchen das Team zur moralischen Unterstützung. Wir essen, ruhen uns aus und treffen letzte Vorbereitungen für den Angriff auf den Gipfel. 1.–4.5. 1996: Bereit für den Gipfelsturm. Wir steigen direkt hinauf zum Lager IL Ruhetag. Lager III und IV. Wer fit genug ist, steigt zum Lager IV im Südsattel (7 900 Meter). Hinauf zum Gipfel. 5.–7.5. 1996: Wir treten in die Fußstapfen der Legenden der Klettergeschichte. Das höchste Ziel des Bergsteigens ist erreicht. Wir erklimmen den Gipfel des Mount Everest (8 848 Meter)! 8.5. 1996: Nach dem Abstieg vom Gipfel kehren wir zurück zum Basislager und treffen Vorbereitungen für den Treck zurück. 30
15.–20.5. 1996: Wir fliegen mit dem Hubschrauber aus Syangboche los, wenn unsere Yaks mit der Expeditionsausrüstung angekommen sind. 17.–20.5. 1996: Aufenthalt im Qualitätshotel »Yak & Yeti«. Party! Und Abschied. Zuerst bin ich beim Lesen des Expeditionsplans richtig begeistert, weil es klingt, als wäre es ganz einfach, den Gipfel der Welt zu besteigen, so als könnte jeder es schaffen. Einfach nach dem Plan vorgehen, Schritt für Schritt, und man erreicht das Ziel – alles kein Problem. Dieser Plan läßt mich die Realität vergessen – zumindest eine Zeitlang. Vielleicht ist es wirklich so einfach. Vielleicht haben sie recht, diese Leute, die behaupten, jeder könne den Mount Everest besteigen. Aber die meisten dieser Leute haben noch nie einen Fuß in den Himalaya gesetzt! Und wenn es wirklich so leicht ist, wo ist dann die ultimative Herausforderung? Andererseits hätte ich dann bessere Aussichten auf Erfolg, und das kommt meiner Faulheit entgegen. »Wenn die Besteigung des Mount Everest so einfach ist, wie es nach deinem Plan klingt, dann bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich auf diesen Berg wirklich hinauf will«, sage ich Scott am Telefon. Zwischen uns herrscht die stillschweigende Übereinkunft, daß er einmal pro Woche anruft, wenn er nicht gerade unterwegs ist, auf einer Expedition oder einer Diashow31
Tour oder bei einer Fotosession zu Werbezwecken. Wir sind bemüht, »das Unternehmen Lene Gammelgaard« mit der Einführung von »Mountain Madness« auf dem europäischen Markt zu koordinieren. Gleichzeitig tun wir unser möglichstes, die Besteigung des Mount Everest wahr werden zu lassen. Ich entlocke Scott seine Erfahrungen beim Höhenklettern: Welche Ausrüstung soll ich benutzen? Welche Eispickel nimmt man mit? Wie bereite ich mich darauf vor, ohne zusätzlichen Sauerstoff den höchsten Berg auf diesem Planeten zu besteigen? Scott war schon dort, hat es geschafft, also nehme ich seine Empfehlungen ernst. Scott ist voller Visionen und hat durch seine Lebensart bewiesen, daß er Träume wahr werden läßt. Aber manchmal sprengt sein Wunschdenken die Grenzen der Realität. Oder wahrscheinlich sollte ich besser sagen, daß das, was er plant, zwar realistisch ist, aber mehr Zeit kostet, als er veranschlagt. Hier komme ich dann ins Spiel, mit meiner Geduld, die Enttäuschungen mich gelehrt haben. Wenn man Geduld und Ausdauer hat, ist beinahe alles möglich. Scott und ich sind uns 1991 in Nepal zum ersten Mal begegnet, haben uns im Laufe der Jahre immer wieder geschrieben und uns durch unsere Briefe kennengelernt. Ich sehe in Scott mehr den Menschen als den »amerikanischen Helden – einen der stärksten Kletterer der Welt«. Er stammt aus einer anderen Kultur, ist an starke, tüchtige Frauen im Hochgebirge ge32
wöhnt und traut mir ohne weiteres zu, daß ich »den Großen« besteigen kann. Mir wird klar, daß ich tatsächlich Kraft daraus schöpfe, daß man an mich glaubt, mir den Rücken stärkt – darin sind Amerikaner gut, und ich als Dänin hatte das immer für ein oberflächliches, krankhaftes Phänomen gehalten. Aber es hilft mir wirklich! Eigentlich sollte ich – die weniger erfahrene Bergsteigerin – diejenige sein, die es für einfach hält, und Scott sollte mir meine Illusionen nehmen, aber es ist umgekehrt. Meine Erfahrung in den Bergen kann mich nicht davon überzeugen, daß es einfach ist – ganz im Gegenteil! Meine Erfahrung lautet: Die Natur bestimmt. Schließlich habe ich schon viele Winter in den Aiguilles von Chamonix verbracht, mit großen Plänen und Bestrebungen, diese und jene Route zu klettern, nur um Winter für Winter vom Wetter daran gehindert zu werden! Sturm, Schnee, Schauer und verschiedene Wettercocktails haben dafür gesorgt, daß viele ehrgeizige Ziele unerreicht blieben. Für mich ist es die natürlichste Sache der Welt: Die Natur bestimmt! Ich kam aus dem kleinen Land Dänemark und hatte deshalb keinerlei Erfahrung mit Naturkatastrophen – sieht man davon ab, was ich im Fernsehen gesehen hatte. Es kann beunruhigend, beängstigend sein, wenn man feststellt, daß in anderen Teilen der Welt die Natur bestimmt, was man tun kann und was nicht, daß die Natur in all ihrer Größe tödlich sein kann. 33
Ich glaube nicht, daß ich den Mount Everest bezwingen kann, aber ich hoffe, es wird mir gelingen, die Umstände richtig einzuschätzen, und es wird mir gestattet, Sagarmatha, die »göttliche Mutter der Erde«, mit dem nötigen Respekt und der nötigen Demut angesichts ihrer Macht zu besteigen. Mir ist durchaus klar, daß ich keine Chance habe, wenn die Natur sich mit all ihrer Macht erhebt. Und kein noch so perfekter Plan wird irgend etwas daran ändern können. Darüber spreche ich an jenem Morgen mit Scott. »Was ist mit dem Wetter, Scott? Was ist, wenn es sich nicht an deinen Zeitplan hält? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß die Routenplanung mir genug Zeit gibt, mich ordentlich zu akklimatisieren, so daß ich ohne Sauerstoff steigen kann. Dein Plan ist für den Großteil der Expedition gemacht, der mit Sauerstoff steigt.« »Wenn du wirklich ohne Sauerstoff gehen willst, werde ich dich unterstützen«, antwortet Scott. Der MountEverest-Trip ist eigentlich eine doppelte Expedition: Zuerst kommt der Mount Everest und dann der Lhotse, der benachbarte Berg, der vierthöchste der Welt. Außerdem hat Scott seine eigenen Ambitionen und wird, wenn die Zeit es zuläßt, diese Saison mit anderen Weltklassekletterern den Gipfel des Manaslu (8 163 Meter) in Angriff nehmen. Mein Ego will in meiner ersten Achttausender-Saison * nicht nur den *
Vierzehn Berge im Himalaya und im Karakorum sind über 8 000 34
Mount Everest, sondern auch den Lhotse schaffen, aber die Vernunft spricht dagegen, und mein Name steht auch nicht auf der Klettererlaubnis für den Lhotse. Ich nehme mir erst einmal nur ein Ziel vor; ansonsten würde ich unbewußt meine geistige Energie zwischen den beiden Bergen aufteilen und Gefahr laufen, keinen der beiden Gipfel zu erreichen. Ich glaube, Scott sieht die Welt anders als ich. Ich habe in den Bergen schon zahlreiche Niederlagen erlebt; Scott hat seit fünf Jahren auf seinen Expeditionen nur Erfolg gehabt – mit Ausnahme derer auf den Mount McKinley im Jahre 1995, als er mir zutiefst erstaunt schrieb: »Ich bin aus Alaska zurück. Du wirst es nicht glauben: Der Mount McKinley hat mich diesmal geschlagen. Wir hatten das schlimmste Wetter, das ich jemals irgendwo erlebt habe.« Seine Niederlage gegenüber dem Wetter ließ mich lächeln und denken: »Um so besser, wenn die Natur dir ein wenig Demut beibringt.« Ich dachte das nicht aus Schadenfreude, sondern weil ich Scott mag und ihm ein langes Leben wünsche. Als ich ihn 1991 kennenlernte, hatte ich nicht zu hoffen gewagt, daß er überhaupt so lange leben würde. Danach hielt ich Distanz zu diesem großen, jungenhaften Kerl, der zum Spaß hohe Berge bestieg und wie Meter hoch. Das bedeutet, daß ihre Gipfel in der sogenannten Todeszone liegen, in der Menschen wegen der extremen Kälte, des widrigen Wetters und der sauerstoffarmen Luft nicht lange überleben können. Ein Weltklassekletterer könnte sich vornehmen, alle Achttausender zu besteigen – ein Ziel, das Reinhold Messner 1986 erreichte. 35
verrückt feierte. Ich hatte das Gefühl, daß ich eines Tages die Nachricht erhalten würde, Scott Fischer sei in den Bergen umgekommen. Aber das geschah nicht. Statt dessen folgte ein Brief auf den anderen, und alle berichteten von seinen Gipfelstürmen rund um die Welt. Vielleicht bin ich einfach paranoid. Vielleicht ist es möglich, Berge zu besteigen und Expeditionen zu unternehmen, ohne ums Leben zu kommen. Vielleicht – nur vielleicht – kann man Klettern nicht mit Tod gleichsetzen. Einigen gelingt es, durchzukommen, die größten Abenteuer zu erleben und trotzdem lange zu leben, mit Ehe, Kindern und Enkeln. Vielleicht ist das wirklich möglich. Unsere Tourenplanung entspricht meinem Wunsch, das Chaos des Lebens zu kontrollieren. Scott macht das Unwägbare sicher, indem er einen Plan abfaßt – schwarz auf weiß – und dadurch andere sowie sich selbst davon überzeugt, daß die Realität so sein muß. Wir haben alles unter Kontrolle. Aber ich weiß, daß einige andere beschließen werden, unserer Planung deshalb zu vertrauen, weil sie nicht die volle Verantwortung für sich selbst übernehmen wollen. Ich will auch darauf vertrauen, daß alles glattgehen wird – und wieso eigentlich nicht?
Die Erlaubnis: Frühjahr 1996 Das Klingeln des Telefons reißt mich aus dem Reich der Träume. Ich genieße Schlaf und Träume sehr und habe erlebt, daß Träume mir helfen können, in der 36
Unendlichkeit des Wachseins meinen Weg zu finden. Ich habe gelernt, zu respektieren, daß ich vielleicht wichtige Informationen aus eher spirituellen Quellen erhalten kann. Außerdem hasse ich es, wenn ich durch ein Klingeln geweckt werde. Wecker sind das Schlimmste. Das feine Gleichgewicht von Körper und Geist wird gestört. Aber dieses Wecksignal um vier Uhr an einem Novembermorgen ist weniger schrecklich als andere: Schon bevor ich den Hörer abnehme, weiß ich, daß es Scott ist, der aus Katmandu anruft. »Ich habe hier draußen einen guten Freund getroffen und ihn eingeladen, im Frühjahr mit uns den Mount Everest zu besteigen. Es ist Anatoli Boukreev, ein russischer Superkletterer. Hast du den James BondFilm ›Moonraker‹ gesehen? – Anatoli sieht dem Typ mit dem Metallgebiß ziemlich ähnlich.« Ich unterbreche ihn: »Hast du sie?« Scott ist für eine Woche in Katmandu – in seiner Eigenschaft als Geschäftsmann und Expeditionsleiter – und trifft sich mit seinem lieben Freund und Arbeitspartner aus Nepal, P. B. Thapa, und diversen »Beamten« – Treffen im Ministerium für Tourismus, Treffen mit den richtigen Leuten in den richtigen Ministerien, alles für den Kampf um eine Klettererlaubnis für den Mount Everest über die Südsattel-Route in der Klettersaison Frühjahr 1996. »Hast du sie – die Erlaubnis für den Mount Everest?« »Nee, noch nicht. Aber wir werden sie kriegen!« Ich weiß, daß Scott diese Gewißheit genauso drin37
gend braucht wie ich – wenn nicht noch mehr. Seit Jahren hat er systematisch darauf hingearbeitet, die Mount-EverestExpedition zum Höhepunkt seiner Karriere als professioneller Bergführer zu machen. Der Erfolg seiner Firma »Mountain Madness« hängt davon ab, daß er diese Erlaubnis bekommt. Die Firma hat schon fast alles für die Expedition arrangiert, ohne zu wissen, ob die versprochene Erlaubnis ausgestellt werden wird. Ich kenne Scott gut genug, um zu wissen, daß sein »Aber wir werden sie kriegen!« den festen Glauben ausdrückt, den er braucht, um alles zu organisieren. Den gleichen festen Glauben brauche auch ich, um die Gipfel-besteigung des höchsten Berges der Welt Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn Scott und ich zusammen sind, erreichen wir ein perfektes Gleichgewicht von Enthusiasmus, Realismus, Kritik und gegenseitiger Ermutigung. Wir wissen, daß jeder von uns mehr als genug zu tun hat, daß wir uns aber aufeinander verlassen können – trotz gelegentlicher Niedergeschlagenheit, die für meinen Teil aus der harten Arbeit der Geldbeschaffung resultiert. Wir wissen, daß das, was wir planen, eine gefährliche Sache ist, doch inmitten dieser psychischen Belastung finden wir Ausgeglichenheit. Unter Streß und bei Aufregung ist die Versuchung groß, sich zu beschweren und zu klagen, aber ein solches Verhalten ist nur dann sinnvoll, wenn es jemanden gibt, der hinterher alles wieder in Ordnung bringt. Wir merken jedoch beide, daß solche Klagen der sichere Tod des 38
Engagements sind, das wir unbedingt brauchen, um alle, wirklich alle Hindernisse auf dem Weg zum Ziel zu überwinden. Wir machen uns gegenseitig hundertprozentig klar, daß ich in dieser Sache für mich selbst verantwortlich bin. Die Klettergenehmigung ist der entscheidende Schlüssel, um das Medienspektakel, das ich hier in Dänemark veranstaltet habe, auf dem Berg zu rechtfertigen und zu krönen. Der Name Lene Gammelgaard auf einem Stück Papier wird mir erlauben, in vier Monaten meinen Fuß auf den Khumbu-Eisbruch zu setzen. Ein paar Buchstaben im Wert von 10 000 Dollar. Oh! Ich hoffe so inständig, daß alles in Ordnung ist, daß ich mich und die Sponsoren, die sich bisher gefunden haben, nicht in aller Öffentlichkeit zum Narren mache. Ich will auf den Gipfel des Mount Everest – und heil wieder zurück!
Mentales Training Wenn ich an mein Ziel, den Mount Everest zu bezwingen, denke oder davon spreche, dann will ich nie nur um jeden Preis zum Gipfel. Immer, wenn ich es erwähne, daran denke, trainiere, um es zu erreichen, sage ich laut oder denke für mich: »Zum Gipfel und heil wieder zurück.« An die Innenseite der Tür zu meiner bunten kleinen Wohnung habe ich zwei Bilder geklebt. Eines ist ein großes Foto des Hillary Step, des technisch schwersten Abschnitts auf unserer Route hinauf zum Mount Eve39
rest – Klettern sowohl in steilem Fels als auch auf Eis und Schnee, nur knapp unterhalb des Gipfels des höchsten Berges der Welt. Auf das Foto habe ich in großen Buchstaben geschrieben: ZUM GIPFEL UND HEIL WIEDER ZURÜCK Trainiere härter. Steige länger. Ich glaube an mentales Training. Die Jahre, die ich mich in psychologische Literatur vertieft habe, meine Ausbildung zur Therapeutin und die praktische Arbeit mit der menschlichen Psyche haben mir offenbart, daß wir Menschen ein wenig wie Computer sind. Durch unsere Erziehung, unsere Kultur und unsere Lebenserfahrung werden wir in gewisser Weise programmiert – und wir programmieren uns selbst. Wenn man sich darüber im klaren ist, kann man sich selbst bis zu einem gewissen Grad indoktrinieren. Zumindest ist das die Strategie bei meiner mentalen Vorbereitung auf die Besteigung des Mount Everest. Also fange ich das Training, die Indoktrination, mit einfachen Imperativen an: • •
•
Trainiere das Klettern durch Klettern. Verbessere deine Bergsteigerfähigkeiten und deine Kenntnis unserer Route durch das Lesen von Expeditionsberichten. Rede mit denen, die dort gewesen sind, und lerne von ihnen. 40
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Denke an den Mount Everest – zum Gipfel und heil wieder zurück – während du kletterst, schwimmst, joggst und Tai Chi übst.
Ich bereite mich auf jede Passage des Aufstiegs anhand der Routenbeschreibungen vor, die ich gesammelt habe, bereite mich darauf vor, den Gipfel zu ersteigen – bereite mich auf den Sieg vor! Ich verbanne – bewußt – alle Zweifel, alle Gedanken an den Tod, an Erfrierungen und Umkehr wegen schlimmer Unwetter. Und ich mache mich selbst beunruhigend zielgerichtet, engstirnig. Ich lese soviel wie nötig über die medizinischen Risiken des Aufenthalts in großer Höhe – akute Höhenkrankheit, Lungenödeme, Hirnödeme –, um die Symptome diagnostizieren zu können und zu wissen, was unter diesen Umständen zu tun ist, beschließe jedoch, nicht weiter zu gehen. Ich verschließe meine Augen vor den Gesundheitsrisiken, die untrennbar mit dem Sauerstoffmangel beim Erklimmen von Achttausendern verbunden sind. Natürlich ist es nicht gut für das Gehirn oder den Körper, eine Zeit lang mit zuwenig Sauerstoff funktionieren zu müssen, also denke ich einfach nicht darüber nach. Ich studiere eine Auswahl von Berichten über erfolgreiche Expeditionen und setze mich mit Leuten in Verbindung, die eine heitere, positive Einstellung zum Bergsteigen haben. Ich habe das Ziel, mein Hirn mit ausreichend positivem Input zu versorgen, um meine gesunde Skepsis zu unterdrücken und die Geschichten 41
zu vergessen, die sich bei mir im Lauf der Jahre als Argumente gegen das Bergsteigen angesammelt haben. Ich habe sie häufig verwendet – sowohl anderen als auch mir selbst gegenüber. Ein Bericht, den ich als junge Bergsteigerin gelesen habe, hat einen unvergeßlichen Eindruck auf mich gemacht. Im Jahre 1985 hörte ich zum ersten Mal Gerüchte über eine Frau, die auf 8 400 Meter Höhe auf dem Mount Everest sitzt und deren langes blondes Haar im niemals aufhörenden Wind flattert. Der norwegische Bergsteiger und Expeditionsleiter Arne Næss Jr. beschreibt seine Begegnung mit ihr: Es ist jetzt nicht mehr weit. Ich kann der schaurigen Gestalt nicht ausweichen. Etwa 100 Meter oberhalb von Lager IV sitzt sie an ihr Gepäck gelehnt, als würde sie sich nur kurz ausruhen. Eine Frau mit weit geöffneten Augen und Haar, das sich bei jedem Windhauch bewegt. Es ist der Leichnam von Hannelore Schmatz, der Frau des Leiters einer deutschen Expedition aus dem Jahre 1979. Sie hat den Gipfel erreicht, ist aber beim Abstieg gestorben. Ich habe das unheimliche Gefühl, daß ihre Augen mir folgen, als ich an ihr vorbeigehe. Ihre An-wesenheit erinnert mich daran, daß wir hier den Bedingungen des Berges ausgeliefert sind. Der Leichnam von Hannelore Schmatz ist inzwischen geborgen worden. Ich bin froh darüber. Viele Bergstei42
ger sterben beim Abstieg nach einer erfolgreichen Gipfelbezwingung. Und als Frau nehme ich das Schicksal meiner Geschlechtsgenossinnen besonders aufmerksam zur Kenntnis. Die britische Kletterin Julie Tullis starb beim Abstieg vom Gipfel des K2. Während eines Unwetters fiel sie im höchsten Lager ihres Teams der totalen Erschöpfung zum Opfer. Auch Scotts Freundin Alison Hargreaves, eine weltbekannte Bergsteigerin, ist auf dem K2 gestorben, ebenfalls nachdem sie den Gipfel erreicht hatte. Bei meiner Geldbeschaffung und meinem Training habe ich das Ziel im Auge, am 23. März an Bord der Thai Air-Maschine nach Katmandu zu sein. Aber Nepal ist nur ein Zwischenziel. Die Beharrlichkeit, die erforderlich ist, um so weit zu kommen, ist nichts im Vergleich zu der Ausdauer, die ich brauchen werde, um tatsächlich den Gipfel zu erreichen, und das Selbstvertrauen, das ich für diese Vorbereitungen brauche, ist nichts im Vergleich zu dem, was erforderlich ist, um im Hochgebirge zu überleben, wenn es wirklich darauf ankommt. Das Beste geben, wenn es darauf ankommt – ich kann mich also im Alltag über nichts mehr beklagen, weil die Vorstellung von dem, was mich erwartet, eine völlig andere Dimension schafft. Das zweite Bild an meiner Tür ist ein Clown – ein bunter, lustiger Clown, den meine süße Nichte Lise gemalt hat. Der Clown hängt dort, um mich daran zu erinnern, daß ich Spaß haben sollte. Was ist eine Leistung schließlich wert, wenn man, solange man darauf hinarbeitet, das Leben nicht genießen kann? Der Weg 43
sollte genauso wichtig sein wie das Ziel, denn selbst wenn man auf dem Gipfel ankommt, so kann man doch nicht dort bleiben. Ich brauche den Clown, um meine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß ich genießen sollte, was ich organisiere, und darauf, daß die Besteigung des Mount Everest zwar eine bedeutende Angelegenheit ist, aber nicht lange Schlagzeilen machen wird. Ich werde nicht ewig davon zehren können. Im Laufe ihres Lebens setzen die Menschen sich Ziele. Einige verwirklichen sie und setzen sich dann neue … also geht es nur darum, die Reise des Lebens zu genießen, solange sie dauert? Und was ist schon ein Ziel? Man sollte nur das höchste anstreben – die Macht der Gewohnheit übernimmt den Rest.
Besessenheit Ich habe mich für Besessenheit entschieden. Wodurch wird bestimmt, daß wir uns in unserem Leben auf diese oder jene Weise verhalten oder ob wir einer Entscheidung ausweichen? Mir wird klar, daß ich jederzeit eine andere Entscheidung treffen kann. Jeden Tag, jederzeit kann ich neu entscheiden, ob ich noch immer bereit bin, den Preis für den Weg zum Gipfel zu bezahlen. Mir wird klar, daß jede Entscheidung Konsequenzen hat – selbst die Entscheidung, zu diesem Zeitpunkt einen Rückzieher zu machen. Dieses Mal trainiere ich, um zu gewinnen, um auf den Gipfel der Welt zu gelangen. In den vergangenen 44
Jahren habe ich nicht so gedacht und gehandelt wie jetzt: Ich war flexibler, kompromißbereiter, ich wollte den leichten Weg gehen, und ich glaube, ich hatte damit Erfolg. Was für unbekannte Eigenschaften hat diese Herausforderung in mir geweckt? Bin ich eine Spielerin, die nur der höchste Einsatz reizt? Oder ist es einfach nur so, daß jetzt zur richtigen Zeit die richtigen Umstände zusammentreffen? Normalerweise versuche ich, Antworten auf solche Fragen zu finden, zu analysieren. Vielleicht habe ich endlich den Punkt erreicht, an dem ich nur noch lebe – das Leben wage, ohne zuviel nachzudenken. Zum Gipfel und heil wieder zurück. Diese Selbstprogrammierung wird meinen Körper in der dünnen Luft oberhalb von 7 000 Metern antreiben. Ich weiß, daß so hoch oben jegliche Motivation schwinden wird. Der Mangel an Sauerstoff ruft Übelkeit und extreme Kopfschmerzen hervor und schwächt den Willen und die Fähigkeit, klar zu denken, also muß jede Zelle meines Körpers das Motto »Zum Gipfel und heil wieder zurück« gespeichert haben. Das wird mich hinaufbringen und wieder hinunter, auch wenn mein Verstand mich davon überzeugen will, daß ich erschöpft bin und nicht mehr kann. Die Gefahr meiner geringen Erfahrung ist folgende: Wenn man sich ausschließlich auf den Gipfel konzentriert, kann der Sieg übermäßig wichtig werden und einen so starken Anreiz bilden, daß man es nicht fertigbringt, vor dem Erreichen des Gipfels umzukehren, selbst wenn die Gesundheit auf dem Spiel steht … oder das Leben. 45
Manchmal ist es der wahre Sieg, wenn man aufgibt, wenn man rechtzeitig umkehren kann, ohne es als Niederlage zu empfinden. Ich übe das schon seit fünf Jahren. Beherrsche ich es auch? Ein ausgeglichener Mensch strebt nicht nur nach einem Ziel, sondern lebt völlig im Einklang mit dem Fluß des Lebens, weil jeder Ausdruck des Lebensprozesses gleich wichtig ist: »Wieviel Eitelkeit liegt in der Kunst des Zen-Bogenschießens, wenn man das Ziel durchdringen will! Es wird immer jemanden geben, der stärker ist als du. Wichtig ist nur, daß die Bewegung korrekt ausgeführt wird«, sagt Konfuzius.
Unsicherheit Viele Leute, mit denen ich über den Mount Everest gesprochen habe, haben eine gewisse Vorstellung davon, wie eine Expedition aussieht. Wie sie sein muß, um ihren Vorstellungen von der Wirklichkeit zu entsprechen. Manchmal sind sie sogar beleidigt oder wütend, wenn die Tatsachen, die ich erzähle, nicht mit ihren Illusionen übereinstimmen. Dann wende ich mich nach innen und werde stumm, versinke in der angestauten Einsamkeit, die aus anderen Zeiten stammt, in denen ich mich ernsthaft geäußert habe und nicht auf Verständnis gestoßen bin. Das macht mich unsicher – für eine Weile –, bis ich die innere Kraft wiedergewinne, den Glauben daran, daß ich das Recht habe, die Welt so wahrzunehmen und so darin zu leben, wie ich es tue. 46
Ein Fax von »Mountain Madness« kommt – von Karen Dickinson, der Geschäftsführerin der Firma. Ich habe ihr gesagt, daß ich das Geld für meinen Anteil an den Kosten für Klettererlaubnis, Träger und so weiter überwiesen habe. Sie behauptet, das hätte ich nicht und ich könne somit nicht an der Expedition teilnehmen: »Sie haben Ihre Klettererlaubnis verloren. Sie können an der Besteigung des Mount Everest nicht teilnehmen.« Was für ein Schock! Gerade als ich mir sicher war, daß alles endlich geregelt wäre. Den Mount Everest aufgeben? Niemals! Auf keinen Fall! Komme, was wolle, ich werde auf den Gipfel dieses Berges steigen. (Und heil wieder zurückkommen.) Scott ist schon auf dem Weg nach Katmandu, daher kann er mir nicht helfen. Meine Freunde Flemming und Kirsten Marie leisten mir in meiner kleinen Wohnung im Durcheinander der Expeditionsausrüstung Gesellschaft. Flemming ist noch immer überzeugt, es sei möglich, mit Karen alles zu klären, aber ich bin zu wütend auf sie, weil sie mir nicht glaubt. Schließlich habe ich schon zwei Expeditionssäcke an Wilson Air Freight geliefert, die Firma, die so großzügig das Übergepäck transportiert, das Thai Air nicht übernimmt. Ganz schön schwierig, jetzt nicht den Kopf zu verlieren, aber ich bin sauer und kann daher kaltblütig und schnell handeln. Ich packe mir das Telefon und rufe Sponsoren und andere Leute an, die zu meinem Netzwerk gehören. Und die Truppen rücken aus. Belege für vor langer Zeit überwiesene Beträge werden 47
über den Atlantik gefaxt. Die Danske Bank spürt den Scheck auf, der vereinbarungsgemäß vor zehn Tagen abgeschickt wurde. Ich habe Tränen in den Augen – soviel Unterstützung, soviele Bemühungen von Fremden, die mir helfen, dieses Projekt zu verwirklichen. Ich bin dankbar für diese Erfahrung und für die Freunde, die zu mir halten, jetzt, wo ich sie brauche. Eine Sache weiß ich ganz bestimmt. Morgen werde ich an Bord dieses Flugzeugs sein. Und ich werde diesen Berg besteigen!
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2. Ankunft
Abflug in Kopenhagen: 23.3. 1996 Die erste Dänin auf dem Weg zum Dach der Welt. Der 34jährigen Lene Gammelgaard war es nicht anzumerken, daß sie an diesem Samstag den ersten Schritt zu einer gefährlichen Reise unternahm, die sie auf den stürmischen Gipfel des Mount Everest führen soll. Lächelnd und aufgeregt schwatzend checkte sie am Kopenhagener Flughafen mit 82 Kilo Expeditionsausrüstung ein. »Und gestern habe ich noch einmal 100 Kilo losgeschickt«, stöhnte Gammelgaard. Wenn alles gutgeht, wird Gammelgaard die erste Skandinavierin auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Welt sein. Die dänische Bergsteigerin betont nicht ausdrücklich, daß sie eine Frau ist. »Aber es macht die Sache für die Presse interessant, und das ist vorteilhaft für meine Sponsoren, die mir dieses Abenteuer finanzieren«, sagt Gammelgaard. Sie hofft, am 8. Mai als Mitglied einer amerikanischen Expedition den Gipfel des Mount Eve49
rest an der Grenze zwischen Nepal und Tibet zu betreten. Diese Expedition wird nicht nur die persönlichen Ambitionen der Bergsteiger befriedigen, sondern auch als Müllabfuhr fungieren und gemeinsam mit ortsansässigen Helfern den 8 848 Meter hohen Berg säubern. Ihre Vorgänger haben bei ihren Versuchen, das Dach der Welt zu erklimmen, Tonnen von leeren Sauerstoffflaschen, Dosen und Zelten zurückgelassen, und die Sagarmatha Environmental Expedition 1996 will die Abhänge säubern. Die neun Bergfanatiker werden die Müllberge nicht weiter wachsen lassen, sondern ihre Lager aufräumen. Auf die Frage, ob sie sich vor dieser gefährlichen Mission fürchte, entgegnet Gammelgaard: »Ich habe vor diesem Anstieg nicht mehr Angst, als ich heute auf der Fahrt zum Flughafen im Auto hatte – unvorstellbar, wenn auf dem Weg hierher etwas passiert wäre!« Sie hat auch nicht die Illusion, die Besteigung des Gipfels werde sie glücklicher machen. »Vielleicht werde ich mich fragen: ›Was um alles in der Welt mache ich hier?‹, wenn ich schließlich dort angekommen bin. Aber ich kann nicht anders. Das Abenteuer lockt, und ich schätze, es wird großen Spaß machen und die Gruppe wird gut zusammenarbeiten«, sagt Gammelgaard, die seit 1985 Bergsteigerin ist. Das nächste größere Projekt in ihrem Leben wird kein weiterer Berg, sondern eine eigene Fa50
milie sein. »Ich denke, diese Herausforderung wird mindestens genauso groß sein. Aber kaum eine Story, für die sich Medien und Sponsoren interessieren werden«, lacht sie. LUI Thai Air hat mich für den Flug von Kopenhagen nach Bangkok von der Touristenklasse in die Business Class befördert. So etwas liebe ich. Ob dieses Upgrading auf den Mount-Everest-Ruhm oder nur auf normale Überbuchung zurückzuführen ist, weiß ich nicht. Ich sitze am Gang. Der Fensterplatz ist von einem Herrn in den Vierzigern belegt. Wir unterhalten uns nicht, als wir das übliche Glas Sekt entgegennehmen, das exklusive Globetrotter wie wir von den liebenswürdigen Stewardessen gereicht bekommen, sobald unser Handgepäck über unseren Köpfen verstaut ist. Endlich auf dem Weg! Endlich kann ich acht Monate Streß und Druck hinter mir lassen. Endlich kann ich – wieder – damit anfangen, mich zu konzentrieren, kann den Blick darauf richten, worum es bei diesem ganzen Zirkus eigentlich geht: um die Besteigung des höchsten Bergs der Welt. Ich kann den Frieden, die Ausgeglichenheit finden, die ich in den letzten beiden Wochen verloren habe, als ich alles daransetzen mußte, aus Kopenhagen herauszukommen. Endlich kann ich der geschäftlichen Seite der Expedition entkommen. Mich wieder mit der echten Lene zusammentun, dem wahren Menschen hinter der Managerin, in die ich mich verwandeln mußte, um Kon51
takte zu knüpfen und für beide Seiten zufriedenstellende Kooperationsverträge mit Sponsoren zu schließen. Ich habe die Regeln, die in der »Gesellschaft« gelten, akzeptiert und mich an sie gehalten, habe eine neue Rolle in einem Bereich der Welt gespielt, aus dem ich mich vor langer Zeit zurückgezogen hatte – und ich habe erreicht, was ich wollte. Wir vertreiben uns die Zeit, mein Sitznachbar und ich. Zwei Erwachsene, die für die nächsten sechzehn Stunden ihr Leben auf diesen Sitzen zubringen werden. Auch wenn wir in der Business Class mehr Platz haben als die Leute weiter hinten, so läßt es sich doch nicht vermeiden, daß wir gelegentlich mit den Ellenbogen zusammenstoßen. Die thailändische Crew verteilt die gedruckten Speisekarten. Ich fliege gern mit Thai Air und habe meine Freude an dem diskreten, lächelnden Personal. Nicht zu aufdringlich – dieselbe freundliche Distanz, die ich in der Bevölkerung Nepals spüre und nach der ich mich jetzt mit Leib und Seele sehne. Ich bin nicht an Luxus gewöhnt, daher ist mir in der Business Class wieder ein wenig unbehaglich zumute. Ich habe das Gefühl, jeder merkt, daß ich hier nicht wirklich zugehörig bin. Wie kommt es, daß von jemandem ein bestimmtes Verhalten erwartet wird? Wie soll man sich benehmen? Mein Sitznachbar bestellt sich Hühnchen als Hauptgericht. »Was ist typisch thailändisch?« frage ich die Stewardeß. »Hühnchen.« 52
Im Jahre 1988, als ich als Haupteinkäuferin der Textilfirma »Pinetta« tätig war und mit dem Geschäftsführer Jens Jørgensen geschäftlich in Asien zu tun hatte, habe ich mich Hals über Kopf in die thailändische Küche verliebt. Jetzt freue ich mich darauf, sie wieder zu genießen. Auch Jens Jørgensen hat seinen Anteil zu dieser Reise beigetragen. Seine neue Firma »First Concern« gehört zu meinen zahllosen Sponsoren. Der Name »First Concern« ergab sich bei einem Aufenthalt in einem der teuersten Hotels in Singapur. Das gesamte Hotelpersonal trug kleine Namensschildchen, aber statt der Namen stand darauf: »You are my first concern«, »Sie sind mein wichtigstes Anliegen«. Ich habe lange gebraucht, um die volle Bedeutung dieser Botschaft zu erfassen. Aber als Jens auf der Suche nach einem geeigneten Namen für sein neues Unternehmen war, schlug ich ihm den Namen »First Concern« vor. Wie sehr ich mich freue, daß seine Firma die größte Logofahne für den Gipfel beigesteuert hat, und sie wiegt keine fünfzehn Gramm! Auf meiner Jagd nach Geld, um die Kosten für dieses Unternehmen aufzubringen, habe ich zwei Ideen von früheren Expeditionen miteinander verknüpft: Stacy Allison, die erste Amerikanerin, die den Gipfel des Mount Everest erreicht hat, hat zum Andenken an Freunde Flaggen mit auf den Gipfel genommen. Scott Fischer hat vor seiner (erfolgreichen) Mount-EverestExpedition im Jahre 1994 Anteile verkauft. Indem sie 53
eine gewisse Summe Geld einzahlten, konnten die Leute zu einem Teil des MountEverestUnterstützungsteams werden und erhielten laufend Mitteilungen über den Fortgang der Expedition. Für eine größere Summe konnten sie ein Transport-Yak »adoptieren«. Scott schoß dann ein Foto von »Maggies Yak«, zum Beispiel, und schickte es ihr mit den Autogrammen aller Expeditionsmitglieder. »The American Yakway« hätte nicht so gut zu den Dänen gepaßt, aber ich habe die Idee übernommen, andere Leute sich an dem Projekt beteiligen zu lassen, indem sie das beisteuern, was ich dringend brauchte – nämlich Bargeld. Eines Abends hatte ich die richtige Eingebung. Für eine gewisse Summe konnte eine Firma ihr Logo auf dem Gipfel der Welt haben. Ich würde es persönlich dort hinauftragen, ein Foto machen, das Eigentum der Firma werden würde, und die Fahne dann wieder hinuntertragen (schließlich gehöre ich zu einer Umweltexpedition!). Was für eine großartige Idee! Die Werbeleute waren begeistert und schleppten extravagante Flaggen mit Fallleinen und Masten an. Es kostete mich einige Mühe, die Ahnungslosen aufzuklären: »Zu groß, zu schwer. Nein, ich kann keinen Fahnenmast mitnehmen, um sie zu hissen! Wenn ich überhaupt in die Nähe des Gipfels komme, kann jedes Gramm Gewicht über Erfolg oder Scheitern entscheiden.« Schließlich konnte ich ihnen klarmachen, daß die Fahnen aus Seide oder ähnlichem Material bestehen, extrem leicht und so wind- und wetterfest wie möglich sein mußten. 54
In einer besonderen Tasche in meinem Rucksack habe ich eine ganze Anzahl von Logofahnen und ähnlichen Gegenständen. Eine kostbare Fracht. Ich habe mir absichtlich nicht klargemacht, wie viele Fahnen ich tatsächlich auf die große Höhe hinaufschaffen muß. Erst die Finanzierung – dann die praktischen Hindernisse. *** Der Sekt zeigt die erwünschte Wirkung. Langsam entspanne ich mich. Endlich können mich keine Probleme mehr heimsuchen, zumindest nicht, solange ich in der Luft bin. Das heißt, wenn das Flugzeug in der Luft bleibt. Ha! Das wäre ein Witz! Ich schalte etwas ab, lasse die jüngsten Probleme mit der Überweisung hinter mir – bis Katmandu. Vielleicht, nur vielleicht, wird mich innere Ruhe überkommen, bevor die Anspannung in Katmandu wieder anfängt. Aber wegen der Hast und des Stresses, mit denen ich schon viel zu lange lebe, werde ich wahrscheinlich einen ausgedehnten Winterschlaf brauchen, bis ich meine innere Harmonie wiederfinde. Irgendwann – nach dem Mount Everest … Der Einfluß der Sherpas wird mir helfen, wieder zu mir zu finden. Bei dem Hühnchen und einem Glas Wein fangen mein Sitznachbar und ich vorsichtig eine Unterhaltung an. Es stellt sich heraus, daß er normalerweise auch nicht in der Business Class fliegt. Wir haben es 55
ganz gemütlich, tauschen unsere Gefühle von Freude und Unbehagen über diese Bevorzugung aus. Er hat keine Ahnung vom Bergsteigen und vom Mount Everest, sondern ist auf dem Weg nach Bangkok, um einem thailändischen Umweltprojekt Know-how zu liefern. Wir reden über die explosive Entwicklung in Asien, meine Arbeit für Greenpeace und darüber, wie sehr er sich freut, daß seine Frau und seine beiden Kinder für einen zweiwöchigen Urlaub nachkommen werden. Die Art, wie er über seine Familie spricht – seinen unmöglichen Sohn im Teenageralter und seine süße Tochter –, macht meinen Wunsch nach Kindern noch stärker. In seinem Koffer hat mein Sitznachbar eine kleine Plastiktüte, in der sich dänische Schneeglöckchen und Anemonen befinden – ein Geschenk für einen lieben Freund, der sie in seinen Garten weit weg von zu Hause pflanzen will, als Erinnerung an seine Heimat. Die zarten Blumen machen mich nachdenklich. Ich bin so beschäftigt gewesen, um hierher zu gelangen, daß ich nicht die Zeit gefunden habe, mich an den Schneeglöckchen zu erfreuen, die sich durch die Winterdecke bohrten. Ich erinnere mich an eine gewisse Stelle in meinem Garten zu Hause, an der der Boden mit Anemonen bedeckt ist, die ich nicht werde sehen können. In Bangkok trennen wir uns, ohne unsere Namen ausgetauscht zu haben. Ich wiederhole einen Teil meines Mount-Everest-Mantras – »und heil wieder zurück« –, damit ich die Chance haben werde, das zu 56
genießen, was er hat. Damit ich irgendwann einen Freund in der Ferne mit Schneeglöckchen und Anemonen beglücken kann, die in einem Klumpen Heimaterde verwurzelt sind. Am Flughafen in Bangkok überkommt mich wieder Anspannung. Was wird los sein, wenn ich in Katmandu ankomme? Ist es Karen gelungen, meinen Namen von der Klettererlaubnis streichen zu lassen – welchen Anteil hat Scott eigentlich an diesem Chaos? Zum Glück habe ich mir vorsorglich den Namen des Hotels besorgt, in dem sich die Mitglieder unserer Expedition innerhalb der nächsten drei Tage zusammenfinden sollen. Wenn weder Scott noch P. B. mich am Flughafen abholen, um mir durch die unergründliche nepalesische Bürokratie zu helfen, dann weiß ich wenigstens, wo ich hinmuß. Die Welt wirkt manchmal bedrohlich, voller Konflikte, die aus den inneren Dramen der Menschen resultieren, aus kleinen Kriegen, die nichts mit mir zu tun haben, die aber unter Umständen mein Wohlergehen beeinträchtigen können. Dann ziehe ich mich aus der Welt in die Schlichtheit der Berge zurück … in den Frieden.
Katmandu: 24.–28.3. 1996 Niemand von »Mountain Madness« ist am Flughafen. Zum Glück bin ich ja schon groß und daran gewöhnt, für mich selbst zu sorgen. Ich nehme zwei sperrige 110-Liter-Expeditionssäcke von Lowe (leicht zu er57
kennen wegen der Logos von »Netto« * und »Ekstra Bladet«, der größten dänischen Tageszeitung in Zeitschriftenaufmachung, – auch auf diese Weise habe ich Geld aufgetrieben), einen 70-Liter-Rucksack und einen 40-Liter-Daypack mit meiner ganzen Fotoausrüstung. Morgen muß ich das Frachtlager ausmachen und Stunden damit verschwenden, meine beiden anderen Säcke durch den Zoll zu bekommen. Mir tun die Füße weh. Neben anderen »Gebrechen« leide ich an gequetschen Vorderfüßen, wie der Facharzt das, was ich für entzündete Fußballen gehalten habe, taktvoll nennt; meine verschiedenen Leiden werden durch Streß nur noch schlimmer. Wow! Warm ist es hier. Bestimmt gut 25 Grad, aber bei weitem nicht der Hitzeschwall, der einem in Bangkok entgegenschlägt. Ich gebe mir alle Mühe, mein Gehirn auf Touren zu bringen. Muß ich die Expeditionsausrüstung verzollen? Mein Geldgürtel enthält deutlich mehr als den erlaubten Betrag, aber ich folge Scotts Beispiel – er stopft so viele Dollars in seine Stiefel und seine Starbucks Thermoskanne, daß er damit die ganze Expedition bezahlen kann – und marschiere mit Unschuldsmiene durch: »Nichts zu verzollen.« Kein Problem! Himalaya – wieso hat es so lange gedauert, bis ich zu dir zurückgekehrt bin? Hier, wo ich den Frieden in den Menschen entdeckt habe, den Frieden, den ich *
»Netto« ist eine große europäische Obst- und Gemüsesupermarktkette. 58
auf meinen Reisen in ferne Welten gesucht habe. Wo das Land selbst Frieden ausstrahlt. Wo die höchsten Berge der Welt etwas Unbegreifliches mit uns machen. 24.3. 1996: Gerade im Hotel Manang in Thamel, dem Touristenviertel von Katmandu, angekommen. Das Badezimmer ist für Nepal richtig luxuriös, aber das Wasser, das aus den Hähnen kommt, ist eher trübe als klar. Es ist ein zweifelhaftes Vergnügen, sich mit Wasser aus Katmandu zu waschen – ganz zu schweigen vom Trinken. Also wird von jetzt an alles Wasser zum Trinken und Zähneputzen aus Einliter-Plastikflaschen kommen. Vier bis acht Liter für vierundzwanzig Stunden. Katmandu wirkt unverändert – und doch ist durch die vielen indischen Einwanderer, die hartnäckig und aufdringlich sind, wenn sie etwas verkaufen wollen, ein wenig von der ruhigen Atmosphäre verlorengegangen. Das ist wirklich bedauerlich. Was mich stets gefesselt hat, ist die Aufrichtigkeit und die stolze Gelassenheit, die die Sherpas zeigen. Ihnen sind Geschäftssinn und Geldgier fremd. Scott ist hier, zeigt mir die letzten Neuigkeiten von der »Mountain-Madness-Front«. Karen hat ihm einen wütenden Brief geschrieben, in dem sie mich beschuldigt, zu lügen und zu betrügen. Ich bin froh, daß ich so klug gewesen bin, alle Unterlagen mitzubringen, mit denen ich meine Behauptungen beweisen kann. Weil Scott mich kennt, vertraut er mir, oder zumindest sagt er das, und es sieht aus, als meine er es ernst. Für 59
mich ist es ganz schön heikel in dieser Situation Manomi und Jane Bromet, zwei Neulingen bei »Mountain Madness«, gegenüberzutreten. Sie werden an dem Treck zum Basislager teilnehmen. P. B. Thapa ruft an. Wir werden uns alle heute abend zum Essen treffen, auf Einladung einer Schweizerin. Ich frage mich, was P. B. wohl denkt. Er hat mich seit 1991 nicht gesehen, und jetzt wird er von Karen mit Faxen bombardiert, voll von Anschuldigungen, die mich, milde ausgedrückt, in schlechtes Licht rücken. Gleichzeitig ist er derjenige mit der Klettererlaubnis. Ich bin dankbar für meine Erfahrung, die mir hilft, ruhig zu bleiben und darauf zu vertrauen, daß allein die Tatsache, daß ich schließlich hier bin, Karen dazu bringen wird, die Buchhaltung noch einmal zu überprüfen, um meine Überweisungen zu finden. Scott ist krank – er hustet und hat Fieber. Nach seinen letzten Briefen hatte ich so etwas schon befürchtet. Er verlangt zuviel von sich und ruht sich zwischen seinen großen Touren nicht ordentlich aus. Hmmmm! Ich glaube, ich muß also im »Unterstützungsteam« mitmachen; wir müssen abwarten, welchen Effekt mein Vitamincocktail bei solchen Symptomen haben kann. Ich wünschte nur, mein Tai-ChiLehrer hätte intensiver mit Scott arbeiten können, als er in Kopenhagen war. Vielleicht hätte Scott begreifen können, wie wichtig es ist, sich ganz tief zu entspannen – wenigstens hin und wieder. Scott hat gerade mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Seattle gesprochen. »Ich vermisse sie«, sagt 60
er, aber das veranlaßt ihn nie, sehr lange zu Hause zu bleiben, ein Umstand, den ich in unseren Briefen angesprochen habe. Leider weiß ich, welchen Schaden die Abwesenheit des Vaters seinen Kindern zufügen kann. Aber bittere Erfahrung hat mich gelehrt, daß mich das nichts angeht. Das Privatleben anderer Leute ist ihre Sache. Ehrlich gesagt kann ich mir auch kaum vorstellen, daß Scott Erfüllung finden könnte, ohne Abenteuer zu erleben. Sein Lebenshunger scheint so groß zu sein, daß er nicht anders leben kann. Ich bin süchtig nach Büchern, und Katmandu ist ein richtiges Paradies für Bücherwürmer. Man findet eine breite Palette zu vernünftigen Preisen. Besonders die Themen Bergsteigen und Buddhismus sind stark vertreten, und ich verbringe Stunden damit, in den winzigen Läden zu stöbern. Heute finde ich Chris Boningtons Buch »Quest for Adventure« und »On Top of the World« von Rebecca Stephens, der ersten Britin, die den Mount Everest auf der Route bestiegen hat, die wir nehmen werden. Seit meinem letzten Aufenthalt hier hat sich meine Sichtweise verändert. Im Laufe der Jahre habe ich mich fortentwickelt und zeige jetzt andere Aspekte meiner Persönlichkeit. Damals war ich auf der Schwelle zur spirituellen Erweckung und hatte gerade erst begonnen, mich für buddhistische Literatur zu interessieren. Aber die Wesensart der Sherpas hat in mir etwas bewirkt. Und jetzt – stelle ich lächelnd fest – gehe ich vom Erklimmen innerer Höhen dazu über, äußere zu besteigen. 61
Ich kaufe mehrere Expeditionsberichte und Biographien, um aus den Erfahrungen anderer zu lernen und mich selbst in ihrer Suche nach Abenteuern wiederzufinden. Allmählich langweilen mich die Bücher von Bergsteigern, weil ich merke, daß wir alle sehr ähnlich denken und schreiben, und daß wir von den gleichen inneren Kräften angetrieben werden. In »unserem Universum« sind wir die Norm, und die anderen sind die, die nichts verstehen. Wir fragen nicht, wieso wir tun, was wir tun. Wir bewundern es auch nicht – es ist einfach so. »Lene, das ist Anatoli Boukreev, der russische Bergsteiger.« Bei unserem Expeditionsessen stellt Jane mir einen der Bergführer vor. Ah! Das ist also Anatoli. Er wirkt zurückhaltend, beinahe schüchtern oder zaghaft. Blond, etwa einen Meter achtzig groß. Keine verdächtigen Muskelpakete. Erinnert mich an einen Bauernsohn aus meiner frühen Jugend an der Nordsee. Die leicht förmliche Atmosphäre ist ihm offensichtlich unangenehm – gegenüber unserer schweizerischen Gastgeberin benehmen wir uns alle sehr höflich. »Anatoli, warst du nicht im Frühjahr 1991 auf dem Dhaulagiri, als er zum ersten Mal über die Westwand bestiegen wurde?« »Woher weißt du das?« »Ich erinnere mich, daß du einer von den Russen warst, die uns in der Nacht, die wir in Biwaksäcken draußen vor eurem Lager verbrachten, mit Wodka versorgt haben. Kannst du dich nicht mehr an die vier Frauen erinnern, die am frühen Abend die Gletscher62
moräne hinaufgestiegen sind? Wir sind vom Basislager am Dhaulagiri losgewandert. Ich habe sogar Fotos von dir.« »Hmmm!« Dieses Treffen hat offenbar keine bleibende Erinnerung bei Anatoli zurückgelassen. »Später haben wir uns nochmal getroffen, als die dänische Dhaulagiri-Expedition Jan Mathornes dreißigsten Geburtstag auf dem Rhum Doudle gefeiert hat. Du hast ihm eine Flasche Wodka geschenkt, und ich habe für den Fall, daß ich jemals die Gelegenheit haben sollte, den Khan Tengri in Deinem Heimatland zu besteigen, deine Adresse bekommen. Und jetzt stellt sich heraus, daß du nicht nur Scott kennst, sondern auch noch ein guter Freund von Michael Jørgensen * bist.« »Ja, Michael und ich haben uns letztes Jahr auf dem Mount Everest angefreundet. Er ist stark. Er wird dieses Jahr mit Henry Todds Expedition gehen, die versucht, den Gipfel von der Südseite her ohne Sauerstoff zu besteigen und danach auch noch den Lhotse. Und du willst die erste Dänin sein, die den Gipfel des Mount Everest erreicht?« »Ja, ich will es unbedingt versuchen.« »Aber warum denn? Du bist doch eine Frau!« Hier bin ich mit der Weltelite der Bergsteiger zusammen – darunter dieser achtunddreißigjährige Rus*
Jørgensen war der erste Däne, der 1995 den Gipfel des Mount Everest von Tibet aus erreicht hat. 63
se, der mehr Berge bestiegen hat, als ein dänischer Flachländer sich überhaupt vorstellen kann –, und er fragt mich, wieso ich den Drang verspüre, diesen Berg zu erklimmen! In Anatolis Welt gilt offensichtlich ein anderer Code, aber dieser Code und diese Art von Reaktion sind mir vertraut, obwohl ich meine vergangenen Kämpfe über dieses Thema beinahe vergessen habe. Ich muß nicht antworten, muß nicht kämpfen, um irgend etwas zu beweisen. Ich will nur auf die Spitze des Mount Everest gelangen. Und durch Reden wird mir das nicht gelingen. Nur die Besteigung selbst wird zeigen, ob ich es kann oder nicht. Also halte ich den Mund. Auch ich will herausfinden, ob ich das schaffe, was ich mir tief in meinem Inneren zutraue. Aber Visionen müssen Wirklichkeit werden, sonst bleiben sie eine Illusion, und ich hasse es, wenn Leute reden, aber nie etwas tun. Ich muß aufpassen, daß ich nicht auch in diese gefährliche Angewohnheit verfalle. »Jetzt weiß ich wieder, wer du bist«, sagt Anatoli. »Jetzt erkenne ich dich wieder – du hast an der Bodybuilding-Weltmeisterschaft teilgenommen, nicht wahr?« Der Typ ist wirklich witzig! Er hat offenbar absolut keine Ahnung, daß er mich schon mehrmals getroffen hat, aber als Profi hat er meine Körpermasse richtig eingeschätzt. Nach seinem Urteil hat sich mein hartes Training gelohnt. Freut mich. Ich halte mich durch Tai Chi, Liegestütze und Situps, Joggen, Radfahren und Klettern gut in Form und achte normalerweise streng darauf, nicht zuzuneh64
men, also war es ein ganz schönes Unterfangen, meine Überlebenschancen auf dem Mount Everest durch Gewichtszunahme zu erhöhen. Oberhalb von 5 000 Metern baut der menschliche Körper kontinuierlich ab, ganz gleich, wieviel man zu sich nimmt oder wie sehr man sich ausruht. Von 6 000 Metern aufwärts baut der Organismus in besorgniserregendem Tempo ab, so daß eine vorsätzliche Gewichtszunahme einer von vielen Wegen ist, sich auf die bevorstehenden Strapazen vorzubereiten. In der Regel kann der Mensch oberhalb von 7 900 Metern – in der sogenannten Todeszone – maximal fünf Tage überleben. Ganz gleich, was er tut. Aber es ist wunderbar, einfach alles zu essen, worauf ich Appetit habe. »Dessert? Ja, bitte.« Und zweimal täglich Kaffee und Kuchen. Fett allein wird jedoch nicht viel nützen, also muß die ganze erhöhte Nahrungsaufnahme durch erhöhtes tägliches Training in Muskelmasse umgewandelt werden. Ich wiege jetzt ungefähr 155 Pfund, aber wenn der »Katmandu-Quickstep« – der berüchtigte Brechdurchfall – mich erwischt, was beinahe jedem Nepalreisenden passiert, dann werde ich nur noch 150 haben, wenn wir die Stadt verlassen. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich vor dem Spiegel stand und diese zusätzlichen Pfunde mit Abscheu betrachtete, aber ich tröste mich mit dem Gedanken, daß der Spiegel in zwei Monaten etwas anderes sagen wird – wenn alles klappt! Ich werde diesen Berg schon allein deshalb besteigen, damit ich nicht nach meiner 65
Rückkehr eine Diät machen muß. Was für ein schrecklicher Gedanke. Hier bin ich mit den besten Bergsteigern der Welt zusammen, und meine Leistung wird sehr kritisch beurteilt werden. Habe ich genug getan? Die Konkurrenz ist hier ganz anders als zu Hause im kleinen Dänemark, wo es nicht schwer ist, als Bergsteiger etwas zu gelten. Unser Land – eines der flachsten der Welt – bringt nicht gerade viele Kletterer hervor, denn es ist von Wasser umgeben und wird von keinem Kletterer, der etwas auf sich hält, beachtet. Ich habe vor, ohne zusätzlichen Sauerstoff zu steigen. Diejenigen, die den Gipfel des Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen erklommen haben, haben gewisse physiologische Vorteile, die man nicht ausschließlich anhand der körperlichen Fähigkeiten eines Bergsteigers in Meereshöhe beurteilen kann. Sie sind außergewöhnlich gut in der Lage, über längere Zeiträume harte körperliche Arbeit zu leisten, verfügen über eine effiziente, schnelle Klettertechnik, die so wenig Energie wie möglich verbraucht, nehmen mit den Lungen eine hohe Dosis Sauerstoff auf und reagieren auf Sauerstoffentzug oder Hypoxie mit normaler oder erhöhter Atmung. Dazu kommt ein effizientes Funktionieren der Muskeln bei Hypoxie und die Fähigkeit, trotz unzureichender Sauerstoffversorgung des Gehirns konstruktiv zu denken. * *
Der atmosphärische Druck auf dem Gipfel des Mount Everest be trägt ein Drittel des Drucks auf Meereshöhe. Somit beträgt der Sauerstoffpartialdruck des Körpergewebes auf dem Gipfel des Mount Eve66
Mein Wunsch, den Gipfel des Mount Everest zu erreichen, ist nicht der einzige Grund dafür, daß ich hier bin. Ich trage auch zum Wohlbefinden der Expeditionsteilnehmer bei. Scott hat mich eingeladen, mich dem »Mountain Madness-Team« anzuschließen. Ich glaube nicht, daß er weiß, wieso ich mich auf Teams so positiv auswirke, aber er merkt irgendwie, daß es einen Unterschied macht, ob ich dabei bin oder nicht. Ich weiß, daß ich gut darin bin, eine Gruppe funktionieren zu lassen, zum Teil aufgrund meiner Arbeit als Therapeutin. Hauptsächlich liegt es jedoch daran, daß die Menschen mir am Herzen liegen und es mich glücklich macht, wenn ich dazu beitragen kann, ein Ganzes zu schaffen, das mehr ist als nur die Summe seiner Bestandteile. Jetzt müssen wir zwei Monate unseres Leben mit dem Versuch zubringen, gemeinsam diesen Berg zu besteigen, wieso also nicht versuchen, das Beste daraus zu machen? Eigentlich ist das ein ganz schönes Unterfangen, denn viele Expeditionen entpuppen sich als nicht gerade human, wenn man einmal hinter die »heroische« Fassade blickt, die der Presse normalerweise präsentiert wird, unter anderem, um die schrecklichen Tatsa-
rest etwa ein Drittel des Sauerstoffdrucks auf Meereshöhe – was zu all den physiologischen Veränderungen führt, die sich ergeben, wenn der Körper nicht genug Sauerstoff hat. Der Körper kann sich bis zu einem gewissen Maße allmählich an größere Höhe und die damit zusammenhängenden, niedrigeren Sauerstoffpegel gewöhnen – dieser Prozeß wird Akklimatisierung genannt – aber dazu ist es erforderlich, einen Monat lang oder länger allmählich aufzusteigen. 67
chen zu verbergen. Beim Bergsteigen sollte man wie auch sonst im Leben nicht unbedingt dem ersten Eindruck trauen. Diese Gedanken werden durch Anatolis halblaute Verabschiedung unterbrochen, und dann verschwindet er auf seinen eigenen Wegen in Katmandu. Ich mag ihn gern und muß zugeben, daß sein Englisch sich seit unserer letzten Begegnung erheblich verbessert hat, als ich ihn als »indoktriniert und unfähig, sich auszudrücken«, beurteilt habe. Es gefällt mir, wenn das Leben mir zeigt, daß ich sehr engstirnig und voller Vorurteile sein kann und keine Ahnung habe, was wirklich Sache ist. Geschieht mir recht! 25.3. 1996: Das Flugzeug aus den Vereinigten Staaten hat Verspätung, was bedeutet, daß es mehrere Tage dauern wird, bis die anderen Mitglieder der Expedition ankommen. Folglich werden wir Katmandu mit Verspätung verlassen. Das beeinträchtigt den Gesamtplan, daher muß P. B. den Hubschrauber von hier nach Syangboche umbuchen. Eigentlich sollten wir in einem winzigen Propellerflugzeug nach Lukla fliegen, was schon eine ziemlich abrupte Zunahme der Höhe ist. Im letzten Augenblick wird dann entschieden, daß wir mit dem Hubschrauber direkt zu der Landebahn oberhalb von Namche Bazaar auf 3 450 Metern fliegen – und das ist wirklich hoch! Kopfschmerzen und Höhenkrankheit 68
wegen des abrupten Anstiegs sind garantiert. Ich bin nicht begeistert, aber es spart zwei Tage Yak-Transport unserer Expeditionsausrüstung und somit eine ganze Menge Geld. Den Morgen habe ich damit zugebracht, die beiden restlichen Expeditionssäcke abzuholen. P. B. sollte mir helfen, und nachdem ich ihn endlich gefunden hatte, fing das dreistündige bürokratische Theater an, vor dem ich unbedingt verschont bleiben wollte: Papiere, die hier abgeholt und dort abgestempelt und anderswo kopiert werden müssen, weit weg in den Randbezirken der Stadt. P. B. muß sich um dringendere Angelegenheiten kümmern, also werde ich seinem Schwager übergeben, der bereitwillig lächelt, aber kein verständliches Englisch spricht. Wir nehmen eine MopedRikscha zur Lagerhalle, obwohl ich vergeblich versuche, den schwitzenden Fahrer davon zu überzeugen, daß meine Expeditionsausrüstung auf keinen Fall in sein winziges Gefährt passen wird. Der Fahrer und der Schwager lächeln unaufhörlich, also lasse ich den Dingen ihren Lauf. In der Lagerhalle sind ungefähr fünf Kerle damit beschäftigt, den nötigen Papierkram zu erledigen, damit ich meine beiden Säcke bekomme. Ein junger Mann, der offenbar im Begriff ist, die bürokratische Leiter emporzuklettern, zerrt mich in einen Schuppen, in dem ein älterer Beamter jedes einzelne der pergamentartigen Dokumente abstempelt. Niemand spricht Englisch, und peinlicherweise habe ich noch immer kein Nepali gelernt. »Wie teuer?« oder das Wort für 69
Popcorn wird mich hier nicht sehr weit bringen. Jetzt verschwinden sie auf irgendeiner Treppe, und jemand murmelt: »Polizei.« Ich muß kichern, weil mir Geschichten darüber einfallen, wie mühselig es ist, eine Expedition nach Nepal und wieder heraus zu bekommen, wie viele Rupien erforderlich sind, um alles glatt laufen zu lassen – ganz zu schweigen von den ganzen sauberen, akkuraten Papiere, die nach all der Mühe höchstwahrscheinlich auf dem Grund eines Treppenschachts enden. Eine würdige Weise, Akten zu archivieren! Ein weiterer Typ bedeutet mir, ihm zu noch einem anderen »Beamten« zu folgen, diesmal dem Chef persönlich, der dafür zuständig ist, die Fracht entsprechend der Beschreibung auf den Dokumenten auszuhändigen. Mein größter Alptraum ist es, daß irgend ein Gepäckstück nicht angekommen sein könnte. Jeder Gegenstand wurde sehr sorgfältig ausgewählt und eingepackt und ist unerläßlich für das Gelingen des Unternehmens. Nichts Überflüssiges, nichts, auf das ich verzichten könnte. Nun, abgesehen von einem Set flaschengrüner Spitzenunterwäsche, die ich als Tribut an die Weiblichkeit mitgebracht habe. Von meinen früheren Touren weiß ich, daß mich ein immenser Drang überkommen wird, feminine Kleidung zu tragen, wenn die Strapazen hinter mir liegen. »Paßfotos?« »Ja.« Zum Glück habe ich zusätzliche mitgebracht. Wir stoßen jetzt in eine weitere Halle vor und treffen auf eine Menschenmenge – mehr Menschen an 70
einem Ort, als ich gewohnt bin. Diese enge Zusammenballung wirkt auf mich bedrohlich, die Einheimischen dagegen, da bin ich mir sicher, finden sie beruhigend. Die einzigen anderen Frauen in der Halle sind eine japanische Mutter mit ihrer Tochter. Überall Kisten und eingewickelte Gegen- stände, vom Boden bis zur Decke gestapelt. Mich verläßt der Mut – wie um alles in der Welt sollen sie in diesem Chaos meine beiden Säcke finden? Die Zeit vergeht, und zur Ablenkung schlendere ich draußen auf der Veranda umher. Mich treffen viele lange Blicke. Bis jetzt habe ich mich auf Reisen in Nepal nie bedroht gefühlt. Nepalesen sind sehr zurückhaltend, und noch dazu sind sie so klein, daß eine riesige dänische Figur wie ich wahrscheinlich mehrere auf einmal erledigen könnte. Aber so etwas würde niemals notwendig, denn wegen der spirituellen Mischung aus Hinduismus und Buddhismus ist Nepal ein Land, in dem man als Ausländerin problemlos und unbeschwert reisen kann. Im islamischen Pakistan dagegen mußte ich ständig auf mein Verhalten achten, die ortsübliche Tracht tragen und in der Öffentlichkeit stets von einem Mann begleitet werden. Ich betrachte die Plastikfässer der taiwanesischen Expedition und ihren Expeditionsleiter, der die Fässer zählt und noch einmal prüft. Diese Expedition hat das Ziel, sowohl den Annapurna als auch den Dhaulagiri in Westnepal zu besteigen. Ich lächle, ohne Neid, denn ich bin auf dem Weg zu meinem eigenen Abenteuer. Endlich werden meine Seesäcke freigegeben. 71
Stolz und zufrieden öffne ich sie, damit der Aufseher die Expeditionsausrüstung, die ich auf den zahllosen Dokumenten aufgeführt habe, mit der freigegebenen Fracht vergleichen kann. »Wo wollen Sie hin?« »Zum Mount Everest.« »Trekking zum Basislager?« »Nein. Ich steige zum Gipfel auf.« Habt ihr es alle gehört? Ich bin tatsächlich auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest! Der treue Fahrer der Moped-Rikscha hat geduldig auf mich gewartet. Wir wuchten die 250 Pfund Gepäck in die winzige Kabine, ich klettere oben drauf, und wir fahren zurück ins Hotel Manang. Unterwegs setzen wir den Schwager am Flughafenterminal ab, wo er sich nach Neuigkeiten über die überfälligen Expeditionsmitglieder erkundigen will. Obwohl die Verspätung des Flugzeugs für die Expedition viele Probleme mit dem Zeitplan aufwirft, kommt sie mir sehr gelegen, da sie mir die Möglichkeit bietet, mich nach der hektischen Jagd nach Sponsoren und der überwältigenden Aufmerksamkeit der Medien ein paar Tage auszuruhen. Ich werde all meine Kraft brauchen, also überlege ich genau, wo ich heute zu Mittag esse, um die Gefahr des überall lauernden »Katmandu-Quicksteps« möglichst gering zu halten. Ingrid Hunt, unsere Expeditionsärztin und eine sehr gewissenhafte junge Frau, meint: »Was die Wahrscheinlichkeit anbelangt, während deines Aufenthalts in Nepal Durchfall zu kriegen, würde ich sagen: Ent72
weder hast du ihn, oder du kriegst ihn!« Leider sagen mir meine Erfahrungen von früher, daß sie recht hat. Außerdem hat Ingrid bis vor drei Monaten für ein halbes Jahr hier gearbeitet, und sie ist erst seit kurzem wieder ganz bei Kräften. Ingrid und ich essen in einer der grünen Oasen Katmandus zu Mittag, in einem tropischen Garten inmitten des lauten, betriebsamen Thamel. Ingrid erzählt, daß sie Dr. Igor Gamow kennengelernt hat, den Mann, der den Gamow-Sack erfunden hat, eine zigarrenförmige, tragbare Überdruckkammer. Es ist ein brillantes, einfaches System: Ein Opfer der Höhenkrankheit wird in die Nylonkammer gelegt, und mit einer Fußpumpe wird Luft hineingepumpt. Der Erhöhung von Luftdruck und Sauerstoffgehalt simuliert eine geringere Höhe. Unsere Expedition hat einen Gamow-Sack, und die von Henry Todd auch. Die beiden Säcke werden auf dem Mount Everest von allen Teams genutzt werden. Einer wird sich im Basislager befinden; der zweite in Lager IL Diese orangefarbenen Säcke könnten über Leben und Tod entscheiden. *** Manomi ruft in meinem Zimmer an, und wir treffen uns zum Tee auf der Dachterrasse. Sie erzählt von Karens Einstellung mir gegenüber. Manomi ist zu dem Entschluß gekommen, daß Karen im Unrecht ist – was für eine Erleichterung! Und sie liefert mir Insiderin73
formationen über »Mountain Madness«, die für eine eventuelle längere Zusammenarbeit nützlich sein könnten. Seit geraumer Zeit arbeiten Scott und ich an einer gemeinsamen Geschäftsidee: Ich werde den Mount Everest ohne Sauerstoff besteigen – als Mitglied von Scotts Expedition. Danach wird es einfacher sein, als Mitglied von »Mountain Madness« zu arbeiten und die Firma in Europa zum Erfolg zu führen. *** Ich übe Tai Chi, während ich auf Katmandu schaue. Zuviel Dunst und Abgase, um irgendwelche Berge erkennen zu können. Ich bin zielgerichtet. Ausgeglichen. *** Jane kommt in mein Zimmer. Sie bringt mir NikeWanderschuhe und ein T-Shirt. Ich hatte vergeblich versucht, Nike in Dänemark dazu zu bringen, Trainingsausrüstung und Joggingschuhe zu sponsern, aber Scott hat in den Vereinigten Staaten mehr Erfolg gehabt. Den Großteil der Trainingssachen, da sind wir uns einig, werden wir unseren Sherpas geben – sie brauchen sie nötiger als wir. Besonders Lopsang, der zum Sirdar befördert wurde und für die Klettersherpas zuständig ist. Lopsang ist von westlichen Einflüssen geprägt; er sieht aus wie ein Rockstar, mit langem 74
schwarzem Pferdeschwanz, goldenen Ohrringen (drei – einer für jedes Mal, das er den Gipfel des Mount Everest bestiegen hat) und einem wunderbaren Gesicht. P. B. hat Scott, Jane, Manomi und mich zu einem zeremoniellen Abendessen für »Glück und Freundschaft« zu sich nach Hause eingeladen, wo wir seiner Frau und seinen drei Töchtern vorgestellt werden. Manomi und Jane verteilen die Geschenke, die sie aus den Vereinigten Staaten mitgebracht haben, und dann servieren die Frauen kleine nepalesische Delikatessen. P. B. ist ein hervorragender Koch und hat den ganzen Nachmittag damit verbracht, zwischen den Telefonaten, mit denen er alle Einzelheiten der Expedition unter Kontrolle behält, ein Mahl zu unseren Ehren zuzubereiten. Ein bemerkenswerter, angenehmer Mann. Scott neckt ihn damit, daß er ihn Buddha nennt, aber es ist etwas Wahres daran. P. B. lächelt unaufhörlich, ist sanft und unglaublich kompetent. Er kann alles möglich machen, wenn er mit seinem Motorrad mit dem Koffer auf dem Tank losfährt. Heute erzählt P. B. von den Jahren, die er für »Mountain Madness« gearbeitet hat. Als er seinen Traum verrät, eines Tages bei einem buddhistischen Lama zu lernen, frage ich, ob ihm das chinesische »I Ging«, das »Buch der Wandlungen«, bekannt ist. »Ich habe ein Exemplar auf meinem Nachttisch«, antwortet er. Das führt zu einem ernsten und offenen Gespräch über Spiritualität. P. B. ist gläubig. Jane berichtet von 75
den unerklärlichen Erfahrungen, die sie gemacht hat, als ihre Mutter starb. Manomi stammt ursprünglich aus Sri Lanka, also kommt ihr nichts Spirituelles sonderbar vor. Ich erzähle ihnen ein wenig von meinen Erfahrungen und der Veränderung meiner Lebensperspektive, die ich in den letzten paar Jahren erlebt habe. Scott schweigt. Jane, deren Hauptaufgabe darin besteht, Scott und »Mountain Madness« zu promoten, wird täglich Berichte über die Expedition für »Outside Online« liefern. Sie überlegt, wie sie es anstellen soll, mich weltweit via Internet bekanntzumachen. Ich denke: »Ich will nur den Gipfel – und zwar ohne Sauerstoff! Ich will die internationale Bergsteigerszene stürmen, und ich werde es schaffen!« Ich erlaube mir allerdings nur in Gedanken, so größenwahnsinnig zu sein. P. B. beschließt den Abend, indem er mir eine Vision anvertraut, die er gehabt hat: »Du wirst den Gipfel erreichen. Du bist stark.« Zumindest überzeugen mich seine Worte davon, daß er an mich glaubt, und das ist wichtig für unsere künftige Zusammenarbeit. 26. 3. 1996: Meine Füße sind zu häßlich, und sie machen mir ständig Beschwerden! Ich will schöne, gesunde Füße! »Sherpa-Füße« hätte ich, necken mich die Amerikaner. Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, daß gesunde Füße breit sein müssen. Frühstück mit Manomi, Scott und dem Schotten Henry Todd aus Edinburgh, der die Expedition leitet, 76
an der mein dänischer Landsmann Michael Jørgensen teilnimmt. Henry Todd ist dieses Jahr am Mount Everest der Hauptlieferant für Sauerstoff – das Verbindungsglied zwischen den russischen Herstellern des Flaschensauerstoffs und unserer Expedition. Er ist groß gewachsen, trägt einen Vollbart und wirkt eher wie ein britischer Schriftsteller als wie ein Bergsteiger. Ich amüsiere mich über seine gewählte Ausdrucksweise. Todd will wissen, was mich antreibt. Er fängt an, von Alison Hargreaves zu erzählen, die er über zehn Jahre lang gekannt hat: »Es mußte irgendwann passieren – sie war einfach zu ehrgeizig. Ich konnte am Ende gar nicht mehr an sie herankommen. Letztes Jahr auf dem Mount Everest konnte sie nur noch von Ausrüstung und Klettern reden. Immer, wenn ich versucht habe, auf andere Themen überzugehen, gelang es ihr, auszuweichen und wieder zum Bergsteigen und zu Ausrüstungsdetails zurückzukommen. In den zehn Jahren, die ich sie gekannt habe, ist es mir nur einmal gelungen, sie zu umarmen. Wir haben alle gewußt, daß diese Besessenheit sie über kurz oder lang das Leben kosten würde.« Weil ich Alisons Buch »A Hard Day’s Summer« gelesen habe, bin ich geneigt, Todd zuzustimmen. Aber ich habe sie nie kennengelernt, und ihre Leistung als Bergsteigerin war absolut beeindruckend. Henry Todd ist ein ausgesprochener Verfechter zusätzlichen Sauerstoffs. »Bereite dich darauf vor, mit Sauerstoff zu steigen«, will er mich überreden. »Er hilft 77
dir, wenn du dort oben in 8 000 Metern Höhe liegst und ein Sturm über den Südsattel fegt. Du stemmst dich gegen die Zeltstangen, damit sie nicht nachgeben, du frierst dir den Arsch ab und bist kurz davor aufzugeben, aber dann nimmst du deine Sauerstoffmaske, und Wärme strömt dir durch den Körper, das unkontrollierbare Zittern deines Leibs hört auf, und du bist im siebten Himmel.« Ich schenke Todd nicht allzu viel Beachtung. Wenn auch nur der leiseste Zweifel in mir aufkommt, wird meine Entschlossenheit, ohne zusätzlichen Sauerstoff zu steigen, nachlassen. Ich denke an Michael Jørgensen und sein erklärtes Ziel, sowohl den Mount Everest als auch den Lhotse ohne Sauerstoff zu besteigen – ganz schön hart, das durchzuziehen, wenn der Expeditionsleiter und Freund auf Sauerstoff schwört. Die Tatsache, daß Menschen dazu in der Lage sind, in einer Höhe von 5 500 Metern zu überleben und zu funktionieren, und daß einige die physiologischen Voraussetzungen haben, 8 848 Meter zu verkraften – Höhen, in denen nicht akklimatisierte Menschen das Bewußtsein verlieren und sterben würden –, beweist, wie gut sich der menschliche Körper anpassen kann. Wenn man sich richtig akklimatisiert, reagiert der Körper mit erhöhter Atemfrequenz, erhöhter Aktivität der Lungenarterie, erhöhtem Herzschlag und erhöhter Produktion von roten Blutkörperchen und Hämoglobin, so daß das Blut mehr Sauerstoff transportieren kann. Gleichzeitig ermöglichen es die Veränderungen 78
im Körpergewebe, bei niedrigerem Sauerstoffdruck zu funktionieren. Die Überzeugungen der Begleiter üben einen starken Einfluß aus, sie verändern einen Menschen auf die Dauer. Also ist es für mich klüger, mich an Scott zu halten, weil er im Prinzip der Typ ist, der kein O2 benutzt, auch wenn der Rest der Expedition vorhat, mit Sauerstoff zu steigen. Ich versuche, ihn dazu zu bringen, daß er es auch tut. Er ist der Expeditionsleiter und sollte die Situation im Griff behalten, und er hat schon früher den Gipfel ohne O2 bestiegen, also weiß sein Ego, daß er es schaffen kann. Aber diesmal wäre es eindeutig besser für sein Gehirn, wenn es geschont würde. »Ich weiß nicht, Lene. Es ist eine Frage des Egos«, sagt Scott grinsend. Scott und Henry koordinieren die Erlaubnis für den Lhotse. Bis Henry zum Ministerium losfährt, besteht noch eine allerletzte Chance, sich einzutragen. Mein Ego rührt sich. Ich würde in dieser Saison so gerne zwei Achttausender schaffen. Ich bin so verdammt ehrgeizig, aber, Lene, unterdrücke diesen Drang und konzentriere dich auf ein Ziel: auf den höchsten Berg der Welt! Meine wichtigste Aufgabe heute ist es, gefütterte Briefumschläge zu beschaffen, in denen ich Artikel und Filme an »Ekstra Bladet« schicken kann, und den ersten Artikel aus Katmandu fertigzustellen. »Ekstra Bladet« ist einer meiner Sponsoren. Unser Abkommen sieht so aus, daß ich vier Artikel mit meinen eigenen Fotos von unserer MountEverest-Expedition liefere 79
und »Ekstra Bladet« die Exklusivrechte für die Story auf dem Titelblatt erhält. Im voraus wurde ein angemessener Geldbetrag gezahlt – kein Problem! Um ehrlich zu sein, war »Ekstra Bladet« nicht die Zeitung, auf die ich gehofft hatte. Ich selbst lese sie nicht, und ich hatte Bedenken, wie eine Boulevardzeitung die Story wohl ausschlachten würde. Aber als ich mich an die Presse gewandt und die Exklusivrechte an der Story über »Lene Gammelgaard, die erste Skandinavierin, die den Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, besteigen will« angeboten hatte, zeigten sich andere Zeitungen desinteressiert, skeptisch oder unentschlossen oder es hieß, die zuständigen Leute seien verreist. »Versuchen Sie es nächste Woche noch einmal« oder »Wir haben keine guten Erfahrungen mit Bergsteigern gemacht, aber da Sie es als erste Frau versuchen, schicken Sie uns eine schriftliche Bewerbung, und wir überlegen es uns vielleicht.« »Ekstra Bladet« dagegen zeigte Initiative. Mein Ansprechpartner Rud Kofoed hat sich mit mir getroffen, ich nannte meinen Preis, und Rud warf einen kurzen Blick auf meine Kritzeleien. Ich war neugierig, ob mein Stil zu »Ekstra Bladet« passen würde. »Wir geben Ihnen so bald wie möglich Bescheid«, sagte er. Nun gut. Wenig später hatten wir ein großartiges Treffen im Queen’s Pub – ein fruchtbares Treffen, bei dem ich die Zuversicht gewann, daß diese Leute etwas auf die Beine stellen könnten. Wenn »Ekstra Bladet« ja sagt, dann ohne Wenn und Aber. Wir kamen auf »Ekstra Bladets« 80
Beitrag über mich auf dem Gipfel zu sprechen. Es würde sich um eine mit Plastik überzogene fiktive Titelseite der Zeitung handeln. Drei Tage später hatten sie einen Entwurf hergestellt, auf dem mein Gesicht prangte mit dem Datum: 8. Mai. Die Leute von »Ekstra Bladet« erwiesen sich als verläßliche Geschäftspartner. Und, was das wichtigste war, als sehr nett! Keine Snobs, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Ich habe die Zeitung gerne besucht. Es ist gemütlich da – schon wieder ein Vorurteil weniger! Aber ist es nicht wunderbar? Während meiner Jagd nach Sponsoren habe ich gemerkt, daß ich mich für diejenigen entscheide, die mir als Menschen sympathisch sind, die etwas wagen und kreativ sind. 27.3. 1996: Ja! Die fehlenden Mitglieder unserer Expedition sind gestern endlich eingetroffen, also haben wir den Hubschrauber für den frühen Morgen des 29. März gebucht. Die vereinte Sagarmatha-Umweltexpedition hat sich heute morgen in der Lobby versammelt. Wir sind ein starkes Team – da gibt es keinen Zweifel. Zuerst wurde ich Pete und Klev Schoening vorgestellt. Scott ist sehr stolz und glücklich, daß sie teilnehmen. »Sie sind wirklich ein Gewinn für unser Team, meinst du nicht?« Ich reichte Klev bis zum Bauchnabel, blickte nach oben und versuchte zu erkennen, wo er aufhörte. Nachdem ich mit beiden Schoenings gesprochen hat81
te, war ich geneigt, Scott zuzustimmen. Ein bemerkenswertes Paar, mächtige Gestalten. Ihnen gegenüber wird mir bewußt, wie »zierlich« ich bin. Diese Männer sind so stark, wie ich mit allem Training der Welt niemals werden könnte. In Gesellschaft dieser Elite fühle ich mich ein wenig unsicher. Es ist sonnenklar, daß ich niemals so viel Gepäck so weite Strecken tragen könnte wie sie. Die Natur setzt mir Grenzen. Jetzt freue ich mich darauf, Charlotte Fox und Sandy Hill Pittman kennenzulernen. Wir können uns vielleicht zusammenschließen, um die Lage irgendwie auszugleichen. Es stellt sich heraus, daß Charlotte ein bißchen größer ist als ich, und wenn sie für den Mount Everest zugenommen hat, dann möchte ich nicht wissen, wie ihre Normalfigur aussieht. Ihr Freund Tim Madsen ist eher klein. Charlotte stellt grinsend fest: »Ich kann mir einfach nicht erlauben, mehr zu wiegen als mein Freund.« Tim hat sich in letzter Minute zum Mitkommen entschlossen. Er hat keine Erfahrung mit großer Höhe, aber es heißt, er sei ein Allround-Topathlet. Sandy, so hörte ich, hatte die höchsten Gipfel in sechs von sieben Kontinenten bestiegen. Sie hat viel Zeit im Fitneßstudio zugebracht, und ich bemerkte die deutlich gewölbten Muskelpakete. Sie hat kurzes dunkles Haar, und wegen ihres Auftretens unterläuft mir manchmal der Fehler, daß ich »Pitbull« statt »Pittman« denke. »Es wäre nett, wenn ihr nach draußen kommen würdet, damit ich ein paar Fotos für mein Internet-Tagebuch schießen kann, und wenn ihr 82
euch auf diesem Kassettenrecorder kurz vorstellt, kann meine Sekretärin es dann tippen«, sagt sie. Alarm! Stop! »Sandy, in dem Schreiben, das du über dein Medienprojekt verteilt hast, stand, wir könnten mitmachen, wenn wir wollten. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich will.« Wird meine Reaktion einen Machtkampf provozieren? Wahrscheinlich ist es gut, daß wir aus verschiedenen Ländern stammen, denn wie wichtig kann ihr schon ein Neuling aus Dänemark sein? Aber wir sind hier, um gemeinsam diesen Berg zu besteigen, also möchte ich doch verhindern, daß Animositäten entstehen. Martin Adams ist auf den ersten Blick recht unauffällig, und es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, ihn und Tim auseinanderzuhalten. Zuerst weiß ich nur, daß die beiden weniger großen Typen Tim und Martin sind, aber wer ist Tim, und wer ist Martin? Neal Beidleman ist nicht dabei. Er ist der Unglücksrabe, dessen Seesack bei der Verspätung des Flugzeugs verlorengegangen ist, und neben anderen wichtigen Dingen fehlt ihm sein Höhendaunenanzug. Neal hat beschlossen, in Katmandu zu bleiben, bis seine Ausrüstung auftaucht. Er hustet wie Scott und behauptet wie Scott, das sei keineswegs eine Folge von zu vielen Hochtouren. Dale Kruse kenne ich von früheren Touren – wir haben uns in Pakistan und vor nicht allzu langer Zeit in Ouray, Colorado, getroffen, wo wir eine fröhliche Trainingswoche damit verbrachten, gemeinsam an gefrorenen Wasserfällen zu klettern. 83
»Hey, Mann, neue Brille. Schick!« In Colorado hatten wir uns über ihn lustig gemacht. Dale ist groß, ein recht attraktiver Mann, aber er versteckte sich hinter einer tristen dunklen Brille. Und jetzt ist er hier, mit einer aparten Brille, die wirklich gut zu seinem männlichen Gesicht paßt. Dale gibt mir einen netten Brief von seiner Frau Terry, die mir eine gute Freundin geworden ist. Am letzten Wochenende in Ouray nahmen wir einige Routen gemeinsam in Angriff. Sie ist stark und eine gute Kameradin. Zum ersten Mal begegneten Terry und ich uns auf einer Sommerwanderung in Pakistan, und wir stellten bald fest, daß wir gerne zusammen waren. Dale und Terry haben mich mehrmals zum Rafting eingeladen, und eines Abends brachte Terry mir etwas bei, was auf Flüssen unverzichtbar ist, nämlich die Kunst, rotes Bier zu trinken. Auf einer langen Rafting-Tour ist es unmöglich, das Bier kühl zu halten, aber mit Tomatensaft vermischtes Bier kann offenbar jederzeit und bei jeder Temperatur getrunken werden. Mir ist klar, daß Terry gemischte Gefühle bezüglich Dales Teilnahme an dieser Expedition hegt, und es imponiert mir, daß sie ihn nicht abzuhalten versucht. Sie wollte dieses Mal nicht mitklettern: »Ich habe entschieden, daß mein Job vorgeht, und will mehr an die Zukunft denken als früher«, schreibt sie. Scott bringt gute Neuigkeiten: »Karen hat mich gestern nacht um zwölf geweckt; alle Schecks und Überweisungen sind angekommen.« Das wäre also erledigt. Später mache ich meine übliche Tour nach Pashu84
patinath, um die Feuerbestattung der Hindus zu beobachten und zu fotografieren. Manomi begleitet mich. Wenn sie zu Hause Trekkingreisen verkaufen will, kann es nicht schaden, wenn sie einige wichtige Sehenswürdigkeiten von Katmandu kennt. In anderthalb Stunden gemeinsames Abendessen im Hotel. Ich bin glücklich. Glücklich, hier zu sein, glücklich, zu diesem starken Team zu gehören. Danke, Scott, daß du mir diese Möglichkeit bietest! 28.3. 1996: Abflug morgen früh. Ich bin aufgeregt und muß mein Gepäck neu verteilen. Drei Taschen mit Höhenausrüstung brauche ich erst im Basislager, also schicke ich sie mit dem Yak-Transport. Eine Tasche packe ich voll mit allem, was ich für die Wanderung hinauf brauche, dazu kommt der Rucksack mit meinen beiden Kameras, einer Nikon F90X und einer Nikon FM2, und reichlich Filmmaterial. Es ist relativ neu für mich, auf professionellerer Ebene Fotos zu machen, aber ich habe mich in die beiden Kameras und die Objektive für alle Situationen verliebt. Langsam lerne ich sie kennen. Ich habe eigentlich alles ziemlich gut organisiert vorausgeplant und muß also nicht viel umpacken. Lopsang bekommt eine Fleecejacke; unter den Klettersherpas sind schon die »Netto«-T-Shirts verteilt worden. Eine Brille, die für Scott bestimmt war, geht an Lopsang. Unser Team sollte mit Sandy Pittman zu Abend essen – NBC hatte uns eingeladen, aber aus unbekann85
ten Gründen wurde alles wieder abgesagt. Statt dessen genieße ich ein exquisites Essen in Gesellschaft von Pete und Klev Schoening. Ein seltenes Privileg, in den Genuß ihrer Gesellschaft zu kommen. Wir sprechen weder über Bergsteigen noch über unsere bevorstehende Tour auf den Mount Everest, sondern über das Leben, über Petes Erfahrungen als Geschäftsmann und über Klevs solide Familienbande. Die beiden Gentlemen bestehen darauf, die Rechnung zu übernehmen, und ich fühle mich sehr als Frau. Von Scott weiß ich, daß Pete, der einer anderen Epoche des Bergsteigens angehört, Bedenken gegenüber Frauen bei der Expedition hat. Während der Vorbereitungen auf dieses Abenteuer war ich lange Zeit die einzige Frau gewesen, doch in den letzten Monaten sind Charlotte und Sandy dazu gekommen. Trotz seiner Skepsis spüre ich bei Pete keine Mißbilligung. P. B. ruft an. »Ich kann Scott nicht finden. Die Abflugzeit hat sich geändert – wir müssen um 5.45 Uhr im Hotel bereit sein.« Ich bemühe mich, die anderen ausfindig zu machen, hinterlasse Nachrichten, wenn die Leute nicht zu erreichen sind, rufe die an, die im Hotel wohnen. Neal informiert Dale und Ingrid, die sich für das Hotel Garuda entschieden haben. Ja! Es wird Wirklichkeit! Ich schwöre mir, jeden Schritt dieses Abenteuers zu genießen – zum Gipfel und heil wieder zurück. Gute Nacht!
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Namche Bazaar: 29.–31.3. 1996 Fünfzig Minuten im Hubschrauber. Wie leicht ist es doch, durch die Luft zu fliegen, verglichen mit der Quälerei des Trekkings! Einfach perfekt – wir landen mitten im Paradies. Sonnig, warm, und bislang gibt es keine Probleme mit der Höhe. Vor unserem Abflug aus Katmandu hatte P. B. gerade noch genug Zeit, uns zu erzählen, was in der Nacht geschehen war. Er hatte die Information bekommen, der Hubschrauber würde uns zwei Stunden eher abholen, und war die ganze Nacht herumgeeilt, um die neun Klettersherpas aufzuspüren. Nur wenige von ihnen haben Telefon, also mußte er zu den verschiedenen Häusern, Familien und Freundinnen fahren, bis er Lopsang gefunden hatte und ihm den Auftrag übergeben konnte. P. B.s Mühe zahlt sich aus, denn alle tauchen auf, und ich kann an einigen Personen die schwarzen Buchstaben auf gelbem Hintergrund erkennen, die »Netto« ergeben – die T-Shirts der Sherpas! Charlotte, Sandy und ich finden uns zusammen, kichern, erörtern unsere »erhöhte Körpermasse«. Typisch Frau! Sandy hat ihre Sekretärin veranlaßt, für die Damen im Team die abscheulichsten Bikinis zu kaufen. Für »Vorher«- und »Nachher«-Fotos im Basislager. Wieso nicht? Bei dem Wahnsinn, den wir vorhaben, können Späße nichts schaden. Ein tolles Gefühl, mal richtig zu lachen, all die Spannung, die sich angesammelt hat, loszuwerden. 87
Wir essen bei P. B. zu Mittag. Doktor Ingrid rät uns von Fleisch ab, aber ich muß einfach gemischte Momos, Frühlingsrollen auf Nepal-Art, bestellen, die Yakfleisch und hiesiges Gemüse enthalten. Charlotte bestellt ein Clubsandwich; sie riskiert wirklich, mal etwas Exotisches auszuprobieren. Kurz darauf erwischt es sie schlimm. Als wir mitleidig fragen, wie es seiner Liebsten geht, antwortet Tim: »Es kommt an beiden Enden raus, und zwar schnell!« Was für eine treffende Beschreibung … Bei P. B. entdecke ich eine Postkarte von einer Expedition: Henrik Jessen Hansen, Bo Belvedere, Jan Mathorne und Kim Sejberg. Die vier Dänen sind also kürzlich hier gewesen. Eigentlich eine ganz schön eindrucksvolle Ansammlung aus Dänemark in dieser Saison. Vier Leute in einem Team, Michael Knakkergaard Jørgensen in Henrys Team und Lene Gammelgaard in Scotts Sagarmatha-Umweltexpedition. Soviel ich weiß, hat kein Däne den Mount Everest von der nepalesischen Seite her in Angriff genommen seit Claus Beeker Larsens abenteuerlichem, aber illegalem Versuch im Jahr 1951. Und jetzt sind sechs Dänen auf dem Weg zum Gipfel. Nicht übel! Ich sitze schon seit Stunden auf einem flachen, sonnigen Stein neben dem Tengboche-Trail. Meine Atemfrequenz hat sich nach der Ankunft im 3 450 Meter hoch gelegenen Namche erhöht. Nach einigen Tagen hier wird sie sich stabilisieren und harmonischer werden. Ich wurde müde und atemlos, als ich langsam, ganz langsam, den steilen Pfad zu der Stelle hinaufstieg, an der ich mich jetzt 88
ausruhe. Ich bin trotzdem zuversichtlich, daß diese Probleme nachlassen werden, wenn mein Körper sich akklimatisiert hat. Mir wird auch klar, daß ich meinen Organismus in den nächsten Monaten in großer Höhe einer extremen Belastung aussetzen werde und daß ich an meine absoluten Grenzen gehen werde. Dafür werde ich mit langanhaltender Müdigkeit und Schwäche bezahlen müssen, wenn ich nach Hause zurückkehre. Ich suche Einsamkeit, um inneren Frieden zu finden. Tai Chi inmitten der Giganten des Universums. Verbundenheit. Absolute Ausgeglichenheit. Wie glücklich bin ich, wieder hier zu sein! 30.3. 1996: Lasse es ruhig angehen, denn nach dem direkten Sprung auf 3 450 Meter braucht man drei bis vier Tage Ruhe mit minimaler Aktivität, bevor man sich richtig anstrengen kann. Die Gefahr der Höhenkrankheit ist sehr groß, und wenn man fliegt, wie wir, fordert man sein Glück heraus. Von weiter oben Berichte über ungewöhnlich viel Schneefall für die Jahreszeit. Die Yaks kommen nicht zum Basislager durch, und alle Expeditionen scheinen sich in Lobuche zu stauen. Die Träger verlangen doppelte Bezahlung, weil sie sich ihren Weg durch die Schneemassen bahnen müssen. Frage mich, wo Anatoli ist. Er ist einige Tage vor uns aufgebrochen, um die Errichtung des Basislagers zu beaufsichtigen und die der höheren Lager vorzubereiten. Nun, es wird noch Tage dauern, bis wir so weit kommen, und hier gibt es 89
nicht mehr Schnee als sonst, obwohl Katmandu von kniehohem Schnee auf dem Landeplatz berichtet. Jane fragt, was ich nach dieser Expedition vorhabe. Großer Gott, erst einmal muß ich dieses Abenteuer überleben, dann wird man sehen. Die Hütte, in der wir wohnen, gehört der Familie unseres Sherpaführers. Sie haben uns ihre beiden eigenen Zimmer als Eßraum zur Verfügung gestellt. Die Häuser in Namche Bazaar sind normalerweise zwei Stockwerke hoch, ziemlich geräumig und haben an drei Wänden Fenster. An der vierten Wand befindet sich der Hausaltar. Er ist in zwei Hälften geteilt: Die untere beherbergt die Porzellansammlung der Familie, in der oberen liegen ziegelsteingroße Gegenstände, die in orangefarbenen Stoff gewickelt sind. Ich vermute, es handelt sich um Kopien der Schriften Buddhas – ich sehe zum ersten Mal eine Sammlung in einem Privathaushalt. Der Hausherr bestätigt meine Vermutung und sagt, daß die Schriften heutzutage nur noch von studierten Mönchen entziffert werden können, weil die Sprache veraltet ist. Wenn ein wichtiges Ereignis im Leben eintritt, kommen die Mönche zu wochenlangen Ritualen zusammen, rezitieren aus den alten Schriften, um Ernte, Geburt, Hochzeit zu segnen. Wie gerne ich so etwas erleben würde … 31.3. 1996: Doktor Ingrids Prophezeiung hat sich sowohl bei mir als auch bei Ingrid selbst, mit der ich das Zimmer teile, erfüllt. Daher bewege ich mich bei der heutigen 90
Mission, dem Ersteigen eines Grats in der Nähe, im Schneckentempo, langsamer als Dale, Jane und Scott. Wir haben vor, Fotos von der Ama Dablam und vom Mount Everest zu machen, außerdem »hoch zu steigen, tief zu schlafen«, um die Akklimatisierung unserer Körper zu fördern. Ich kämpfe mich hoch, den steilen Weg hinauf, der von Namche über den Landeplatz von Syangboche auf den Grat zu führt. Die anderen gehen mir auf die Nerven, und ich mache mich allein auf. Diese Höhe hat den Effekt, daß meine Fähigkeiten insgesamt geschwächt werden. Außerdem habe ich unglaubliche Mengen erbrochen. Ich schleppe mich über moosigen, felsigen Untergrund und rutschiges Gras nach oben. Ich orientiere mich an einem buddhistischen Chorten, einem steinernen Schrein mit wehenden Gebetsfahnen auf dem Gipfelgrat. Wenn ich stehenbleibe, um durchzuatmen, korrigiere ich meine Richtung entsprechend. Der Chorten ist weit über mir, aber Dale ist es gestern gelungen, dort hinzugelangen, und sein Bericht von dem spektakulären Ausblick beflügelt mich, obwohl ich nur mühsam vorankomme. Und wenn dieser Vorgeschmack schon zuviel ist, was ist dann mit dem, was mich noch erwartet? Sich anstrengen und gleichzeitig Kraft sparen: Es ist eine knifflige Angelegenheit, die körperliche Verfassung zu verbessern und trotzdem nicht die Reserven anzugreifen, die zur Verfügung stehen müssen, wenn es wirklich darauf ankommt. 91
Am Chorten angekommen, merke ich, daß ich Jane und Scott überholt habe. Dale ist nirgendwo zu sehen. Der Chorten entpuppt sich als Denkmal für Tenzing Norgay, den Sherpa, der Edmund Hillary im Jahre 1953 auf den Gipfel des Mount Everest begleitet hat. »Tenzing, Hillarys Freund« lautet die Inschrift auf der Gedenkplakette. * Ich schieße einen ganzen Film von dem Denkmal mit dem Mount Everest im Hintergrund – eine eindrucksvolle Kulisse. Es muß ein gutes Zeichen sein, daß ich unbewußt auf diesen Punkt zugegangen bin. Um dieses Ereignis und mich selbst zu feiern, rolle ich meinen Biwaksack aus und kuschele mich hinein, um mich gegen den unaufhörlichen Wind zu schützen. Zeit für ein Nickerchen oberhalb von Namche Bazaar mit dem Mount Everest vor mir, Tenzing neben mir und Raben, den schwarzen Fliegern der Berge, über mir. Um 16 Uhr ist es höchste Zeit, nach unten zu eilen. Fröhlich springe ich den Grat entlang, vorbei an Reihen von Gebetsfahnen. Ich bin tief beglückt, als ich auf Scott und Jane treffe. »Wir haben den ganzen Nachmittag Fotos für ›Nike‹ geschossen.« »Ich muß schnell nach unten«, ruft Scott. »Ich habe P. B. versprochen, ihn um fünf Uhr in Katmandu anzurufen.« Und weg ist er im Eiltempo. Offensichtlich habe ich mich von meinem Brechdurchfall erholt, denn ich denke: »Dir werde ich’s zei*
Tenzing Norgays Grab befindet sich in Darjeeling. 92
gen.« Ich gebe meinem angeborenen kindischen Drang, besser zu sein, nur selten nach; vielleicht bin ich heute besonders gemein. Aber ich weiß, daß ich genauso schnell bin wie Scott und daß ich einen besseren Orientierungssinn habe. Wenn er das seit Pakistan vergessen hat, dann ist es an der Zeit, ihn daran zu erinnern. Natürlich ganz diskret. Also, auf geht’s: Ich steige die steile Wand hinunter, balanciere schmale Kanten entlang, bewundere die Hufabdrücke von Yaks. Es gibt unzählige fasanenartige Vögel und einen unglaublich blauen, welcher sich als Nepals Nationalvogel herausstellt, besser bekannt als der neunfarbige Vogel. »Es bedeutet Glück, daß du ihn gesehen hast«, sagt Lopsang, als ich ihn später frage, welche Art das gewesen sei. Ich klettere aufwärts, springe hinunter, wieder und wieder, und schließlich stehe ich am Rand des natürlichen Amphitheaters, in dem die Hauptstadt der Sherpas, Namche Bazaar, liegt. Und dann laufe ich – wie die Sherpas – mit weichen, halbgebeugten Knien hinunter in die Stadt. Im Stadtzentrum treffe ich Lopsang. »Wo ist Scott?« fragt er. Ich bin also vor ihm unten! Hi, hi! Gelungene Übung. »Scott ist mit Jane auf dem Weg nach unten. Es kann sein, daß sie sich verlaufen haben«, sage ich mit Unschuldsmiene. »Aber er hat mir gesagt, er müsse um fünf unten sein, um P. B. anzurufen.« Lopsang, das weiß ich, teilt meine Freude an der Kraft. Sherpas bewundern und respektieren wahre 93
Stärke, das ist wahrscheinlich tief in ihnen verwurzelt – und angesichts ihrer Lebensumstände auch vernünftig. Wenn ein Baby nicht stark genug ist, stirbt es jung. Um in dieser rauhen Umgebung zu leben und zu überleben, braucht man Ausdauer, und niemand versucht, ein Kind zu stillen und am Leben zu halten, wenn es Zeichen von Schwäche zeigt. Die Ressourcen sind knapp und müssen sorgfältig eingeteilt werden. Die Hütte ist überfüllt mit einer südafrikanischen Expedition, die von internen Zerwürfnissen geplagt war. Schon bevor sie Namche Bazaar verließen, sind einige der Mitglieder mit ihrem Leiter aneinandergeraten, daher haben sie sich abgesetzt und kehren nach Katmandu zurück, wo sie versuchen werden, die Klettererlaubnis auf ihre Namen umändern zu lassen. Einer von ihnen leidet an Höhenkrankheit und wird in diesem Augenblick zurück nach Katmandu transportiert. Bislang sind wir eine wunderbare Expedition, die aus unabhängigen, erfahrenen Individualisten besteht, die schon viel erlebt haben und nicht leicht aufgeben. Wirklich ein Vorzug im Vergleich zu dem südafrikanischen Chaos und den Erfahrungen, die ich bei früheren Hochtouren gemacht habe.
Dengboche: 2.–4.4. 1996 Sonam Friendship Lodge – ich kann kaum glauben, daß ich wieder hier bin, ich erkenne die Hütte kaum wieder. Sie ist in den letzten fünf Jahren gewaltig angewachsen und leidet unter Kinderkrankheiten. Wir 94
kampieren auf einem Feld in der Nähe, und es ist wirklich angenehm, endlich draußen zu schlafen. Wegen der Berichte über die Schneelage auf dem Khumbu-Gletscher haben wir beschlossen, hierher, nach Dengboche, zu wandern und nicht nach Pheriche, wie wir ursprünglich vorhatten. Hier ist man besser vor den eiskalten Winden geschützt, und es gibt weniger Expeditionen. Wir müssen einige Tage warten, bis wir uns an die Höhe gewöhnt haben, also haben wir uns natürlich für den angenehmeren Ort entschieden, an dem wir das letzte bißchen Vegetation genießen können. Oberhalb dieses Ortes wächst nichts mehr – kein Grün mehr für anderthalb Monate. Ich bin in Topform, glücklich, daß ich hier bin, um mich großartige Menschen wie Pete und Klev. Ich übe Tai Chi im Mondschein. Und wieder passiert mir, was ich schon kenne: Wenn ich hart an mir arbeite, wird meine Hirntätigkeit auf ein Minimum reduziert. Alles wird unkompliziert und simpel. Ich kann keine tiefschürfenden, bombastischen, philosophischen Denkmuster mehr entwickeln oder mir das Leben mit komplexen psychologischen Analysen komplizieren. Einfachheit – sie gibt mir Zufriedenheit, solange das nicht bedeutet, auf einen Zustand der Stupidität reduziert zu werden. Ich habe zu Hause ein wunderbares Buch, »Earthly Happiness« von dem chinesischen Autor Lin Yutang. Er schreibt folgendes über die Vergnügen des Lebens: 95
Das Schicksal hat offenbar bestimmt, daß ich mich zu einer Art Marktphilosoph entwickelt habe, woran ich allerdings nichts ändern kann. Die gewöhnliche Philosophie ist anscheinend diese besondere Wissenschaft, die schlichte und unkomplizierte Sachverhalte schwer verständlich macht. Ich dagegen denke an eine Philosophie, die ganz im Gegenteil komplexe Sachverhalte vereinfacht und leicht verständlich macht. Trotz solcher Bezeichnungen wie Materialismus, Humanismus, Transzendentalismus, Pluralismus und all der anderen langen Wörter, die auf »ismus« enden, beharre ich entschieden darauf, daß diese Systeme nicht besser begründet sind als meine eigene Privatphilosophie. Letzten Endes besteht das Leben darin, zu essen, zu schlafen, sich mit Freunden zu treffen, sie bei gesellschaftlichen Anlässen und Abschiedspartys mit Lachen und Weinen zu begrüßen, sich die Haare schneiden zu lassen, die Blumen zu gießen und zuzusehen, wie der Nachbar vom Dach fällt. Die Philosophie ist somit zu einer Wissenschaft geworden, mittels derer wir immer weniger von dem verstehen, was uns selbst betrifft. In einem speziellen Punkt haben die Philosophen es weit gebracht: Je mehr sie über das Problem der Existenz sprechen, desto verwirrter werden wir. Gute Nacht und süße Träume! 96
4.4. 1996: Ein weiterer Ruhetag in Dengboche. Gemäßigte Symptome von Höhenkrankheit: leichte Kopfschmerzen, Lethargie, eine gewisse Apathie, kein Appetit außer auf Fertignudelsuppe. Komisch, ich kriege immer einen Heißhunger auf diese Instantbrühe, wenn ich hochsteige. Suche Frieden, erwäge, im Fluß zu baden, aber die stehenden Pfützen sind mit Eis bedeckt. Glaube, die Kälte wäre im Augenblick zuviel für mich. Will nicht mit dem Team Zusammensein. Vegetiere dahin und spare Energie für den Mount Everest. Niemand erwartet engen Kontakt. Wir sind alle in der gleichen Lage. Notizen: Idee für künftiges Buchprojekt: Dualität von Gut und Böse. Einer, der sich entscheidet, ein gesellschaftlich gebilligtes, aber oberflächliches Leben zu führen und als ein Schatten seiner selbst zu enden; dagegen der Außenseiter, der tief sinkt und alle Höhen und Tiefen des Lebens erfährt, aber am Ende das wahre Ziel erreicht … Darlegen, wie widersprüchlich die Urteile über die beiden sein können. Ist es manchen Menschen vorbestimmt, den Ereignissen im Leben spirituelle Bedeutung beizumessen? Liegt es in der Natur des Individuums, den Ereignissen spirituelle Bedeutung zuzuschreiben? Was kann man aus dem »Leben im Hier und Jetzt« für einen Gewinn ziehen? Welche Wirkung hat es auf Menschen? 97
*** Ich bin am Fluß, gehe Stück für Stück hinein. Das Wasser ist kalt, aber ich habe meiner Leidenschaft für das Baden im Gletscherwasser nachgegeben. Ich kann dem Kontakt mit klaren, eiskalten Wasserströmen einfach nicht widerstehen, ein Phänomen, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Als ich in Pakistan war, gehörte es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, am Nachmittag, wenn die Sonne die Gletscherflüsse aufgetaut hatte, meine Fotoausrüstung und mein Notizbuch zu nehmen und mich auf den Gletscher hinauszuwagen, fort von anderen Menschen. Ich bahnte mir meinen Weg durch die wunderbaren, natürlichen Eisskulpturen und versuchte, diese Schöpfungen mit der Kamera einzufangen. Dann wählte ich die beste Stelle am eisigen Ufer eines Schmelzwasserstroms. Normalerweise war das Wasser etwa einen halben Meter tief und floß schnell dahin. Welche Freude, meine Kleider auszuziehen und in diesem Paradies aus Eis und Schmelzwasser zu baden. Ich mußte aufpassen, daß ich nicht losließ, nicht dem Verlangen nachgab, mich einfach flußabwärts durch dieses sich ständig ändernde Universum treiben zu lassen. Als Scott und ich 1995 vom Basislager am Broad Peak kamen, verirrten wir uns in dieser phantastischen Wüste aus Gletscherspalten und Moränenströmen, übersprangen eine Spalte nach der anderen, und auch einige Gletscherströme. Einer der Ströme erwies sich 98
als zu breit für meine Sprungtechnik, und ich landete auf dem Hintern im kalten Wasser, über das ganze Gesicht grinsend. Damals fand ich heraus, wie ich meinen Traum vom Body Rafting in einem Gletscherstrom verwirklichen konnte. Aber wie es mit brillanten Ideen oft ist, war schon jemand vor mir darauf gekommen, Hydrospeed ist bereits auf dem Markt. Bin noch nicht dazu gekommen, es auszuprobieren – bis jetzt! Heute verschafft mir ein eher normaler Fluß Ausgeglichenheit. Die Zeit heilt alle Wunden, und ich habe vergessen, wer ich damals gewesen bin. Ich erinnere mich nur an so viel, daß ich zu schätzen weiß, daß die Qual zu leben erheblich geringer geworden ist. Ich habe gelernt, zufriedener zu sein. Ich bin dort, wo ich hingehöre – und ich meine damit nicht unbedingt hier auf dem Weg zum Mount Everest –, sondern ich bin jetzt dort, wo ich sein sollte. Mein Leben hat die Tendenz, äußerst unbeständig zu sein, aber ich glaube, ich habe eingesehen und akzeptiert, daß meine Unbeständigkeit aus einer komplexen Persönlichkeit mit zahlreichen Nuancen resultiert, die alle zu einer gewissen Zeit ihr Recht fordern. Solange ich diesen inneren Fluß nicht blockiere, befinde ich mich in Harmonie. Diese Empfindung, wirklich zu leben, mit dem inneren Fluß im Einklang zu sein, ist die größte Leistung – so sagt man –, und wieder und wieder werden Metaphern benutzt, um diese Erfahrung anschaulich zu machen. Die Mystiker des Mittelalters sagten, die »innere Gotterfahrung« sei die Quelle des Lebens, und Zen-Buddhisten vergleichen die Erfahrung der Er99
leuchtung damit, einen Schluck Wasser zu trinken, nachdem man in der Wüste beinahe verdurstet ist. In jeder Kultur gibt es dieses Gefühl einer vollkommenen Erfüllung. Es ist ein Grundwert, der über alle religiösen Schranken hinaus Gültigkeit hat. Die Sonnenstrahlen wärmen mich, also wasche ich mir die Haare. Der Wind wird jetzt kälter, und ich sehne mich nach den eisigen Landschaften des Khumbu-Gletschers. *** Ich bin glücklich. Den Nachmittag bringen wir damit zu, den Gebrauch des Gamow-Sacks zu üben. Jim Litch, ein Arzt aus der Höhenklinik in Pheriche, macht mit und teilt uns seine Erfahrungen mit der Höhenkrankheit mit: »Große Höhe kann tödlich sein. Lassen Sie es ruhig angehen – langsam, ganz langsam –, dann wird Ihnen nichts passieren.« Die Symptome der Höhenkrankheit sind vielfältig. Höhenlungenödem: Die Lungenkammern füllen sich mit Flüssigkeit – man ertrinkt buchstäblich an seiner eigenen Körperflüssigkeit. Gründe dafür sind wahrscheinlich Sauerstoffmangel und erhöhter Druck in den Lungenarterien. Vorbeugung: Allmählicher Anstieg. Behandlung: Sofortiger Abstieg oder die Erhöhung des atmosphärischen Drucks um das Opfer herum mit Hilfe des Gamow-Sacks. Der Schlüssel heißt: mehr Sauerstoff. Außerdem soll das Steroid Dexamethasone das Austreten der Flüssigkeit stoppen. 100
Höhenhirnödem: Aus den Blutgefäßen im Hirn tritt Flüssigkeit aus und staut sich. Durch den Druck nehmen die geistigen und motorischen Fähigkeiten ab. Koma und Tod können eintreten, wenn die Person nicht sofort absteigt. Ausgelöst wird das Höhenhirnödem durch Sauerstoffmangel. Vorbeugung: Allmählicher Anstieg. Behandlung: Wie bei Höhenlungenödem. Meine Hausaufgaben nehmen hier andere Dimensionen an. Ich habe extremen Respekt vor den Zerstörungen, die der Sauerstoffmangel in großer Höhe im Körper anrichten kann. Für vieles kann man trainieren, sich vorbereiten, aber man hat keinen Einfluß darauf, wie der Körper reagieren wird, wenn sich die Sauerstoffzufuhr reduziert. Man kann nur die Symptome kennen und vernünftig reagieren. Das heißt, wenn man das Glück hat, daß einem klar ist, was geschieht, denn ein Hirnödem kann die Fähigkeit zu intelligentem und rationalem Denken und Handeln beeinträchtigen. Ganz schön unheimlich! Einige von uns wird es treffen. Das ist einfach so, auch wenn wir jetzt noch nicht wissen können, wer es sein wird. Dale ist mit Höhe noch nie gut zurechtgekommen und hat die letzten Tage an schweren Symptomen gelitten. Die Höhenkrankheit hat ihn schon öfter gezwungen, eine Expedition abzubrechen. Ich begreife nicht, wieso er seine Energie darauf verwendet, es noch einmal zu versuchen. Wir hatten das Thema in Colorado angesprochen, und ich fragte ihn: 101
»Warum verlegst du dich nicht auf Felsklettern – oder Eisklettern?« Dale ist bärenstark und könnte an Felswänden Großartiges leisten. Statt dessen muß er wegen der Höhe eine Niederlage nach der anderen einstecken. Wenn man auf früheren Touren an einem Höhenlungenödem oder Höhenhirnödem gelitten hat, wird sich das wahrscheinlich wiederholen. Andererseits hat man nicht die Garantie, daß es einen nicht erwischen wird, nur weil man bislang noch keine größeren Probleme gehabt hat. Weil Dale groß ist, muß er für uns »Opfer« spielen, als wir üben, den Gamow-Sack zu benutzen. Es ist ganz schön mühsam, einen Mann im »Dämmerzustand« in den zigarrenförmigen Sack zu verfrachten, aber schließlich späht Dale lächelnd durch das kleine Plastikfenster. Die Sauerstoffsättigung in Dales Blut erhöht sich durch sehr wenige Pumpstöße von 75 auf 98 Prozent; gleichzeitig erhöht sich auch sein Pulsschlag. Martin, der zum Pumper ernannt wurde, braucht nach seiner Leistung wahrscheinlich selbst gleich eine Ladung Sauerstoffes ist sehr anstrengend, auf dieser Höhe einen gleichmäßigen, ausreichenden Druck in dem Sack aufrecht zu erhalten, und das veranlaßt Jim zu weiteren Berichten über den Transport von höhenkranken Opfern im Gamow-Sack über den Khumbu-Eisbruch. Scott erzählt eine nette Geschichte von einem früheren Test mit den Sherpas: »Dieser ganze Mist mit dem atmosphärischen Druck ist ganz schön kompliziert, vor allem hier oben, wo das Hirn nicht genug O2 102
kriegt. Ich kann technische Details sowieso nicht besonders gut erklären. Also setze ich einfach meine hochentwickelten pädagogischen Fähigkeiten ein, um den Sherpas begreiflich zu machen, was die GamowSäcke bewirken. Ich sage ihnen, wenn einer von ihnen oben in Lager II auf 6 492 Metern krank würde, könnten wir ihn in den Gamow-Sack stecken und das wäre dann so, als wäre er in Lhasa. Die Finger schnellen in die Höhe, als ich einen Freiwilligen suche – sie wollen alle nach Lhasa!« Dale macht es sich in seiner Druckkammer gemütlich, grinst, zeigt wieder und wieder das Pulsoxymeter. Das hilft ihm vielleicht, sich ein wenig von seinen Höhenproblemen zu erholen. Gut zu wissen, daß unser Sack funktioniert, und noch besser, festzustellen, daß unser Teamwork ausgezeichnet ist. Hier und da kleinere Schwächen, die Folge der schrecklichen Durchfälle, der Übelkeit und der Höhe, aber ansonsten sind wir ein verdammt gutes Team: stark und ausgeglichen. Außerdem sind wir kooperativ, wie diese Übungsstunde gezeigt hat. Wir sind alle ziemlich starke Persönlichkeiten und kennen unsere Stärken, also kann niemand dominieren. Wir sind Erwachsene, tragen die Spuren von Lebenserfahrung und bilden eine gute, anregende Gemeinschaft – jeder auf seine oder ihre Weise. Was für ein Privileg, daß wir wir selbst sein dürfen! Neal scheint jedoch irgendwie nicht mit mir klarzukommen. Ich habe den Eindruck, daß ihm seine Ernennung zum zweiten Bergführer zu Kopf gestiegen ist. Er kommentiert und erklärt Sachen, die ich schon 103
vor langer Zeit anderswo gelernt habe, und benimmt sich recht herablassend. Scott schüttelt den Kopf. »Neal, das weiß sie!« Ich lächle, halte aber Distanz zu Neal. Ich steige schließlich nicht auf den Mount Everest, um das Ego von irgend jemandem zu stärken. Höchstens mein eigenes – kicher. Mir wäre am liebsten, wenn er mir einfach aus dem Weg ginge. *** In der Mythologie zeichnen sich Helden durch eine Berufung aus, der sie ohne jeden Zweifel folgen. Der Held in einem Abenteuer denkt nie daran, einen Rückzieher zu machen. Es gibt keine Diskussion: Die Mission muß erfüllt werden. In der Regel werden wir Menschen von miteinander konkurrierenden Ängsten heimgesucht – »Soll ich?«, »Soll ich nicht?«, »Wieso?«, »Wieso nicht?« – und Verwirrung und Unsicherheit führen dazu, daß man gar nichts tut. Der Held jedoch muß bis zum Ende weitermachen, selbst wenn sein Leben auf dem Spiel steht. Mit dieser Berufung, diesem Gehorsam einer inneren Autorität gegenüber, ist der Held das Modell einer Persönlichkeit, die ihre Kräfte konzentrieren kann. Aber die Menschen sind nur selten so zielgerichtet. Ein Hauptproblem unseres Daseins liegt darin, daß wir uns darüber klarwerden müssen, wofür wir verantwortlich sind und wo diese Verantwortung aufhört. Unser ganzes Leben lang sind wir gezwungen, zu bewerten und neu zu bewerten, wo in dem sich ständig 104
wandelnden Fluß des Lebens unsere Verantwortungen liegen. Die Wahrheit wird gemieden, wenn sie schmerzlich ist oder Entscheidungen verlangt, die wir nicht treffen wollen. Aber wir müssen es wagen, uns voll und ganz der Wahrheit zu verpflichten. Geistige Entwicklung ist der unaufhörliche Prozeß, die Realität so zu nehmen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie uns wünschen. Um den Mut zu finden, das Leben zu seinen Bedingungen zu leben, muß man sich von Illusionen verabschieden. Und wer tut das schon ohne Kampf? Ich kämpfe darum, mir mein ideales Bild von Scott zu erhalten, aber ich werde zunehmend mit Fakten konfrontiert, die mir das unmöglich machen. Ich habe den Eindruck, daß Scott nicht den breiten Überblick eines echten Profis besitzt. Ich bin froh, daß ich nach so vielen Jahren gelernt habe, die Philosophie des »Traue niemandem außer dir selbst« in den extremen Situationen des Lebens zu akzeptieren. Aber ich habe auch bemerkt, daß Scott, seit wir uns 1991 kennengelernt haben, genauso gereift ist wie ich. Scott und ich sind wie wilde Kinder: Wir können uns benehmen, aber niemand kann uns beherrschen. Innere Selbstdisziplin ist nicht gerade deine Stärke, Scott Fischer – in dieser Hinsicht bist du noch immer nicht erwachsen. Ich lese »On Top of the World« von Rebecca Stephens, über die erste Britin, die den Mount Everest bestiegen hat, und stoße dabei auf den folgenden Satz: »Zum Glück bin ich krankhaft optimistisch, 105
sonst wäre ich niemals auf diese verrückte Idee gekommen!« Ich muß mich glücklicherweise nicht davon überzeugen, daß das hier vernünftig ist – denn das ist es nicht! Ich würde gerne wissen, wie Klev dieses Unternehmen rechtfertigt. Er ist ein sehr gewissenhafter Mann, zweifellos ein engagierter Familienvater mit ehrlicher Achtung für seine Frau und echter Liebe zu ihr, und er nimmt seine Kinder und seine Arbeit sehr ernst. Ich werde ihn später fragen müssen. Als Frau und als die Mutter, die ich irgendwann hoffentlich sein werde, kann ich Männer, die Kinder haben und trotzdem bei diesem tödlichen Spiel mitmachen, nicht respektieren. Vielleicht können die Väter in diesem Team meine Meinung ändern. Ich stelle mir vor, daß ich, wenn ich Kinder habe, nicht mehr an dem Wettlauf um die Besteigung der vierzehn Achttausender teilnehmen werde. Vom heutigen Standpunkt aus bin ich der Ansicht, daß man sich für das eine oder das andere entscheiden muß, denn die Gefahr, daß man bei extremen Touren ums Leben kommt, ist zu groß. Man muß nur ein paar Expeditionsberichte studieren, um die Chancen auszurechnen – sie sind ganz schön schlecht!
Gorak Shep: 7.4. 1996 Jetzt kommen wir dem Basislager wirklich näher. Auf dem Weg von Lobuche – was ist das nur für ein Schlammloch geworden! – etwas Schnee, und obwohl 106
schon so viele Yaks mit Expeditionsausrüstung bis hierher gelangt sind, kommen sie jetzt nur mehr schwer voran. Der Harsch trägt sie nicht, sie brechen ein und bleiben stecken. Die Yaktreiber sind oft junge Burschen, die nur Plastiklatschen an den Füßen haben, also ist es verständlich, daß sie mehr Bezahlung verlangen. Wir verrückten Ausländer sind auf einen strengen Zeitplan angewiesen, um das »Wetterfenster« zu erwischen: eine Pause in den heftigen Unwettern oben am Berg, Mitte Mai, bevor Anfang Juni der Monsun einsetzt. Wir müssen genau dann hinauf, um überhaupt eine Chance am Berg zu haben, und wir hinken dem ursprünglichen Zeitplan, laut dem wir am 6. April im Basislager ankommen sollten, schon jetzt hinterher. Aber die anderen Expeditionen haben mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ich frage mich, wo wohl meine dänischen Landsleute sein mögen? Glaube, heute morgen außerhalb von Lobuche ihre langen gelben Fleeceunterhosen erkannt zu haben. *** »Hey, Anatoli! Wie schön, dich wiederzusehen. Wie sieht es oben aus? Sind unsere Sachen angekommen? Wie sind die Bedingungen im Eisbruch? Wie viele Expeditionen sind dieses Jahr hier?« Die Fragen hageln auf den armen Russen herunter, der offensichtlich genug davon hatte, im Basislager zu warten: Also stürmte er in Turnschuhen und mit Skistöcken davon und 107
machte einen Abstecher hinunter nach Gorak Shep, um uns zu besuchen. Er ist wirklich bemerkenswert, dieser Mann aus Kasachstan. Irgend etwas an seiner Art weckt mein Vertrauen, auch wenn er sich durchaus nicht in den Vordergrund drängt. Ganz im Gegenteil! Wir haben uns vor unserem schönen, gemütlichen Zeltlager versammelt und hören Anatolis Antworten. Ich schieße Foto um Foto von seinem Gesicht. »Ich will nicht fotografiert werden. Nicht noch mehr.« Anatolis Ablehnung klingt barsch. Ich mache trotzdem weiter. »Ich werde dich in Dänemark berühmt machen.« Welchen Vorteil das für diesen großartigen Kletterer auch bringen mag. »Wieso?« Ich weiß es wirklich nicht. »Vielleicht, weil du es verdient hast. Wie viele Filme hast du für deine Kamera, Anatoli?« »Genug.« »Wie viele sind das?« Ich dränge mich ihm auf. Wieso? »Sieben oder acht.« »Einer meiner Sponsoren hat mir Unmengen Filme zur Verfügung gestellt; im Basislager gebe ich dir welche.« »Wieso?« Weil ich so viele habe und du so wenige. Deswegen. Dieser Mann spricht mein mütterliches Herz an. Niemand kann erklären, wie Intuition funktioniert, und manchmal reagiere ich ganz spontan, ohne zu 108
wissen, ob das, was ich tue, sich als richtig oder falsch erweisen wird. Auf Anatoli reagiere ich spontan mit großer Hochachtung und einer Art Fürsorge, die eigentlich die Grenzen verletzt, die seine Worte gesetzt haben. Ich erlaube mir ihm gegenüber mehr Freiheiten, als die kurze Zeit, die wir uns kennen, logisch erklären kann. Je genauer ich darauf achte, wie er die Fragen anderer beantwortet, desto größer wird mein Respekt. Anatoli gewährt mir ein wenig Einblick in das Land, aus dem er stammt. Seine Liebe zu diesem Land ist anrührend. Was weiß ich überhaupt über das Leben in der früheren Sowjetunion? Ich habe so viel Zeit in das Projekt Mount Everest investiert, daß ich es versäumt habe, mein Wissen in anderen Bereichen zu erweitern. Jane und Sandy besprechen, wie sie Anatoli eine Arbeitserlaubnis für die Vereinigten Staaten beschaffen können. »Wieso? Ich bin Russe.« Er hat recht. Wieso gehen wir automatisch davon aus, daß Rußland etwas Schlechtes ist und daß alle Russen in die Vereinigten Staaten kommen wollen? Hmmm! Stoff zum Nachdenken, obwohl Anatoli gewitzt genug ist, um zu wissen, was das Beste für seine Zukunft ist. Aber er ist stolz darauf, Russe zu sein. Falsch, kein Russe. »Ich bin aus Kasachstan. Ich bin Kasache«, entgegnet Anatoli kurz und bündig auf die Fragen anderer Leute. Von sich aus spricht er nicht. 109
Ich bewundere seine unverwechselbare Mütze. Eine spitze, bunte Wollmütze mit roter Stickerei. »Sie stammt aus meiner Heimat. Wenn du mal dort bist, bekommst du eine.« Anatoli weicht allen Fragen über die Zukunft aus mit der Entgegnung: »Erst muß ich diese Expedition überleben.«
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3. Am Berg
Basislager am Mount Everest: 8.–9.4. 1996 Erster Tag im Basislager am Mount Everest, und ich bin glücklich in meiner neuen Heimat aus Eis und Schnee. Im Augenblick kommt es mir so vor, als könne ich nie genug davon bekommen, hier zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, diesen Ort in knapp zwei Monaten wieder zu verlassen. Hier zu sein ist die Erfüllung meiner Träume und eine Unterbrechung der gelegentlichen Monotonie des Lebens. Ich glaube, meine Chancen, den Mount Everest zu »erobern«, hängen von meiner geistigen Verfassung ab. Darum muß ich dafür sorgen, daß ich keine »schlechten Tage« habe. Kraftraubende Konflikte, sowohl innere als auch äußere, darf es nicht geben, und auf schlechte Laune kann ich einfach keine Energie verschwenden. Zum Glück habe ich meine Geheimwaffen, um mich in den richtigen psychischen Zustand zu versetzen – das heißt unter der Voraussetzung, daß ich genug Selbstdisziplin aufbringe, um sie anzuwenden. Tai Chi und Nachdenken über das »I Ging«, das chinesische »Buch der Wandlungen«, beruhigen meinen 111
Geist, wenn die Außenwelt zu unbegreiflich scheint oder sich nicht so verhalten will, wie ich es wünsche. Dann verlagere ich mein Zentrum und stelle den inneren Frieden wieder her, indem ich diese Methoden anwende. Ich weiß, daß das Maß an »Erfolg«, das ich erziele, von meinem inneren Gleichgewicht abhängt, und ich habe gelernt, daß meine innere Ausgeglichenheit in meiner Verantwortung liegt. Ich entscheide – in gewissem Maße – selbst, wie mein Geist auf äußere Ereignisse reagiert, und innere Stimmungsschwankungen kann ich mit Hilfe von Selbstdisziplin beherrschen. Mein geschätzter Tai Chi-Lehrer Åge ist ein besonders guter Lehrer. Wenn ich von meiner Arbeit im Drogenbehandlungszentrum ganz mitgenommen zum Training erschien, wies er mich an: »Konzentriere dich auf das Training, bündele deine Energien, und trenne dich von allem, was an deinen Kräften zehrt.« Seine Methode war außerordentlich erfolgreich. Also hängt die Kontrolle meiner Launen leider von der Mühe ab, die ich mir gebe, die Balance zu halten und nicht den Halt zu verlieren, ganz gleich, wo ich bin oder mit wem. Jetzt, da wir im Basislager angekommen sind, wirkt Scott ein wenig entspannter. Er scheint die Situation weitgehend im Griff zu haben. Unser Küchenpersonal hat ein Steinhaus errichtet, das mit einer hellblauen Plane abgedeckt ist, und dieses Haus ist zum gesellschaftlichen Zentrum der Sherpas im Lager geworden. 112
Ngima, unser Sirdar im Basislager, ist ein kluger, kompetenter Leiter. Ich konnte mir die Namen der einzelnen Küchensherpas noch nicht richtig merken, aber ihre lächelnden Gesichter bestätigen mich in meiner Sehnsucht, wieder nach Nepal zurückzukehren – ich hatte es mir all die Jahre über also nicht nur eingebildet, die Sherpas haben wirklich ein gewisses Etwas … Unser Speisezelt wurde aufgestellt – ein russisches Tunnelzelt in drei Schattierungen von Lila, ein Ort, an den man gerne zurückkehrt, wenn man vom Berg hinabsteigt. Ich versuche mir vorzustellen, wie es vom Eisbruch aus aussehen wird, aber ich sollte wohl einfach abwarten. Hinter dem Speisezelt ist das Kommunikationszentrum – ein ganzes Zelt mit Ausrüstung von NBC, das Sandy zur Verfügung steht, damit sie ihre täglichen Berichte machen und auf der Website nbc.com interviewt werden kann. Ich frage mich, wie viele Extraträger sie wohl bezahlt hat, um das Zeug hier heraufzubekommen? Die Technik nimmt fünfmal soviel Platz ein wie Ingrids Klinik. Ich sehe dieses Medienspektakel, in dem Sandy hier versinkt, mit gemischten Gefühlen, aber wie sagt man doch: »Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.« Ohne die dänische Presse wäre ich nicht hier. Die Welt ist, wie sie ist, und sie wird nun mal in beunruhigendem Maße von den Medien beherrscht. Daher muß ich mich entweder fügen – oder …? Ich bin mit der Übermittlungsmethode, die ich mit 113
»Ekstra Bladet« vereinbart habe, zufrieden. Unser Motto: So einfach wie möglich! Also war Technik ausgeschlossen. Sie neigt ohnehin dazu, nicht planmäßig zu funktionieren und Dinge komplizierter zu machen, wenn man abseits der Zivilisation ist. Statt dessen habe ich in drei Notizbücher und viele Kugelschreiber investiert. Rud wird die angenehme Aufgabe haben, im Laufe der Expedition meine Schrift zu entziffern. Unser Bote wird die Berichte über die Besteigung hinunter nach Namche Bazaar bringen, von wo sie per Hubschrauberfracht nach Katmandu und dann auf P. B.s Motorrad hinaus zu unserem Mann in der nepalesischen Filiale von Wilson Freight gebracht werden. Dort kommt dann die moderne Technik zum Zuge: Expreßsendung zu Rud Kofoed und Jan Unger bei »Ekstra Bladet«. Möglicherweise innerhalb von vier Tagen! Was mich betrifft, so habe ich dafür gesorgt, daß ich nur per Post zu erreichen bin, und das dauert mindestens drei Wochen. Ich bin hier, um Frieden zu finden und mich von allem loszulösen, was sich in der modernen Welt viel zu schnell bewegt. Neben der Küche ist das Vorratszelt, in dem sich die gesamte Expeditionsverpflegung befindet: italienische Delikateßwürste, Cracker, Reis, Nudeln, Räucherkäse, Müsli, gedörrtes Rindfleisch, gedörrtes Putenfleisch, gedörrtes Hirschfleisch, Dörrfleisch mit Chili, geräuchertes Dörrfleisch, eine Orgie aus getrocknetem Fleisch in Streifen. Das bildet den Großteil der Kalorien, die wir hier im Basislager und vielleicht auch in Lager II auf114
nehmen, doch weiter oben werden wir von flüssiger Nahrung leben – Gatorade, Reeloade (würg!) und Power-Bars. Außerdem befinden sich in diesem Zelt: Kletterseile, Skistöcke, Sauerstoffbehälter, Schlafsäcke für die oberen Lager, der Gamow-Sack und Jane, die zwischen den Säcken eine gemütliche, warme Mulde für ein Nachmittagsschläfchen gefunden hat. *** »Hey, Ngima, hast du eine Ahnung, wann die restlichen Säcke ankommen sollen? Mir fehlt noch immer eins meiner Zelte, und ich kann mich nicht häuslich einrichten, bevor ich nicht alles beisammen habe.« »Sie sollten eigentlich heute abend ankommen. Aber ein Yak ist uns weggelaufen. Pemba sucht es.« Kein Problem. Ich werde einfach weiter Steine und Eis von der Plattform wegräumen, die ich mir als Zeltplatz ausgeguckt habe. Die Zelte der verschiedenen Teams sind auf dem Gletscher verstreut und bilden ein nettes Dorf, in dem wir alle in Sicht- und Hörweite voneinander sind. Ich habe mir einen kleinen Gletscherhügel ausgesucht, ein wenig abseits vom Hauptlager, weil er einen schönen Ausblick auf den Khumbu-Eisbruch bietet und weil ich nicht vom Lärm anderer Leute gestört werden will. Es ist ziemlich anstrengend, eine Eisfläche zu schaffen, auf der die Bodenplane meines Zeltes Platz hat. Ich will nach Möglichkeit von Steinschlag verschont bleiben. Der Gletscher ist ständig in Bewegung und taut in der Hitze des Ta115
ges, also könnten leicht einmal Felsbrocken herunterpurzeln – möglichst nicht auf mich. Gutes Training, in diesen Felsbrocken herumzustolpern. »Starke Dänin«, kommentiert Anatoli von dem Felsen aus, auf dem er sich sonnt. Sein blaues Baumwollzelt, das mit weißen Narzissen übersät ist, lockert diesen Ort auf wie ein Strauß Blumen einen kahlen Raum und unterstreicht, wie verschieden unsere Heimatländer sind. Die Zelte der anderen Expeditionsteilnehmer sind High-Tech-Expeditionsausrüstung auf dem neuesten Stand. Ich bin mir nicht sicher, ob Anatoli das sarkastisch meint oder wirklich so, wie er es sagt. Ist mir eigentlich auch egal. Mit der Zeit wird sich herausstellen, ob ich stark genug bin, um das zu tun, was ich vorhabe: Zum Gipfel und heil wieder zurück – ohne Sauerstoff! Seine Meinung ist schließlich seine Sache. Nur weil sie aus seinem Mund kommt, ist sie nicht automatisch die Wahrheit. Aber schließlich sind Unterstützung oder Neutralität weniger kraftraubend als negative Strömungen. Die Krönung unseres Lagers ist das Klo, wunderbar aus Stein gebaut, mit hohen Wänden auf den drei Seiten, an denen »Touristen« vorbeikommen könnten. Die vierte, halbhohe Wand ist dem Pumori zugewandt; man kann also den Ausblick auf diesen Berg und die Gletscherseen in der Nähe genießen. Der Himmel bildet das Dach, und die Segeltuchtür ist mit einer ausgeklügelten Kombination aus Schnüren be116
festigt, so daß die Würde selbst bei heftigem Sturm gewahrt bleibt. Auf dem Boden liegen große, flache Steinfliesen, die eine Öffnung über einem tiefen, tiefen Loch freilassen, wie bei einem altmodischen Plumpsklo. Allerdings müssen alle Geschäfte im Stehen erledigt werden. Zuerst war das Loch zu groß – ein Fehltritt, und man wäre unten in dem wachsenden Haufen Scheiße gelandet. Die Konstruktion wurde mit hervorragendem Erfolg verbessert, aber der Boden mußte dabei erhöht werden, so daß jetzt der Oberkörper im Freien bleibt. Wirklich nett, denn man sieht sofort, ob und von wem das Klo besetzt ist. Toilettenpapier gibt es im Speisezelt. Eine wertvolle Papiersorte, in jeder Hinsicht. Wenn man ausreichend Toilettenpapier hat, kann man später in der Saison gut mit schlechter ausgerüsteten Expeditionen handeln! Mein Zelt kommt, und Krishna besteht lächelnd darauf, beim Aufbauen zu helfen – ein rotes Country Couple-Zelt mit allen Finessen, einschließlich eines Trockennetzes für den Innenraum, das unter der Decke befestigt wird, und zusätzlicher Stangen für den Fall eines Sturmschadens. Flemming von »Ski & Tøj«, einer meiner Sponsoren, war unbezahlbar, als es darum ging, die bestmögliche Ausrüstung für mich zu beschaffen und mir beim Zunehmen zu helfen. Er ist ein ausgezeichneter Koch und ein perfekter Gastgeber und war ein unterhaltsamer Reisebegleiter auf den winterlichen Trainingstouren nach Chamonix. Und er 117
ist ein Mann fürs Detail, daher habe ich viel über das Neueste in der Bergsteigerausrüstung erfahren. Krishna, ein Sherpa mit unverwechselbarem Gesicht, spricht ein wenig Englisch und wird während der gesamten Expedition im Basislager bleiben. Er ist dafür zuständig, von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht für alles zu sorgen, was wir brauchen, soweit es Essen und Trinken betrifft. Gemeinsam mit zwei anderen Sherpas steht er früh auf, holt Wasser aus dem nächstgelegenen Gletscherteich, kocht es und dreht die morgendliche Weckrunde an allen Zelten vorbei. »Guten Morgen. Tee fertig.« Man kann sich leicht daran gewöhnen, jeden Morgen von einem dienstfertigen, lächelnden jungen Mann geweckt zu werden, der einem eine Tasse dampfend heißen Tee durch eine eisbedeckte Öffnung reicht, während man selbst noch warm und schläfrig im Schlafsack liegt. Muß ein Überbleibsel aus der britischen Ära sein. Es gibt auch Kaffee. Scott hat unserem Team schon längst beigebracht, wie man starken Starbucks-Kaffee à la Seattle macht. Wir alle – Klienten, Bergführer und Sherpas – gehören zu Scotts weitläufiger Familie in der KhumbuGegend und werden entsprechend behandelt. Jeder kennt jeden und ist auf die eine oder andere Weise verwandt. Auf dieser Tour haben wir die Ehre, Lopsangs Vater, Ngawang Sya Kya, als Höhenkletterer mit dabeizuhaben. Lopsangs Vater hat schon für verschiedene Mount-Everest-Expeditionen gearbeitet, ist 118
aber noch nie auf dem Gipfel gewesen, daher war Scott so großherzig, ihm jetzt die Gelegenheit dazu zu bieten. Mein persönlicher Bericht über den Zustand der Sagarmatha-Umweltexpedition: •
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Scott ist ausgezeichnet in Form, eigentlich sogar besser als je zuvor, und er hat sich von seinem Husten erholt. Keine Magen- oder Höhenprobleme. Anatoli ist in super Verfassung. War schon eine Woche vor uns hier und ist gut akklimatisiert. Kann sich gut entspannen, wenn es darauf ankommt. Sandy ist in gutem Zustand und bestens gelaunt, hustet aber wie verrückt. Nimmt ziemlich starke Medikamente dagegen und sagt, sie fühle sich bärenstark, wenn sie diese genommen hat. Benutzt in großer Höhe einen Asthma-Inhalator. Charlotte ist in Topform. Eisenhart. Hustet und hat leichte Probleme mit Asthma, wegen ihrer Aktivität? Benutzt in großer Höhe einen Inhalator und will die gleichen Medikamente nehmen, die Sandy nimmt. Martin ist super in Form, hustet sich aber nachts die Lunge aus dem Leib. Neal ist in großartiger Verfassung, sehr schnell. Er hustet grünen Schleim aus. Typisch für ihn in großer Höhe. 119
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Tim ist physisch gut drauf. Er hat Kopfschmerzen und schläft. Etwas höhenkrank. Dale ist gut in Form. Kein Husten. Kein Appetit. Kopfschmerzen. Etwas höhenkrank. Pete ist in guter Verfassung. Harter Typ! Sein einziges Problem ist offenbar Schlaflosigkeit. Er kann wegen Atemproblemen nicht schlafen. Typisch für hier oben: In regelmäßigen Abständen kommt die Atmung fast zum Stillstand. Man wacht jäh auf, holt tief Luft und schläft bis zur nächsten Unterbrechung wieder ein. In Meereshöhe fällt der Sauerstoffgehalt der roten Blutkörperchen im Schlaf ab, weil sich Atemfrequenz und -tiefe leicht reduzieren; dieser Abfall ist jedoch nur unwesentlich. In großen Höhen ist die Reduzierung von Frequenz und Tiefe sehr deutlich, und es kommt viel häufiger zu ungleichmäßiger Atmung. Den Sauerstoffmangel, der dadurch hervorgerufen wird, nennt man Schlafhypoxie. * Pete hatte früher noch nie darunter zu leiden, also bietet ein Kardiologe – ein Klient in Rob Halls Expedition – ihm an, einige Experimente durchzuführen. Pete be-
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Schlafhypoxie ist auch die Erklärung dafür, wieso Kopfschmerzen und andere Symptome der akuten Höhenkrankheit morgens schlimmer sind und wieso Höhenlungenödeme für gewöhnlich im Laufe der Nacht akuter werden. In Meereshöhe beträgt der Sauerstoffgehalt der Blutkörperchen 94-96 Prozent, und dieser Pegel sinkt im Schlaf kaum ab. In 4 300 Metern Höhe beträgt der Sauerstoffgehalt etwa 86 Prozent, kann jedoch auf 75 Prozent, zeitweilig sogar auf 60 Prozent absinken. 120
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nutzt jetzt nachts zum Schlafen Sauerstoff, was bedeutet, daß er keine Chance haben wird, den Gipfel zu erreichen. Klev ist in super Verfassung. Stark. Ruhig. Aber manchmal hat er keinen Appetit. Er hat Probleme mit Durchfall. Er ist sehr reserviert. Klev und Pete sind fleißig, machen jeden Tag eine zusätzliche Wanderung, um zu trainieren und ihre Akklimatisierung zu verbessern. Ich selbst bin super in Form. Die Höhe bekommt mir gut. Nach einem ziemlich langsamen Beginn geht es jetzt aufwärts mit mir unter dem wachsamen, strengen Auge von Doktor Ingrid, die genau auf irgendwelche Anzeichen schlimmerer Komplikationen achtet. Ihr ist es auch zu verdanken, daß ich den Durchfall im Griff habe. Normalerweise warte ich, bis sich so etwas von selbst kuriert. Allerdings ist der Mount Everest nicht gerade die natürliche Umgebung meines Körpers, also habe ich mich nach ein paar Tagen des Leidens für die Pillen entschieden, um nicht noch schwächer zu werden. Ingrid macht einen starken Eindruck: Sie ist zielgerichtet und widmet sich mit ganzer Kraft ihren Aufgaben als Leiterin des Basislagers und Expeditionsärztin. Außerdem kann sie mein Haar nach Heidi-Art flechten, was unerläßlich ist, wenn ich dieses Unternehmen erfolgreich hinter mich bringen will. 121
Die Essensglocke ertönt. Das Läuten des aufgehängten leeren Sauerstoffzylinders bedeutet, daß es an der Zeit ist, daß ich mich aus dem Schlafsack hieve und den Walkman aus den Ohren nehme. Die Sonne ist verschwunden, und es wird schnell kalt. Runter mit Shorts, T-Shirt und Gletscherbrille. Statt dessen Helly HansenUnterwäsche, Feathered Friends-Unterhosen – ein Geschenk von Scott –, Lowe-Alpinfleece, Gore-Tex-Jacke und ein Paar Microfaserhandschuhe. Und komplett wird das Nachtoutfit durch meine »tibetanische Hochzeitsmütze«, eine pelzgefütterte, goldbestickte tibetanische Filzmütze mit langen Ohrenklappen – wirklich ein Geschenk, das den Kopf warm hält und mit dem man Kontakte zu Einheimischen herstellen kann. Ich habe die Mütze 1991 in Namche Bazaar auf dem Weg zum Island Peak gekauft. Bevor ich mich daran mache, mich über die drei Säcke zu zwängen, die mir im Weg liegen, stopfe ich mir eine Stirnlampe und Toilettenpapier in die Taschen und werfe eine Thermosflasche und eine Einliter-Plastikflasche aus dem Zelteingang. Nach jeder Mahlzeit füllen die Sherpas unsere Behälter mit kochendem Wasser. Die Thermosflasche sorgt dafür, daß mein Trinkwasser über Nacht nicht einfriert, und mit der gefüllten Plastikflasche wärme ich mir zu Anfang der Nacht die Füße. Ich achte peinlich genau darauf, genügend Flüssigkeit zu trinken – Wasser, Tee, Saft mit Wasser, Saft und noch mehr Wasser –, also wache ich nachts ständig auf, um zu trinken und zu pinkeln. Ausreichend Flüssigkeit fördert die Akklimatisierung und ist der beste Schutz vor Höhenkrankheit. 122
Jeder hier weiß das, aber Jane hat es zu Anfang nicht richtig ernst genommen. Seit wir jedoch im Basislager angekommen sind, macht ihr die Höhe merklich zu schaffen, und wir sind von ihrer rastlosen, lebhaften Energie und ihrem endlosen Reden befreit. Wenn sie überhaupt daran teilnimmt, dann kommt sie jetzt mit vier Wasserflaschen und einer übergroßen Daunenjacke zu den Mahlzeiten. Ich schätze, sie kann es kaum erwarten, in ein paar Tagen wieder von hier zu verschwinden.
Kletterplan der SagarmathaUmweltexpedition 1996: 9.4.: Puja-Zeremonie im Basislager (5 364 Meter). 10.4.: Erster Versuch durch den Khumbu-Eisbruch. 11.4.: Basislager bis Eisbruch (Umkehrzeit: 12 Uhr mittags), Rückkehr zum Basislager 12.4.: Basislager 13.–15.4.: Eisbruch. 123
Eine Nacht in Lager I (5 943 Meter). Rückkehr zum Basislager zum Ausruhen. 16.–20. 4.: Basislager bis Lager II (6 492 Meter). Eine Nacht in Lager I, eine Nacht in Lager II. Bis zum Anfang der Lhotse-Flanke. Rückkehr zum Basislager. 21.–22.4.: Ruhetage im Basislager. 23.–26.4.: Basislager bis Lager II. Eine Nacht in Lager II. Ersteigen der Lhotse-Flanke bis Lager III (7 315 Meter). Erste Nacht in Lager III. Rückkehr zu Lager II. Übernachtung. Rückkehr zum Basislager. 27.–30.4.: Ruhetage im Basislager oder weiter unten in Gorak Shep, Lobuche oder, auf Anatolis Empfehlung hin, Ama Dablam Garden Lodge. 1.–2.5: Ruhetage im Basislager oder weiter unten. 124
3.5.: Basislager bis Lager II. 4.5.: Ruhetag in Lager II. 5.5.: Lager II bis Lager III. 6.5.: Lager III bis Südsattel (7 900 Meter). 7.–8.5.: Südsattel bis Gipfel (8 848 Meter über dem Meeresspiegel). Scott und Anatoli diskutieren endlos über die Kletterroute. Es gibt verschiedene Wege, den Mount Everest zu besteigen, und die Vorliebe eines Kletterers beruht auf seiner oder ihrer Persönlichkeit und den Erfahrungen, die er oder sie am Berg gemacht hat. Anatoli schwört auf eine wirklich harte Methode: Bei jedem Aufstieg müssen wir bis an unsere Grenzen gehen und dann noch einen Schritt weiter – noch ein Stückchen höher steigen, noch mehr Schnee schaufeln, noch mehr Eisbrocken wegräumen. Ihm ist klar, daß das grausam ist und daß es weh tut – man muß den Willen zum Leiden haben. Dann müssen wir so weit wie möglich absteigen und abwechselnd ausruhen und aktiv sein. Körper und Geist werden sich in 125
dieser Zwischenphase akklimatisieren, und beim nächsten Aufstieg werden wir in besserer Verfassung sein. Anatoli meint auch, es sei das beste, sich vor dem Angriff auf den Gipfel lange auszuruhen. Jedesmal, wenn wir hoch oben sind, werden unsere Körper extrem geschwächt und entkräftet, auch wenn wir das Gefühl haben, daß es uns »dort oben« besser geht. Weil sich der menschliche Organismus in großer Höhe nicht regenerieren kann, ist es unerläßlich, daß man sich zusammenreißt, das Basislager verläßt und nach unten wandert, obwohl das ein ganzes Stück des Weges zurück bedeutet, bevor man den Gipfel in Angriff nimmt. Anatoli hat vor, bis nach Ama Dablam Garden Lodge hinunterzusteigen, wo er den blühenden Rhododendronwald, Vogelgesang (wie romantisch!) und, wie Martin meint, Frauen genießen kann. Wenn ich meinen Körper so weit vom Basislager weg entferne, fürchte ich, daß ich nicht mehr die Energie haben werde, zurückzukommen und zu klettern. Scott zieht einen schnelleren Plan in Betracht, aber ich prophezeie, daß er sich nicht so wird quälen können, wie er es vorhat. Und wenn man sich nur ansieht, was die Leute jetzt schon für Probleme haben, und wenn man sich vorstellt, daß unser Gesundheitszustand noch schlechter werden wird, wenn wir höher hinauf klettern, dann gibt es keine Chance, daß wir anderen das schaffen! Außerdem weiß ich, daß Scott sich elegant und flexibel der Realität anpassen kann. Mit einer ausgedehn126
ten Ruhepause vor dem Angriff auf den Gipfel ist er vollkommen einverstanden, fürchtet jedoch die Gefahr einer Mageninfektion, wenn wir tiefer als das Basislager hinabsteigen. Neal ist Scotts Plan zugeneigt, aber nach dem Abendessen, als die Expeditionsmitglieder die Meinung äußern, sie hätten genug Zeit und wollten sich lieber gründlich akklimatisieren, scheinen Scott und er sich eher Anatolis Denkweise anzuschließen. Ich höre zu und lerne. Ich habe noch nie einen Achttausender bestiegen, also muß ich von denen, die das schon hinter sich haben, lernen. Später werde ich mir selbst eine Meinung bilden – wenn ich dort gewesen bin. Aber ich bin Anatolis Plan zugeneigt. Ich weiß, daß ich nicht ohne Pause immer weitermachen kann. Aber mit der richtigen Mischung aus Ruhe und Anstrengung kann ich beinahe alles schaffen – in einer gewissen Zeit. 9.4. 1996: Wunderschöner Tag! Riesige Zeremonie. Die größte, an der ich je teilgenommen habe. Die Sherpas haben viel Mühe auf die Details verwandt, und ich schieße Bild um Bild. Ich habe schon wieder Neal am Hals, er führt sich auf wie ein Schulmeister. Wen kümmert’s? Scott ist mir als Fotolehrer lieber. Lopsang und die anderen Sherpas haben den Lageraltar fertiggestellt. Ich bin fasziniert davon, wie sie mit den Steinen, die es hier gibt, bauen können, aber natürlich hängt ihr Überleben von diesen Fähigkeiten 127
ab. Lopsangs sieben Meter langer Bambusstab ist in der Mitte des Altars aufgerichtet, und viele Reihen von Gebetsfahnen werden von der Spitze aus über unser ganzes Lager gezogen. Pemba und Krishna führen eine der Schnüre mit den Gebetsfahnen über mein Zelt und befestigen sie auf der anderen Seite mit großen Steinen. Was für eine Ehre, daß Gebetsfahnen über meinem Zuhause wehen. Hoffentlich fallen ein paar der Segensgebete auf mich herunter, bevor der Wind sie in den Himmel trägt. Om mani padme hum. Der Bambusstab und die Schnüre mit den Gebetsfahnen müssen für die Trekker, die vorbeikommen, ein beeindruckender Anblick sein. Als wir in Pakistan waren, leitete Lopsang die Puja-Zeremonie mit Rezitationen aus buddhistischen Schriften ein, aber jetzt sind ältere Männer anwesend, denen die ehrenvolle Aufgabe übertragen wird. Keines der Expeditionsmitglieder darf einen Fuß auf den berüchtigten Khumbu-Eisbruch, das Tor zum Mount Everest, setzen, bevor die Puja durchgeführt wurde. Das wäre eine unverzeihliche Schändung der Götter und würde Unglück heraufbeschwören. Die Puja muß an einem besonderen Tag durchgeführt werden, der vom berühmtesten Lama in Khumbu bestimmt wird, der angeblich Mond, Sonne und Sterne konsultiert. Zuerst heißt es, die Puja könne erst am Freitag stattfinden, aber dann wird beschlossen, daß sie heute abgehalten wird, am Dienstag, was Sandy zu einem trockenen Kommentar veranlaßt: »Un128
glaublich, wie man die Götter mit der richtigen Bezahlung beeinflussen kann.« Wer weiß? Dunst und Duft des angezündeten Weihrauchs hängen über dem Altar. Eine ganz schöne Versammlung: Elf Expeditionsmitglieder und die unschätzbaren Sherpas – Küchen- und Höhenpersonal –, ortsansässige Yaktreiber und die Leute von den anderen Expeditionen, die unserer Einladung »Alle sind willkommen!« gefolgt sind. Anatolis Privatärztin ist auch da. Linda Wylie ist eine faszinierende Frau aus Santa Fe in New Mexico. Jeden Nachmittag kommt sie auf Zehenspitzen wie eine anmutige Gazelle aus Henry Todds Lager, in dem sie wohnt, herüber zu Anatolis Zelt, in dem sie schläft. Von den meisten unbemerkt schlüpft sie in das geblümte Zelt. Jedesmal, wenn der Wind den Eisbruch hinunterweht, trägt er Anatolis Stimme und den Klang seiner Gitarre an meine Ohren. Jeden Morgen und jeden Abend spielt er für seine Auserwählte die schwermütigen Lieder aus seiner geliebten Heimat. Anatolis Gesang weckt in mir Sehnsucht nach Schlichtheit, Tiefe, Erfüllung … Verbundenheit. Die drei Sherpas rezitieren aus religiösen Schriften. Obwohl ich die Worte selbst nicht verstehe, verzaubert mich die feierliche Atmosphäre. Gleich beginnt das zeremonielle Reiswerfen. Reis wird verteilt, und als die Sherpas ihn in die Luft werfen, folgen wir ihrem Beispiel. Nach einer halben Stunde ist der feierliche Teil 129
vorüber, und der Spaß beginnt. Chang, der milchige nepalesische Reisschnaps, wird großzügig ausgeschenkt, gefolgt von Kukri-Rum. Besonders wichtig ist es jetzt, uns die gesegneten roten Bänder um den Hals zu binden. Sie werden uns vor allem Übel beschützen und uns heil von unserer gefährlichen Reise zurückbringen. Ich bitte Lopsang, meines festzubinden. Darauf folgen geweihte weiße Seidenschals. Das Küchenpersonal serviert winzige Skulpturen aus Butter. Und dann müssen wir etwas essen, das wie Scheiße aussieht und schmeckt, aber weil es mit viel Bier und Grimassenschneiden hinuntergeschluckt wird, trägt es nur dazu bei, die festliche Stimmung zu erhöhen. Unser üppiger Vorrat an Leckereien wird angebrochen, und jeder bekommt etwas. Die ausgelassene Party läßt uns beinahe die Eispickel vergessen. Aber nur beinahe, denn auch wenn wir jetzt feiern, droht schon der ernste Hintergrund hinter der Festlichkeit. Morgen geht es los! Also holen wir unsere Eispickel. Ich habe fünf! Zwei für eine Mischung aus Fels, Eis und Schnee, zwei Pickel speziell für Eis und einen superleichten Pickel für den Tag auf dem Gipfel, der nur dazu taugt, mich aufzufangen – so hoffe ich zumindest –, wenn ich abrutschen sollte. Alle Pickel liegen auf dem Altar und werden gesegnet, und über Nacht werden sie in der Obhut der Götter bleiben. Morgen früh vor Tagesanbruch werden wir sie auf unserem Weg zum Eisbruch abholen. Kim Sejberg von der International Commercial Expedition kommt zu Besuch – nett. Später treffe ich 130
Michael Jørgensen; er besucht Anatoli und ganz kurz auch mich. Nette Gesellschaft! Ich möchte den Gipfel des Mount Everest erreichen – und heil wieder zurückkommen! Ohne O2! Stark sein, und wenn möglich, auch attraktiv. Ich will an den Expeditionen teilnehmen, die nach diesem »Stunt« unweigerlich in der internationalen Kletterszene folgen werden. Ich habe mich in meinem kleinen Zelt ganz gut eingerichtet, und mein Garten ist mit Gebetsfahnen geschmückt. Ich betrachte das als besonderen Segen und als Geschenk. Ich fühle mich gewappnet, gesammelt und ausgeglichen und habe Vertrauen in mich. Ich bin stark! Ich wünsche meinen Teamkollegen und mir nur das Beste. Bevor ich mich hinlege, rüste ich meinen Klettergurt mit den nötigen Schlingen und Jümars und Schraubkarabinern, dem Abseilachter, zusätzlichen Karabinern und Prusikschlingen für den Notfall aus. Meine Kunststoffstiefel stehen bereit, die Steigeisen sind daran befestigt. Reparaturset in meinem Rucksack. Der längste Eispickel ist außen am Rucksack befestigt; Power-Riegel und Ersatzhandschuhe sind darin. Und nicht zu vergessen die Münze, die Johnny mir am Morgen meiner Abreise geschenkt hat. Die drei Musketiere – Steff, Johnny und ich – haben es gemeinsam geschafft, das Drogenbehandlungszentrum King’s Island zu gründen. Mir ist klar, wieviel ihm diese Münze bedeutet hat – also bedeutet sie mir genauso viel. Bei diesem ersten Aufstieg ist die Last so leicht wie möglich. Beim nächsten Mal volles Gepäck. 131
Der Zeitplan für morgen früh sieht so aus: 4.30 Uhr Wecktee. 5.00 Uhr Frühstück. 5.30 Uhr Aufbruch. Das Ziel für morgen ist, so weit wie möglich durch den Eisbruch zu klettern. Um 12 Uhr mittags kehren wir um, egal, ob wir durchgekommen sind oder nicht. Wenn wir uns akklimatisiert und unsere Form verbessert haben, werden wir weniger Zeit brauchen, um das andere Ende des Eisbruchs zu erreichen. Im Eisbruch sind Geschwindigkeit und Sicherheit untrennbar miteinander verknüpft. Sobald die Sonne so hoch gestiegen ist, daß das Eis angetaut wird, ist es da oben höllisch gefährlich, was nicht heißen soll, daß uns nicht schon vorher etwas auf den Kopf fallen kann, denn der Khumbu-Gletscher bewegt sich jeden Tag um mehrere Meter. Vor Ewigkeiten habe ich Scott gefragt: »Was glaubst du, wie lange ich brauche, um den Khumbu-Eisbruch zum erstenmal zu erklettern?« »Du, meine Liebe, wirst neun Stunden brauchen. Ich fünfeinhalb. Später werden wir dann schneller«, meinte er. Ich liege in meinem Schlafsack und schicke in die tiefschwarze Nacht das Gebet, daß wir morgen alle heil von unserem ersten Vorstoß durch den Eisbruch zurückkehren.
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Khumbu-Eisbruch: 10.4. 1996 Ich hasse nichts so sehr, wie morgens früh aufzustehen – in dieser Hinsicht bin ich eine schlechte Kletterin! Heute morgen gehöre ich zu den letzten im Speisezelt. Ich trinke reichlich Flüssigkeit, kann aber keine Chapati oder Omeletts essen. Zu dieser unchristlichen Zeit weigert sich mein Magen, Nahrung aufzunehmen. Auch auf den Vitaminzirkus verzichte ich; habe nicht den Mut, vor einer großen körperlichen Anstrengung, tödlich kombiniert mit großer Höhe, fünfzehn bis zwanzig Kapseln zu schlucken! Pete, Klev und Dale sind schon lange weg. Sandy und Martin verlassen gerade das Zelt, als ich komme. Scott und Neal werden die Nachhut sein und als letzte aufbrechen. Tim und Charlotte warten auf mich. Lene, wie kannst du nur so langsam sein, tadele ich mich. Ich fülle die Flasche mit Wasser und Gatorade. Anatoli wird wahrscheinlich erst ein paar Stunden nach unserem Aufbruch merken, daß wir klettern. Los geht’s, durch die im Halbschlaf befindliche Lagergemeinschaft. Wir sind ziemlich früh dran, darum ziehen noch keine anderen Teams in unsere Richtung. Ich begrüße David Breashears, den Leiter der IMAXExpedition. David filmt eine mehrere Millionen Dollar teure Dokumentation über die Mount-EverestBesteigung. Er scheint ein anständiger Kerl zu sein. Sandy und er haben mehrere Projekte gemeinsam gemacht. Beweg deinen Arsch, Lene. Jetzt oder nie, sage 133
ich mir, als ich mich hinter Charlotte und Tim einreihe. Unsere liebe Doktor Ingrid hat ihren Schlafsack verlassen, nur um uns am Eingang zum Eisbruch ordentlich zu verabschieden. Die Vorausgeeilten warten auf uns an der flachen Stelle, an der die meisten Leute ihre Steigeisen anschnallen. Der erste Trip durch den Eisbruch: Wir werden gemeinsam leiden, das gibt mir Sicherheit. Die Stirnlampen brauchen wir nicht mehr, es wird langsam hell. *** Ich bin da! Hier beginnt die eigentliche Bergbesteigung. Ich habe so lange wie ein Tier dafür gearbeitet, daß ich heute hier sein kann. Ich bin aufgeregt – nicht nervös oder ängstlich. Ich habe mich bewußt dafür entschieden, die Bedingungen, die hier gelten, anzunehmen und sie zu akzeptieren, daher ist Angst überflüssig. Der Eisbruch ist großartig. Als ich ihn zum ersten Mal sah, das war 1991, erinnerte er mich an die Niagarafälle in eisiger Erstarrung. Unsere Route führt uns mitten durch diese Vielfalt an blauem Eis, grünlichem Eis, schneebedecktem Eis. Ich schließe mich den anderen an, und wir beginnen mit dem Aufstieg. Es ist anstrengend. Die Höhe und die Steigung machen sich bemerkbar! Die erste Überquerung mit einer Leiter. Ich habe die Aluminiumleitern, die man benutzt, um die Spalten im Khumbu-Eisbruch zu überqueren, auf Bildern 134
studiert, und ich habe Berichte darüber gehört. Man braucht manchmal mehr als drei oder vier zusammengebundene Leitern, um einen Abgrund zu überbrücken. Man muß nur schnurstracks hinüber laufen. Ich beobachte Scott und höre ihm zu. »Tretet auf jede zweite Sprosse, benutzt die Fixseile als Geländer und euer Körpergewicht, um das Gleichgewicht zu halten.« Okay! Ein Segen, daß ich jahrelang mein Gleichgewicht trainiert habe. Ganz bestimmt kann ich diese Leitern elegant überqueren: Ich fixiere meinen Blick auf einen Punkt auf der gegenüberliegenden Seite, trete auf jede zweite Sprosse, und schon bin ich drüben. Meine Kameraden sind beeindruckt. Charlotte zeigt eine Variante. Sie haßt Leitern, und wir brauchen siebenundsiebzig davon, um den Eisbruch zu erklettern. »Ich habe nichts gegen den Khumbu-Eisbruch«, sagt sie mit trockenem Humor. »Ich hasse nur die Art und Weise, wie man ihn überqueren muß!« Aber nichts kann diese Frau aufhalten, also senkt sie sich auf den Hintern und kriecht hinüber. Methode getestet und für gut befunden. Später stellt sich heraus, daß Pete oft die gleiche Technik anwendet, aber nur, wenn keine Damen in Sichtweite sind! Über Eisformationen hinauf und um sie herum, über Gletscherspalten, Leitern empor, vorsichtig die Steigeisen einsetzen, balancieren, Karabiner an den Fixseilen einhaken. Sollte ich fallen, besteht eine gute Chance, daß die Seile den Sturz abfangen werden, 135
aber ich möchte nur ungern ausprobieren, ob diese Lebensversicherung auch funktioniert, also konzentriere ich mich lieber. Heute keine Fotos. Alles zu seiner Zeit, und jetzt zählt nur eins: Hinauf! Gott! Das ist vielleicht anstrengend! Keuchend und schnaufend beneide ich Scott, der den Eisbruch hinaufstürmt. Ha, ha – eins zu null! Seit er als Vierzehnjähriger das Bergsteigen für sich entdeckt hat, hat er nicht viel anderes gemacht. Es ist ein Genuß, zu sehen, wie er aufblüht – hier ist er wirklich in seinem Element. Martin hustet wie verrückt. Der Khumbu-Husten. Stunde um Stunde kämpft sich unser Team nach oben. Heiliger Strohsack. Machen wir denn gar keine Pause? Obwohl es im Eisbruch wirklich keine sichere Stelle zum Ausruhen gibt. Aber ich werde nicht schlapp machen, also schleppe ich mich weiter. Es ist anstrengend. Ich muß wohl das segensreiche, gnädige Reich der Faulheit hinter mir lassen und mir Anatolis »Willen zum Leiden« aneignen. Eigentlich hatte ich vor dem Mount-Everest-Plan das Lebensziel, mein Leiden zu reduzieren. Ich fand, ich hätte schon genug gelitten. Entdecke Scott, der oben auf einer Leiterkonstruktion sitzt. Hake meinen Karabiner am Seil fest, packe mit beiden Händen zu und lenke meine Stiefel sorgfältig nach oben, Sprosse für Sprosse. Die Steigeisen und meine Atemnot sind nicht gerade förderlich. Ich muß sichergehen, daß die Stiefel genau in der Mitte auf der Sprosse landen, zwischen zwei Reihen Verankerungen. 136
Lasse mich keuchend neben Scott fallen. »Du hältst dich gut«, sagt er. Wenn er nur die leiseste Ahnung hätte, wie sehr ich mich anstrenge, damit ich diesen Eindruck mache! Nach einem langsamen Morgen hat mein Kampfgeist mich nach vorne gebracht. Ich gebe mich unschuldig, innerlich befriedigt. Dazu bin ich hier – um etwas zu leisten. »Du auch, Scott. Du bist stark«, entgegne ich – froh darüber, daß er es ist. *** Mein Gott, wie lange kann das noch dauern? Ich muß meine Einstellung ändern, darf mich nicht länger mit solchen überflüssigen Fragen quälen. Wie weit noch? Zwei Kilometer, zweieinhalb Kilometer direkter Höhengewinn in etwa einem Monat – das muß man erst mal nachmachen! Das Gehirn muß auf den Modus »Genieß die Reise« umschalten. Vorwärts, aufwärts, hinauf. Einige Ausblicke, die mich die Route zur Western Cwm hinauflocken, und ein paar herrliche Aussichten auf die unglaublich schönen Felsflanken zu beiden Seiten. Aber hauptsächlich harte Arbeit, unerbittliche Arbeit. Der Sauerstoffmangel fordert bestimmt seinen Tribut. Wir halten uns nach rechts, gehen auf die Nuptse-Wand zu, einen langen, ungeschützten Schneegrat entlang, erst aufwärts, dann hinunter über Leitern und blaues Eis, durch ein Feld aus äußerst hartem Gletschereis, wie grüner und blauer Kristall. Weitere Gletscherspalten, 137
weitere Leitern, eine Eiswand. So oft wie möglich die Fixseile benutzen: Weit oben zupacken und sich hochziehen, mit den Oberschenkelmuskeln abstemmen. Nicht sehr elegant, aber eine Kraftersparnis. Die Eispickel sind eher hinderlich als hilfreich. Komische Art des Bergsteigens! Vorbei an der taiwanesischen Expedition. Es geht das Gerücht, die Gruppe sei extrem unprofessionell; hier kommt sie nur langsam voran. Wieder links, einen schmalen Eissteg entlang, der links steil abfällt und rechts steil ansteigt. Wird er später auf uns herabstürzen? Hinauf, hinunter, hinauf, hinüber, herum, dann stehe ich plötzlich vor einer fünfzig Meter hohen Eiswand, eine Herausforderung, die mich an echtes Klettern erinnert, wenn auch mit Hilfe von Leitern und Fixseilen. Den Jümar am Seil festgeklemmt, schiebe ich mich Stück für Stück nach oben, mit Pausen zum Atemholen – so geht es gut. Weitere Kletterer sind hinter mir. Dieser Abschnitt wird ein Engpaß werden, weil die Kletterer Schlange stehen, um hinauf und hinunter zu gelangen. Ich versuche, mir die Route zu merken, sie mir einzuprägen. Ich will vorbereitet sein, falls ich in irgendeiner Notlage bei Nacht oder schlechtem Wetter hier vorbei muß. Die Sonne wird kräftiger, und es scheint nur wenige Sekunden zu dauern, bis dieser Eisschrank glühend heiß wird. Weg mit der Gore-Tex-Jacke. Sunblocker und Gletscherbrille raus. Weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um 138
schneeblind zu werden oder sich einen Sonnenbrand zu holen. Übelkeit, Scheiße! Es ist wirklich hart, so zu tun, als hätte ich keine Probleme. Wenn du es nicht schaffst, tu wenigstens so, als ob – dann kannst du alles erreichen. Wenn ich das hier schon zu schwer finde, wie zum Teufel kann ich dann zum Gipfel wollen? Ich wollte ja nur mal fragen, Lene Gammelgaard. Also mache ich weiter – natürlich – schweißüberströmt. Aha! Die Mausefalle. Ich begreife, wieso Kim Sejberg so ehrfürchtig davon gesprochen hat. Es handelt sich um einen massiven, schiefen Eisturm, der sich in einem beängstigenden Winkel über uns neigt. Unglücklicherweise ist der einzige Weg an der Mausefalle vorbei, hoch- und darüber hinwegzuklettern. Ich schaue ängstlich auf den Turm. Er wird hinunterstürzen – die Frage ist nur: Wann? Es gibt nur eins: Los! – mit zusammengeschnürtem Magen – und ohne stehenzubleiben. Ich habe diesen überhängenden Alptraum beinahe hinter mir, da löst sich ein Steigeisen, als ich die Spitzen in das Eis bohre, um die letzten steil ansteigenden Meter zu überwinden. Scheiße. »Komm schon!« ruft Scott. »Da kannst du keine Pause machen.« Noch eine letzte Schneewand hinauf, diesmal eher alpin mit Jümar und Steigeisentechnik. Anstrengend! Karabiner von einem Seil losmachen, am anderen festhaken, einen Schneegrat entlang, der sich leicht nach links neigt. Plötzlich bin ich oben, die atemberaubende 139
Schönheit der Western Cwm entfaltet sich vor mir. Ich drehe mich, drehe mich, herum und herum … Mount Everest, Lhotse, Nuptse – drei Felsmassive, jedes einzelne großartig, gemeinsam überwältigend. Der Pumori liegt hinter mir, vor mir das Hochplateau der Western Cwm mit seinem ewigen Eis und Schnee. Keuchend und nach Luft schnappend, mit tränenüberströmtem Gesicht breche ich ehrfürchtig zusammen und weine vor Freude. Hier gehöre ich her, und für diesen Anblick lohnen sich alle Strapazen, die ich durchgemacht habe. Obwohl ich die erste Dänin, sogar die erste Skandinavierin bin, die jemals einen Fuß auf diese Stelle gesetzt hat, könnte mir das im Augenblick nicht gleichgültiger sein. Es kommt mir jetzt nur darauf an, diese märchenhafte Landschaft zu genießen, ganz gleich, wie viele oder wenige Menschen schon hier gewesen sind, und so sollte es auf jedem Berg sein. Ich gehe weiter und stoße zu Pete, Klev, Dale und Scott, die auf der pilzförmigen Spitze eines Eisturms zwischen Abgründen sitzen. Ich werfe mich förmlich auf sie, fasse jeden an, hier eine Umarmung, dort ein Kuß, merke, daß sie wissen, was in mir vorgeht. Scott wird fest umarmt: »Danke, daß du mir das hier ermöglichst. Ich bin dir so dankbar.« »Ich wußte, daß du es verstehen würdest«, antwortet Scott. Ja, die wichtigsten Dinge im Leben müssen wir mit Menschen teilen, die uns viel bedeuten und die uns verstehen. Nachdem wir unser Gatorade, unsere Nüsse und 140
Power-Bars verzehrt haben, machen sich Pete, Klev und Dale an den Abstieg zum Basislager. Scott bleibt mit Neal und Anatoli, die uns eingeholt haben, oben. Charlotte, Tim, Martin und ich steigen zusammen die Western Cwm hinauf. Aber jetzt eilt nichts mehr; ich lasse mir Zeit. Ich setze mich auf meinen Rucksack und lasse alles auf mich wirken: Ich habe den berüchtigten Eisbruch in weniger als fünf Stunden geschafft! Ich bin stark genug, komme technisch prima zurecht, und ich bin hier inmitten der höchsten Berge der Welt, genau am richtigen Ort, wo mein Herz sich zu Hause fühlt. Ich bin erfüllt. Ich bin einfach glücklich. Sandy kommt, und wir machen uns auf zum Lager I, das höher liegt, als es normalerweise der Fall ist. Anatoli besteht auf dieser Stelle, und die Sherpas unterstützen seine Argumente. Wir sind dort besser vor Lawinen geschützt, und auf lange Sicht wird es unseren Aufstieg zum Lager II leichter machen. Aber im Augenblick ist es sowohl für mich als auch für Sandy zu weit. Ich spüre die Auswirkung von zu wenig Sauerstoff und begreife, daß es für mich Zeit zum Umkehren ist. Aber ich habe mehr erreicht, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Basislager: 11.–15.4. 1996 Ruhetag. Anatoli singt. Die Melodie fasziniert mich. Anatoli fasziniert mich, seine ganze Wesensart. »Ich bin Kasache«, sagt er dazu. Er ist bescheiden und auch wieder nicht, weiß, was er wert ist. Sonnenstrahlen fallen auf mein Zelt, und ich beobachte, wie die Schat141
ten der Gebetsfahnen mein Zelt liebkosen. Meine Nottoilette liegt hinter dem großen Felsen, an dem die Schnur mit den Gebetsfahnen befestigt ist, und es freut mich, jedesmal, wenn die Natur nachts ihr Recht verlangt, die Fahnen zu sehen. Ich habe Flemming versprochen, ihm welche mit nach Hause zu bringen. Gestern habe ich mich mit Henrik Jessen Hansen und Bo Belvedere in ihrem Lager getroffen – ein netter Besuch. Ich werde später am Tag versuchen, meinen Vater und meine Mutter zu erreichen: 11 Uhr morgens hier – 5 Uhr nachmittags in Dänemark. Ich habe überlegt, ob sie die ganze Sache wohl lieber verdrängen und nichts davon hören wollen, bis ich wieder sicher zu Hause bin (hoffentlich), ob meine Anrufe den Schmerz und die Angst, die ich ihnen zufüge, weil ich hier bin, nur noch schlimmer machen werden? Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich sie anrufen und fragen kann. Wenn ich mir Sandys Ausrüstung ausleihe, kann ich es möglich machen, einmal pro Woche anzurufen, wenn sie es möchten. Zumindest werden wöchentliche Kontakte vielleicht die Ängste beseitigen die durch Ungewißheit entstehen. Meine Eltern waren die letzten, denen ich meine Absicht mitteilte, den Mount Everest zu besteigen. Ich hatte es so lange wie möglich hinausgeschoben, aber für den 27. November war eine Medienkampagne geplant, und ich wollte nicht, daß sie aus der Zeitung davon erfuhren. Ich weiß gut, wie entsetzlich es ist, hilflos dazusitzen und zu warten, während jemand, den man liebt, in weiter Ferne auf gefährliche Aben142
teuer ausgeht. Mir war klar, daß sie, sobald sie Bescheid wußten, keine ruhige Minute mehr haben würden, bis sie mich wiedersahen, also mindestens fünf Monate lang. Darum habe ich die Beichte immer wieder verschoben … bis zu dem Tag, an dem die Frau meines Bruders, Vibeke, anrief. »Lene, wir waren gestern abend zum Essen bei deinen Eltern, und Claus hat sich verplappert und erzählt, daß du zum Mount Everest willst!« »Vibeke, wo ist Claus? So eine gute Nachricht habe ich lange nicht gehört.« Ich rief meinen geliebten großen Bruder an und dankte ihm von ganzem Herzen für diesen Ausrutscher. Jetzt, wo es heraus war, konnte ich wieder aufrichtig mit meinen Eltern sprechen. Das war mein größtes Dilemma im Zusammenhang mit dem Mount-Everest-Projekt: Ich wollte die Menschen, die ich liebe, vor Kummer bewahren und trotzdem das Abenteuer wagen. Mir ist klar, daß ich, wenn ich derart gefährliche Touren unternehme, mit den Gefühlen meiner Umgebung spiele. Manchen Menschen fällt es sicher schwer, eine enge emotionale Bindung zu jemandem wie mir aufrecht zu erhalten. Das weiß ich, weil ich selbst nicht in der Lage bin, eine feste Bindung zu einem Menschen einzugehen, der jedesmal, wenn er zum Klettern fährt, sein Leben gefährdet, und dem das Bergsteigen offensichtlich wichtiger ist als menschliche Beziehungen und die damit verbundenen Pflichten. Wieviel Kummer kann man den Menschen, die 143
einem am Herzen liegen, zumuten, bevor sie emotional aufgeben? Der Abenteurer selbst kann versuchen, in der »Gemeinschaft« internationaler Kletterer Emotionen aufzubauen und die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen, und das ist eine wunderbare Lebensweise! An Anatoli schätze ich unter anderem seinen Realismus. Er ist Bergsteiger, ja, er ist hinter den vierzehn Achttausendern her, aber er weiß, daß er dabei sein Leben riskiert, und darum hat er keine Familie gegründet. Ich respektiere diese Entweder-oder-Einstellung und kann sie besser verstehen als die Einstellung derjenigen, die alles wollen – die eine Familie haben und dann länger unterwegs als zu Hause sind. Es ist eine Sache, wenn der Partner diese Bedingungen vollkommen akzeptiert und mit den Risiken leben kann. Aber es ist eine andere Sache, wenn der Partner jedesmal leidet, wenn der Kletterer sich wieder aufmacht, um das Schicksal herauszufordern. Für solche Leute bringe ich nicht viel Sympathie auf. Und es ist mir klar, daß andere Menschen vielleicht aus dem gleichen Grund darauf verzichten, sich mit mir einzulassen. Während meiner Vorbereitungen für den Mount Everest zog ich mich emotional aus engen Beziehungen zurück. Zum einen brauchte ich unbedingt all meine Energie, um die »Sache« in Gang zu bringen. Zum anderen war dieser emotionale Rückzug wahrscheinlich auch notwendig, um das Risiko eingehen zu können, in dem ich jetzt stecke. 144
Ich habe mich bei dem Gedanken erwischt: »Wenn das Zusammensein mit Menschen nicht befriedigender und erfüllender ist als das hier, dann kann ich genausogut im Hochgebirge die aufregende Seite des Lebens leben«, obwohl ich genau weiß, daß der Grad der Erfüllung davon abhängt, wieviel ich in andere Menschen investiere. Aber je stärker ich mich emotional binde, desto weniger bin ich offenbar dazu in der Lage, meinen eigenen Wünschen zu folgen. *** Habe meine Eltern per Satellitentelefon angerufen. Wirklich eine gute Idee. Komisch – hier mitten im absoluten Nichts zu sitzen, eine dänische Telefonnummer zu wählen und … Ring … Ring … »Det er Helge«, sagt mein Vater, so deutlich, als wäre er auf der anderen Straßenseite. »Hier ist deine Tochter, die aus dem Basislager anruft. Ich bin schon einmal im Eisbruch gewesen, und mir geht es gut, und ich bin prima in Form.« Um völlig ehrlich mit ihnen über das zu sprechen, was ich tue, bräuchte ich mehr Mut als für die Besteigung des Mount Everest. Ich kann mir einigermaßen vorstellen, wie grotesk es sein muß, die Eltern von jemandem wie mir zu sein. Ich hoffe nur, daß meine Kinder mir niemals so etwas zumuten werden. Aber ich kenne meinen Vater gut genug, um zu wissen, daß er gerührt und froh ist, daß ich angerufen habe. 145
»Ich habe letzten Sonntag deinen ersten Artikel im »Ekstra Bladet« gelesen. Vibeke hat ihn mitgebracht. Sehr gut geschrieben«, sagt er. Es ist ein gutes Gefühl, zu hören, daß der Artikel gedruckt worden ist. Ich bekomme langsam eine Vorstellung vom Ausmaß dieses Unternehmens. Meine Eltern möchten, daß ich jede Woche anrufe. *** Heute abend ist eine Party, weil Sandy vierzig wird. Sie hat sich dafür bedankt, daß ich gestern im Eisbruch auf sie gewartet habe. Sie war erschöpft und verzweifelt. Ich kenne das Gefühl, darum habe ich mein Tempo ihrem angepaßt. Ich weiß, daß ich andere Leute dazu bringen kann, Bestleistungen zu bringen, indem ich nicht ihre Schwächen betone oder kommentiere, sondern sie einfach führe. Meistens stellen sie dann fest, daß sie viel mehr schaffen können, als sie geglaubt haben. So überwinden sie dann jedes Hindernis – und behalten ihre Selbstachtung. Sie hat mir gesagt, sie hätte nicht erwartet, daß eine andere Frau sie so unterstützen würde: »Vielleicht sind skandinavische Bergsteigerinnen anders als amerikanische«, meinte sie. »Amerikanerinnen haben ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken und hätten sich nie durch mich aufhalten lassen.« Könnte es nicht sein, daß das nur deine Einstellung ist, Sandy? frage ich mich. Die Extrembergsteigerin in mir weiß jedoch, daß sie sich die Grundeinstellung 146
nicht gut genug klargemacht hat: »Du bist zu 100 Prozent selbst für dich verantwortlich. Du darfst nicht erwarten, daß dir irgend jemand hilft«. In Anbetracht ihrer Klettererfahrung sollte Sandy eigentlich abgeklärter sein. 13.4. 1996: Zum zweitenmal durch den Eisbruch, nachdem wir eine Nacht in Lager I auf 5 943 Metern verbracht haben. Kein Problem! Habe die Zeit gemessen, die ich von Lager I bis nach unten gebraucht habe – anderthalb Stunden! Ich bin zufrieden. Bis auf Tim, Klev, Pete und mich hat unser Team heute den Abhang der Western Cwm bestiegen, wo Lager II errichtet werden soll. Die anderen gehen bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Ich wollte runter, um mich auszuruhen, und bin froh über diese Entscheidung. Ich will es immer noch ohne O2 versuchen. Morgen muß ich einen Artikel für »Ekstra Bladet« schreiben. Ich fühle mich stark und unabhängig. *** Linda, Anatolis Freundin, hat unsere Einladung zum Abendessen angenommen. Sie war wirklich ein Gewinn für unsere Runde – eine wunderbare Frau. Anatoli nennt mich Jeanne d’Arc. Das ist doch was! Und David Breashears sagt, er habe mich im Eisbruch gesehen. STARK! Ich werde diesen Berg besteigen. Linda rät mir, mich mit Brigitte, einer starken Neu147
seeländerin, zusammenzutun, die zum Gipfel des Mount Everest will und einen Platz in Henry Todds Expedition gebucht hat. Sie soll sehr ehrgeizig und erfahren sein. 15.4. 1996: Erhole mich schnell von dem Tadel, den ich mir anhören mußte, weil ich mich gestern entschieden hatte, von Lager I herunter ins Basislager zu kommen, anstatt zur Akklimatisierung weiter anzusteigen. Aber ich bin herunter »gerannt«, um Tempo in großer Höhe zu trainieren. Ich vertraue darauf, daß ich die Situation richtig einschätze. In Anbetracht meines Lippenherpes und meiner Schniefnase bin ich bis zum Äußersten gegangen. Aber das mangelnde Vertrauen der anderen könnte meine Motivation untergraben, mein altes »Ich-werde-es-euch-zeigen-Programm« auslösen, das ich hasse, weil es mich zu sehr ablenkt. Ich sehe aber auch, daß die, die unbekümmert weitermachen … Scott, Sandy, Neal und Martin … sich alle krank fühlen und Medikamente nehmen. Das hat keinen Sinn. Ingrid und Tim sind nicht mehr hier – beide steigen tiefer, weil sie Symptome der Höhenkrankheit * haben. Heute morgen beim Frühstück saß Ingrid ganz niedergeschlagen da, was ganz und gar nicht ihre Art ist. Ich fragte sie, wie es ihr ginge, und nahm sie instinktiv fest in den Arm. Sie fing an zu weinen. Sie hat große Prob*
Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen 148
leme mit der Höhe. Seit Lobuche hat sie Diamox genommen, das ihr hilft, sich zu akklimatisieren, aber sie hatte es abgesetzt, um zu überprüfen, ob ihr Körper es auch so schaffen würde. Aber er schaffte es nicht. Sie will kompetent und zuverlässig sein, und das ist sie wirklich! Aber sie hat die Auswirkungen der Höhe unterschätzt. Charlotte und Sandy gesellen sich zu uns, und wir improvisieren eine tröstliche Frauenrunde, damit Ingrid die einzig richtige Entscheidung etwas leichter fällt. »Geh runter! Bleib unten, bis du dich erholt hast, und komm dann wieder hoch«, sagen wir ihr. Es stellt sich heraus, daß sie heute morgen schon auf dem Weg nach unten gewesen war, sich auf dem Gletscher jedoch verlaufen hat. »Tim geht es nicht gut«, sagt Charlotte. »Ich werde ihn fragen, ob er mit dir runterwill. Das wird allerdings gar nicht so einfach, denn er schweigt sich aus, wenn ich ihn frage, wie er sich fühlt.« Scott kommt – er sieht uns irgendwie fragend an. Später erkundigt er sich, was los ist, und wundert sich laut, wieso Ingrid ihm ihre Probleme nicht anvertraut hat. Scott ist wieder krank geworden. Ich muß versuchen, meinen Frust in zielgerichtete Energie umzuwandeln. 18.05 Uhr. Es ist eiskalt – ich bin demoralisiert. Scott hat unseren Kletterplan der Realität angepaßt. Gut! 149
16.4. 1996: Habe Artikel Nummer zwei und elf Filme zum Transport zu »Ekstra Bladet« abgeliefert. Es schneit! Ich bin bereit zum Klettern. *** Gemütlicher Nachmittag im Speisezelt in Gesellschaft von Anatoli, Scott, Sandy, Jane und dem amerikanischen Konsul David Schensted, der zum Trekking hier draußen ist und nationale Interessen »pflegt«. Richtig viele Berühmtheiten aus den Staaten hier versammelt. Ich werde oft gefragt, ob ich mich nicht zu Tode langweile, wenn ich so viele Tage im Basislager bin. Aber hier passiert so viel: Jeden Tag besuchen uns Trekker, ich schaue in anderen Lagern vorbei, oder interessante Menschen kommen zu uns, gönnen sich einen Becher Starbucks-Kaffee und etwas nette Gesellschaft. Das Lager von »Mountain Madness« ist total angesagt, hier halten sich die Leute am liebsten auf, weil sie sich willkommen fühlen – und das sind sie auch! Ich liebe dieses Leben. Wenn es hier noch Liebe gäbe, wäre das meine Vorstellung vom Paradies. Hmmm – was für ein wunderbarer Abend. Ich bin für morgen für den Eisbruch bereit!
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Lager II: 19.4. 1996 Nach drei Runden Eisbruch, einer Nacht in Lager I und einer weiteren Nacht in Lager II – mit einem Spurt zur Lhotse-Flanke und einem Abstieg im Eiltempo – fühle ich mich gut in Form. Scott ist im Basislager. Wegen seiner Krankheit mußte er kürzertreten und es etwas ruhiger angehen lassen. Ingrid und Tim sind wieder da. Tim hat ein unglaublich gewinnendes, warmes Lächeln, und es ist schön, sich wieder daran erfreuen zu können. Ingrid ist zumindest um eine Erfahrung reicher. Sie nimmt es locker, ist anscheinend sanfter – demütiger? David, der amerikanische Konsul, hat uns erzählt, daß er auf Ingrid gestoßen war, als sie in Gorak Shep herumtaumelte. Sie war mit den Worten: »Ich brauche Hilfe. Ich muß in einen Gamow-Sack« in seine Arme gefallen. In der Höhenklinik in Pheriche wurde Ingrid entsprechend ärztlich behandelt. Es ist vertrauenerweckend, wenn eine Ärztin die Behandlung, die sie anderen zuteil werden läßt, selbst durchgemacht hat. So viele Menschen sind an diesem Berg. Als ich mich anfangs dazu entschlossen hatte, den Mount Everest zu besteigen, und mich über unsere Route informieren wollte, konnte ich mich nur schwer damit abfinden, daß ich an einer kommerziellen Expedition teilnehmen würde und daß der Mount Everest nicht mehr unberührt ist. Im Basislager leben wohl an die zweihundert Menschen aus allen Teilen der Welt. 151
Zweimal im Jahr, wenn Gipfelsaison ist, schießt über Nacht eine ganze Siedlung aus dem Boden. Am liebsten würde ich meine eigene Expedition organisieren, zu meinen Bedingungen, aber das würde mich Jahre kosten! Und die Erfahrungen, die ich sammeln kann, wenn ich mit Scotts Team klettere, sind einige Kompromisse wert. Normalerweise bin ich auf der Flucht, wenn ich in die Wildnis ziehe, und ich versuche, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Aber der Mount Everest ist nicht mehr so wie damals, als Edmund Hillary und andere diese Regionen erforschten. Allmählich habe ich mich mit der Realität abgefunden, mit der man konfrontiert wird, wenn man in unserem Jahrzehnt die Achttausender besteigen will, und mittlerweile würde ich es mir gar nicht mehr anders wünschen. Es ist sehr inspirierend, Teil dieser Gesellschaft zu sein, großartige Persönlichkeiten kennenzulernen, denen zuzuhören sich wirklich lohnt. Ich hatte ein faszinierendes Gespräch mit einem Typ aus Alaska, der sein ganzes Leben mit sogenannter »Männerarbeit« – Arbeit auf Bohrinseln, im Bergbau, als Jäger und dergleichen mehr – zugebracht hat. In meiner kleinen Ecke der Welt gibt es nicht mehr viele Männer, die noch das tun, was Männer früher getan haben, und es ist wirklich interessant!
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Basislager: 20.–22.4. 1996 Ich denke darüber nach, wie ich den Gipfel ohne zusätzlichen Sauerstoff besteigen und wie ich am besten für meine Sponsoren sorgen kann. Ich muß heute Fotos für die Sponsoren schießen. Aus dem Speisezelt weht Musik zu mir herüber. Ich bin zu Hause und glücklich. 21.4. 1996: Scott steigt mit Pete zum Lager I. Pete hat immer noch Schwierigkeiten damit, in der Höhe zu schlafen; letztes Mal mußte er absteigen. Klev ist nicht von seiner Seite gewichen, aber jetzt geht Scott mit Pete rauf, um ihm beim Akklimatisieren zu helfen. Sie haben beide einen Zyklus weniger als wir, Pete wegen seiner Schlafstörungen, Scott wegen Krankheit. Ich will den Mount Everest: zum Gipfel – heil zurück – ohne O2. Frühstück und Entwurf des Kletterplans. Anatoli gibt mir einen Schmetterling. »Das bist du am Südsattel«, sagt er. Der Schmetterling rührt sich nicht, entweder ist er tot oder vor Kälte erstarrt. Ich suche ihm eine geschützte Stelle auf einem warmen Stein. Vielleicht wird die Sonne ihn wieder zum Leben erwecken. Scott hat diesen stolzen Mann gestern zurechtgewiesen, und zwar in meiner Gegenwart – wie taktlos! Anatoli kam vom Berg zurück, nachdem er auf der Route zwischen Lager II und III weitere Fixseile angebracht hatte – der schwierigste und gefährlichste Job 169
bei einer Expedition. Er arbeitet hart und verlangt sich alles, seiner Umgebung jedoch nur wenig ab. Scott und ich hatten einen gemütlichen Nachmittag miteinander verbracht, mit Bier und Fotoaufnahmen, auf denen wir mit verschiedenen Sponsorenartikeln vor dem Eisbruch zu sehen sind. Ich zog mich diskret zurück, als Scott auf Anatoli losging. Es ist an sich nicht seine Art, Leute so anzufahren, normalerweise wird er nicht wütend oder unhöflich. Kam die Beschwerde von Sandy, die in letzter Zeit Scotts »dickster Kumpel« ist? Ich habe gehört, wie sie über Anatoli gemurrt hat, und habe ihn verteidigt und versucht, sie dazu zu bewegen, ein bißchen auf ihn zuzugehen. »Anatoli, ich habe dich für diese Tour als Bergführer angestellt – damit du dich unter das Team mischst – nicht nur, um am Berg hart zu arbeiten. Wenn du nur als starker Kletterer funktionierst, hätte ich genausogut einen Höhensherpa nehmen können.« »Er ist sehr stolz, Scott. Ich weiß nicht, wie er darauf reagieren wird.« Die Atmosphäre ist ruiniert. Ich weiß, wem ich am meisten traue. Anatoli kam gestern zum Abendessen – Gott sei Dank. Da er in der Sowjetunion aufgewachsen ist, hat er natürlich schon Schlimmeres erlebt als einen kindischen amerikanischen Chef. Als ich ihm sagte, es täte mir leid, daß ich den Tadel mit anhören mußte, und er sei unberechtigt gewesen, entgegnete er nur: 170
»Es ist eigentlich nicht so wichtig.« Ich vertraue darauf, daß er darübersteht – daß er Scotts Worte wegstecken kann und die richtige Einstellung findet. Und der Schmetterling ist ein Zeichen dafür, daß er nicht gekränkt ist. *** Wasche mich in unserem kleinen blauen Duschzelt, das aus dem letzten Stück Segeltuch gemacht wurde, begleitet von Anatolis Liedern und seiner Gitarre. *** Scott funkt, daß Pete und er in Lager II sind. Großartige Nachricht. Morgen werden sie runterkommen. Ich werde übermorgen wieder hinaufsteigen. Lager II, Lager III, Lager IV – die letzten Vorbereitungen für den Angriff auf den Gipfel. Ich bin hundertprozentig engagiert. Brent Bishop ist gestern gekommen. Netter Kerl. Brent ist der Koordinator des Umweltprojektes der Expedition; er hat den Mount Everest 1994 mit Scott und Lopsang bestiegen. Brent ringt etwas nach Atem. »Ich habe von Katmandu bis hierher sechs Tage gebraucht. Ich akklimatisiere mich ziemlich schnell, und jetzt helfe ich bei der Säuberung einer alten Müllkippe außerhalb des Basislagers. Ich vermute, sie ist etwa zehn Jahre alt 171
und wurde kürzlich freigelegt, als der Gletscher sich bewegt hat.« Brent ist erstaunt, welche Kommunikationsmittel wir hier haben: »Ich war 1994 hier, und wir konnten nur über Boten kommunizieren. Von den vierzehn Teams, die ich hier im Basislager gezählt habe, hat mindestens die Hälfte Satellitentelefone mitgebracht. Ganz schön komisch, hier am anderen Ende der Welt zu wandern und dann Nachrichten von meiner Frau vorzufinden, wenn ich mitten im Nichts ankomme!« Die Säuberung erfolgt sehr professionell – sie läuft absolut kontrolliert und reibungslos ab, nur Lopsang versucht, einen horrenden Preis dafür rauszuschlagen, daß er die großen Fünf-Liter-Sauerstoffbehälter vom Südsattel hinunterträgt. Lustiger Abend mit verrückten Leuten in unserem Speisezelt. Ein Freund von Brent, Steve, hat mit uns zu Abend gegessen. Er will zum Lhotse – und mit dem Snowboard runterfahren! Attraktiver Bursche. Gehört zu den besten Snowboardern der Welt und lebt offensichtlich nach der Maxime: »Lebe schnell, stirb jung, und laß einen schönen Leichnam zurück«. Im Vergleich zu seinem Vorhaben klingt die Besteigung des Mount Everest wie ein Picknick. Martin tauft ihn »Plankman«. Ich versuche, den amerikanischen Film »Cliffhanger« auf Sandys Disk-TV anzuschauen. »Unmöglich! Ein Klettergurt könnte nie so brechen. Wow! Eisklettern im T-Shirt – ohne Eispickel«. Der Film ist eine 172
Farce, wenn man weiß, wie das Bergsteigen wirklich ist. Videos im Basislager anzusehen, das ist zuviel für mich, und ich muß gehen, auch wenn es sich wirklich lohnt, zu beobachten, wie fasziniert die Sherpas von diesem Film sind. 22.4. 1996: Ich habe meine Eltern angerufen. Gut! Expeditionspostkarten geschrieben. Leichte Übelkeit. Ich lasse mich dadurch nicht an der Gipfelbesteigung hindern! Ich ignoriere sie. Einer unserer Sherpas, Ngawang Topche Sherpa, ist oben in Lager II ernsthaft krank geworden. Scott und Pete sind auf dem Rückweg – irgendwo zwischen Lager II, das sie heute morgen verlassen haben, und dem Basislager – also wissen sie nicht, was für ein Drama sich weiter oben abspielt. Klev und Tim sind in Lager II und haben die Situation anscheinend unter Kontrolle, soweit man ein Lungenödem unter Kontrolle haben kann. Ingrid erhält präzise, ruhige Angaben über unsere Walkie-talkies: Puls, Symptome und Allgemeinzustand des Sherpas. Ich bin beeindruckt, wie gut sie mit dieser kritischen Situation umgehen können. Charlotte weiß genau, daß Tim in Notfällen medizinische Behandlungen vornehmen kann: »Er ist an solche Szenarien gewöhnt, zu Hause ist das schließlich sein Beruf«, versichert sie uns. Mir fällt ein, daß Tim in Colorado zu einer Skipatrouille gehört. »Klingt, als würde er in seiner eigenen Lungenflüs173
sigkeit ertrinken«, berichtet Klevs bedächtige Stimme über Funk. * Ingrid stellt eine Reihe von Fragen. Sie versuchen es mit dem Gamow-Sack in Verbindung mit Medikamenten. Nichts scheint zu helfen. Das ganze Lager II ist alarmiert und überlegt mit, wie man Ngawang so schnell wie möglich hinunterschaffen kann. Das bedeutet, daß man nach Einbruch der Dunkelheit durch den Eisbruch muß. *** Ich habe für morgen alles vorbereitet und gepackt. Es wird der letzte Aufstieg vor dem eigentlichen Angriff auf den Gipfel. Bereite mich auf vier bis sechs Tage und Nächte mit großer Anstrengung, Unbequemlich*
Ein Höhenlungenödem entwickelt sich normalerweise aus akuter Höhenkrankheit und entsteht, wenn sich die Lungen mit Flüssigkeit füllen, so daß der Sauerstofftransport ins Blut erschwert wird. Der Abfall der Sauerstoffkonzentration im Blut führt zu verminderter Hirnfunktion und einem symptomatisch blauen Gesicht. Erste Symptome eines Höhenlungenödems sind Husten, Kurzatmigkeit, nachts das Gefühl zu ersticken, Schwäche und starke Müdigkeit. Durch den Sauerstoffmangel verschlimmern sich die allgemeinen Symptome der Höhenkrankheit wie Kopfschmerzen, Appetitmangel, Übelkeit und Erbrechen. Verwirrung, Delirium und vernunftwidriges Verhalten sind Symptome eines schweren Sauerstoffmangels im Gehirn. Wenn die Person ins Koma fällt, kann der Tod innerhalb von sechs bis zwölf Stunden eintreten, es sei denn, sie erhält konzentrierten Sauerstoff – entweder in Flaschen oder über einen Gamow-Sack – und wird auf geringere Höhe hinuntergebracht. 174
keit und brandneuen Herausforderungen am Berg vor. Mein Gepäck ist schwer: Kamera, Stativ, gefriergetrocknetes Nasi Goreng, Studentenfutter, zusätzliche Wollunterwäsche, die ich für die Gipfelbesteigung in Lager III lassen will, die obligatorische Wasserflasche, eine zusätzliche Brille, ein warmes Schlafsackfutter aus Seide und natürlich meine Taschenapotheke, einschließlich eines Notfallsets für den Fall, daß ich oder jemand in meiner Nähe von den Auswirkungen großer Höhe heimgesucht wird. Im Lager II bemühen sie sich, Ngawang im Gamow-Sack zu behalten, aber er hat Angst davor und versteht ihre Anweisungen nicht, also versuchen sie es mit Flaschensauerstoff. Wenn es ihn nicht so schlimm erwischt hat, sollte Ngawang sich eigentlich relativ rasch erholen, aber um einen Rückfall zu vermeiden, muß er die nächsten sechs bis zwölf Stunden über Sauerstoff bekommen. Auf jeden Fall muß er runter – so schnell wie möglich. Lopsang scheint nicht zu begreifen, wie ernst die Lage ist: »Aber er hustet doch nur. Er ist Sherpa, ist stark. Ich habe gleichen Husten.« Uns wird langsam klar, daß die Sherpas die Höhenkrankheit in Form von Lungenödemen nicht kennen oder nicht verstehen. Da ihr Überleben von ihrer Stärke abhängt, können sie offenbar nur schwer etwas akzeptieren, was für sie Schwäche bedeutet: Sherpas können prinzipiell nicht höhenkrank werden. Ihrer Ansicht nach macht die Höhe nur Nicht-Sherpas zu schaffen. 175
In Malcolm »Mal« Duffs Lager, einer weiteren schottischen Expedition, stelle ich Ingrid und Neal Henrik Jessen Hansen und Jan Mathorne vor. Henrik ist ein guter Höhenarzt, und Ingrid berät sich mit ihm über Ngawangs Fall. Jan Mathorne ist Vater geworden, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Ich muß erfahren, was los ist, und ich erkundige mich nach den jüngsten Rettungen per Hubschrauber. Wenn man einen Hubschrauber hört, bedeutet das fast immer, daß ein anderer Kletterer verletzt ist. Der erste in dieser Saison war ein Sherpa, der in der Western Cwm in eine verborgene Gletscherspalte gestürzt ist. Der nächste war ein junger Bursche aus Mal Duffs Team, ein britischer Marinesoldat und Superathlet Ende Zwanzig, der zwischen Lager I und II einen Herzinfarkt erlitten hat. »Nicht unbedingt eine Folge der Höhe, aber es könnte da einen Zusammenhang geben«, sagt Henrik. Ingrid eilt weiter zu Rob Halls Lager, um weitere Hilfe für Ngawang zu beschaffen. Scott und Pete sind heil unten angekommen. Sie kamen mit breitem Grinsen ins Lager, nachdem sie einen großartigen Tag zusammen verbracht hatten, und wurden sofort mit dem Drama konfrontiert, das sich in dem Lager abspielt, das sie vor sechs Stunden verlassen haben. Neal bereitet sich darauf vor, über den Eisbruch hinaufzusteigen, bevor es dunkel wird. Klev und Tim bringen Ngawang hinunter in Lager I, wo Neal sie ablösen und die achtköpfige Rettungsmannschaft 176
durch den Eisbruch leiten wird. Eine ernste Angelegenheit. Es schneit! Ich hoffe nur, daß das die Rettung und unseren Aufstieg morgen früh nicht behindern wird.
Vom Basislager zum Lager II: 23.4. 1996 Ich habe diese Tour durch den Eisbruch, meine vierte, zu einer Zeit begonnen, von der ich wußte, daß ich dann beinahe allein sein würde. Ich will feststellen, wo ich stehe, was meine Kondition anbelangt. Letztes Mal war ich eine Schnecke im ersten Gang, langsam, langsam. Selbst Anatoli hatte sich über mich lustig gemacht. Aber heute beeile ich mich. Mit Unschuldsmiene überhole ich zwei »echte Männer« aus Alaska. Ich blicke hin und wieder über die Schulter zurück auf meinen Weg übers Eis, um zu sehen, ob ich schneller bin als die anderen. Baue mich selbst für den näherrückenden Angriff auf den Gipfel auf. Die letzte Chance, also jetzt oder nie. Immer noch extrem anstrengend, aber zumindest finde ich den Weg ohne Schwierigkeiten, auch wenn der Eisbruch sich von Mal zu Mal verändert. Auf dem letzten steilen Stück treffe ich Michael Knakkergaard Jørgensen, der auf dem Rückweg ist. »Wo kommst du her, Michael?« Ich mustere seine Lowe-Fleecejacke, die mit Sponsorenlogos bedeckt ist. Gute Idee für meine nächste Expedition. »Ich habe zum ersten Mal in Lager III übernachtet. Anatoli ist im Augenblick dort oben. Ich bin gestern gegen Mittag angekommen. Super Gefühl. Es war un177
glaublich, dort zu liegen, zu lesen und in 7 315 Metern Höhe vor Lachen zu schreien, vollkommen allein. Und dann hat es gefroren. Eiskalt. Ich habe beschissen geschlafen, und heute morgen war mir übel, darum will ich nur noch runter.« Es ist so befreiend, mit Michael zu plaudern und mit ihm zusammenzusein. Er ist ehrlich, was das Bergsteigen anbelangt – versucht nicht, den Helden zu spielen oder dem Klettern eine Bedeutung zuzumessen, die es nicht hat. »Paß beim Abstieg auf. Jetzt werde ich dort oben übernachten; wir können unsere Horrorgeschichten austauschen, wenn ich zurückkomme – wenn unser Timing stimmt.« Bislang hat Michael sich immer dann am Mount Everest akklimatisiert, wenn ich zum Ausruhen unten war, und umgekehrt. Lager II unseres Teams befindet sich an der besten Stelle im Lager II-Dorf; leider müssen wir für die atemberaubende Schönheit mit einem gefährlichen Anstieg durch die Gletschermoräne bezahlen, wenn wir kaum noch genug Energie haben, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. In der Western Cwm herrscht jetzt dichtes Schneegestöber. Die Cwm – eine Schlucht, die der KhumbuGletscher durch die Berge gegraben hat – ist ein riesiges, vereistes Schneefeld. Wenn also gegen Mittag Schnee und Nebel aufziehen, wird alles zu einer dichten weißen Masse. Ich folge dem bereits ausgetretenen Pfad genau, damit ich nicht in eine der unzähligen Gletscherspalten falle. Um das Risiko zu verringern, 178
daß man sich verläuft und für immer in einer der unterirdischen Eishöhlen verschwindet, ist die »Straße« mit Bambusstöcken markiert – zwei Stöcke markieren die erkennbaren Gletscherspalten, und über denen, die man nicht überspringen kann, liegen Leitern. Ich muß ständig auf der Hut sein – nur weil man eine Gletscherspalte nicht sehen kann, heißt das nicht, daß sie nicht existiert. Die Höhe, die Länge der Strecke und – wenn die Sonne brennt – die Hitze und das grelle Licht, das von Schnee, Eis und Talwänden reflektiert wird, können die Durchquerung der Cwm zu einer Tortur machen. Dazu kommt die Gefahr von Schneeund Eislawinen, die von den umliegenden Bergen herabdonnern können. »Hey!« Ich begrüße Martin, der mitten in der Cwm steht und eine zusätzliche Schicht Kleidung anzieht; bei Schneefall kann es in der bei Sonne glühend heißen Cwm rasch eisig kalt werden. Ich gehe weiter, ohne stehenzubleiben. Ich will Lager II ohne Pause erreichen. Das Wetter kann sich hier oben rasch ändern. Bis jetzt haben wir eigentlich ziemliches Glück gehabt, denn unten war es meistens schön – sonnig, mit nicht zuviel Schnee. Somit hatten wir keine Verzögerungen wegen der Lawinengefahr hinnehmen müssen, die auf schweren Schneefall folgt. Oben in den dünneren Luftschichten, wo ich hinwill, haben beinahe unablässig Stürme getobt. Der subtropische Jetstream bläst auf 7 900 Metern beinahe unaufhörlich das ganze Jahr über. Normalerweise gibt es im Mai eine kurze Windstille – einige Tage mit klarem 179
Wetter, die »Wetterfenster« genannt werden. Aber darauf kann man sich nicht verlassen. Eine Expedition kann Jahre auf Training und Vorbereitung verwenden, den Berg hinauf- und hinabsteigen wie wir jetzt, und dann wegen des Wetters keine Gelegenheit bekommen, den Gipfel zu erreichen – die Natur bestimmt. Es ist nicht ungewöhnlich, daß komplette Expeditionen aufgeben und nach Hause zurückkehren müssen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben, weil das Wetterfenster sich nicht geöffnet hat. Wenn man den Gipfel nicht besteigt, bedeutet das nicht, daß man ein schlechter Bergsteiger ist – man muß die ganze Saison betrachten und berücksichtigen, wie andere Expeditionen in der gleichen Zeit unter gleichen Bedingungen zurechtgekommen sind. Jetzt wird es schwieriger für mich, den Weg zu finden. Ich schlängele mich das letzte flache Stück aus Schnee und Eis vor der Moränenkante hoch, die steil hinauf zu unserem Lager führt. Vielleicht noch eine Stunde. Plötzlich muß ich an andere Touren denken, bei denen sich eine Bergtour plötzlich von einer anspruchsvollen sportlichen Herausforderung zum schieren Kampf ums Überleben wandelte, nur weil das Wetter umgeschlagen war. Die Stiefelabdrücke derer, die heute hier vorbeigekommen sind, sind verschwunden. Ich habe die Orientierung verloren und bin vom Weg abgekommen, oder hat Schnee die Spuren verweht? Ich bleibe stehen, warte, bis die Sicht besser wird. Wenn ich einige Spuren entdecke, gehe ich vorwärts und suche dann nach den nächsten. Meine Kleidung ist von der Hitze 180
früher am Tag schweißdurchtränkt, und jetzt macht mich der schmelzende Schnee noch nasser. Ich überlege, ob ich wohl mehr Kleidung anziehen soll, entscheide jedoch, daß die Gefahr einer Unterkühlung nicht besteht. Jetzt bin ich auf dem Grat der Moräne. Die Sicht ist besser, und mein Blick fällt auf ein blaues Plastikpaket auf dem Eis. Es hat die Größe eines erwachsenen Mannes, und das ist es auch – die Leiche eines Bergsteigers! Er ist bekleidet mit einem Daunenanzug und Kunststoffstiefeln. Ich muß da nicht hingehen und es mir genauer ansehen. Ich bin nicht die erste im Team, die am Berg auf einen unserer Vorgänger gestoßen ist. Als das Team zum ersten Mal in Lager II übernachtete, sind wir am nächsten Tag auf die Lhotse-Flanke zugewandert, um unsere Akklimatisierung zu fördern. Ich kehrte früher als die anderen um, damit ich Dale einholen konnte, der sich während seines Aufenthalts in Lager II ganz beschissen gefühlt und sich zum Abstieg entschlossen hatte. Er hatte eindeutig Probleme mit der Höhenkrankheit: Er hatte schlimme Kopfschmerzen und war apathisch, abwesend und unsicher auf den Beinen. Als er darauf bestand, an diesem Morgen allein abzusteigen, sagte ich ihm daher, ich würde ihm wenig später folgen, schon allein aus dem Grund, daß ich als seine Teamgefährtin einfach nicht anders konnte. Neal, Sandy, Charlotte, Martin und Klev erzählten mir später von ihrem »Treffen« mit einem Leichnam 181
kurz vor Erreichen der Lhotse-Flanke. Der Mount Everest ist übersät davon: Bis zu dieser Saison haben beinahe 600 Bergsteiger den Gipfel des Mount Everest erreicht, und seit dem ersten Versuch im Jahre 1921 sind mehr als 130 am Berg gestorben. Die Toten werden nur hinuntergeschafft, wenn sie sich unterhalb einer gewissen Höhe befinden und wenn ihr Transport keine übermäßige Gefahr oder Schwierigkeit mit sich bringt. Aber wenn ein Kletterer im Eisbruch oder darüber stirbt, muß man die Gefahren, die der Transport des Toten nach unten mit sich bringt, ernsthaft abwägen. Wenn der Kletterer hoch oben am Berg stirbt, braucht man eine Expedition einschließlich des Akklimatisierungsprozesses und riskiert somit weitere Opfer. Die Sherpas haben damit keine Probleme: Sie glauben, daß es Unglück bringt, wenn man die Toten bewegt. An der Stelle, an der die Western Cwm aufbricht und sich zur Lhotse-Flanke erhebt, stießen meine Teamkollegen an diesem Tag einer nach dem anderen also auf einen weiteren Aspekt der Vorbereitung auf die Besteigung des höchstens Bergs der Welt – den Beweis dafür, daß dieses Unternehmen große Gefahren birgt –, obwohl sie einige Sekunden brauchten, um zu erkennen, was sie da sahen. Blaue Hose, braune Stiefel, ein Steigeisen. Hier hielt nicht einfach jemand ein wohlverdientes Nickerchen. Das waren die sterblichen Überreste eines unserer Vorgänger. Der Kletterer mußte vor vielen Jahren am Berg gestorben sein, denn die Stiefel waren ein altes Modell. 182
Sandy dachte erst, es wäre Anatoli, der ihnen einen Streich spielen wollte. Andere hofften, der obere Teil des verstümmelten halben Leichnams sei im Schnee vergraben. Das war er nicht. Unter strahlend blauem Himmel und bei absolut idealen Kletterbedingungen bot Martin auf der Stelle den Berggöttern seinen Mageninhalt dar. Der Leichnam liegt am Ausgangspunkt des schwierigen Kletteraufstiegs an der eisigen Flanke des Lhotse und dient sowohl als Orientierungspunkt wie auch als Warnung davor, wie wir enden könnten. Ich frage mich, wo die andere Hälfte wohl ist? Vielleicht ist sie unter den vernichtenden Massen des Gletschers zu Atomen zermalmt worden. Oder vielleicht begegnen wir ihr weiter oben. Der Südsattel ist berüchtigt für seine Bewohner: Tiefgefrorene Leichen halten lange und werden nur vom Zorn der Elemente bewegt. Die Sherpas wollen nichts davon wissen, »ihn« zu beseitigen. Die göttliche Mutter der Erde verlangt ihre Opfer; sie hat ihre Regeln, und die übertritt man nicht. Diese Geschichte veranlaßte mich zu einer Pause und dazu, meine eigene Sterblichkeit zu überdenken, und nun, als ich den blauen Plastiksack vor mir sah, der mir wie eine Markierung den Weg zu Lager II wies, entschied ich mich, den Leichnam lieber nicht aus der Nähe zu betrachten. Ich weiß, daß Menschen hier sterben. Ich weiß auch, daß ich Gefahr laufe, hier zu sterben, und ich habe weder das Bedürfnis noch das Interesse, mich »dem Beweis« weiter zu nähern. Es gibt noch mehr Plastiksäcke von hier aufwärts. 183
Andere Expeditionen und die UmweltreinigungsCrew, die bei ihrer Suche nach gebrauchten Sauerstoffflaschen und Müll auf Leichen stießen, haben sich bemüht, sie zu bedecken. *** Es ist eine schreckliche Quälerei. Die letzte Dreiviertelstunde zum Lager II muß man einen steilen Fels hinaufklettern, steiler als die Erhebung der Western Cwm, die verhältnismäßig leicht aussieht, wenn man den Kopf über die Kante des Eisbruchs hebt. Aber der Schein trügt – wie immer! Die Western Cwm ist ein schwerer, ständig aufwärts führender Abschnitt. Besonders das letzte Stück. Verdammte Scheiße! Sogar die Höhensherpas bleiben alle zwanzig Schritte stehen – allerdings tragen sie auch schwere Lasten. Nach jeder Pause fängt mein Gehirn mit seinem Spielchen an: »Kein Problem! Die letzten 90 Meter stürme ich einfach in einem Zug hoch – volle Fahrt voraus.« Aber – unmöglich! Nach zwei raschen Schritten breche ich durch die harte Kruste und stecke bis zu den Hüften im schweren Schnee. Ich kann mich nur mühsam weiterschleppen, fixiert auf das dreifarbige Speisezelt vor mir, auf das kleine Zelt, das ich mit Sandy teile, und auf das liebevolle Lächeln auf Gyalzens Gesicht – das von ganzem Herzen kommt. Ich weiß, daß Gyalzen, unser Koch von Lager II, mich von dort oben aus seinem Küchenzelt beobachtet und in der großen Ther184
moskanne mit dem Blumenmuster einen warmen Tee für mich bereithält. Er wird sich freuen, mich zu sehen, so wie er sich immer freut, jemand von uns zu sehen. So ist Gyalzen. Also mache ich weiter, mühe mich stumm, ruhig, hartnäckig, fünfzehn Schritte zu schaffen, bevor ich mich vorbeuge, um zu Atem zu kommen, quäle mich dann wieder in aufrechte Position und gehe weiter. Auf dem Weg zu meinem Zelt befindet sich das Lager des Neuseeländers Rob Hall. Als ich das letzte Mal dort vorbeikam, ging ich kurz hin, um mich ein wenig mit Ang Dorje, Rob Halls Sirdar für die Klettersherpas, zu unterhalten. Ich hatte die Ehre, Ang Dorje zusammen mit Lopsang zum ersten Mal in Pakistan kennenzulernen. Die beiden Spielgefährten sind jetzt Männer geworden und leiten ihre jeweiligen Teams. Ich habe großen Respekt vor Ang Dorje, und es hat mich sehr gefreut, an jenem Tag herauszuhören, daß er kompetent und stark ist und von seinem Chef ganz offensichtlich geschätzt wird. Rob stellte mich den Expeditionsmitgliedern vor und lud mich zu einem Glas Saft ein. In ihrem Team gibt es ein weibliches Mitglied, Yasuko Namba aus Japan. Sie hat gewettet, den höchsten Gipfel auf jedem der sieben Kontinente der Welt zu ersteigen, und der Mount Everest ist ihr letzter. Yasuko wirkt sehr bescheiden und nett. Als wir einander vorgestellt werden, halten wir unsere Hände nur ein klein wenig länger als die Männer und ich. Auf 185
dem Mount Everest gibt es nicht viele Frauen, und ich spüre eine starke Solidarität zwischen uns. Der Mount Everest bietet genug Platz für uns alle. Robs Team macht einen starken Eindruck, mit guter Stimmung. Das Durchschnittsalter ist höher als in den Teams mit den besten Felskletterern, aber der Hochalpinismus stellt andere Anforderungen. Nur noch 50 Meter. Gyalzen steht schon vor dem Speisezelt und winkt. Ich höre Gelächter. Nehme meinen Rucksack und die Steigeisen ab und suche auf einer Steinbank im Zelt Ruhe – endlich. Genug für heute. Ich bin müde. »Kann ich zum Mittagessen Fertignudelsuppe bekommen, Gyalzen?« »Natürlich. Kein Problem!« Sein lächelndes Gesicht verschwindet in der Küche. Als ich zum erstenmal um diese billige Instantsuppe bat, wirkte Gyalzen leicht verwirrt. Die Amerikaner haben genug Lebensmittelvorräte aus den Staaten mitgebracht, und das Küchenpersonal gibt sich alle Mühe, aus Dosenmakrelen, Mehl, Nudeln und so weiter amerikanische Mahlzeiten zu fabrizieren. Und dann bitte ich um etwas, was die Sherpas selbst essen! Im Basislager ist es das gleiche: Anatoli und ich bemühen uns vergeblich, das Essen zu bekommen, das es für Träger und Personal gibt, zum Beispiel Dahlbaat, Reis mit Linsensuppe, die mit Chili gewürzt ist. Wir haben nur selten Erfolg – wenn doch, dann schmeckt es göttlich. Hier oben ist die Stimmung bestens. Diejenigen aus unserem Team, die »noch gut drauf sind« – Martin, 186
Klev, Sandy, Dale, Pete und ich – bereiten sich auf Lager III und unseren ersten Versuch über 7 300 Meter vor. Als Charlotte das letzte Mal hier war, hatte sie so schwere Lungenprobleme, daß sie nach Pheriche abgestiegen ist, wo sie sich erholen wollte. Tim hat ein leichtes Lungenödem erlitten, als er bei der Rettung des Sherpas half, also hat Doktor Ingrid ihn auch nach unten geschickt. Ich hoffe, daß Charlotte und er gemeinsam die Freuden des Tieflands genießen können. Neal und Scott werden morgen hier oben erwartet. Neal brauchte nach der Rettungsanstrengung Ruhe, und Scott, glaube ich, mußte einige Telefonate erledigen. Diesmal nicht mit Edmund Hillary. Die InternetDiskussion mit Hillary – bei der Sandy und Scott über Satellitentelefon Fragen losschickten – ist ein für allemal vorbei. *** Verbringe den Tag mit Schwatzen und Kichern, Essen und Schlafen, trinke reichlich Flüssigkeit und bereite mich mental auf die Lhotse-Flanke vor. Anatoli und ich machen Witze über den Südsattel. Und wir reden darüber, wie es dort oben wirklich ist. »Was für Handschuhe trägst du am Gipfel am liebsten, Anatoli?« Mich interessieren seine Erfahrungen sehr, weil er nur ein Minimum an Ausrüstung hat. Er ist den ganzen Weg hier hinauf mit den gleichen Turnschuhen geklettert, die er auch trug, als wir ihn in Gorak Shep 187
trafen. (Es stellt sich heraus, daß die Turnschuhe keine gewöhnlichen Laufschuhe sind, sondern Kugelstoßerschuhe mit Spikes, Geschenk eines Freundes, der zum russischen Olympiateam gehört.) Ich werde wasserdichte Überhandschuhe mit verschiedenen Innenhandschuhen – Seide, Fleece, Wollfäustlinge – verwenden. »Mit wem ich es auf dem Gipfel am liebsten tue, willst du wissen?« entgegnet Anatoli mit schelmischem Augenzwinkern. Soviel zu meinen ernsthaften Erkundigungen. »Ich brauche deine Liebe. Um mich auf dem Südsattel warm zu halten, damit ich nicht so ende wie der Schmetterling, den ich dir geschenkt habe.« Er zieht mich auf, und wir beschließen, am Südsattel ein Experiment durchzuführen. »Wir werden uns am Südsattel treffen und uns lieben, um herauszufinden, was mit dem Körper passiert. Ich glaube, einer von uns wird sterben.« Anatoli erörtert das mögliche Ergebnis mit den anderen Männern. Ich bin überzeugt, daß ich mich gerade auf die vernünftigste Affäre meines Lebens eingelassen habe. Die Zelte müssen fester im Boden verankert werden. Letzte Nacht ist der Wind so stark geworden, daß das Speisezelt umgeweht wurde und die Sherpas richtig kämpfen mußten, um unsere kleineren Zelte in Sichtweite des Lagerbereiches zu behalten. Während meine Zeltgenossin Sandy ihren täglichen Bericht per Walkie-talkie an Scott liefert, der ihn vom Basislager in die Welt schicken wird, mache ich mich also daran, 188
die Steinwälle um unser Zelt zu verbessern. Harte, langsame Arbeit, aber gutes Training. Nachts wird das Lager von einem Sturm getroffen, aber ich bin zuversichtlich, daß unser Zelt nicht abheben wird, obwohl ich mich mehrmals aus meinen Träumen reißen und in die eiskalte Nacht hinausgehen muß, um die Spannseile festzuziehen und den Schnee vom Zelt zu schütteln. Langsam wirkt das hier wie die Berge, die ich kenne.
Von Lager II zu Lager III: 27.–28.4. 1996 Heute morgen lasse ich mir Zeit, bevor ich aufbreche, um zum ersten Mal die Lhotse-Flanke in Angriff zu nehmen. Mir ist es lieber, wenn ich die wunderbare Natur hier oben allein genießen und mein Tempo nur nach mir selbst und meiner Stimmung und Tagesform richten kann. Natürlich frühstücke ich Fertignudelsuppe. Für mich kein Porridge oder fettige Chapatis, danke. Gemächlicher Morgen. Die Übernachtung hoch oben auf dem Berg reduziert meinen Leistungswillen und meine Leistungsfähigkeit erheblich. Dale, Klev, Martin und Sandy sind schon vor anderthalb Stunden aufgebrochen, aber ich habe noch den ganzen Tag, um Lager III zu erreichen, und normalerweise bin ich schneller als die anderen. Das heißt, mit Ausnahme von Klev. In bezug auf Tempo und die Art und Weise, wie wir den Berg in Angriff nehmen, sind wir uns ähnlich. 189
*** Martin und Sandy stehen auf dem letzten flachen Eisfeld vor dem eigentlichen Kletterabschnitt und richten die Gurte, Eispickel und so weiter. Die IMAXExpedition hat sich versammelt, um zu filmen, und es kostet viel Zeit, ihre ganze Crew die Seile hinaufzubekommen. Damit David seine Kletterer filmen kann, werden ständig Anweisungen gegeben, zu warten, stehenzubleiben und wieder hinunterzuklettern, so daß sich der Anstieg verzögert. Mir ist das recht, glaube ich – das liefert mir wenigstens einen Vorwand für Pausen. Das erste Stück der Lhotse-Flanke ist richtiges Eisklettern mit Hilfe von Fixseilen. Aber in dieser Höhe geht das nicht so ohne weiteres. Wir stehen regelrecht Schlange, um weiter die Wand hinaufzuklettern. Wenn man sich in so einer Gruppe befindet, schafft das ein falsches Gefühl von Sicherheit. Wir machen Pause, plaudern. Aber so ein Seil ist nur mit ein oder zwei Eisschrauben oder einem sechzig Zentimeter langen Schneepflock befestigt. Einige der Sicherungsmittel und Seile wurden aus Expeditionen des letzten Jahres »recycled«. Es ist nicht optimal, am Mount Everest alte Seile und Eisschrauben in der nächsten Saison weiterzuverwenden. Aber wenn sie nun mal da sind … Heute wollen die Mitglieder von drei oder vier Expeditionen eine Nacht in Lager III verbringen, also hängen bis zu fünfzehn Personen – plus eine Menge schwerer Filmausrüstung – an einem Seil, das nur mangelhaft befestigt ist. Obwohl es am Lhotse nicht senkrecht 190
hinaufgeht, ist die Eiswand trotzdem so steil, daß alle Kletterer die ganze Zeit über mit Jümar und Sicherheitskarabiner am Seil festgehakt sind. So verführerisch es auch sein mag, sich der Gruppe anzuschließen: Als ich bemerke, daß Davids Filmteam am Seil hängt und sich gegen das scharfe Licht abzeichnet, warte ich lieber. Das Klettern hier auf beinahe 7 000 Metern ist so schwer, wie ich es in den Bergen noch nie erlebt habe. Ich blicke hinauf und entdecke die Taiwaner. Einer der Expeditionsteilnehmer ist immer außerordentlich freundlich zu mir und schenkt mir Fruchtbonbons, wenn wir uns an den Seilen treffen – nur so können wir kommunizieren, da wir keine gemeinsame Sprache haben. Erstaunlich, daß er heute vor mir ist, allerdings kommt er so langsam voran, daß ich befürchte, er könne krank geworden sein. Doch als ich das Eisstück hinaufklettere, an dem ich ihn zuvor gesehen habe, begreife ich, wieso er so langsam war: Ich bin es auch! Es ist eine Qual, dieses blaue Eis hinaufzuklettern. Stunden vergehen. Ohne Sicherungsmittel würde man hier bei einem Sturz wahrscheinlich 750 Meter Eis in Rekordzeit hinunterrutschen. Das muß man sich mal vorstellen! Hole Sandy und David mit seinem Team ein. Wieder eine willkommene Gelegenheit für eine Pause. »Oh, Lene, mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich muß mich übergeben.« »Willst du rauf oder runter, Sandy? Wenn dir so schlecht ist, klettere ich mit dir runter.« 191
Die Lösung: Wir klettern zusammen weiter, wobei Sandy das Tempo und die Pausen vorgibt. Für mich nicht gerade eine schlechte Lösung: Je weniger ich mich jetzt überanstrenge, desto weniger Zeit wird mein Körper brauchen, um sich wieder zu erholen. Steve, der »Plankman«, holt uns ein, mit weißem Gesicht, vornübergebeugt und nach Atem ringend. In großer Höhe haben selbst die durchtrainiertesten und am besten akklimatisierten Kletterer Leistungsschwierigkeiten, sowohl physisch als auch mental. Je höher man klettert, desto schwieriger wird es zu funktionieren. Der verminderte atmosphärische Druck bedeutet weniger Sauerstoff pro Atemzug, und infolgedessen wird weniger Sauerstoff in die roten Blutkörperchen abgegeben. Der Körper zeigt verschiedene Reaktionen auf diesen Mangel, unter anderem wird die Atmung heftiger. Außerdem schlägt das Herz schneller und stärker. Der Körper muß härter arbeiten, nur um mit der erhöhten Atemfrequenz mitzuhalten. Stunden später zwinge ich mich die letzten 90, 45 und schließlich die letzten paar Meter zu unserem Lager empor, das bislang nur aus einem Fünfmannzelt auf einer zwei bis drei Meter breiten, schrägen Eisplatte besteht. Ein Fixseil führt hinauf zur Zeltöffnung und dann weiter zu den Zelten der anderen Expeditionen. Ein Fehltritt hier oben, und man ist erledigt. Auf dem Mount Everest gibt es eine klassische Methode, seine Tage auf diesem Planeten zu beenden: Man verläßt im Dunkel der Nacht das Zelt, um dem Ruf der Natur Folge zu leisten, macht sich dabei nicht die Mühe, die 192
Steigeisen anzulegen, oder hakt sich dieses eine Mal nicht an den Sicherheitsseilen fest – einmal ausrutschen, und das war es. Der Ausblick ist hier überwältigend! Aber ich bin total erledigt und will mich nur noch hinlegen. Brauche alle Willenskraft, um meinen Schlafsack zurechtzulegen, die äußere Schicht Kleidung abzustreifen und Wasser zum Trinken zu schmelzen. Dauert ewig. Ich muß über Dale krabbeln, dessen massiger Körper direkt hinter dem Eingang liegt. Am entlegenen Ende richtet Martin sich ein. Ein Experiment, ein Zelt mit Martin zu teilen: Zum ersten Mal sind wir für längere Zeit so nah beisammen. Martin ist ein komischer Kauz. Seine Weltanschauung verschafft ihm eine Distanz zu allem und jedem, was sein Leben stören könnte. Gleichzeitig ist er auf zynische Weise scharfsichtig und macht sich absolut keine romantischen Illusionen. Er hat keine Angst, seine Meinung zu sagen, aber er posaunt sie auch nicht heraus – das würde zuviel Unruhe hervorrufen. Er hat einen seltsamen Sinn für Humor, bei dem ich mich vor Lachen krümmen kann. Ich respektiere ihn, weil er nicht so tut, als wäre er etwas anderes als er ist. Kein Pathos und keine hochtrabenden Worte, und damit kann ich gut umgehen. Martin erinnert mich etwas an den Brummbär aus einer Kindergeschichte, und ich kann es einfach nicht lassen, ihn zu necken und zu reizen, indem ich ihn dazu bringe, Wasser für den Rest »seines« Teams zu schmelzen. Altruismus ist wahrscheinlich nicht gerade die Eigenschaft, die ei193
nem bei ihm als erstes einfallen würde. Aber das ist in Ordnung! Am Berg ist Martin ein zäher Kletterer. Mal schnell, mal langsamer, aber er ist hartnäckig. Im Basislager trägt er eine ulkige Seglermütze, weiß mit hochgeklappten Seiten. Mit der auf dem Kopf wirkt er ganz und gar nicht wie das Mitglied einer Kletterexpedition – er würde eher in eine Bar auf Mallorca passen. Er kennt Anatoli von der kommerziellen MakaluExpedition aus dem Jahre 1994, und weil Anatoli an Fischers Sagarmatha-Umweltexpedition 1996 teilnimmt, hat Martin sich in letzter Minute angemeldet. Anatoli ist mit Sherpas anderer Teams oben im Südsattel und befestigt Seile für alle anderen, die danach streben, den Mount Everest zu besteigen. Anatoli hält sich schon seit mehreren Tagen in Lager II und oberhalb davon auf und muß geschwächt sein, darum hoffe ich insgeheim, daß er heute abend zu uns »nach Hause« kommt. Ich muß auf meinen Partner achten, damit wir unsere wissenschaftliche Verabredung am Südsattel einhalten können! »Wie willst du dich akklimatisieren, Martin – willst du morgen rauf zum Gelben Band, * verbringst du noch eine Nacht hier, oder was sonst?« »Ich habe vor, Sauerstoff zu verwenden, darum werde ich heute hier schlafen, morgen zum Lager II hinabsteigen und dann noch weiter hinunter. Mir *
Das Gelbe Band ist eine unverwechselbare geologische Kalksteinschicht, die man sieht, wenn man die Lhotse-Flanke zum Südsattel hinaufsteigt. 194
reicht es hier oben. Ich hatte mir den Mount Everest eher als Picknick vorgestellt, aber es ist verdammt hart, und ich möchte es lieber bald hinter mich bringen und weiterleben.« Dale liegt halbtot an einer Stelle, wo er uns allen im Weg ist, und er äußert sich nicht, aber das ist normal für den »Cruiser« – den Introvertierten, den stummen Riesen, der seine eigenen Wege geht. Ich mache mir Sorgen, ob ich mich in einem Team, das mit zusätzlichem Sauerstoff klettern wird, richtig auf den Gipfel vorbereiten kann. Wir passen in dieser Hinsicht nicht zusammen. Ich muß morgen mindestens bis zum Gelben Band klettern, wenn ich überhaupt die Chance haben will, mich in dieser Höhe zu akklimatisieren. Nach unserem Plan wird es vor dem Angriff auf den Gipfel keine Zeit mehr für eine weitere Tour geben. Es war eine schreckliche Quälerei, auch nur die Höhe von 7 315 Metern zu erreichen, aber jetzt bin ich nur noch 1 533 Meter vom Gipfel entfernt. Heilige Scheiße! Martin hustet, kotzt aus dem Hintereingang unseres Zeltes, tut jedoch so, als sei alles in Ordnung. Sandy steht draußen. Sie hat David Breashears besucht, dessen Lager nur wenige Meter hinter unserem liegt. Genaugenommen steht unser Zelt auf der ins Eis gehauenen Plattform seines Lagers, also müssen wir vielleicht weiterziehen, um einen Platz für unser zweites Zelt zu finden. Es ist ungeschriebenes Gesetz der Berge, daß die Zeltplätze anderer Teams nicht betreten werden dürfen. Bleibt jedoch die Frage, wohin wir 195
ziehen sollen. Auf der steilen Lhotse-Flanke gibt es nicht gerade viele geeignete Stellen. Rob Hall hat sein Lager hinter dem nächsten Gletscherhügel, aber der bloße Gedanke, noch einen Schritt weiter stolpern zu müssen, nachdem ich den ganzen Tag gebraucht habe, um diese Stelle zu erreichen, ist einfach zuviel für mich. In diesem Zelt ist auch Platz für Sandy, aber sie will Schlafsäcke und Essen von der Expeditionsration, damit sie die Nacht mit Steve in einem anderen Zelt, wahrscheinlich einem von Henry Todd, verbringen kann. Martin hat jedoch offensichtlich die Nase voll. »Sandy, hier drinnen gibt es Platz und einen Schlafsack für dich, aber für Steve können wir nicht sorgen.« Anscheinend besteht das Problem darin, daß der »Plankman« herauf ins Lager III gekommen ist, ohne zu ahnen, was es bedeutet, die Nacht hier zu verbringen. Für ihn ist es offenbar selbstverständlich, daß irgendjemand für seine Unterkunft und seine Verpflegung sorgen wird. Diese Erwartung ist in dieser Höhe vollkommen irrsinnig, wahrscheinlich aber nur ein Zeichen seiner Jugend. Die Situation hat Martin verärgert, aber wir anderen sind eigentlich erleichtert. Es ist so befreiend, daß Martin dabei ist, jemand, der Klartext redet, so daß ich zum Beispiel es nicht tun muß. Aber Martin spricht genau das aus, was ich denke. Die Höhensherpas kommen vom Südsattel herunter, lachend, und ich stecke den Kopf aus dem Zelt und erkundige mich nach Anatoli. 196
»Er kommt, er ist heute nicht so schnell.« Ihnen ist das nur recht. Ich glaube, Anatoli macht die Höhe dieses eine Mal auch zu schaffen. Er verlangt das Äußerste von sich, ist aber vermutlich erfahren genug, um zu wissen, was er tut. »Hey, Martin, laß uns noch mehr Schnee schmelzen, damit alle Wasserflaschen und Thermoskannen für die Nacht gefüllt sind.« Ich selbst habe große Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu schlucken, aber ich weiß, daß ich muß. Ich zwinge Dale, etwas Wasser zu trinken. Scheiße, er taugt nicht für große Höhe. Absolut nicht zu gebrauchen. Anatoli kommt und belegt den Platz in der Mitte, zwischen Martin und mir. So fühlt man sich also als Sardine in einer eingedrückten Dose! »Wie sieht es oben aus, Toli?« »Die Route ist okay. Nicht allzu viel Schnee bis zum Gelben Band. Es gibt eine ziemlich steile Querung, und ich habe diesen Bereich mit einigen alten Seilen abgesichert. Ich habe am Südsattel eine etwas windgeschützte Stelle gefunden – in der Nähe liegt zwar eine Leiche, aber dort werden wir sicherer sein als da, wo die anderen Expeditionen ihre Lager aufschlagen wollen.« Anatoli weiß, wovon er spricht. Die Winde auf dem Südsattel sind so heftig, daß sie alles mit sich reißen. Unser Zeltlager wird erst aufgestellt werden, wenn wir ankommen, sonst wäre nichts mehr da, worin wir übernachten könnten. Vom Winde verweht – und zwar mit Gewalt. Wir können es hören und spüren, 197
wenn der Wind oben auf dem Sattel stärker wird – genau wie hier, wo unser Gaskocher von seinem Riemen baumelt. »Trink, Dale.« »Möchtest du etwas trinken, Anatoli?« Ich werde damit beauftragt, das Kakaogetränk »Swiss Miss« in unseren Proviantsäcken zu suchen, was auf 7 315 Metern Höhe eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Ein Blick auf Päckchen mit Makkaroni und Käse dreht mir den Magen um. Etwas anderes als »Swiss Miss« und Instantsuppe kann ich nicht verkraften. Ich flöße Anatoli Flüssigkeit ein. Er kann natürlich selbst für sich sorgen, aber der Mutterinstinkt in mir besteht darauf, daß er mehr trinkt. Er kommandiert mich etwas herum. Seine Stimmung ändert sich, wenn er unter dem Einfluß von Höhe steht – er wird außerordentlich stoisch, aber damit komme ich zurecht. Anatoli ist auch nur ein Mensch. Auch er zahlt den Preis für seine Vorliebe für dünne Luft. Der Sturm wird stärker. Anatoli fragt ins Leere: »Wer bin ich?« Und ich weiß, daß er mich und mein Verhalten beobachtet. Er fragt sich: »Ist sie stark genug für den Mount Everest?« Unser Walkie-talkie funktioniert nicht, also können wir nicht wie vereinbart zwischen sechs und sieben Uhr abends dem Basislager und Lager II Bericht erstatten. Aber es ist nichts Neues, daß die Batterien leer sind. Ob wir heute abend wohl schlafen werden? Oder werden wir die nächsten Stunden in diesem Zustand 198
der Starre zubringen, der hier oben eigentlich der angenehmste ist? 28.4. 1996: Die Nacht vergeht, und der Sturm tobt weiter. Es wird früher Morgen, und es stürmt noch immer. Später – keine Besserung. Wenn der Sturm bis mittags nicht ein wenig nachläßt, sind meine Chancen, zum Gelben Band hinaufzuklettern, gleich null, und mein Plan, den Gipfel ohne Sauerstoff zu besteigen, wird erheblich gefährdet. Der Wind weht weiter. Dale geht es schlecht. »Trink, Dale. Du mußt deinen Kreislauf in Schwung bringen.« »Leck mich. Laß mich in Ruhe. Ich bin in Ordnung. Ich muß mich nur etwas ausruhen.« Nun, ich fühle mich auch beschissen. Nach einem harten Klettertag in großer Höhe werde ich langsam, aber unvermeidlich von Übelkeit und Kopfschmerzen heimgesucht. Ich versuche, einen Kakao zu trinken. Aber ich kann weder mich noch die Höhe überlisten – ich hänge über dem leblosen Dale und spucke meine Ladung aus dem Zelt heraus. Ich muß höher hinauf, um mich für den Angriff auf den Gipfel vorzubereiten, aber das Wetter, die Zeit und mein Körper sagen mir RUNTER! Spiele mit dem Gedanken, hierzubleiben – nur noch vierundzwanzig Stunden – und dann weiterzuklettern. Aber ich weiß, daß mich jede Stunde oberhalb von 7 300 Metern nur weiter schwächen wird. 199
Ich glaube, Dale hat einen schlimmen Anfall von Höhenkrankheit und muß runter, um zu überleben. Ich tippe auf Hirnödem, aber eigentlich spielt es keine Rolle, was es ist. Es gibt nur ein Heilmittel, und das ist, ihn tiefer zu bringen! Draußen höre ich Stimmen, die sich als die von Scott und Neal erkennen lassen, die gerade von Lager II hinaufgekommen sind. Sie berichten, daß der Wind weiter unten nicht so schlimm ist. Es scheint keine andere Wahl zu geben: Ich muß meinen Entschluß, höher zu klettern, fallenlassen. Die Natur bestimmt, und die gesammelten Informationen und die Prüfung der Umstände sprechen für RUNTER. Dale braucht Pflege, also beschließt Scott, ihn gemeinsam mit Anatoli hinunterzubugsieren. Ich werde in ihrem Windschatten folgen, um in der Western Cwm zu übernehmen. Aber erst muß Dale seinen Klettergurt anlegen. Er ist völlig am Ende: Er kann den Gurt nicht selbst anlegen, kann nicht ohne Hilfe stehen. Sein Hirn hat abgeschaltet, und Scott und Anatoli müssen dafür sorgen, daß Dale an Seile angeschnallt wird, während Neal und ich ihn mühsam anziehen.
Basislager: 30.4.–5.5. 1996 In Lager II, zu dem ich Dale vom Ende der LhotseFlanke eskortiert hatte, erfuhr ich über Walkie-talkie, daß die dänischen Trekker Allan Svensson und Jørgen Pedersen zu meiner Unterstützung im Basislager sein würden, wenn ich hinunterkäme. Scheiße! Ich brau200
che Zeit, um völlig abzuschalten – keine Unterhaltung. Anatoli und ich haben gestern den ganzen Tag damit zugebracht, Dale durch den Eisbruch zu bekommen. Keine Ingrid im Basislager. Sie ist noch immer bei Ngawang, unserem akut erkrankten Sherpa. Es hat mehrere Tage gedauert, bis er per Hubschrauber aus dem Basislager evakuiert werden konnte. Ingrid hat ihn Tag und Nacht beaufsichtigt, hatte ihn im Gamow-Sack, versorgte ihn mit Sauerstoff. In Pheriche erlitt er in der Höhenklinik einen Herzstillstand und ist jetzt in Katmandu im Krankenhaus, noch immer bewußtlos und wahrscheinlich mit einem Hirnschaden. * Zum Glück sind in unserem Speisezelt Trekker zu Besuch, von denen sich einer als Arzt entpuppt. Ich frage ihn, ob er sich Dale, der apathisch in seinem Zelt liegt, einmal ansehen könne. »Dale, hier im Lager ist ein amerikanischer Arzt, der mit dir sprechen möchte.« »Hau ab. Ich rede mit keinem Arzt. Laß mich in Ruhe, Lene.« Der Doktor sieht mich an, nickt und sagt: »Eindeutig höhenkrank, typische Reaktion.« Er testet Dale, mißt die richtige Dosis Medizin zur Behandlung eines schweren Hirnödems ab und weist mehrere Sherpas und Teammitglieder an, wie sie Dale am besten helfen können. Ich muß die Rolle der Pflegerin aufgeben. Wir sind Freunde, und ich verstehe, wie *
Ngawang Topche Sherpa starb etwa einen Monat später. 201
schlecht er damit zurechtkommt, daß ich seine »Schwäche« miterlebe. Ich denke auch an Terry und an Dales zwei Söhne, die ihm über Sandys Sekretärin Grüße übers Internet schicken. Es ist irrsinnig, daß er sich wieder der Gefahr eines bleibenden Hirnschadens und den Folgen, die das für seine Familie haben würde, ausgesetzt hat. Wie soll seine Frau damit zurechtkommen? Es ist unheimlich und äußerst unangenehm, zu sehen, wie ein großer, starker Kerl wie Dale nur noch dahinvegetiert – ein riesiger Kloß, der sich nicht äußern kann und nicht reagiert. Seine Reaktionen oben in Lager III stimmen in beunruhigender Weise mit den Symptomen eines Höhenhirnödems überein. * Die dänischen Trekker – meine sogenannte Unterstützung – sind gleichsam eine Antwort auf meine nicht geäußerten Gebete. Allan und Jørgen sind die netteste, lustigste, dankbarste Gesellschaft, die ich mir vorstellen könnte. Ihre Ironie und ihr Geplänkel lassen mich vor Lachen schier umfallen. Sie ziehen einander auf wie ein altes Ehepaar, obwohl sie sich noch gar nicht lange kennen. Aber das ist eine andere Geschichte. 1.5. 1996: Ich bin wütend, enttäuscht und zornig, und dann *
Eine Person, die ein solches Ödem entwickelt, ist schwer beeinträchtigt: Ihre Unfähigkeit, die Muskeln zu kontrollieren, wird so akut, daß sie nicht stehen oder ins Zelt oder den Schlafsack kriechen kann. Sie kann sich nicht selbst anziehen. Die Fehlfunktion des Hirns reicht von Verwirrung und eingeschränktem Urteilsvermögen bis hin zu Halluzinationen, psychotischem Verhalten und Koma. 202
weine ich – aber erst, als ich endlich alleine bin. Ich habe gerade mit Scott über den knappen Zeitplan und die Tatsache gesprochen, daß ich noch einmal auf den Berg muß, bevor ich den Gipfel in Angriff nehme, damit ich gut genug akklimatisiert bin, um ohne zusätzlichen Sauerstoff klettern zu können. Scott hat mich bei meinem Vorhaben, den Gipfel ohne O2 zu besteigen, hundertprozentig unterstützt, zum Teil, weil er meinen Ehrgeiz versteht, und zum Teil, weil es eine gute Werbung für »Mountain Madness« wäre, wenn eine Frau aus dem Team den Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiege. Scott lebt davon, daß er Leuten das ermöglicht, was sie wollen, aber jetzt hat er sich anders entschieden. Er sagt, er könne nicht zulassen, daß ich allein auf dem Berg herumklettere, und wenn ich es wirklich so sehr wolle, dann könne ich morgen einfach sehr früh aufstehen und mit den Sherpas zum Südsattel steigen. Außerdem meint er, ich sei beim Aufstieg zum Lager III nicht schnell genug gewesen. Da war ich nicht mehr zu halten! Zunächst einmal bin ich nicht bereit, mein Vorhaben, den Gipfel ohne O2 in Angriff zu nehmen, aufzugeben. Ich hatte noch keine faire Chance. Obwohl Lager III eine schwere Herausforderung war, kann mein Körper sich mit der Zeit noch besser anpassen, und die Saison fängt gerade erst an. Zweitens finde ich es einfach unfair von Scott, mich plötzlich zu einem Gipfelaufstieg mit Sauerstoff zu drängen, damit er seinen Expeditionsplan einhalten kann. Er hätte das vor203
her überdenken müssen, bevor er mir zusicherte, ich könne zu anderen Bedingungen als die anderen Teammitglieder teilnehmen. Es ist lächerlich, daß er mich nach dem Urteil anderer Leute beurteilt. Nach wessen Urteil? In den letzten Tagen hat er mich überhaupt nicht am Berg gesehen. Langsam! Ich weiß, daß er unrecht hat und die Sache nicht von allen Seiten betrachtet hat. Warum hat er nicht mit mir gesprochen, bevor er sein Urteil gefällt hat? »Weißt du, wieso es an der Lhotse-Flanke so lange gedauert hat?« frage ich. »Unter anderem, weil ich mich mal wieder um Sandy gekümmert habe, aber ich schätze, das hat sie nicht an dich weitergegeben, oder? Wenn ich der Leiter dieser Expedition wäre – bei der die Leute das Recht haben, für das Geld, das sie bezahlt haben, eine Gegenleistung zu erwarten – und wenn ich drei Bergführer hätte, dann würde ich dafür sorgen, daß sich jedesmal, wenn das Team am Berg ist, ein Führer an der Spitze befindet, einer in der Mitte und einer hinten, um die Nachzügler einzusammeln.« Ich bin gerade von sechs Tagen in großer Höhe zurückgekehrt und muß mich ausruhen und regenerieren, bevor ich wieder auf den Berg kann. Wenn ich Scotts Vorschlag folgte und morgen mit den Sherpas aufstiege und dann hinunterkäme, um für den Gipfelanstieg seiner Gruppe bereitzustehen, hätte ich nicht die geringste Chance, auch nur in die Nähe des Gipfels zu kommen. Ein vollkommen wirklichkeitsfremder, illusorischer Gedanke. Wenn er wirklich glaubt, ich 204
könne etwas schaffen, was niemandem sonst gelingen würde, dann ist er noch realitätsfremder, als ich manchmal fürchte. Seine Vorschläge passen nicht zu den Erfahrungen, die er selbst in den Bergen gemacht haben muß. Zu allem Überfluß schließt er mit den Worten: »Ich bin stolz auf dich. Du hältst dich wirklich gut.« Ich explodiere: »Leck mich am Arsch, Scott! Du schenkst allen und jedem dein ›Du hältst dich super‹, ob es stimmt oder nicht. Ich brauche dein ›Du hältst dich super‹ nicht. Solche Unterstützung bringt mir nur etwas, wenn sie fundiert ist und von jemandem kommt, den ich wirklich respektiere. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob du in diese Kategorie fällst.« Weil Scott der »Kapitän« ist und darum das letzte Wort hat, nehme ich seine Bedingungen hin, aber ich bin wütend, und Wut macht mich hart wie Stahl und fest entschlossen. Außerdem stumpft sie mich ab. Ich habe so lange für das hier gearbeitet, habe auf Scotts guten Willen vertraut, so daß ich gleichgültig werde, wenn seine Taten seine Worte Lügen strafen. Das ist nicht das, was ich will. Ich fühle mich gedemütigt, weil ich in gewisser Weise dafür »bestraft« werde, daß ich meinen Teamkollegen und somit Scott geholfen habe. Jetzt muß meine Hilfsbereitschaft ein Ende nehmen, weil ich diesen Berg besteigen will. Ich fühle mich unangenehm abgestumpft, und es ist mir absolut egal – einsam und in Tränen aufgelöst. Anatoli muß mitbekommen haben, was vorgefallen 205
ist, denn ich höre seine Stimme vor meinem winzigen Zelt: »Lene, darf ich reinkommen?« »Nimm’s leicht«, sagt er. »Ich habe einen Plan für dich. Benutze Sauerstoff und klettere mit den anderen. Wenn ich den Lhotse bestiegen habe, können wir uns auf dem Südsattel treffen, und du kannst noch einmal ohne Sauerstoff hochklettern. Ich werde mit dir gehen.« Muß allein sein, um nachzudenken. Um zu weinen. Ich fühle mich von Scott im Stich gelassen. Offensichtlich hat er sein überzeugendes »Wir besteigen diesen großen Hügel zusammen, ohne O2.« vergessen. Es war schön, wenn auch naiv, auf das Gute im Menschen zu vertrauen, so zu tun, als könne man darauf vertrauen. Als erwachsener Mensch weiß ich, daß ich im Prinzip allein bin und mich nur auf mich selbst hundertprozentig verlassen kann. Außerdem weiß ich, daß diese Tränenflut nicht nur vom Mount Everest und Scott ausgelöst wurde, sondern auch von vergangenen Enttäuschungen. Beim Abendessen gehe ich zu Anatoli, nehme seinen Kopf in die Hände und gebe dem Russen einen dicken Kuß auf die Stirn. »Danke, Anatoli!« »Worum geht es?« will Scott wissen. Aber meine Seele hat sich vor seinen Fragen verschlossen. Ich weiß nicht, was geschehen wird, aber ich bin dankbar für Anatolis Unterstützung, obwohl sein Plan nicht sehr realistisch ist. Er ist wohl eher als Trost gedacht und entspringt seinem Wunsch, daß ich trotz allem mitklettern soll. 206
2.5. 1996: Zusätzlich zu meinem Showdown mit Scott habe ich auch noch gesundheitliche Probleme. In Lager III habe ich mir einen Höhenhusten geholt – das erste Mal, daß ich richtig leide. Ich schlucke Hustensaft, nehme Hustenbonbons und huste mir die Lunge aus dem Leib, aber es wird allmählich besser. Ich habe Scott dazu gebracht, heute mit den dänischen Trekkern im Eis zu klettern, wie es in seiner Broschüre versprochen war. Michael Jørgensen blieb zum Abendessen. Unglaublich gemütlich! Wir erörtern die Möglichkeit, uns zusammenzutun und ohne Sauerstoff zu klettern. Michael ist in Henry Todds Team in eine ähnliche Falle geraten wie ich. Aber er hat einen Geheimplan laufen, deswegen kann er jetzt noch keine Zusagen machen. Kim Sejberg wurde auf dem Weg durch den Eisbruch von herabstürzendem Eis getroffen. Er verlor das Bewußtsein, stürzte in eine Gletscherspalte und brach sich vier Rippen. Zum Glück hat er sich nicht noch schlimmer verletzt! Aber für ihn wird es diese Saison keine MountEverest-Besteigung geben. Lopsang ist krank, hustet und erbricht sich, steigt aber weiterhin den Berg hinauf. Charlotte und Tim sind von ihrem Ausflug ins Flachland zurückgekehrt. Es scheint, als hätten sie eine schöne Zeit zusammen verbracht. Dale muß zu allen Mahlzeiten kommen, also muß er sich zumindest dreimal täglich aufraffen und seinen Organismus in Gang bringen. Er leidet ganz eindeutig 207
noch immer unter einem Hirnödem. Wenn einer von uns ihn bittet, ihm Salz oder Tee zu reichen, scheint er das zuerst gar nicht zu verstehen. Dann kommt er etwas zu sich und bemüht sich, zu begreifen, worum man ihn gebeten hat. Er ruft beinahe jeden Tag zu Hause an. Ich habe Mitleid mit Terry – wie muß es für sie sein, mit Dale zu kommunizieren, wenn er bestenfalls wirkt wie ein debiler Siebenjähriger? Der amerikanische Trekker, Jim, bemüht sich sehr, Dale wie einen vernünftigen Menschen zu behandeln, aber es ist schwierig, wenn er sich wie ein Kind benimmt. Ich bete, daß ich mich irre, aber ich fürchte, sowohl Scott als auch Dale rechnen damit, daß Dale wieder auf den Berg steigen wird. Das kann sicherlich nur Wunschdenken sein, denn ein Hirnödem kann rasch zum Tod oder zu bleibenden Hirnschäden führen. Die Fachliteratur besagt, daß manche Leute für Leiden dieser Art offenbar besonders anfällig sind. Dale! Es passiert ihm jedes Mal, wenn er sich in große Höhe begibt. Wenn man einmal an einem Hirnödem gelitten hat, ist es nicht ratsam, wieder aufzusteigen, selbst wenn sich der Zustand nach dem Abstieg wieder gebessert hat, und das ist bei Dale nicht einmal der Fall. 3.5. 1996: Fühle mich heute bei Tagesanbruch gut. Frage mich, ob ich im Basislager bleiben soll, um mich vor dem Gipfelsturm auszuruhen. Martin ist hinunter nach Pheriche auf 4 280 Meter Höhe gegangen, um 208
sich auszuruhen, und Anatoli nach Ama Dablam Garden Lodge auf 3 779 Metern. Henry Todd hat mich für heute abend zum Essen eingeladen. Yak-Curry – klingt herrlich! Wird Spaß machen, Michaels Kletterfreunde kennenzulernen. *** Ein schöner, anregender Abend in Todds Lager. Seine Expedition besteht aus Leuten aus allen Ecken der Welt, mit extrem unterschiedlichen Erfahrungsstufen. Aber – unser Team ist ohne Zweifel stärker! 4.5. 1996: Meine Eltern in Jütland angerufen. Sie fliegen für zwei Wochen nach Kreta. Perfektes Timing. Beim Mittagessen verkündet Scott: »Niemand versucht, den Mount Everest ohne Sauerstoff zu besteigen.« Soviel zu ihm! Ich sage gar nichts. Ich bin wütend, aufgebracht, resigniert und fertig mit ihm. Ende der Geschichte. Jetzt will ich nicht mal mehr den Mount Everest besteigen. Ich würde am liebsten einfach abhauen. Was für ein Arschloch! 5.5. 1996: Morgen beginnt der Anstieg. Ich bin nicht mehr motiviert, werde aber natürlich trotzdem mitmachen – der Weg des geringsten Widerstands. Halte mich von Scott fern. Denke an meine Sponsoren, meinen Artikel für »Ekstra Bladet« und so weiter. 209
*** Ich bin okay, habe sogar langsam wieder Lust zum Klettern. Fühle mich aggressiv und habe vor, mich auch so zu verhalten. Artikel für »Ekstra Bladet« fertig und okay! »Hey, gibt es hier jemanden, der mich zu einer Tasse Kaffee einladen möchte?« Jemand krabbelt draußen über die Felshaufen. Es ist Torben, ein Freund von zu Hause, der mir angedroht hatte, auf seiner Reise in den Fernen Osten hier aufzutauchen. Von Trekkern, die auf einen Kaffee bei uns vorbeigekommen sind, ist er schon angekündigt worden: »Ein riesiger Kerl ist auf dem Weg hierher. Er wiegt mindestens 220 Pfund!« Nach dieser Beschreibung mußte es Torben sein. Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, daß er kommen würde, bevor wir zum Gipfel aufbrächen, hatte angenommen, er sei mit der Höhe nicht zurechtgekommen und habe den Rückzug antreten müssen. Aber ganz im Gegenteil! Torben sieht besser aus und scheint in besserer Form zu sein als je zuvor. Nun, da er Kopenhagen verlassen hat, strahlt er vor Energie. »Wie phantastisch, daß du gekommen bist. Die letzten paar Tage habe ich um positiven Input von der Außenwelt gefleht, und hier bist du. Gott ist groß. Was für ein unerwartetes Geschenk.« Ich weiß, daß Torben mich versteht. Wir unterhalten uns, in mein kleines Zelt gekuschelt, tauschen Erfahrungen aus. Dann vereinbaren wir, daß Torben im Basislager bleibt, wäh210
rend ich auf dem Berg bin. Was für ein Segen, einen Freund zu haben, der mich verabschiedet und mich bei meiner (so hoffe ich) Rückkehr begrüßt. Ich brauche das. Ich bin fest entschlossen, den höchsten Berg der Welt zu besteigen – so entschlossen, wie ich es in dieser Höhe unter diesen Umständen nur sein kann. Der Vorteil von Sauerstoff ist, daß mein Hirn weniger Schaden nehmen wird. Ich kann wieder lachen und sage sogar zu Scott: »Wahrscheinlich werde ich dir letzten Endes für deine Gemeinheit dankbar sein!« 6.5. 1996: Beim Morgengrauen verabschiedet Torben mich. Am Eingang zum Eisbruch sagt er: »Lene, du hast hart für diese Besteigung gekämpft. Paß jetzt gut auf dich auf. Verwende deine Energie darauf, daß dein Traum wahr wird, und laß die anderen sich um sich selbst kümmern. Du bist hier, um diesen Berg zu besteigen!« Torbens Worte sind vernünftig. Ich weiß, daß sie wohl überlegt sind und auf den Erfahrungen beruhen, die wir beide gemacht haben, indem wir Menschen dabei halfen, sich selbst zu helfen. Dann nimmt er die Eisbärkralle aus Grönland, die er um den Hals trägt, ab und bindet das Lederband um meinen: »Los, bezwing den Berg, und komm gesund wieder zurück!«
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4. Der Gipfel
Vom Basislager zum Lager II: 6.5. 1996 An diesem frühen Montagmorgen herrscht eine ganz besondere Atmosphäre in unserem Team – ein berauschender Mix aus Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit. Jetzt kommt es darauf an. So muß es bei der Olympiade sein, wenn jahrelanges Training in wenigen Tagen in Ergebnisse umgesetzt werden muß. Mit Ausnahme von Anatoli, der später nachkommen wird, sind wir alle hier – Martin, Tim, Neal, Scott, Charlotte, ich, Dale, Sandy, Pete und Klev- das allein ist schon eine enorme Leistung. Aber ich habe deutlich gesagt, daß ich der Meinung bin, daß Dale nicht wieder hier auf dem Berg sein sollte und daß ich nicht sein »Kindermädchen« spielen werde. Ich halte es für eine verantwortungslose Entscheidung – ein Risiko für die Expedition und vor allem für Dale, auch wenn er darauf besteht mitzukommen. Später erfahre ich, daß Dale, Tim und Charlotte von Scott klare Richtlinien bekommen haben: Wenn sie die Tour bis Lager II nicht ohne Probleme und Symptome schaffen, ist die Besteigung für sie beendet. Tim und Charlotte haben die Akklimatisierungsrun212
den abgebrochen, weil sie Probleme mit Lungenödemen hatten, aber da sie mit Sauerstoff klettern, können sie den Gipfelanstieg versuchen. Ich bin in Topform. Nach dem letzten Akklimatisierungsanstieg und den Nächten in Lager II und III sind meine Pfunde nur so gepurzelt. Stoff zum Nachdenken! Ich habe eingesehen, daß das zusätzliche Körpergewicht, das ich verlieren konnte, ein Vorteil war. Die Körpermasse wird hier oben ziemlich schnell geringer. Ich huste noch, aber das ist bis jetzt noch kein Hindernis. Die Propolis-Tabletten, die ich nehme, scheinen den Reiz zu lindern, daher gebe ich einem jungen Sherpa, der zum ersten Mal auf dem Mount Everest ist, eine Schachtel. Er hustet sich durch den Eisbruch und will unbedingt einen guten Eindruck machen, damit er vom Küchensherpa zum Klettersherpa befördert wird. Er ist stark, aber seine Hustenanfälle schwächen ihn ganz offensichtlich. Ich überhole Martin. Ein schneller Tag für mich. Super, weil ich auf dem Weg zum Gipfel bin. Hole Scott und Neal für eine Weile ein. Scott und ich lachen über unseren Streit, umarmen uns spontan und sind wieder Freunde. »Du hältst dich gut, du bist schnell«, sagt Scott, und diesmal akzeptiere ich sein Urteil. »Ich bin froh, wenn diese Expedition vorbei ist und ich mich entspannen und den Kopf frei machen kann«, vertraut Scott mir an. Ja, ich hoffe, daß es so kommen wird, aber Scott hat so etwas schließlich schon häufiger gesagt, und er 213
müßte dann auch neue Angebote ablehnen, um mehr Zeit für sich und seine Familie zu haben. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Erfahrung bin ich so schrecklich skeptisch geworden und habe gelernt, nur dem zu glauben, was die Leute tun, nicht dem, was sie sagen. Wenn alles gut läuft, dann ist das hier unser letzter Anstieg durch den Eisbruch. Wir haben Glück gehabt, daß uns in diesem tödlichen Labyrinth aus Gletscherspalten und haushohen Eistürmen bisher nichts passiert ist. Wir wagen kaum, unsere Hoffnungen zu äußern, denn wer weiß schon, was uns noch erwartet? Wir sind erst in Sicherheit, wenn wir den Eisbruch zum letzten Mal hinuntergestiegen sind, und in diesem Augenblick liegt das in ferner Zukunft. Scott und Neal sind offensichtlich auf einer wichtigen Mission, denn sie eilen weiter zur Western Cwm. Ich schließe mich meinen charmanten Freunden Pete und Klev an, und oberhalb des Eisbruchs warten wir eine Weile, um zu sehen, wie Dale zurechtkommt. Weiter unten haben wir ihn überholt, und er zeigte uns »Daumen hoch«, aber jetzt ist er nirgends zu sehen. Wir beschließen weiterzugehen. Pete ist wirklich ein Original. Klev und ich gehören zu den Schnellsten und Stärksten im Team, doch Pete, der »große alte Mann«, legt ein Tempo vor, das die meisten Menschen umbringen würde, und hat bald jeden in Sichtweite überholt. Daher nähert sich unser Team beharrlich und ohne Pause dem, was auf den ersten Blick aussieht wie schwarze Punkte, die sich 214
durch die Western Cwm bewegen. Als wir sehen, daß Scott und Neal an Tempo zulegen, als sie Lager I verlassen, schaltet Pete in den fünften Gang. Wenn Klev genug Luft hat, erzählt er Stories von anderen Touren, auf denen Pete alle auf der »Ziellinie« geschlagen hat. Ich bin ehrlich beeindruckt und genieße es wie immer sehr, mit ihnen zusammenzusein. Pete hat offensichtlich kein Problem damit, gleichzeitig zu reden und zu laufen. Er erzählt von Alaska, von einer Schlittenhunde-Tour, die seine Tochter kürzlich mit ihren Kindern unternommen hat – das ist die gleiche Tochter, der bei einer Skitour im Hochgebirge alle Zehen abgefroren sind. Was für eine Familie. Ich frage Klev, wie er seine Teilnahme an unserer Mount-Everest-Expedition mit seinen offenbar klaren Vorstellungen von seinen familiären Pflichten vereinbaren kann. »Wenn das, was ich unternehme, für meine Frau und meine Ehe förderlich ist, dann halten wir beide es für gut. Und wenn ich mit Pete und seiner Frau spreche, lerne ich von ihnen, wie man es schaffen kann, daß eine respektvolle Partnerschaft ein Leben lang hält. Außerdem hoffe ich, meinen Kindern, wenn sie alt genug sind, all das zeigen zu können – das heißt, wenn sie es sehen wollen. Meine Frau hat die gleiche Freiheit wie ich, das zu tun, was sie für wichtig und richtig hält, um sich als Person zu entfalten und weiterzuentwickeln. Sieh dir doch Pete an – er hat ein Leben voller Abenteuer geführt, ist im Herzen noch immer jung, und weil er in den Bergen kluge Entscheidungen getroffen hat, lebt er noch.« 215
Was Pete anbelangt, so hätte ich nicht schneller durch die Western Cwm aufsteigen können als in seinem Windschatten, und direkt vor dem letzten Anstieg zu Lager II holen wir Rob Hall und einen seiner Klienten ein und ziehen an ihnen vorbei. Rob ist bestimmt nicht langsam, aber im Augenblick kann niemand Petes Tempo schlagen. Klev grinst und verrät, daß Pete es einfach nicht ertragen kann, jemanden vor sich zu sehen. *** Scott und Neal sind gerade in Lager II angekommen und nehmen unsere Zeit, als wir das Lager erreichen. Ich tue so, als würde ich es nicht bemerken, obwohl ich mit meinem Tempo zufrieden bin. Im Laufe des Nachmittags versammelt sich unser Team im Speisezelt und erfährt schlechte Neuigkeiten von Martin, der Dale in dem Notzelt gefunden hat, das wir in Lager I haben stehen lassen. »Dale ist im Zelt, behauptet, er sei schneeblind, weil er auf dem rechten Auge nichts sehen kann. Er übergibt sich, behauptet jedoch, er müsse sich nur ausruhen, dann würde es ihm besser gehen. Er will die Nacht dort verbringen und dann hier herauf zu uns kommen.« Sandy und Charlotte bestätigen diese Beobachtungen, und ich verkünde nüchtern: »Der Mann ist todkrank. Er muß zurück nach unten, und zwar so schnell wie möglich! Er ist eine Gefahr für sich selbst und den 216
Rest der Expedition. Ich habe bereits viel Zeit für Dale geopfert, weil er sich nicht an die Höhe gewöhnen kann. Das muß jetzt ein Ende nehmen. Er sollte nicht mal dort sein, wo er jetzt ist!« Andere Möglichkeiten werden erörtert: Sein Zustand könnte sich über Nacht bessern; vielleicht ist es gar nicht so schlimm … Ich bin bestimmt kein Arzt, aber wenn Dale Sehstörungen hat – und ich glaube ihm nicht eine Sekunde, daß es sich um Schneeblindheit handelt –, dann hat sich die Flüssigkeitsansammlung in seinem Hirn aller Wahrscheinlichkeit nach schon auf die Sehnerven ausgewirkt. Also zögere ich nicht zu sagen: »Wenn Dale nicht sofort nach unten begleitet wird, läuft er Gefahr, in der Nacht zu sterben. Er hat letztes Mal auf der ganzen Linie versagt, hat sich nicht erholt, und das hier klingt wirklich ernst.« Schließlich fällt Scott eine Entscheidung: »Er muß runter. Ich rede mit dem Basislager und sorge dafür, daß mich jemand am Eisbruch trifft.« »Scott, wieso bittest du nicht einen Sherpa, ihm nach unten zu helfen?« frage ich. »Du bist bei dieser Expedition schon einmal mit ihm unten gewesen, jetzt mußt du deine Kraft sparen, statt die Western Cwm rauf und runter zu hetzen.« Ich halte es für eine schlechte Idee, daß Scott oder Neal zu dieser Uhrzeit hinunter und dann wieder herauf gehen, aber Scott entgegnet: »Dale ist mein Freund. Als Expeditionsleiter möchte ich ihm die Nachricht selbst überbringen, daß seine MountEverest-Tour vorbei ist.« 217
Scott und Neal brechen zum Lager I auf, und ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Wie höhenkrank Dale wirklich ist, spielt für mich ehrlich gesagt keine Rolle. Wichtig ist nur, daß er hinunter ins Basislager kommt und dort bleibt! Charlotte und Tim können positive Antworten auf Doktor Ingrids Gesundheitsbefragung via Walkie-talkie geben, also bleiben sie. Pete hat entschieden, daß der Trip hier für ihn zu Ende ist. Er konnte zu keinem Zeitpunkt ohne Sauerstoff schlafen, und die Berichte der verschiedenen Ärzte, die ihn untersucht haben, waren offensichtlich derart ungünstig, daß er seinem gesunden Menschenverstand folgt. Ich habe großen Respekt vor seiner Entscheidung. Er hat dieser Expedition so viel gegeben. Ich umarme ihn und danke ihm dafür, daß er mich durch die Western Cwm geführt hat. Kann es sein, daß das dem alten Fuchs peinlich ist? Anatoli kommt. Er ist der Stärkste von uns allen, doch seine Beziehung zu Scott und Neal hat eine eigenartige Wendung genommen. Es ist irgendwie so, als hätten die beiden sich wie Schuljungen verbündet und ließen Anatoli nicht in ihren Club.
Lager II: 7.5. 1996 Verbringe den Tag damit, die Sauerstoffmasken und Regler auszuprobieren und zu packen. Ich packe die Nikon FM2-Kamera für die Gipfelfotos zu meinem Daunenanzug und der Wollunterwäsche. Ich nehme einen Vorrat an Reeloade, einem konzentrierten, gelartigen Energie218
schub, mit. Es schmeckt wie Scheiße, und seine Konsistenz läßt mich würgen (falls ich das nicht schon wegen der Höhe oder der Überanstrengung tun muß), aber die kleinen Folienpäckchen sind eine bequeme Art, sich auf die schnelle mit Nahrung und Energie zu versorgen, besonders, wenn man sowieso nicht das Bedürfnis fühlt, richtiges Essen zu sich zu nehmen. Jetzt, da ich gezwungen bin, Flaschensauerstoff zu verwenden, will ich es auch richtig machen. »Sei bereit«, wie die Pfadfinder sagen. Ich habe aufmerksam zugehört, als Henry Todd im Basislager Anweisungen zum Ge- brauch der Sauerstoffmasken gab, damit ich im Notfall mir und anderen behilflich sein kann. Er versuchte mich zu überreden, jeden Tag ein paar Atemzüge zu nehmen. »Komm schon, mach einen Kompromiß«, drängte er. Aber nein, ich wollte den Mount Everest ohne O2 besteigen, also wäre es für mich Betrug gewesen, während der Trainingsphase ein paar Schlucke zu nehmen. Ich fragte ihn: »Henry, was ist deiner Erfahrung nach der Schwachpunkt an diesem Apparat?« »Das Vorderstück, an dem die Ventilation erfolgt. Normalerweise vereist es mit Kondenswasser von der Atmung, also muß man gut aufpassen und das Eis abbrechen, damit die erforderliche Zirkulation stattfinden kann. Und durch die Kälte kann die Anzeige einfrieren, so daß du nicht erkennen kannst, wieviel Sauerstoff noch im Behälter ist.« Klev, Martin und ich schrauben die Gummischläuche von zwei Arten von Sauerstoffbehältern ab, testen 219
die Durchflußraten, kontrollieren sie auf Lecks und versuchen auszurechnen, für wie viele Stunden angestrengtes Klettern eine kleine Flasche reicht und für wie viele eine große. Ziemlich kompliziert, das hier oben zu berechnen. Wir rechnen drei Flaschen Sauerstoff für den Rundweg vom Südsattel zum Gipfel und wieder zurück. Ungefähr zwölf bis achtzehn Stunden, je nachdem, welche Durchflußrate man einstellt. Es gibt zusätzliche Flaschen für Lager III und den Anstieg von Lager III zum Südsattel (Lager IV), und dann weiteren Sauerstoff für Notsituationen. Wir experimentieren herum, mit tatkräftiger Unterstützung unserer Klettersherpas, die den Apparat besser kennen als wir, und des unersetzlichen, immer lächelnden Gyalzen, der uns von ganzem Herzen alles Gute wünscht. Wir sind uns jetzt alle näher als bei unseren vorherigen Übernachtungen, wahrscheinlich, weil uns klargeworden ist, daß dies das letzte Mal sein könnte, daß wir zusammen sind. Obwohl keiner von uns über die Gefahren spricht, denken wir alle an morgen und die folgenden Tage und Nächte. »Würdest du gerne auf den Gipfel klettern, Gyalzen?« Ich stelle diese Frage, weil ich denke, daß manche der Sherpas uns für unglaublich gedankenlos und arrogant halten müssen, weil wir uns anmaßen, die Heimat der Götter zu stören. »Ja, das ist mein größter Wunsch. Jetzt bin ich schon fast einen Monat hier oben, und wenn ich das nächste Mal auf dem Mount Everest bin, wäre ich gerne im Gipfelteam.« 220
»Hmmm!« Wir lauschen auf das »Wetter« oben auf dem Südsattel. Und da gibt es welches! Die Winde tosen, sausen und pfeifen, als würden Eilzüge durch das Lager donnern. Bislang kein Wetterfenster. Scott und Rob beraten sich. Sie haben beschlossen, daß unsere beiden Expeditionen gleichzeitig aufbrechen, ähnliche Zeitpläne einhalten und einander dabei unterstützen werden, die obersten Seile anzubringen, die noch nicht installiert sind, da wir in diesem Jahr die ersten Teams auf dem Gipfel sein werden. Eine Expedition ist auf dem Südsattel umgekehrt, von dem unaufhörlichen Sturm geschlagen und besiegt. Und der Schwede Göran Kropp, der die ganze Strecke von Schweden her auf dem Fahrrad zurückgelegt hat, mußte direkt unterhalb des Südgipfels umkehren, weil ein Unwetter heraufzog. Aber er hat Geduld und weiß, was zu tun ist, daher ist er jetzt im Basislager, ruht sich aus, regeneriert sich, ißt und wartet ab. Nach unserem Plan sollten wir morgen, am 8. Mai, um sechs Uhr morgens aufbrechen, aber so, wie es jetzt stürmt, ist das ziemlich unwahrscheinlich. Doch weitere vierundzwanzig Stunden in dieser Höhe würden uns nur Kraft kosten. Allerdings wäre das immer noch besser, als den ganzen Weg bis zum Basislager hinabzusteigen und dann wieder von vorne anzufangen. Also hoffen wir.
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Von Lager II zu Lager III: 8.5. 1996 Um 5.00 Uhr morgens berichtet Scott uns, daß Rob und er übereingekommen sind, noch ein paar Stunden zu warten, um zu sehen, ob der Wind nachläßt. Um 6.00 Uhr wird der Aufbruch angekündigt, und unsere beiden Teams treffen sich am Ende der Western Cwm. *** Es ist ein Riesenspaß, die Lhotse-Flanke hinaufzusteigen. Es ist schön, sich etwas länger mit den anderen Kletterern zu unterhalten, sich von Andy Harris, einem Bergführer aus Halls Team, der auch aus Neuseeland stammt, helfen zu lassen. Man fühlt sich sicher, wenn man sich in einer Gruppe vorwärtsbewegt, obwohl das nicht stimmt. Komme am frühen Nachmittag in Lager III an und genieße das Panorama draußen vor unserem Zelt. Es ist atemberaubend schön, und die Wettergötter meinen es heute außerordentlich gut mit uns. Zunächst ist es klar, soweit das Auge blicken kann, und dann kommen Wolken von unten heraufgequollen, so daß wir ständig eine wunderbare Unterhaltung geboten kriegen. Seit wir zuletzt hier waren, sind zwei weitere Zelte aufgestellt worden, so daß unser Lager jetzt aus dreien besteht. Ich wähle das gleiche Zelt wie beim letzten 222
Mal und tue mich wieder mit Martin und Anatoli zusammen. Tim, Charlotte und Klev, die alle drei mit Sauerstoff schlafen, teilen sich das zweite Zelt, und Scott, Sandy und Neal belegen mit Sandys Satellitentelefon das dritte. Sandys neueste Idee war es, die Telefonausrüstung von einem Sherpa den Südsattel hinauftragen zu lassen, damit sie NBC von dort oben anrufen kann. Heute abend können wir also Sandys, Scotts und Neals offiziellen und privaten Gesprächen lauschen. Anatoli sieht aus, als könne er nicht fassen, was sich hier oben auf 7 315 Metern abspielt. Sein amerikanischer Lieblingssatz, »einfach unglaublich«, den er oft ironisch gebraucht, paßt heute zu seiner Miene. Mir ist es beinahe peinlich. Aber es ist Sandys und Scotts Sache, darum sage ich nichts. Jetzt, da der Gipfel so nah ist, will ich nicht an die Zukunft denken, sondern mich einfach auf die Gegenwart konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Mit so stark eingeschränkter Sauerstoffzufuhr für das Gehirn ist es sowieso nicht sonderlich schwer, einfach nur zu existieren und nicht über Dinge zu spekulieren, die darüber hinausgehen, wo die Pinkelflasche für die Nacht ist oder ob Scott seinen Daunenanzug findet. Ich finde den von Dale. Wir dürfen nicht vergessen, ihn mit einem Sherpa nach unten zu schicken. Die Zeit vergeht ohne tiefschürfende Grübeleien, selbst ohne Anatolis »Wer bin ich?«. Ich bin auf dem Weg, den höchsten Berg auf dem Planeten Erde zu besteigen. Ich werde alles tun, was nötig ist, um dorthin zu gelangen. Das ist alles, was jetzt zählt. 223
Anatoli und ich machen es uns gemütlich und genießen unser Essen und Trinken und unsere rituellen Neckereien. Zur Feier des Tages habe ich eine Tüte gefriergetrocknetes Nasi Goreng heraufgeschleppt, und das thailändische Gericht kommt ziemlich gut an, da beide Männer tatsächlich etwas von dem Brei herunterbringen können. Eine Portion, die normalerweise kaum für zwei hungrige Bergsteiger reicht, scheint sich auf 7 315 Metern Höhe so zu strecken, daß drei von der Höhe mitgenommene, appetitlose Menschen sie nicht aufessen können und die Reste auch in den anderen Zelten nicht loswerden. Aber immerhin haben wir gegessen! Und Anatolis Skepsis, als er den Topfinhalt umrührte und fragte, was für ein Experiment ich mit ihnen vorhätte, hat sich als unberechtigt erwiesen. Jetzt sind wir alle sehr zufrieden in diesem Mini-Universum. Selbst Martin zeigt eine beinahe sensible Seite, aber ich gebe dazu keinen Kommentar ab – vielleicht würde er sonst wieder griesgrämig! Charlotte und ich haben ihn ein bißchen geärgert. Sie und Martin kennen sich aus den Staaten, und wir beide versuchen, ihm einzureden, daß er eine liebe Frau finden wird, wenn er nach Hause zurückkehrt. Wir sind ziemlich überzeugt davon, daß der Mount Everest die Düsternis aus seinem Gemüt vertreiben wird, denn auch wenn Martin sich nach Kräften darum bemüht, sich unbeliebt zu machen, ist er doch ein prima Kerl. Der »Brummbär« unseres Teams liegt uns wirklich am Herzen. Es stürmt. Wir konzentrieren uns darauf, Schnee zu 224
schmelzen und zu trinken und zu trinken. Wieder werde ich damit beauftragt, in unseren Lebensmittelbeuteln nach »Swiss Miss« zu suchen, was ich mit lautem Murren tue, nur um die Jungs zufriedenzustellen. Insgeheim aber lächle ich. Anatolis Hände sind wieder angeschwollen. Das passiert jedesmal, wenn er sich in großer Höhe befindet, habe ich festgestellt, aber er tut so, als bemerke er es nicht. Jetzt gibt es keine Umkehr mehr: Zum Gipfel und heil wieder zurück. Ich bin auf den Zug aufgesprungen und habe nicht vor, ihn wieder zu verlassen. Ich werde nicht an die Risiken denken. Ich habe beschlossen, Sauerstoff zu verwenden, ab morgen. Wenn ich schon nicht die dritte Frau der Welt sein kann – nach Alison Hargreaves und Lydia Bradey –, die den Mount Everest ohne Sauerstoff besteigt, dann will ich wenigstens so viele Gehirnzellen wie möglich retten. Anatoli wird der einzige Nicht-Sherpa in unserem Team sein, der den Gipfel ohne Sauerstoffflasche in Angriff nimmt. Anatoli mußte erst ein einziges Mal Sauerstoff nehmen, nämlich als ein russischer Expeditionsleiter ihm befahl, ihn entweder zu benutzen oder das Team zu verlassen. Diese Geschichte half mir, meinen inneren Aufruhr zu überwinden. Auch ich mußte meinen Stolz hinunterschlucken und mich fügen, um mein Ziel zu erreichen und dann daraus zu lernen. Anatoli klettert ohne Sauerstoff, weil er behauptet, das sei sicherer: »Man braucht Erfahrung, um in der 225
Höhe Leistung zu bringen, ohne Sauerstoff zu verwenden, denn der Körper will nicht normal reagieren, und die Muskeln arbeiten nicht richtig. Ich weiß das aus Erfahrung. Sauerstoff ist sicher, solange er fließt, aber wenn irgend etwas schiefgeht und einem der Sauerstoff ausgeht, dann ist der Körper nicht akklimatisiert, kann nicht ohne auskommen, und man läuft Gefahr, auf der Stelle umzukippen.« Ich muß mich damit zufriedengeben, Erfahrungen oberhalb von 7 900 Metern zu sammeln – mit Sauerstoff. Scott hat beschlossen, mit O2 zu klettern, aber erst ab dem Südsattel. Ich bin auf dem Weg ins Unbekannte – in die »Todeszone«. Wie werde ich zurechtkommen? Ich unterdrücke solche Spekulationen. In der Nacht habe ich einen Traum: Ich klettere als Teil einer großen Gruppe. Ich breche später auf, und obwohl es schwer ist, überhole ich im Aufwärtsklettern die meisten. Auf einem Grat sehe ich mehrere Personen, deren Silhouetten sich gegen den Himmel abzeichnen. Einige von ihnen sind schwarz. Ich kann die Gesichter nicht erkennen.
Von Lager III zu Lager IV: 9.5. 1996 Nach dem Aufbruch heute morgen wird es keine Pausen, keine Ruhetage mehr geben. Von jetzt an werden mich allein meine körperliche Kraft sowie meine psychische Ausdauer und meine genetische Veranlagung zum Gipfel bringen – wenn die göttliche Mutter uns wohlgesonnen ist. Ich habe Jahr um Jahr trainiert, um 226
die Fähigkeiten auszubilden, die ich brauche, um den enormen Druck auszuhalten, dem ich mich aussetzen werde. Ich habe dafür trainiert, die letzte Herausforderung anzunehmen – für den Gipfel. Ich habe keinen Zweifel, daß ich es schaffen kann. Ich stelle auch nicht in Frage, daß der Sauerstoff mir helfen wird. Wie kann ich mir nur so sicher sein? Ich glaube, ob man Zweifel an den eigenen Fähigkeiten zuläßt oder nicht, entscheidet darüber, ob man es nach oben schafft oder unterwegs scheitert. Allerdings besteht die Gefahr, daß dieses Gefühl absoluter Gewißheit letztendlich das Leben kostet, weil man nicht demütig genug ist. Aber mir ist das egal. Ich werde den Gipfel des Mount Everest besteigen! Zwischen Lager III und Lager IV am Südsattel haben wir pro Person genug Sauerstoff für sechs Stunden Anstieg, also benutzen Klev, Martin und ich ab Lager III Sauerstoff. Wir gelten als die Stärksten in unserem Team und werden den Südsattel wahrscheinlich innerhalb von sechs Stunden erreichen. Charlotte und Tim sind langsamer und müssen sich bis zum Gelben Band gedulden, ehe sie die Wonnen der Sauerstoffmaske genießen können. Ich bin aufgeregt. Endlich dringe ich in Höhen vor, in die ich mich noch nie zuvor gewagt habe, setze ich meinen Fuß auf Gelände, das ich in Büchern und auf Fotos peinlich genau studiert habe, um seine Geheimnisse in Erfahrung zu bringen. 227
Endlich werde ich ihm gegenüber stehen, mich darin befinden, ein Teil davon werden. Ich bin stolz auf mich, stolz, meine Höhenangst bezwungen zu haben, stolz darauf, über ein Netzwerk zu verfügen, das es mir ermöglicht, heute hier zu sein, stolz, die erforderlichen Sponsorengelder aufgetrieben zu haben, stolz, meine eigene Trägheit und Introvertiertheit überwunden zu haben. Ich habe mich selbst genügend verändert, um heute hier zu sein. Ich bin stolz darauf, Lene Gammelgaard zu sein, die erste Dänin, die versucht, den höchsten Berg der Welt zu erklimmen. Ich bin stolz, daß ich den Mut dazu habe. Die Route führt an Fixseilen die Lhotse-Flanke hinauf. Robs Team und unseres sind wie Perlen an den Seilen zum Gelben Band hinauf aufgereiht. Ich bemühe mich, einen angemessenen Abstand zwischen mir und dem nächsthöheren Kletterer einzuhalten. Wenn ich meine, es hingen zu viele am Seil über mir, warte ich, entweder den Karabiner oder den Jümar unterhalb eines solide aussehenden Schneepflocks oder einer Eisschraube festgehakt. Unglaublich, wie sich die Toleranzschwelle erhöht: Kaum eines dieser Sicherungsseile würde mir bei einer Klettertour in den Alpen ein Gefühl der Sicherheit geben, aber jetzt denke ich über dergleichen gar nicht nach. Ich will zum Gipfel. Wir sind früh am Morgen aufgebrochen, um die ungeschütztesten Stellen zu passieren, bevor die Sonne aufgeht. Sobald die Temperatur ansteigt, erwacht der Berg und wird lebendig: Die Struktur der Eis- und 228
Schneekristalle verändert sich, es bilden sich Lawinen. Schnee schmilzt, Felsen rutschen ab, Felsstücke lockern sich und kommen die Flanke heruntergerollt. Ich möchte lieber keinen abbekommen! Die Sauerstoffmaske im Gesicht ist nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte – obwohl wir wie ein Heuschreckenschwarm aus dem All aussehen –, und mit dem Sauerstoff bin ich leistungsfähiger. Der Traum der letzten Nacht kommt mir wieder in den Sinn, als ich große, starke Heuschreckenmännchen überhole, eines nach dem anderen. Nur wenige kenne ich mit Namen, kann jedoch allmählich ausmachen, wer in den Daunenanzügen steckt. Das Gelbe Band ist eine Felsformation, die sich vom Mount Everest über die Lhotse-Flanke erstreckt, und – aha! – sie sieht tatsächlich wie ein gelbes Band aus. Einer von Rob Halls Leuten hat Schwierigkeiten auf einem steilen Quergang von der größten Eiswand des Lhotse hinauf zum Felsstück am Gelben Band. Anatoli hat uns vor dieser Stelle gewarnt. Ein abrupter Übergang, aber er sieht nicht allzu schwer aus. Trotzdem vermeide ich bewußt, hinunter auf die Western Cwm zu schauen. Sollte einer der Schneepflöcke, die das Fixseil halten, sich lösen, würde ich dort unten enden, direkt neben dem Kerl in der blauen Plastiktüte. Was ist mit Robs Klient los? Muß ein »er« sein, nach der Größe zu urteilen, denn Yasuko, die einzige Frau in ihrem Team, ist winzig und wiegt keine hundert Pfund. Direkt vor mir stolpert ein Daunenanzug 229
und stürzt. Panikattacke oder Höhenkrankheit? Nach etwa einer halben Stunde steigt Robs Klient, von Rob unterstützt, den Felsen hinauf, und wir anderen können den Quergang betreten. Die Verzögerung lenkt meine Gedanken in die falsche Richtung: Wenn ein starker Kerl wie er solche Probleme damit hat, in diesem kombinierten Gelände zu klettern, dann muß es wirklich schwer sein – zu schwer für mich? Alte Minderwertigkeitskomplexe lassen sich nicht ohne weiteres überwinden. Oder ist es denkbar, daß ich tatsächlich einfach besser klettern kann oder mit der Höhe besser zurechtkomme? Solche Gedanken und Erwägungen sind für einen Dänen, und ganz besonders für eine Dänin, beinahe ein Tabubruch. Meine besten Stiefel funktionieren bislang einwandfrei. Für den Gipfel braucht man eine ganz spezielle Ausrüstung, wenn man seine Finger, Zehen und so weiter nicht verlieren will. Also befindet sich an meinen Füßen – und an den meisten anderen, die ich sehe – »Mount Everest One Sport«, ein Schichtsystem mit zwei Innenstiefeln und einer Außenhülle. Ich hatte diese Stiefel sonst nur für kurze Strecken getragen, weil sie schwer sind, und das Gewicht macht schon etwas aus. Aber auf dem Gipfelanstieg bin ich jetzt mit ihnen unterwegs, und sie sind wunderbar. Im Augenblick schwanke ich gerade umher und versuche, auf dem Quergang das Gleichgewicht zu halten, weil sich ein Steigeisen gelöst hat und vom Knöchelriemen herunterbaumelt. Ganz ruhig. Um Himmels willen, verlier nicht das Gleichgewicht, und 230
mach das Eisen wieder fest. Danke, Tai Chi. An einer sichereren Stelle sehe ich nach und stelle fest, daß es zum Glück nur der Verschlußbügel ist, der genau in der Kerbe des Stiefels liegen muß. Ich habe für diese Strecke keine Ersatzeisen mitgenommen, darum darf ich das Paar, das ich habe, nicht verlieren. Ich habe die schwierige Stelle ohne Probleme überwunden und beginne jetzt, mit Steigeisen das Felsstück des Gelben Bandes hinaufzuklettern. Die Sonne brennt – und ich klettere in 7 600 Meter Höhe mit den besten Bergsteigern der Welt. Kaum zu fassen … Die Entfernungen sind hier oben auf dem höchsten Berg des Planeten groß und nicht zu unterschätzen – Stunden vergehen. *** Das Wetter ist schlechter geworden – Wind! Was für ein Unterschied zu der sommerlichen Hitze und »Harmlosigkeit«, die gerade noch geherrscht hat. Jetzt zeigt der Mount Everest seine Zähne, und selbst die kleinsten Böen erinnern mich daran, wie ernst diese Unternehmung ist. Vor mir befindet sich ein SherpaTeam; Klev – grüner Daunenanzug, blauer Rucksack – und Rob – roter Daunenanzug – sind kurz davor, einen weiteren langen Quergang zu überwinden. Ich blicke hinauf und sehe Sherpas – eine Kette aus kleinen bunten Perlen –, die eine enorme Wand hinaufsteigen. Sie sieht aus, als würde sie gar kein Ende 231
nehmen. Obwohl ich seit Stunden ohne Pause gearbeitet habe und erschöpft bin, liegt noch ein weiter Weg vor mir. Der Südsattel muß sich in einer Senke hinter der massiven Wand verstecken. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwelche Beschreibungen von diesem Teil der Route gefunden zu haben. Auf dem riesigen Felsmassiv aus schieferartigen Schichten findet man wegen des Schnees keinen sicheren Halt, und es ist rutschig. Aber ich kann meinen Füßen trauen und bin auf kombiniertem Gelände sicher. Wenn man an Kletterschuhe mit Profil gewöhnt ist, die sehr eng sitzen und durch deren Sohlen man den Fels spüren kann, ist es ein komisches Gefühl, Felswände mit riesigen Stiefeln hinaufzuklettern, an denen Steigeisen befestigt sind. Doch da ich es oft genug getan habe, weiß ich, daß mein Fuß dort haften bleibt, wo ich ihn hinsetze. Martin – dunkelgrüner, einteiliger Daunenanzug – überholt mich an der Spitze des Felsmassivs. Es stürmt wie wild, und ich versuche, dem Sherpa vor mir zu folgen, damit ich den Weg um die Kante des Schieferhaufens auch wirklich finde. Die Böen sind jetzt so heftig, daß ich fast von den Füßen geweht werde; ich muß mich an den Fels klammern, um nicht die nepalesische Seite des Berges hinuntergefegt zu werden. Mir wird klar, wie stark der Wind ist – er hat Alison Hargreaves vom K2 geworfen. Der Sherpa vor mir entpuppt sich als der alte Ngawang, Lopsangs Vater. Wir nennen ihn ›alter Ngawang‹, um ihn von den anderen Ngawangs in der Ex232
pedition zu unterscheiden. Sherpas werden nach dem Wochentag benannt, an dem sie geboren sind, also wiederholen sich die gleichen sieben Namen wieder und wieder. Wir grinsen einander durch den Sturm an. Wir sind unterwegs – und voller Freude. *** Aha! Das ist also der Südsattel. Die Hölle auf Erden. Orkanartige Winde stürmen auf uns ein, während wir damit kämpfen, unsere Zelte aufzustellen. Verbrauchte Sauerstoffflaschen und Überreste von Zelten zieren den kahlen, felsübersäten Boden, ein Denkmal für die, die vor uns hier gewesen sind. Für mich verschandelt der Müll die Landschaft nicht, sondern erzählt vielmehr von den Schicksalen der Männer und Frauen, wie Funde aus der Steinzeit. Ich schieße Bilder mit der Nikon, bis der Film voll ist. Ich bin nicht so dumm, mir Handschuhe und Fäustlinge auszuziehen, um den Film zu wechseln – Finger sind schon aus geringeren Gründen abgefroren. Meine Sauerstoffmaske baumelt mir um den Hals. Ich muß den Wind spüren, die Natur hier oben wahrnehmen. Ich bin hingerissen. Göttliche Mutter der Erde, Chomolungma, Sagarmatha, du bist wirklich der großartigste Berg, und ich betrete dich mit tiefster Ehrfurcht und größtem Respekt. Dein Gipfel ist alles, was ich will! Aber mein Verstand begreift dank meiner Wintererfahrungen, daß die Luft so dünn ist, daß ich nicht schnell genug atmen könnte, um all den Sauer233
stoff aufzunehmen, den mein Körper braucht. In der Todeszone oberhalb von 7 900 Metern würde mein Körper diese Hypoxie auch akklimatisiert höchstens fünf Tage aushalten – und auch nur, wenn ich mich nicht bewegen würde! Ich wandere herum – langsam, langsam – auf der »höchsten Müllkippe der Welt« und wünsche mir nicht, daß etwas anders wäre. Ich entferne mich nicht zu weit, unter anderem, weil ich erschöpft bin und es schon 15 Uhr ist. Wir haben vor, uns ein paar Stunden auszuruhen und dann um 23 Uhr zum Gipfel aufzubrechen, wenn der Wind sich gelegt hat. Ich weiß, daß der Lagerbereich »leichenfrei« ist, aber der Südsattel ist es nicht. Die Leute, die hier oben geblieben sind, sind auch ein Teil der Geschichte des Mount Everest, aber im Augenblick kann ich nicht über diesen Teil nachdenken. Lene Gammelgaard hat den Südsattel in 7 900 Metern Höhe erreicht. Ich bin stolz. Was auch geschieht, so weit bin ich schon gekommen. Bevor ich im flatternden, in Rußland hergestellten, dreifarbigen Zelt verschwinde, überprüfe ich den Sauerstoffvorrat, einen Stapel orangefarbener Druckbehälter, der zwischen den beiden Zelten der SagarmathaUmweltexpedition 1996 liegt. Wir haben nur ein absolutes Minimum an Zelten, Kochern, Nahrungsmitteln und persönlichen Gegenständen dabei – nur das, was zum Überleben und für die Gipfelbesteigung absolut notwendig ist. Nichts Überflüssiges, kein Luxus. Und es darf kein Fehler gemacht werden, denn die Rettungsmöglichkeiten sind 234
gleich null, wenn man einmal die Todeszone erreicht hat. Der Orkan ist so heftig, daß wir uns ohne Worte verständigen müssen. Klev hat den ganzen Nachmittag damit zugebracht, für Martin und mich Schnee zu schmelzen. Als Anatoli später kommt, ist unser behelfsmäßiges Heim mit uns vieren und unserer Ausrüstung zum Bersten voll. Ich bin in meinem Schlafsack vergraben und trage so viel Kleidung wie möglich, mit Ausnahme meiner Überstiefel. Wenn wir sie anhätten, könnten wir Körperwärme speichern, aber sie passen nicht in die Schlafsäcke. Also liegen sie um uns herum oder dienen als Kopfkissen und verwandeln sich langsam in Eisklumpen. Klev ist in super Verfassung und schmilzt unaufhörlich Schnee. Der Gentleman beharrt in seiner ruhigen, würdevollen Art darauf, damit weiterzumachen, obwohl es nur fair wäre, wenn wir ihn ablösten. Aber so ist Klev – sogar in 7 900 Metern Höhe. Wir achten sehr darauf, genug zu trinken – jetzt ist die letzte Gelegenheit, Flüssigkeit zu tanken. Die trockene Luft hier oben, unsere erhöhte Atemfrequenz und das starke Schwitzen lassen uns sehr rasch austrocknen. In den nächsten vierundzwanzig Stunden wird es keine Gelegenheit geben, etwas aufzunehmen – oder auch rauszulassen. An Essen denkt jedoch niemand ernsthaft. An der Innenseite des Zeltes bildet sich Eis, das bei jeder Bö auf uns herunterspritzt. Durch die Böen öffnet sich auch immer wieder der Zelteingang. Er ist wie 235
ein Luftsack geformt – man krabbelt auf allen vieren hinein –, um den Schnee so gut wie möglich am Eindringen zu hindern. Leider ist es eine schreckliche Arbeit, ihn mit Handschuhen zusammenzuziehen. Der Orkan reißt mir den Zeltstoff immer wieder aus den Händen, während ich mich abmühe, ihn fest zusammenzubinden. Und jedesmal, wenn jemand Schutz sucht oder eine Nachricht oder eine dampfende Tasse Tee bringt, muß ich wieder damit kämpfen. Apropos Nachricht – Pemba ist gerade gekommen und berichtet: »Lopsang ist krank – er hustet und erbricht sich. Und die meisten unserer Sherpas leiden an Kopfschmerzen.« Ich wünschte, Scott wäre nicht das Risiko eingegangen, hier heraufzukommen. Ich achte darauf, wie meine Kollegen sich verhalten und wie sie zurechtkommen, und ich bete, daß ich mir und der jahrelangen Programmierung meines Unterbewußtseins – zum Gipfel und heil wieder zurück – trauen kann. Jetzt muß es zum Einsatz kommen, denn es ist allgemein bekannt, daß man hier oben mit dem Arsch denkt: Man glaubt, daß man rational ist, glaubt, daß man alles im Griff hat und die intelligentesten Entscheidungen trifft – aber mit völliger Gewißheit kann man nur wissen, daß man sich nicht sicher sein kann, alles im Griff zu haben, weil das arme Hirn nicht mit genug Sauerstoff versorgt wird. Doktor Jim aus der Höhenklinik in Pheriche hat uns erzählt, was seine Teammitglieder machten, als sie den Mount Everest bestiegen: Sie hielten Funkkontakt mit dem Expeditionsleiter, der im Basislager blieb; 236
jedesmal, wenn sie eine wichtige Entscheidung treffen mußten, besprachen sie sich mit dem Expeditionsleiter, der sich auf geringerer Höhe befand und somit klarer denken konnte. Ich wünschte, Scott würde den Mount Everest dieses Mal nur per Walkie-talkie »erklettern«. Aber andererseits ist es uns bisher kaum je gelungen, Funkkontakt zu halten. David Breashears winzige gelbe Walkie-talkies sehen aus wie Spielzeuge, aber sie sind absolut zuverlässig. Unseren düsteren schwarzen kann man nicht trauen, daher haben wir akzeptiert, daß es oberhalb von Lager II nur sporadisch Funkkontakt gibt. Mir ist das recht, denn Funkgeräte sind nur ein weiterer Faktor, der zu einem falschen Gefühl der Sicherheit beiträgt. Wer würde mich denn abholen, wenn ich vom Gipfel aus um Hilfe riefe? Hier draußen gibt es keinen Rettungsdienst, und ein Hubschrauber kann in dieser Höhe höchstens abstürzen. Ich überprüfe meinen Zahnbürstenbehälter aus Plastik. Ich habe nicht etwa eine Zahnbürste mit heraufgebracht. Sie wäre einfach unnötiges Gewicht, das man auf den Berg schleppt. Der Behälter ist Ingrids Erfindung und gehört zu ihrem gut durchdachten Fundament für diese Expedition. Er enthält eine Spritze, die mit dem Steroid Dexamethason gefüllt ist, mit dem man akute Höhenkrankheit behandeln kann. Ein Schuß »Dex« putscht einen für sechs bis zwölf Stunden auf und gibt die Kraft, den Berg hinunterzukommen, Richtung Sicherheit. Wir haben Symptomerkennung wieder und wieder geübt und darüber gespro237
chen, daß man den Mut haben sollte, jemandem eine Injektion in den Hintern zu verpassen, durch Kleidung und alles hindurch. Mein Set für die Wagnisse der heutigen Nacht besteht aus dem Zahnbürstenbehälter mit der Spritze, vier Reeloade-Folienpäckchen, Sunblockern, einer zusätzlichen Schneebrille, einer zusätzlichen Batterie für meine Stirnlampe und zusätzlichen Fäustlingen. Außerdem habe ich zwei Sauerstoffzylinder in meinem Rucksack und einen Wasserbehälter in der Innentasche meines Daunenanzugs – wo er eigentlich nicht gefrieren dürfte –, damit ich unterwegs etwas Flüssigkeit zu mir nehmen kann. Mein Daunenanzug ist zweiteilig, mit einem zusätzlichen Windanzug für orkanartige Stürme. Die Firma »Mountain Equipment« aus England hat mir diese Kombination anstelle eines einteiligen Anzugs empfohlen, aber wenn ich austreten muß, weil die Natur ihr Recht verlangt, habe ich sehr zu leiden – an dem Anzug fehlt irgendwie eine Notdurft-Klappe. Also heißt es Daunenjacke ausziehen und dann den Overall bis zu den Knöcheln runterschieben – hier oben eine ganz schön ungeschützte Position. Unter gewissen Umständen regelrecht lebensgefährlich. Nun, beim nächsten Mal werde ich es besser wissen. Der Windschutz ist mit den Sponsorenfahnen, verschiedenen Glücksbringern, zusätzlichen Filmen und der wertvollen, schweren Nikon-Kamera im Rucksack. Scheiße! Der Rucksack ist schon jetzt zu schwer, und ich habe noch nicht einmal die beiden Sauerstoffbe238
hälter dazugepackt. Meine Steigeisen und der Eispickel warten draußen auf mich, sicher am vorderen Halteseil vertäut. Noch immer stürmisch. Ich muß mich ausruhen. Frage mich, ob Scott und Rob beschlossen haben, weiterzugehen, wenn der Sturm nachläßt. Ich hoffe, daß wir aufbrechen, und gleichzeitig will ich es nicht – bisher ist das Wetter nicht stabil genug. Ich weiß, daß ich mich jeder Entscheidung fügen werde. Bevor ich mich hinlege, überprüfe ich die Sauerstoffzylinder, die wir im Zelt haben, und sortiere die leeren aus. Martin muß sie aus dem Hintereingang hinausschaffen. Ich muß Anatoli aufwecken, um das Werkzeug zu kriegen, mit dem ich die Muttern an einigen der Flaschen lockern kann, so daß die Ventile, die von den Schläuchen zu den Sauerstoffmasken führen, festgeschraubt werden können. Allein die Vorstellung, in einer kritischen Situation eine volle Flasche zu haben und sie dann nicht benutzen zu können, weil die Mutter zu fest sitzt! 18.00 Uhr – Sturm. 19.00 Uhr – Sturm. Kaum vorstellbar, daß es sich heute abend beruhigen oder für längere Zeit ruhig bleiben könnte. Muß eine Weile eingenickt sein. Es ist still draußen. Hin und wieder eine kleine Bö, Stille. Und jetzt? Wird es so bleiben? Wie spät ist es? 20.00 Uhr- Scott und Rob beraten sich. Ihre Entscheidung verbreitet sich von Zelt zu Zelt: »Wenn das Wetter ruhig bleibt, bereiten wir uns um 22.00 Uhr auf den Gipfelsturm vor. Endgültiger Aufbruch um 239
23.30 Uhr.« Somit können wir noch ungefähr eine Stunde dösen, bevor die mühselige, lästige Arbeit beginnt, uns in unsere Daunenjacken und Stiefel zu zwängen. Ich muß Scotts Entscheidung einfach bewundern. Dieser Risikobereitschaft hat er es wohl zu verdanken, daß er schon so oft den Gipfel erreicht hat. Ich hätte einen größeren Sicherheitsspielraum gewählt und unten auf stabilere Bedingungen gewartet. Aber ich will den Gipfel erreichen und habe keine Skrupel. Die hat hier offenbar niemand. Wer zweifelt, der will nicht. Wer will, der zweifelt nicht.
Von Lager IV auf den Gipfel: 9.–10.5. 1996 23.30 Uhr: Hier auf dem Südsattel ist es stockdunkel, die einzigen Geräuschen stammen von den Leuten, die schon aufbrechen, und von meinen Freunden, die mit Sauerstoffflaschen, Masken und Steigeisen hantieren. Wie üblich komme ich als letzte aus dem Zelt. Ich habe anderthalb Stunden gebraucht, um mich soweit aufzuraffen, daß ich den Schlafsack verlassen und mir Daunenanzug und Überstiefel angezogen habe. Selbst die einfachsten Verrichtungen verlangen einem so viel ab – in jeder Hinsicht. Draußen erwarten mich sternklarer Himmel und eine Reihe von Stirnlampen. Rob Halls Team ist uns schon eine halbe Stunde voraus. Der erste Teil unseres 240
Teams verläßt gerade das Lager, und ich beeile mich, so gut ich kann. Mich überkommt mit großer Intensität das Gefühl, daß ich hier einfach bei meiner Gruppe bleiben muß. Keinesfalls – unter keinen Umständen – darf ich das Risiko eingehen, auf dem Grat des Mount Everest allein zu sein. Nachdem ich ungeschickt meine Steigeisen angelegt habe, sehe ich mich um und entdecke nur eine Gestalt. Das muß Scott sein. Ich eile zu ihm hoch, lachend, und präge mir ein, daß sein Daunenanzug dunkelblau ist, damit ich ihn unterwegs erkennen kann. »Hi, Scott! Von jetzt an zwei Sauerstoffflaschen?« »Ja, genau«, lacht er zurück. Wir wünschen einander »viel Glück«, und ich nehme ihn fest in den Arm, bevor ich halb gehend, halb laufend der entschwindenden Reihe von Stirnlampen folge. Ich muß bei meinem Team bleiben und darf nicht zurückfallen. Zuerst gehe ich auf einem beinahe ebenen Stück aus Schotter und Schnee. Der Boden ist mit alten Sauerstoffbehältern übersät, aber nach fünf oder zehn Minuten wird der von Menschen hinterlassene Abfall weniger, und ich habe nur noch blankes, blaues Eis unter meinen Steigeisen. Steil ansteigendes, zerklüftetes blaues Eis, steinhart. Überall Gletscherspalten, im Dunkeln schlecht zu erkennen. Ich habe die Stirnlampen eingeholt und bin bei meiner Gruppe – Klev, Neal, Sandy, Charlotte, Tim, Martin – aber wo ist Anatoli? Da ist er. Er bleibt in unserer Nähe. Ein steiler, mit Eis und Schnee bedeckter Abhang führt aufwärts. Hier stürzen, und man … Nein, keine 241
Panik. Konzentrier dich immer nur auf einen Schritt. Achte auf die Person vor dir, und folge ihr. Denk nicht nach, laß dich nicht von der alten Angst packen. Aufwärts, aufwärts. Wo zum Teufel fangen die Fixseile an? Ich habe mich im Laufe der Expedition daran gewöhnt, an den gefährlichsten Stellen eine »Sicherheitsleine« zu haben, und hier an diesen schwierigen Stücken sind jetzt keine. Unser Sherpateam und das von Rob Hall hatten die Aufgabe, Fixseile zu befestigen, damit sich keine Engpässe bilden, die den Aufstieg verzögern und die Gefahr wachsen lassen. Wie dumm! Auf anderen Bergen wäre ich mental nicht von Fixseilen abhängig geworden, aber hier bin ich den psychischen Druck und die Probleme nicht mehr gewöhnt, die es mit sich bringt, wenn man als Erster auf einer Route klettert. Aber es ist schon in Ordnung. Schließlich besteige ich gerade zum ersten Mal den höchsten Berg der Welt, und ich brauche etwas Zeit, um mich daran zu gewöhnen. Schließlich – ein Schneepflock mit einem orangefarbenen Seil. Erleichtert hake ich den Karabiner an die Leine und klettere über das Eis nach oben, höher und höher. Selbst mit Sauerstoff ist es wahnsinnig anstrengend. Hier sind zwar Seile, aber da sie nur alle 50 bis 75 Meter verankert sind, ist es mit der Sicherheit wahrscheinlich so eine Sache. Aber was kann ich schon erwarten, wenn ich mich in die Todeszone begebe? Wie werde ich nach vielen, vielen Stunden solcher Anstrengung wieder nach unten kommen? Wie erschöpft werde ich sein? Denk nicht an die Zukunft, 242
Lene. Konzentrier dich auf das, was du gerade tust. Da ist Yasuko aus Robs Team. Unsere Gruppe hat die Vorhut eingeholt. Da ist Anatoli, er ist etwas weiter hinten – grüner Daunenanzug, keine Sauerstoffmaske. Lopsang ist in seinem weißen Sherpa-Anzug, den er über der Daunenkleidung trägt, leicht zu erkennen, und aus seinem Rucksack ragt eine Fahnenstange heraus. Zwischen Hustenanfällen gelingt es ihm, uns zu erzählen, daß Scott und er planen, auf dem Gipfel des Mount Everest ein Spektakel zu veranstalten, aber er will noch keine Einzelheiten verraten. Er ist noch immer krank, aber niemand spricht darüber. Wieviel Zeit ist vergangen? Eine Stunde? Zwei Stunden? Die Gruppe steigt im Schneckentempo eine Wand aus Fels und Eis hinauf. Die Fixseile haben aufgehört, und ich habe Angst. Angst zu stürzen, und Angst bei dem Gedanken, wie um alles in der Welt ich wieder hinunterkommen soll. Hin und wieder klettere ich wie ein Anfänger, auf allen vieren, nur um direkten Kontakt zu dem steilen, felsigen Hang zu haben. In dieser Höhe und auf diesem Gelände ist mir nicht nach Freeclimbing zumute, aber ich mache weiter und komme etwas zur Besinnung, während ich mich weiterbewege. Das hier ist sehr real und sehr gefährlich, aber habe ich nicht eigentlich so etwas erwartet, als ich mir vornahm, den höchsten Berg der Welt zu besteigen? Wenn es nur ein harmloser Ausflug wäre, wäre ich von der göttlichen Mutter der Erde enttäuscht. Das kann sie mir nicht antun, und das tut sie auch nicht. 243
Das Beste am Klettern und Bergsteigen ist, daß man es nicht verharmlosen kann. Niemand kann behaupten: »In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich gar nicht so schwer, es wird nur maßlos übertrieben, damit die Bergsteiger sich wie Helden fühlen«. Die Berge sind nicht so. Sie sind echt, sie sind sehr gefährlich, und sie sind anspruchsvoll. Außerdem zeigen sie einem genau, was man kann und was nicht, auch wer und was man selbst ist und wer und was die anderen sind. Vor Jahren, zu Anfang meiner Kletterkarriere, habe ich einmal eine Diashow gesehen, und ich dachte im stillen tatsächlich: Sicher ist es gar nicht so schwer, nicht so steil, verlangt es nicht so viel Training, so viel Arbeit und Vorbereitung, damit es gelingt. Weil ich die Leistungen der Kletterer schmälerte, mußte ich sie nicht respektieren oder sie für das, was sie leisten konnten und geleistet haben, beneiden – für etwas, das ich selbst erleben wollte, für das ich aber weder die nötigen Verbindungen noch den nötigen Mut hatte. Als ich mit den senkrechten Felswänden, mit Klettern im Winter und der bedrohlichen Schönheit von Gletschern vertraut wurde, stellte ich fest, daß es doch so anspruchsvoll ist. Es ist so schwer. Es ist so gefährlich. Und ich hatte Angst und war glücklich! Hier war endlich etwas Reales. Etwas, das nicht nur Geschwätz war. Etwas, das einen vollkommen, ganz und gar beherrschte, das zum Lebensinhalt werden konnte. Etwas, das einem die eigenen Grenzen aufzeigte und zu akzeptieren lehrte, daß es manche Dinge gibt, die man 244
niemals vollkommen beherrschen wird, daß man für vieles jedoch trainieren kann und daß Erfahrung der Schlüssel zu größeren Abenteuern ist. Die Berge sind das Wahre, und sie behandeln alle gleich. Die gleichen Regeln gelten für alle, ob Amerikaner oder Russen oder Dänen. Überleben und Erfolg hängen von einem selbst ab – das ist brutal und einfach. Aufwärts, aufwärts. Für die 922 Höhenmeter vom Südsattel bis zum Gipfel des Mount Everest braucht man angeblich mindestens zwölf Stunden, also besteht kein Grund für übertriebene Hoffnungen. Aufwärts, aufwärts, noch eine lange, lange Zeit. Das kombinierte Gelände endet. Meine Teamkameraden und ich stehen etwas zweifelnd am Beginn eines breiten Schneecouloirs. Die Lawinengefahr ist hier groß, aber wir müssen den Couloir durchqueren, um hinüber zu den Felsen auf der anderen Seite zu gelangen, die hinauf zum Südostgrat, unserem ersten Sauerstofflager, zu springen scheinen. Plötzlich sehen wir Lopsangs weiße Kleidung über dem Felsen, und in der anbrechenden Morgendämmerung entdecken wir eine Sauerstoffflasche in der Mitte des Schneefelds, die als Markierung dient. Wir schleppen uns langsam durch das tiefe Schneefeld, oder vielmehr kämpfen wir uns durch den Schnee, der so tief ist, daß wir an manchen Stellen bis zur Taille versinken. Die Durchquerung fordert einige Pausen, in denen wir nach Luft schnappen. Scheiße, auf dem Abstieg muß ich wieder hier durch! Eine Lawine und tschüß. Weiter. Reiß dich zusammen, Lene. Die ersten Son245
nenstrahlen kommen hinter dem Grat hervor, und ich erkenne eine Gruppe farbiger Punkte, die auf einer Felseninsel inmitten der Schneemassen sitzt. Sind es Vögel? Menschen? Oder Halluzinationen? Die Sonne ist jetzt stärker, keine Wolken, eine Landschaft von himmlischer Schönheit. Ein Ausblick über Nepal und die umgebenden Gebirgszüge – ich bekomme Angst, wage nicht, mich zu sehr umzusehen. Es ist hier einfach zu unermeßlich, zu unwirklich. Mir ist absolut klar, daß ich mich in der Todeszone befinde, und ich schalte auf »Tunnelblick«, damit mich die Größe, der Wahnsinn, der Surrealismus der Tatsache, daß ich hier bin, nicht überwältigt. Ich bin auf dem Weg zum Dach der Welt! Das ist enorm, und es macht mir Angst. Mir ist vollkommen klar, wie die Menschen hier oben sterben. Hier gibt es mehr, woran man sterben kann, als wovon man leben kann, und das kleinste bißchen schlechtes Wetter kann die Todesfalle zuschnappen lassen. Hier gibt es keinen Spielraum mehr. Früher Morgen: Es ist ungefähr 5.00 Uhr morgens, als unsere Gruppe bei strahlendem Sonnenschein den Südwestgrat erreicht. Diese bunten Flecken, die meinem unter Sauerstoffmangel leidenden Hirn einen Streich gespielt hatten, stellen sich als Menschen heraus. Sherpas und Kletterer unserer kleinen Gemeinschaft schenken einander ein Lächeln und blicken den Grat hinauf, der zum Gipfel führt. Ich drehe den Kopf und schaue ehrfürchtig die Seite des Mount Everest hinunter, die wir 246
gerade erklommen haben, und muß an die Bibelgeschichte von Lots Frau denken, die zurück auf die Stadt Sodom blickte und in eine Salzsäule verwandelt wurde. Ich schaue über die Kante dieses schmalen Kamms, die mehr als drei Kilometer über der tibetanischen Hochebene liegt. Bergketten, soweit mein Auge reicht, darüber Sonne und blauer Himmel. Sind wir so weit oben, daß ich tatsächlich die Krümmung der Erde erkennen kann? Ich muß mich zusammenreißen – ein paar Aufnahmen machen und meinen beinahe leeren Sauerstoffbehälter gegen einen vollen austauschen. Dank der Bemühungen unserer Höhensherpas gibt es hier einen Vorrat an vollen Sauerstoffflaschen und angeblich noch einen weiteren unterhalb des Südgipfels – noch ein Vorteil, wenn man Mitglied einer so teuren Expedition ist – und ein Grund mehr dafür, daß ich den Mount Everest ohne Sauerstoff besteigen wollte. Dann müßte ich mich nicht mit der Frage herumschlagen, ob diese ganze Hilfe der Sherpas nicht ein wenig Betrug ist. Im Augenblick bin ich allerdings äußerst glücklich über den Luxus, den man kaufen kann. Da ist Anatoli. Wie schafft er es nur ohne Sauerstoff? Gleiches Tempo wie wir anderen (ausnahmsweise). Er sagt nichts. Ja, ihm ist kalt. Er sieht auch etwas erschöpft aus. Ich habe kein Problem damit, mich warm zu halten – also hatte Henry Todd recht, als er mir sagte, mit O2 könne ich Körperwärme speichern. Ich nehme die Maske ab, um zu sehen, wie es ohne Sauerstoffzufuhr ist – nur ein bißchen Vorberei247
tung, damit ich nicht in Panik gerate, wenn der Sauerstoff früher als erwartet ausgehen sollte. Ich kann ohne die Maske atmen, daher lasse ich das Kondenswasser abtropfen, damit es nicht festfriert oder mein Gesicht erfrieren läßt. Ich habe mich an das Gerät gewöhnt und denke nicht mehr darüber nach – Hauptsache, es bringt mich zum Gipfel. Wo ist der Gipfel? Noch immer nicht zu sehen? Es folgt ein langer, schneebedeckter Grat mit überhängenden Wächten, und dann geht es aufwärts – kombiniertes Gelände, soweit ich sehen kann. Gefährlich – im Augenblick wünschte ich, alle, die den Mount Everest einen Spaziergang nennen, hätten recht. Aber das haben sie nicht. Ich muß an Scotts Optimismus im letzten Jahr denken: »Der Mount Everest ist leicht. Ein Kinderspiel. Bloß ein Spaziergang!« Wie gerne hätte ich ihm geglaubt, aber weil ich seinen verführerischen, ansteckenden Enthusiasmus kenne, beschloß ich, abzuwarten und mich selbst zu überzeugen. Und natürlich hatte Lene Gammelklog (dänisch: altklug) recht. Je näher unser Aufbruch rückte, desto mehr spürte ich, daß er der Realität näherkam, und schließlich schrieb Scott mir: »Wir werden in Katmandu Spaß haben, wir werden auf dem Treck Spaß haben, wir werden im Basislager Spaß haben, und von da an werden wir anderthalb Monate lang äußerst hart kämpfen müssen.« Die nächste Phase, die auf uns zukommt, ist anspruchsvolles Bergklettern. Gut, daß ich mein Verhältnis zu Graten verbessert habe, und dieser hier ist noch 248
erhabener als andere. Tibet auf der einen Seite, Nepal auf der anderen – und beide sehr tief unten! Zum Gipfel und heil wieder zurück. Um von dieser vergleichsweise sicheren Schneeplatte auf den Grat selbst zu gelangen, muß man über eine Wächte balancieren, die wie ein Balkon über der nepalesischen Seite des Berges hängt und auf der tibetanischen zu steil ist, als daß man ordentlich Tritt fassen könnte. Der mittlere Teil besteht aus einer zerfurchten Gletscherkante. Unter diesen drei Übeln kann man frei wählen. Jede Wahl birgt ihr eigenes Risiko. Ich wähle die nepalesische Seite und bete, daß der Schnee nicht abrutscht. Er hält, und ich gehe auf dem tibetanischen Abhang weiter den Grat entlang, bis ich Martin, Sandy, Tim, Charlotte und Klev an einem großen Felsbrocken einhole, der den letzten Rastplatz vor dem Gipfel markiert. Ich versuche, einen Schluck Wasser zu trinken, und stelle fest, daß der Energiedrink in meiner Flasche beinahe tiefgefroren ist, obwohl er in der besonderen Tasche direkt an meinem Körper war. Aufwärts, aufwärts, unter Verwendung außerordentlich alter Seile, die von früheren Expeditionen zurückgelassen wurden und wieder und wieder benutzt werden, selbst von Expeditionen, die ursprünglich die feste Absicht hatten, nur neue Seile zu verwenden, die sie selbst angebracht hatten. An diesem Punkt ist es einem egal, Hauptsache, es ist noch etwas da – irgend etwas –, das man packen kann. Dem Fels – einem gelben, von der Sonne gewärmten, porösen Stein – kann man nicht trauen, also ist selbst ein altes Seil ange249
sichts Tibets dort unten besser als gar nichts. Ich achte darauf, daß ich das Seil nicht stärker belaste als unbedingt notwendig. Ich muß oft anhalten, scheinbar stundenlang, nicke am Jümar hängend beinahe ein, bis jemand dort oben ihren oder seinen Arsch wieder in Gang kriegt, so daß wir anderen weitermachen können. Die Zeit vergeht. Ich bin müde. Wie weit noch bis nach oben? Ich muß an den berüchtigten Hillary Step denken, ein steiles Kletterstück, das schon viele große Kletterer kurz vor der Ziellinie aus dem Rennen geworfen hat. Charlotte und ich diskutieren darüber, ob er direkt vor uns liegt. Das, was wir vor uns sehen, sieht schwierig und lang genug aus, um der Hillary Step zu sein, aber wir wissen, daß wir uns nur etwas vormachen – wir haben noch einen weiten Weg zu klettern, bis wir ihn erreichen. Aufwärts, aufwärts. *** Nach stundenlanger harter körperlicher Arbeit bin ich in eine Art Trance verfallen. Ich bewege mich instinktiv – denke nicht, fühle nicht, grübele nicht –, bewege mich einfach und prüfe gelegentlich die Luftblase im Schlauch, um sicherzugehen, daß der Sauerstoff so fließt, wie er sollte. Karabiner an das Fixseil. Jümar dran. Nächste Seillänge. Welches Seil sieht am wenigsten alt aus? Es ist mir beinahe egal. Aufwärts. Wie werde ich diese steile, gelbe Felswand heil wieder hinunterkommen? Weiter. Ein Schneegrat. Könnte das dort oben der Gipfel sein? Ich kann einige Felsforma250
tionen sehen und versuche mein Gehirn dazu zu zwingen, sich zu erinnern, wie der Gipfel auf all den Fotos aussah, die ich studiert habe. Wie sah er auf dem Video aus, das Scott 1994 gemacht hat? Ich kann diese Bilder sowieso nicht verwenden, da der Schnee je nach Menge die Erscheinung des Berges ständig verändert. Langsam aufwärts, nach Atem ringend. Meine armen Lungen: Sie arbeiten wie verrückt. Hoffe, sie halten es aus. Meine Atmung hat sich der Umgebung angepaßt – sie geht schneller und ist nicht sehr tief. Pause und dann weiter. Unser Team bleibt zusammen, und wir bewegen uns in beinahe gleichem Tempo vorwärts. Dann – STOP! In einer kleinen Senke sind bereits ein paar Daunenanzüge versammelt – fünf bis zehn zusammengekauerte Menschen, die ein wenig Schutz vor dem stärker werdenden Wind gefunden haben und auf die Western Cwm blicken, die zwei Kilometer tiefer liegt. Ich setze mich, trete meine Steigeisen fest in den Schnee, damit ich nicht aus der Senke und hinunter rutschen kann. Hier ist der Südgipfel, und dort ist der Hillary Step! Später Vormittag bis früher Nachmittag: Es ist etwa 11 oder 12 Uhr. Es ist kalt, und ich bin müde, darum hilft Tim mir dabei, den Sauerstoffgehalt meiner Flasche zu prüfen. Verdammt anstrengend, hier oben den Rucksack abzunehmen. Man muß sich aus dem Schlauch befreien, der die Flasche mit der Maske verbindet, die Druckanzeige überprüfen und dann das Ganze in umgekehrter Reihenfolge wie251
derholen. Schön, daß Tim mir hilft. »Beinahe leer«, berichtet er. Muß jetzt überlegen. Von hierher zum Gipfel und wieder zurück – wie viele Stunden? Drei bis fünf – wahrscheinlich bei hoher Durchflußrate, denn der schwierigste Kletterabschnitt liegt noch vor uns. Ich muß aus den Sauerstoffflaschen, die um den Felsen herum verstreut liegen, eine volle heraussuchen. Und natürlich muß es eine sein, die uns gehört. Undenkbar, eine aus Rob Halls Vorrat zu nehmen. In dieser Saison ist noch niemand auf dem Gipfelgrat gewesen, daher gibt es keine neuen Fixseile, nur die, die von früheren Anstiegen zum Gipfel übriggeblieben sind. Die anderen Expeditionen im Basislager waren sehr damit einverstanden, daß unsere beiden Teams als erste klettern, da es für alle, die in diesem Jahr nach uns kommen, leichter wird, wenn wir neue Seile angebracht haben – so wie wir auch die Seile unserer Vorgänger benutzen. Ich blicke über die Wächten nach Tibet hinüber und sehe, daß Fixseile früherer Expeditionen 10 und 15 Meter unter mir im leeren Raum hängen wie Telefonleitungen. Sie kommen auf der einen Seite aus einer Schneewand heraus und verschwinden auf der anderen wieder darin. Ob ich wohl eins davon packen könnte, wenn ich fiele … Alles scheint hier stillzustehen. Es wird diskutiert – ein wenig verzweifelt –, wer dafür zuständig ist, die nächsten Seillängen zu befestigen, somit also auch, wer auf dem Hillary Step die Seile befestigen wird. Neal meint, es hätte schon längst geschehen müssen. Wer hat ein Seil? Wer hat Schneepflöcke? Niemand. 252
Weiteres fieberhaftes Gestikulieren. Anatoli bricht auf, gefolgt von Neal und jemand in einem blauen Daunenanzug aus Robs Team, der plötzlich mit einem Seil über dem Arm vorausstürmt. Wer ist das? Er wirkt nicht normal. Ich kauere mich zusammen, friere in dem aufkommenden Wind. Charlotte, Tim und ich vereinbaren, daß wir zusammenbleiben. Charlotte ist ehrlich: Ihr behagt die Situation ganz und gar nicht. Ich beobachte Anatoli voller Hochachtung. Der Russe klettert bedächtig aufwärts, eine Fliege 8 809 Meter über dem Meeresspiegel, dessen jahrelange Erfahrung sich in seiner Sicherheit ausdrückt. Keine Panik, keine Worte, kein Interesse an Lob. Er weiß, was zu tun ist. Und er macht es gut! Ich halte den Atem an, bis er sicher oben ist, weiß jedoch, daß er nicht stürzen wird. Dazu ist er zu gut. Nicht viele Meter Seil, um uns zu sichern, und keine brauchbaren alten Seile – der winterliche Schnee hat sie bedeckt, und man kann sie nicht herausziehen. Das erste Stück auf dem Grat ist eine extrem ungeschützte Querung – unheimlich –, als ginge man bei starkem Wind auf einem Drahtseil, im vollen Bewußtsein, daß es keine Rettung gibt, wenn man stolpert, wenn die Steigeisen sich im Hosenbein verfangen, wenn der Eispickel nicht richtig hält. Ich mache mich auf – muß umkehren – zurück zu der eingebildeten Sicherheit der Senke, die so geschützt wirkt … Muß nachdenken. Ist der Gipfel diese Gefahr wert? Wenn ich stürze, bin ich tot. Ich kann hier umkehren – das haben schon andere getan. Der Wind hat zugenom253
men, und ich kann sehen, wie der Schnee über den Gipfelgrat geweht wird. Über meine eigenen Fähigkeiten hinaus gibt es keine Sicherheit – will ich den Gipfel wirklich so sehr? Ich erwäge, wie es wäre, wenn ich nach Hause zurückkehren würde, was ich jedes Mal fühlen würde, wenn ich den Gipfelgrat und den Hillary Step in Gedanken vor mir sähe und mir meine Niederlage eingestehen müßte. Ich denke an mein Versprechen an die Sponsoren. Denke an die Möglichkeiten, die mir entgehen werden, wenn ich jetzt umkehre – so wie ich schon früher umgekehrt bin. Ich will auf die Spitze des höchsten Bergs der Welt. Ich will die erste Dänin sein, die den Gipfel des Mount Everest erreicht. Ich weiß, daß ich erfahren genug bin, um den nächsten Abschnitt zu schaffen, weiß, daß mich nur meine alten Ängste aufhalten können, weiß, daß ich die geistigen Ressourcen habe, um sie zu überwinden. Ich will an die Spitze – um jeden Preis –, also erhebe ich mich und beginne mit der Querung auf dem Weg zum Gipfel der Welt. Verdammt noch mal! Ich klettere wie ein Anfänger – steif, unsicher, stolpernd, also eine richtige Gefahr für mich selbst. Lopsang sieht mich. So hat er mich noch nie gesehen. Er nimmt mich bei der Hand, und es hilft mir, selbst wenn ich weiß, daß es gefährlicher ist, als wenn er es nicht getan hätte. Nach nur wenigen Schritten bin ich wieder erwachsen. Die Lähmung verschwindet, und mein Körper bewegt sich flüssig. Hinein mit dem Eispickel, den Schaft nach unten gerichtet. Ich halte mich an der Klinge fest und kann mich 254
so besser abstützen. Mieser Pickel fürs Klettern. Was hat Scott sich dabei gedacht, als er ihn mir empfohlen hat – hat er vergessen, wie es hier oben ist? Mit einem klassischen Pickel mit langem Schaft hätte ich mich viel sicherer gefühlt. Nun, beim nächsten Mal muß ich mich mehr auf meine eigenen Erfahrungen verlassen. Hinauf über den Schneegrat. Jedesmal, wenn ich den Pickel aus dem Schnee ziehe, entsteht ein kleines Guckloch, durch das ich Tibet sehen kann – es gibt beinahe nichts, worauf man gehen kann, aber wir tun es trotzdem. Ich habe wieder Vertrauen in mich und genieße langsam die wahnwitzige Vorstellung, so nah am Gipfel auf einem gefährlichen Kletterabschnitt zu sein. Ich kann es schaffen. Ich habe das, was man dafür braucht. Sandy sitzt im Schnee – ist sie erschöpft? Sie hat sich bislang gut geschlagen. Es gibt Probleme, rasch durch den Hillary Step zu kommen. Yasuko braucht eine halbe Stunde, vielleicht eine ganze. Ich steige mit Leichtigkeit hoch und vorbei, bin dankbar für die vielen Jahre der Felskletterei. War das der berüchtigte Hillary Step? Kinderspiel. Juchhu! Ich hab’s geschafft! Kommt der Gipfel denn nie? Wie weit kann es noch sein? Dort ist Martin auf dem Weg nach unten. »Glückwunsch zum Gipfel, Martin.« Ich freue mich für ihn. Klev folgt ihm. Der Traum dieses Gentlemans ist wahr geworden. »Glückwunsch zum Gipfel, Klev.« Bald bin ich an der Reihe. Was ist da los? Ein hellblauer Daunenanzug 255
sitzt im Schneidersitz im Schnee. Irgend etwas ist ganz und gar nicht in Ordnung, aber jemand ist bei ihm, und Rob Hall, ein sehr vorsichtiger und seriöser Expeditionsleiter, ist ganz in der Nähe. Ich kann nicht helfen, also gehe ich weiter. Vorbei an Lopsang, der sich übergibt. Ich klopfe ihm liebevoll auf den Rücken und lächle, um ihm für seine freundliche Ermutigung zu danken, als ich vorhin versuchte, die schreckliche Querung zu überwinden. Dort ist der Gipfel! Ich erkenne den metallenen Vermessungspunkt von unzähligen Bildern wieder. Ich taumele die letzten Meter. Irre, ich habe es geschafft! Ich habe die Spitze des höchsten Bergs der Welt erreicht! Mit Angst gemischte Zufriedenheit überkommt mich. Ich muß noch wieder absteigen – aber wie um alles in der Welt soll ich meinen Arsch von hier hinunterbewegen … Die Täler, die ich vorhin gesehen habe, sind jetzt von weißen Wolken verhüllt – aber der Himmel über mir ist tiefblau. Es ist windig. Es ist ungefähr 14.30 Uhr, glaube ich, oder erst 13.30 Uhr? Ich hab’s geschafft, verdammt noch mal! Ich habe den Gipfel der Welt erreicht! Ich bin 8 848 Meter über dem Meeresspiegel, Schnee, Eis und Berge sind unter mir – alles ist unter mir, soweit mein Auge reicht. Bin ich euphorisch, überschwenglich, überwältigt, enttäuscht? Nein, ich bin von der göttlichen Mutter der Erde nicht enttäuscht. Ich bin stolz, stolz. Ruhig, schweigend, ungeheuer zufrieden. Und dann bin ich müde. Vielleicht werde ich noch einmal hier herauf256
klettern müssen, um einfach die schöne Aussicht zu genießen oder um festzustellen, ob sie überhaupt schön ist. Ich will nur noch heil wieder hinunter. Gott! Ich bin wirklich hier! Ganz oben. Wir beglückwünschen uns. Anatoli ist schon wieder fort. Als erster oben – als erster unten. Ich begrüße Rob, der dasteht und in seinen Kragen spricht. Walkietalkie. Nun ja, manche Leute haben welche. Ich danke ihm, daß er weiter unten, als ich wieder Kind geworden war, ein Auge auf mich hatte. Alle wirken glücklich und zufrieden – gut in Form, auch wenn wir natürlich müde sind. Wer wäre das nicht, nach dem, was wir durchgemacht haben? Fotos für die Sponsoren? Ich habe zu nichts Kraft, aber jetzt ist der Augenblick, in dem ich zurückzahlen muß, was andere mir gegeben haben. Runter mit dem Rucksack und raus mit der Plastiktüte, in der sich die Logofahnen befinden. Neal ist bereit, Fotos zu machen, und niemand auf dem Gipfel traut seinen Augen, als ich die Titelseite des »Ekstra Bladet« aus der Tüte hole: Lene Gammelgaard Erste Dänin auf dem Mount Everest Zuviel! Ich spüre, wie es ihnen die Sprache verschlägt. Neal hat seine Überfäustlinge ausgezogen, um den Auslöser meiner Kamera zu drücken. Er hat schon Erfrierungen an den Fingern, und vernünftigerweise weigert er sich, weitere Fotos zu machen. Auch ich fühle 257
mich allmählich unter Zeitdruck. Runter hier! Und zwar so schnell wie möglich! Fahnen und Kamera werden in den Rucksack geworfen. Charlotte, Neal, Sandy und Tim haben mit dem Abstieg begonnen, und wieder spüre ich ganz stark, daß ich auf keinen Fall allein bleiben will. Ich muß bei der Gruppe bleiben. Es ist Zeit zum Aufbruch! Lopsang packt sein Fahnenset aus und wartet auf Scott, damit sie ihr kindisches Spielchen spielen können. Da ist er höchstpersönlich – Scott erscheint über dem Grat oberhalb des Hillary Step. Ehrliche Freude, wieder zusammenzusein. Ich umarme ihn. »Schön, dich zu sehen, Scott. Ich hab’s geschafft. Ich bin müde. Komm heil unten an.« »Glückwunsch, Lene! Du bist die erste Dänin auf dem Mount Everest! Ich freue mich, und ich bin so müde. Wir sehen uns unten.« Wir trennen uns, verschwinden auf dem Gipfelgrat in verschiedene Richtungen.
Abstieg vom Gipfel: 10.5. 1996 Nachmittag: Ich beeile mich, um die anderen einzuholen. Es sieht so aus, als ob Klev jemandem drüben am Südgipfel hilft, oder ruhen sie sich nur aus? Runter, runter, Gleichgewicht halten – die meisten, die auf dem Mount Everest ihr Leben lassen, tun das beim Abstieg. Setz die Füße sorgfältig, bring den Eispickel an, und mach nur einen Schritt. Hak dich am Seil fest, und steig den Hillary Step hinunter. Ich hab’s 258
geschafft. Verdammt noch mal, ich hab’s geschafft! Jetzt muß ich nur noch die Stunden bis zum Südsattel überleben, dann bis zum Lager III … Runter, runter, vorbei an der Querung, an der ich beim Aufstieg nicht weiterkonnte. Jetzt erkenne ich sie kaum wieder – wirkt gar nicht so steil. Dann das Sauerstofflager. Wie steht es um meinen Sauerstoff? Fast leer. Wie viele sind wir? Wie viele volle oder weniger leere Flaschen? Ich überprüfe mehrere Flaschen auf dem Stapel: leer, fast voll, voll – es gibt hier kein System mehr. Ordnung ist zu Chaos geworden. Ich tausche meine Sauerstoffflasche aus und berechne, daß der Inhalt der neuen kaum reichen wird, um den Südsattel zu erreichen, aber je weiter ich nach unten komme, desto weniger gefährdet werde ich sein. Also steige ich ab, entlang der schlechten Fixseile, um die Ecke und BUMM! Orkanartiger Wind, und Schnee! SCHEISSE! Das ist kein Spaß. Die Wolken, die ich von oben gesehen habe, müssen ein Schneesturm gewesen sein, der sich weiter unten zusammenbraute, und jetzt geraten wir direkt hinein. Tim zeigt, aus welchem Stoff er gemacht ist. Ruhig und überlegt beweist er, daß er hervorragend reagiert, wenn die Situation kritisch wird. Charlotte hat wirklich Glück mit ihm. Ich hänge am Seil und eile hinter Sandy und ihr nach unten. Tim ist hinter mir. Plötzlich setzt Sandy sich hin und will sich nicht mehr bewegen. Jemand ruft: »Wenn du dich nicht sofort zusammenreißt, wirst du sterben!«, und Charlotte macht ihren Daunenanzug auf, holt ihr Not259
fallset heraus und verpaßt Sandy einen Schuß Dex, genau wie vorgeschrieben, durch die Kleidung und den ganzen Krempel hindurch in den Hintern. Es hilft ein bißchen. Wir beraten uns und stellen fest, daß Sandys Sauerstoffbehälter so gut wie leer ist. Da ich die Stärkste von uns bin, tauschen Sandy und ich unsere Sauerstoffbehälter, und ich eile weiter. Ich will nach unten, und es ist schon spät. Ich hake mich an dem Seil fest, das über die gelbe Felsmasse nach unten führt. Wo vor fünf Stunden noch nackter Fels war, liegt jetzt eine scheinbar unendliche Schneedecke, wie Seifenschaum. Der Schnee ist seltsam, wie Treibsand unter meinen Füßen. Obwohl ich nicht mehr sehr weit sehen kann, weiß ich, daß ein Abgrund irgendwo links von mir liegt und daß Kletterer in dieser Gegend buchstäblich spurlos verschwunden sind. Ich hoffe, die Fixseile halten unser Körpergewicht aus – wir haben uns alle festgehakt. Neal hat Sandy gepackt. Sie scheint nicht ganz dazusein, oder doch? Bald stelle ich fest, daß es nicht möglich ist, in diesem Schnee zu gehen. Es ist zu gefährlich, also setze ich mich auf den Hintern und rutsche den Mount Everest hinunter. Wenn das Tempo außer Kontrolle zu geraten droht, lehne ich mich mit dem ganzen Körper gegen das Fixseil und versuche, mit dem Karabiner ein wenig zu bremsen. Wenn das Fixseil reißt, bin ich erledigt. Wir stolpern, stürzen, kriechen, rutschen, schwimmen den Berg hinunter. Um uns herum wird unser schlimmster Alptraum wahr. Schlechtes Wetter! Jetzt geht es nur noch ums Überleben. 260
Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis wir nach unten kommen. Neal hat Probleme mit Sandy. Charlotte, Tim und ich sind den Umständen entsprechend gut in Form. Innerhalb weniger Stunden sind wir hinunter zu der Plattform auf dem Südostgrat gelangt, wo wir bei Sonnenaufgang eine Pause gemacht hatten. Dort sitzt jemand – Klev! Er hat vor, die Felsflanke hinabzusteigen, die direkt zum Lager führt. Bei gutem Wetter würde es anderthalb bis zwei Stunden dauern, um zu unseren Zelten zu gelangen – aber bei diesen Verhältnissen läßt sich überhaupt nichts voraussagen. Einbruch der Dunkelheit: Es ist wohl schon fast 18.00 Uhr, also müssen wir einfach los. Der Körper ist beinahe am Ende. Erschöpft. Seit wann nichts mehr gegessen oder getrunken? Seit gestern nachmittag. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Neal ist bei Sandy. Tim und Charlotte kommen gut zurecht, also beeile ich mich, um mich Klev anzuschließen. Wir wollen direkt die Schneeflanke hinunter, wo Lawinengefahr besteht – besonders bei diesem Schneefall. Langsam, mühselig. Ich bekomme Schwierigkeiten und stelle fest, daß mein Sauerstoff verbraucht ist. SCHEISSE! »Stop, Lene, Sauerstoff! Atme tief ein, und atme weiter. Nimm noch etwas!« Der plötzliche Sauerstoffstop hat mich offensichtlich hyperventilieren lassen. Klev sieht, wie blau mein Gesicht ist, während ich selbst gar nichts bemerke. 261
Wir kämpfen uns hinunter, und Klev besteht – trotz meines Protests – darauf, seinen restlichen Sauerstoff mit mir zu teilen. Eine Zeitlang klettert er voran, und ich rutsche auf dem Hintern hinterher. Mein Daunenanzug reißt, und die Daunen lassen es zusätzlich schneien. Das ist jetzt egal – ein Daunenanzug läßt sich ersetzen, und auf diese Weise fühle ich mich am sichersten. Die Sicht wird immer schlechter, weil es dunkel wird und der Schneesturm zunimmt. Wenn ich auf dem Hintern rutsche, kann ich wenigstens nicht über meine eigenen Füße stolpern. Da ist ein Fixseil, also sind wir zumindest irgendwo, wo vor uns schon Menschen gewesen sind. Was ist das da vor uns, was im Unwetter auftaucht? Es entpuppt sich als Yasuko Namba bei ihrem Abstieg am Seil. Daß wir jemand anderes treffen, gibt uns Hoffnung. Ich bin froh, daß sie auf dem Weg nach unten ist. Nach einiger Zeit überholen Klev und ich sie. Es ist jetzt fast vollkommen dunkel. Ich habe noch eine Batterie für meine Stirnlampe im Rucksack, aber wir meinen beide nicht, daß es der Mühe wert wäre, sie in die Stirnlampe zu legen. Der Vorteil der Stirnlampe ist, daß man im Lichtkegel besser sehen kann, der Nachteil ist, daß sich die Augen an das Licht gewöhnen und man die Umrisse der umgebenden Landschaft nicht mehr erkennen kann. Ich muß abwägen, wie ich mich am besten zurechtfinde – mit oder ohne Licht. Das Licht scheint vom Schnee reflektiert zu werden und das dichte Schneegestöber in eine 262
Schneewand zu verwandeln, also ist es im Augenblick ohne Lampe besser. »Klev, ich glaube, wir sollten uns am Couloir rechts halten – siehst du dort unten nicht auch etwas, das Lichtschein vom Lager sein könnte?« »Ja, laß uns darauf zuhalten.« Wir kämpfen uns nach unten. Der Whiteout und die orkanartigen Böen machen es beinahe unmöglich, sich zu orientieren. Jede Kontur der Landschaft ist ausgelöscht. Die Müdigkeit und der Sauerstoffmangel sind auch nicht gerade förderlich. Schon früher haben sich hier Bergsteiger in schlechtem Wetter verirrt. Viele verlieren einfach die Orientierung und stürzen auf der tibetanischen oder der nepalesischen Seite in den Abgrund. Das Tosen des Sturms verhindert, daß wir Rufe aus Lager IV hören können, und Klev und ich wollen unsere verbleibende Kraft nicht dafür opfern, daß wir selbst rufen. Wir sind beide von kühler Ruhe erfüllt. Überleben!
Auf dem Südsattel verirrt »Was ist das da links?« Klev und ich spüren, daß der Boden unter unseren Steigeisen weniger steil geworden ist, ein Zeichen dafür, daß wir wahrscheinlich die Ausläufer des Südsattels erreicht und den steilsten Abstieg hinter uns haben. Wir versuchen verzweifelt, etwas zu entdecken oder wiederzuerkennen, das uns einen Hinweis darauf liefern könnte, wo sich das La263
ger befindet. Warum hat niemand daran gedacht, am steilsten Stück Seile anzubringen? Und ein Seil zu unserem Lager hätte angebracht werden sollen! Aber es ist nicht schwer, im nachhinein schlau zu sein, und es hilft uns jetzt nicht weiter. Wir bleiben stehen und überlegen, wie wir am besten zum Lager zurückfinden können, damit wir nicht als ständige Bewohner des Südsattels enden. »Da drüben ist irgendwie ein Licht. Aber ich glaube, das Lager liegt eher rechts.« »Ganz deiner Meinung.« Und trotzdem beschließen wir, das Licht auf der linken Seite anzusteuern, und kämpfen uns durch das schlimmer werdende Unwetter. Es ist außerordentlich anstrengend, auch nur sicheren Halt zu finden und meine Stiefel in dieser Mondlandschaft vorwärtszubewegen. Das Licht kam von unseren Teams – da sind Tim, Charlotte, Neal, Sandy, zwei Sherpas und zwei Daunenanzüge, von denen einer vermutlich Yasuko ist. Klev und ich beugen uns der Erfahrung der Sherpas. Schließlich sind sie nicht zum ersten Mal hier. Auf der Suche nach vertrautem Terrain bohren sie ihre Eispickel in den Neuschnee und untersuchen, was darunter liegt – Fels oder Eis. Wie lange folgen wir alle den Sherpas – eine Viertelstunde? eine halbe Stunde? länger? –, bevor uns klar wird, daß wir uns verirrt haben? Jetzt scheinen sie nicht mehr die leiseste Ahnung zu haben, wo sie sind, und beginnen, verwirrt und völlig planlos umherzulaufen. 264
Nacht: Es ist jetzt sehr dunkel, stürmisch, eigentlich ein Blizzard. Wenn die Sherpas den Weg nicht finden können, dann bedeutet das, daß das Schlimmste geschehen ist: Wir haben uns alle verirrt. »Okay, was nun? Wir sollten zusammenbleiben und einen Aktionsplan vereinbaren, damit wir nicht unnötig Energie vergeuden«, sage ich zu Klev. Ich denke an einen Satz, den ich im Kopf habe – er klingt wie ein Witz, aber er hilft, in solchen Situationen Ruhe zu bewahren: »Nein, ich habe mich nicht verlaufen; ich weiß im Augenblick nur nicht, wo ich bin.« Klev und ich sind uns einig. Wir brauchen kaum Worte, um zu wissen, was der andere denkt, und wir tun, was wir für das Beste halten. Ich überlasse es Klev, mit Neal zu reden. In Katastrophen ist Ruhe das einzige, was hilft. Wir machen uns daran, den Südsattel abzusuchen, wobei wir zusammenbleiben. Yasuko ist eindeutig kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren, aber wir können nur nach Kräften versuchen, sie dazu zu bringen, daß sie uns anderen folgt. Wir bewegen uns im tosenden Sturm im Schneckentempo vorwärts, sehen nichts, können nichts machen. Ein wenig aufwärts, ein wenig abwärts. Es verlangt äußerste Anstrengung, auch nur aufrecht zu bleiben, geschweige denn, die Füße zu bewegen. Auf diesem Gelände läßt es sich nur schlecht gehen. Niemand darf sich setzen oder zurückbleiben. Wir wissen, daß das hier oben den Tod bedeutet. Der Sturm, die Hoffnung auf Rettung, die Unwirklichkeit 265
dieses wahr gewordenen Alptraums läßt uns wieder und wieder ausrufen: »Dort ist Licht. Ich kann Stimmen hören.« Aber wieder und wieder – Enttäuschung. Die Sherpas sind nicht mehr bei uns: Wo sind sie? Das Gelände unter meinen Füßen fühlt sich ganz falsch an. Zuviel Fels, zu steil und der falsche Winkel. Gestern nacht, als ich aufbrach, ging ich auf Eis, und hier gibt es zu wenig Eis und zu wenig leere Sauerstoffflaschen, als daß wir überhaupt in der Nähe des Lagerbereichs sein könnten. Ich glaube, allmählich wird uns klar, daß wir uns auf den Abgrund an der Kangshung-Flanke zubewegen, und wir entscheiden uns für Notplan Nummer 2. Wir sind nun herum und herum gelaufen und haben Überlebenskraft auf die Suche nach dem Lager verwandt. Wir haben keinen Erfolg gehabt und dürfen keine weitere Kraft verschwenden. Unsere einzige Überlebenschance besteht darin, daß wir eine Senke, einen Felsbrocken oder so etwas – irgend etwas – finden, das ein wenig Schutz bieten kann gegen den rasenden Schneesturm, und uns dann aneinanderschmiegen und darauf warten, daß das Wetter später am Abend ruhiger wird. Oder uns schlimmstenfalls so warm und wach halten, daß wir eine Chance haben, die Nacht zu überleben. Zumindest einige von uns. Ich liege neben Klev, nein, halb auf ihm. Klev hat einen Arm um mich gelegt. Neal und Tim sind rechts neben uns. Oberhalb von mir liegt Sandy und stöhnt: »Ich weiß, daß ich sterbe. Mein Gesicht und meine 266
Hände frieren ab.« Charlotte liegt neben ihr, reglos. Sie hat aufgegeben. Vor einiger Zeit hat sie gesagt: »Laßt mich einfach, ich will in Frieden sterben.« Etwas weiter weg in der Dunkelheit befinden sich das Yasuko-Bündel und ihr unbekannter Begleiter. Ich weiß nicht mehr, wo die Sherpas sind. »Bewegt eure Hände und Füße. Sagt etwas, ruft, haltet die Person neben euch wach!« Neal, Tim, Klev und ich wechseln uns damit ab, zu rufen und uns zu bewegen. Klev schüttelt mich. Ich schüttele ihn und trete Sandy alle paar Minuten: »Bist du wach? Du darfst nicht einschlafen. Halte durch!« Sandy stöhnt: »Ich will nur sterben.« Tim ist einfach phantastisch. Er macht alles richtig und kümmert sich um alle in der Gruppe. Ruhig, überlegt, trotz der Umstände beherrscht. Neal versucht, die Führung zu übernehmen, aber aus seinen Worten höre ich Angst heraus. Der Orkan bläst weiter. Es ist jetzt sogar noch dunkler, da die meisten Stirnlampen aufgegeben haben. Niemand hat mehr Sauerstoff. »Charlotte, bist du wach?« ruft Tim unbarmherzig. Charlotte ist leblos. Auf Klev und mir sammelt sich Schnee an. Bald werden wir nur ein weiterer Hügel in der Landschaft sein. Ich richte mich etwas auf und schüttelte das meiste ab. Schneekristalle dringen durch meinen Daunenanzug, sammeln sich in den Nähten und schmelzen – langsam und unaufhörlich durchtränken sie meinen letzten Schutz. Ich überlege, ob ich genug 267
Kraft habe, um den Rucksack abzunehmen. Auf dem Gipfel ist der Verschluß zerbrochen, daher ist der Beckengurt um meine Taille geknotet. Ich müßte mir Handschuhe und Fäustlinge ausziehen und ihn mit bloßen Händen aufknoten … aber es könnte sich lohnen, denn ganz unten liegt mein Windanzug. Der würde den Orkan eine Weile abhalten … Aber ich müßte auch den Klettergurt ablegen … und die Steigeisen … Ich habe nicht so viel Kraft, und die Gefahr, einen Handschuh zu verlieren oder … zu groß … also lege ich mich wieder hin. »Sandy, wach auf. Du wirst nicht sterben.« »Meine Hände«, schreit der gelbe Anzug neben meinem Körper. »Sie frieren ab.« Wie tragisch. Hat diese Frau den Gipfel erreicht, nach dem sie sich so lange gesehnt hat, nur um zu sterben oder zum Krüppel zu werden? Ich fürchte um Yasuko und ihren Begleiter dort hinten. Absolut kein Lebenszeichen. Wie lange liegen wir schon hier? Ich weiß, daß ich heute nacht nicht sterben werde. Ich weiß es einfach … ich habe keine Angst. Ich begreife unsere Situation, ohne Panik oder Angst. Meine Zeit ist noch nicht gekommen … ich werde jetzt nicht sterben … Ich kann die Zehen in den Stiefeln noch bewegen. Ich glaube, sie sind in Ordnung, warm genug – beuge sie – strecke sie – beugen – strecken – weiter und weiter … Meine Finger sind kalt … ich bewege sie, schlage sie gegeneinander, wenn ich die Kraft dazu habe … 268
Beugen, strecken … Verfluchte Handschuhe. Nicht gut genug für den Mount Everest. Das Außenmaterial ist hart wie ein Brett. Zu Eis gefroren. Aber es schützt vor dem Wind. Versuche, die Fäustlinge unter die Achseln zu stecken, um meine Hände vor dem Sturm zu schützen. Aber zuviel Schnee sammelt sich – läßt mich noch mehr frieren … Beugen, strecken … beugen, strecken … »Klev, bist du wach?« Natürlich ist er das. Trete Sandy. »Sandy, sieh nach, ob Charlotte wach ist.« Tim arbeitet unablässig. Er und Neal versuchen, Charlotte und Sandy dazu zu bringen, daß sie sich hinsetzen. Egal was, nur das leiseste Anzeichen für Lebenswillen statt dieser apathischen Kapitulation. Yasuko reagiert schon lange nicht mehr. In gewisser Weise ein Segen für sie. Ist die Person, die neben ihr sitzt, tot? Beugen, strecken, beugen, strecken … Ich liege über Klev und zittere unkontrollierbar vor Kälte. Die Zähne klappern mir im Mund, und das Zittern ist nicht von dieser Welt … Beugen, strecken, beugen, strecken … balle die Hände in den Fäustlingen zu Fäusten. Bewege die Zehen. Wie lange liegen wir schon hier … eine Stunde, zwei Stunden? Ich weiß nicht, wie, aber durch wortlose Kommunikation nehmen Klev und ich das zusammen, was höchstwahrscheinlich unsere letzte Kraft ist. Irgendwie 269
wissen wir, ohne es auszusprechen, daß unsere letzte Chance – und folglich die einzige Chance der Gruppe –, diese Situation zu überleben, darin besteht, sofort das Unmögliche zu leisten: aufzustehen und das Lager zu finden. Neal ist zum selben Schluß gekommen, und genau jetzt sind die Wettergötter uns gnädig. Der Orkan und der Schneesturm lassen gerade so lange nach, daß zu unserer Rechten ein Bergmassiv zum Vorschein kommt. Und ich glaube, einen Stern zu sehen. Neal meint, er wisse jetzt die ungefähre Richtung. Unser Trio beginnt, vorwärtszustolpern. Klev versucht, jemanden zu ziehen. Yasuko? Charlotte? Er kann nichts machen. Er muß die Person abschütteln; sonst wird er hier sterben. Man braucht alle Kraft, um sich nur aufrecht zu halten, und noch mehr, um sich zu bewegen. »Ich weiß, wo wir sind, und ich weiß, wo das Lager ist«, sagt Klev, und die Bestimmtheit in seiner Stimme und die Gewißheit seiner Bewegungen lassen mich ihm glauben. Neal ist auf meiner anderen Seite. Die Anstrengungen, die hinter ihm liegen, und der Sauerstoffmangel scheinen ihm sehr zuzusetzen. Er ist verwirrt, bemüht sich jedoch, sich im Griff zu behalten. Ich weiß, daß ich auf den Beinen bleiben muß, nicht stolpern und verschwinden darf. Geh! Jetzt sehe ich den Mount Everest zu meiner Rechten und den Lhotse? Links … »Klev, Licht! Vor uns, links … Ich bin mir ganz sicher.« 270
Lager IV: 11.5. 1996 Hoffnung … vorwärtsstolpern … um zu überleben … nur noch der Überlebensinstinkt existiert … der Wille zu leben. Dort ist ein Zelt, zwei … Ich muß pinkeln und pinkele in meinen Daunenanzug. Ich kann es nicht verhindern. Ich bin erschöpft. Und dann ist Anatoli da. Seine Stirnlampe hatten wir gesehen. Neal verschwindet in seinem Zelt. Klev stürzt in unseres, fällt zu Boden wie ein Baumstamm. Ich sehe Anatoli durch den Sturm an. Er sieht mich an – weiß, daß es schlimm steht –, beugt sich vor und nimmt mir die Steigeisen ab. »Anatoli, die anderen sind da draußen. Sie sterben.« »Wo?« »Nicht weit. Geh direkt geradeaus. Dort lang.« Ich krieche ins Zelt. Weiß, daß das die Zeit ist, zu der Menschen sterben. Martin schläft. Klev hat alles getan, was er konnte, und jetzt ist er erledigt. Ich friere, zittere, winsele wie ein geprügelter Hund. Mein Körper reagiert, und mein Hirn kümmert sich um … Sauerstoff! Wo ist eine Sauerstoffflasche, in der noch etwas drin ist? Ich nehme Klevs leere Flasche, schraube den Schlauch ab und montiere ihn an eine volle Flasche. Schaffe es irgendwie, ihn meinem Helden anzulegen. Mehr kann ich jetzt nicht für ihn tun, er schläft. Flüssigkeit! Kein Schnee, nur ein Eisklumpen im Topf, und ich kann den Gasbrenner nicht anzünden. 271
Zittere und stöhne … Sauerstoff für mich. Muß tun, was ich kann, um meinem erschöpften Körper zu helfen. Bereite einen Platz vor, an dem Anatoli schlafen kann, wenn er zurückkommt. Wo ist Scott? Der Sturm dringt direkt durch den Zeltstoff und hinterläßt eine feine Schneespur in der Luft. Ich liege zitternd im Schlafsack, schlottere vor Kälte. Meine Finger beginnen zu schmerzen. Tauen sie auf? Weine ich? Ich stöhne und kann es nicht ändern. Der Körper spricht seine eigene Sprache. Finde irgendwie trockene Fäustlinge, um meine Hände zu schützen. »Wo sind sie?« Anatoli ist zurück und verlangt wütend eine Antwort von mir. »Du mußt direkt geradeaus über den Felsen, nicht hinauf über das Eis. Direkt über den Felsen. Nicht länger als eine halbe Stunde.« Und weg ist er. Konnte sie beim ersten Versuch nicht finden. Hoffe, daß er nicht auch verlorengeht. Ich muß die Zeltöffnung schließen. Ich muß! Ich versuche es, ohne meine schmerzenden Finger zu benutzen. Der Schnee darf nicht hereinkommen! Ich mühe und mühe mich und habe schließlich Erfolg. Schüttele mich in Krämpfen und heule … das Geräusch eines menschlichen Tiers. Wie spät ist es? 2.00 Uhr morgens? 3.00 Uhr morgens? Pemba, der einzige unserer Sherpas in Lager IV, der noch einsatzfähig ist, kommt mit so viel Tee, daß der Boden eines der großen Töpfe bedeckt ist. Ich bin zutiefst dankbar und angerührt von der unglaublichen 272
Mühe, die es für ihn gewesen sein muß, das Wasser für diese Tasse Tee zu kochen. »Kein Gas mehr«, sagt er. Soll ich Klev wecken? Den Tee, den Pemba mir eingeschenkt hat, verschütte ich auf meinem Schlafsack. Mein Zittern macht es mir unmöglich, die Tasse still zu halten. Aber ich muß ein wenig in meinen Körper bekommen – wie lange ist es her, seit ich etwas getrunken habe? Ich höre, wie Anatoli mit Charlotte zurückkommt. Gott sei Dank, er hat sie also gefunden – und auch den Rückweg! Der Sturm geht weiter. Ich döse ein, zittere und winsele. Der Sauerstoff hilft mir, und ich habe ihn voll aufgedreht. Plötzlich kommt Lopsang halb durch die Öffnung gekrochen. Selbst in dieser gespenstischen Atmosphäre besteht kein Zweifel daran, daß er es ist. Der weiße Sherpa-Anzug! Es muß drei oder vier Uhr morgens sein. »Wo ist Scott, Lopsang? Und wie geht es dir?« »Mir geht es gut. Scott hat beschlossen, in Lager I zu biwakieren. Das Wetter ist zu schlecht für den Abstieg.« Dann ist Lopsang wieder weg. »Lager I« ist der Name, den die Sherpas unserem ersten morgendlichen Stop auf dem Südostgrat gegeben haben. Wie will er dort oben biwakieren? Aber Scott ist schon früher in schlimmes Wetter geraten, also weiß er, wie man überlebt. Merkwürdige Entscheidung, aber bei diesem Wetter nicht unverständlich – und Lopsang wirkt ziemlich ruhig. 273
Ich schlafe, wache auf. Anatoli ist zurück. Es wird schon hell. Ich sehe Anatoli an. Er ist am Ende. Leer. Ausgelaugt. Am Ende! Wir müssen keine Worte wechseln. Ich weiß, daß er Charlotte, Sandy und Tim »heimgeholt« hat, die beiden Frauen, mit denen Tim zurückgeblieben war, halb gezogen, halb getragen hat, und ich glaube, daß »der Russe« zurück zu Yasuko und dem anderen dort draußen gegangen ist und wohl nichts mehr für sie tun konnte. Seine Nase sieht schlimm aus, und seine Hände sind enorm geschwollen. Anatoli kriecht in seinen Schlafsack. Ich muß ihm ihn mit meinen angeschwollenen Fingern zuziehen. Küsse ihn auf die Stirn. Anatoli ist am Ende, und er ist sehr still – tief in sich gekehrt. »Anatoli, Scott ist noch oben. Wir müssen Sherpas nach ihm schicken«, sage ich. Lopsang kriecht ins Zelt. »Lopsang, du mußt ein paar Sherpas nehmen und hinauf, um Scott zu holen«, beharre ich. Jetzt versucht Lopsang, Anatoli wachzurütteln. »Anatoli, das letzte, was Scott zu mir gesagt hat, war –: ›Hol Anatoli, er ist stark, er kann mich runterholen‹«. Anatoli ist am Ende. Lopsang ist am Ende, und im Augenblick können keine Sherpas hinaufklettern. Objektiv gesehen ist es zu gefährlich. Die Gefahr, ums Leben zu kommen, ist zu groß. Ich würde wahrscheinlich zusammenbrechen, wenn ich eine größere Anstrengung unternehmen würde. »Wir müssen jemanden dort hinaufschicken.« 274
Warum zum Teufel hat Scott beschlossen, die Nacht dort oben zu verbringen? Wenn er sich nur so warm halten kann, daß er keine schweren Verletzungen erleidet! Lopsang wirkt ruhig, also kann wohl nichts Ernstes passiert sein. Wir können nichts unternehmen, bis sich jemand ausgeruht und der Sturm nachgelassen hat. Ich mühe mich wieder ab, die Zeltöffnung zuzubinden. Morgen: »Wach auf! Wach auf, Lene, wir müssen runter.« Pemba steckt den Oberkörper durch die Tunnelöffnung. »Um zehn Uhr müssen alle fertig sein«. Es stürmt noch immer. Ich will einfach hier liegenbleiben. Muß mich ausruhen, nur noch vierundzwanzig Stunden. Aber mein Hirn weiß, daß Ruhe hier oben nicht hilft, sondern mich nur weiter schwächt. Ich friere und zittere noch immer. Kontrolliere die Sauerstoffanzeige – die Flasche ist leer. Ich winsele wie ein erschöpftes Kind. Weiß, daß wir zum Überleben runtermüssen, habe jedoch nicht die leiseste Ahnung, woher ich die Kraft nehmen soll, mich zu bewegen. Ist Scott in der Nacht runtergekommen? Vielleicht ist er jetzt, wo es hell ist, auf dem Weg nach unten? Wir müssen ein Team mit Sauerstoff zu ihm hochschicken, damit wir ihn runterholen können. Wie weit oben ist er? »Martin, Klev – wacht auf! Wir müssen runter. Um zehn Uhr geht’s los!« 275
Frage mich, ob wir überhaupt durch den Sturm kommen werden! Mir gehen Gedanken an andere durch den Kopf, die an Erschöpfung gestorben sind, in großer Höhe von einem Unwetter überrascht wurden. Wir müssen runter. Es ist 8.00 Uhr. Ich knie im Schlafsack und versuche, uns etwas Wasser zu schmelzen. Der Topf ist komplett gefroren, der Anzünder funktioniert nicht, und meine Finger wollen mir nicht gehorchen. Ich schreie – meine Unterschenkel verkrampfen sich. Ich suche verzweifelt nach einer Sauerstoffflasche, in der noch ein kleiner Rest ist, aber die Flaschen scheinen alle leer zu sein. Klev ist aufgewacht, kann aber die Augen nicht öffnen. Er ist schneeblind. »Lene, hast du Ingrids Salbe in der Nähe? Würdest du mir eine Augenbinde machen?« Die Zeit schleppt sich dahin. Es stürmt noch immer, und meine Hände sind zu nichts zu gebrauchen – wie sollen wir nach unten kommen, frage ich mich. Wir müssen einfach! Endlich finde ich eine Sauerstoffflasche, in der noch etwas ist, und lege die Maske an. Mein unfreiwilliges Winseln hört auf. Eine Augenbinde für Klev. Aber wie soll ich meine Innentasche öffnen? Dort ist die Salbe, im Zahnbürstenbehälter. Obwohl ich Bänder an den Reißverschluß gebunden habe, können meine Finger ihn nicht richtig packen. Es scheint ewig zu dauern, doch schließlich gelingt es mir. Salbe, Toilettenpapier und Sporttape. Unter anderen Umständen würden wir über Klevs »Augenbinde« vor Lachen heulen, aber im Au276
genblick heult nur der Wind. Anatoli ist still, liegt einfach nur da. Lopsang taucht auf. Er trägt noch immer den weißen Sherpa-Anzug. Er ist jetzt weniger ruhig – weniger beherrscht. »Wir müssen jemanden hinauf zu Scott schicken. Er ist krank, sehr krank. Er kann nicht alleine runterkommen. Ich mußte ihn und Makalu Gau zurücklassen, um nicht selbst zu sterben. Scott sagte: ›Geh runter und hol Anatoli. Sag ihm, er soll kommen und mich runtertragen. Er ist stark. Er kann es schaffen‹«. Aber Anatoli ist zu gar nichts in der Lage. Die Rettungsaktionen haben ihm alles abverlangt. »Lopsang, ruf ein paar von den anderen Sherpas zusammen. Wir müssen rauf zu Scott.« Anatoli ist im Augenblick vollkommen k.o., aber ich weiß, daß er auf dem Südsattel bleiben wird, bis er wieder genug Kraft hat, um hinauf zu Scott zu klettern. Ich weiß es einfach … so ist er eben. »Klev, Martin – wir müssen runter!« Keiner von uns will sich bewegen. Aber wir müssen. Wenn wir können. Unendlich anstrengend, aus dem Schlafsack zu kriechen. Unendlich anstrengend, den Daunenanzug anzuziehen. Die anderen haben ihre noch an, aber ich mußte meinen ausziehen. Ist er jetzt trocken? Egal. Mein Körper zeigt deutlich, daß er erledigt ist, daher muß ich ihn so gut wie möglich schützen. Windanzug an. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Wir sind so müde. Keine Nachricht von Scott. 277
»Wie weit oben sind sie, Lopsang?« »Dort droben – vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei Stunden von hier.« Scott, du Idiot. So nah am Lager, und dann kommst du nicht. Schon andere Bergsteiger haben eine Nacht im Freien überlebt – aber nicht, ohne Finger oder Zehen zu verlieren. Ich bin ausgelaugt. Alles, was ich tun kann, ist, lebendig hinunterzusteigen und energisch genug dafür zu sorgen, daß die Sherpas wieder hinaufklettern. Aber grundsätzlich habe ich nicht das Recht, von jemandem zu verlangen, daß er in 8 000 Meter Höhe sein Leben riskiert. Die Sherpas haben ihre eigenen Prinzipien, wenn es um Kletterer geht, die den Anforderungen der »Erdgöttin« nicht gewachsen sind, und die kann und will ich nicht beeinflussen. Sie wollen überleben – und das ist das einzig Richtige. Ich respektiere ihre Entscheidung. Lopsang wird das Richtige tun. »Kommt, wir müssen runter.« Aus dem Zelt. Klev wird Hilfe brauchen, um den Weg vom Berg hinunter zu finden.
Von Lager IV zu Lager II: 11.5. 1996 Pemba packt mich und sagt etwas, das ich nicht richtig verstehe, weil der Wind seine Worte wegweht. Irgend etwas wie: »Alle Sherpas lieben dich, darum will ich dir hinunterhelfen.« Aber ich kenne ihn kaum, diesen jungen Mann, der sich heute zu meinem Schutzengel ernannt hat. Pemba geht los, zieht an meiner Hand, 278
und ich muß ihm einfach durch das Unwetter folgen. Martin ist dicht hinter uns. Von Lager IV bis Lager III unterstützt mich dieser junge Sherpa. Er wechselt meinen Karabiner von einem Seil zum anderen. Meine Finger sind noch immer zu nichts zu gebrauchen, also hakt er mich an jedem Seil fest und macht mich wieder los – schnell und geschickt. Ich folge ihm in einem Tempo, das ich in meinem Zustand ohne den Schutz meines Engels nie geschafft hätte. Was hatte er dort oben gesagt? Habe ich richtig gehört? Je weiter wir den Berg hinuntergelangen, desto mehr läßt der Sturm nach. Wie seltsam, plötzlich hören zu können, wie Martin hinter mir etwas sagt. Ich frage mich, wie es Klev gehen mag? Die Sonne scheint. Pemba ist gut. Sehr gut. Macht nur die unbedingt erforderlichen Bewegungen. Erst sichert er sich, dann sichert er mich. Ich darf meine Hände nicht benutzen. Er ist ruhig. Alles, was er tut, hat einen Zweck, nichts ist überflüssig. Ich trage die Sauerstoffmaske, um meinen Körper so gut wie möglich vor dem Zusammenbruch zu schützen. Vor Rob Halls Lager III kommen Leute auf uns zu, um uns zu begrüßen, mit Tränen in den Augen. »Willkommen hier unten. Wie wunderbar, daß ihr lebt.« Offenbar sind Leute auf dem Weg nach oben, um zu helfen, so gut sie können – dort oben, wo wir herkommen. 279
Lager III. Ich stolpere in unser Zelt, Martin hinter mir. Klev, Sandy und die anderen sind auf der Route nicht zu sehen. Pemba wartet eine Zeitlang, dann macht er sich an den Abstieg. Ich versuche, mich auszuruhen, fange aber wieder an zu winseln. Komisch, ich habe es nicht unter Kontrolle. Keine Worte werden gewechselt. Es gibt nichts zu sagen. Martin und ich würden gerne bleiben und uns erholen, aber in einer Höhe von 7 315 Metern gibt es keine Erholung. Wir müssen runter, also brechen wir zusammen auf. Martin ist schneller als ich, und wir trennen uns. Ich achte darauf, mich immer an den Seilen festzumachen. Ich weiß, daß in dieser Lage die Müdigkeit zur Unachtsamkeit und möglicherweise zu einem tödlichen Fehler führen kann. Langsam, ganz langsam bewege ich mich über die Lhotse-Flanke hinunter, mit mehr Pausen, als ich je zuvor gemacht habe. »Lene, wie schön, dich zu sehen. Können wir irgend etwas für dich tun?« Es sind David Breashears und Ed Viesturs auf dem Weg nach oben. Wie stark und normal sie aussehen. »Habt ihr etwas zu trinken? Ich bin so durstig. Ausgedörrt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal etwas getrunken habe.« David drückt mir die Hand. »Wir dachten, ihr wärt alle tot. Gestern nacht wurden einundzwanzig als vermißt gemeldet.« Deswegen freuen sich die Leute also so, uns zu sehen. 280
»Wie geht es Sandy?« »Sie ist auf dem Weg nach unten. Sie muß unterwegs zum Lager III sein. Sie hat wahrscheinlich Erfrierungen, aber sie lebt.« Ich trinke und trinke – vorsichtig, in kleinen Schlucken, damit mir nicht übel wird. »Rob Hall liegt mit einem toten Klienten direkt unterhalb des Südgipfels. Seine Füße sind erfroren, darum stürzt er jedesmal, wenn er aufstehen will. Aber er hat die meiste Zeit über Funkkontakt. Sie fürchten, daß Scott tot ist. Sherpas sind von Lager II mit mehr Hilfe unterwegs«, berichtet David. Wir trennen uns. Ed und David sind auf dem Weg nach oben, um zu helfen. Sie haben ein Sauerstofflager am Südsattel und sind in ausgezeichneter Verfassung, da werden sie ein willkommener Anblick sein. Denk nicht nach. Ich werde erst glauben, daß Scott tot ist, wenn ich es direkt von jemandem höre, der ihn tot gesehen hat. Ich hoffe noch immer insgeheim, daß er mit seinem üblichen schelmischen Grinsen ins Lager kommen wird. Sowohl Lopsang als auch Anatoli sind noch oben – sie haben nicht aufgegeben. Ich kann eine Reihe ameisenähnlicher Punkte unter mir sehen, die sich auf dem Pfad durch die Western Cwm auf die Lhotse-Flanke zubewegt. Freue mich darauf, selbst dort unten zu sein. Brauche jemanden, der mir den Rucksack trägt, und mehr zu trinken. Das letzte steile Eisstück hinunter. Mein Körper will 281
nicht mehr. Ups! – einer meiner Überfäustlinge fliegt davon. Ist jetzt egal; er liegt unten in einer tiefen Gletscherspalte, und ich habe nicht den Drang, dorthinunter zu klettern, um ihn zu holen! *** Ich wandere durch Lager II, muß unbedingt einen der anderen Dänen sehen: Henrik, Bo oder Jan. Ich weiß nicht, wo Michael ist. Ich brauche Henriks Berufserfahrung, damit er meinen Händen hilft. Ich erfahre, daß die Dänen in Rob Halls Speisezelt eine Behelfsklinik eingerichtet haben. Um mich herum ertönen Glückwünsche. Köpfe tauchen in Zeltöffnungen auf. Ein »Gut gemacht!« mit gedämpfter Stimme. Eine Atmosphäre voller Trauer und angestauter Gefühle herrscht zwischen den bunten Zelten. Henrik, Jan, Bo, da sind sie, alle drei. Bekannte Gesichter aus der Heimat. Unter diesen Umständen beinahe meine Familie. Ich werde hineingeführt und fühle mich sofort willkommen und gut versorgt. Auch Mal Duff ist hier. Er sieht verzweifelt aus. Ich glaube, Rob ist sein bester Freund. Henrik diagnostiziert leichte Erfrierungen, verordnet Medikamente und verbietet mir, meine Hände längere Zeit für irgend etwas zu gebrauchen. »Ab in den Schlafsack und trinken, trinken, trinken«, ordnet er an. Bo ernennt sich zur Florence Nightingale und 282
verspricht, mit in mein Zelt zu kommen und mir zu helfen. Jan Mathorne scherzt und erzählt. Henry Todd steht draußen. Heftige Umarmung und tröstliches Lachen. »Ach, diese Finger sind gar nichts. Meine haben schon oft so ausgesehen. In sechs Monaten sind sie wieder völlig in Ordnung.« »Bist du okay, Henry?« »Ja, mir geht’s ganz gut. Mein Team ist am Südsattel, aber ich habe allen befohlen, runterzukommen, mit Ausnahme der beiden Stärksten, die dort bleiben und helfen werden.« Fotos werden gemacht. Und dann bin ich endlich wieder zu Hause. Gyalzen mit Fertignudelsuppe. Aber wo sind Scott? Anatoli? Lopsang? Der Rest des Teams ist langsam auf dem Weg herunter, hilfsbereite Sherpas gehen ihnen entgegen. Aber was ist mit Scott?
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5. Nach dem Sturm
Lager II: 12.5. 1996 Unser Team hat sich versammelt. Wir sehen aus, als sei jemand durchs Lager gezogen und habe uns mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen: Geschwollene Augen. Boxernasen. Schwarze Wangen und Lippen. Fleisch, das sich ablöst. Lachen und Weinen wechseln sich ab, als wir die Situation überdenken. Und wir sind noch immer nicht unten: Wir müssen noch durch die Western Cwm. Und hinunter durch den Eisbruch – zum letzten Mal. Die monatelange Anspannung weicht dem Bewußtsein, wie unzählig viele Dinge noch schiefgehen können. Berichte aus den oberen Lagern bestätigen immer wieder, daß Scott tot ist. Lopsang ist auf dem Weg nach unten, und ich warte, was er zu berichten hat, bevor ich Scott für mich persönlich für tot erkläre. Lopsang kommt die Klippe hinunter. Wir warten, die Sherpas warten. Ich gehe auf ihn zu, und er fällt in meine Arme und schluchzt. Die Therapeutin in mir diagnostiziert Schock, während die Freundin in mir dem Schwall seiner Worte lauscht. Einer Geschichte, die er wieder und wieder erzählen wird. 284
»Scott ist tot. Mein Vater ist hinaufgestiegen, um ihn zu holen. Mein Expeditionsleiter ist tot. Scott liegt dort oben im Schnee. Er hat seinen Daunenanzug halb ausgezogen und die Hand zum Himmel ausgestreckt. Lene, schon am Gipfel war er krank. Er kam hinauf zu mir und sagte, er sei so müde, so müde. Scott machte ein Foto von mir. Auf dem Weg nach unten mußte ich ein Seil um ihn legen. Er stolperte und fiel hin und wollte sich nicht mehr bewegen. Auf der Schneeflanke wollte er hinunter nach Tibet rutschen. Ich mußte mich an einem Seil hinablassen, um zu ihm hinunter zu gelangen und ihn wieder hochzuholen. Ich habe Scott noch nie so gesehen. Er hat einfach aufgegeben. Er sagte, er würde direkt runter ins Basislager springen. Und ich schleppte ihn und flehte ihn an, sich weiter zu bewegen, aber auf dem Grat wollte er einfach nicht mehr laufen. Ich konnte ihn nicht dazu bringen. Er nahm seine Sauerstoffmaske ab – er wollte sie nicht mehr tragen, obwohl wir noch Sauerstoff hatten – und sagte immer wieder: Lopsang, ich bin so krank, so krank. Du mußt einen Hubschrauber holen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, und er sagte, ich solle hinuntergehen und Anatoli holen. ›Er ist stark, Lopsang, er kann mich hinuntertragen. Sag Anatoli, er soll kommen und mich holen.‹ Ich habe ihn verloren, Lene, ich konnte ihn nicht retten. Er hat mir seine Kamera mit all seinen Fotos gegeben.« Am Samstagmorgen, gegen zehn Uhr, war ein Sherpa-Team hinaufgeklettert, um Scott zu suchen, darun285
ter Lopsangs Vater, der alte Ngawang. Sie fanden Scott und Makalu Gau, den taiwanesischen Expeditionsleiter, dort, wo Lopsang in der Nacht zuvor eine Plattform für sie gegraben hatte. Das Wetter war noch immer scheußlich, und Scott atmete kaum noch und reagierte fast gar nicht auf den Sauerstoff oder die heißen Getränke, während Gau bei vollem Bewußtsein war. Die Sherpas kümmerten sich um den Stärkeren der beiden und mußten Scott zurücklassen. Am Samstagnachmittag kletterte Anatoli zu Scott hinauf und fand ihn tot. Anatoli tat, was er unter diesen Umständen tun konnte, bedeckte Scotts Leichnam und nahm ein paar Kleinigkeiten mit, um sie seiner Frau und seinen beiden Kindern mitzubringen. Nachrichtenagentur Ritzau, 13.5. 1996: Neun Todesopfer auf dem Mount Everest befürchtet Wellington, Neuseeland – Es wird befürchtet, daß im Himalaya an diesem Wochenende neun Bergsteiger auf dem Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt, ums Leben gekommen sind. Laut Berichten ausländischer Nachrichtenagenturen waren am Freitag insgesamt 24 Bergsteiger aus vier verschiedenen Expeditionen auf dem Abstieg vom Berg, als ein heftiges Unwetter ausbrach. »Ekstra Bladet« berichtet, daß die vierunddreißigjährige Dänin Lene Gammelgaard, die als erste Skandinavierin den 8 848 Meter hohen 286
Mount Everest bestiegen hat, lebt. Der Bergführer der amerikanischen Expedition, der Gammelgaard angehört, Scott Fischer, wurde als vermißt gemeldet, und man fürchtet, daß er tot ist.
Basislager: 13.5. 1996 Endlich ist Anatoli herunten. Ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Der Russe sitzt an diesem Abend bei uns in unserem Speisezelt. Wir anderen sind von der tüchtigen, aber weinenden Ingrid gründlich behandelt und verbunden worden. »Danke, daß du lebst« und eine feste, aufrichtige Umarmung waren die Begrüßung, mit der sie jeden von uns empfing, als wir ins Basislager gestolpert kamen. Ngima, Pete Schoening und mein Freund Torben waren uns mitten im Eisbruch mit heißen Getränken und offenen Herzen entgegengekommen. Traurigkeit, Kummer und Freude herrschten, als wir uns wiedersahen. Wir haben überlebt. Zum Gipfel und heil wieder zurück. Von unserem Team aus elf amerikanischen und europäischen Kletterern waren nur Dale und Pete nicht am Gipfelsturm beteiligt. Von den neun Leuten, die sich zum Gipfel aufgemacht hatten, haben ihn alle erreicht. Einer ist auf dem Weg nach unten gestorben – unser Expeditionsleiter Scott Fischer. Scott wäre mit seinem Team zufrieden gewesen. 287
Jetzt sitzen wir hier zusammen und vermissen unseren Anführer. Der Berg hat einen der unseren behalten, und Anatoli hat ihn als letzter gesehen. Ich habe das Bedürfnis zu fragen, und Anatoli hat das Bedürfnis zu erzählen. Anatoli hat sich verändert. Scotts Tod hat ihn ganz offensichtlich mitgenommen und niedergeschlagen. Ich frage mich, ob er Schuldgefühle hat, weil er den letzten Wunsch seines Freundes nicht erfüllen konnte? Eine Last, die man unmöglich tragen kann. Mein Instinkt, meine Intuition und mein gesunder Menschenverstand greifen ein: »Trink deinen Tee, Anatoli.« Jedesmal, wenn er wegsieht, füllt ein Teamgefährte seine Tasse neu. Anatoli ist ein stolzer Mann, um den man sich nicht leicht »kümmern« kann. Aber auch starke Menschen sind nur Menschen. »Anatoli, wo ist dein anderer Daunenparka?« »Ich brauche ihn nicht.« Und ob er ihn braucht. »Steve, würdest du bitte Anatolis Daunenparka holen?« Meine Hände sind bandagiert wie Boxhandschuhe, um die Finger vor weiteren Verletzungen zu schützen, daher brauche ich selbst für jede Arbeit Hilfe. Aber kommandieren kann ich noch. Als Steve seinen eigenen Parka um Anatolis Schultern legt, kommt Anatoli ein wenig zu sich, geht zu seinem Zelt und zieht sich seine große blaue Daunenjacke an. In der Zwischenzeit wird ihm Tee nachgeschenkt. Dann macht der Russe mit seinem Bericht darüber, wie er Scott tot vorgefunden hat, aller Hoffnung ein Ende. 288
Die Gedenkzeremonie: 14.5. 1996 Bei der Gedenkzeremonie schließt Anatoli seine Rede an den Toten – die er unten Tränen gehalten hat – mit den folgenden Worten: »Es tut mir leid, ich kam zu spät, Scott.« Ich nehme Abschied, indem ich sage: »Danke, daß du das ermöglicht hast. Ich werde weiter so leben, wie wir meinten, daß man leben sollte – ›Mach es wahr, und viel Spaß dabei!‹ Ich werde dich vermissen, Scott.«
Basislager: 15.–20.5. 1996 Die Expeditionsmitglieder brechen langsam auf. Ich bleibe so lange wie möglich, um mich von der göttlichen Mutter der Erde zu verabschieden, die meinen besten Freund behalten hat. Ich brauche Zeit zum Nachdenken und zum Trauern, und um unter Bergsteigern zu sein, unter Menschen, die alles miterlebt haben. Um meine Seele ein wenig heilen zu lassen, bevor ich mich auf den Rückweg in die Zivilisation und die Hektik mache, die mich erwarten wird, wenn ich wieder zu Hause in Dänemark bin. Ich muß hier so lange bleiben, wie ich brauche, um mich auf meine eigene Weise von Scott zu verabschieden. Anatoli wird den Lhotse besteigen und somit einem Plan folgen, den Scott und er im Februar gemacht haben. Er ist physisch und psychisch »daneben«. Als 289
Bergsteigerin weiß ich, daß er es tun muß, um wieder zu sich zu kommen – so ist es einfach. Doktor Ingrid kann das nicht verstehen. Wenn sie in die großen Berge zurückkehrt, wird sie allmählich verstehen lernen. Ich kann verstehen, daß sie es nicht versteht. Ich nehme wieder Vitamintabletten. Anatoli bittet um die Ration, die Scott immer bekommen hat. Gerne führe ich das Ritual aus, auch wenn es schwierig ist, die Tabletten mit den bandagierten Händen aus den Folienverpackungen und Plastikflaschen zu bekommen. Innerhalb von drei Tagen lernt Doktor Ingrid, Bandagen zu machen, die in den vierundzwanzig Stunden bis zum nächsten Verbandwechsel nicht verschleißen. Bis dahin aber verhaken sich unsere Verbände überall – an Schlafsäcken, Zeltöffnungen, Kleidung –, denn wie soll jemand mit Boxhandschuhen aus Mull anstelle von Händen mit Verschlüssen aller Art fertigwerden?
Syangboche-Landebahn oberhalb von Namche Bazaar: 20.5. 1996 Der Rest der Expedition, das sind Klev, Neal, Pete, Martin, alle Klettersherpas und ich, warten im Frühnebel darauf, daß der Hubschrauber von Mount Everest Air kommt. Wir sind kurz davor, den ersten ernsthaften Schritt in Richtung Heimreise zu unternehmen, den Flug nach Katmandu – und zur Presse! 290
Die anderen sind schon vor ein paar Tagen losgeflogen – Charlotte wegen Erfrierungen an den Zehen vom Basislager aus. Als wir den Eisbruch endlich hinter uns hatten und sie ihre Stiefel auszog, waren ihre Zehen blutige Klumpen. Sandy hat vor einigen Tagen einen Hubschrauber von Pheriche aus gemietet, und Ingrid und Tim schlossen sich ihr an. »Wir haben einen Bordpaß zuviel«, sagt Ngima. »Ich wette, der ist für Anatoli. Er wird wahrscheinlich im letzten Augenblick auftauchen.« Wir haben gerüchteweise gehört, daß Anatoli den Lhotse bestiegen hat und daß Michael Jørgensen direkt unter dem Gipfel wegen schlechten Wetters umgekehrt ist. Beide leben, und das allein zählt. Der Hubschrauber, der sich wegen des Nebels verspätet hat, landet endlich, und die ganze Crew versucht, die Sagarmatha-Umweltexpedition in den Metallrumpf zu quetschen. Ich frage mich, nach welchem System sie wohl vorgehen? Als die Kabine sich füllt, laden sie die Säcke vorne wieder aus, die gerade von hinten hineingepackt worden sind! Sie sagen, es wäre zuviel Gewicht, so daß wir nicht abheben könnten, dann wiegen sie das Gepäck auf einer Art großer Personenwaage und laden alles wieder ein. Anatoli, wo bist du? Du hast versprochen, du würdest heute mit uns abfliegen. Fünf Minuten vor dem Abflug erscheint ein purpurroter Hut am Ende der Startbahn. Anatoli! Anatoli ist wieder in Ordnung. Das spiegelt sich in seiner ausgeglichenen Miene deutlich wider. Er hat 291
direkt nach unserem Martyrium den Lhotse, den vierthöchsten Berg der Welt, bestiegen, ohne Sauerstoff zu benutzen, und ist die ganze Nacht praktisch gerannt, um jetzt hier zu sein. Er hat seine Gitarre mitgebracht. Einfach unglaublich!
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Nach dem Mount Everest
»Triumph und Tragödie« nannten die Medien die MountEverest-Saison im Frühjahr 1996. Viele Leute haben mir gesagt: »Wie schade, daß der größte Erfolg in deinem Leben mit so viel Kummer verbunden ist.« Ich sehe es nicht so. Als ich mich aufmachte, den Mount Everest zu besteigen, wußte ich, daß es seinen Preis haben würde. Ich wußte nur nicht, wie hoch der Preis sein würde, den die göttliche Mutter der Erde zur Strafe für unsere Hybris von uns verlangen würde. In diesem Universum herrschen Naturgesetze, und der Mount Everest ist ein mächtiges Beispiel dafür. Er lehrt uns, wie wir uns selbst verhalten müssen, um nicht zu Schaden zu kommen. Der Mount Everest ist rein, göttlich, unbeeinflußbar, unfaßbar und tödlich. Und eine Zeitlang zutiefst erfüllend – wie das Leben überall sein kann. Aber mehr als andere Orte zeigt der Mount Everest einem in einer kurzen Zeitspanne, die wie eine Ewigkeit wirkt, woraus man gemacht ist. Er verändert Menschen. Nach meiner Rückkehr nach Dänemark wurde ich berühmt. In verschiedener Hinsicht war das ein Segen, aber das unbezähmbare Wesen, das ich genetisch bin, 293
wurde dadurch eingeschränkt. Die Publicity gab mir die Gelegenheit, zu arbeiten und zu arbeiten und zu arbeiten – mich zu überarbeiten. Nach zwei Jahren hatte ich mich verausgabt und war ernsthaft krank geworden. Ich glaubte kaum, daß ich mich jemals wieder erholen würde. Aber ich überlebe immer. Ich hatte mich – absichtlich – in einen Workaholic verwandelt, nur um nicht fühlen zu müssen, um nicht trauern zu müssen. Weil ich aus einer Katastrophe etwas Besseres machen mußte, arbeitete ich weiter so, wie Scott und ich es geplant hatten. Jetzt, drei Jahre nach der Expedition, kann ich der Trauer, dem schweren Schlag nicht mehr ausweichen: Ich habe nicht nur Scott verloren, sondern auch Lopsang, der nur wenige Monate nach unserer Besteigung durch eine Lawine an der Lhotsewand getötet wurde. Ein Jahr später starb auch Anatoli, mein ethischer und moralischer Anker in dieser Welt, bei einem Kletterunfall. Drei großartige Persönlichkeiten, Menschen, die mir viel gegeben haben. Es sind drei zuviel, und ich bin vom Schicksal gezeichnet und dennoch dankbar, daß ich einige der Wunder des Lebens mit drei Menschen geteilt habe, die niemand ersetzen kann. Das wahre Ausmaß des Verlustes ist mir erst im Laufe der Zeit deutlich geworden, weil ich sie wieder und wieder vermisse. Mit diesen Gesinnungsgenossen kann ich keine Naturabenteuer mehr planen und erleben. Sie sind unersetzlich, wie es große Persönlichkeiten, die uns andere inspirieren, immer sind. 294
Der Mount Everest hat mir eine wertvolle Lektion erteilt. Ich werde mich nie wieder einer objektiv so großen Gefahr aussetzen. Niemals! Das Leben ist kostbar. Das Leben ist so kurz.
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Nachwort
Am ersten Weihnachtstag des Jahres 1997 kam Anatoli Boukreev in einer Lawine auf den Hängen des Annapurna im Himalaya ums Leben. Nur drei Wochen zuvor war ihm vom American Alpine Club für seinen Rettungseinsatz bei unserer Mount-Everest-Besteigung die höchste amerikanische Auszeichnung verliehen worden, die ein Bergsteiger bekommen kann. Anatoli Boukreev – der starke Russe, der mir ein Freund geworden war, ein wertvoller und hochgeschätzter Tutor in vielfacher Hinsicht. Ohne Anatoli wären die Erfahrungen, die ich beim Besteigen des Mount Everest gemacht habe, weniger großartig gewesen. Ich vermisse ihn sehr. Anatoli war ein echter Bergsteiger. Aufrichtig und unverdorben. Er machte es den Leuten nie zu leicht, aber er riskierte sein Leben, wenn jemand wirklich in Schwierigkeiten steckte. Er entstammte einer anderen Kultur und wurde manchmal mißverstanden. Anatoli war so hart wie die Berge, die er bestieg, doch gleichzeitig ein sanfter Mann mit philosophischer Seele. Diejenigen von uns, die sich die Zeit nahmen, ihn richtig kennenzulernen, wurden durch die Entdeckung eines vorbildlichen Charakters belohnt. Während ich mich zurücklehne und mich lächelnd 296
an dieses Genie der Berge erinnere, werde ich Anatoli selbst erzählen lassen: »Ich würde gerne glauben, daß die Wege, die wir einschlagen, weniger von wirtschaftlichen Problemen, politischen Kämpfen oder den Mängeln unserer Umwelt abhängen und mehr von unserer inneren Berufung, die uns zwingt, wieder und wieder in die Berge zu gehen, in Höhen jenseits der Wolken, und uns unseren Weg zum Gipfel zu bahnen. Die strahlenden Gipfel und der unergründliche Himmel über unseren Köpfen werden mit ihrer Großartigkeit und ihrer mysteriösen Schönheit die Menschen immer anziehen, denn der Mensch liebt alles, was schön ist. Das war und ist die Anziehungskraft der Berge und wird sie immer sein. Sie ist unabhängig von der weltlichen, belanglosen Eitelkeit und Hektik, die uns zuweilen den Blick auf das Echte, Schöne und Ewige versperrt.«
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Anhang
Teammitglieder der SagarmathaUmweltexpedition 1996 Expeditionsleiter: Scott Fischer, Seattle, Washington Martin Adams, Ketchum, Idaho Neal Beidleman, Aspen, Colorado Anatoli Boukreev, Almaty, Kasachstan Charlotte Fox, Aspen, Colorado Lene Gammelgaard, Kopenhagen, Dänemark Dale Kruse, Craig, Colorado Tim Madsen, Aspen, Colorado Sandy Hill Pittman, New York, New York Klev Schoening, Seattle, Washington Pete Schoening, Bothell, Washington Expeditionsärztin und Organisatorin des Basislagers: Ingrid Hunt, New York, New York Mitglieder des Sherpateams: Lopsang Jangbu Sherpa, Klettersirdar Pemba Gyalzen Sherpa, Klettersherpa 298
Ngawang Tenzi Sherpa, Klettersherpa Tashi Tschring Sherpa, Klettersherpa Tenzi Sherpa, Klettersherpa Ngawang Shtake Sherpa, Klettersherpa Gyalzen Sherpa, Koch in Lager II Ningma Sherpa, Sirdar im Basislager Mingma Sherpa, Koch im Basislager Krishna Rahadur Rai Pema Sherpa Kajee Sherpa, Bote
Glossar Biwak: Eine Nacht am Berg – geplant oder ungeplant – ohne richtiges Lager. Während eines Biwaks ist es außerordentlich wichtig, Körperwärme zu speichern, um keine Unterkühlung und Erfrierungen zu riskieren, daher suchen sich Kletterer windgeschützte Stellen aus wie zum Beispiel im Windschatten eines Felsens oder in einer Höhle aus Schnee oder Eis. Biwaksack: Ein leichter, wasserdichter Sack, der beim Biwakieren Schutz bietet. Chapati: Ein rundes Fladenbrot, das ursprünglich aus Nordindien stammt. Chorten: Ein kleiner, aus Stein gebauter Schrein. Couloir: Eine tiefe Rinne oder Schlucht. 299
Cwm: Ein walisisches Wort (gesprochen »Kuhm«), mit dem Bergsteiger häufig ein von Bergen umgebenes Tal bezeichnen; ein Kar. Diamox: Der Markenname von Acetasolamid, einem Medikament, das offenbar den Akklimatisierungsprozeß unterstützt, wenn es auf den ersten Etappen und in gemäßigter Höhe eingenommen wird. Durchflußrate: Die Menge Sauerstoff, die aus einer Flasche mit komprimiertem Sauerstoff durch einen Schlauch zum Kletterer fließt. Eisbruch: Ein unbeständiger, steiler Teil eines Gletschers, in dem der schnellere Fluß dazu führt, daß sich Gletscherspalten und Seracs bilden. Eispickel: Ein in Schnee und Eis unbedingt erforderliches Kletterwerkzeug. Der klassische Eispickel hat einen armlangen Schaft, an einem Ende einen Dorn und am anderen einen Kopf mit zwei Enden: Das eine ist ein Pickel zum Bremsen, das andere ein Breitbeil, mit dem man im Schnee graben oder Eis hacken kann. Pickel zum Eisklettern sind kürzer, und es gibt viele Spezialmodelle. Fixseile: Seile, die an einem Berg verankert sind, um Kletterern über schwierige Passagen zu helfen. Flanke: Der vertikale Teil eines Berges; Wand. 300
Gebetsfahnen: An Schnüren aufgereihte bunte Stoffstücke, die mit Gebeten des tibetischen Buddhismus bedruckt sind. Es heißt, die Gebete würden vom Wind zu den Göttern hinaufgetragen. Gletscherspalte: Ein Riß in der Oberfläche eines Gletschers, der schmal oder breit, flach oder bis zu mehreren hundert Metern tief sein kann. Gletscherspalten sind für Kletterer sehr gefährlich, wenn sie mit Schnee bedeckt sind. Jümar: Ein Mechanismus zum Aufstieg am Seil. Die Metallvorrichtung wird an ein Kletterseil geklemmt; der Kletterer kann sie am Seil hinaufschieben, kann aber nicht nach unten abrutschen, weil der Jümar einrastet. Wird als Sicherungsmittel an Fixseilen verwendet. Karabiner: Eine Schnappverbindung aus Metall mit Federschieber, die man an einem Seil oder einem Läufer festhaken kann; wird bei vielen Klettermanövern verwendet, unter anderem zum Festhaken an Fixseilen. Moräne: Die Anhäufungen aus riesigen Felsbrocken und Geröll, die sich an den Seiten und am Ende eines Gletschers ablagern. Om mani padme hum: Mantra des tibetischen Buddhismus, übersetzt als: »O Juwel in der Lotusblüte«. 301
Prusikschnüre: Dünne Seilstücke, mit denen Prusikknoten – Klemmknoten – um ein Kletterseil geknüpft werden und die wie der Jümar verwendet werden. Puja: Eine religiöse Zeremonie. Querung: Eine Passage, auf der man eine Fels-, Schnee- oder Eiswand mehr oder weniger horizontal und nicht direkt nach oben hinaufklettert. Seillänge: Die Entfernung zwischen zwei Seilverankerungen (ein in den Schnee geschlagener Aluminiumpflock ist eine Art von Verankerung). Serac: Ein Turm aus Eis; befindet sich für gewöhnlich dort, wo ein Gletscher steiler wird, entweder weil Gletscherspalten aufeinandertreffen oder im Bereich eines Eisbruchs. Sherpa: Ein Bergvolk, das vor etwa 500 Jahren von Tibet nach Nepal auswanderte und sich in der Region Solo Khumbu in der Nähe des Mount Everest ansiedelte. Steigeisen: Ein Gestell aus Stahlspitzen, das über die Sohle eines Kletterstiefels paßt und mit Metallhaken oder Riemen befestigt wird. Wird zum Klettern auf Eis und Schnee verwendet. 302
Tai Chi: Schattenboxen; alte chinesische Bewegungsmeditation. Thamel: Ein hauptsächlich auf Tourismus ausgerichtetes Viertel des Stadtzentrums von Katmandu, der Hauptstadt Nepals. Wächte: Ein oft instabiler Überhang aus Schnee oder Eis, der über die Kante eines Berggrats hinausragt. Whiteout: Ein Wetterphänomen, bei dem die Sicht sehr gering oder gleich null ist. Die Kombination aus Schneefall, Schneedecke und/oder Nebel läßt alle Anhaltspunkte verschwinden, einschließlich des Horizonts, so daß der Bergsteiger die Orientierung verliert.
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Danksagung
Mein Dank gilt allen, die meinen Entschluß unterstützt haben, an der Sagarmatha-Umweltexpedition 1996 teilzunehmen. Im besonderen danke ich meinem Bruder Morten Gammelgaard, der mir stets schützend zur Seite stand, wenn der Druck mal wieder zu stark wurde. Für ihre Geduld danke ich meiner Familie und meinen Freunden. Meinem dänischen Verleger, Stig Andersen, bin ich für seinen Mut sehr dankbar und Ingrid Emerich, Faith Conlon und Jennie Goode von Seal Press für ihre wertvolle Hilfe bei der Veröffentlichung der amerikanischen Ausgabe.
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