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Bassam Tibi Die fundamentalistische Herausforderung Der Islam und die Weltpolitik scanned by AnyBody corrected by Magister Kermit Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben urplötzlich bewußt gemacht, daß der islamische Fundamentalismus auch den Westen in einen „irregulären Krieg" hineinzieht, wie er im Nahen Osten seit langem im Gange ist. Bassam Tibi hat vor dem Hintergrund dieser Ereignisse sein erfolgreiches Standardwerk völlig überarbeitet. Ein „Muß" für alle, die den schwarzen 11. September und die neuen weltpolitischen Konstellationen besser verstehen wollen. ISBN: 3 406 47641 4 2002 Verlag C. H. Beck Umschlagabbildung: Osama bin Laden an einem geheim gehaltenen Ort in Afghanistan, August 1998. Photo: AP/Süddeutscher Verlag - Bilderdienst
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Buch Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben mit einem Schlag bewußt gemacht, daß der islamische Fundamentalismus auch den Westen in einen «irregulären Krieg» hineinzieht, wie er im Nahen Osten seit langem in Gange ist. Bassam Tibi hat vor dem Hintergrund dieser Ereignisse sein erfolgreiches Standardwerk überarbeitet und zwei neue Kapitel zum Schwarzen 11. September und zu seinem weltpolitischen Rahmen eingefügt. Die zentrale These bleibt jedoch unverändert: Der islamische Fundamentalismus versteht sich als Garant für die einzig gültige weltpolitische Ordnung der Zukunft und will dafür 1,5 Milliarden Muslime mobilisieren: Eine Herausforderung, die die Politik der westlichen Staaten tiefgreifend verändern wird.
Autor Bassam Tibi, geb. 1944 in Damaskus, ist seit 1973 Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen und war von 1998 bis 2000 Bosch Visiting Professor an der Harvard University. Forschungsaufenthalte in den meisten arabischen Ländern und Gastprofessuren in den USA, in Asien und Afrika. Zahlreiche Buchveröffentlichungen zum Islam und zum Fundamentalismus. Durch seine Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und seine Fernsehauftritte ist er einem größeren Publikum bekannt geworden. Für seine Verdienste um ein besseres Verständnis des Islam in Deutschland wurde ihm 1995 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verliehen.
Inhalt VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE.................................. 7 EINLEITUNG............................................................................ 15 I. DER ISLAMISCHE FUNDAMENTALISMUS UND DIE WELTORDNUNG: VON SADDAM HUSSEIN ZU OSAMA BIN LADEN ......................................................................... 25 1. Die Neue Weltunordnung............................................. 29 2. Die gescheiterte Neuordnung der Welt nach dem Golfkrieg 1991 und nach den Anschlägen vom 11. September 2001................................................................ 38 II. DER ISLAMISCHE FUNDAMENTALISMUS UND DIE MODERNE: ZWISCHEN ISLAM-REFORM, RELIGIÖSER ORTHODOXIE UND DEM ISLAMISCHEN TRAUM VON DER HALBEN MODERNE................................................. 52 1. Der islamische Fundamentalismus ist eine Realität, kein Medienprodukt ................................................................. 54 2. Islamischer Fundamentalismus als eine rückwärtsorientierte Protestbewegung und die kulturelle Moderne ........................................................................... 59 3. Zwischen Religion und Ideologie: Das politische Wiedererstarken des Islam............................................... 69 4. Die kulturelle Moderne und die europäische Eroberung der Welt ............................................................................ 77 III. DIE REVOLTE DES ISLAMISCHEN FUNDAMENTALISMUS GEGEN DIE WELTORDNUNG: KULTURELLE FRAGMENTATION, KONSENSVERLUST UND MACHTDIFFUSION IN DER WELTPOLITIK........ 85 1. Kulturelle Fragmentation im Kontext der internationalen Diffusion von Macht: Eine weltpolitische Perspektive für das Studium des religiösen Fundamentalismus ........................................................... 90 2. Der islamische Fundamentalismus als eine Spielart der Revolte gegen den Westen................................................ 98
3. Der historische Kontext der politischen Ansprüche des islamischen Fundamentalismus: Religiöse Optionen für eine Entsäkularisierung der Weltordnung ..................... 106 4. Der islamische Gottesstaat als Grundeinheit der anvisierten neuen Weltordnung ..................................... 117 5. Die islamistische Herausforderung: Eine sakrale islamische Weltordnung als Alternative zu globaler Säkularisierung? ............................................................ 125 6. Bewertung und Zukunftsperspektiven: Kulturelle Grundlagen der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Alternativen zum islamischen Fundamentalismus ......... 130 IV. ISLAM, FUNDAMENTALISMUS UND SOUVERÄNE STAATEN: DIE GLEICHZEITIGKEIT VON FUNDAMENTALISTISCHEM UNIVERSALISMUS UND ETHNISCHEM ZERFALL ISLAMISCHER NATIONALSTAATEN...................................................... 142 1. Die Vision einer universellen Umma und die Realität der Stämme..................................................................... 143 2. Stämme und der Staat: Die Probleme, das Konzept und der Rahmen der Untersuchung ...................................... 155 3. Der islamische historische Hintergrund des Konflikts zwischen Staat und Stämmen: Staatenbildung und das Fortbestehen der Stämme............................................... 167 4. Nationalstaaten ohne eine nationale Gemeinschaft: Subgesellschaftliche Spaltungen im Nahen Osten - sind sie tribaler, ethnischer oder sektiererischer Natur? ........... 176 5. Das internationale System der Nationalstaaten und sein nahöstliches Subsystem: Die Krise des Nationalstaates in der arabischen Welt als Kerngebiet der islamischen Zivilisation ..................................................................... 189 6. Schlußfolgerungen ..................................................... 196 V. VON DER FUNDAMENTALISTISCHEN HERAUSFORDERUNG DES SÄKULAREN NATIONALSTAATES ZUM IRREGULÄREN KRIEG DER
ISLAMISTEN GEGEN DIE WESTLICHE ZIVILISATION: BIN LADEN UND DER 11. SEPTEMBER ...................... 202 1. Bin Laden, Bin-Ladismus und der neue Krieg........... 204 2. Die zivilisatorische Dimension des Konfliktes........... 209 3. Dialog, Kulturpluralismus und die Unordnung der Welt ........................................................................................ 218 4. Religion und Globalisierung: Über die Schwierigkeit, zu verstehen ........................................................................ 225 VI. DER FUNDAMENTALISTISCHE MIßBRAUCH DER ISLAM-DIASPORA: WESTEUROPA ALS RUHEZONE232 1. Instrumentalisierung der political correctness und der «Feindbild Islam»-Vorwurf............................................ 233 2. Im Pro und Contra der deutschen Feinde und Freunde des Islam geht der Unterschied zwischen Islam und Islamismus unter ............................................................ 242 3. Deutschland und seine islamischen Fundamentalisten ........................................................................................ 250 4. Die Öffnung für andere Kulturen soll nicht wertebeliebig sein - für den Fundamentalismus gilt sie nicht................................................................................ 255 5. Fundamentalismus in der islamischen Diaspora-Kultur ........................................................................................ 260 6. Demokratische Integration als Politik gegen den Fundamentalismus in der Islam-Diaspora .................... 267 VII. DER ZIVILISATIONSKONFLIKT ALS WETTSTREIT DER MODELLE: FUNDAMENTALISTISCHER SCHARI'A -STAAT VERSUS SÄKULARDEMOKRATISCHER STAAT ....................... 274 1. Der weltanschauliche Konflikt und die Toleranz....... 275 2. Die fundamentalistische Herausforderung: Das «islamische Regierungssystem» und die Anwendung der Schari'a .......................................................................... 278
3. Der fundamentalistische Gottesstaat als eine islamische Ordnung: Islamische Herrschaft gegen säkulare Regime ........................................................................................ 283 4. Was ist ein Nizam siyasi Islami/lslamisches politisches System? Kann es ohne Gewalt durchgesetzt werden? ... 288 5. Der Ruf nach Tatbiq alschari'a/Anwendung des islamischen Rechts ......................................................... 297 VIII. SCHLUßFOLGERUNGEN: ISLAMISCHER FUNDAMENTALISMUS ALS EINE HERAUSFORDERUNG? .................................................. 304 1. Der Niedergang von al-Qaida als Ende des Fundamentalismus? ....................................................... 305 2. Ein Rückblick ............................................................. 309 3. Auf der Suche nach einer Erklärung für den Fundamentalismus ......................................................... 313 4. Der Zeitpunkt: Die Entstehung des islamischen Fundamentalismus und seine geistigen Quellen............ 318 ANMERKUNGEN ............................................................. 326 I. Der islamische Fundamentalismus und die Weltordnung ........................................................................................ 326 II. Der islamische Fundamentalismus und die Moderne 331 III. Die Revolte des islamischen Fundamentalismus gegen die Weltordnung............................................................. 337 IV. Islam, Fundamentalismus und souveräne Staaten ... 348 V. Von der fundamentalistischen Herausforderung des säkularen Nationalstaats zum irregulären Krieg der Islamisten gegen die westliche Zivilisation ................... 356 VI. Der fundamentalistische Mißbrauch der IslamDiaspora ......................................................................... 364 VII. Der Zivilisationskonflikt als Wettstreit der Modelle ........................................................................................ 369 VIII. Schlußfolgerungen ................................................ 375
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE Die fundamentalistische Herausforderung ist älter als der 11. September, wie dieses erstmals 1992 erschienene Buch beweist. Am 11. September war ich in Zentralasien und hielt an der islamischen Universität von Taschkent Vorlesungen u. a. über die sicherheitspolitischen Gefahren des Islamismus. Bei einem Zwischenaufenthalt in Deutschland, auf dem Weg in die USA, rief mich Ulrich Nolte vom Verlag C. H. Beck an, um mir die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß die zweite Auflage meines Buches Die fundamentalistische Herausforderung vergriffen sei - dies galt auch für meine anderen Bücher -, und mir eine veränderte Neuauflage vorzuschlagen. Wir waren uns zunächst einig, daß die Veränderungen am Text in Grenzen bleiben sollten, damit die Neuauflage nicht zu lange auf sich warten ließe. Doch bei näherem Hinsehen hat sich gezeigt, daß dies nicht möglich war. Wie sehr sich die Welt seit dem 11. September geändert hat, wurde mir bewußt, als ich mich Ende September in Harvard an die Überarbeitung des Buches machte. Ich erkannte: Alleine mit Aktualisierungen des Textes könnte ich den Veränderungen seit dem 11. September nicht gerecht werden. Als die Erstausgabe dieses Buches 1992 veröffentlicht wurde, war die fundamentalistische Herausforderung scheinbar auf die islamische Welt beschränkt. Bereits bei Erscheinen der zweiten Auflage 1993 war der Fundamentalismus brutaler geworden - durch die Morde in Algerien, Kaschmir, Ägypten und andernorts. Aber seit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich die Welt grundlegend verändert. Für die vorliegende dritte Auflage mußten daher alle Kapitel neu geschrieben werden. Die beiden in der früheren Ausgabe enthaltenen Fallstudien über Algerien und Zentralasien habe ich herausgenommen. An deren Stelle treten zwei neue Kapitel über -7-
Bin Laden sowie über unterschiedliche Dimensionen des 11. September und dessen Folgen (Kapitel V und VI). Diese Arbeit wurde in Harvard im September/Oktober 2001 begonnen, im November in New York fortgesetzt und Anfang Februar 2002 in Göttingen abgeschlossen. Die zentrale These bleibt unverändert. Im November 2001 hatte ich die Ehre, deutschen, amerikanischen und europäischen Sicherheitsexperten die fundamentalistische Herausforderung, die aus der islamischen Zivilisation im Rahmen der «Revolte gegen den Westen» hervorgeht, bei der Herbsttagung des BKA (mit FBISicherheitsexperten) zu erklären. Dabei habe ich klargemacht, daß kein Weg an einem Dialog mit der islamischen Zivilisation vorbeiführt, daß hierzu jedoch auch die Sicherheitspolitik gehört. Der Anlaß für die veränderte Sicherheitspolitik ist die mörderische Gestalt, die die schon länger bestehende fundamentalistische Herausforderung am 11. September 2001 angenommen hat. An jenem Tag war ich in Taschkent und verfolgte am CNN-Bildschirm die Ereignisse; ich war in der usbekischen Hauptstadt, um unter anderem an der dortigen islamischen Universität Vorlesungen über den Dialog zwischen den Zivilisationen zu halten. Die fundamentalistische Herausforderung hat uns allen vor Augen geführt, wie gewalttätig sie werden kann. An der islamischen Universität von Taschkent hielt ich den Dialog der Zivilisationen deshalb für gefährdet, wenn er nicht Sicherheitsfragen einschließt. Für den zur Diskussion stehenden Gegenstand sowie für meine persönliche Entwicklung sind folgende Fakten von zentraler Bedeutung: Erstens bot dieses Buch die erste Analyse ihrer Art über das Phänomen des religiösen Fundamentalismus in deutscher Sprache, denn diese Studie hat erstmalig im deutschsprachigen Raum über diesen Gegenstand, der von weltpolitischer Relevanz ist, aufgeklärt. Damit war ich in Deutschland der erste, der sich im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Disziplin der -8-
Internationalen Beziehungen mit dem Islam beschäftigte. Mit meinen früheren Arbeiten seit den achtziger Jahren begründete ich so die sozialwissenschaftliche historische Islamologie in Deutschland. Dieses Buch fand 1992 breite Anerkennung, so daß 1993 eine zweite Auflage erforderlich wurde. Außerdem erlangte es internationale Reputation, so daß die University of California Press, die für sieben kalifornische Universitäten zuständig ist (unter anderem für die in Berkeley und Los Angeles), mich zu einem amerikanischen Original-Buch über diese Thematik verpflichtete. Es entstand eine Fortsetzung der Analyse aus dem Jahr 1992, die als Buch unter dem Titel The Challenge of Fundamentalism: Political Islam and the New World Disorder erschien. Dieses gewann hohe Wertschätzung in den USA. Nach der Tragödie vom 11. September 2001 erschien es 2002 in einer «new edition», die die US-amerikanische Diskussion über die Weltlage entscheidend mitprägte. Die deutsche Ausgabe jenes Buches war ebenso erfolgreich; sie erschien unter dem Titel Die neue Weltunordnung. Zweitens leitete dieses Buch einen Wandel meines Schreibstiles ein, das heißt vom Verfassen langweilig geschriebener deutscher akademischer Bücher - sie richten sich an Fachkollegen - zum Publikumsbuch für gebildete, allgemein interessierte Leser. Leider genießen solche Bücher an deutschen Universitäten nur wenig Ansehen. Die Leser meiner deutschen Publikumsbücher sowie deren Aufmerksamkeit, welche ich an der deutschen Universität misse, weiß ich daher sehr zu schätzen. Nicht nur, weil ich an mein Wirken den Anspruch auf Internationalität stelle, sondern auch wegen meines Status an der deutschen Universität, an der ich mich als Ausländer stark diskriminiert fühle, pflege ich seit den neunziger Jahren meine Fachbücher in den USA zu publizieren. Der Vorwurf des journalistischen Stils bei der Abfassung von Publikumsbüchern ist mir zur Genüge bekannt, und ich bedaure, dafür keinen anderen Ausdruck als «begrenzt und engstirnig» zu finden. Es -9-
ist durchaus möglich, fachlich fundiert und tief in eine Thematik einzudringen und dennoch das Ergebnis in einer allgemeinverständlichen Weise zu vermitteln. Mit Fachbüchern, deren Auflage nicht höher als wenige hundert Exemplare ist, läßt sich keine Aufklärungsarbeit betreiben. In diesem Buch will ich mit meiner Analyse des Fundamentalismus aber keine Fachdebatte, sondern Aufklärung betreiben, und dies tue ich, ohne auf wissenschaftliche Standards zu verzichten. Wer über die fundamentalistische Herausforderung schreibt, muß von folgender Sachlage ausgehen: Das religiösweltanschauliche sowie das geschichtliche Verhältnis der Welt des Islam - Muslime nennen diese Dar al-Islam - sowohl zum christlichen Abendland als auch zum säkularen Westen ist weit komplizierter, als es im Rahmen der zwei in Deutschland vorherrschenden Sichtweisen wahrgenommen wird. Vertreter dieser beiden Richtungen sind zum einen Europäer, die von einem historisch bedingten Feindbild Islam vorbelastet sind und die islamische Zivilisation als Bedrohung empfinden. Die andere Sichtweise wird vom entgegengesetzten Extrem, dem deutschen Gutmenschen, vertreten, der trotz seiner Ignoranz fremden Kulturen gegenüber und trotz all seiner Vorurteile nur vermeintlich Gutes gegenüber den Fremden im Sinn hat. Für den sich selbst hassenden deutschen Gutmenschen geht vom Islam und seinen Gläubigen ausschließlich eine Faszination aus. Man kann nur darüber staunen, daß der deutsche Gutmensch in den Muslimen allein Opfer der Europäer sieht. Undifferenziert wird der Andere vom Gutmenschen höher als er selbst bewertet, ganz egal, ob dieser ein gemäßigter oder orthodoxer Muslim oder gar ein Islamist ist. Der Gutmensch sucht das Böse nur bei sich selbst, nicht bei dem Anderen. Doch die Welt ist nicht dichotomisch, das heißt, sie ist nicht in Gut und Böse zweigeteilt. Für Europa war der Islam stets beides: Bedrohung und Faszination. Geschichtlich stellte der von den Muslimen geführte Djihad-10-
Krieg vom 7. bis zum 17. Jahrhundert eine Bedrohung für Europa dar. Dagegen ging von der Vermittlung des Hellenismus in islamischer Gestalt an Europa eine Faszination aus. Der Leser findet eine Beschreibung und Deutung dieser vierzehn Jahrhunderte währenden Geschichte von Bedrohung und Faszination in meinem Buch Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. Die Kenntnis dieser Geschichte erleichtert das Verständnis der zeithistorischen Erscheinung der fundamentalistischen Herausforderung, die in diesem Buch im Mittelpunkt steht. Kurz: Das vorliegende Buch befaßt sich mit dem Aufstieg des Islamismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Unter den unbewältigten Bedingungen der kulturellen und institutionellen Moderne sowie der überwältigenden Globalisierung wird der Islam politisiert und nimmt komplexere Formen an. Diese umfassen gleichermaßen die politisch-religiöse Defensivkultur sowie den Terrorismus. In der neuzeitlichen Beziehung der miteinander wetteifernden Zivilisationen des Islam und des Westens wurden die Muslime zunächst von der europäischen Expansion herausgefordert. Das historische Muster ihrer Interaktion sah folgendermaßen aus: Zwischen dem 7. und 17. Jahrhundert waren es die Muslime, die Europa herausforderten, denn im 7. Jahrhundert begann das klassische muslimische Welteroberungsprojekt des Djihad mit dem Anspruch, das Dar al-Islam auf die gesamte Welt zu erweitern. Dann wendete sich das Blatt durch den Aufstieg des Westens seit dem 16. Jahrhundert, als das islamische DjihadProjekt vom rivalisierenden westlichen Globalisierungsprojekt abgelöst wurde. In der Wahrnehmung der Muslime hat der Westen sie daran gehindert, die Islamisierung der Welt voranzutreiben. Es vollzog sich ein Rollenwechsel insofern, als die Muslime seit dem 18. Jahrhundert von Herausforderern zu den Herausgeforderten wurden. In einem meiner bereits erwähnten Bücher, in Kreuzzug und Djihad, habe ich das -11-
Verhältnis beider Projekte zueinander in dem Zeitraum vom 7. bis zum 20. Jahrhundert veranschaulicht. Darin unterteile ich die Geschichte in acht Epochen; die achte Epoche ist die des NeoDjihad. Diese Epoche, die bis zur Gegenwart reicht, ist der Gegenstand des vorliegenden Buches. Die Deutung der fundamentalistischen Herausforderung als Neo-Djihad deckt sich durchaus mit der Sicht der Islamisten, die sich selbst als Träger des Neo-Djihad verstehen. Dies hat der erste fundamentalistische Aktivist im Islam Hassan al-Banna 1928 verkündet. Die Anschläge in New York und Washington am 11. September 2001 waren ein Akt, der von Bin Laden als NeoDjihad bezeichnet wurde; dahinter steht die Ideologie des Djihadismus, die diesen Terrorismus legitimiert; der historische Beginn ist die Gründung der Muslimbruderschaft 1928. Bin Laden und seine al-Qaida sind Glieder in dieser historischen Kette. Islamisten, oder anders ausgedrückt: islamische Fundamentalisten, wollen die Welt neu ordnen, indem sie diese zunächst entwestlichen; sie sind bestrebt, die westlicheuropäische Globalisierung rückgängig zu machen. Damit ist nicht nur gemeint, die Hegemonie des Westens durch eine Vorherrschaft des Islam abzulösen, sondern auch und vor allem, westliche Normen und Werte durch islamische abzulösen. Also: kein Pluralismus. Islamisten wollen - wie im Bulletin der Diaspora-Islamisten in London angegeben wird - eine «weltweite Herrschaft des Islam» etablieren. Diese Zusammenhänge bilden den Inhalt der fundamentalistischen Herausforderung. Gutmenschen, welche die Augen vor den Drohungen verschließen, können nicht begreifen, was am 11. September 2001 geschehen ist. Für die Islamisten, auch für diejenigen, welche ein Lippenbekenntnis gegen den Terrorismus abgeben, war die Kriegserklärung an die westliche Zivilisation vom 11. September 2001 ein Neo-Djihad, eine zivilisatorische Herausforderung an den Westen. -12-
Vor dem 11. September 2001 bin ich wegen meiner Forschung über diesen Gegenstand von deutschen Gutmenschen und gleichermaßen von Diaspora-Islamisten, die Iham/Täuschung gegenüber den «Ungläubigen» betreiben, massiv und regelmäßig diffamiert worden. Deutsche Gutmenschen können sich nicht vorstellen, daß es Rechtsradikale unter den Fremden gibt; sie waren daher nicht in der Lage, die Islamisten politisch einzuordnen. Als liberaler, dem aufrichtigen Dialog verpflichteter Muslim, der aus einer der ältesten Kadi-, Mufti- und Notabelnfamilien - Banu al-Tibi der Stadt Damaskus stammt, mußte ich lange mit dem Vorwurf leben, «Angst vor dem Islam» zu schüren. Dabei weiß jeder, der mehr als die Titel meiner Bücher gelesen hat, wie streng und scharf ich zwischen dem Islam - als Religion sowie als kulturellem System - und dem Islamismus, der eine totalitäre politische Ideologie ist, unterscheide. In diesem Zusammenhang habe ich die Formel geprägt: Toleranz dem Islam, wehrhafte Demokratie dem Islamismus. Es bedurfte des 11. September, um diese Unterscheidung sowie meine Arbeit verständlich zu machen. Trotz allem bleiben Ewiggestrige auf der Szene, die niemals verstehen. Ich schließe diese Vorrede in New York ab, wo ich als Muslim führenden amerikanischen CEOs (das sind Topleute aus der Wirtschaft) den 11. September erkläre. Auf die fundamentalistische Herausforderung müssen wir mit einer Doppelstrategie reagieren: Sicherheitspolitik, aber auch Dialog. Anders formuliert: Wir sollten die westliche Zivilisation gegen die zivilisatorische Herausforderung des Fundamentalismus verteidigen, ohne den Islam anzufeinden. Eine Friedenspolitik kann man aber nur mit dialogfähigen und willigen Menschen betreiben. Bisher schlug ich einen Werte-Dialog mit Vertretern des offenen Islam vor, der zugleich einen Beitrag zum Konfliktmanagement leisten sollte. Die schrecklichen Geschehnisse am 11. September 2001 haben mich veranlaßt, -13-
zusätzlich zu dem Werte-Dialog als Mittel der Konfliktbewältigung auch einen Dialog über Sicherheitspolitik anzustreben. Seit die fundamentalistische Herausforderung am 11. September 2001 eine militärische Form angenommen hat, sehe ich mich veranlaßt, sicherheitspolitische Aspekte in meinem Denken stärker als bisher zu berücksichtigen. Politisch benötigen wir eine tatkräftige Abwehr des Terrorismus, nicht bloße Lippenbekenntnisse. Terroristen kann man nicht mit Werten, sondern nur sicherheitspolitisch wirksam bekämpfen. In diesem Buch zeige ich, daß die bisherige Duldung des Fundamentalismus im Westen im Namen multikultureller Toleranz Mitschuld an der Tragödie von New York und Washington am 11. September 2001 hat. Ich danke Ulrich Nolte vom Verlag C. H. Beck für die Anregung zu dieser Neuausgabe. Ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Mitarbeiter an der Abteilung für Internationale Beziehungen der Universität Göttingen, zuvorderst Elisabeth Luft, wäre dies nicht möglich gewesen. Neben dem Beistand von Elisabeth Luft hat mir mein wissenschaftliches Team mit Vera Weidemann, Anja Zückmantel und Torsten Michel zur Seite gestanden. Besonders Vera Weidemann hat mir geholfen, alle Texte der Neufassung zu redigieren. Dankbar bin ich auch Jost Esser, der mir viele Anregungen für die Neufassung des abschließenden Kapitels gab und auch die Schlußfassung kritisch las. Zu einer Neufassung gehört natürlich auch, daß alle Anmerkungen auf den neuesten Stand gebracht wurden. Der Anspruch dieser Neuausgabe ist es, über die fundamentalistische Herausforderung im Lichte des 11. September aufzuklären. Bassam Tibi Harvard University, Center for European Studies, September/ Oktober sowie Anfang November 2001 New York, aktualisiert in Göttingen Ende Februar 2002 -14-
EINLEITUNG Die in Deutschland seit den tragischen Ereignissen des 11. September 2001 weitverbreitete Deutung der Terrorhandlungen eines global vernetzten islamischen Fundamentalismus leidet an Unkenntnis. Wer weder über den Islam noch über dessen Politisierung mit dem Resultat eines religiösen Fundamentalismus Bescheid weiß, der ist auch nicht in der Lage, die Handlungen der Islamisten zu verstehen. Mohammed Atta und die von ihm angeführten achtzehn anderen Islamisten zerstörten die beiden Türme des World Trade Centers in New York sowie Teile des Pentagons in Washington weder - wie Antiglobalisten vermuten - in einer antikapitalistischen Reaktion auf die angeblich von den USA ausgehende Globalisierung, die übrigens auf die klassische europäische Expansion zurückgeht, noch vorrangig aus religiösem Wahn, wie etwa Der Spiegel behauptet. Bin Laden beanstandet die westlich geprägte Weltordnung und will an deren Stelle eine islamische Ordnung als Pax Islamica etablieren. Hierin besteht die Herausforderung, und diese hat ihre eigene Rationalität. Die anvisierte neue Ordnung für die Welt im dritten Millennium ist eine Gottesherrschaft. Die Ideologie des Islamismus bietet Visionen für eine entwestlichte Welt, in der das Dar al-Islam/Haus des Islam auf den gesamten Globus erweitert wird. Der Fundamentalismus ist kein Antiglobalismus, sondern eine religiöse Erscheinung, die in allen Weltreligionen vorkommt und damit nicht auf die Welt des Islam beschränkt ist. Doch bietet der Islamismus als die islamische Spielart des Fundamentalismus weit mehr Stoff für die Analyse von Konfliktpotentialen als irgendeine andere fundamentalistische Strömung. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, deren wichtigster die Tatsache ist, daß der islamische Fundamentalismus die einzige weltpolitisch relevante Form einer politisierten Religion darstellt. Aus diesem Grund spreche ich von einer Herausforderung, die der Islamismus an die -15-
Weltpolitik stellt. Im Gegensatz zu anderen Religionen ist der Islam eine Religion, die universelle Ansprüche stellt, das heißt, sie beansprucht Weltgeltung. Dennoch finden wir in keiner der autoritativen islamischen Quellen das Konzept einer Weltordnung. Dieses bietet der islamische Fundamentalismus durch eine Neuschöpfung, mit der er sein neo-islamisches Konzept der Gottesherrschft/Hakimiyyat Allah als Grundlage für ein Herrschaftsmodell für die ganze Welt ins Leben ruft. Bin Laden hat dies am 7. Oktober, wie sein geistiger Vater Qutb ein halbes Jahrhundert zuvor, verkündet. Es ist sehr wichtig, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, wenn wir von der fundamentalistischen Herausforderung sprechen. Die empfohlene Differenzierung zwingt uns, den Unterschied zu erläutern. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Ist es korrekt, den Islamismus als islamische Spielart des religiösen Fundamentalismus zu bezeichnen? Oder stimmt es, daß es im Islam keinen Fundamentalismus gibt, weil dies ein ausschließlich christliches Phänomen ist? Wir hören diese Demagogie leider nicht nur von islamischen Fundamentalisten, sondern auch von einer Reihe westlicher Autoren, die vom Extrem der Islamophobie zum entgegengesetzten Extrem der Islamophilie übergehen. Um den klassischen islamischen Universalismus und dessen Interpretation durch die Islamisten unserer Gegenwart als Internationalismus angemessen verstehen zu können, müssen wir auf die Geschichte zurückblicken. Der Islam verdankte seine Verbreitung in den ersten zwei Jahrhunderten nach der islamischen Religionsstiftung der Tatsache, daß Muslime die damit verbundenen Eroberungskriege als Futuhat/Öffnungen (das heißt Öffnung der Welt für den Islam), also als Djihad betrieben haben. Christen und Europäer übersetzen das Wort Djihad mit Gewaltanwendung und Krieg, also ähnlich wie heutige Islamisten dies gemäß ihrem Verständnis vom Djihadismus tun, wobei es sich bei ihnen jedoch um einen Neo-16-
Djihad handelt. Es ist aber generell falsch, Djihad mit «heiliger Krieg» zu übersetzen, weil der Begriff laut Koran «Anstrengung» (nicht Gewaltanwendung) bedeutet. Redlicherweise muß ich einräumen, daß Djihad nicht pazifistisch ist, da er in der konkreten Umsetzung oft Gewaltanwendung einschließt. Seit Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gründete, verstehen Fundamentalisten unter Djihad jedoch ausschließlich den gewaltsamen Kampf als Instrument für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele; sie legitimieren ihre Gewaltanwendung islamisch. Islamismus, Terror und Gewalt gehen daher bei der Einführung der «Gottesherrschaft» Hand in Hand. Am 11. September 2001 haben diese offensichtlicher als bisher auf der Ebene der Weltpolitik die Gestalt einer Herausforderung angenommen. Wie die Fundamentalisten anderer Schriftreligionen lehnen auch die Islamisten die Trennung zwischen Religion und Politik sowie die kulturelle Moderne, die diese Trennung bewirkte, vehement ab. Die Gottesherrschaft soll gleichermaßen durch Gewalt und durch Desäkularisierung verwirklicht werden. Die Politisierung der Religion und der Protest der Fundamentalisten gegen die Moderne tritt in der Welt des Islam besonders deutlich zutage. Der Islamismus ist gegen die Säkularität als eine aus dem Westen eingeführte Lebensform und auch gegen säkulare Ordnungsvorstellungen allgemein gerichtet. Entsäkularisierung beinhaltet also die Ablehnung alles Westlichen, das heißt das Bestreben nach einer Entwestlichung der Welt. Der Antiamerikanismus der Islamisten ist die neue Gestalt dieser gegen den Westen gerichteten Ideologie. Der Gegenentwurf der Fundamentalisten zu den säkularen Ordnungen auf nationaler und internationaler Ebene basiert auf ihrer Vorstellung von einem Gottesstaat. Das Konzept der Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft ist eine Erfindung der Islamisten und kommt im Koran nicht vor. Erweitert man dieses Konzept auf die gesamte Welt, dann würde nach islamistischer -17-
Vorstellung eine Pax Islamica entstehen. Diejenigen, die behaupten, daß der politische Islam kein Fundamentalismus sei, verweise ich auf die arabische Sprache. Der Begriff Usuliyya/Fundamentalismus ist ein in den Schlagzeilen der arabischen Presse tagtäglich anzutreffender Begriff. Andere Termini zur Bezeichnung des Phänomens im Nahen Osten sind alhlam alsiyasi/der politische Islam oder alhlamawiyya/Islamismus: die Franzosen sprechen von intégrisme. All diese Begriffe dienen dazu, die Ideologie des Islamismus vom Islam als Religion und kulturellem System zu unterscheiden. Der Islam und seine Zivilisation sind vierzehn Jahrhunderte alt, der islamische Fundamentalismus als Massenphänomen hingegen stellt eine Erscheinung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Manche Beobachter behaupten, der Fundamentalismus sei eine vorübergehende Erscheinung; andere sprechen gar vom «déclin de l'Islamisme» (Kepel). Im Gegensatz dazu argumentiere ich in diesem Buch, daß der Fundamentalismus uns bis weit in das 21. Jahrhundert hinein begleiten wird. Das im Mittelpunkt dieses Buches stehende Phänomen ist nicht einheitlich. In der Mittelmeerregion beispielsweise unterscheidet sich der algerische Fundamentalismus erheblich vom türkischen, selbst innerhalb eines Landes gibt es Differenzen. In Algerien etwa sind die FIS-(Front Islamique du Salut)Fundamentalisten nicht gleichzusetzen mit den Terroristen der GIA (Groupe Islamiste Armée). Diese Differenzierung führt uns zu der Erörterung des Verhältnisses der Fundamentalisten zur Demokratie und zur Gewalt. Im Prinzip befürworten alle Islamisten die Gewaltanwendung, denn ihre Gewalt erfolgt «in the mind of God». Doch neigen die Vertreter einiger Richtungen des Fundamentalismus zunächst zur Anpassung und hoffen auf Langzeitwirkung in den Institutionen. Insgesamt verhält sich der Islamismus zur Demokratie allerdings wie Feuer zu Wasser. Die Gottesherrschaft erkennt nur einen Souverän, nämlich Allah, an -18-
und schließt somit die Volkssouveränität, die Grundlage einer Demokratie ist, aus. Der islamische Fundamentalismus betrifft Europa nicht nur wegen seines Internationalismus und wegen der universellen Ansprüche des Islam. Lange vor dem 11. September 2001 habe ich über die Tatsache aufgeklärt, daß die logistischen Basen des islamischen Fundamentalismus in der europäischen IslamDiaspora zu finden sind. Arabische Regierungen, vor allem die ägyptische, werfen den westlichen Staaten Doppelmoral vor, wenn sie den Fundamentalismus verdammen, gleichzeitig aber Islamisten und ihren Führern Asyl gewähren. Die «Islamische Internationale», die im «Internationalen Kampfbund gegen Kreuzzügler und Juden» organisiert ist, hat ihre Zentrale laut Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes in Europa. Dennoch können wir bei dieser nicht von einer effizienten Weltzentrale des islamischen Fundamentalismus sprechen. Grund dafür ist, daß die Islamisten untereinander stark zerstritten sind und ihrer eigenen Intoleranz zum Opfer fallen. Algerien, Afghanistan und Ägypten bieten die besten Beispiele dafür. Besonders in Algerien fällt auf, daß Fundamentalisten ihren Kampf gegen «die Feinde Gottes», also gegen den Westen und seine islamischen Verbündeten, proklamieren. Da sie diese nicht erreichen, sind die meisten der von ihnen ermordeten Frauen und Kinder ihrer muslimischen Gegner. Um dies religiös zu legitimieren, erklären sie ihre Opfer zuvor zu Kuffar/Ungläubigen. Die Intoleranz der Fundamentalisten trifft allerdings nicht nur ihre Gegner, sondern sie lähmt ihre eigene Bewegung. Der Hinweis auf die Schwäche der Fundamentalisten soll jedoch keine Entwarnung für den Westen bedeuten. Die Fundamentalisten sind zwar bisher meist nicht in der Lage, die Macht in ihren Ländern zu erobern, sie stellen aber einen erheblichen Destabilisierungsfaktor in der Weltpolitik dar. Als Waffe, um dieses zu erreichen, diente ihnen der irreguläre Krieg -19-
gegen den Westen. Ein Beispiel hierfür bieten die tragischen Ereignisse in New York und Washington am 11. September 2001. Wir im Westen müssen diese verfahrene Situation besser verstehen, ehe wir eine Politik zur Bekämpfung der Fundamentalisten entfalten können. Das ist die Basis für eine Sicherheitspolitik, die eine Doppelstrategie beinhaltet: Dialog mit dem liberalen Islam und Bekämpfung des islamischen Fundamentalismus. Der Fokus des vorliegenden Buches liegt auf der Weltpolitik, aber angesichts der Versuche der Islamisten, die Islam-Diaspora im Westen für sich zu vereinnahmen, ist das Phänomen des Islamismus auch für diejenigen von Bedeutung, die an der Problematik der Migration aus der Welt des Islam interessiert sind. Islamisten dient das Konzept der Gottesherrschaft auch als ein Instrument, die Integration islamischer Einwanderer in säkulare Demokratien zu verhindern. Die Tatsache, daß die deutsche Islam-Diaspora als logistische und personelle Basis für die Kriegserklärung vom 11. September 2001 diente, zwingt dazu, auch diese Dimension der fundamentalistischen Herausforderung ernst zu nehmen. Ehe ich mich in den für diese Neuausgabe geschriebenen Kapiteln dieser Problematik zuwende, bleibe ich bei den weltpolitischen Entwicklungen der Jahre 1989 bis 1992, die nach Auffassung vieler Experten für internationale Politik zu den entscheidenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts gehören. In jenem Zeitraum besaß ich das Privileg, für ein volles Jahr von allen Verpflichtungen an der Georg-August-Universität zu Göttingen entbunden zu sein (März 1991 bis April 1992), um am Center for International Affairs der Harvard University sowie im Nahen Osten an der ersten Fassung dieses Buches zu arbeiten. Zu den wichtigsten Veränderungen der weltpolitischen Umbruchsituation in den Jahren 1989 bis 1992 gehören drei Schlüsselereignisse: 1. der Zusammenbruch des Kommunismus -20-
und das damit verbundene Ende des Ost-West-Konflikts, 2. der internationale Golfkrieg und 3. die Revolte des Fundamentalismus gegen die bestehende Weltordnung der Nationalstaaten sowie des noch universell gültigen, in seinen Normen ursprünglich europäischen Völkerrechts. Vor diesem Hintergrund beanspruchte Bin Laden für sich, die Sowjetunion zum Zusammenbruch gebracht zu haben, und dies will er heute mit den USA wiederholen. Der Kollaps des Kommunismus wurde durch die Niederlage gegen die islamischen Mudjahidin beschleunigt und hatte zu einer atemberaubenden weltpolitischen Entwicklung geführt, bei welcher der Fundamentalismus deshalb im Mittelpunkt steht, weil er als einzige Thematik die angeführten drei Ereignisse miteinander verbindet und zugleich die tagespolitische Aktualität bei weitem überlebt hat. Der Fundamentalismus ist kein tagespolitisches Ereignis, sondern ein sich stets verstärkender Trend, der uns im 21. Jahrhundert weiterhin begleitet. Zunächst fällt bei der postbipolaren Entwicklung in der Weltpolitik auf, daß der Einflußbereich des Islam durch den Zusammenbruch des Weltkommunismus und nach der Auflösung der Sowjetunion größer geworden ist. Die sechs ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien und in Transkaukasien sind in die Welt des Islam eingebunden. Zum anderen wurde der Golfkrieg, dessen ordnungspolitische Auswirkungen globale Ausmaße annahmen, von den Muslimen als ein gegen sie geführter «Kreuzzug» gedeutet, so daß parallel zu der US-amerikanischen vagen Zauberformel von der «Neuen Weltordnung/New World Order» die von der Welt des Islam ausgehende konkurrierende Formel einer vom Islam getragenen politischen Alternative die Weltbühne betritt. Der Weltkommunismus gehört nun der Vergangenheit an. Doch auf den internationalen Golfkrieg mit seinem bitteren Nachgeschmack folgten weitere regionale Kriege in Bosnien, Tschetschenien und im Kosovo sowie irreguläre Kriege in Palästina und Kaschmir, bei denen der -21-
Islam nicht als Religion, sondern als politische Ideologie eine zentrale Rolle spielte und damit dem Fundamentalismus Ausdruck verlieh. Im Titel dieses Buches wird der Fundamentalismus als eine weltpolitische Herausforderung bezeichnet. In diesem Zusammenhang stelle ich fest, daß Religion eine duale Funktion hat: Sie bleibt religiöser Glaube und erfüllt zusätzlich eine politische Aufgabe. Dies wird nicht immer verstanden. So hat H.-J. Fischer in einem Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. März 1992 falsch behauptet, daß Fundamentalismus «die Gegenwehr... gegen die Verdrängung der Religion» oder, wie er an anderer Stelle seines Artikels schreibt, die «Renaissance des Religiösen» sei. Dagegen zeige ich in diesem Buch, daß der Fundamentalismus trotz seiner religiösen Untermauerung eine politische Ideologie ist. Religiosität oder eine Zunahme derselben im öffentlichen Leben ist noch kein Fundamentalismus, und der islamische Fundamentalismus ist nicht mit dem Islam gleichzusetzen. Ein Fundamentalist ist kein homo religiosus, sondern ein politischer Ideologe und ein Aktivist, der durch den Rückgriff auf das Religiöse Millionen von verzweifelten Menschen in einer desperaten Situation mobilisieren kann. Dies bedeutet allerdings nicht, daß ein Fundamentalist ein Zyniker ist, der politische Ansprüche religiös verkleidet; er ist ein Gläubiger und hält seine Anschauung für den einzig wahren Glauben. Kurz: Die Terroristen vom 11. September waren gläubige Muslime. In diesem Buch steht die Problematik der Weltordnung im Vordergrund, die ich im Lichte der Bemühungen um eine Neuordnung des Nahen Ostens nach dem Golfkrieg sowie in bezug auf den dagegen gerichteten fundamentalistischen Aufruhr auf einer allgemeinen Ebene erläutere. Dabei ordne ich den Fundamentalismus als eine weltpolitische Revolte gegen den Westen in diesen Kontext ein. Der Nahe Osten sowie die gesamte Welt des Islam sind völkerrechtlich in die -22-
internationale Ordnung integriert, seit sich die ehemaligen osmanischen Provinzen zu Nationalstaaten, das heißt zu souveränen Subjekten der Weltpolitik formiert haben. Der Nationalstaat ist aber in der Welt des Islam ein künstliches Gebilde, dem das erforderliche Substrat fehlt. Aus diesem Grund wird in dem vorliegenden Buch die Krise der Nationalstaaten im Nahen Osten und der sie begleitende Zerfall der von außen herangetragenen Institution des Nationalstaates untersucht. Daß diese Analyse in einem Buch über die fundamentalistische Herausforderung plaziert wird, hängt mit der Tatsache zusammen, daß der islamische Fundamentalismus auf lokaler Ebene aus der Krise des Nationalstaates in jener Region hervorgegangen ist. Zum Schluß dieser Einleitung möchte ich eine frühere Studie von mir über den Fundamentalismus anführen, in der ich die «halbe Moderne» islamischer Fundamentalisten erläutere; sie ist unter dem Titel Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie veröffentlicht worden. In dem vorliegenden Buch und in der soeben angeführten Studie verfahre ich arbeitsteilig. Der Fundamentalismus richtet sich gegen die Säkularisierung unserer Welt und will diese entsäkularisieren. In meinem Buch Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie befasse ich mich mit dem fundamentalistischen Programm der Entsäkularisierung des Wissens. Dagegen stehen in dem vorliegenden Buch der fundamentalistische Entwurf einer Entsäkularisierung der Weltpolitik und der Glaube an eine islamische Weltordnung im Mittelpunkt. Die erwähnte Studie erklärt das Verhältnis islamischer Fundamentalisten zu Wissenschaft und Technologie, welche die Islamisten in den Dienst ihrer religiös-politischen Ideologie stellen, wie sie es am 11. September 2001 auf grausame Weise der Weltöffentlichkeit veranschaulichten. Die Täter waren Studenten technischer und naturwissenschaftlicher Fächer, die in der Lage waren, moderne, -23-
hochkomplexe Flugzeuge zu steuern, und dennoch die kulturelle Moderne, das heißt den Primat der Vernunft gegenüber religiöser Offenbarung, ablehnten. Wird diese halbe Moderne eine Zukunft haben? Das vorliegende Buch über die fundamentalistische Herausforderung will eine Antwort auf diese Frage geben.
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I. DER ISLAMISCHE FUNDAMENTALISMUS UND DIE WELTORDNUNG: VON SADDAM HUSSEIN ZU OSAMA BIN LADEN Die bestehende Weltordnung basiert auf einer universellen Weltanschauung, die von einer Interaktion der existierenden Staaten auf der Basis der Anerkennung des Ordnungsprinzips der Souveränität ausgeht.1 Die allgemein akzeptierte Geltung dieser Weltanschauung führt dazu, daß Staaten gegenseitig ihre reale oder konstruierte Souveränität anerkennen. Diese Ordnung geht geschichtlich auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück und besonders auf die Französische Revolution und die ihr zugrundeliegende Idee der Volkssouveränität, die der Souveränität der Staaten an die Seite trat. Die Europäer übertrugen das nationalstaatliche Muster auf die gesamte Welt,2 und damit ist die heutige Weltordnung das Ergebnis dieser vom Westen ausgehenden historischen Entwicklung.3 Diese Ordnung ist seit dem Ende der Bipolarität und des Ost-West-Konflikts sowie durch die Krise vieler Staaten im Zerfall begriffen.4 Aus dieser Situation ist der islamische Fundamentalismus hervorgegangen; er fordert die bestehende Weltordnung heraus und beansprucht, sie durch eine islamische zu ersetzen. Die Ideologie hierfür finden wir in den Schriften des geistigen Vaters des islamischen Fundamentalismus Sayyid Qutb.5 Weltpolitisch sind diese antiwestliche Ideologie und ihr Anspruch zweimal ins Rampenlicht geraten: während und nach dem Golfkrieg von 1991 sowie im Rahmen der Kriegserklärung an den Westen durch irreguläre islamische Djihad-Kämpfer am 11. September 2001. Vor dem 11. September 2001 hat die Welt den globalen Charakter der islamischen Herausforderung nicht ernst -25-
genommen; der Westen betrachtete sie als innere Angelegenheit islamischer Staaten. Der islamische Fundamentalismus kann ohne Rückgriff auf seine internationale Umwelt nicht angemessen begriffen werden; er versteht sich als eine Revolte gegen die bestehende Vorherrschaft des Westens, die durch die von ihm geprägte Weltordnung zum Ausdruck kommt. Den Fundamentalisten geht es einmal darum, die lokale Ordnung des säkularen Nationalstaates zu zerstören, um den auf dem islamischen Gesetz/Schari'a basierenden Gottesstaat aufzubauen. Dann geht es ihnen um die Weltordnung, die nach dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit organisiert ist. Um die Deutung des islamischen Fundamentalismus als eine Revolte gegen ebendiese Ordnung auf einer gesicherten Basis darzustellen, stellt sich die Frage, was die Weltordnung ist und welche Wandlungen in ihr vor sich gehen. Daher steht im ersten Kapitel die Problematik der Weltordnung im Mittelpunkt. Ich gehe dabei nicht begrifflich, sondern historisch vor und konzentriere mich auf zwei zeitgeschichtliche Eckdaten, den Golfkrieg von 1991 und den 11. September 2001. Den Hintergrund für die Erosion der Weltordnung bilden der Niedergang des Kommunismus in Osteuropa und die anschließende Desintegration der Sowjetunion, die in dem Zerfall dieses Imperiums gipfelte. Daraufhin löste sich die alte bipolare Ordnung der Welt, das heißt jene, die von den beiden Supermächten USA und Sowjetunion als den zwei dominierenden Polen der Weltpolitik getragen wurde, auf. Parallel zu dieser Beendigung des Kalten Krieges6 und der weltpolitischen Epoche der Bipolarität fand die Golfkrise statt, die durch die irakische Invasion in Kuwait eingeleitet wurde und sich durch ihre Internationalisierung zu einer Weltkrise entwickelte. Unbeschadet vom Ende der Bipolarität bleibt weiterhin eine Weltordnung bestehen, die auf der Souveränität von Nationalstaaten basiert. Auch das Erscheinen irregulärer, nichtstaatlicher Akteure wie al-Qaida Bin Ladens ändert daran -26-
nichts. Als ein Strukturmerkmal dieser noch bestehenden Weltordnung gilt die eingangs angeführte gegenseitige Anerkennung der existierenden Staaten als Nationalstaaten, das heißt als politische Gebilde, die jeweils nach innen und nach außen über Souveränität verfügen.7 Der Fundamentalismus ist eine neue Weltanschauung, die allen Grundlagen der auf den gesamten Globus übertragenen Westfälischen Ordnung widerspricht und daher für diese eine Herausforderung bedeutet. Die irakische Invasion in Kuwait verstieß gegen das Prinzip der externen Souveränität.8 Der irakische Diktator Saddam Hussein ist kein islamischer Fundamentalist, jedoch bediente er sich der Ideologie der fundamentalistischen Herausforderung, um diese Invasion mit dem Hinweis darauf zu legitimieren, daß alle Grenzen im Nahen Osten das Ergebnis der kolonialen Durchdringung und der anschließenden Grenzziehung in der Region seien. Zwar zog er ideologische Formeln des Panarabismus heran, um die Invasion als einen Akt der panarabischen Vereinigung von Irak und Kuwait darzustellen, aber vorrangig verlebendigte er in seinen rhetorisch geschickten Reden und Dekreten die islamische Formel der Politik und begriff seine Vision von einem von Bagdad aus beherrschten Nahen Osten9 als eine Neugeburt des islamischen Kalifenreiches von Bagdad (750 bis 1258). Saddam Hussein, der zuvor als entschiedener Gegner des Islamismus von Khomeini galt, avancierte nun während der Golfkrise 1990/91 zu einem Sprachrohr des weit über den Nahen Osten hinaus verbreiteten islamischen Fundamentalismus. Während des Golfkrieges haben islamische Fundamentalisten dazu aufgerufen, Saddam zum Kalifen aller Muslime zu erklären. Die in diesem Kontext stehende islamische Herausforderung der bestehenden Weltordnung galt als eine Herausforderung an den Westen, denn sie erhebt den Anspruch, die alte Weltordnung westlicher Prägung durch eine islamische Ordnung/Nizam Islami zu ersetzen. -27-
Weltpolitisch und wirtschaftlich halte ich die Kriegserklärung der Islamisten vom 11. September 2001 für weit gravierender als die Besetzung Kuwaits durch die Truppen Saddam Husseins am 2. August 1990. Im Gegensatz zu Saddam Hussein ist Osama Bin Laden kein Staatschef, darüber hinaus ist er ein Islamist, also ein irregulärer Krieger, der dem Westen am 7. Oktober 2001 formal den Djihad-Krieg erklärte, nachdem seine Anhänger diesen am 11. September 2001 begonnen hatten. Auch Saddam Hussein hatte im September 1990 zum Djihad aufgerufen, was jedoch wenig authentisch war. Bin Laden tritt hingegen mit zweifacher islamistischer Legitimität auf, der des Neo-Djihad-Kämpfers und der des Untergrund-Imams.10
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1. Die Neue Weltunordnung Unmittelbar nach dem Ende des Golfkrieges hat der damalige amerikanische Präsident Bush sen. seinen Anspruch auf die Schaffung einer neuen Weltordnung angemeldet, nachdem er bereits im September 1990 die Formel von der New World Order/Neuen Weltordnung11 geprägt hatte. In einer HarvardVorlesung griff ich den von ihm gestellten Anspruch an, woraufhin die Harvard-Zeitung schrieb: «Prof. Tibi blasts Bush's ‹New World Order›/Prof. Tibi greift Bushs ‹Neue Weltordnung› an».12 Mein Argument war, daß Präsident Bush sen. zwar eine neue Ordnung verspreche, sich in Wirklichkeit aber disorder/Unordnung in der Weltpolitik abzeichnet. Sein Sohn, der neue Präsident Bush, stellte allerdings nach dem 11. September 2001 richtig fest: «We are beading to a new world disorder/Wir steuern auf eine neue Weltunordnung zu.»13 Die Verheißung einer neuen Weltordnung sollte auf einer regionalen Neuordnung des konflikt- und kriegsgeplagten Nahen Ostens basieren. Dieser Anspruch konkurrierte jedoch mit der Vorstellung der islamischen Fundamentalisten von einer neuen Weltordnung, auch wenn die USA als die unipolare, das heißt die einzig verbliebene Supermacht eher ihre Vorstellung einer Weltordnung durchsetzen können. Oberflächliche Beobachter der Weltpolitik und der Region des Nahen Ostens glauben, daß dieser Konkurrenzkampf bereits nach der vernichtenden militärischen Niederlage des irakischen Diktators Saddam Hussein entschieden wurde. Dabei wird übersehen, daß Saddam Hussein die Formel einer islamischen Weltordnung, deren Instrumentalisierung ihm in seiner Realpolitik opportun erschien, nicht erfunden hat; sie existierte lange vor ihm. Eingangs habe ich bereits angeführt, daß der geistige Vater des islamischen Fundamentalismus, der 1966 hingerichtete Ägypter Sayyid Qutb, lange vor Saddam Hussein aus dem politischen Islam die Vorstellung einer vom Islam getragenen Weltordnung -29-
entwickelte, um die westlich dominierte Weltordnung herauszufordern. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß Bin Laden in seiner Djihad-Rede die Worte Sayyid Qutbs als die eigenen ausgibt: «Es handelt sich um einen Krieg zwischen Glauben/Iman und internationalem Unglauben/al-Kufr 14 alalami.» Jenseits der amerikanischen Formel von der New World Order sowie der Rhetorik von der islamischen Ordnung/Nizam Islami, die während des Golfkrieges verlebendigt wurde, muß der Experte für Weltpolitik die Konsequenzen der Globalisierung15 in unserer Welt wahrnehmen. Dies schließt das Erkennen der Notwendigkeit international anerkannter Normen und Werte sowie Prozeduren der Konfliktaustragung ein, die als Prinzipien der politischen Struktur einer friedlichen Weltordnung zugrunde liegen müssen. Zu Beginn des Kapitels habe ich als erste Weltordnung in der Geschichte der Menschheit jene europäische Ordnung angegeben, die nach dem Westfälischen Frieden 1648 entstand. Nach der Französischen Revolution sowie der Europäisierung ihrer Prinzipien verwandelten sich die souveränen europäischen Staaten in Nationalstaaten. Die europäische Eroberung der Welt und die sie begleitende Kolonisierung16 waren die Vorstufe zur Globalisierung dieser Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Phase der Entkolonisierung zu einer Weltordnung wurde. Aus den vorangegangenen Ausführungen geht hervor, daß der Vorwurf der islamischen Fundamentalisten, die bestehende Weltordnung sei westlich dominiert, keine bloße Polemik ist. Vielmehr bezieht sich diese Kritik auf Fakten, die auch von den Gegnern des islamischen Fundamentalismus anerkannt werden. Die Frage, welche sich nun stellt, ist nicht, ob die bestehende Weltordnung auch nach dem Ende der Bipolarität weiterhin westlich dominiert bleiben oder, wie es islamische Fundamentalisten anstreben, durch eine islamische Ordnung ersetzt werden soll. Die Frage ist eher, ob wir eine Weltordnung -30-
gestalten können, die auch der Tatsache Rechnung trägt, daß die Welt größer als der Kulturkreis der westlichen Zivilisation ist. In diesem Buch wird argumentiert, daß weder die Formel der New World Order des früheren amerikanischen Präsidenten Bush noch die der fundamentalistischen Muslime einer Nizam Islami/Islamischen Ordnung tragbare Alternativen bieten. Beide Formeln beinhalten insofern nur Konfliktpotential, als in der Welt weder für eine Pax Americana noch für eine Pax Islamica eine Mehrheit gefunden werden kann und dies auch nicht wünschenswert wäre. Unsere Welt ist vielfältig, und es kommt deshalb darauf an, diese Vielfalt durch eine an der Aufklärung orientierte pluralistische internationale Moralität zu untermauern, die allerdings auch Einheit in begrenzten Bereichen zuläßt, weil die Relativierung aller kulturellen Normen keine Alternative zum Universalismus bieten kann. Zu diesen konsensuellen Bereichen gehört der Komplex der Normen, Werte und Prozeduren, die für eine friedliche Weltordnung auf der Basis eines normierten und regulierten Umgangs der vorhandenen Nationalstaaten untereinander sorgen können. Kein Weltfriede ist ohne die auf der Grundlage universell geteilter Normen des Völkerrechts basierende gegenseitige Anerkennung der Nationalstaaten unserer Welt - trotz ihrer kulturellen Vielfalt - möglich. Genauer gesagt: es ist nötig, zwischen Universalität und Universalismus zu unterscheiden. Die Forderung nach einer gegenseitigen Anerkennung auf der Basis von Normen, Werten und Prozeduren, die von allen Staaten akzeptiert werden, ist eine nach der Akzeptanz von Universalität. Demokratie, Menschenrechte und nationalstaatliche Souveränität sowie Pluralismus, Säkularität und religiöse Toleranz sind universelle Werte, wenngleich sie eine europäische, in der kulturellen Moderne begründete Herkunft haben.17 Keine friedliche Weltgemeinschaft kann gedeihen ohne die Anerkennung einer solchen um Frieden -31-
bemühten Universalität. Im Gegensatz zu einer so definierten, Vielfalt zulassenden Universalität pocht die Ideologie des Universalismus auf die Alleingültigkeit eines Modells für die gesamte Menschheit, sei es der American Way of Life, der Kommunismus oder der universelle Islam. Das Bestehen auf der exklusiven Gültigkeit eines einzigen Modells für die gesamte Menschheit, zum Beispiel des in diesem Buch im Mittelpunkt stehenden Modells der Nizam Islami, bedeutet die Ankündigung eines globalen Konflikts, da diese Exklusivität eine Kriegsansage an diejenigen ist, welche die Gültigkeit eines ihnen fremden Modells für andere zwar tolerieren, nicht aber für sich selbst akzeptieren würden. Der als gescheitert einzustufende christlich-islamische Dialog18 mag als eine Illustration für diese Aussage herangezogen werden. Unter «Dialog» verstehen Muslime - und nicht nur die Fundamentalisten unter ihnen - den Versuch, Nicht-Muslime von der für sie als einzige Wahrheit gültigen islamischen Offenbarung zu überzeugen und sie zur Konvertierung zum Islam zu bewegen. Dagegen waren bei dem angeführten Dialog reformorientierte Christen bereit, sich von der klassischen christlichen Gleichsetzung von Nicht-Christ und Heide abzuwenden. Doch hatten die Christen nicht genügend Zivilcourage, um die Muslime zur Aufgabe der islamischen Doktrin, nach der die Christen Dhimmi, das heißt Gläubige zweiter Klasse sind, zu bringen. Der Dialog war daher ein unehrlicher und somit zum Scheitern verurteilt. Nach dem 11. September 2001 muß dieser auf neuer Grundlage geführt werden. Eine neue Ordnung der Welt muß aus einem Dialog zwischen den Trägern unterschiedlicher Kulturen hervorgehen, der nur dann erfolgreich sein kann, wenn parallel dazu folgende Voraussetzungen erfüllt werden: eine gegenseitige Anerkennung - trotz des jeweiligen Andersseins - als Gleiche auf der Basis der Akzeptanz universell gültiger Normen und Werte wie etwa -32-
religiöse Toleranz und politischer Pluralismus sowie Prozeduren für die Austragung von Konflikten ohne Gewaltanwendung. Wer mit islamischen Fundamentalisten das Gespräch sucht, übersieht den Umstand, daß diese Toleranz und Pluralismus nicht anerkennen und daher jeder Dialog mit ihnen in eine Sackgasse gerät. Mancher Europäer, der nach «postmodernen Alternativen» zu den vorhandenen Werten der westlichen Zivilisation sucht und dabei den Begriff «Eurozentrismus» strapaziert, wird die hier vorgetragene Argumentation verdächtigen, europäischen Werten wie Demokratie und individuellen Menschenrechten universelle Geltung verschaffen zu wollen. In der Tat haben diese Werte heute noch keine Entsprechungen außerhalb des Westens. Am Beispiel der Menschenrechte kann gezeigt werden, wie schwer es Muslimen noch immer fällt, die islamische Doktrin der Fara'id/Pflichtenlehre im Rahmen einer wünschenswerten Aufnahme der Normen individueller Menschenrechte19 einer Revision zu unterziehen. Es wäre zwar unredlich, die westliche Herkunft dieser Werte zu leugnen, für die hier Universalität beansprucht wird. Doch ebenso wie es unredlich wäre, den europäischen Ursprung des Konzepts der Menschenrechte zu verschleiern, wäre es auch zynisch, diese mit demselben Hinweis als Werte für die gesamte Menschheit zurückzuweisen. Der heute modisch gewordene Kulturrelativismus, der universelle Werte ablehnt, verwechselt die Forderung nach kulturellem Pluralismus, das heißt nach kultureller Vielfalt in unserem globalisierten Weltkontext, mit der Relativierung sämtlicher Werte und Normen. Es steht nicht im Widerspruch zum Kulturpluralismus, Menschenrechtsverletzungen in islamischen Gesellschaften, auch wenn sie im Einklang mit der kulturell spezifischen islamischen Pflichtenlehre stehen mögen, zu verurteilen. Kulturelle Vielfalt zu akzeptieren heißt nicht, hinter die Errungenschaften der kulturellen Moderne, wie Demokratie, Menschenrechte, Pluralismus und Säkularität, -33-
zurückzufallen. Der diesen Werten zugrundeliegende Humanismus erlaubt es, universelle Geltung zu beanspruchen. Eine Weltordnung ohne die universelle Gültigkeit der Menschenrechte zum Schutz von Individuen ist unvollständig, daher dürfen diese auch nicht durch Rechte des Kollektivs verdrängt werden. Auf der Ebene der sozialen Fakten muß man jedoch anerkennen, daß die Universalität von Normen, Werten und Prozeduren als Grundlage für eine Weltordnung bisher nur eine Forderung ist. Die Tatsache, daß islamische, nichteuropäische Staaten, mit Ausnahme von Saudi-Arabien, die Universelle Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 unterschrieben haben, darf nicht zu falschen Schlußfolgerungen führen. Diese Deklaration ist zwar zu einem Standard internationalen Rechts geworden, was jedoch nicht heißt, daß die in diesem Dokument als universelle Menschenrechte anerkannten individuellen Ansprüche von diesen Staaten als materielle Grundlage ihres Staatsrechts akzeptiert worden sind - ganz im Gegenteil. Unsere heutige Welt ist durch zwei miteinander konfligierende Trends gekennzeichnet. Während politische und ökonomische Globalisierungsprozesse voranschreiten, findet eine kulturelle Fragmentation statt, die im Widerspruch zu den zu Standards des internationalen Rechts erhobenen Normen steht. Diese Fragmentation drückt sich dadurch aus, daß die strukturell einander nahegebrachten Menschen wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte sowohl in ihrer Denkweise als auch in ihrer kulturell bedingten Wahrnehmung auseinanderdriften. Die Politisierung dieser kulturellen Fragmentation resultiert im Fundamentalismus und in politischen Konflikten. Die sich darauf beziehende zentrale These dieses Buches ist, daß der Fundamentalismus, der sich nicht allein auf den Kulturkreis des Islam (ca. 1,5 Milliarden Menschen; 57 Staaten, die in der Organisation der Islamischen Konferenz/OIC organisiert sind) -34-
beschränkt, eine Erscheinungsform dieser kulturellen Fragmentation darstellt. Der islamische Fundamentalismus trägt dazu bei, daß dieser Kulturkreis, der heute durch die bereits angesprochene Globalisierung in das internationale System souveräner Staaten integriert ist, wieder anstrebt, sich zu einer kulturell eigenartigen «Welt des Islam» zu formieren, wie dies im Mittelalter der Fall war. Diese Welt des Islam bezweckt aber nicht, eine Welt für sich zu bleiben, da sie von der universalistischen Doktrin beherrscht wird, die nach der Islamisierung der gesamten Menschheit trachtet. Das ist die islamische Weltanschauung. Obwohl das vorliegende Buch die Problematik der islamischen Revolte gegen die Weltordnung westlicher Prägung auf einer globalen Ebene behandelt, richtet sich sein Augenmerk primär auf den arabisch-sunnitischen Teil der Welt des Islam. Die brennenden Probleme sind im Nahen Osten die gleichen wie in den islamischen Teilen Asiens, vor allem Zentralasiens, und Afrikas. Obgleich der arabisch-sunnitische Teil der Welt des Islam nur 220 bis 240 Millionen Menschen der eineinhalb Milliarden Menschen zählenden «islamischen Gemeinschaft» umfaßt, steht er religiös, kulturell und auch ideologisch stets im Mittelpunkt. Kulturell und religiös ist Arabisch insofern die lingua franca des Islam, als der Koran auf Arabisch offenbart wurde und alle Muslime ihre Rituale auf Arabisch pflegen müssen, auch wenn sie diese Sprache nicht beherrschen. Ein Muslim trägt zudem in der Regel einen arabischen oder arabisierten Namen, selbst wenn er kein Araber ist. Ideologisch resultiert der heutige Fundamentalismus unter den Muslimen aus einer Politisierung der Religion des Islam und seines kulturellen Systems. Mit Ausnahme des verstorbenen Pakistani Abu A'la alMaududi sind heute alle bedeutenden ideologischen Figuren des islamischen Fundamentalismus, an deren Spitze Sayyid Qutb steht (vgl. Anm. 5), Araber. Der persisch-schi'itische Geistliche Khomeini hat zwar eine islamische Revolution und deren Export -35-
gepredigt, doch konnte er diesen Anspruch nicht von dem schi'itischen «Stempel», der für Sunniten inakzeptabel ist, befreien. Die Schi'iten bilden mit nur etwa 10 Prozent, also 150 Millionen Menschen in der gesamten Welt, eine absolute Minderheit unter den Muslimen. Nur in den westlichen Medien und in den Schriften von kaum informierten Autoren, die weder Originalquellen kennen noch zu lesen vermögen, konnte die Idee gedeihen, daß Khomeini von allen Muslimen als islamischer Anführer des 20. Jahrhunderts akzeptiert werde. Am Ende des 20. Jahrhunderts war es möglich, ohne Zweifel festzustellen, daß sich der Anspruch der islamischen Revolution im Iran, ein Ordnungsmodell für die restliche Welt20 des Islam zu werden, nicht durchsetzen konnte. Die herausragende Bedeutung der arabischen Region für die «Welt des Islam» wird auch dadurch untermauert, daß sich das Zentrum der Ölmacht unserer Welt in arabo-islamischen Ländern befindet. Dies hat dazu beigetragen, daß die religiösen, kulturellen und auch ideologischen Belange des arabischsunnitischen Islam immer im Mittelpunkt standen. Die Tatsache, daß der wichtigste islamische Staat im Nahen Osten, SaudiArabien, ein Verbündeter der USA ist, ändert nichts an der antiwestlichen Grundorientierung des arabisch-sunnitischen Islam. Hierbei ist es wichtig, die in diesem Buch angesprochene kulturelle Fragmentation auf globaler Ebene als eine Quelle des islamischen Fundamentalismus nicht - wie manche amerikanischen Islam-Experten21 es gern tun - mit Ölfragen zu verwechseln, so sehr die Ölproblematik auch für diesen Gegenstand wichtig sein mag. Unbestreitbar haben SaudiArabien und Kuwait zahlreichen fundamentalistischen Bewegungen bis zum Golfkrieg über Jahre hinweg Petro-Dollars in Millionenhöhe zukommen lassen - auch Osama Bin Laden stammt aus diesen Kreisen des wahhabitischen Islam. Das ist aber nicht die Ursache der Entstehung des Fundamentalismus. Weder der Golfkrieg noch die schrecklichen Ereignisse vom -36-
11. September 2001 haben die anstehenden Probleme geschaffen. Doch haben beide zur Vertiefung des Grabens zwischen dem Westen und der Welt des Islam beigetragen, eine Vertiefung, die dramatische - im Bewußtsein der westlichen, schlecht informierten Öffentlichkeit kaum geahnte - Ausmaße angenommen hat. In der in diesem Buch verwendeten Terminologie läßt sich sagen, daß die Gleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation, die unsere Welt heute charakterisiert, sowohl durch den Golfkrieg 1991 als auch durch den Afghanistan-Krieg nach dem 11. September 2001 intensivere Formen angenommen hat, die eher zu einer Unordnung als zu einer Neuordnung der Welt beitragen.22 Zuvor war es nicht gelungen, die Probleme der regionalen Neuordnung im Rahmen der Suche nach einer Neuen Weltordnung zu bewältigen. Da das Jahr 1991 den zeitlichen Ursprung zu markieren scheint, ist es gerechtfertigt, im folgenden auf den Golfkonflikt und seine Verästelungen aus der Sicht unserer Fragestellung näher einzugehen. Außerdem beziehe ich die Entwicklungen seit dem 11. September 2001 mit in meine Überlegungen ein.
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2. Die gescheiterte Neuordnung der Welt nach dem Golfkrieg 1991 und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 Mit einem Abstand von einem Jahrzehnt wurde die Welt des Islam erschüttert und der Fundamentalismus gestärkt. Zunächst hatte der Golfkonflikt wie noch kein anderer zuvor die Region destabilisiert. Die Einbeziehung des Islam in diesen Konflikt hat die Situation unermeßlich verkompliziert. Nach dem Golfkrieg ging es um die Neuordnung des Nahen Ostens, seit dem 11. September 2001 geht es um die Welt des Islam im ganzen. Die anstehenden Konflikte, die lokale, regionale und internationale Rahmenbedingungen haben, sind politischer Natur, haben jedoch soziale und ökonomische Hintergründe. Die Tatsache, daß der Islam über den Stellenwert einer Religion hinaus die Ideologien und das vorherrschende Weltbild der dort lebenden Menschen prägt, verleiht diesen Konflikten eine besondere Dimension. Während und nach der Periode des Golfkrieges hatte der Islam in bezug auf die Konfliktlage der Region bereits eine besondere Stellung, da seine Ordnungsvorstellungen zum Inhalt populistischer Ideologien wurden; doch nach dem 11. September 2001 hat diese Entwicklung dramatische Ausmaße angenommen. Das Argument, die moderne Welt sei strukturell einheitlich und werde von globalisierten Strukturen beherrscht, wurde bereits erwähnt, ebenso jenes, daß wir parallel zu dieser strukturellen Globalisierung Zeugen einer kulturellen Fragmentation23 sind, die durch die Politisierung der kulturellen Differenzen Diversifikationen hervorruft. Die Gestaltung der sich zunehmend regionalisierenden Weltpolitik wird dadurch erschwert. Die Politisierung des kulturellen Systems des Islam und dessen Erhebung im Nahen Osten zu einer Ideologie der Mobilisierung und des Aufstandes gegen die bestehende -38-
Weltordnung gehört in diesen Rahmen, der nicht neu ist, sondern bereits vor dem Golfkrieg existiert hat. Letzterer hat ebenso wie der Afghanistan-Krieg nach dem 11. September 2001 gleichermaßen auf lokaler und regionaler Ebene zu einer Stärkung des islamischen Fundamentalismus als Ausdrucksform des angesprochenen Phänomens beigetragen.24 Global haben diese Entwicklungen zu einer Verstärkung und auch zu einer weiteren Politisierung der bestehenden Differenz zwischen der Welt des Islam und dem Westen geführt. Islamische Fundamentalisten argumentieren, daß eine Neuordnung der Welt des Islam ohne Bekämpfung der bestehenden Weltordnung, die sie als eine westlich dominierte Ordnung darstellen, nicht möglich sei. Deshalb richtet sich ihr Widerstand gegen den Westen primär gegen die von ihm geprägte Ordnung der Welt. Damit entsteht eine unübersehbare Verbindung zwischen den Konflikten im Nahen Osten sowie in Zentralasien und deren weltpolitischer Umwelt, die hier als Weltordnung bezeichnet wird. Um diese Verbindung zwischen der angestrebten Neuordnung und dem islamischen Widerstand gegen die bestehende Weltordnung besser zu verstehen, ist es wichtig, den Aufstieg des politischen Islam als den eines zeitgeschichtlichen Phänomens seit den 70er Jahren einleitend zu skizzieren. Die überregionale Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus geht geschichtlich auf die Entwicklungen im Nahen Osten seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 zurück. In den Anfängen dieses Prozesses verwendeten die Muslime für die Bezeichnung der von ihnen getragenen neuen politischen Strömung den Begriff al-Sahwa al-Islamiyya/das islamische Erwachen,25 doch bereits mit Beginn der 80er Jahre eigneten sie sich den westlichen Fundamentalismus-Begriff an, für den sie im Arabischen mit al-Usuliyya al-Islamiyya26 ein Äquivalent fanden. Aus meiner mehrjährigen Mitwirkung an dem international kulturvergleichenden Forschungsprojekt The Fundamentalism Project der Amerikanischen Akademie für -39-
Kunst und Wissenschaft/American Academy of Arts and Sciences weiß ich, daß diese neue politische Strömung, die sich in einigen islamischen Ländern bereits zu einer sozialen Bewegung entwickelt hat, nicht allein auf die von ca. anderthalb Milliarden Muslimen bewohnten Teile Asiens und Afrikas beschränkt geblieben ist.27 Außer in vielen Teilen der früheren Dritten Welt, in denen zahlreiche Varianten des religiösen Fundamentalismus, wie zum Beispiel bei den Sikhs oder Hindus, existieren, können wir Spielarten des religiösen Fundamentalismus auch im Westen selbst, vor allem in den USA, beobachten. Trotz der Existenz einer Vielzahl von Spielarten des Fundamentalismus in der ganzen Welt ragt das Erwachen des Islam/al-Sahwa al-Islamiyya, welches von manchen zu einer islamischen Revolution hochstilisiert wird, als die profilierteste hervor. Das hängt nicht allein damit zusammen, daß sich zur islamischen Gemeinschaft/al-Umma al-Islamiyya zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits eineinhalb Milliarden Gläubige, das heißt ein Fünftel der Weltbevölkerung, bekennen. Vielmehr hängt die Bedeutung dieses Phänomens mit den Ansprüchen des Islam selbst zusammen, die in einer emphatischen Weise politischer und sogar weltpolitischer Natur sind. Die islamische Gemeinschaft/al-Umma al-Islamiyya ist keine bloße Religionsgemeinschaft, die spirituell in einer Ökumene, so wie im Christentum, vereinigt ist. Die muslimischen Fundamentalisten betrachten sich, wie ihre jüdischen Counterparts, als ein auserwähltes Volk Gottes. Vom Judentum unterscheiden sich Muslime ebenso wie von den Angehörigen nicht-monotheistischer Religionsgemeinschaften wie Sikhs und Hindus durch ihren betonten Universalismus. Zu dieser Profilierung des Islam unter den zahlreichen Varianten des Fundamentalismus kommt noch die bereits angeführte Tatsache hinzu, daß der arabische Nahe Osten als das politische und kulturelle Zentrum der Welt des Islam sowie als dessen -40-
Ursprung gilt. Der Nahe Osten ist die zweitwichtigste Region der Weltpolitik. Süd- und Zentralasien sind durch Bin Laden zu weltpolitischer Prominenz gelangt. Weltpolitisch spielen sie trotz allem eine untergeordnete Rolle. Bereits in seiner religiösen Doktrin ist dem arabischen Islam ein ausgesprochener Universalismus inhärent, der den Anspruch erhebt, die gesamte Menschheit im Dar al-Islam/Haus des Islam als Haus des Friedens unter seinem Banner zu vereinigen. Um diese islamische Utopie des universellen Weltfriedens unter Vorherrschaft des arabischen Islam zu verwirklichen, ist Gewalt in Form des als bewaffneter Kampf/Qital betriebenen Djihad nicht nur legitim, sondern sogar vorgeschrieben. Kurzum: Die Bedeutung der Politisierung des Islam, gleich ob man sie «islamisches Erwachen» oder «islamischen Fundamentalismus» nennt, liegt in den weltpolitischen Ansprüchen dieser außereuropäischen Zivilisation. Der zeitgenössische politische Islam, der sich nicht allein auf den Nahen Osten beschränkt, ist eine Revolte gegen die bestehende Weltordnung europäischer Prägung. Das Ziel seiner Anhänger besteht darin, Muslime aus aller Welt gegen die als unislamisch qualifizierte Weltordnung zu mobilisieren und diese durch eine islamische zu ersetzen. Hierzu rief Bin Laden in seiner Rede am 7. Oktober 2001 auf, in der er die Sprache Sayyid Qutbs (vgl. Anm. 5) verwendete. Den historischen Hintergrund für diesen Aufruf bildet die Tatsache, daß die Idee einer Weltordnung westlich und neuzeitlich ist. Der Westfälische Friede von 1648 war die erste Grundlage einer Weltordnung in der Weltgeschichte. Entsprechend ist der geistige Vater dieser Idee von einer islamischen Ordnung der Welt nicht der islamische Religionsstifter, der Prophet Mohammed, sondern ein moderner islamischer Verkünder aus dem 20. Jahrhundert: der bereits angeführte Ägypter Sayyid Qutb.28 Dieser wurde von den Geheimdiensten des einstigen ägyptischen Präsidenten Nasser in den Kerker gesteckt, wo er zehn Jahre seines Lebens (1954-41-
1964) verbrachte. Zwei Jahre nach seiner Entlassung, das heißt 1966, wurde er - nach erneuter Festnahme - mitten in Kairo gehängt. Wie Bin Laden selbst, lesen die Anhänger des islamischen Fundamentalismus die Schriften Sayyid Qutbs, in dem sie ihren politischen Propheten sehen. Der Krieg in Afghanistan hatte, wie elf Jahre zuvor der Golfkrieg, die Konfrontation zwischen dem Westen und der Welt des Islam aktualisiert und den unter Muslimen verbreiteten Anklagen von Sayyid Qutb gegenüber dem Westen weiteren Nährstoff gegeben. Qutbs Pamphlete genießen die größte überregionale Zirkulation unter den heutigen islamischen Fundamentalisten. Qutb veröffentlichte seine erste Schrift über Gerechtigkeit im Islam Ende der 40er Jahre, ehe er Ägypten für einen Studienaufenthalt in den USA Anfang der 50er Jahre verließ. In New York fühlte er sich in der Anomie der Urbanität einer industriellen Großstadt persönlich und kulturell verloren. Die Lektüre von L'homme, cet inconnu des einstigen Nobelpreisträgers Alexis Carrel gab ihm zentrale Impulse. Bei Carrel geht es um die Entfremdung des Individuums und um sein Verlorensein in der modernen Welt. In einer deutschen Übersetzung wurde Carrels Schrift zweimal im Dritten Reich unter dem Titel Der Mensch, das unbekannte Wesen in Stuttgart verlegt. Nach seiner Rückkehr nach Kairo wurde Qutb zu einem islamischen Aktivisten und zum führenden Ideologen der Muslimbruderschaft. Seine Schriften Ma'alim fi altariq/ Wegzeichen und al-Islam wa muschkilat alhadarah/Der Islam und die Probleme der Zivilisation prägen seitdem das islamischfundamentalistische Denken, und sie sind heute die intellektuelle Quelle der Begründung des islamischen Widerstandes gegen die bestehende Weltordnung. Qutb greift auf die islamische Lehre zurück, nach der die islamische Offenbarung/al-Washi al-Islami die Vermittlung des höchsten Wissens Gottes an die gesamte Menschheit darstellt. In diesem Sinne hatte die Religionsstiftung des Islam das vorislamische -42-
Zeitalter der Djahiliyya/Ignoranz beendet. Qutb ist der Auffassung, daß die Lehren der kulturellen Moderne und die mit ihr verbundene Individuation zu dem Phänomen führen, welches Alexis Carrel als L'homme, cet inconnu bezeichnet hat, das heißt das Verlorensein der Menschen in der westlichen Zivilisation. Qutb beschränkt sich allerdings nicht nur darauf, den außerislamischen Westen, der die moderne neue Welt beherrscht, als Ausdruck der Djahiliyya abzustempeln, was nicht neu im islamischen Denken wäre, sondern er geht weiter und klagt die Muslime selbst an, daß sie durch ihre Lethargie den Aufstieg des Westens als Weltmacht überhaupt erst ermöglicht hätten. Nach Qutb befinden sich die Muslime selbst in einem Stadium der Djahiliyya, weil sie hinter die Lehren des Islam zurückgefallen sind, der ihnen altaghallub/die Vorherrschaft über andere vorschreibt. Die islamischen Fundamentalisten unserer Gegenwart greifen auf diese Idee zurück, um ihren Widerstand gegen die westlich dominierte Weltordnung zu artikulieren. Sie meinen, daß die bestehende Ordnung nichts anderes als die Unterordnung der Muslime und eine Aufgabe des islamischen Anspruchs auf Vorherrschaft sei. Um gegen die als westliche Herrschaft wahrgenommene Weltordnung vorzugehen, rufen die Fundamentalisten die Muslime zum Djihad auf. Dieser soll sich zunächst gegen die nominellen, in die Djahiliyya zurückgefallenen Muslime richten. Es ist daher kein Zufall, daß die zwei wichtigsten fundamentalistischen Untergrundgruppen in Kairo sich Takfir wa bidjra und Djihad nennen. Letztere, angeführt von Dr. Aiman al-Zawahiri, ist Hauptverbündeter von Bin Ladens alQaida. Diese Namen wurden auch von anderen terroristischen Bündnissen übernommen. Takfir heißt: «Erklärung der Anderen zu Ungläubigen». Im Islam ist Djahiliyya/Ignoranz Ausdruck des Kufar/Unglaubens. Der Prophet Mohammed kämpfte gegen den Kufar seiner Gegner und wollte sie mit Gewalt zum -43-
richtigen Pfad/alsirat almustaqim bringen, welcher der Islam ist. Hidjra, der andere Begriff, bezieht sich auf den Auszug des Propheten Mohammed aus Mekka im Jahre 622 nach Medina, von wo aus er seinen Djihad gegen die Kufar von Mekka bis zu seinem Sieg im Jahre 630 führte. Eric Hobsbawm hat die Formel The Invention of Tradition/Das Erfinden von Traditionen für den selektiven sowie instrumentellen Gebrauch und die Neuinterpretation der Geschichte geprägt. In diesem Sinne aktualisieren islamische Fundamentalisten die angeführten historischen Fakten durch eine Analogie, die ihre innere Emigration aus den zeitgenössischen islamischen Gesellschaften umschreibt. Die Hidjra von Mohammed im Jahre 622 wird zum Symbol der inneren Emigration von Muslimen in der Gegenwart. Das Ziel ist dann, diese Gesellschaften von innen mit dem Instrument des Terrorismus zu bekämpfen. Die Beendigung der Djabiliyya im eigenen Haus ist die Vorstufe zur Bekämpfung der Djabiliyya weltweit. Die manichäische Teilung der Welt in die «satanische Welt der Djahiliyya» und die gute Welt der nicht nur nominellen, sondern gläubig-gehorsamen Muslime ist heute die dominierende ideologische Formel. Der fundamentalistische Kampf gegen die Weltordnung ist für sie ein solcher gegen die Welt-Djabiliyya unserer Gegenwart. Bin Laden benutzt neuerdings den Begriff al-Kufr alalami/der internationale Unglaube. Der historische Begriff Hidjra wird von Islamisten übrigens auch für die Migration von Muslimen nach Europa mit dem Ziel verwendet, die Islam-Diaspora für ihre Ziele zu erobern und zu instrumentalisieren.29 Der orientalische Despot Saddam Hussein, der mit dem Islam wenig zu tun hat, versuchte angesichts seiner Einkreisung während des Golfkonflikts, die Karte des Fundamentalismus zu spielen. Am 8. August und erneut am 5. September 1990 rief er die Muslime weltweit zum Widerstand gegen den Westen auf und prägte in diesem Kontext die Formel «dharb alkufr kullahu bi aliman kullahu/den Unglauben vollständig mit der vollen -44-
Kraft des Glaubens schlagen». Die Resonanz auf diesen Aufruf blieb nicht aus: Hunderttausende von Muslimen demonstrierten gewaltsam nicht nur in den großen arabisch-islamischen Städten von Rabat über Algier, Tunis, Kairo bis San'a und Amman sowie in den Städten der israelisch besetzten Gebiete. Auch in Pakistan und Südostasien, z. B. in Indonesien, fanden große antiwestliche Pro-Saddam-Kundgebungen statt. Dieser wurde zu einem Helden der Welt des Islam hochstilisiert. Szenen, die sich in bezug auf Bin Laden im Jahr 2001 wiederholten. Führende islamische Fundamentalisten nahmen damals Saddam Husseins Einladung zu einem weltpolitischen islamischen Treffen im Januar 1991 in Bagdad an, wo der jordanische Fundamentalist al-Tamimi die Muslime aufrief, das islamische Kalifat wiederherzustellen und Saddam Hussein zum Kalifen zu erklären.30 Diese Inthronisierung zum Kalifen war Ausdruck einer ohnmächtigen Erklärung einer islamischen Weltordnung. Nur der erfreulichen Tatsache, daß die Bodenkämpfe im Golfkrieg nicht länger als vier Tage oder genaugenommen 100 Stunden dauerten, ist es zu verdanken, daß dieses islamische Pulver nicht eine weltweite Explosion auslöste. Das politische Verhalten der islamischen Fundamentalisten während und nach dem Golfkrieg untermauert die Beobachtung, daß sie eine Lösung des Konflikts nicht regional begrenzt in einer Neuordnung des Nahen Ostens sahen: Ihr Rahmen ist die Weltordnung und der Platz, den der Islam in dieser einnimmt. Daß die erwartete Explosion nicht eintrat, bedeutet nicht, daß der islamische Sturm vorbei ist. Unter dem Namen Bin Laden und al-Qaida wiederholt sich das gleiche Muster. Selbst wenn es den USA gelingt, auch diese zu eliminieren, so wird das Phänomen dennoch wieder zum Vorschein kommen, wenngleich unter einem anderen Namen; es handelt sich also um eine persistente Erscheinung. Während des Golfkrieges haben viele Deutsche begonnen, die Bedeutung des Islam zu erkennen, und waren motiviert, ihn -45-
besser zu verstehen. In jenen Tagen war es schwer, eine der deutschen Koran-Übersetzungen oder Bücher über den Islam in Buchhandlungen zu finden, weil sie alle über Nacht vergriffen waren. Dasselbe wiederholte sich nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001. Zwischen beiden Ereignissen hat sich an der Militanz des nur scheinbar ruhenden islamischen Widerstandes gegen die Weltordnung, zu dem vor Jahrzehnten Sayyid Qutb aufgerufen hat, nichts geändert. Seinerzeit schrieb Qutb, die Jahre der Herrschaft der Europäer näherten sich ihrem Ende und es sei nun an der Zeit, dem Islam die ihm zustehende Weltherrschaft zuzuerkennen (vgl. Anm. 5). Nun stellt sich die Frage, ob das lediglich Rhetorik war. Ist der islamische Anspruch, wieder die alleinige Weltmacht zu sein, ernstzunehmen oder ist das bloß eine Zuflucht der Muslime in die politisierte Religion? Die Beantwortung dieser Frage erfordert ein besseres Verständnis der nahöstlichen Variante des Phänomens des alSahwa al-Islamiyya/islamischen Erwachens als Ausdruck des heutigen Widerstandes der Muslime. Ohne dieses Vorverständnis kann die Problematik der Verbindung zwischen dem politischen Islam und der Konfliktlage im Nahen Osten und in Zentralasien nicht adäquat begriffen werden. Der Terrorismus, der als Djihad geführt wird, drückt den islamischen Widerstand gegen lokale und regionale sowie sozial und politisch bedingte Mißstände aus, für die in einer ambivalenten Form die globalisierte europäische Moderne verantwortlich gemacht wird. Muslime verdrängen ihre Mitschuld an diesen Mißständen und verweisen statt dessen allein auf den Westen. Der Widerstand ist gegen einen doppelten Feind, gegen lokale und regionale, auch von «nominellen Muslimen» getragene Ordnungen, die der Djahiliyya bezichtigt werden, und gegen die vom Westen getragene Weltordnung und die ihr zugrundeliegende Moderne gerichtet. -46-
Islamische Fundamentalisten sind keine Traditionalisten, denn sie lehnen die Moderne nicht vollständig ab. In meinen Arbeiten unterscheide ich zwischen der kulturellen Moderne als einem Projekt einer menschzentrierten säkularen Weltsicht, welches auf dem Subjektivitätsprinzip basiert und dem Menschen ein «Könnens-Bewußtsein» einräumt, und der institutionellen Dimension der Modernität.31 Letztere nenne ich auch technowissenschaftlicbe Modernität. Die kulturelle Moderne definiert den Menschen als ein autonomes Subjekt, als Individuum, und steht somit in einem diametralen Gegensatz zum islamischen Verständnis vom Menschen als Makhluq/Geschöpf Gottes, welches sich in ein von Gott gesteuertes Kollektiv, die islamische Umma, zu fügen habe. Während die auf der Naturrechtslehre basierende kulturelle Moderne von der durch gesellschaftliche Entwicklungen untermauerten Individuation ausgeht und dem Menschen Rechte zuschreibt, geht die islamische Doktrin von den Fara'id, das heißt den Pflichten aus, die der Mensch gegenüber dem Kollektiv der Umma zu erfüllen hat. Dieses Kollektiv existiert nach göttlichen, im Koran festgeschriebenen Regeln. Es trifft zu, daß die kulturelle Moderne Emanzipation bedeutet und daß ihr Anthropozentrismus, das heißt die Stellung des Menschen im Mittelpunkt, im Gegensatz steht zum islamischen Prinzip des Rabbaniyya/Theozentrismus, das heißt der Herrschaft Gottes als einzigem Souverän über den Kosmos. Dieser Gegensatz ist aber nicht der Kern. Denn die Muslime haben, abgesehen von einzelnen Individuen, en gros das moderne Zeitalter nicht als Ausdruck dieser kulturellen Moderne, sondern als eine Manifestation der techno-wissenschaftlichen Modernität kennengelernt, die sich seit ihren Anfängen in der Industrialisierung des Krieges als Instrument der Eroberung der Welt durch Europa offenbart. Die gebildeten Muslime wollen daher diesen instrumentellen Teil der Moderne, vor allem die Waffentechnologie, bei gleichzeitiger Ablehnung der Weltbilder -47-
der kulturellen Moderne übernehmen. Dies nenne ich den islamischen Traum von der halben Moderne. Die Terrorpiloten von New York und Washington vom 11. September 2001 beherrschten modernste Technologie, ihre Weltbilder aber waren mittelalterlich. Das ist ein Ausdruck ihrer halben Moderne.32 In der Fachliteratur ist bewiesen worden, daß die europäische Expansion und die Globalisierung des europäischen Modells auf den technisch-wissenschaftlichen Innovationen der militärischen Revolution basiert.33 Die Folge dieses Expansionismus war ein europäisch beherrschter Globus. Nach der Kolonisation folgte die Entfaltung einer nach europäischen Mustern, das heißt nationalstaatlich organisierten Weltordnung. Das Völkerrecht ist primär europäisches Recht. An diesem Punkt verschmelzen die kulturelle Moderne und die techno-wissenschaftliche Modernität miteinander. Die Normen der globalisierten Weltordnung entstammen den Prinzipien der Moderne. Unsere nationalstaatlich organisierte Welt ist eine Weltgesellschaft in dem Sinne, daß ein Konsens über die Normen und Spielregeln sowie über die Prozeduren für den Umgang der Nationen miteinander besteht. Der aus dem Sahwa alhlamiyya, dem islamischen Erwachen hervorgegangene politische Islam ist ein Widerstand gegen diese Weltordnung und gegen die mit ihr korrespondierenden regionalen Ordnungen, nicht nur als eine politische und ökonomische Struktur, sondern auch als ein normativer Konsens über Spielregeln und Prozeduren. Mit anderen Worten: Die bestehende Unordnung ist Folge dieses Widerstandes, und sie wird sich noch vergrößern, wenn dieser weiter um sich greift und - wie es gegenwärtig bereits der Fall ist - auch andere, nichtwestliche, ähnlich defensiv-kulturell reagierende Kultur- und Religionsgemeinschaften erfaßt. Erntet dieser Fundamentalismus Erfolg, dann könnten seine defensivkulturellen Hauptzüge sich in politisch-offensive Strömungen verwandeln. Ein erstes Beispiel hierfür bietet der irregulär-48-
militärische Anschlag vom 11. September 2001. Europäern und Amerikanern, die in globalistischen Begriffen denken, bleiben diese regionalen und spezifisch politischkulturellen Vorgänge völlig verschlossen; einige unter ihnen weigern sich persistent, sie zu verstehen. Das Phänomen, für das der verstorbene Oxford-Gelehrte des Faches Internationale Politik, Hedley Bull, den Begriff «Die Revolte gegen den Westen»34 geprägt hat, ist nicht nur ein Widerstand gegen den Zustand, der aus der Cargo-Kult-Perspektive als eine ungerechte Verteilung der materiellen Güter beschrieben werden kann. Cargo-Kult als ein ethnischer Begriff meint den Anspruch auf gerechte Verteilung der Güter, unabhängig von ihrer Entstehung. Auch ist die Revolte gegen den Westen nicht nur ein Widerstand gegen das, was linke Friedensforscher politische Asymmetrien nennen. Der Widerstand ist auch und vor allem gegen Normen, Werte, Spielregeln und Prozeduren gerichtet, die der gleichermaßen aus der kulturellen Moderne und der technowissenschaftlichen Modernität hervorgegangenen herrschenden Weltordnung zugrunde liegen. Während wir politisch und ökonomisch globalisierte und gleichschaltende Strukturen haben, die diese Weltordnung untermauern, können wir die Revolte gegen den Westen beobachten; sie ist Ausdruck einer kulturellen Fragmentation, die diese Ordnung unterläuft. Regionale Ordnungen erfordern genauso wie eine globale Weltordnung einen Normenkonsens35 und einen gemeinsamen Diskurs. Der islamische Fundamentalismus würde solche Ordnungen nur dann zulassen, wenn sie von seinem Verständnis eines Normenkonsenses und von seinen Spielregeln bestimmt wären, das heißt, wenn die Ordnungsstrukturen islamisiert würden. Das ist Ausdruck des Neo-Absolutismus der Islamisten. Die Entwestlichung der Welt und die darauf folgende Wiederherstellung der Vorherrschaft des Islam ist die Vision der Islamisten und kein Ergebnis der Lektüre von Spenglers Untergang des Abendlandes. Diese Vision ist den -49-
zeitgenössischen, weitverbreiteten Pamphleten islamischer Fundamentalisten zu entnehmen. Es steht nicht zu befürchten, daß die Rhetorik der Islamisierung der Welt, die in der Literatur des al-Sahwa alhlamiyya artikuliert wird, im Ergebnis zu einer realen Bedrohung der Industrienationen in Ost und West, gegen die sich dieser Widerstand richtet, führen wird. Selbst die Gewaltmittel vom 11. September 2001 können nicht zur Durchsetzung dieser Ziele verhelfen. Dennoch gilt es stets zu vergegenwärtigen, daß in unserer Welt anderthalb Milliarden Muslime leben, deren materielle Lebensbedingungen sich zunehmend verschlechtern und die deshalb massenhaft in die Industrieländer einwandern. Keiner, der mehr als Schreibtischkenntnisse über den Nord-Süd-Konflikt hat, in den der Widerstand der Muslime gegen die bestehende Weltordnung einzuordnen ist, kann ein Konzept für dessen Lösung vorlegen. Die defensivkulturelle Wiederbelebung der islamischen Glaubensbekenntnisse ist Ausdruck der gegenwärtigen Mißstände in der Welt des Islam und der Suche nach einem Schuldigen, die im Westen endet. Mit der Zeit könnte die Defensive offensive Formen annehmen; die Anschläge in New York und Washington waren nur eine Vorwarnung. Das begonnene neue Jahrhundert könnte deshalb eines der Weltunordnung, des weltweiten Chaos und auch der Gewalt und des Unfriedens werden. Der Kampf der islamischen Untergrundgruppen gegen das, was der geistige Vater des islamischen Fundamentalismus, Sayyid Qutb, «al-Djahiliyya aldjadida/Neo-Djahiliyya» genannt hat, wird nicht nur Unfrieden in islamischen Ländern, sondern weltweit bedeuten. Der Nahe Osten bildet das Zentrum dieser islamischen Revolte. Afghanistan mit seinen «arabischen Afghanen» - die Mudjahidin von Bin Laden aus dem Nahen Osten - ist nur eine Erweiterung der Nahost-Konfliktszene. Zusammenfassend ist noch einmal zu betonen, daß international geteilte Normen, Regeln und Prozeduren für -50-
weltgesellschaftliche Interaktion, die nicht durch Bombardierung ausgesetzt werden können, Grundvoraussetzungen für einen Weltfrieden sind. Die Konflikte im Nahen Osten, also in der zweitwichtigsten Region der Weltpolitik nach Westeuropa, sowie in Zentralasien sind besonders bedeutsam. Diese können nicht ohne einen Rückgriff auf den internationalen Rahmen bewältigt werden. Der Nahe Osten bildet das Kerngebiet der islamischen Zivilisation. Entsprechend sind die Bemühungen der islamischen Fundamentalisten, eine regionale Neuordnung des Nahen Ostens abzulehnen und statt dessen eine Konfrontation zwischen der Welt des Islam/Dar al-Islam und dem Westen zu suchen, als eine Gefahr nicht nur für den Frieden im Nahen Osten, sondern weltweit einzuordnen. Dasselbe gilt für einen geordneten Frieden in den islamischen Teilen Zentralasiens, aber auch in den islamischen Gebieten des Balkan. All diese Konfliktherde verdeutlichen die zentrale Rolle, die der Islam als politisierte Religion in der Weltpolitik spielt.36
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II. DER ISLAMISCHE FUNDAMENTALISMUS UND DIE MODERNE: ZWISCHEN ISLAM-REFORM, RELIGIÖSER ORTHODOXIE UND DEM ISLAMISCHEN TRAUM VON DER HALBEN MODERNE Der religiöse Fundamentalismus tritt in allen Religionen als ein Produkt der fehlenden Bewältigung der Moderne hervor. Beide Begriffe, Fundamentalismus und Moderne, sind bisher gleichermaßen von den Medien und von Laien-Wissenschaftlern - also von solchen, die über keine der beiden Thematiken gearbeitet haben - über Gebühr strapaziert worden, so daß mancher vorgeschlagen hat, gänzlich auf sie zu verzichten. Das kann wohl nicht die richtige Lösung sein; diese besteht eher darin, an der Verwendung bei inhaltlich zugleich klarer und scharfer Definition beider Begriffe festzuhalten; darüber hinaus gilt es, diese Erscheinungen stets in ihren historischen Kontext einzuordnen. Ohne diese zentralen Begriffe können wir die bestehende Herausforderung an unsere Weltordnung weder verstehen noch angemessen deuten. Die Moderne hat zwei Aspekte beziehungsweise Dimensionen, eine kulturelle und eine institutionelle. Jürgen Habermas hat die kulturelle Dimension der Moderne unter dem Terminus des Subjektivitätsprinzips zusammengefaßt,1 der sich mit zwei Inhalten füllen läßt: Der Mensch ist erstens ein Individuum, also ein Subjekt, welches sich von religiösen und ethnischen Kollektiven getrennt hat. Und zweitens ist er als Subjekt ein erkennendes Wesen, das heißt, er geht bei seiner Suche nach Wissen von dem Primat der Vernunft, nicht von Traditionen oder von der religiösen Offenbarung aus. Die zweite, institutionelle Dimension der Moderne erwächst -52-
aus der ersten, der kulturellen. Das Subjektivitätsprinzip ermöglicht dem Menschen, moderne Wissenschaft und Technologie zu entfalten und die dazugehörigen Institutionen zu bilden.2 Die kulturelle und institutionelle Moderne ist in Europa parallel zur Genesis des Westens als Zivilisation im Zeitraum von 1500 bis 1800 entstanden; auf dieser Basis hat die «militärische Revolution» - die Erlangung der Instrumente der Weltbeherrschung - stattgefunden.3 Die Entwicklung steht in enger Verbindung mit dem Islam, insofern als dieser im Rahmen der Entfaltung seiner Zivilisation das erste Welteroberungsprojekt in der Geschichte betrieben hat. Die westliche Globalisierung beendete die islamische DjihadExpansion.4 Gleich dem Islam stellt auch die Religion des Christentums - wie der Westen als Zivilisation - universelle Ansprüche. Auf einer ethischen Basis können der Islam und das Christentum als Weltreligionen, die beide als abrahamitisch bezeichnet werden, friedlich zueinander finden - dies hat der Theologe Josef Kuschel überzeugend nachgewiesen.5 Wird Religion aber mit politischen Ansprüchen verbunden und erhebt sie sich dann zum Absoluten, findet die besagte Annäherung nicht statt. Die islamische Zivilisation hatte sich in dem Wettkampf zwischen Djihad und Kreuzzug zuerst als überlegen durchgesetzt.6 Dann allerdings begann in Europa das Zeitalter der Moderne, das den Islam zum Verlierer machte. Die Muslime fingen an, sich nach dem Grund ihrer durch Rückständigkeit bedingten Unterlegenheit zu fragen. In diesem Verunsicherungsprozeß kristallisierten sich zwei konträre Antworten heraus: zum einen der Wahhabismus als reaktionärste Deutung des orthodoxen Islam und zum anderen die Islam-Reform von Muhammed Abduh und Djamaluldin alAfghani.7 Nachdem beide das Dilemma nicht zu lösen vermochten, entstand nach einem kurzen säkularen Intermezzo der Fundamentalismus unserer Zeit.
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1. Der islamische Fundamentalismus ist eine Realität, kein Medienprodukt In Deutschland haben Sozialwissenschaftler und Orientalisten gleichermaßen jede fachliche Debatte über den religiösen Fundamentalismus verhindert.8 Diese so wichtige wissenschaftliche Auseinandersetzung fand dafür im Rahmen des internationalen Fundamentalismus-Projektes der American Academy of Arts and Sciences statt. Nach dem Ende des OstWest-Konfliktes verbreitete sich in der gesinnungsethischen Publizistik die Weisheit, daß der Westen zu seiner Stabilität stets externe Feinde benötige und daß diese Stabilität nun gefährdet sei, wenn man, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, keinen Ersatzfeind finden könne. Publizisten, die dieser merkwürdigen Auffassung waren, meinten, daß der islamische Fundamentalismus in den Medien aufgebaut werde, um die ehemalige Rolle des Kommunismus für die Stabilisierung des Westens zu übernehmen. Ebenfalls wird ohne Kenntnis der Tatsachen behauptet, daß anstelle des Ost-WestKonfliktes nunmehr ein Nord-Süd-Konflikt treten werde, ausgetragen unter anderem in der Konfrontation zwischen dem Westen und der Welt des Islam. Fundamentalismus-Kritikern wurde von diesen Publizisten vorgeworfen, sie arbeiteten an dem Aufbau eines neuen Feindbildes für den Westen - des «Feindbildes Islam». In diesem Buch wird gezeigt, wie simpel solche «Weisheiten» sind, daß der Fundamentalismus, ebenso wie seinerzeit der expandierende Kommunismus, kein erfundenes «Gespenst» der Medien, sondern eine Realität ist. Allerdings distanziert sich die vorliegende Untersuchung eindeutig von den Zerrbildern über diesen Gegenstand, die bestimmte Panikmacher in den Medien verbreiten. Max Horkheimer hat den Stalinschen Kommunismus mit dem Hitlerschen Faschismus verglichen, ohne sich deshalb die -54-
Ideologie des Kalten Krieges zu eigen zu machen.9 Ähnlich wird in diesem Buch der totalitäre Fundamentalismus als Feind von Demokratie und Menschenrechten kritisiert, ohne daß es sich deshalb in die Reihen der Panikmacher und Populärskribenten über den Islam einordnet. In diesem Buch wird der totalitäre Fundamentalismus nicht mit der islamischen Offenbarungsreligion und ihrer großartigen Zivilisation vermengt. Gegen den Islamismus wird hier ein liberaler Islam hervorgehoben, der zwar auch die von Fundamentalisten angeprangerte Weltordnung bemängelt, sich jedoch mit der Kritik an Ungerechtigkeiten begnügt und daher keine Ideologie mit dem Ziel einer islamischen Weltordnung ist. Vorrangig gilt es jedoch zunächst zu klären, wie der Fundamentalismus im Islam aus einem gescheiterten islamischen Umgang mit den Herausforderungen einer von der westlichen Moderne dominierten Welt hervorgetreten ist. Eine sachliche Analyse wird von der Wahrnehmung des Fundamentalismus als Schreckgespenst in den Massenmedien behindert. Zahlreiche durch ihre unübertreffliche Fülle an Sachfehlern signifikante Bücherserien sowie Fernsehreportagen haben breite Teile der deutschen Öffentlichkeit in dieser Hinsicht geprägt. Unter islamischen Fundamentalisten stellt man sich geistlose, schmutzige und ungepflegte bärtige Fanatiker vor, die als Terroristen wirken und die Zivilisation bedrohen. Nach dem 11. September 2001 spricht ein Orientalist sogar von Söldnern, offensichtlich ohne zu wissen, daß Neo-DjihadFundamentalisten keine Bezahlung erhalten. «Analytiker», die vom Mißbrauch der Religion durch Fundamentalisten sprechen, vergessen, daß auch diese praktizierende Muslime sind, das heißt fünfmal am Tag beten, wozu sie die rituelle, religiös vorgeschriebene Waschung ihres Körpers vornehmen müssen schon allein deshalb können sie nicht schmutzig sein. Zumindest dürfte es sich hiernach um Menschen handeln, die strikt die Kultvorschriften ihrer Religion zur Reinhaltung des Körpers -55-
befolgen. Ob sie darüber hinaus unbedingt zum Mittelalter zurück wollen - wie einmal Der Spiegel in einer Titelgeschichte vermutete -, ist eine Frage, auf die dieses Buch eine Antwort zu geben versucht. Vorab sei hier nur angemerkt, daß Fundamentalisten keine Traditionalisten sind; der Gegenstand ist weit komplexer, als es die verbreiteten Klischees unterstellen. Fundamentalisten wollen sich die Errungenschaften des modernen Zeitalters aneignen, wenngleich sie, wie wir noch genauer sehen werden, das rationale menschorientierte Weltbild der kulturellen Moderne zurückweisen. In diesem Drang nach einer Synthese von vormodernen religiösen Vorschriften und willkürlich ausgewählten Elementen der Moderne, das heißt nach einer Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, liegt das zentrale Problem der Fundamentalisten; sie wollen sich die materiellen Güter der Moderne, nicht aber ihre Weltsicht und ihren Geist (u. a. Pluralismus, religiöse Toleranz und individuelle Menschenrechte sowie Säkularität) aneignen. Es handelt sich um den Traum von einer halben Moderne.10 Die in den Medien verbreiteten Simplifizierungen und Irrvorstellungen über den Islam vermitteln keine angemessenen Informationen über den Gegenstand, geschweige denn ein analytisches Bild von seiner Komplexität. Zu den intellektuellen Urhebern des Vorwurfs «Feindbild Islam» gehört Edward Said, der den Begriff «TV-Muslim» geprägt hat. Said hat sich nach dem 11. September 2001 in einer höchst unqualifizierten Weise zu Wort gemeldet, als er den Fundamentalismus als ein Medienprodukt darstellte: Die Täter des 11. September 2001 seien ein Haufen «verrückter Menschen», die mit dem Islam nichts zu tun hätten.11 Zwar ist das nicht das Thema dieses Kapitels, aber uns interessiert der intellektuell inkonsistente Zusatz von Said: Die Terroristen des 11. September 2001 seien weder antiwestlich noch gegen die Moderne; ihre Beherrschung moderner Technologie - bewiesen durch die Wahrnehmung der Pilotenfunktion - zeige dies. An -56-
anderer Stelle habe ich Edward Saids Denken als «postmoderne Gegenaufklärung»12 bezeichnet, hier kann es nicht darum gehen, seine Denkfehler und Fehlinformationen zu korrigieren. Vielmehr führe ich Said deshalb an, um die zwei zentralen Ideen dieses Kapitels hervorzuheben: Erstens, der islamische Fundamentalismus, zu dem die al-Qaida mit ihrem Netzwerk in ca. 60 Ländern der Erde gehört, ist eine weltpolitische Realität. Die Zerstörung der beiden Türme des World Trade Center als Symbol des Westens13 war keine Konstruktion im postmodernen Sinne, die dekonstruiert werden kann, sondern eine brutale Objektivität. Und zweitens, islamische Fundamentalisten sind keine Traditionalisten, sondern moderne Menschen, die sich die institutionelle Moderne in Form von Wissenschaft und Technologie bei gleichzeitiger Ablehnung der kulturellen Moderne aneignen wollen.14 Ebenso wie der Fundamentalismus keine Konstruktion der Medien ist, so ist dieses Phänomen auch kein Produkt des Ölbooms. Nach dieser Logik hätte es nämlich keinen islamischen Fundamentalismus gegeben, und wir wären von den Auswüchsen dieses religiös-politischen Phänomens verschont geblieben, wäre der Ölpreis nicht durch die beiden Energiekrisen von 1973 und 1979 gestiegen und hätte SaudiArabien nicht so viele Petro-Dollars durch seine Erdölexporte eingenommen. Es ist zwar eine unbestrittene Tatsache, daß die islamisch legitimierte saudische Monarchie die islamischfundamentalistischen Bewegungen weltweit mit diesen PetroDollars massiv und großzügig unterstützt hat. Die Vorstellung, der islamische Fundamentalismus hänge mit Öl und mit PetroDollars zusammen, wird jedoch fragwürdig, wenn man nach dem saudisch-amerikanischen Bündnis gegen den Irak während der Golfkrise und dem Krieg von 1990/91 vernimmt, daß die meisten fundamentalistischen Bewegungen ihren Gönner, die saudische Petro-Dollar-Monarchie, mit den USA auf die gleiche Stufe setzen. Islamische Fundamentalisten erklärten Saudi-57-
Arabien gleichermaßen wie den Amerikanern den Djihad, obwohl ihre Petro-Dollars empfangenden Führer sie davon abzuhalten versuchten. Der islamische Fundamentalismus des Osama Bin Laden15 ist aus diesem Kontext hervorgegangen. Es sei noch nebenbei angemerkt, daß die fundamentalistische Bewegung nicht allein auf den Islam beschränkt ist. Den Fundamentalismus findet man in den meisten nichtwestlichen Kulturen als eine antiwestliche Ideologie, und sogar in den USA ist er als ein Aufstand gegen die Moderne zu beobachten.
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2. Islamischer Fundamentalismus als eine rückwärtsorientierte Protestbewegung und die kulturelle Moderne Die These, die ich in diesem Abschnitt entfalte, bezieht sich auf die Einstellungen islamischer Fundamentalisten zur Moderne,16 sowohl bei der Bestimmung ihrer selbst in bezug auf die eigene Kultur als auch in der Beziehung zu den Anderen. Der Idealzustand der islamischen Fundamentalisten ist die islamische Vergangenheit und spezifisch der Ur-Islam des Propheten; ihre Utopie ist also rückwärtsgerichtet. Andererseits übersehen sie aber nicht, daß die islamische Zivilisation ohne Wissen und Technologie nicht auskommen kann. Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, müssen wir den islamischen Fundamentalismus als gesellschaftliche und weltpolitische Wirklichkeit ernsthaft studieren und dürfen ihn weder als ein Medienprodukt noch als eine Ausgeburt von Petro-Dollars auffassen; er ist vielmehr ein zeitgeschichtlicher Ausdruck einer umfassenden Krise in jenem Teil der Welt, den man von außen als «Welt des Islam» bezeichnet und deren Angehörige im Verlauf der Krise ihre Gemeinschaft als eine Welt für sich wahrnehmen und sich ghettoisieren. Doch die Bezeichnung ist insofern willkürlich, als es eine «islamische Welt» als eine Welt für sich seit der Globalisierung und der hiermit zusammenhängenden Konfrontation der Muslime mit dem technisch-wissenschaftlich und auch militärischtechnologisch überlegenen Westen nicht mehr gibt, obwohl heute der Versuch unternommen wird, sie neu zu formieren. Im modernen Zeitalter haben die Muslime den Westen als eine militärisch superiore Macht kennengelernt. Der Historiker Geoffrey Parker weist nach, daß der Westen in der Periode von 1500 bis 1800 seinen Aufstieg als eine Militärmacht einleitete -59-
(vgl. Anm. 3). Sowohl im Golfkrieg 1991 als auch in dem Krieg gegen die al-Qaida Bin Ladens im Jahre 2001 hat der Westen seine Militärmacht zur Schau gestellt. Seit der Begegnung mit dem Westen ist das Gefüge der «islamischen Welt» auf allen Ebenen, der politischen, der ökonomischen und auch der kulturellen, zutiefst erschüttert; die Muslime befinden sich seither in einer doppelten Krise, einer Struktur- und einer zivilisatorischen Identitätskrise. In der anfänglichen Phase des Aufstieges der westlichen Zivilisation haben die Sultane des Osmanischen Reiches, welche die damalige Welt des Islam repräsentierten, ihre Emissäre nach Europa entsandt, um die Ursachen der europäischen Überlegenheit zu erkunden.17 Darauf folgten Bemühungen, «die europäische Armee zu importieren».18 Seit dem 19. Jahrhundert strömen Muslime nach Europa, um europäische Wissenschaft und Technologie zu studieren. Die Ergebnisse waren folgenreich: Weder haben Muslime seither ihre islamische Tradition in reiner Form erhalten können noch sind sie in dem Sinne verwestlicht, daß sie sich in die europäische Moderne, die sie sich aneignen wollten, einfügen könnten. Der Fundamentalismus hängt mit diesem Scheitern einer auch kulturellen Verwestlichung beziehungsweise einer Aneignung der Moderne zusammen. In dieser Verlorenheit greifen Muslime, meist Städter, die in der Regel zumindest über ein Minimum an Schulbildung verfügen, auf den Islam als das Allheilmittel gegen die Ursache ihrer Krise zurück und politisieren ihre Religion mit dem Resultat des Fundamentalismus. Die Ursache für ihr Elend verorten die heutigen Muslime im Westen, der ihre Desorientierung hervorgerufen hat. Dabei entsteht Haß und ein damit korrespondierendes «Feindbild Westen». Im Verlauf dieser Krise entwickeln sich viele gebildete Muslime zu Fundamentalisten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang meine Unterscheidung zwischen organisierten -60-
Fundamentalisten, die sich zumeist im Untergrund befinden, und Weltsicht-Fundamentalisten. Letztere teilen die Weltbilder des religiösen Fundamentalismus, sind jedoch keine politischen Aktivisten. Generell geht der Fundamentalismus aus der angesprochenen umfassenden doppelten Krise hervor, das heißt einer Sinnkrise und einer materiellen Krise, die den islamischen Orient insgesamt betrifft.19 Viele Muslime hassen den Westen und heiligen alles, was antiwestlich ist, eben weil sie im Westen eine moderne Krankheit sehen, die ihr Dar al-Islam/Haus des Islam heimgesucht hat. Für sie ist die Wiederbelebung des Islam das probate Heilmittel gegen diese Krankheit, die als «intellektuelle Invasion» diagnostiziert wird.20 Khomeini hat für dieses Leiden den Begriff Westkrankheit/Gharbzadegi»21 geprägt. In seiner antiwestlichen Orientierung dient der fundamentalistische Islam als Artikulationsform einer «patriarchalischen Protestbewegung»,22 die sowohl hilft, die Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, als auch das erlittene Elend zu kompensieren. Über die Funktion eines Vehikels für antiwestliche Attitüden hinaus kann der fundamentalistische Islam auch die Funktion einer religiöspolitischen Ideologie der Opposition gegen bestehende Regime erfüllen. Natürlich darf dabei nicht übersehen werden, daß der Islam nicht nur als eine oppositionelle Ideologie für Fundamentalisten dient, sondern ebenso als eine Legitimationsbasis für bestehende politische Ordnungen herangezogen wird. Man denke zum Beispiel an die islamische Legitimation der Königreiche von Saudi-Arabien und Marokko.23 Doch greifen Fundamentalisten heute Saudi-Arabien als ein prowestliches Land an und sprechen diesem den islamischen Charakter ab, obwohl sie vor dem Golfkrieg auf dessen Petro-Dollar-Zuwendungen angewiesen waren. Im Dezember 1991 hat der saudische Landesmufti Scheich 'Abdelaziz Ibn Baz die islamischen Fundamentalisten in einem scharfen Ton angegriffen.24 -61-
Die Kriege am Golf 1991, in Bosnien, im Kosovo, in Kaschmir, in Tschetschenien und in Afghanistan zeigen den erfolgreichen politischen Einsatz des Islam als eine antiwestliche Ideologie. Der saudische König, der den Titel «Kbadim alhammain alscharifain/ Hüter der heiligen Schreine» von Mekka und Medina trägt, wurde von islamischen Fundamentalisten heftig angefeindet. Sie verzeihen ihm bis heute nicht, daß er amerikanische Truppen zum Schutz seiner Monarchie in das Land der islamischen Offenbarung gerufen hat. Bin Laden hatte in seinen Djihad-Reden mehrfach den Abzug der US-Truppen aus dem «Heiligen Land» gefordert. In diesem Zusammenhang scheint es skurril, daß der arabische Diktator Saddam Hussein, der acht Jahre lang gegen die Islamische Republik von Iran Krieg geführt25 und zahlreiche islamische Oppositionelle in seinem Land gehängt hatte, plötzlich 1990/91 den großen Beifall der Fundamentalisten erhielt. Die Leistung des einst säkular orientierten irakischen Despoten bestand damals vornehmlich darin, Amerika als der Verkörperung des Westens den Heiligen Krieg erklärt zu haben. Der ägyptische Fundamentalist 'Adel Hussein schrieb seinerzeit, daß Saddam Hussein allein durch die Herausforderung Amerikas beweise, daß er sich bekehrt habe und nun im Dienst des Islam stehe.26 In meiner für das bereits erwähnte globale, kulturvergleichende Fundamentalismus-Projekt der Amerikanischen Akademie für Kunst und Wissenschaft in Kairo durchgeführten Befragung von Muslimen unterschiedlicher Richtungen bin ich zu folgendem Ergebnis gekommen:27 Es gibt heute unter den Muslimen nur ganz wenige, welche die moderne Wissenschaft und Technik pauschal ablehnen. Die Mehrheit tritt, soweit sie über ein Minimum an Bildung verfügt, parallel zu ihrer Bewahrung der organischen, alle Lebensbereiche umfassenden islamischen Weltsicht für eine Übernahme moderner Errungenschaften ein. Gleichzeitig jedoch wird die -62-
kulturelle Moderne abgelehnt, das heißt jene, die neben technischen Errungenschaften auch Pluralismus im Sinne der Freiheit des Andersdenkenden beinhaltet sowie eine rationale, von den religiösen Grundsätzen getrennte Sicht der Welt, die den Menschen als ein freies Subjekt anerkennt. Auf der angeführten Forschung basierend argumentiere ich, daß die fundamentalistische Weltsicht die heute vorherrschende unter den Muslimen bildet. Das Aufblühen dieser Weltsicht korreliert nicht nur mit dem Untergang aller säkularen Orientierungen in der Welt des Islam, die zumeist normativ, das heißt ohne ein soziales Substrat sind. Der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus bedeutet auch den Untergang der einst nur im Ansatz vorhandenen, aber doch wichtigen modernen Tradition eines islamischen Liberalismus,28 von der heute nirgendwo eine signifikante Spur geblieben ist. Die WeltsichtFundamentalisten bilden in unserer Gegenwart - etwa im Gegensatz zu den islamistischen politischen Aktivisten, die heute als Djihad-Kämpfer auftreten - keine Minderheit. Die Herausforderung der europäischen Moderne und ihrer eingangs erläuterten zwei Aspekte, des kulturellen Projektes und der Globalisierung der institutionellen Dimension, bilden den Hintergrund des islamischen Fundamentalismus. Bruce Lawrence, der eine global ausgerichtete, komparative Studie über den Fundamentalismus angefertigt hat, geht auf diesen Kontext ein und führt aus: Fundamentalisten stellen sich gegen den Modernismus... Jedoch ist die Modernität... die Schlüsselkategorie für jede Interpretation des Fundamentalismus. Die Moderne ist und bleibt der einhüllende Kontext. Ohne die Moderne gäbe es weder Fundamentalisten noch Modernisten. Die Identität der Fundamentalisten wird, gleichermaßen in Hinblick auf ihre psychologische Verfassung und die hierzu gehörende historische Strömung, entscheidend von ebendieser Moderne geprägt. Die Fundamentalisten... sind die Konsequenz der Moderne und die -63-
Antithese zum Modernismus zugleich.29 Diese Einschätzung könnte bei oberflächlichem Hinsehen als eine Deutung des Fundamentalismus im Sinne einer atavistischen Bewegung, die von der Sehnsucht nach Rückkehr zum Mittelalter genährt wird, mißverstanden werden. Fundamentalisten pflegen zwar eine rückwärtsorientierte Ideologie, sind aber eindeutig keine Traditionalisten, sosehr sie sich auch auf die Tradition berufen und so verbal aggressiv sie die kulturelle Moderne zurückweisen. Die Antinomie des Fundamentalismus liegt darin, daß seine Anhänger sich die Errungenschaften der Moderne aneignen wollen, jedoch gleichzeitig das hierzu gehörige menschzentrierte Weltbild, das heißt den Glauben, der Mensch sei der verantwortliche Schöpfer seiner eigenen Umwelt (Könnens-Bewußtsein), strikt ablehnen. Lawrence definiert fundamentalistische Strömungen adäquat als «sozioreligiöse Bewegungen in der modernen Welt, die die instrumentellen Vorteile der Modernität, nicht aber ihre neue Wertorientierung annehmen wollen».30 Diese neue Wertorientierung können wir in einem Wort umschreiben: Aufklärung. Ihre zentrale Leistung ist das, was Borkenau als «Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild»31 bezeichnet hat. Ihr ging die Renaissance voraus, die das Paradies säkularisierte, so daß man, wie Bloch es formulierte, «des Himmels nicht mehr bedarf».32 Fundamentalisten lehnen dieses menschzentrierte säkulare Weltbild ab und greifen auf «das Reich Gottes» als Gegenutopie zurück, jedoch ohne die technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften der Moderne abzulehnen; sie wollen die institutionell-instrumentelle Moderne mit mittelalterlicher Theologie verbinden und so ihren Traum von einer halben Moderne verwirklichen.33 Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei Fragen: Erstens, was genau ist mit dem Begriff islamischer Fundamentalismus gemeint? Und zweitens, welche Inhalte bestimmen diese gegenwärtig überwältigende Strömung? Diese Fragen sind, wie -64-
bereits angedeutet, nicht nur akademischer, sondern auch aktueller Natur. Zwischen dem Golfkrieg beziehungsweise Saddam Husseins Aufruf zum Djihad am 7. August 1990 und dem Djihad-Appell von Bin Laden am 7. Oktober 2001 liegt eine Dekade. Beide Aufrufe zum Djihad haben Zuspruch von allen islamischen Fundamentalisten erhalten. In dem gerade angefangenen Jahrhundert werden wir Appelle dieser Art noch häufiger hören, denn nach Meinung vieler Muslime stehen solche Aufrufe im Dienst des Islam, wenn es um die Schwächung Amerikas und seiner Verbündeten geht. Der Kampf gegen den Westen, das heißt nicht nur der gegen dessen politische Vorherrschaft, sondern auch jener gegen die europäische Moderne, wird zum zentralen Anliegen des islamischen Fundamentalismus. Der Rückgriff auf die goldene Vergangenheit des Islam als Ausdruck einer rückwärtsgerichteten Utopie dient instrumentell der Inkriminierung dieser Moderne, wenngleich er kein Ausdruck von Traditionalismus ist. Der islamische Fundamentalismus ist eine Politisierung des Islam, und sein zentraler Inhalt ist eine Revolte gegen den Westen im Sinne einer Ablehnung der kulturellen Moderne und ihrer Werte. Die tieferen Ursachen und die Sinnzusammenhänge des islamischen Fundamentalismus in seiner Konfrontation mit der Moderne stehen im Mittelpunkt meines Interesses. Ohne ein angemessenes Verständnis dieser Zusammenhänge können wir die Problematik dieses Buches, den islamischen Fundamentalismus und seinen Angriff auf die bestehende Weltordnung, nicht in den Griff bekommen. Der Zusammenhang zwischen der Moderne und der Weltordnung wurde bereits in dem vorangegangenen Kapitel beleuchtet. Nun frage ich, warum der Fundamentalismus die Artikulationsform der eben angesprochenen Ablehnung der kulturellen Moderne ist. Zunächst ist es wichtig, den Begriff «Fundamentalismus» und -65-
seinen Inhalt zu spezifizieren. Im Arabischen sowie in den anderen orientalischen Sprachen hat sich der Begriff Usuliyya34 als eine Übersetzung für den westlichen Begriff «Fundamentalismus» etabliert; Muslime sprechen im allgemeinen jedoch schlicht vom Islam. Jene aber, die wir in den europäischen Sprachen Fundamentalisten nennen und die im Orient als Usuliyyun gelten, vertreten eine bestimmte Interpretation des Islam als din wa daula (wörtliche Übersetzung: Religion und Staat, das heißt Gottesstaat). Diese Interpretation der Religion als integrale Weltanschauung zielt auf einen absoluten Einklang des politischen, sozialen und ökonomischen Lebens der Muslime mit den religiösen Vorschriften des Islam ab, so wie sie im Koran und in der Überlieferung des Propheten/Hadith dargelegt werden. Mit anderen Worten: Es geht um die unanfechtbare Autorität des Textes als sola scriptura. Fundamentalisten glauben an die ausschließliche Autorität des Textes und wollten seine geeignetste Anwendung. Auch orthodoxe Muslime sind unter den Monotheisten diejenigen, die an die exklusive und absolute Wahrheit ihrer Offenbarung glauben. Der Fundamentalismus ist aber eine moderne Erscheinung, und so werden in den geheiligten Text moderne Inhalte projiziert. Als ein Beispiel können wir anführen, daß die Vertreter der fundamentalistischen Interpretation der Texte islamischer Offenbarung die politische Forderung nach einem al-Nizam al-Islami/islamischen System erheben. Zwar ist der Islam seit seiner Stiftung im Jahre 610 eine für Politisierung anfällige Religion, aber die hier angesprochene politische Interpretation des Islam und selbst das Wort nizam/System sind neu. Somit zeigt die Geschichte des Islam und seiner religiösen und politischen, stets historisch bedingten Formen, daß die zeitgenössischen politischen Varianten des fundamentalistischen Islam, vor allem diejenigen, die mit der Entwicklung seit den 70er Jahren zusammenhängen, eine völlig neue Erscheinung sind.35 Hier wird ein -66-
Charakteristikum des Fundamentalismus deutlich: der Zusammenhang zwischen Text und Kontext. Es wurde bereits hervorgehoben, daß eine Gemeinsamkeit aller Fundamentalisten der Glaube an die Buchstäblichkeit des Textes, sola scriptura, ist. Texte werden aber von Menschen gelesen, so daß das Verständnis gleichermaßen mit der Perzeption des Lesenden und mit dem historischen Kontext korrespondiert. Ebenso wie Fundamentalisten die Antinomie ihres Denkens (Akzeptanz der Errungenschaften der Moderne bei gleichzeitiger Ablehnung des menschzentrierten, rationalen Weltbildes, aus dem diese hervorgegangen sind) nicht erkennen, bleiben ihnen die mit der Korrelation Text-Kontext zusammenhängenden Antinomien ihrer Bekenntnisse verschlossen. Doch nicht nur Projektion und Textgläubigkeit, das heißt Ahistorizität, bestimmen die Weltsicht der Fundamentalisten im Umgang mit dem «heiligen» Text; auch ein hoher Grad an Selektivität ist festzustellen. So gehen Textgläubigkeit und Willkür bei dem Rückgriff auf den Text Hand in Hand. Das zentrale Argument bei meiner Deutung des Fundamentalismus ist, daß diese Variante religiöser, nichtwestlicher Ideologien eine defensivkulturelle Reaktion auf die europäische Moderne darstellt. Entsprechend bildet die Globalisierung der institutionellen Dimension der europäischen Moderne den historischen Kontext, in dessen Rahmen islamische Fundamentalisten einzig die Lektüre des Korans und der Überlieferung des Propheten Mohammed als sola scriptura gelten lassen. Der Text ist beinahe 14 Jahrhunderte alt, der Kontext, der diesen umrahmt, ist die Krise des Islam im modernen Zeitalter. Sprachlich handelt es sich zwar um denselben Text, für den die Fundamentalisten eine überzeitlichüberräumliche Bedeutung und Geltung beanspruchen, aber der Kontext schmiedet den Text in dem Sinne, daß er das Verständnis der Lesenden, hier der Fundamentalisten, sowie die Art ihrer Lektüre entscheidend prägt. Der Kontext ist, wie -67-
bereits hervorgehoben, die Herausforderung, welche von der europäischen Moderne gleichermaßen als einem kulturellen Projekt und als einer institutionellen, nunmehr globalisierten Struktur ausgeht und welcher der moderne Islam ausgesetzt ist. Leider gelingt es selbst klugen islamischen Reformern wie Fazlur Rahman36 nicht, diesen Zirkel zu durchbrechen. Das Produkt dieser historischen Situation ist die angesprochene Krise des modernen Islam als einem kulturellen System mit vormodernen Normen und Werten. Islamische Fundamentalisten sind die Kinder dieser Krise, und die religiöspolitische Ideologie, der sie anhängen, ist «die Ekstase des aufrechten Ganges und des geduldlosen, rebellischen ernstlichsten Willens»,37 diese Krise zu überwinden.
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3. Zwischen Religion und Ideologie: Das politische Wiedererstarken des Islam Das Dilemma bei der Deutung des religiösen Fundamentalismus besteht darin, daß es sich bei diesem einerseits um ein soziales, andererseits um ein religiöses Phänomen handelt. Der Islam wird von Fundamentalisten als eine Artikulationsform herangezogen und dient ihnen dazu, politische und soziale Belange in ein religiöses Gewand zu kleiden. Wenn hier diese Interpretation vorgenommen wird, dann muß parallel vor zwei Fehldeutungen gewarnt werden. Es wäre falsch, im fundamentalistischen Rückgriff auf den Islam einen bewußten Mißbrauch zu sehen. Denn beim Fundamentalismus handelt es sich um ein Islam-Verständnis gläubiger Muslime, die im Islam als ihrem kulturellen System Zuflucht suchen. Dieses Islam-Verständnis hat auch insofern einen sozialen und kulturellen Hintergrund, als es eine Reaktion auf die Herausforderung der kulturellen Moderne ist und mit ihren bereits angesprochenen Krisenerscheinungen korrespondiert. Eine weitere mögliche Fehldeutung wäre es, den politischen Islam als eine politische Ideologie auf die gleiche Ebene einer jeden anderen Ideologie zu setzen. Dies würde insofern zu einer falschen Interpretation führen, als Religionen stets einen besonderen Stellenwert im Vergleich zu säkularen Ideologien haben. Wir wissen aus dem Werk Max Webers, daß Religionen Gesinnungskomplexe bilden, die selbst erheblich und auch ursächlich soziopolitische und ökonomische Gesellschaftsformationen prägen können; sie können auch, wie Ernst Bloch sagt, «in religiös erregten Zeiten»38 zentraler als irgendein anderer Faktor in den entsprechenden Prozessen wirken. Kurz: Beim religiösen Fundamentalismus haben wir es mit einem Phänomen dualer Natur39 zu tun; es ist gleichermaßen politisch und religiös. Sozialwissenschaftler und oft sogar -69-
Religionssoziologen, die mit dem Phänomen des Religiösen als einem ausschließlich sozialen Faktor reduktionistisch umgehen, zeigen relativ wenig Sensibilität und ein geringes Verständnis für die Autonomie des Religiösen. Im Vorfeld dieser Studie über den islamischen Fundamentalismus als einer defensivkulturellen Reaktion auf die Globalisierung der europäischen Moderne und ihrer technischwissenschaftlichen institutionellen Dimension müssen wir daher stets im Auge behalten, daß die spezifisch religiöse Komponente in der hier als politischer Islam behandelten Ideologie eine angemessene Berücksichtigung findet, um nicht derselben, gerade kritisierten Vorgehensweise zu verfallen. Auch die fundamentalistische Vorstellung von einer islamischen Weltordnung ist in diesen Kontext einzuordnen; sie ist nicht bloß politische Ideologie, sondern auch religiöser Glaube in dem soeben definierten Sinne. Statt des sachlich falschen Begriffs der Re-Islamisierung schlage ich vor, den Ausdruck «die Re-Politisierung des Sakralen im islamischen Orient»40 zu verwenden. Damit wird der Gegenstand der vorliegenden Studie präzisiert: Es geht nicht um eine Re-Islamisierung in den islamischen Ländern, denn dieser Begriff unterstellt semantisch gesehen -, daß der Islam einmal verdrängt worden ist und daß nun eine Rückkehr zu ihm stattfindet. Kenner des islamischen Orients wissen, daß der Islam als Glaubenssystem und auch als kulturelles System niemals an Bedeutung für seine Angehörigen verloren hat. Zwar war insbesondere im arabischen Osten (Maschrek) nach dem Scheitern des islamischen Modernismus eine Verdrängung des Islam als politische Ideologie durch säkulare Ideologien wie Nationalismus und Sozialismus zu beobachten. Der Islam hat jedoch als normative Orientierung für die Muslime, als soziokultureller Rahmen sowie als eine Quelle für ihre Weltsicht niemals an Einfluß eingebüßt. Die Rückkehr des Islam als politische Ideologie kann man daher nicht als Re-Islamisierung, sondern muß sie angemessener als politisches Wiedererstarken -70-
beziehungsweise als Re-Politisierung des Sakralen charakterisieren. Der Inhalt des hier zum Untersuchungsgegenstand bestimmten Prozesses, aus dem das völlig neue Phänomen des islamischen Fundamentalismus hervorgegangen ist, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: In den meisten islamischen Ländern erheben militante politische Gruppen sowie zahlreiche politische Schriftsteller und Pamphletisten den Anspruch, daß der Islam nicht nur eine Religion sei, sondern ein din wa daula (eine mit staatlicher Ordnung verquickte Religion oder, freier und besser ausgedrückt in der Terminologie George Balandiers: eine «Entsprechung des Sakralen und des Politischen»). Daraus wird die Forderung nach einem Nizam Islami, das heißt einem islamischen politischen System, abgeleitet und zum Inhalt einer politischen Ideologie sowie eines politisch-oppositionellen Programms erhoben. Das Konzept des «islamischen Systems» bietet eine Grundlage für die islamische Revolte gegen die bestehende Weltordnung, die in Kapitel III näher erläutert wird. In historischer Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung des islamischen Kernbereichs geht der zeitgenössische islamische Fundamentalismus auf die totale und demütigende Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-TageKrieg im Juni 1967 zurück.41 Bereits eine Auswertung von verbreiteten Publikationen des politischen Islam kann einen eindeutigen Beleg für diese Aussage bieten. Eine der einflußreichsten Äußerungen stammt von dem Fundamentalisten Yusuf al-Qaradawi in seinem Buch alhall al-Islami wa alhulul almustawrada/Die islamische Lösung und die importierten Lösungen.42 Mit dem Hinweis auf Israel und darauf, daß die Israelis nicht nur religiös, sondern auch politisch zu ihrer Religion stehen, wird folgendes Argument vorgetragen: Die Muslime hätten versagt, weil sie ihrem Islam politisch den Rücken zugekehrt hätten. Es gehe nun darum, diese Situation durch eine Rückkehr zum wahren Islam zu ändern, und das nicht -71-
nur zur Religion, sondern auch und vor allem zu einem Nizam Islami (einem islamischen System, das heißt einer politischen Ordnung). Außerdem wird der europäischen kulturellen Moderne eine radikale Absage erteilt, jedoch nicht deren technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften. Dabei ist der Begriff des Nizam Islami nicht im engeren Sinne islamisch, er kommt weder im Koran noch in der Überlieferung des Propheten (Hadith) vor. Das Wort Nizam ist vielmehr, wie bereits angeführt, neuarabisch und eine Übersetzung von «System», wie der bedeutende Islamwissenschaftler W. C. Smith nachgewiesen hat.43 Dieser Sachverhalt belegt unsere bisherigen Ausführungen über den Zusammenhang von Text und Kontext und zeigt die kontextuelle Bedingtheit der politisch revitalisierten Text-Gläubigkeit. Die Re-Politisierung des Sakralen im arabischen Orient nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 erklärt nicht, warum der Islam auch in Westafrika und in Südostasien politisiert wurde. Im Rahmen meiner in internationalen Institutionen betriebenen Forschung, die über den arabischen Orient hinausgeht, bin ich zu folgender Erklärung gelangt: Der arabische Orient ist religiös und kulturell gesehen - das Kerngebiet des Islam. Der französische Islam-Forscher Maxime Rodinson stellt fest, daß der Islam, der ursprünglich «eine arabische Religion für die Araber»44 war, erst durch die islamischen Eroberungen einen universellen Charakter bekam. Die islamische Doktrin war jedoch von Anfang an universell ausgerichtet. Es ist nicht arabozentrisch, festzustellen, daß der arabische Orient seine Zentralität im Islam behält. Von diesem Kerngebiet aus sind in den 70er Jahren «Spill-Over-Effekte» ausgegangen, die jedoch mit bereits bestehenden Krisenerscheinungen in den nichtarabischen islamischen Gebieten koinzidierten. Somit wurde die Re-Politisierung des Islam ein übergreifendes und überregionales Phänomen.45 Diese Interpretation schließt damit jene verbreitete und schon diskutierte Deutung aus, daß der -72-
fundamentalistische Islam eine Ausgeburt des Erdölbooms seit der ersten Welt-Energiekrise 1973 sei, also von den arabischen «Öl-Scheichs» global angestiftet worden sei. Damit soll allerdings nicht bestritten werden, daß die Saudis fundamentalistische Bewegungen stets finanziell gefördert haben. Dies ist aber nicht die Ursache für die Entstehung des islamischen Fundamentalismus. Die Tatsache, daß die Saudis mit ihren Petro-Dollars islamisch-fundamentalistische Strömungen finanziell massiv unterstützten, hat vielmehr dazu beigetragen, daß die saudiarabische Vision von dem in der Realität kulturell vielfältigen Islam an Priorität gewonnen hat. Die Saudis, die während des Golfkrieges von den islamischen Fundamentalisten selbst angefeindet wurden, zahlen dadurch die Zeche für das, was sie finanziell gefördert haben; dennoch sind sie nicht die Urheber des islamischen Fundamentalismus. Nun stellt sich für uns wiederum die zentrale Frage: Warum entwickeln sich muslimische Intellektuelle, die bisher westlichsäkular dachten, zu Fundamentalisten? Meine zentrale These lautet, daß der islamische Orient seit den 70er Jahren eine tiefgreifende Krise durchläuft, die sowohl intern als auch extern bedingt ist. Der Islam, als Ausdruck der autochthonen Kultur, bietet die geeignetsten und für die Bevölkerung akzeptabelsten Symbole in dieser Krisensituation, weil diese eine doppelte Funktion erfüllen. Islamische Fundamentalisten münzen die eigene, durch die Konfrontation mit der Moderne ausgelöste Krise in eine Krise der Moderne selbst um. Islamische Symbole bieten ihnen zum einen eine autochthone Artikulationsform politischer Inhalte in einer Situation, in der die fremde, das heißt nichtislamische Umwelt als eine Bedrohung der eigenen Identität perzipiert wird. Zum anderen haben mittels islamischer Symbole artikulierte politische Inhalte die Chance, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen und zu mobilisieren, eine Option, die säkularen Ideologien als städtischem ElitenGedankengut verwehrt bleibt. Die Krise ist zugleich strukturell, -73-
also sozioökonomisch, und eine Sinnkrise, woraus sich die duale Natur (vgl. Anm. 39) des religiösen Fundamentalismus erklärt. Die Sprache der Moderne und damit die der Menschenrechte im Sinne individueller Rechte ist den meisten Muslimen dagegen kulturell fremd. Sie kennen das Subjektivitätsprinzip der Moderne nicht. Die aus den damit zusammenhängenden Prozessen der Individuation hervorgegangenen individuellen Menschenrechte haben leider keine Wurzeln im Islam, der vom Kollektiv/Umma ausgeht und das Individuum diesem unterordnet.46 Der politische Islam hat mehr «appeal» als irgendeine der säkularen Ideologien, die ohnehin, wie angedeutet, nur von städtischen Eliten vertreten und von der analphabetischen ruralen Mehrheit der Bevölkerung als ein Import aus dem verhaßten Westen wahrgenommen werden. Unter westlich gebildeten, städtischen sozialen Schichten hat es zwar auf der Ebene der Normen eine Verbreitung von säkularen Ideologien gegeben, nicht aber eine Säkularisierung im Sinne der Veränderung von Gesellschaftsstrukturen. Eine auf normativer Ebene erfolgte Verbreitung säkularer Ideen ist noch keine Säkularisierung. Letztere ist ein sozialstruktureller Prozeß, der sich in der Realität und nicht nur in den Köpfen niederschlägt. Um den sozialen Ursprung des islamischen Fundamentalismus als einer antiwestlichen Ideologie besser zu verstehen, ist es von zentraler Bedeutung, das Verhältnis des Islam zu sozialem Wandel im modernen Zeitalter unter den strukturellen und kulturellen Bedingungen der Globalisierung zu betrachten. Hierbei ist die kulturelle Moderne von der institutionellen, das heißt technisch-wissenschaftlichen Moderne zu unterscheiden. Alle Gesellschaften wandeln sich, auch die islamischen (trotz des europäischen Vorurteils vom homo islamicus beziehungsweise von der stationären Produktionsweise asiatischer Gesellschaften). Doch jenen Typ sozialen Wandels, der im islamischen Orient seit der Berührung -74-
mit dem europäischen Kolonialismus bis heute - sogar in einer noch weit intensiveren Weise - vorherrscht, möchte ich als extern ausgelösten Wandel kennzeichnen. Diese Charakterisierung des Wandels steht hinter der Wahrnehmung der Fundamentalisten, daß alles Übel in ihren Gesellschaften von außen, das heißt aus der europäisch-westlich dominierten Umwelt des islamischen Orients herrührt. In diesem Zusammenhang wird die Weltordnung als eine aus dem Westen stammende Bedrohung wahrgenommen. Zur Abwehr beleben sie in einer defensivkulturellen Manier einheimische Normen und Werte, deren Substrat einmal in Sozialstrukturen vorhanden war, die heute jedoch aufgrund weitreichender Auflösungsprozesse nicht mehr existieren. Die Revolte des islamischen Fundamentalismus gegen den Westen bringt eine tiefliegende Krise islamischer Gesellschaften zum Ausdruck. Eine Lösung hierfür ist für die Fundamentalisten die Zauberformel «islamische Ordnung». In Algerien, Timesien und anderswo in der «Welt des Islam» glauben Fundamentalisten, daß diese Ordnung alle Probleme (Überbevölkerung, Wirtschaftskrise, Wohn- und Nahrungsmittelmangel etc.) lösen würde. Parallel zur Krise des Islam findet auch eine Krise der Moderne im Westen selbst statt. Islamische Fundamentalisten sind informierte Menschen, die diese westlich-europäischen Debatten verfolgen können; sie freuen sich über die zunehmende Kritik der Europäer an ihrer eigenen Moderne, ja sie stellen diese Kritik in ihren Dienst als einen westlichen Beweis für das Versagen der Moderne und die Wahrheit der islamischen Lösung. Zu der postmodernen Kritik an der europäischen Moderne fügen islamische Fundamentalisten noch ihre eigenen Klischees hinzu, etwa die Gleichsetzung der Moderne mit Alkoholismus, Promiskuität und schrankenloser sexueller Freiheit mit zahllosen unehelichen Kindern und Schwangerschaftsabbrüchen als Folgen. Es wird dann -75-
argumentiert, daß der Islam seine Gläubigen vor diesen «kulturellen Krankheiten» schützt. Im Gegensatz zu ihren christlichen Counterparts sprechen muslimische Fundamentalisten hierbei orientalische Ehrbegriffe an, die nach ihrer Auffassung von der Moderne in Frage gestellt werden. Die Ehre des orientalischen Muslims konzentriert sich auf den Schutz der weiblichen Angehörigen seiner Familie vor den Gefahren der Außenwelt. Für diesen gibt es keinen tieferen Abgrund als vaterlos zu sein. Aufgrund der Assoziation mit Vaterlosigkeit, Promiskuität und sexueller Freiheit - das ist ein zentraler Topos der arabischsprachigen FundamentalismusPamphlete47 wird die Moderne als eine Perspektive für den islamischen Orient abgelehnt. Diese einseitige Sicht der Moderne wird gleichermaßen von manchen Postmodernisten und den auf einem völlig anderen Boden operierenden islamischen Fundamentalisten - wenn auch in unterschiedlichem Maße - geteilt. Im Gegensatz dazu müssen wir unser Augenmerk auf die wirklichen Inhalte der Moderne und die damit verbundenen Werte richten, um zu einem besseren Verständnis des Fundamentalismus als einer defensivkulturellen Reaktion auf die europäische Moderne in nichtwestlichen Kulturen zu gelangen. Soweit es um den Islam geht, scheint mir eine Kontrastierung des britischen Orient-Forschers Fred Halliday zitierenswert, die er bei seiner Besprechung meines Beitrags zum Verständnis des modernen Islam vorgenommen hat: In bezug auf die großen Religionen wird eine Unterscheidung immer wichtiger, nämlich die zwischen einer Religion, die bestimmte allgemeine Prinzipien gegenwärtigen demokratischen Lebens respektiert, und jener, die das nicht tut... Bisher haben weder die Traditionalisten noch die islamischen Modernisten mit den doktrinären Zwängen, die sie hemmen, gebrochen.48
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4. Die kulturelle Moderne und die europäische Eroberung der Welt Die europäische Moderne ist doppelgleisig: Sie manifestiert sich zum einen in dem Projekt der kulturellen Moderne - den mit den Schlüsselereignissen der Reformation, Aufklärung und der Französischen Revolution korrespondierenden historischen Prozessen, auf deren Basis sich das abendländische Prinzip der Subjektivität entfaltet hat. Seine Implikationen sind nach Habermas a) Individualismus (das Prinzip der Individuation), b) Recht auf Kritik, c) Autonomie des Handelns (Selbstbestimmung des Menschen) und schließlich d) die idealistische Philosophie als «die sich wissende Idee» (vgl. Anm. I). In diesem Kontext wird der religiöse Glaube reflexiv, und die menschliche Vernunft wird «gegen den Glauben an die Autorität von Verkündung und Überlieferung», wie Kant sagt, «als oberster Gerichtshof» hervorgehoben (vgl. Anm. I). Doch die europäische Moderne ist nicht nur dieses kulturelle Projekt, dessen historische Prozesse sich ausschließlich in Europa ereigneten und in dessen Rahmen die Menschen sozialisiert wurden. Die europäische Moderne ist auch institutionalisiert worden und hat sich in der Wissenschaft und Technologie materialisiert, die Europa dazu verholfen haben, als eine Militärmacht die Welt zu erobern und eine westlich dominierte Weltordnung aufzubauen. Diese Dimension der Moderne steht im Zentrum des vorliegenden Buches und wird als globalisierte technisch-wissenschaftliche Modernität bezeichnet. Während die kulturelle Moderne durch das Prinzip der Subjektivität die Freiheit des Individuums von überlieferter Tradition und von den mit ihr zusammenhängenden verkrusteten Strukturen begründet, ist die institutionelle Dimension der Moderne (vgl. Anm. 2) auf Herrschaft und Modernisierung von Unterdrückung gerichtet. Die europäische koloniale Eroberung -77-
der Welt ist der Rahmen der Globalisierung der institutionellen Moderne. Die kulturelle Moderne gilt nur im Westen, und ihre institutionelle Dimension ist das Merkmal der Globalisierung und somit der Begründung einer Weltordnung. Nichteuropäer haben die Moderne in ihrer institutionellen Dimension als ein Herrschaftsprojekt, nicht aber als kulturelle Moderne erfahren. Und doch gehört zur Dialektik der Moderne, die ich nicht als «Dialektik der Aufklärung» sehen möchte, daß sie ungewollt durch die «List der Vernunft» auch ihre kulturellen Werte exportiert. Die gesamten Prozesse der Entkolonisierung in Asien und Afrika basieren auf der Aufnahme europäischer Ideen wie Freiheit und Volkssouveränität und deren Aktivierung eben gegen das koloniale Europa durch europäisch gebildete, nichtwestliche Menschen, zu denen auch die Muslime gehören.49 Die Muslime haben Europa nicht als Ursprung der «Aufklärung», sondern als ein militärisch überlegenes Kolonialsystem erfahren. Bereits die ersten Niederlagen der muslimisch-osmanischen Armeen in den «Türkenkriegen» gegen die europäischen, technologisch überlegenen Armeen waren der Beginn dieser Erfahrung. In diesem Zusammenhang ist auch der soziale Wandel in außerokzidentalen Gesellschaften zu sehen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in ein von Europa beherrschtes Weltgefüge zwangsintegriert wurden. Der soziale Wandel wird, wie bereits argumentiert, in diesen Regionen seitdem primär extern ausgelöst. Die Bedingungsfaktoren bestehen aus einem Komplex von externen und internen Elementen. Das ist der welthistorische Kontext des islamischen Fundamentalismus, in dessen Ideologie man trotz aller Anfeindung eine Fülle von Anleihen aus ebendiesem verhaßten Westen vorfindet. So wichtig es auch ist, auf die genannten Faktoren hinzuweisen, liegt es mir dennoch fern, diese Entwicklung monokausal und eingleisig auf die europäische Beherrschung der Welt des Islam zurückzuführen. Ein zentrales Merkmal eines -78-
solchen, primär von außen ausgelösten Wandels ist, daß er von den Betroffenen als eine Bedrohung durch fremde Mächte wahrgenommen wird. Einheimische Normen und Werte - hier ein vormodernes Verständnis des Islam -, die ihr Substrat in Sozialstrukturen haben, welche vor diesem Wandel existierten und von diesem erschüttert und erheblich verändert wurden, überdauerten den Wandel; sie veränderten sich nicht analog zu dem Strukturwandel, wie es bei einem Typ von innerem sozialem Wandel der Fall ist, der in Europa stattgefunden hat. Und doch bleiben diese Normen und Werte nicht unverändert, sosehr die Muslime auch an ihren Purismus, das heißt an die Reinheit der Doktrin, glauben. Diese textuell in den religiösen Schriften fixierten Werte werden in der Wahrnehmung kontextuell bedingt. Das entsprechende weltpolitisch bedingte Verhältnis von Text und Kontext charakterisiert den islamischen Fundamentalismus: Er ist weder ein Traditionalismus noch ein Modernismus, vielmehr ist er «ein Traum von der halben Moderne».50 Menschen müssen in einer sich wandelnden Welt ihre Identität bewahren. Ihre Umwelt erscheint ihnen nicht mehr bestimmbar; sie bedarf aber der Bestimmung zur Bewahrung der Identität des Menschen. In einem solchen historischen sozialpsychologischen Kontext gewinnt die Religion eine zentrale Funktion. Religion ist hier nicht bloß Ideologie, sondern «ein Wille zum Paradies» und ein Orientierungsmuster. Diesen sozialen Vorgang, der in vielen außerokzidentalen Gesellschaften zu beobachten ist, kann man intensiv auch in Gesellschaften islamischer Kultur feststellen. Je rapider der soziale Wandel ist und je unbestimmbarer die Umwelt für die betroffenen Individuen wird, desto stärker wird das Bedürfnis nach Sicherheit bietender Religion. Der Wandel wird schlechthin als eine Bedrohung empfunden, die von außen vom Westen herrührt. Die Sehnsucht nach Vergangenem wird kultiviert. Die Wiederherstellung des durch das Fremde -79-
zurückgedrängten und überlagerten Autochthonen, eine Rückkehr und zugleich eine Rückbesinnung, wird nun auf der Basis der Lektüre der religiösen Skriptur zum politischen Aktionsprogramm erhoben. Die europäische Moderne als Rahmen für eine Weltordnung erscheint den Muslimen in dieser Situation als Quelle ihres Elends, sosehr sie und ihre Lektüre der religiösen Texte auch von ihr geprägt werden. Nur die einheimische Religion, das heißt der Islam als ein kulturelles System, kann in dieser Krisensituation eschatologisches Heil versprechen. Dieser Hintergrund mag das appeal der militanten islamischen Gruppen gerade auf jene oberflächlich modernen Schichten, die vom Wandel und dessen Folgen am meisten betroffen sind, erklären. Es ist somit kein Zufall, daß die Fundamentalisten vorwiegend städtische Universitätsstudenten und Absolventen von Hochschulen sind, die zwar oft aus ländlichen Gebieten stammen, aber keine pauperisierten Bauern sind. Mit anderen Worten: Fundamentalisten findet man in den islamischen Ländern nur in Großstädten und unter halbgebildeten Schichten, nicht aber in ländlichen Gegenden und niemals unter der analphabetischen bäuerlichen Bevölkerung. Der städtische Charakter des Fundamentalismus verrät seine enge Bindung an die Moderne, die er als eine Weltordnung zu bekämpfen trachtet. Die Einschätzung des Phänomens des islamischen Fundamentalismus erfordert eine Bewertung der möglichen Zukunft dieser Erscheinung. Deshalb müssen wir uns im Rahmen der Analyse des politischen Islam im Sinne der RePolitisierung des Sakralen die Frage stellen, welche Zukunftsperspektiven die islamischen Fundamentalisten als Alternative zur Moderne offerieren und ob ihre Forderungen der Zeit, in der wir leben, entsprechen. Nach Ansicht der Fundamentalisten würde das existierende Elend, das die Krise bedingt, in einem islamischen System, im Nizam Islami, überwunden werden. Dieses Buch versucht deshalb zu erklären, -80-
was ein «islamisches System» ist und ob es das Heil zu realisieren vermag, das islamische Fundamentalisten sich davon versprechen. In den islamischen Ländern ist das zentrale Problem die Überwindung von Unterentwicklung. Hierfür liefern die Träger des politischen Islam keine Lösung, da ihr Denken sich in einer defensivkulturellen Reaktion auf die Folgen des rapiden sozialen Wandels erschöpft, nicht aber eine Strategie zur Bewältigung der Moderne und der aus ihr für die Muslime entstehenden Probleme bietet. Die politische Praxis des Fundamentalismus umfaßt neben den defensivkulturellen Einstellungen auch den «Terrorismus».51 In islamischen Ländern ist diese Tatsache schon lange bekannt,52 aber es bedurfte der Tragödie des 11. September 2001, um international darauf aufmerksam zu machen. Auch dieser Terrorismus vermag die angesprochenen Probleme der Muslime nicht zu lösen. In bezug auf die islamische Welt erfordert die Überwindung von Unterentwicklung nicht nur einen Strukturwandel, sondern auch ein umfassendes gesellschaftspolitisches Konzept und eine veränderte dynamische kulturelle Weltsicht. Der politische Islam als ein politischer Aktionismus erfüllt beide Erfordernisse nicht. Der islamische Fundamentalismus ist charakterisiert durch und erschöpft sich in der Gläubigkeit an die Autorität des Textes. Auf den Text wird aber nicht nur selektiv zurückgegriffen, sondern dieser wird auch im Kontext der Moderne gelesen, jedoch ohne daß sich Fundamentalisten dessen bewußt sind. In der Wahrnehmung der Fundamentalisten ist der Text gleichermaßen heilig, absolut und einzig autoritativ und dazu noch überzeitlich-überräumlich gültig. Dennoch gibt es viele Lesarten und unterschiedliche Interpretationen des Textes, so daß sich nicht nur ein einziger Inhalt bei der ohnehin selektiv erfolgenden Lektüre - ergibt. Aus diesem Grund benötigen die Fundamentalisten charismatische Führer als persönliche Autoritäten, die glauben helfen, daß sie die -81-
einzig gültige Bedeutung des Textes vermitteln. Diese Autoritäten können bereits verstorbene Personen sein, wie die wichtigste Autorität des zeitgenössischen fundamentalistischen Islam, Sayyid Qutb. In seinen eine größere Verbreitung als der Koran selbst genießenden Schriften sagt er autoritativ, welche Botschaft der Koran an die Muslime in ihrer Konfrontation mit der europäischen Moderne und mit den Folgen ihrer Globalisierung verkündet. Fundamentalisten brauchen aber auch lebendige Personen, die ihnen als charismatische Führer den Weg zeigen. Im Hinblick auf die Revolte gegen die Weltordnung schien Saddam Hussein die Rolle des Führers der islamischen Massen einzunehmen. Die Fundamentalisten bilden aber keine einheitliche Bewegung, sondern eher zahlreiche sektiererische Gruppen, die jeweils ihren lokalen Führer haben, der ihnen den Weg weist. Diese semibis pseudocharismatischen Figuren sind ebenso zahlreich wie die fundamentalistischen Gruppen selbst. Diese strukturelle Schwäche der fundamentalistischen Bewegung erschwert es ihr, zu einem politischen Faktor zu werden, der die vorhandene Zustimmung zur Ideologie in politische Macht umsetzen kann. Zusammenfassend können wir auf konzeptueller Ebene festhalten, daß Fundamentalisten, die keine Traditionalisten, sondern moderne Menschen sind, sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Moderne selektiv auf die religiösen Texte berufen, die Vergangenheit (den Stadtstaat von Medina mit dem Propheten Mohammed als seinem Oberhaupt) als ein goldenes, richtunggebendes Zeitalter verherrlichend heraufbeschwören und hierbei mediäre Persönlichkeiten als charismatische Führer benötigen. In der Krise sind sie auf der Suche nach dem im eschatologischen Sinne Absoluten, ihrem Heil. Dennoch ist der religiöse Fundamentalismus - als eine politische Ideologie - von der Moderne, die er eigentlich zu bekämpfen trachtet, beeinflußt, ja geprägt. Von der Moderne werden die instrumentellen Errungenschaften wie Wissenschaft -82-
und Technologie sowie deren Produkte, nicht aber das rationale Weltbild übernommen, ohne das die Moderne gar nicht zustande gekommen wäre. Die Kritik am politischen Islam sollte aber nicht so verstanden werden, daß es für den Islam als Religion keinen Platz in der noch fehlenden Zukunftsperspektive für den islamischen Orient gibt. Entwicklung ist keine Imitation. Die kulturelle europäische Moderne ist im islamischen Orient nicht wiederholbar. Hinter ihre Leistungen (zum Beispiel Menschenrechte) darf man jedoch nicht zurückfallen. Soziokulturelle Normen haben in der Geschichte immer eine Schlüsselrolle in den entsprechenden sozialen Wandlungen gespielt. Eine dynamische Erneuerung des Islam, die sich nicht in einer defensivkulturellen Reaktion erschöpft, ist ein immer noch erforderlicher, aber bisher fehlender Beitrag der Muslime zur Bewältigung der Moderne. Kurzum: Der islamische Fundamentalismus ist ein Produkt einer defensivkulturellen Reaktion auf die Globalisierung der Moderne. Dabei ist stets zu vergegenwärtigen, daß «Moderne» nicht immer gleichbedeutend ist mit kultureller Moderne, das heißt mit Menschenrechten und Demokratie, denn «Moderne» bedeutet auch den Aufstieg des Westens mittels militärisch überlegener moderner Waffentechnologie. Die Verbreitung der kulturellen Moderne erfolgt durch Universalisierung, wohingegen die institutionelle Moderne globalisiert wird. Dies bedeutet, daß wir streng zwischen Universalisierung der Werte und Globalisierung der Strukturen unterscheiden müssen. Mit beiden Dimensionen der Moderne werden außereuropäische Völker, hier die Muslime, konfrontiert. Das Phänomen Fundamentalismus steht in diesem Kontext. Mit anderen Worten: Fundamentalismus und Moderne zu analysieren heißt anzuerkennen, daß beide auf mannigfaltige Weise aufeinander bezogen sind. Zwischen beiden herrscht jedoch ein Kampf, der sich in Asien und Afrika und am virulentesten in dem Haus des Islam/Dar al-Islam vollzieht und den Beginn des 21. -83-
Jahrhunderts auf der Suche nach einer neuen Weltordnung prägt. Der historische Hintergrund dieses Zusammenpralls ist der Aufstieg des Westens, der mittels seiner Wissenschaft und Technologie die gesamte Welt erobern und eine Weltordnung gründen konnte. Die Moderne bleibt gespalten in ein kulturelles Projekt, das sich ausschließlich im Westen durch die Umsetzung des Subjektivitätsprinzips in verbriefte, institutionell geschützte Menschenrechte materialisiert hat, und in eine global herrschaftsbezogene institutionelle Dimension (technischwissenschaftliche Modernität). Letztere fand, unter anderem vor allem durch die Diffusion der westlichen Waffentechnologie, eine umfassende Globalisierung. Gegen diese Weltordnung richtet sich die Revolte der außereuropäischen vormodernen Kulturen. In dem arabischen Teil des Dar al-Islam, das heißt dem arabischen Nahen Osten, nimmt diese Revolte die Form einer Ablehnung der von den USA als nahöstliche Pax Americana angestrebten Neuordnung jener Region sowie der gesamten Welt an. Im Gegenzug kultivieren islamische Fundamentalisten die rückwärtsgewandte Utopie einer Pax Islamica, welche die westliche Dominanz durch eine islamische abzulösen trachtet (vgl. Anm. 51). Die Muslime empfinden sich als fremden Mächten ausgeliefert und reagieren hierauf zum Teil militant. Die High-Tech-Kriege am Golf (1991) und in Afghanistan (2001) haben sie gedemütigt. Wie nie zuvor ist ihnen ihre wissenschaftlich-technische Unterlegenheit vor Augen geführt worden. Die Antwort der Muslime in dieser Situation heißt: militanter Fundamentalismus.53
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III. DIE REVOLTE DES ISLAMISCHEN FUNDAMENTALISMUS GEGEN DIE WELTORDNUNG: KULTURELLE FRAGMENTATION, KONSENSVERLUST UND MACHTDIFFUSION IN DER WELTPOLITIK Der islamische Fundamentalismus ist eine zeitgeschichtliche Krisenerscheinung: die Politisierung des Sakralen im Islam. Die fortschreitende Globalisierung der politischen, ökonomischen und kommunikationstechnologischen Strukturen geht mit einer wachsenden internationalen kulturellen Fragmentation einher. Diese Spannung zwischen Globalisierung und Fragmentation bildet eine Konfliktquelle in der Weltpolitik, deren Konsequenz darin besteht, daß der bereits erschütterte internationale Konsens über Normen und Spielregeln, in dessen Rahmen Konflikte ohne Gewaltanwendung ausgetragen werden sollten, in Frage gestellt wird. Die Fundamentalisten gleich welcher Weltreligion lehnen diesen Konsens ab. Westliche Herrschaft setzen islamische Fundamentalisten mit der kulturellen Moderne gleich, so daß sie politische Hegemonie und Kulturimperialismus als zwei Seiten derselben Medaille betrachten. Entsprechend koppeln sie ihre Bestrebungen, das Ende der politischen Vorherrschaft des Westens herbeizuführen, an die Forderung, die Welt auch normativ zu entwestlichen. In diesem Kapitel entfalte ich einen Bezugsrahmen, der von dem Kontext unserer sich rapide wandelnden Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmt ist. Die Herausforderungen dieses unkalkulierbar scheinenden Zeitabschnitts zwingen Wissenschaftler und Praktiker der Internationalen Beziehungen dazu, veraltete Konzepte zu überdenken und sich neuen Optionen zuzuwenden, um zukünftige Entwicklungen in der -85-
Weltpolitik besser in den Griff zu bekommen. Wir benötigen dringend innovative Konzepte, die ein angemessenes Verständnis des unglaublich rasanten Wandels, der die Weltpolitik in dieser entscheidenden Epoche prägt, ermöglichen. Beim Studium des Fundamentalismus erweist sich die vorherrschende Sichtweise in der internationalen Politik, die «den Staat» und die Anwendung militärischer Gewalt in den Mittelpunkt rückt, als nicht mehr in der Lage, brauchbare Erklärungen für die stattfindenden Prozesse zu vermitteln; sie kann jedenfalls die gegenwärtige Politisierung der kulturellen Fragmentation in der bereits brüchigen internationalen Gesellschaft und die in diesem Kontext stehende Erscheinung des Fundamentalismus nicht erklären. In diesem Kapitel wird der religiokulturelle Fundamentalismus - am Beispiel des Islam - als eine treibende Kraft hinter fortlaufenden weltpolitischen Fragmentationsprozessen und einem bisher beispiellosen Zerfall des internationalen Normenkonsenses untersucht. Fundamentalisten befinden sich in der Regel nicht an der Macht. Dennoch reflektieren ihre Ansichten und Politik-Präferenzen die verbreiteten politischen Strömungen in den zumeist diktatorisch beherrschten islamischen Staaten. Außenseiter ahnen oft nicht, was in jenen Ländern, in denen freie Meinungsäußerung verboten ist, vor sich geht. Von der Ausbreitung des Fundamentalismus erfährt der Westen nur durch aufsehenerregende Vorfälle, von denen der heftigste am 11. September 2001 stattfand. Zum besseren Verständnis nehme ich im folgenden die Unterscheidung zwischen politischen Optionen der Bevölkerungsmehrheit (public choices) und staatlicher Politik vor. Der islamische Fundamentalismus wird für die Muslime immer mehr zur wichtigsten Quelle ihrer politischen Wahlmöglichkeiten. Dennoch kommt er in der offiziellen staatlichen Politik in despotisch regierten Staaten nicht zum Ausdruck, es sei denn zu legitimatorischen Zwecken. Sowohl -86-
während des Golfkrieges 1991 als auch während der heftigen Reaktion des Westens auf die Kriegserklärung Bin Ladens vom 11. September 2001 finden wir die angeführte Unterscheidung bestätigt. Während der Golfkrise gab es jedoch drei vom Fundamentalismus stark betroffene arabische Staaten Tunesien, Algerien und Jordanien -, deren nichtfundamentalistische Regierungen von ihren eigenen Bevölkerungen durch öffentliche Gewalttaten unter Druck gesetzt wurden, ihren Forderungen zu entsprechen. Der islamische Fundamentalismus ist die am weitesten verbreitete Variante der Revolte gegen den Westen. Vor seiner Invasion Kuwaits war Saddam Hussein niemals ein Fundamentalist. Nachdem er sich mit seinem Aufruf zum Djihad (bedeutet nach fundamentalistischer Interpretation ausschließlich Heiliger Krieg) gegen die USA und ihre regionalen arabischen Verbündeten dem Fundamentalismus zugewandt hatte, gewann er die unbegrenzte Unterstützung aller fundamentalistischen Bewegungen im Nahen Osten und anderen Teilen der Welt des Islam. Auf Saddam Husseins Tagesordnung stand die Zurückweisung der vorherrschenden internationalen Normen und Spielregeln, da diese westlichen Ursprungs und den Muslimen vom Westen auf gezwungen worden seien. Nur auf der Basis seiner erklärten Revolte gegen den Westen ist der irakische Diktator unter islamischen Fundamentalisten zu einem enorm populären Politiker geworden. Ähnliches gilt in bezug auf Bin Ladens Djihad-Erklärung vom 7. Oktober 2001. Charles Krauthammer hat in seinem Zeitungsartikel The Issue Is World Order, Not Just Oil die Situation nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait am 2. August 1990 angemessen erfaßt: «Das einzige, was 1973 und 1979 auf dem Spiel stand, war das Erdöl... Heute steht am Golf noch ein anderer Wert auf der Tagesordnung. Er ist noch bedeutender als Erdöl. Es ist die Weltordnung... Der Irak Saddam Husseins stellt eine Bedrohung dieser Ordnung dar.»1 Ebenso wie die Revolte gegen den -87-
Westen von 1991 ist auch die Bin Ladens2 und seiner al-Qaida im Jahre 2001 eine fundamentalistische Herausforderung der bestehenden Weltordnung. Folgende Bemerkung des bekannten, an der Universität Tunis lehrenden islamischen Denkers Hichem Djait, der während des Golfkrieges Vorsitzender des Tunesischen Komitees für die Unterstützung des Irak war, verdeutlicht diese Aussage: «In... den arabischen Ländern... sind die Grenzen von den Kolonialherren gezogen worden... Meiner Meinung nach ist die moralische Rechtfertigung für die Annexion von Kuwait in diesem Fall weit gewichtiger als das Völkerrecht.»3 International gültige, völkerrechtlich geschützte Grenzen zu verletzen und damit das Souveränitätsprinzip zurückzuweisen bedeutet, die bestehende nationalstaatliche Weltordnung abzulehnen. Das ist eine sehr ernstzunehmende Kampfansage, die sukzessive am Ende des 20. Jahrhunderts begann und am 11. September 2001 terroristische Ausmaße annahm. Das Netzwerk der al-Qaida, das sich über 55 Länder der Erde erstreckt, fordert die Souveränität der Staaten, welche die bestehende Ordnung tragen, heraus. In Anlehnung an meinen Harvard-Kollegen Joseph Nye, der zwischen Herausforderern (challengers) - den Staaten - und Herausforderungen (challenges) - strukturellen und anderen Entwicklungstrends, die der gegenwärtigen globalen Machtstruktur gegenüberstehen - unterscheidet (vgl. Anm. 6), fasse ich die zeitgenössische «Revolte gegen den Westen»4 als ein Element der neuen Herausforderungen auf. Diese Revolte hat - wie der Terroranschlag vom 11. September 2001 veranschaulichte - die Form nichtstaatlicher Politik angenommen. Die Reaktionen darauf veranlassen uns, den als Herausforderung präsentierten fundamentalistischen Politikoptionen mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen. Der nichtwestliche, religiöspolitische Fundamentalismus, dessen islamische Variante «die sich am schnellsten verbreitende»5 ist, bildet die Artikulationsform für die Revolte gegen westliche -88-
Werte. Wir benötigen einen konzeptuellen Rahmen für die internationalen Beziehungen, der sich nicht vorrangig auf die Analyse von staatlichen Akteuren und ihren politischen Strategien beschränkt; ohne einen solchen können wir den Fundamentalismus als ein Zeichen für kulturelle Fragmentation in der zunehmend brüchiger werdenden internationalen Gesellschaft nicht verstehen. Falls fundamentalistische Sichtweisen erfolgreich politisches Handeln beeinflussen, resultieren sie in einem besorgniserregenden Zerfall des internationalen Konsenses über Normen und Spielregeln, auf deren Basis die Interaktion zwischen Staaten ohne Gewaltanwendung geregelt wird. Diese Erkenntnis hilft zu verstehen, daß der Fundamentalismus - so wie er in diesem Buch unter dem Aspekt der Weltordnung untersucht wird - eine bedeutende Quelle internationaler Konflikte im 21. Jahrhundert ist. Um die Implikationen zu erkennen, die sich aus dem islamischen Fundamentalismus für die jeweiligen Problemverästelungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ergeben, müssen wir seine ideologische Untermauerung verstehen.
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1. Kulturelle Fragmentation im Kontext der internationalen Diffusion von Macht: Eine weltpolitische Perspektive für das Studium des religiösen Fundamentalismus Die vorliegende Analyse geht von der zentralen Annahme aus, daß der politische Islam als eine auf einem religiösen Fundamentalismus basierende politische Ideologie in einer Welt, die durch eine wachsende Diffusion von Macht charakterisiert ist, zu einem politischen Faktor von zunehmender Bedeutung wird. Unter Diffusion von Macht verstehe ich eine ungeordnete Situation der Macht-Verteilung. Pakistan, der Irak und Libyen sind Beispiele für Staaten, die unkontrollierten Zugang zu modernen Instrumenten der Macht gewonnen haben. Auf zwei Ebenen, sowohl der binnenstaatlichen als auch der zwischenstaatlichen, finden Prozesse der Diffusion von Macht statt. Diese werden auf internationaler Ebene durch einen Verlust der Fähigkeit der Super- und Großmächte zur Kontrolle ihrer Umwelt - aufgrund eines «Erstarkens schwacher Staaten»6 - illustriert. Am 11. September 2001 mußte die Weltöffentlichkeit erfahren, daß die bisher binnenstaatlich als non-state-Akteure agierenden Fundamentalisten weltpolitisch effektiv wirken. Obwohl kleine und schwache Staaten regional und international «erstarken», macht sich gleichzeitig ein umgekehrter Trend auf der lokalen bzw. nationalstaatlichen Ebene bemerkbar. Der in den meisten nichtwestlichen Gesellschaften stattfindende rapide soziale Wandel unterminiert die Fundamente dieser neuen Staaten, die lediglich nominale Nationalstaaten sind, weil ihnen die Substanz moderner Souveränität fehlt (vgl. Kapitel IV). Parallel zur Diffusion von -90-
Macht im zwischenstaatlichen Bereich trägt die atemberaubende Geschwindigkeit des sozialen Wandels in diesen Staaten dazu bei, Macht von der ohnehin schwachen staatlichen Zentralinstanz (Regierung) auf private Akteure und subnationale Gruppen - wie etwa fundamentalistische Bewegungen und ethno-religiöse Gemeinschaften - zu übertragen. Ein Beispiel hierfür bietet die al-Qaida-Bewegung. Das Grundmuster von «starken Gesellschaften und schwachen Staaten»7 findet man in fast allen Entwicklungsländern, insbesondere in denen, die der islamischen Zivilisation angehören. In diesen Zusammenhang ist der gegenwärtige Zerfall von staatlichen Ordnungen (Afghanistan, Somalia, Äthiopien, Sierra Leone u. a.) einzuordnen. Das Erstarken der im Untergrund operierenden islamisch-fundamentalistischen Gruppen bietet ein anschauliches Beispiel für diesen Prozeß. Auf beiden Ebenen, der internationalen wie der nationalen, fungiert der politische Islam gegenwärtig als ein destabilisierender Faktor im Prozeß der Machtdiffusion. Aufgrund der Verbreitung moderner Kriegstechnologien sind viele islamische Staaten international erstarkt; dieselben Staaten werden auf nationaler Ebene aber geschwächt, weil die Desintegration des Nationalstaates unaufhaltsam fortschreitet. Zwar ist der nominelle Nationalstaat oftmals bis an die Zähne bewaffnet und verfügt über mächtige Unterdrückungsapparate (Geheimdienste), dennoch ist er institutionell so schwach, daß er unter besonderen Bedingungen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen kann. Ohne die Gewaltmittel der «Republikanischen Garde» Saddam Husseins wäre der Irak nach den schi'itischen und kurdischen Aufständen vom März/April 1991 in drei Staaten zerfallen. In Afghanistan waren die Taliban hingegen auch vor dem Zusammenbruch ihres Gottesstaates zu keinem Zeitpunkt in der Lage, das gesamte Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Harvard-Gelehrte Nye, der die Hypothese einer -91-
«allgemeinen Diffusion von Macht» entschieden vertritt, beurteilt die traditionellen Machtinstrumente als «kaum ausreichend, um die veränderten weltpolitischen Problemstellungen zu bewältigen. Neue Machtressourcen, wie etwa die Fähigkeit zu effektiver Kommunikation und zur Entwicklung von multilateralen Institutionen, können sich als relevanter erweisen.»8 Aus diesem Grund verlagert Nye den Schwerpunkt seiner Untersuchung der Weltpolitik auf die benötigten internationalen Institutionen. Diese erfordern gemeinsame, von allen Akteuren akzeptierte Normen und Werte sowie Spielregeln zur Konfliktaustragung parallel zu verbindlichen, effektiven Kommunikationsstrukturen. Sind diese Voraussetzungen für den friedlichen Verkehr zwischen den vielfältigen Völkern in unserer global vernetzten Welt erfüllt? Und wo steht der islamische Fundamentalismus in diesem Kontext? Um diese Fragen adäquat zu beantworten, müssen wir noch einmal einen Blick auf die Ursprünge der heute dominierenden Weltordnung werfen. In der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen besteht Konsens darüber, daß das gegenwärtige System von Nationalstaaten aus der Globalisierung des europäischen Staatensystems resultiert, welches sich nach dem Westfälischen Frieden von 1648 etabliert hatte. Nachdem sich die Ideale der Französischen Revolution auf dem europäischen Kontinent verbreitet hatten, entwickelten sich die souveränen europäischen Staaten auf der Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität zu Nationalstaaten. Im Rahmen der europäischen Expansion erweiterte sich dieses System auf die gesamte Welt. Die Folge davon ist, daß in unserer gegenwärtigen Welt der Nationalstaat nicht mehr länger eine exklusiv europäische Institution, sondern eine globale Handlungseinheit9 ist. Die damit einhergehende Erweiterung des ursprünglich europäischen zu einem globalen Staatensystem bringt eine übergeordnete «Weltzeit»10 hervor, die durch die -92-
Implikationen der Universalisierung der Französischen Revolution, ihrer Normen und Werte, das heißt ihres kulturellen Projektes der Moderne, bestimmt ist. Die neuen nichtwestlichen Staaten organisierten sich nach ihrer Entkolonisierung nach dem Vorbild des europäischen Nationalstaates, wenngleich sie über die Substanz der Souveränität nie verfügten und deshalb mehr oder weniger nominale Nationalstaaten blieben. Für die Welt des Islam bedeutete dieser Prozeß einen Übergang «Vom Gottesreich zum Nationalstaat», das heißt die Auflösung der in einem Kalifat organisierten islamischen Umma/Gemeinschaft in viele nominelle, oft ethnisch fragmentierte Nationen (vgl. Kapitel IV). Islamische Fundamentalisten sehen in dieser Entwicklung eine westlich-christliche Verschwörung des «Teile und herrsche», nämlich die Zersplitterung der islamischen Umma, um über sie dominieren zu können. Das Problem des expandierten internationalen Systems souveräner Staaten ist, daß die für eine internationale Interaktion benötigten, in ihrem Ursprung europäischen Normen und Spielregeln zwar formal von allen Staaten (Unterzeichnung der UN-Charta) geteilt werden, jedoch substantiell den nichtwestlichen Kulturen dieser neuen, nominellen Nationalstaaten fremd sind. Die islamischen Staaten sind ein Beispiel dafür. Die politische Kultur des Islam, im Sinne von political culture eines Gemeinwesens, kennt weder die Idee eines Staates mit klar definierten Grenzen noch das Konzept der politischen Souveränität des Staates als Grundlage für eine gegenseitige Anerkennung. Für die meisten Muslime war Saddam Husseins Verletzung der kuwaitischen Souveränität während der Golfkrise keine Verletzung einer islamischen Rechtsvorschrift, denn der Begriff der Souveränität als solcher ist ihnen fremd. Auch der Anschlag vom 11. September 2001 wird als Djihad, nicht aber als Verletzung der Souveränität der USA gesehen. Dieses Problem hängt mit der gleichzeitigen Kongruenz und Inkongruenz von internationalem System und -93-
internationaler Gesellschaft zusammen. Nach Bull «weist die Idee einer internationalen Gesellschaft die Beziehungen der Staaten untereinander als Mitglieder einer Gesellschaft aus, die durch gemeinsame Spielregeln verbunden und gemeinsamen Institutionen verpflichtet sind».11 Das internationale System war in seiner Entstehungsphase identisch mit der europäischen Staatengesellschaft. Das europäische Mächtegleichgewicht vor 1945 und das System der Bipolarität nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges haben darüber hinaus selbst während des Ost-West-Konfliktes die kontinuierliche Dominanz derjenigen Normen und Spielregeln gewährleistet, die einst von den europäischen Mächten und ihren Abkömmlingen (Nordamerika) etabliert wurden. Daß die neuen nichtwestlichen Staaten diesem internationalen System beigetreten sind, hat seinen Charakter nicht verändert, obwohl es nicht länger eine exklusive europäische Gesellschaft ist. Dieses globale System basiert zwar auf westlichen Normen und Spielregeln, ist aber nicht gleichbedeutend mit der internationalen Gesellschaft europäischer Staaten, weil es seine ursprüngliche kulturelle Homogenität eingebüßt hat. Die Führer der nichtwestlichen Staaten mögen formal diese «internationalen» Normen und Werte durch ihre UNOMitgliedschaft bejahen, jedoch können sie die Weltsicht der nichtwestlichen Menschen in ihren Staaten weder beeinflussen noch deren Politikoptionen bestimmen. Es ist daher gerechtfertigt, von «United Nations - Divided World/Vereinte Nationen - Geteilte Welt»12 zu sprechen. Das ist die weltpolitische Manifestation der kulturellen Fragmentation. Die Politisierung der fortschreitenden kulturellen Fragmentation - die noch detailliert diskutiert wird - trägt dazu bei, die fortlaufenden Prozesse der Machtdiffusion auf internationaler und nationaler Ebene mit einer anderen, parallel stattfindenden Entwicklung zu verbinden: dem Prozeß der Unordnung (disorder). Aus diesem Grund spreche ich von der -94-
«Neuen Weltunordnung». So wie das Funktionieren internationaler Institutionen erfordert auch Ordnung in der Weltpolitik die Akzeptanz gemeinsamer Normen und Spielregeln für eine internationale Interaktion. Der Prozeß der kulturellen Fragmentation kann zur Ablehnung dieser allgemeinen Regeln und damit zur Schaffung von Unordnung führen. Palästina, die Golfregion sowie Zentralasien sind Beispiele für eine ungeordnete Welt, in der Konflikte unkontrolliert und mit Gewaltanwendung ausgetragen werden. Wenn es zutrifft, daß unsere Welt im 21. Jahrhundert durch «eine allgemeine Diffusion von Macht»13 charakterisiert ist, müssen wir uns die Frage nach der mit dieser veränderten Situation zusammenhängenden Ordnung (den Normen und Spielregeln) stellen, innerhalb derer die Großmächte nicht mehr in der Lage sind, ihre internationale Umwelt zu kontrollieren und regelverletzenden Praktiken mit Sanktionen entgegenzutreten. Diffusion von Macht bedeutet, daß die Großmächte ihre Fähigkeit zur Kontrolle (leverage) des komplexer gewordenen Systems, in dem nichtwestliche schwache Staaten eine bedeutsamere Position einnehmen, verlieren. Wie Bull ausführt, wird Ordnung in erster Linie aufrechterhalten durch die Existenz von «Regeln, die diejenigen Verhaltensweisen festlegen, die als ordnungsgemäß gelten».14 Der vorherrschende internationale Konsens basiert immer noch auf den ursprünglich europäischen Regeln. In unserer kulturell vielfältigen Welt wird es zunehmend schwieriger, die globale Akzeptanz des Völkerrechts - als einer Quelle gemeinsamer Spielregeln, die einem Teil des internationalen Systems kulturell fremd sind - aufrechtzuerhalten. Unter diesen Umständen trägt die Neubelebung partikularer kultureller Regeln, wie beispielsweise der islamischen, im Zuge der Zurückweisung der weltweit dominanten Werte dazu bei, die objektiv bestehende kulturelle Fragmentation zu politisieren. Das Ergebnis ist nicht eine auch politisch friedliche, der kulturellen Vielfalt Rechnung -95-
tragende Ordnung, die globale Akzeptanz findet, sondern das Erheben politisch exklusiver Ansprüche. Genau in diese Richtung wirkt der islamische Fundamentalismus, der weder den einer multikulturellen Einstellung zugrundeliegenden Kulturrelativismus noch eine pluralistische Welt zuläßt; vielmehr predigt er seine eigene Herrschaft. Seine Anhänger lehnen die bestehende Weltordnung aufgrund der Tatsache ab, daß diese auf westlichen Normen und Spielregeln beruht, die sie nicht nur bekämpfen, sondern auch durch islamische Ordnungsvorstellungen zu ersetzen suchen. Ihre ablehnende Haltung gipfelt in dem Anspruch auf eine alternative, universale islamische Ordnung als Lösung für die Krise der existierenden Ordnung. Die führende Autorität des modernen islamischen Fundamentalismus, der auf Befehl des damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser im Jahre 1966 hingerichtete Sayyid Qutb, erklärt, wie bereits zitiert, unverblümt, daß «das Ende der westlichen Herrschaft bevorsteht», und beeilt sich hinzuzufügen, «nur der Islam kann beanspruchen, die Weltführung zu übernehmen».15 Dieselben Formeln sind von den algerischen Fundamentalisten nach ihrem Wahlsieg im Dezember 1991 öffentlich verkündet worden. Und nicht zuletzt finden wir diese religiös-ideologischen Formeln in den Video-Reden Bin Ladens. Das in unserer Diskussion angesprochene größte Hindernis für die Aufrechterhaltung von Ordnung durch multilaterale Institutionen wurde bereits von Bull zur Kenntnis genommen: «Es findet ein Niedergang des Konsenses über die gemeinsamen Interessen und Werte innerhalb des Staatensystems statt.»16 Die Ausbreitung moderner Technologie-, Kommunikations- und Transportnetzwerke hat zu einer Verdichtung globaler Strukturen geführt, die Gesellschaften unterschiedlichen kulturellen Charakters «zu einem Ausmaß an gegenseitigem Bewußtsein und Interaktion bringt, das sie vorher nicht gehabt haben». Bull fährt fort, daß dieses «Schrumpfen» der Welt «an sich keine einheitliche Weltsicht schaffen kann und bisher auch -96-
nicht geschaffen hat».17 Im Gegenteil, das Resultat der strukturellen Globalisierungsprozesse ist, in den Worten von Zbigniew Brzezinski, eine «Menschheit, die gleichzeitig einheitlicher und fragmentierter ist».18 Die strukturelle Vereinheitlichung bildet eine der bedeutenden «Konsequenzen der Modernität».19 Die andere Seite der Medaille ist die kulturell «fragmentierte Menschheit» mit der Tendenz zu einem Zerfall des internationalen Normenkonsenses. Meiner Ansicht nach bildet die Einsicht in diese Zusammenhänge den adäquaten Ausgangspunkt, um den islamischen Fundamentalismus aus dem Blickwinkel der Weltpolitik zu untersuchen.
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2. Der islamische Fundamentalismus als eine Spielart der Revolte gegen den Westen In bezug auf den anscheinend diffusen Begriff Fundamentalismus20 gibt es eine große definitorische Bandbreite. Im vorangegangenen Abschnitt habe ich den Fundamentalismus aus einer weltpolitischen Perspektive als eine ideologische Artikulation der Realität einer kulturell «fragmentierten Menschheit» konzeptualisiert. Eine kurze Ausarbeitung dieser These ist erforderlich, um das Ausmaß aufzuzeigen, in dem diese ideologische Artikulation der Fragmentation - im Gewand des Fundamentalismus - eine effektive internationale Kommunikation behindert. Der Aufbau internationaler Institutionen zur Bewältigung des gegenwärtig atemberaubenden weltpolitischen Wandels ist hierfür dringend erforderlich. Wie ich bereits gezeigt habe, ist die gegenwärtige Weltordnung ein Ergebnis europäischer Expansion und der damit zusammenhängenden Globalisierung. Die USA werden in diesem Kontext als ein Abkömmling Europas und seines Zivilisationsprozesses aufgefaßt. Die europäische Expansion war nicht immer ausschließlich ökonomischer und politischer Natur; sie umfaßte ebenso das «kulturelle Projekt der Moderne».21 Im Gegensatz zum Fundamentalismus basierte die frühe Revolte nichtwestlicher Völker im Verlauf der Dekolonisation auf der Annahme westlicher Ideen, wie etwa der Freiheit, der Volkssouveränität und der nationalen Selbstbestimmung.22 Nach Abschluß des Dekolonisationsprozesses wurden die neu geschaffenen nichtwestlichen nominellen Nationalstaaten nach ihrem UNOBeitritt zu Mitgliedern der Weltgemeinschaft in der Annahme, daß internationales Recht und Moralität (Normen und Spielregeln), die aus dem europäischen Projekt der Moderne -98-
hervorgegangen sind, die Basis für die Interaktion aller Staaten, einschließlich der neuen, bilden würden. Das europäische Projekt beruht auf dem genuin europäischen «Diskurs der Moderne», den Jürgen Habermas rekonstruiert hat.23 Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts stellte dieses Projekt in der Tat die Basis für Kommunikation und Interaktion dar. Das islamische Beispiel zeigt jedoch deutlich, daß sich die gegenwärtige Revolte gegen den Westen nicht länger an europäischen Werten orientiert. Die Dekolonisationsbewegungen beriefen sich zunächst auf westliche Werte, um die europäische Kolonialherrschaft zu bekämpfen. Die heutigen fundamentalistischen Bewegungen greifen auf die autochthonen Werte lokaler Kulturen - allerdings in modernem Gewand - zurück, um den Westen abzuwehren. Hierzu bemerkt Bull, daß «die Rückbesinnung... nichtwestlicher Völker auf ihre traditionellen und endogenen Kulturen, für die der islamische Fundamentalismus beispielhaft ist... einen Aufstand gegen westliche Werte als solche darstellt».24 Diese Entwicklung bedeutet eine nichtwestliche Herausforderung der bestehenden globalen Rechtsordnung, und sie macht gleichzeitig klar, daß «es heute hinsichtlich einer Reihe normativer Positionen eine tiefe Kluft zwischen den westlichen Mächten und den Drittweltstaaten gibt».25 Die Verneinung der Souveränität Kuwaits durch den Irak während der Golfkrise 1990/91 sowie die ständige Verletzung der individuellen Menschenrechte in den Staaten der früheren Dritten Welt sind Beispiele für diese Kluft. Jüngstes Exempel ist das ehemalige abscheuliche Taliban-Regime in Afghanistan,26 welches in der Tradition von Idi Amin und Kaiser Boukasa steht. Diese beiden waren Verrückte, die Fundamentalisten der al-Qaida-Bewegung sind dies hingegen nicht; sie repräsentieren vielmehr die fundamentalistische Herausforderung in der Weltpolitik! Mit ihrer Revolte gegen den Westen verfolgen islamische Fundamentalisten das Ziel, als Alternative zu westlichen (heute -99-
internationalen) Werten die Führung der Welt auf der Basis islamischer Spielregeln und Normen zu etablieren. Darüber hinaus stellen sie den Nationalstaat als eine nichtislamische und europäische Institution, die ihnen aufgezwungen worden ist, in Frage (vgl. Kapitel IV). Islamische Fundamentalisten beschuldigen den panarabischen Nationalismus, Ausdruck einer westlichen Verschwörung gegen den Islam zu sein.27 Die von ihnen gepriesene Alternative ist die vage Formel eines al-Nizam al-Isami/islamischen Systems. Einige westliche Autoren verneinen die These, daß es eine Spannung zwischen dem Islam und dem auf dem Konzept des Nationalstaats basierenden internationalen System gibt. James Piscatori zum Beispiel behauptet, daß sich das internationale Verhalten von Muslimen immer in Übereinstimmung mit der internationalen Realität befunden habe.28 Diese Aussage stützt sich auf pragmatische Haltungen in der islamischen Geschichte. Der Kenner der islamischen Geschichte weiß jedoch, daß die islamische Schari'a Konformismus, also Frieden, für den Zustand der Schwäche und islamische Dominanz, das heißt Krieg, für den Zustand der Stärke vorschreibt.29 Nach islamischer Doktrin sind der Ruf nach einer islamischen Vorherrschaft und der Anspruch auf die «Überlegenheit/al-taghallub» des Islam über andere ein Bestandteil der islamischen Weltanschauung, die hierdurch mit dem für den Weltfrieden unabdingbaren Pluralismus nicht vereinbar ist. Der religiöse Fundamentalismus in seiner islamischen Gestalt ist insoweit ein Zeichen für die kulturelle Fragmentation in der Weltpolitik, als er die Etablierung neuer Normen und Spielregeln auf exklusiv islamischer Grundlage beabsichtigt. Einerseits plädiert er kurzfristig für die Abschottung der Muslime gegenüber der internationalen Gesellschaft (islamisches Weltghetto), andererseits strebt er langfristig eine vollkommen verschiedene Gesellschaft an: eine islamische Ordnung auf nationaler und internationaler Basis. Beide -100-
Positionen werden von Fundamentalisten als Etappen der Islamisierung der gesamten Welt angesehen. Wie bereits erwähnt, behauptet der Ägypter Sayyid Qutb, daß «nur der Islam» in der Lage sei, die Weltführung vom «kranken Westen» zu übernehmen (vgl. Anm. 15). Eine andere Autorität des islamischen Fundamentalismus, der Pakistani Abu A'la alMaududi, unterstellt ebenfalls, daß nur der Islam «zur Führung im modernen Zeitalter befähigt ist».30 Bin Laden hat den USA mehrfach den Krieg mit ebendieser Begründung erklärt.31 Auch al-Qaida von Bin Laden versteht sich als Vorhut einer islamischen Weltrevolution (vgl. Kapitel V). Nach der kommunistischen Internationale präsentiert sich also der Islamismus als neuester Internationalismus, den Peter Bergen ironisch als «Heiliger Krieg Inc.»32 bezeichnet. An diesem Punkt ist es überaus wichtig zu unterstreichen, daß solche normativen Positionsdifferenzen nicht nur den internationalen Normenkonsens schwächen, sondern auch auf die Art und Weise einwirken, wie die bestehenden konfliktträchtigen Differenzen ausgetragen werden. Es wurde bereits angeführt, daß die globale Verbreitung der Kommunikationstechnologie kulturell verschiedene Völker zu einem beispiellosen Ausmaß an gegenseitiger Wahrnehmung und Interaktion befähigt hat. Gleichzeitig wird diese technische oder physische Nähe jedoch von den radikal verschiedenen Weltsichten der Völker als ein beträchtlicher Konfliktstoff überschattet. Kommunikation ist nicht einfach eine Technik, sondern in erster Linie Diskurs. Wenn es keinen gemeinsamen Diskurs gibt, dann kann keine effektive interkulturelle Kommunikation zustande kommen. Man redet aneinander vorbei und versteht sich gegenseitig nicht. Daher kann die Arbeit von internationalen Institutionen nicht erfolgreich sein, wenn keine gemeinsame Kommunikationsplattform (ein allseitig akzeptierter Diskurs) als Basis für die Interaktion existiert. Ohne diese Basis geriete der von internationalen Institutionen geführte -101-
Dialog zu einem «Dialog zwischen Tauben». Ein gutes Beispiel für eine solche Form von «Kommunikation» lieferte der «Dialog» zwischen afrikanischen/asiatischen Ländern und westlichen (sowie einigen schon damals demokratisierten östlichen) Staaten aus Anlaß der 46. Sitzung der UNMenschenrechtskommission in Genf im März 1990. Westliche Repräsentanten thematisierten die zunehmende Verletzung individueller Menschenrechte in den meisten islamischen und anderen Entwicklungsländern. Die individuellen Menschenrechte basieren auf dem «Prinzip der Subjektivität» (vgl. Anm. 21), das die Gestaltung der europäischen kulturellen Moderne bestimmte. Der Islam kennt jedoch keine individuellen Menschenrechte, sondern nur das Kollektiv (die Umma).33 Das Individuum wird im Islam in das Umma-Kollektiv eingeordnet oder fremden Kollektiven (Feinde des Islam) zugeordnet. Es ist bekannt, daß Menschenrechtsverletzungen in afrikanischen und asiatischen Ländern stattfinden, doch diese wollen eine Aufklärung verhindern. Daher wurde während der erwähnten Sitzung der Genfer Kommission eine antiwestliche Koalition gebildet, der auch die islamischen Staaten angehörten. Somit signalisierte die 46. Sitzung der UNMenschenrechtskommission gleichzeitig eine «Revolte gegen den Westen» wie auch eine Kommunikations-Sackgasse. In größerem Ausmaß hat sich dies auf der UN-Weltkonferenz der Menschenrechte in Wien im Juni 1993 wiederholt, als dort ein Zivilisationskonflikt hervortrat.34 Der europäische Philosoph Descartes, der die Grundlagen für die moderne Weltsicht legte und dessen Name für den modernen Diskurs steht, bestand darauf, sein Hauptwerk Ausführungen (Diskurs) zu nennen. Für ihn war Diskurs etwas, das man debattieren kann; daher heißt es in seinen Ausführungen, daß er «... nicht die Absicht habe, sie (die Methode, B. T.) zu lehren, sondern nur über sie reden will».35 Wenn Diskurs in diesem Sinne weltweit akzeptiert würde, könnten Vertreter -102-
verschiedener Weltsichten über die sie trennenden Differenzen rational miteinander kommunizieren und dabei gegenseitige Toleranz üben sowie Pluralismus wahren. Der Fundamentalismus ist jedoch per definitionem das genaue Gegenteil zu einem solchen Programm, denn er beruht auf einem Monopolanspruch: Wenn Fundamentalismus die Basis ist, auf der Argumente vorgetragen werden, kann definitiv keine substantielle Kommunikation zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und Religionen stattfinden. Islamische Fundamentalisten beispielsweise stellen keine kulturpluralistische Sicht der Weltpolitik zur Debatte. Vielmehr beanspruchen sie, im Besitz einer unwandelbaren, absoluten und göttlichen Botschaft zu sein, die sie der ganzen Menschheit verkünden müssen und mit der sie die gesamte Welt kompromißlos umgestalten wollen. Den Islam verstehen heißt für sie, zum Islam zu konvertieren. Der Inhalt ihrer Botschaft ist das islamische Recht, die Schari'a, welche als göttliche Verkündung für alle Menschen aufgefaßt wird. Der islamische Fundamentalist Sabir Tu'ayma argumentiert in diesem Sinne: Islamische Rechtsvorschriften sind nicht auf Muslime und ihre Gesellschaften begrenzt. Sie sind dazu geschaffen, um alle menschlichen Beziehungen zu organisieren, und sind daher der gesamten Menschheit zugewiesen, sei sie islamisch oder noch nicht islamisiert, sei es in Friedenszeiten oder im Kriegszustand; denn islamische Regeln schaffen ein allgemeingültiges internationales Recht.36 Diese islamische Weltsicht ist im Gegensatz zur kartesianischen, welche sich selbst zur Debatte stellt, keiner Diskussion zugänglich, weil sie auf einer Skriptur (dem Koran) beruht, die für Gottes Wort gehalten und daher als absolut und sakral jenseits jeder Skepsis betrachtet wird. Damit wird deutlich, daß es für fundamentalistische Muslime keine andere Plattform für internationale Interaktion und Kommunikation geben kann als ihren eigenen Glauben, das heißt den -103-
schriftgläubigen Islam, so wie sie ihn interpretieren. Die Auswirkungen der fundamentalistischen kollektiven Optionen für die Weltpolitik sind daher folgenschwer, weil sie eine Schwächung des internationalen Normenkonsenses bedeuten. Darüber hinaus können diese fundamentalistischen Positionen auf Prozeduren der internationalen Entscheidungsfindung einwirken. Die letzteren sind «Praktiken, um kollektive Optionen zu vereinbaren und auszuführen»,37 wie wir aus der Debatte über «International Regimes» als Grundmuster für internationale Institutionen wissen. Doch der islamische Fundamentalismus versteht unter Weltfrieden die globale Vorherrschaft des Islam und schließt daher eine friedliche Welt mit einem kulturellen Pluralismus aus. Es fällt auf, daß die politischen Optionen zeitgenössischer islamischer Fundamentalisten mehr und mehr die der Bevölkerungsmehrheit in den jeweiligen Ländern zum Ausdruck bringen. Die Wahlen in Algerien im Dezember 1991, aus denen die Fundamentalisten als Sieger hervorgingen, stützen diese Aussage. Eine der kollektiven fundamentalistischen Optionen ist die Veränderung der bestehenden Weltordnung mit dem Ziel der «Wiederherstellung der weltweiten Herrschaft des Islam». Der frühe islamische Modernist Afghani wies bereits auf den Begriff taghallub/Vorherrschaft als zentrales Merkmal des Islam hin.38 Die US-amerikanische Herausgeberin der Werke Afghanis, Nikki Keddie, zeigt, daß viele der Topoi des zeitgenössischen islamischen Fundamentalismus auf die Ideen Afghanis zurückgehen, weil «er die Rolle des Islam als einer Kraft zur Abwehr des Westens und zur Stärkung der Muslime durch ihre Einheit betont».39 Mit der angesprochenen Einheit ist die der Muslime gegen den Westen gemeint. Von diesem Standpunkt aus gesehen, wird Modernisierung nicht zu einem Entwicklungsziel, sondern vielmehr zu einem Instrument, um die bestehende Weltordnung zugunsten des Islam zu verändern. Ein auf dieser Linie argumentierender zeitgenössischer -104-
islamischer Fundamentalist, Hassan al-Scharqawi, bringt es unverblümt folgendermaßen zum Ausdruck: «Als Kemal Atatürk (die Muslime, B. T.) dazu aufrief, dem Westen nachzueifern, dachte er an nichts anderes, als es dem Westen gleichzutun - Dies ist nicht unsere Absicht. Unser Ziel ist es zu lernen, wie man moderne Waffen anwendet und, mehr als das, wie man sie produziert und weiterentwickelt, damit wir unsere Feinde schlagen können.»40 Dieses Motiv prägt die Einstellung islamischer Fundamentalisten in bezug auf Wissenschaft und Technologie, auf deren Basis die modernen Instrumente des Krieges entwickelt wurden, und macht den Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der bereits diskutierten Diffusion von Macht und der kulturellen Fragmentation deutlich. Joseph Nye bezieht die Diffusion von Macht auf die Verbreitung von Technologie, welche die instrumentellen Fähigkeiten nichtwestlicher Staaten stärkt. In den folgenden Teilen dieses Kapitels setze ich mich mit den Inhalten der islamisch-fundamentalistischen Ideologie auseinander, die auf den in diesem Abschnitt erläuterten kulturellen Einstellungen beruhen. Daß letztere sich direkt auf die von Nye angesprochene Problematik beziehen, belegt die bereits zitierte Äußerung des Fundamentalisten al-Scharqawi. Die Politisierung der kulturellen Fragmentation trägt nicht nur zu einem weiteren Zerfall des internationalen Normenkonsenses bei; verbunden mit der Diffusion der Militärtechnologie wird sie zu einer Bedrohung für die bestehende globale Ordnungsstruktur.
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3. Der historische Kontext der politischen Ansprüche des islamischen Fundamentalismus: Religiöse Optionen für eine Entsäkularisierung der Weltordnung Der Westfälische Frieden von 1648 markierte politisch den Anfang vom Ende der alten, sich damals auflösenden sakralen Ordnung und die Geburt des modernen säkularen internationalen Staatensystems. Die kulturellen Rahmenbedingungen für dieses neue System bot das Projekt der Moderne, welches die kulturelle «Entzauberung» der Wahrnehmung einer göttlich dominierten Welt mit sich brachte. Die zentralen historischen Ereignisse in diesem Zusammenhang waren die Reformation, die Aufklärung und die Französische Revolution. Zu Beginn war die Wende vom Göttlichen zum Säkularen auf Europa begrenzt. Im Gefolge der Französischen Revolution entwickelte sich die ihr zugrundeliegende Idee der Volkssouveränität zur Legitimationsbasis der Mitgliedstaaten des modernen internationalen Systems, das, wie bereits gezeigt, zu dieser Zeit mit der europäischen Staatengesellschaft identisch war. Souveräne dynastische Staaten wurden im Verlauf dieser Entwicklung zu Nationalstaaten. In den auf den Westfälischen Frieden folgenden 300 Jahren übertrugen die Europäer dieses in ihrem Kontinent entwickelte Staatensystem, dessen Einheiten interne und externe Souveränität genießen, auf die gesamte Welt. Bei «der Einpassung der Welt in dieses System»41 bildete die Welt des Islam keine Ausnahme. Auch islamische Fundamentalisten erkennen die erwähnten Ereignisse als die Geburtsstunde der internationalen, vom Westen dominierten Ordnung an, die bis heute vorherrscht. Jedoch insistieren sie in apologetischer Manier (wie sie es in vielen anderen Punkten -106-
ebenfalls zu tun pflegen) darauf, daß der Islam schon vorher ein weltweites System von Normen und Spielregeln für internationale Interaktion geschaffen habe.42 Aus dieser Behauptung ziehen sie den Schluß, daß die westliche Dominanz im modernen Zeitalter den Islam, der einst die Grundlage für eine internationale Ordnung bereitgestellt hatte, zum Rückzug und zur Aufgabe seiner weltpolitischen Führungsrolle gezwungen habe. Daher setzen sie sich das Ziel, die gegenwärtigen Verhältnisse durch eine Neubelebung des Islam umzukehren, um den Ursprungszustand wiederherzustellen. Da der Aufstieg des Westens auf der Überlegenheit seiner Kriegstechnologie beruhte,43 erstreben islamische Fundamentalisten, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung keine Traditionalisten sind, eine Übernahme und eine Islamisierung moderner Technologie.44 Was das konkret heißt, bleibt der vagen Vermutung überlassen. Die eingangs angesprochene, auf die Verbreitung moderner Technologie bezogene Diffusion von Macht stellt somit ein zentrales, jedoch nicht konkretisiertes fundamentalistisches Anliegen dar. Zwar sind fundamentalistische Muslime gewillt, westliche Technologie zu übernehmen und, wie sie sagen, diese zu «islamisieren», jedoch schwebt ihnen eine «Entwestlichung des Wissens»45 vor, um sich von dem - in ihren Worten - «erkenntnistheoretischen Imperialismus des Westens»46 zu befreien. Das bedeutet, daß sie die moderne westliche Technologie instrumentell erwerben wollen, aber gleichzeitig die kartesianische rationale Weltsicht, welche die Grundlage des modernen Wissens bildet, zurückweisen. Entsprechend lehnen sie den philosophischen Diskurs der Moderne ab. Für islamische Fundamentalisten ist nur «der heilige Koran die vollständige und abschließende Offenbarung... und es gibt kein anderes Wissen - mit Ausnahme des auf ihm basierenden und auf ihn verweisenden -, das die Menschen führen und erretten kann».47 Der Koran bildet also nach islamistischer Überzeugung die wesentliche Grundlage für -107-
eine islamisch dominierte Ordnung, die die bestehende Weltordnung ablösen soll. Um den islamischen Fundamentalismus in einen erweiterten Kontext zu stellen und seine Verständlichkeit zu fördern, muß ich einen kurzen Rückgriff auf einige zentrale historische Ereignisse vornehmen. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg kennzeichnet das Ende einer langen Epoche, in der sakrale Universalordnungen in der Welt vorherrschten. Nach der Auflösung der islamischen Kalifat-Ordnung im Jahre 1924 eigneten sich die Araber für ihr politisches Handeln die westliche Idee der Nation an, die sie aber nicht auf einen der vielen in der Region bestehenden nominellen Nationalstaaten beschränken wollten. Auf der einen Seite ersetzte der neue arabische Traum von einem säkularen panarabischen Staat den alten und verdrängten Traum von der Einheit aller Muslime in einem universalen islamischen Kalifat. Auf der anderen Seite war der panarabische Nationalismus nicht bloß eine Idee, wie es heute das islamische Konzept der Umma ist. Vielmehr bezog sich das politische Modell einer panarabischen Nation auf eine real vorhandene Struktur, nämlich das moderne internationale System der Nationalstaaten. Arabische Nationalisten erkannten die neue nationalstaatliche Ordnung an; ihr Denken war von der europäischen Idee des «Nationalstaates» geprägt, und sie strebten einen übergreifenden arabischen, den gesamten Nahen Osten umfassenden Nationalstaat an. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zum Islam, der ordnungspolitische Ansprüche für die gesamte Welt erhebt, beschränkten sich die Vorstellungen der arabischen Nationalisten allein auf den arabischen Teil des Orients. Dieser Tatbestand erklärt, warum der am europäischen Modell des Nationalstaates orientierte panarabische Nationalismus im unauflösbaren Konflikt mit dem universalen Anspruch des Islam stand.48 Die Idee einer selbständigen arabischen Nation provozierte -108-
die Feindschaft der Vertreter des spirituellen und politischen Islam gleichermaßen aus zwei Gründen: Zum einen schloß sie alle nichtarabischen Muslime von diesem Gebilde als «Ausländer» im nationalstaatlichen Sinne aus, zum anderen bezog sie die arabischen Christen als gleichberechtigte Bürger und damit als Vollmitglieder der arabischen Umma (hier in der Bedeutung von Nation) ein. Arabische Christen wurden demnach nicht länger als Dhimmi (eine vom Islam geschützte religiöse Minderheit) betrachtet. Die damals einflußreichen Schriften von Sati' al-Husri, der als der intellektuelle Vater des säkularen Panarabismus gilt, sind literarische Manifestationen dieser Periode, die in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begann und bis zu den späten 60er Jahren andauerte. Der Exil-Iraker Samir al-Khalil hat gezeigt, daß alHusris Arabismus Saddam Husseins «Republik der Angst»49 maßgeblich beeinflußte. Die Tatsache, daß Saddam Hussein sich während des Golfkrieges als «islamischer Fundamentalist» präsentierte, bedeutet keine Aufgabe dieses quasireligiösen Glaubens an den Arabismus. Diese scheinbare Wandlung erfolgte lediglich mit dem Ziel, den Arabismus und ein spezifisches Verständnis des islamischen Fundamentalismus zu kombinieren. Weltpolitisch betrachtet muß jedoch von einem Konflikt zwischen den politischen Optionen des islamischen Fundamentalismus und den bestehenden nationalstaatlichen Strukturen des internationalen Systems gesprochen werden (vgl. Kapitel IV). Der islamische Fundamentalismus ist ein neoabsolutistischer Universalismus, der politisch zum islamistischen Internationalismus wird. Für den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus war der arabisch-israelische Juni-Krieg von 1967 ein entscheidender Wendepunkt, weil er zur Delegitimierung der säkularen arabischen Regime beitrug, die durch ihre vernichtende Niederlage gedemütigt wurden.50 Die anschließende Periode einer anhaltenden und sich intensivierenden Krise hat die -109-
zeitgenössischen Varianten des arabisch-sunnitischen Fundamentalismus hervorgebracht, der eine große Wirkung auf die anderen Spielarten des islamischen Fundamentalismus ausübt. Zu Beginn der Nachkriegsperiode hatten viele arabische Publizisten die Hoffnung gehegt, daß sich die Niederlage als positiv in dem Sinne erweisen würde, als die Araber aufhörten, in einer Welt der Dichtung und der illusorischen Träume zu leben, und statt dessen begännen, der Realität entgegenzutreten. Die Jahre von 1967 bis 1970 markierten einen Prozeß der schmerzhaften Selbstkritik, an dem auch ich selbst teilnahm.51 Dieser Prozeß war jedoch nur von kurzer Dauer, denn bereits in den frühen 70er Jahren übertönten die Stimmen der chiliastischen Träumer, die oft auch «die Stimmen eines wiedererstarkenden Islam»52 genannt wurden, die der Selbstkritik. Von allergrößter Bedeutung ist, daß nun der arabische Traum von einem umfassenden arabischen Nationalstaat als einem integralen Teil der Weltordnung sein «Ende» fand.53 Er wurde in der politischen Literatur der Islamisten durch das Wiederaufleben der klassischen Einteilung der Welt in das «Reich des Islam» (Dar al-Islam) und die «Welt der Ungläubigen» (Dar al-Harb/wörtlich: Haus des Krieges) überlagert. In der Sprache des politischen Islam werden für diese Unterscheidung die Begriffe Islamischer Orient/al-Sharq al-Islami und Imperialistischer Westen/al-Gharb al-Isti' mari verwendet. Die politische Neubelebung des Islam richtete sich gegen die «Verschwörung der Verwestlichung in der islamischen Welt».54 Bei dieser Sicht der Welt werden die Begriffe Imperialismus/Isti'mar und Kreuzzüglertum/Salibiyya synonym und abwechselnd benutzt, weil in den kolonialen Eroberungen die Fortsetzung der «Verschwörung» der christlichen Kreuzzüge gesehen wird. Der säkulare panarabische Nationalismus ist nach der Niederlage der arabischen Staaten im Sechs-Tage-Krieg von 1967 vollständig vom politischen Islam abgelöst worden. Die -110-
Ideologie des islamischen Fundamentalismus hat die bis dahin vorherrschende säkulare Ideologie des Panarabismus ersetzt. Sogar Saddam Hussein, der im Namen des säkularen Arabismus einen Krieg gegen den Export der islamischen Revolution im Iran in die arabischen Nachbarländer führte und aufgrund dieser Tatsache als die letzte Galionsfigur des säkularen Panarabismus galt, begann während der Golfkrise 1990/91 unter dem Banner des islamischen Fundamentalismus zu agieren. Von islamischen Fundamentalisten wurde er damals weltweit als ihr Held gefeiert, später wurde er in dieser Funktion von Bin Laden abgelöst. Indem wir bei dieser Diskussion die arabischsprachigen Quellen als Grundlage heranziehen, um die gegenwärtig im Nahen Osten vorherrschenden Einstellungen in Augenschein zu nehmen, sind wir in der Lage, der typisch westlichen Gewohnheit zu entgehen, über Menschen zu sprechen, ohne etwas von ihnen zu wissen. Es kann nicht überraschen, daß die zentralen Themen des politischen Islam diese Literatur dominieren. Eines der ideologischen Werke des islamischen Fundamentalismus, welche in den 70er Jahren Pionierarbeit leisteten, ist das des führenden ägyptischen Muslimbruders Yusuf al-Qaradawi. In einer dreibändigen, weitverbreiteten und sehr einflußreichen Publikation erklärt er, «al-Hall al-Islami farida wa darura/die islamische Lösung ist eine Verpflichtung und eine Notwendigkeit». Nach Ansicht Qaradawis erfordert die Rückkehr zur wahren «islamischen Lösung» ein buchstäbliches Zertrümmern der «importierten Lösungen/al-Hululalmustawrada», wie der des Liberalismus, des Nationalismus und des Sozialismus. Im dritten Band dieser Reihe, der im Jahre 1988 erschienen ist, erklärt er den Krieg gegen «verwestlichte und säkulare Muslime».55 Dies ist das zentrale Schlagwort in der neuen Sprache des politisierten Islam. Zur Disposition steht hier eine Repolitisierung, nicht eine Wiederkehr des Islam. Der Islam als spirituelle Religion war im Orient immer präsent, nur nicht als eine politische Ideologie; als -111-
der Panarabismus vorherrschte, gab es keinen Raum für einen politischen Islam. Seinerzeit verlor der Islam jedoch nur in politischer Hinsicht an Bedeutung, als ein religiöser Glaube, als Quelle kultureller Grundmuster (kulturelles System) und als zentraler Bezugsrahmen dominierte er hingegen weiterhin unangefochten. Seit 1967 kehrt der Islam als eine politische Ideologie - im Gewand des Fundamentalismus - zurück. Wie bereits erwähnt, kennzeichnen die frühen 70er Jahre eine erneute Politisierung des Islam; ein Prozeß, der eng mit jenen den gesamten arabischen Orient betreffenden Erschütterungen infolge des Juni-Krieges von 1967 verbunden ist. Die vom arabischen Zentrum des «Reichs des Islam» ausgehenden Ausbreitungseffekte (Spillover-Effekte) erfaßten auch die nichtarabische Peripherie. Heute ist der politische Islam zu einer globalen Problematik und zu einer Herausforderung für die bestehende Weltordnung geworden. Auch die sechs neugegründeten islamischen Republiken der aufgelösten Sowjetunion wurden von diesem Prozeß erfaßt und betraten die Arena des politischen Islam. Aserbaidschan und Kasachstan beispielsweise waren 1991 auf der islamischen Staatenkonferenz in Dakar im Senegal vertreten. Dagegen könnte man einwenden, daß der Islam schon immer politisch gewesen ist und seinen politischen Anspruch niemals aufgegeben hat, auch nicht nach dem Ende des Kalifats im Jahre 1924. Die Gründung der Bewegung der Muslimbrüder in Ägypten (1928) sowie die Entstehung des vom Wahhabismus inspirierten Saudi-Arabien (1932) könnten als weitere Fakten gegen das Argument angeführt werden, daß sich der politische Islam seit den 20er Jahren auf dem Rückzug befand. Darüber hinaus darf daran erinnert werden, daß der Islam im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft sowohl in Algerien als auch in Marokko als eine nationale Befreiungsideologie instrumentalisiert wurde. Diesen historischen Verweisen zum Trotz kann man sich der Beobachtung nicht entziehen, daß säkulare Ideologien, allen -112-
voran der panarabische Nationalismus, in der Periode nach dem Ersten Weltkrieg den politischen Diskurs dominierten. Der Islam, hier nicht im Sinne eines religiösen Glaubens, sondern einer politischen Ideologie, trat demgegenüber bis Anfang der 70er Jahre in den Hintergrund.56 Das bedeutet jedoch nicht, daß während dieser Periode politische Träume, die sich auf das islamische Regierungssystem bezogen, vollständig verschwanden. Dennoch haben politische Ideologien, die auf der säkularen exklusiven Idee einer alle Araber - ungeachtet ihrer Religion - vereinenden Nation basieren, das islamische Verständnis einer universalen Umma, die alle Muslime unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit einbezieht, verdrängt. Selbst ein führender, allerdings national gesinnter, islamischer Rechtsgelehrter dieser Periode, Muhammad alMubarak, nahm eine klare politische Trennung vor zwischen alUmma al-'Arabiyya/ arabischer Nation und al-Umma alIslamiyya/islamischer Gemeinschaft, die unterschiedliche Formen der Solidarität vorsieht.57 Dieser Art war auch das Islam-Verständnis der Panarabisten vor dem Aufstieg des Fundamentalismus. Im Arabischen gibt es keinen spezifischen Begriff für die säkulare Bedeutung von la nation, so wie sie sich im Kontext der Französischen Revolution herausbildete. Während der Entstehungsphase des Islam gab es im klassischen Arabisch die strenge Unterscheidung zwischen einem Qaum, das heißt dem jeweiligen Stamm, dem jeder Araber angehörte, und der Umma, dem vorrangigen identitätsstiftenden Bezugsrahmen für alle Muslime.58 Im modernen Zeitalter ist la nation durch den Begriff der Umma ins Arabische übersetzt worden, wodurch die religiöse Bedeutung der von Mohammed im 7. Jahrhundert etablierten politischen Gemeinschaft von der säkularen Bedeutung der Nation, die sich im 18. Jahrhundert in Europa entfaltete, überlagert wurde. Fundamentalistische Muslime wollen diese Entwicklungen umkehren, indem sie zum -113-
ursprünglichen Islam zurückkehren, der in ihrer Sicht nicht nur ein religiöser Glaube, sondern vor allem eine universelle politische, die nationale Souveränität verneinende Ordnung ist. Sie formulieren also den Anspruch auf die Gründung einer neuen Weltordnung. Der politische Islam ist daher korrekt als «moderne Politik, artikuliert in mittelalterlicher Theologie»59 bezeichnet worden. Der zeitgenössische politisierte Islam, der Islamismus, zeigt auch eine Weltsicht. Indem ich den Islam als ein kulturelles System interpretiere,60 möchte ich die Hypothese vertreten, daß er zu jeder Zeit die kulturelle Basis der Weltsicht von Muslimen gewesen ist, sogar jener der panarabischen Säkularisten. Zwar wurden in einer Reihe arabischer Länder säkulare Ideologien verbreitet, aber eine umfassende Säkularisierung wie in Europa hat dort nie stattgefunden. Die säkularen Einflüsse blieben oberflächlich und auf die Bildungselite beschränkt. Selbst in der Türkei und in Tunesien vor dem Sturz Burguibas (den beiden einzigen nahöstlichen Staaten, die von sich selbst behaupten, säkular zu sein) sowie in Indonesien kann die Gesellschaft nicht als säkular in der soziologischen Bedeutung des Begriffes bezeichnet werden. Auch aus diesem Grund apostrophiere ich die verschiedenen National-Staaten im islamischen Teil unserer Welt als nominelle Nationalstaaten. Wir können eine Kontinuität der islamischen Weltsicht feststellen, die den Übergang von säkularen Ideologien zu jenen des politischen Islam im Verlauf der 70er und 8oer Jahre erleichtert hat. Kein aufmerksamer Beobachter der historischen Entwicklung im Nahen Osten kann bestreiten, daß säkulare Ideologien nicht in der Lage waren, strukturell Wurzeln zu schlagen, und daher auch nicht vermochten, die islamische durch eine säkulare, sozial verwurzelte Weltsicht zu ersetzen. Für die meisten Muslime gibt es eine Trennung der Welt in «den Westen» und in das nicht nur spirituelle «Reich des Islam». Islamische Fundamentalisten behaupten, daß der Westen in die -114-
Welt des Islam eingedrungen sei und auf diese Weise bei den Muslimen eine Abkehr von den islamischen Tugenden ausgelöst habe. Die wichtigste Aufgabe der Muslime sollte es demnach sein, die gegenwärtige Situation durch eine Rückkehr zum ursprünglichen universellen Islam definitiv zu ändern und die fortschreitende «intellektuelle Invasion der islamischen Welt durch den Westen» abzuwehren.61 Das daraus folgende islamisch-fundamentalistische Programm ist eine deutliche Zurückweisung weltweit gültiger und geteilter Normen und Spielregeln der bestehenden Weltordnung, also eine Entwestlichung und, mehr noch, die Forderung, eine vom Islam dominierte Weltordnung zu etablieren. In vielen Krisenherden der Welt des Islam läßt sich die Rivalität zwischen der islamischen Zivilisation und dem Westen beobachten. Der einstige Säkularist Saddam Hussein gewann über Nacht während des Golfkrieges eine ungeheure Popularität, nachdem er - zumindest in der Öffentlichkeit - seine säkularen Ansichten aufgegeben und auf fundamentalistische Parolen zurückgegriffen hatte, welche die gegenwärtig unter Muslimen verbreiteten dominanten Optionen zum Ausdruck bringen. Mit anderen Worten: Die Zustimmung, welche die Masse der Muslime weltweit im Jahre 1991 für Saddam Hussein und im Jahre 2001 für Bin Laden aufbrachte, galt nicht den Personen, sondern den von ihnen propagierten Parolen, die hier als islamischer Fundamentalismus definiert werden. Diese Parolen haben Politikoptionen für eine neue islamisch dominierte Weltordnung zum Inhalt. Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, daß die Beschäftigung mit der Frage, wie zeitgenössische islamische Fundamentalisten die Welt wahrnehmen, von erheblicher Bedeutung für die Analyse der Weltpolitik ist. Die Herausforderung, welche der islamische Fundamentalismus für die sich wandelnde globale Ordnung darstellt, kann nicht angemessen begriffen werden, ohne der Weltsicht und der -115-
Ideologie, aus denen er sich speist, Rechnung zu tragen. Fundamentalismus ist nicht mit Traditionalismus gleichzusetzen, denn die Anhänger des politischen Islam wünschen sich keine Wiederherstellung des klassischen islamischen politischen Systems, des Kalifats. Sie streben keine Reinstallation dieser traditionellen islamischen Ordnung an, sondern sie verfolgen die Errichtung eines «islamischen Regierungssystems». Islamische Fundamentalisten betrachten die Realisierung dieses Systems als ersten Schritt in ihrem universalistischen Plan, die Welt nach islamischen Grundsätzen neu zu gestalten. Besteht die fundamentalistische Herausforderung darin, daß wir kurz davor sind, in einer islamischen Ordnung zu leben? Ohne eine Entwarnung geben zu wollen, denke ich, daß es in absehbarer Zeit keine islamische Weltordnung geben wird. Wir wissen um die Schwächung des globalen Netzes der al-Qaida von Bin Laden. Zur Destabilisierung und Schaffung von Unordnung auf globaler Ebene war dieser Islamismus aber allemal fähig. Was verstehen diese Menschen unter Ordnung?
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4. Der islamische Gottesstaat als Grundeinheit der anvisierten neuen Weltordnung Obwohl der Islamismus kein Traditionalismus ist, steht er in Kontinuität mit der klassischen Tradition islamischen Denkens, in der Politik unzertrennlich mit der Schari'a/dem göttlichen Gesetz verbunden ist. Diese politische Orientierung des islamischen Fundamentalismus ist gleichermaßen dogmatisch und schriftgläubig, das heißt, sie geht davon aus, daß jedes Denken durch den Koran-Text abgesichert sein muß. Das fundamentalistische Denken verwirft das aufgeklärte ungebundene Räsonnement, und ihm fehlt vor allem ein rationaler, für Toleranz und Pluralität zugänglicher politischer Diskurs. Der erste flüchtige Blick auf die geistigen Produkte des islamischen Fundamentalismus enthüllt, daß er weder eine politische Analyse des gegenwärtigen Zustandes anzubieten hat noch einen Weg aus der anhaltenden strukturellen und moralischen Krise aufzeigen kann. Die Vorstellung von einem al-Nizam al-Islami/islamischen System wird als ein Dogma betrachtet, das keines Beweises bedarf. Diejenigen, die diese Vorstellung teilen, gelten als wahre Muslime, und diejenigen skeptischen Muslime, die sie in Frage stellen und bezweifeln, werden als Abweichler von der islamischen Umma verstoßen. Da die im Dar al-Islam weitverbreitete Symbolik der islamischen Ordnung mit verschiedenen Sinngehalten gefüllt wird, ist es nicht verwunderlich, daß sie unter ihren eigenen Anhängern umstritten ist. Islamische Fundamentalisten verschiedener Strömungen bestehen auf der Rechtmäßigkeit ihrer Ansichten und bestreiten jede Vielfalt, so daß sie sogar die Andersdenkenden in den eigenen Reihen abweisen. Schriftgläubige Argumentationsweisen liegen der Logik der -117-
Debatten zugrunde, und nur der islamischen Skriptur (das heißt Koran-Text und Überlieferung des Propheten: Hadith) wird zugestanden, jedwede Interpretation des Begriffes des islamischen Regierungssystems zu bestätigen oder zu widerlegen. Geschichte, wirklich existierende politische Strukturen und Institutionen spielen für die islamischen Fundamentalisten als Quelle ihrer Argumente keine Rolle, denn wenn die bestehende Realität mit den fundamentalistischen Glaubenssätzen nicht übereinstimmt, dann beweist dies ihrer Meinung nach nur die Abweichung der Muslime vom wahren Islam. Aus diesem Grund ist die Debatte über das islamische Regierungssystem ihrem Wesen nach dogmatisch und schriftgläubig. Dabei läßt die politisierte kulturelle Einstellung islamischer Fundamentalisten keinen Raum für einen rationalen Diskurs, der als Rahmenbedingung für effektive Kommunikation benötigt wird, ohne die wiederum pluralistisch gestaltete Institutionen auf einer globalen Ebene nicht funktionieren können. In diesem Sinne trägt der Aufstand islamischer Fundamentalisten gegen die gegenwärtige Weltordnung nicht zur Behebung deren Mängel bei; auch trägt er der Notwendigkeit des Aufbaus von auf effektiver Kommunikation beruhenden internationalen Institutionen keine Rechnung. In unserem Überblick über die politische Ideologie des islamischen Fundamentalismus können wir keiner Vorstellung von einer kulturell und religiös pluralistischen Menschheit vorfinden. Statt dessen begegnen wir einem in der Wirklichkeit nicht vorhandenen monolithischen Islam mit exklusivem Anspruch auf universelle Gültigkeit. Diejenigen Muslime, die ihre Religion eher als eine persönliche Ethik denn als eine politische Bindung an ein totalitäres Regierungssystem verstehen, werden als von nichtislamischen westlichen Werten «fehlgeleitet» angesehen. Fundamentalistische Muslime argumentieren, «daß es die wichtigste Aufgabe des Koran ist zu -118-
regieren... (und daß, B. T.) die Entsprechung von Staat und Religion der zentrale Teil dieser Auffassung ist, nicht in der Form, daß die Religion eine partielle Dimension des Staates darstellt, sondern daß im Gegenteil die Religion das wesentliche Element des Staates ist».62 Nach der Argumentation der zitierten Autoren erreichte die gegen den Islam gerichtete westliche Verschwörung ihren Höhepunkt in der Zerstörung der islamischen Kalifats-Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Teilhabe an dieser angeblichen Verschwörung weisen sie dem säkular orientierten arabischen Nationalismus zu, den sie als Produkt von «missionarischen Kreuzzüglern» deuten. Islamische Fundamentalisten klagen den «Nationalstaat» als eine westliche Institution an, die ihnen von «westlichen Kreuzzüglern» aufgezwungen wurde. Arabische Nationalisten werden deshalb verdächtigt, bei dieser westlichen Verschwörung als «Werkzeuge» gedient zu haben.63 Für die islamischen Fundamentalisten bedeutet die derzeitige Weltordnung insoweit einen «Rückfall in die Djahiliyya», das heißt in das vorislamische «Zeitalter der Ignoranz», als sie auf dem säkularen Nationalstaat basiert. Die Rückkehr zum Islam durch Sahwa alhlamiyya/islamisches Erwachen soll dieser Tendenz entgegenwirken. Der Ruf nach al-Nizam al-Islami ist der wichtigste Bestandteil dieses Erwachens, das drei Anliegen verfolgt: (1) islamische Legitimität; (2) die islamische Umma, die diese Legitimität untermauert; (3) die für die Aufrechterhaltung dieser Anliegen notwendige politische Macht. Es wurde bereits festgehalten, daß das klassische Kalifat nicht das politische System ist, welches sich islamische Fundamentalisten zum Ziel setzen und in ihrer Parole von einer islamischen Legitimität zum Ausdruck bringen. In dem bereits zitierten zentralen fundamentalistischen Pamphlet lesen wir: Wenn politische Herrschaft erstens auf der Schari'a Gottes beruht und zweitens von den Muslimen akzeptiert wird, dann spielt ihre Form nur eine untergeordnete Rolle. Wir können sie -119-
Kalifat, Imamat, Emirat nennen oder wir können ihr beliebige andere Namen geben, solange die vorher erwähnten Anforderungen erfüllt sind. Fehlen diese Anforderungen jedoch, dann kann keine politische Autorität Legitimität für sich beanspruchen.64 Wie wir aus der zitierten Textpassage ersehen, ist das Ziel der Fundamentalisten ein politisches System, das auf der Schari'a oder, genauer ausgedrückt, auf dem Verständnis der Islamisten von der islamischen Offenbarung als einem Gesetz basiert. Die meisten der fundamentalistischen Agitatoren greifen auf den neo-islamischen und neo-arabischen Begriff al-Nizam al-Islami zurück und plädieren für die umfassende Durchsetzung der islamischen Schari'a als dem unantastbaren Rahmen für die Lösung aller Probleme, anwendbar zu allen Zeiten, an allen Orten und für alle Menschen. «Wenn die Schari'a in diesem Sinne etabliert ist und wenn das islamische Recht unter den erwähnten Bedingungen (das heißt unbegrenzte absolute Gültigkeit, B. T.) praktiziert wird, dann folgt daraus, daß ein islamisches System existiert.»65 Aus der Sicht fundamentalistischer Muslime «ist Säkularisierung ein Anschlag auf den Islam». Säkularisierungsprozesse als Nebenprodukte sozialen Wandels werden mit allem Bösen in Verbindung gebracht. In der Perspektive des zeitgenössischen politischen Islam soll auf die Etablierung des Nizam al-Islami auf nationaler Ebene dessen Globalisierung folgen. Allerdings sollte diese Bemerkung nicht zu der falschen Schlußfolgerung verleiten, daß alle Muslime eine solche Entwicklung im Sinn haben. Es gibt Muslime, für die der Islam eine religiöse Ethik und eine Lebensweise ist, nicht aber ein spezifisches Regierungssystem als kollektive Option auf eine politische Ordnung. Diese Muslime sind in die Tradition des liberalen Islam einzuordnen. Allein die Existenz dieser Kategorie von gläubigen Muslimen sollte jedoch ebensowenig die harte Realität verdecken, daß die -120-
Hauptströmung des zeitgenössischen politischen Islam dem fundamentalistisch ideologischen Konzept des Nizam al-Islami verhaftet ist. So sehr islamische Fundamentalisten untereinander zerstritten sind, so wenig läßt sich Uneinigkeit unter ihnen in bezug auf die zentrale Formel vom Islam als eine «din wa daula», das heißt Einheit von Religion und Staat, feststellen. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, den tunesischen Autor Mahmud Abdulmaula als für fundamentalistische Muslime repräsentativ zu zitieren: «Der Islam ist ein politisches System, ebenso wie er ein religiöses ist.»66 Abdulmaula hat uns aber nur wenige Details über die Natur dieses politischen Systems zu sagen; al-Nizam al-Islami bleibt eine vage Formel bar jeder substantiellen Bestimmung. Diese Vagheit läßt den sicheren Schluß zu, daß Fundamentalisten, wenn sie an die Macht kämen, stets jede Willkür ihrer von der Ideologie her totalitären Herrschaft mit dem Gesetz des Islam als ihrem Schwert rechtfertigen würden. In der Ideologie des islamischen Fundamentalismus begegnen wir der Behauptung, daß der Islam das allererste authentische politische System in der Geschichte hervorgebracht habe.67 Diese Ansicht wird mit dem Hinweis auf den verbindlichen Charakter des islamischen Rechts insofern untermauert, als die Schari'a das erste legale System begründe. Hierauf basierend wird unterstellt, daß der Islam als ein System auf Legitimität und nicht auf Zwang beruhe, da er den Prozeß des Regierens und das politische Verhalten der Herrscher der Schari'a unterwerfe. Diese Ansicht beinhaltet in Wahrheit eine moderne Projektion auf den klassischen Islam. Max Webers bekannte Herrschaftstypologie umreißt drei Formen von Herrschaft: die traditionelle, die charismatische und, in unserem modernen Zeitalter, die legale Herrschaft. Islamische Fundamentalisten stellten die authentische islamische Regierungsform als die legale Herrschaft dar, ohne sich dabei zu vergegenwärtigen, daß sie ein traditionelles historisches System in den Begriffen einer -121-
modernen Theorie rekonstruieren. Sie nehmen das Faktum nicht zur Kenntnis, daß islamische Herrscher in der Vergangenheit entweder charismatische oder traditionelle, niemals aber legale Herrscher im modernen, Weberschen Sinne waren. Wie ich bereits dargelegt habe, zählt für sie nur die Skriptur, das heißt die heiligen Texte, nicht aber die Geschichte. Das wirft ein Licht auf das islamische Geschichtsverständnis. «Die korrekte wissenschaftliche Methode», führt der Fundamentalist und Autor des autoritativen Buches über das «islamische System» al-'Awwa aus, «verpflichtet uns, dem Prinzip zuzustimmen, daß wir die Menschen auf der Basis ihrer Befolgung islamischer Vorschriften beurteilen müssen und nicht umgekehrt: Wir sollen den Islam nicht anhand des realexistierenden Verhaltens von Muslimen, seien sie Herrscher oder Beherrschte, beurteilen.»68 Eine solche Anweisung läßt keinen Raum für das Studium der Geschichte, ein historisch begründeter Diskurs wird gänzlich unmöglich gemacht. Die Autorität des Textes ersetzt den auf Vernunft basierenden Diskurs und seine Beobachtung der existierenden Realitäten. Im Islamismus wird der Islam als unwandelbar betrachtet, ohne Rücksicht auf Geschichte, Zeit, Kultur, Ort etc. Nach Meinung der Fundamentalisten können Muslime sich ändern, nicht aber der Islam, denn dieser unterliege nicht der Bestimmung des Wandels. Nur die Muslime selbst seien für Abweichungen verantwortlich zu machen. Die Konsistenz der Normen, die ihnen als Gläubigen Orientierung bieten, dürfte nicht der Reflexion unterworfen werden. Auch die Vorstellung, daß die modernen Regierungssysteme eine Struktur besäßen, der sich der Islam anpassen könnte, wird zurückgewiesen. Obwohl islamische Fundamentalisten die Moderne in den klassischen Islam projizieren, warnen sie vor der Vermischung des Verständnisses von islamischen Prinzipien mit modernen politischen Erfahrungen, westlichen wie östlichen gleichermaßen. -122-
Wenn wir diese Denkweise näher betrachten, dann drängt sich die Frage auf: «Was ist ein islamisches Regierungssystem?» Die fundamentalistische Antwort ist sehr einfach: In unserer Zeit wird der Ruf nach einer islamischen Regierung auf der Basis eines Bekenntnisses zum Islam von Millionen von Muslimen auf der ganzen Welt unterstützt. Dieser Ruf bedeutet einfach, daß die Regierungsinstitutionen in Übereinstimmung mit den politischen Werten des Islam aufgebaut werden müssen... Was die Details der Verwirklichung dieser Systemvorstellung betrifft, so müssen wir festhalten, daß die islamische Umma in jedem einzelnen Fall gesondert zu entscheiden hat.69 Die einzige Bedingung, die moderne islamische Fundamentalisten dem damit eingeräumten Aktionsbereich der islamischen Umma hinzufügen, ist, daß die Gesetzgebung verbindlichst nach den Grundsätzen der Schari'a erfolgen muß. Nach Ansicht vieler sunnitischer arabischer Fundamentalisten etablierte der iranische Führer Khomeini wichtige Brücken zwischen sunnitischen und schi'itischen Muslimen. Sie konstatieren, daß es nun an den sunnitischen Muslimen liege, die Schriften Khomeinis adäquat zu verstehen und diesen entsprechend zu handeln, um die bestehende Kluft zwischen Sunna und Schi'a zu überbrücken. Trotz des seit dem 7. Jahrhundert, dem der Religionsstiftung, bestehenden Schismas zwischen Sunna und Schi'a70 hat die islamische Revolution im Iran 1979 einen erheblichen schi'itischen Einfluß auf den sunnitischen islamischen Fundamentalismus ausgeübt. Als Beispiele hierfür können angeführt werden: der Märtyrertod und die taqiyya/Verstellung durch Lügen gegenüber Gegnern.71 Doch die historisch tiefen Wurzeln der Spaltung und die damit korrespondierenden Spannungen zwischen Arabern und Persern konnten nicht aus der Welt geschafft werden. Allerdings sollen mit dieser Relativierung die Demonstrationseffekte und der Export der -123-
iranischen Revolution (vgl. Anm. 71) in andere islamische Länder nicht heruntergespielt werden. Das Studium der Schi'a außerhalb Irans, im Irak und im Libanon,72 zwingt zu einer sehr wichtigen und folgenreichen Unterscheidung zwischen den sunnitischen und den schi'itischen Varianten dieser totalitären Bewegung.
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5. Die islamistische Herausforderung: Eine sakrale islamische Weltordnung als Alternative zu globaler Säkularisierung? Der Unterschied zwischen einer säkular und einer religiös fundierten politischen Ordnung steht für die meisten islamischen Fundamentalisten gewiß nur vordergründig im Mittelpunkt ihres Denkens. Der Aufstieg des politischen Islam resultiert sowohl aus sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen als auch aus religiösen Fragestellungen. Im arabischen Nahen Osten stellen die zeitgenössischen Spielarten des islamischen Fundamentalismus das Ergebnis einer umfassenden Krisensituation dar, die sich zum einen auf die sich verschlechternden sozioökonomischen Bedingungen sowie die despotischen politischen Verhältnisse in den dortigen undemokratischen Regimen und zum anderen auf eine Sinnkrise gründet. Der Verlust an Legitimität, der durch die vernichtende Niederlage der arabischen Staaten gegen Israel im Sechs-TageKrieg ausgelöst wurde, bildete den Ausgangspunkt. Mit dem Hinweis auf die Sinnkrise im Islam spreche ich die Krise eines kulturellen Systems an, das die «kulturelle Bewältigung sozialen Wandels» - ein Ausdruck, der dem Titel eines meiner früheren Bücher (1985) entstammt (vgl. Anm. 60) - nicht fördert. Die Wiederbelebung des politischen Islam begann in den frühen 70er Jahren im arabischen Teil des Nahen Ostens, also lange bevor die «iranische Revolution» stattfand. Es ist daher falsch, diese Wiedergeburt und die «iranische Revolution» zeitlich gleichzusetzen. Die Ausbreitung der Idee einer Einheit von Religion und Politik, din wa daula, geschah zu einer Zeit, als der Name und die Schriften Khomeinis im arabischen Nahen Osten - abgesehen von einigen wenigen unbedeutenden Ausnahmen - vollständig unbekannt waren. Nichtsdestoweniger trug die Revolution im Iran, wenn auch nur in ihrer frühen -125-
Phase, zu einer weiteren Intensivierung der fortdauernden Krise bei, insbesondere als Quelle von Ausbreitungs-SpilloverEffekten (vgl. Anm. 71). Der iranisch-irakische Krieg von 1980 bis 1988 und der gewaltsame Aufruhr der iranischen Revolutionsgardisten in den heiligen islamischen Schreinen in Mekka (1987) diskreditierten die Revolution in hohem Maße. Nach dem zweiten Golfkrieg ist die iranische Revolution völlig an den Rand des Geschehens geraten. Eines der Hauptmerkmale der Wiederbelebung des politischen Islam ist die Politisierung der islamischen Weltanschauung73 insbesondere hinsichtlich einer islamischen Ordnung, die der bestehenden säkularen Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene gegenübergestellt wird. Es ist eine Tatsache, daß Debatten über dieses Thema im arabischen Nahen Osten, sogar in der Periode der Dominanz säkularer Ideologien, nie aufgehört haben. Während der 50er und 60er Jahre halfen einige wichtige Publikationen, darunter die bedeutenden Bücher von al-Rayes (1953), Musa (1962) und Mutawalli (1966), den islamischen Anspruch auf eine politische Ordnung wiederzubeleben. In bezug auf Verbreitung und Popularität konnten diese fundamentalistischen Beiträge jedoch zu jener Zeit niemals mit den vorherrschenden säkularen Positionen, wie etwa denen von Muhammad Khalid in seinem Buch «Min huna nabda/Von hier an beginnen wir neu» konkurrieren. Khalids Buch wurde zwischen 1950 und 1963 zehnmal neu aufgelegt und war weit über Ägyptens Grenzen hinaus verbreitet. Seine entschiedene Stellungnahme gegen das, was er «kahana Islamiyya/islamische Theokratie» nannte, gipfelt in der folgenden klaren Aussage: Wir sollten uns in Erinnerung rufen, daß die Religion so beschaffen sein soll, wie Gott es beabsichtigt hat: Prophetie statt Königreich, moralische Anleitung statt Regierung und Predigt statt politischer Herrschaft. Das Beste, was wir tun können, um die Religion unverfälscht und rein zu halten, ist, sie von der -126-
Politik zu trennen und sie über diese zu stellen. Die Trennung von Religion und Politik trägt dazu bei, die Religion von den Unzulänglichkeiten und der Willkür des Staates fernzuhalten.74 Es muß einen westlichen Leser erstaunen zu erfahren, daß sich der Verfasser dieser säkularen Aussage später selbst unter den aktiven islamischen Fundamentalisten befand. In einem 1989 veröffentlichten Buch widerrief Khalid seine früheren Positionen. Nun überzeugt, daß der Islam gleichzeitig din wa, daula, Religion und staatliche Ordnung sei, rief Khalid seitdem bis zu seinem Tod dazu auf, die Botschaft des islamischen Propheten Mohammed zur Grundlage für eine die gesamte Menschheit umfassende und vereinende islamische 75 Weltregierung zu erheben. Seit den frühen 70er Jahren begannen die nachdrücklich vorgetragenen Befürwortungen einer sakralen politischen Ordnung, wie jene des ägyptischen Muslimbruders Yusuf alQaradawi, die säkularen Schriften aufgeklärter arabischmuslimischer Schriftsteller zu verdrängen. Das Eintreten für säkulare Ansichten ist fast zur exklusiven Aufgabe arabischer Christen in ihrem Kampf um Menschenrechte geworden, ein Beispiel ist das Werk des prominenten libanesischen Autors Joseph Mughaizel.76 Nur eine verschwindend kleine Minderheit muslimischer Autoren, der auch ich selbst angehöre, befürwortet noch - in einigen wenigen in arabischer Sprache publizierten Schriften - eine Trennung von Religion und Politik.77 Eine genauere Betrachtung der Schriften von Säkularisten und Antisäkularisten zeigt einen Denkfehler, der beiden gemein ist. Beide rivalisierenden Gruppen scheitern daran, die Unterscheidung zwischen Säkularismus/Ilmaniyya als einer Ideologie und Säkularisierung/'Alamana als einem sozialen Prozeß vorzunehmen. Daher beschränken sie die Bedeutung von «Säkularisierung» auf die Institution einer säkularen Gesetzgebung, gebrauchen den Begriff jedoch nicht, um einen Prozeß funktionaler Differenzierung in den -127-
Gesellschaftsstrukturen zu bezeichnen, der die Religion auf den Bestandteil eines sozialen Teil-Systems reduziert. Die soziologische Bedeutung von Säkularisierung verweist auf die Religion als eine institutionelle Einrichtung, die aus dem umfassenden Gesellschaftssystem ausdifferenziert78 wird. Mit anderen Worten: Säkularisierung ist nicht bloß eine geistige Einstellung; wird sie nicht strukturell und institutionell untermauert, dann bleibt sie bedeutungslos und wird leicht aufgegeben. Der zitierte Positionswechsel des einstigen Säkularisten Khalid, der zum Fundamentalisten wurde, illustriert diese Aussage. Die jüngsten Anklagen gegen die bestehende nationale und internationale Ordnung werden im Arabischen unter der Rubrik «Widerlegung des Säkularismus» artikuliert. In diesen Schriften verweisen islamische Fundamentalisten auf die Krise der Moderne im Westen, um ihr Argument zu erhärten, daß der Islam berechtigt sei, die Führung in der Welt zu übernehmen. Um dies zu veranschaulichen, ziehe ich ein repräsentatives Buch heran, in dem der Verfasser, ein fundamentalistischer Muslim, die Geschichte Europas seit der Französischen Revolution als eine Abfolge säkularer sozialer Bewegungen betrachtet. Seiner Meinung nach haben diese Bewegungen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart versagt. Das Resultat ist in seinen Worten: «ma'sat al'ilmaniyya/die Tragödie des Säkularismus».79 Eine der eigentümlichen Behauptungen, die diese Einschätzung untermauern soll, ist jene, daß die urbanen Probleme des zeitgenössischen New York City, des klassischen Beispiels der «Entfremdung/aldaya'», die «Tragödie des Säkularismus» und die Krise der Moderne verdeutlichen. Islamische Fundamentalisten ziehen daraus den Schluß, daß nur der Islam die gesamte Welt aus dieser «tragischen» Situation retten könne: Das einzige System, welches das bieten kann, wonach sich die westlichen Denker inbrünstig sehnen, ist der Islam. Allein der Islam mit seiner ganzheitlichen, alle spirituellen und materiellen -128-
Aspekte des Daseins umfassenden Sicht kann die benötigte Lösung bieten und die Zivilisation von ihren Leiden befreien.80 In der Tat, die westliche Moderne befindet sich in einer Krise. Islamische Fundamentalisten nutzen diesen Sachverhalt, um für die Ablösung des westlichen Universalismus durch ihren eigenen zu plädieren. Die in diesem Zusammenhang auf Arabisch publizierten Anklagen gegen den Säkularismus sind Legion.81 Die Ablehnung einer säkularen Kultur ist nicht auf den zeitgenössischen Islam beschränkt; man kann sie in den meisten Kulturen der Entwicklungsländer im Zusammenhang mit der Revolte gegen den Westen beobachten. In Anbetracht dieser Tatsache konzentriere ich mich im abschließenden Abschnitt auf die Bedeutung des islamischen Fundamentalismus für die Weltpolitik; im Mittelpunkt steht dabei die Überlegung, daß effektive Kommunikationsstrukturen als Basis für internationale Institutionen etabliert werden müßten, wenn eine stabile und friedliche Weltordnung als Rahmen für das Zusammenleben der strukturell einander nahegebrachten, kulturell unterschiedlichen Völker verwirklicht werden soll.
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6. Bewertung und Zukunftsperspektiven: Kulturelle Grundlagen der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Alternativen zum islamischen Fundamentalismus Die Auflösung der seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden bipolaren Ordnung hat zu einer strukturverändernden Verschiebung des weltpolitischen Schwerpunktes beigetragen. Während dieser Entwicklung hatte es den Anschein, daß sich im Westen niemand mehr für den islamischen Fundamentalismus interessiert. Khomeini, die Geiseln, der erste Golfkrieg und die Rushdie-Affäre schienen, neben vielen anderen unangenehmen Geschehnissen, der Vergangenheit anzugehören. In der Tat waren es diese sensationellen Ereignisse, die die Aufmerksamkeit der westlichen Medien auf den Islam gezogen hatten, doch das Interesse war immer nur von kurzer Dauer. 1990/91 war es Saddam Hussein, der die Welt des Islam wieder ins Scheinwerferlicht der westlichen Medien brachte. Der zweite Golfkrieg rückte den Nahen Osten in den Brennpunkt des Interesses. Darüber hinaus ist es nun nicht mehr nur der Islam im Nahen Osten, der weltweite Besorgnis verursacht. Während des Helsinki-Gipfels vom 9. September 1990 gab der damals noch amtierende sowjetische Präsident Gorbatschow seiner Sorge Ausdruck, daß die damalige Golfkrise sich in einen bewaffneten Konflikt verwandeln könnte. Seine Befürchtungen richteten sich darauf, daß ein Krieg zwischen dem «Westen» und dem Dar al-Islam auch die Mobilisierung der Muslime in der Sowjetunion auslösen würde. Dies trat zwar in der Form nicht ein, allerdings verselbständigten sich der Kaukasus und ebenso der zentralasiatische islamische Teil der ehemaligen Sowjetunion82 nach deren Zerfall. Aus der Auflösung des letzten multinationalen großen Imperiums gingen sechs selbständige neue islamische Republiken in Zentralasien und im -130-
Transkaukasus hervor,83 ohne daß jedoch während dieses Prozesses eine weltpolitische Krise ausgelöst wurde. Etwas südlicher, in Afghanistan, etablierte sich Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts das Taliban-Regime, welches Bin Laden Schutz und Unterstützung bot und somit bei den Verbrechen vom 11. September 2001, mit denen wir uns in Kapitel V und VI näher beschäftigen werden, eine zentrale Rolle spielte. Die schrecklichen Ereignisse an jenem 11. September boten Stoff für die oberflächliche und durch Sensationen motivierte Beschäftigung der Medien mit dem Islam, wobei jedoch kein Versuch unternommen wurde, den islamischen Fundamentalismus in den breiteren Kontext der kulturellen Fundamente der Weltpolitik zu stellen. Dieses Phänomen geht eine breitere Öffentlichkeit an, denn spätestens seit dem 11. September ist deutlich geworden, daß das Interesse am Islam nicht das Monopol von Spezialisten bleiben darf. An dieser Stelle wird die zentrale, im ersten Kapitel entfaltete These erneut aufgenommen: Unsere Welt wird in struktureller Hinsicht kleiner, während sie gleichzeitig kulturell zunehmend fragmentiert wird. Dieses strukturell bedingte Schrumpfen der Erde treibt Gesellschaften und Völker, die unterschiedliche kulturelle Weltsichten pflegen, zu einem höheren Grad an gegenseitigem Bewußtsein und Interaktion, nicht aber zu mehr Verständnis und Toleranz für die Kultur des jeweils anderen. Das ist der Kontext für ein adäquates Verständnis des islamischen und anderer Varianten des religiösen Fundamentalismus. Orient und Okzident waren in ihrer Geschichte einander niemals so nahe und zugleich so verfeindet, wie sie es heute sind, obwohl Gutmenschen in Deutschland diese Tatsache nicht gerne vernehmen und sie sogar als «Medienprodukt» ablehnen. Unsere allgemein und überregional angelegte Beschäftigung mit dem islamischen Fundamentalismus, deren spezifischer Ausgangspunkt auf der Beobachtung der sunnitisch-arabischen -131-
Variante dieses Phänomens im Nahen Osten beruht, könnte zu einigen falschen Eindrücken verleiten. Aus diesem Grund möchte ich zur Klärung einleitend zwei Punkte hervorheben: Zunächst möchte ich der falschen Vorstellung entgegentreten, daß ein islamischer monolithischer Block entstehen könnte. Ein solcher Monolith ist gänzlich unmöglich, denn keine derartige Größe könnte sich je formen. Islamische Realitäten sind gleichermaßen strukturell und kulturell mannigfaltig. Diese Vielfalt zu konzedieren widerspricht jedoch nicht der Einsicht, daß Einheit und Verschiedenheit komplementäre Aspekte der «islamischen Welt» sind. Die islamische theozentrische Weitsicht wird gewöhnlich von allen Muslimen geteilt unabhängig davon, wie sehr sie sich kulturell voneinander unterscheiden. Für sie alle ist diese statische und Absolutheit beanspruchende Perspektive ein Hindernis für die erfolgreiche Bewältigung des sozialen Wandels. Zweitens ist der Islam trotz seiner kulturellen und religiösen Verschiedenheit in einzigartiger Weise anfällig für politische Deutungen. Der islamische Fundamentalismus, obwohl ein jüngeres Phänomen, greift auf den klassischen Islam als Ordnungsprinzip der Gesellschaft zurück. Dies ist durch den grundlegenden Dualismus des Islam möglich, der die Basis sowohl einer religiösen als auch einer politischen Gemeinschaft darstellt. Von den strukturellen Rahmenbedingungen abgesehen, hat dieser Dualismus den islamischen Widerstand gegen die Ausbreitung der säkularen europäischen Weltsicht aufrechterhalten. Wir können nun zu den zwei zentralen Annahmen zurückkehren, auf denen die vorhergehende Analyse des islamischen Fundamentalismus beruhte und die den Ausgangspunkt dieses Kapitels bildeten. Die erste verweist auf den Begriff von einer internationalen kulturellen Fragmentation. Die andere Annahme bezieht sich auf die Diffusion von Macht im internationalen System. Im folgenden konzentriere ich mich auf die erste Annahme, die inhaltlich mit der Existenz des -132-
internationalen Staatensystems (Interaktion zwischen Staaten) und der Erosion der internationalen Gesellschaft (Normenkonsens als Basis der Weltgesellschaft) verbunden ist. Die These von der kulturellen Fragmentation (fehlender Normenkonsens) spricht den Konflikt zwischen dem allgemeinen Bedarf an gemeinsamen Normen in der Weltpolitik und dem Fortbestehen der im Widerspruch hierzu stehenden kulturellen Besonderheiten an. Ein internationales System von Staaten kann als eine Gesellschaft angemessen funktionieren, wenn die Staaten im Rahmen der Bejahung einer entsprechenden politischen Kultur gemeinsamen Normen und Spielregeln zustimmen und sich demgemäß verhalten. Kulturelle Fragmentation läuft dieser Bedingung insofern zuwider, als sie auf die Existenz verschiedener Kulturen hinweist, die jeweils exklusiv ihr eigenes System von Werten und Normen hervorheben. Auseinanderdriftende Sichtweisen bestimmen und steuern daher internationales Verhalten. Kulturelle Pluralität ist der Normalzustand in einer Welt, in der eine universelle Kultur nicht existiert und gewiß niemals existieren kann. Kulturanthropologen lehren uns, daß es aus einem einfachen Grund keine Universalkultur geben kann: Kulturen basieren immer auf lokal begrenzten Prozessen von Sinnproduktion.84 Nun stellt sich die Schlüsselfrage, wie wir das Erfordernis gemeinsamer Spielregeln in einer internationalen Gesellschaft mit der Wirklichkeit einer kulturellen Vielfalt, das heißt mit der Verschiedenheit von Normen und Werten, verbinden können. Kulturelle Verschiedenheit kann, muß aber nicht notwendigerweise ein Hindernis sein beim Abbau der Spannung zwischen kultureller Fragmentation und dem Bedarf an allseits akzeptierten Normen und Spielregeln. Mit anderen Worten: Es geht nicht um eine kulturelle Uniformität für die gesamte Welt. Diese ist nicht erreichbar, unabhängig davon, ob man sie befürwortet oder nicht. Im Sinne des Weltfriedens geht es darum, einen weltgesellschaftlichen Konsens für das -133-
Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen zu etablieren. Wie in einer nationalen Gesellschaft mit einer Zentralinstanz (Regierung), so könnten auch auf globaler Ebene konsensuelle Normen und Spielregeln faktisch durchgesetzt werden, wenn hierzu die erforderlichen Machtstrukturen vorhanden wären. Das Völkerrecht als ein ursprünglich europäisches Recht ist von nichtwestlichen jungen Nationalstaaten innerhalb einer Rahmenordnung formal angenommen worden. Es gibt aber keine überstaatliche internationale Zentralinstanz, die diese Rechtsnormen durchsetzen kann. Der britische Rechtsgelehrte H. L. A. Hart stellt den Eintritt nichtwestlicher Staaten in die internationale Gemeinschaft in folgender Weise dar: Es ist nie angezweifelt worden, daß, wenn ein neuer unabhängiger Staat seine Existenz erhält... er durch die allgemeinen Verpflichtungen des internationalen Rechts gebunden ist... In diesem Zusammenhang ist der Versuch, die internationalen Verpflichtungen des neuen Staates auf eine ‹stillschweigende› oder ‹abgeleitete› Zustimmung zu gründen, völlig fadenscheinig.85 Das internationale Recht ist in nichtwestlichen Gesellschaften also nicht der Bezugsrahmen, in dem Politiker und Entscheidungsträger sozialisiert werden; es ist kulturell fremd und bleibt äußerlich. Anhand der Beschäftigung mit dem internationalen Verhalten von schwachen nichtwestlichen Staaten wird der Zusammenhang zwischen der hervorgehobenen kulturellen Fragmentation und der gegenwärtigen Machtdiffusion im internationalen System deutlich. Je mehr diese Staaten an Stärke gewinnen, desto fadenscheiniger wird ihre nur formale Bindung an das Völkerrecht. In dieser Situation könnte die Politisierung der kulturellen Fragmentation zu einer großen Bedrohung für die gegenwärtig formal noch geltenden gemeinsamen Prinzipien der internationalen Gemeinschaft werden. Diesbezüglich bedarf es neuer Wege, um sich mit den in einem ständigen Wandel -134-
befindlichen weltpolitischen Strukturen zu befassen. Bisher haben wir gesehen, daß die Optionen, welche von dem religiösen, sich selbstbehauptenden Erwachen in nichtwestlichen Gesellschaften - für das der politische Islam als ein zentrales Beispiel dienen kann - offeriert werden, nicht wünschenswert sind. Die Formel von einer islamischen Weltordnung, wie sie heute im Dar al-Islam von islamischen Fundamentalisten als die populärste Politikoption vorgetragen wird, ist eher eine Konfliktquelle als ein Konfliktlösungsmodell, geschweige denn eine Basis für die benötigten internationalen Institutionen und eine effektive Kommunikation. Die Ablösung der Pax Americana oder des Weltkommunismus kann nicht durch einen anderen Universalismus, den Welt-Islam, erfolgen. Wir benötigen eine tolerant-pluralistische Welt, die trotz ihrer Vielfalt einen Normenkonsens und einheitliche Spielregeln für eine friedliche Austragung von Konflikten akzeptiert. Der islamische Fundamentalismus von Bin Laden schrieb sich das Ziel auf die Fahnen, die Pax Americana durch eine Pax Islamica abzulösen; zwar scheiterte er zunächst, aber die Samen seiner Ideen sind weiterhin fruchtbar. In den frühen 50er Jahren lenkte F. S. C. Northrop, ein prominenter Völkerrechtler an der Yale University, die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf die Notwendigkeit des Studiums der «kulturellen Fundamente der internationalen Politik».86 Zu dieser Zeit existierte noch kein spürbarer Sinn für ein derartiges Erfordernis. Die vorrangige Beschäftigung mit dem Staat als dem zentralen Akteur war damals ausgeprägter, als es heute der Fall ist. Laut Northrop ... müssen Nationen lernen, wie man kooperiert, oder sie zerreiben sich gegenseitig... Zusammenarbeit erfordert, daß Nationen und ihre Staatsmänner lernen müssen, neue Wege zu beschreiten... Der Schlüssel... zum Verständnis einer jeden Nation und zur Spezifizierung derjenigen ihrer Eigenschaften, welche ihre internationalen Reaktionen bestimmt, wird gefunden, wenn die wichtigsten -135-
gemeinsamen Normen ihrer Menschen festgestellt worden sind. Denn solange die in einer Nation zusammenlebenden Menschen keine herrschende Ideologie besitzen, gibt es keine konsistente, dominante Reaktion.87 In seinem erstmals 1952 erschienenen Buch beschäftigt sich Northrop mit dem Erstarken des Islam, mit dem Buddhismus und ebenso mit anderen nichtwestlichen Kulturen und versucht, die «kulturellen Fundamente der internationalen Politik» zu verstehen. Eine seiner Schlußfolgerungen lautet: ... es (gibt, B. T.) andere politische und kulturelle Wertesysteme in der Welt... als die des liberaldemokratischen Westens... Buddhismus... Hinduismus, Taoismus und Konfuzianismus wie auch der Islam sind solche anderen Lebensweisen. Eine kluge Außenpolitik für die demokratischen Vereinigten Staaten wird diese anderen Lebensweisen begrüßen und ermutigen und mit ihnen kooperieren.88 Die erhoffte «kluge US-Außenpolitik» wird auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht verfolgt. Darüber hinaus besteht das Problem dieses vernünftigen Ratschlags für die Weltpolitik darin, daß die angesprochenen Systeme kulturell exklusive und einander widersprechende Optionen für eine alternative Weltordnung anbieten. Überdies sind diese nichtwestlichen Kulturen noch nicht säkularisiert, sondern vielmehr religiös bestimmt. Die Revolte gegen den Westen, die zum Beispiel von der religiös-politischen Ideologie des islamischen Fundamentalismus artikuliert wird, greift genau auf diese Religionen und exklusiven Kulturen zurück und reaktiviert sie in einer auffallend selbstbehauptenden Weise. Wenn religiöse Optionen auf nationaler und internationaler Ebene zur zentralen Quelle für Forderungen nach einer alternativen Weltordnung werden, resultieren sie mit Sicherheit in Konflikten mit denen, die diese Optionen nicht teilen. Eine sinnvolle Alternative zur gegenwärtigen säkularen Weltordnung, die auf dem bereits diskutierten kulturellen Projekt der Moderne basiert, sind sie -136-
nicht. Ein anderer bedeutender Völkerrechtler (nebenbei bemerkt, ein Schüler von Northrop), der in Princeton lehrende Richard Falk, begreift das gegenwärtige «religiöse Erwachen» als einen «Übergang zur Postmoderne». Falk ist der Ansicht, daß die moderne, westliche und säkulare Zivilisation «kein Vertrauen in ihre Fähigkeit einflößt, auf die fundamentalen Herausforderungen der heutigen Welt zu reagieren».89 Auf dieser Einschätzung basierend folgert Falk, daß das religiöse Erwachen sich zu einer Quelle von «postmoderner politischer Sensibilität» entwickeln könnte, die er positiv einschätzt. Falk ist sich jedoch bewußt, daß dieses religiöse Erwachen in nichtwestlichen Kulturen einen Beigeschmack von Fundamentalismus besitzt: Einige wenige Inseln fundamentalistischen Erfolges offenbaren die Revision des Modernismus durch die Religionen... Insbesondere in den nichtwestlichen Gesellschaften Asiens und Afrikas trägt die Rolle des religiösen Einflusses überwältigend reaktionäre Züge.90 Erst durch die Ereignisse vom 11. September 2001 wurde nachhaltig die Aufmerksamkeit der Welt auf die Tatsache gelenkt, daß Religion zu einem zentralen Faktor der Weltpolitik geworden ist. Experten wußten dies bereits zuvor.91 Das aus der gegenwärtigen globalen Krise und den weltweiten, radikalen Veränderungen resultierende Dilemma ist, daß auf der einen Seite nichtwestliche vormoderne Kulturen - im Sinne Northrops - stärker berücksichtigt werden müssen, um ihre Verpflichtung gegenüber dem internationalen Normenkonsens zu stabilisieren. Auf der anderen Seite müssen wir uns voll bewußt sein, daß sich einige dieser nichtwestlichen Kulturen nicht damit begnügen, nur als Komponenten einer pluralistischen Welt beachtet zu werden. Im Falle des Islam wird in unmißverständlicher Weise die Forderung nach einer Ablösung der gegenwärtigen Ordnung durch eine spezifisch -137-
islamische erhoben. Dies ist der zentrale weltpolitische Anspruch der Ideologie des islamischen Fundamentalismus. Sollte sich diese Ideologie in der eineinhalb Milliarden Menschen umfassenden «Welt des Islam» ausbreiten, dann würden deren Forderungen zur wichtigsten Quelle der «konsistenten dominanten Reaktion» (Northrop) der Muslime werden. Politische Entscheidungsträger, die ausschließlich mit Machtfragen beschäftigt sind, nehmen diese Aussichten nicht ernst, da fundamentalistische Muslime selbst kaum politische Entscheidungen von Gewicht treffen, also großenteils nicht über die entsprechenden Machtmittel verfügen, um ihre Überzeugungen in die Tat umzusetzen. Westliche Politiker, die sich nur für Tagespolitik interessieren, verstehen das Phänomen des islamischen Fundamentalismus in einer doppelten Weise nicht: Sie begreifen es weder kulturell, noch verstehen sie, daß die Forderungen der Fundamentalisten einen Beitrag zu einer intensiveren Politisierung der bestehenden internationalen kulturellen Fragmentation und daher auch zu einem weiteren Schrumpfen des internationalen Normenkonsenses leisten. Zusätzlich sollten die fortdauernde Machtdiffusion und die abnehmende Fähigkeit der Großmächte zur Kontrolle ihrer internationalen Umwelt uns überzeugen, den ideologischen Überlegenheitsanspruch islamischer Fundamentalisten nicht zu belächeln. Der zentrale, schon zitierte Anspruch, der von den zwei führenden geistigen Autoritäten des zeitgenössischen islamischen Fundamentalismus, Sayyid Qutb und Abu A'la alMaududi, artikuliert wird, besteht darin, eine islamische Ordnung nicht nur für die Muslime, sondern für die gesamte Welt zu errichten. Sieht man von den Ausnahmen Iran und der orthodoxwahhabitischen Monarchie Saudi-Arabien ab, wo die politische Legitimität auf dem Islam basiert, sind aktive islamische Fundamentalisten noch häufig im Untergrund.92 Ungeachtet der Illegalität dieser privaten Gruppen wird die fundamentalistische -138-
Ideologie zunehmend die primäre Quelle der politischen Optionen der Bevölkerungsmehrheit in den meisten islamischen Ländern. Im Westen wird dieses Phänomen wenig verstanden. Die überwältigend positive Reaktion fundamentalistischer Muslime auf Saddam Husseins aggressiven Aufruf zur Bekämpfung des Westens93 oder auf Bin Ladens Djihad-Reden sind als eine fundamentalistische Alternative zur existierenden Weltordnung einem westlichen Publikum nur schwer zu vermitteln. Entscheidungsträger im Westen können die als «Djihad»94 artikulierte Herausforderung der Fundamentalisten jedoch nicht ignorieren. Nach den schrecklichen Ereignissen vom 11. September 2001 muß der islamische Fundamentalismus in bezug auf die Weltpolitik ernsthafter untersucht werden, als es bis heute der Fall gewesen ist. Im Hinblick auf die Errichtung einer mit der Moderne vereinbaren kulturell vielfältigen, stabileren und auf internationalen Institutionen beruhenden Weltordnung muß jeder Versuch einer Reform des Islam im Sinne eines Verzichts auf seinen absoluten religiös-ideologischen Überlegenheitsanspruch sowie seiner Demokratisierung von allen nichtislamischen Teilen der internationalen Gemeinschaft begrüßt werden. Aufgeschlossene Nicht-Muslime können den Islam als Element einer pluralistischen Weltpolitik anerkennen, aber sie werden seinen inakzeptablen Anspruch auf Überlegenheit und absolute Wahrheit kategorisch zurückweisen. Bereits an anderer Stelle wurde der islamische Begriff der Dominanz/Ghalab angeführt, der von dem führenden islamischen Erneuerer der Moderne, Afghani, als zentraler Grundsatz der islamischen politischen Doktrin geprägt wurde. Indem er diesen islamischen Dominanzanspruch im späten 19. Jahrhundert wiederbelebte, avancierte Afghani selbst zu einem ideologischen Vorläufer des zeitgenössischen islamischen Fundamentalismus, der seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts um sich greift. -139-
Es bleibt die Frage: Wie lange wird es dauern und welcher Anstrengungen bedarf es, damit Muslime den Pluralismus als Prinzip des Zusammenlebens akzeptieren und ihren Glauben an ihre eigene Überlegenheit aufgeben? Der große Jubel der Fundamentalisten für Saddam Hussein, als er alle gültigen internationalen Regeln und Normen verletzte, sowie die ebenfalls überaus positive Reaktion auf den Terrorismus Bin Ladens verheißen keinen vielversprechenden Wandel. Es bleibt nur die Hoffnung, daß ein liberaler und aufgeklärter Islam zu einem integralen Bestandteil unserer pluralistischen Welt wird. Die dringend benötigte Reform des Islam, das heißt unter anderem seine Anpassung an global veränderte Bedingungen, ist längst nicht mehr eine Sache, die alleine die Muslime angeht. Sowohl die Geschehnisse vom 11. September 2001 als auch die gescheiterte Integration muslimischer Einwanderer im Westen95 zwingen zu einem neuen Denken. Das auflagenstärkste Magazin Deutschlands, Der Spiegel, hat vor Weihnachten 2001 die bisher streng gehüteten Sitten der Political Correctness aufgegeben. Zunächst wurde vor einer Fortsetzung des jahrelang geführten «verlogenen Dialoges»96 mit der europäischen Islam-Diaspora gewarnt; dann setzte sich Der Spiegel für den Schutz der westlichen Werte des Individualismus, der Freiheit, der säkularen Demokratie, der Menschenrechte sowie des Pluralismus «auch gegen den Islam»97 - so heißt es im Titel des Artikels - ein. Dies sollte endlich Anlaß auch für die Muslime sein, aufzuwachen und sich von ihrer Selbstgefälligkeit zu befreien. Der bisherige Dialog islamischer Schuldzuweisungen und westlicher Selbstbezichtigungen scheint beendet. Vor dem Hintergrund der Erfahrung des 11. September 2001 wird ein neues Dialogmuster benötigt.98 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung überschreibt ihren Artikel über die Notwendigkeit eines muslimischen Beitrages mit dem Titel: «Auch Muslime müssen müssen».99 Was ist am 11. September 2001 geschehen, daß solche radikalen Veränderungen -140-
erforderlich werden? In den beiden für diese Neuausgabe geschriebenen Originalkapiteln V und VI werde ich den Versuch unternehmen, die soeben gestellte Frage zu beantworten.
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IV. ISLAM, FUNDAMENTALISMUS UND SOUVERÄNE STAATEN: DIE GLEICHZEITIGKEIT VON FUNDAMENTALISTISCHEM UNIVERSALISMUS UND ETHNISCHEM ZERFALL ISLAMISCHER NATIONALSTAATEN Der größte, zugleich in der religiösen Doktrin des Islam wie in der Wirklichkeit der islamischen Geschichte existierende Widerspruch bezieht sich auf die Spannung zwischen dem Anspruch auf Universalismus und dem Verhaftetsein der Mehrheit der Muslime in den Realitäten des Partikularismus. In diesem Kapitel über Islam und Staat mit einer Fokussierung auf das Verhältnis des islamischen Fundamentalismus zum modernen Nationalstaat wird uns der Widerspruch auf allen Ebenen begleiten, von der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart. Hieran läßt sich der im vorangegangenen Kapitel untersuchte Konsensverlust im Hinblick auf zentrale Fragen (z.B. Staatsordnung) veranschaulichen. Das ist, was ich kulturelle Fragmentation - parallel zur strukturellen Globalisierung nenne; diese stellt eine der gefährlichsten Konfliktquellen in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts dar.
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1. Die Vision einer universellen Umma und die Realität der Stämme Die Situation in Afghanistan bietet uns ein überzeugendes Beispiel für den eingangs angeführten Widerspruch, der in der ethnopolitischen Fragmentation des Landes zum Ausdruck kommt.1 Die Koran-Schüler, die Taliban,2 proklamierten nach ihrer Machtergreifung 1995/96 eine universelle islamische Ordnung, deren Ausgangspunkt sie in Afghanistan sahen und die den Stempel einer eigenartigen Mischung von Fundamentalismus und islamischer, hier wahhabitischer, Orthodoxie trug. Trotz ihres universellen Anspruches bestanden die Taliban auf der ethnischen Reinheit ihrer Bewegung, die ausschließlich aus dem Stamm der Paschtunen mit seinen vielen Clans hervorging, was auch durch die Einbindung des paschtunischen Stammeskodex Paschtunwah in ihre islamische Ordnung deutlich wird. Ihr Anführer, der Geistliche Mohammed Omar, bekam von seinen Gefolgsleuten den islamischen Titel Amir al-Muminin (Oberhaupt der Gläubigen) verliehen. Dieser aus dem 7. Jahrhundert stammende Titel gilt für den Imam aller Muslime, das heißt für die einzige Autorität in der gesamten islamischen Umma. Mohammed Omar jedoch war der oberste Stammesführer der Paschtunen, der zwar bei diesen eine ethnisch-religiöse Autorität genoß, aber von allen anderen islamischen Stämmen Afghanistans, sowohl von den sunnitischen Usbeken und Tadschiken als auch von den schi'itischen Hazara, abgelehnt wurde. Für Muslime außerhalb Afghanistans war Mohammed Omar ein «Nobody». Daran sehen wir die Spannung zwischen dem proklamierten islamischen Universalismus und dem in der Realität praktizierten Stammespartikularismus. Dieser Widerspruch existiert ungebrochen, wie ich zeigen werde, seit der islamischen Religionsstiftung im 7. Jahrhundert. -143-
Mohammed, der Gesandte Gottes/Rasul und Prophet/Nabi, kam aus dem Stamm der Quraiscb; mit der islamischen Religionsstiftung strebte er jedoch eine universelle Umma/Gemeinde an, die keine Stammesgesellschaft zu dulden bereit war. Alle Stämme sollten in der islamischen Umma aufgehen. Das war der zentrale Anspruch der islamischen Religionsstiftung, die zugleich der Beginn der islamischen Spielart des Zivilisationsprozesses war.3 Gleichermaßen war indes die Zugehörigkeit zum Stamm des Propheten, den Quraiscb, quasi heilig. Dies gilt auch heute noch: Wer diese Abstammung hat, gehört zu den Aschraf. Das ist ein Widerspruch. Nach dem Tod des Propheten wurde von den Quraisch geltend gemacht, daß der Kalif, also der Nachfolger Mohammeds, eben aus diesem Stamm kommen müsse. Zwei Tatsachen sprachen damals gegen diesen stammesbezogenen Anspruch. Erstens: Weder hat Gott dies im geoffenbarten Koran vorgeschrieben, noch hat der Prophet dies in seiner HadithTradition je verlangt. Und zweitens: Der Stamm der Quraisch hatte den Propheten während der mekkanischen Jahre der Offenbarung im Stich gelassen, ja ihm bei der Verbreitung des Islam bis 630 n. Chr. (Eroberung von Mekka) nur Schwierigkeiten gemacht und ihn sogar verfolgt. Dies war auch der Hintergrund seiner Migration im Jahr 622 n.Chr. (Hidjra/Auswanderung, Beginn der islamischen Zeitrechnung) nach Medina. Dort boten zwei andere Stämme, nämlich al-Aws und al-Kbazradj, ihm nicht nur Schutz, sondern erklärten sich zu Ansar/Anhängern des Propheten und unterstützten ihn bei der Verbreitung des Islam. Diese Ansar von Medina stellten nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 den berechtigten Anspruch, den Kalifen, das heißt den Nachfolger des Propheten, aus ihrem Kreis zu rekrutieren. Dies sprachen ihnen die Quraischis mit dem Argument ab, der Prophet sei Quraisch gewesen und es bliebe deshalb diesem Stamm vorbehalten, die Nachfolge für ein -144-
Oberhaupt der Gläubigen zu bestimmen. Anders formuliert: Der Imam der Muslime müsse ein Quraischi sein. Die politische Geschichte des Islam war daher ein blutiger Kampf um den «wahren Imam».4 Die Quraischis nutzten den Stammeszwist zwischen den alAws und al-Khazradj und setzten den Schwiegervater des Propheten Abu Bakr (Vater von Aischa,5 der Lieblingsfrau des Propheten), einen Quraischi, als ersten Kalifen und Imam aller Muslime durch. Bis zur Usurpation des Kalifentitels durch die türkischen Osmanen im Jahr 1517 wurden alle Kalifen aus dem arabischen Stamm Quraisch rekrutiert.6 Nach der islamischen Doktrin muß ein Kalif stets den universellen Auftrag des Islam erfüllen, der darin besteht, die Menschheit über alle Partikularismen hinweg zu vereinen. Der Widerspruch zwischen universellem übertribalen Anspruch und partikularen Realitäten begleitet den Islam seit dem Mekka und Medina des 7. Jahrhunderts bis in das Kabul und Kandahar unserer Zeit. Bereits im Früh-Islam, nach dem Tod des Propheten, wurden Stammesrivalitäten nicht nur in dem angeführten Streit um dessen Nachfolge entfacht. Der kompetenteste Kenner des Früh-Islam, der international geehrte Tübinger Orientalist Josef van Ess, schreibt in seinem mehrbändigen bedeutenden Werk über jene Epoche: Man handelte und dachte im Kollektiv. Dabei verstand man dieses Kollektiv vorwiegend als die soziale Gruppe, der man gerade angehörte; der Umma-Begriff, der heute hochgeschätzt wird, spielte kaum eine Rolle Die Stämme hatten ihre eigene Moschee... Man wollte nicht hinter jemandem das Gebet verrichten, mit dem man... nicht übereinstimmte.7 Die von van Ess beschriebenen Realitäten stehen im Widerspruch zum universellen Anspruch des Islam. Bereits die ersten Blutflecken in der islamischen Geschichte waren eine Folge der Problematik des fortbestehenden Tribalismus. Die zum Islam übergetretenen Beduinenstämme sahen ihre -145-
Verpflichtung zur Loyalität gegenüber dem Islam nach dem Tod des Propheten als beendet an: Für sie war der Islam an die Person des Propheten gebunden, weshalb sie sich kaum vorstellen konnten, daß es einen Islam ohne Mohammed geben konnte; zur Abstraktion nicht fähig, konnten sie nicht verstehen, daß die Prophetie Mohammeds auch nach seinem Tod fortbestand. Deshalb fielen sie vom Islam ab, worauf der erste Kalif Abu Bakr ihnen den Krieg erklärte.8 Apostasie von der Religion heißt im Arabischen Ridda, so daß jene blutige Auseinandersetzung als Ridda-Krieg (632-34) in die Geschichte einging. Es war ein Krieg zwischen den eher urbanen Quraisch und den wilden Stämmen der Beduinen. Er endete mit der Bezwingung der Beduinenstämme, wodurch diese in die islamische Umma zurückkehren mußten. Im Koran steht: «Kein Zwang in der Religion» (Sure 2, Vers 256), und ferner: «Diejenigen, die sich von ihrer Religion abwenden, sterben im Unglauben» (Sure 2, Vers 217). Von Tötung oder der gewaltsamen Unterwerfung Andersgläubiger ist im Koran also keine Rede. Doch seit dem Ridda-Krieg besteht die Todesstrafe praktisch als Strafgesetz für jeden Muslim, der den Islam verläßt. Dies steht im Widerspruch zu den Menschenrechten. Nun ist dies alles Geschichte, aber die Ereignisse in Afghanistan, wo der US-Krieg gegen den Terrorismus durch ein Meisterstück der Politik in einen innerafghanischen Stammeskrieg gegen die Taliban verwandelt wurde, veranschaulichen, daß diese Problematik auch die Gegenwart bestimmt. Die doktrinäre Vision des Islam, die Menschheit in einer universellen Umma zu vereinigen, ist durch die ganze islamische Geschichte hinweg gescheitert. Das DjihadEroberungsprojekt, welches die Welt vom 7. bis Ende des 16. Jahrhunderts dominierte,9 wurde nicht nur durch die Wirkung äußerer Faktoren zum Stillstand gebracht. Ehe es Kreuzzüge und Kolonialismus gab, war die Welt des Islam im 10. Jahrhundert in drei einander bekämpfende Zentren aufgeteilt und hatte drei -146-
Kalifen, in Bagdad, in Kairo und in Cordoba; alle beanspruchten, der Imam aller Muslime zu sein. Diese innere Zerrissenheit sowie der Aufstieg des Westens von 1500-1800 haben die islamische Zivilisation zunächst weitgehend geschwächt. Welthistorisch läßt sich der Aufstieg des Westens, wie auch der Historiker Parker feststellt, auf die «militärische Revolution»10 und die damit verbundene Überlegenheit des Westens zurückführen. Muslime hingegen erklären ihren Niedergang mit einer Verschwörung des Westens, die mit den Kreuzzügen begonnen haben soll.11 Dieser historische Hintergrund bietet uns den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart mit einer Weltordnung, in der Staaten Souveränität genießen, also nicht gottgewollt sind. Der Aufstieg des Westens hat zur Beendigung der religiösen Legitimität des Staates beigetragen. Nach dem Westfälischen Frieden 1648 im Anschluß an den Dreißigjährigen Krieg haben Europäer das Souveränitätsprinzip für die Bildung moderner Staaten entfaltet. Dies wurde zunächst auf ganz Europa, dann auf die gesamte Welt übertragen. Der Historiker Charles Tilly verdeutlicht uns, daß Europa nach dem Westfälischen Frieden in klar getrennte souveräne Staaten neu gegliedert werden sollte, deren Grenzen nach einem internationalen Abkommen festgelegt worden sind. In den darauffolgenden drei Jahrhunderten haben Europäer und ihre Nachfahren dieses Staatensystem der gesamten Welt aufgezwungen. Die gegenwärtige Welle der Dekolonisation hat beinahe den gesamten Globus in dieses System eingeschlossen.12 Die erfolgreiche Globalisierung der Institution des Nationalstaates13 ist ein Ergebnis der Französischen Revolution. Dazu gehört auch, so meint der Islam-Historiker Bernard Lewis, die 1924 erfolgte Auflösung des Osmanischen Reiches bzw. seines Kalifats als letzter Ordnung des Islam.14 Faktisch bedeutete dies nicht nur das Ende des islamischen Globalisierungsmodells, sondern auch die Einbeziehung der -147-
Welt des Islam in eine nach westlichen Vorstellungen strukturierte Weltordnung der Nationalstaaten. Die Welt wurde in bezug auf ihre Ordnung - verwestlicht.15 Nun tritt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fundamentalismus mit dem Anspruch hervor, die Welt zu entwestlichen.16 Eine substantielle Verwestlichung hat aber niemals stattgefunden. Ebensowenig wie im 7. Jahrhundert der Islam selbst konnte die Verwestlichung der islamischen Länder die Realität der Stämme abschaffen. Die arabischen Staaten zum Beispiel, die - im Gegensatz zu Afghanistan - einen Verwestlichungsprozeß durchliefen, sind heute nicht mehr als «Stämme mit Nationalflaggen». Alle in der Organization of the Islamic Conference (OIC) gruppierten 57 Staaten sind formal völkerrechtlich als Nationalstaaten strukturiert. In diesem Kapitel werde ich sie aus folgendem Grunde als «nominelle Nationalstaaten»17 deuten: Formal völkerrechtlich, also nominell, sind sie zwar Nationalstaaten, von der Substanz her aber nicht. Das westliche Modell wurde erfolgreich globalisiert, aber weder seine politische Kultur noch seine Werte und Normen konnten universalisiert werden. Es ist bedauerlich, daß der Unterschied zwischen Globalisierung und Universalisierung selbst in der Fachliteratur übersehen wird. Globalisierung bezieht sich auf Strukturen, Universalismus dagegen auf Werte, Normen und Weltbilder. Ein Nationalstaat kann als Institution globalisiert werden, Demokratie aber kann nur universalisiert werden. Das Problem der heutigen Weltordnung ist ihr Charakter als «anarchische Gesellschaft» in bezug auf Normen und Werte.18 Die historischen Bezüge in diesem einleitenden Abschnitt dienen dem Vorverständnis unseres Themas, also der fundamentalistischen Herausforderung an den Nationalstaat als eine völkerrechtliche Institution. Der Begriff Nationalstaat bezieht sich nach internationalem Verständnis nicht auf die unterstellte Einheit von Staat und Volk, sondern auf ein Gebilde -148-
des Völkerrechts, das über innere und äußere Souveränität verfügt; dabei wird angenommen, daß Volkssouveränität in diesem Rahmen anerkannt und praktiziert wird. Dagegen erheben sich die islamischen Fundamentalisten, die behaupten, kein Volk könne Souveränität haben, weil diese nur Allah obliege. Für ihre Weltanschauung prägen sie den neoislamischen Begriff der Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft und präsentieren diese als Modell des Islamismus im Kampf des Iman/Glauben gegen das westliche Modell des al-Kufr al-Alami/ internationalen Unglaubens, welches sich anmaßt, Gottesherrschaft durch Volkssouveränität zu ersetzen. Das ist die fundamentalistische Herausforderung. In Kapitel V über die Bin-Laden-Revolte gegen den Westen werde ich diese Weltanschauung als Mittel zur Legitimation näher beschreiben. Der hier angesprochene Konflikt über die Bestimmung des Nationalstaats wurde während des Golfkriegs deutlich. Dieser begann damit, daß Saddam Hussein die Souveränität Kuwaits mit der Begründung verneinte, die arabisch-islamische Kultur erkenne keine nationalstaatliche Souveränität an. Erneut kam diese Problematik in Algerien und jüngst in Afghanistan zum Ausdruck. Der 11. September belegt, daß selbst die Souveränität der USA geleugnet wird. In seiner Video-Rede vom 7. November sagte Bin Laden, es sei der Wille Allahs als Souverän, daß die beiden Türme des World Trade Center kollabierten. Ein anderes uns seit 1992 begleitendes Beispiel ist Algerien. Die algerischen Fundamentalisten der Islamischen Heilsfront haben stets ihre Ablehnung des Nationalstaates bekundet; bereits 1992 gerieten sie in Konflikt mit der Armee, die drei Jahrzehnte zuvor als Befreiungsarmee die nationale Unabhängigkeit des Landes erkämpft hatte. Zuvor wurde bereits während der Hochphase der von Ayatollah Khomeini angeführten islamischen Revolution im Iran die Diskrepanz zwischen dem universalistischen Anspruch des islamischen Fundamentalismus -149-
und den auf dem internationalen Recht (Souveränität nach innen und außen) basierenden, ursprünglich europäischen, aber nunmehr globalisierten Nationalstaaten offenkundig. Der Iran unter Khomeini wollte die islamische Revolution in die benachbarten Länder exportieren,19 während ebendiese Länder an ihrer vom Völkerrecht garantierten Souveränität eifersüchtig festhielten. Nach dem Tod Khomeinis haben seine pragmatischen, von westlichen Beobachtern fälschlich für «liberal» gehaltenen Nachfolger aus rein pragmatischen Gründen den Anspruch auf einen Export ihres ohnehin gescheiterten Modells aufgegeben, in ihrer Ideologie jedoch insistierten sie weiterhin auf der Ablehnung des Nationalstaates, obwohl der Iran selbst formal völkerrechtlich dieses Muster verkörpert. Es ist hier erwähnenswert, daß die Übertragung des iranischen Modells auf die benachbarten arabischen Länder auch deshalb scheiterte, weil die Araber von Persern kein Modell übernehmen. Wir sind wieder bei der ethnischen Spaltung der islamischen Umma. Die algerischen Fundamentalisten, die noch über keine staatliche Erfahrung verfügen, vertraten während ihres Wahlkampfes im Jahre 1991 auf ihren Flugblättern, die ich in Algier gesehen habe, die Ansicht, daß ein islamischer Staat in Algerien der Nukleus einer größeren islamischen, alle MaghrebLänder umfassenden Ordnung werden solle, der - so die Flugblätter - auch ein Auge auf Europa haben würde. Auf diesen Flugblättern werden sogar die «Futuhat alIslamiyya/lslamischen Eroberungen» (Arabisierung Spaniens und die Expansion bis nach Frankreich) im Eifer des Gefechtes angeführt. Die Fundamentalisten in Algerien sind «Arabisants», vertreten die arabische Bestimmung des Landes und sind daher gegen die Berber, die diese ablehnen, obwohl auch sie sunnitische Muslime sind. Auch hier steht die ethnische Zugehörigkeit über dem Anspruch einer universellen Umma. Wenn man die Ansprüche zeitgenössischer islamischer -150-
Fundamentalisten auf eine vom Islam geprägte staatliche sowie internationale Ordnung vernimmt, dann ist man geneigt, die Frage nach der Geschichte von Ordnung in der Realität und in der Vorstellung des Islam zu stellen. Die heutigen Nationalstaaten in der Welt des Islam sind, wie bereits angeführt, alle nominelle Nationalstaaten mit unterschiedlichen Graden an Kohäsion und Stabilität. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Ägypten) gibt es weder ein Nationalbewußtsein noch eine auf Staatsbürgerschaft (citizenship) basierende Loyalität der Angehörigen dieser Länder gegenüber dem Gemeinwesen. Wir haben es eher mit einem ethnischen oder religiösen Bewußtsein bzw. mit einer Mischung von beiden Formen zu tun. Dieses Kapitel wird mit dem vergeblichen Anspruch des Islam im 7. Jahrhundert eingeleitet, die arabischen Stämme in eine Umma/Gemeinschaft zu transformieren. Nach dem Tode des Propheten brachen die Stammeskämpfe aus; die Geschichte der islamischen Ordnung war eine solche der Stammesherrschaften. So wurden die arabischen Quraischis nach dem Untergang von Bagdad von dem türkischen Stamm der Osmanen abgelöst. Wir haben gesehen, daß selbst im modernen Nationalstaat, der auch auf die islamischen Teile der Welt übertragen wurde, es ebensowenig gelungen ist, die ethnisch-religiöse Vielfalt in ein nationalstaatlich integriertes, auf politischer Pluralität basierendes Gemeinwesen umzuwandeln. Was ist der Hintergrund der Problematik «Fundamentalismus und Nationalstaat»? Die historischen Linien für die fundamentalistische Herausforderung an den Nationalstaat führen weit zurück. Der Fundamentalismus ist ein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. und des Beginns des 21. Jahrhunderts, aber der Konflikt reicht bis in den Früh-Islam zurück. Nach der Unterwerfung der vorislamischen arabischen Stämme unter den islamischen Stadtstaat von Medina und in der gesamten arabo-islamischen Geschichte, von der Omayyaden-151-
Periode bis zur Auflösung des Osmanischen Reiches, dominierten zwei Typen der Staatenbildung: der imperiale und der territoriale Staat. Die politische und sozioökonomische Penetration dieses Zivilisationsraumes in modernen Zeiten, die ihren Höhepunkt mit der Auflösung der letzten islamischen Imperialordnung, des Osmanischen Reiches, fand, resultierte in dem Aufkommen einer Vielzahl von Nationalstaaten nach einer Periode kolonialer Herrschaft. Dieses Muster der Staatenbildung, das sich zuerst in Europa entwickelte,20 ist nicht nur neu, sondern der Geschichte jenes Zivilisationsraumes, der als «muslimische Welt» bekannt ist, auch fremd. Seit der gewaltsamen Integration der Welt des Islam in die Globalisierungsprozesse, aus denen die heutige nationalstaatliche Weltordnung hervorging, ist diese strukturell nicht länger eine Welt für sich, wenngleich Muslime sie gerade heute wieder als eine Welt für sich wahrnehmen. Der arabische Kern dieser Welt ist ein subordiniertes System geworden, für das der eurozentrische Begriff Naher Osten («nahe» im Sinne einer Nähe zu Europa) geprägt wurde. Ebenso wie das internationale System, in das dieses Subsystem integriert wurde, ist auch der Nahe Osten aus Nationalstaaten zusammengesetzt, die aus der Auflösung des Osmanischen Reichs hervorgegangen sind.21 Erstens basiert dieses neue Muster auf dem Konzept interner Souveränität. Ein grundlegender Bestandteil dieser inneren Souveränität ist die Idee der Staatsbürgerschaft (citizenship), die eine Überwindung stammesbezogener und im allgemeinen vornationaler Bindungen zur Schaffung einer nationalen Identität und Loyalität voraussetzt. Der moderne Nationalstaat basiert - zweitens - auf dem Konzept externer Souveränität, die sich auf die gegenseitige Anerkennung der Grenzen durch eine Anzahl von Staaten bezieht, die einen systemischen Bezugsrahmen der Interaktion bilden. In der islamischen Geschichte waren in keiner Spielart des Staates, weder im -152-
imperialen noch im territorialen Staat, die Stämme erfolgreich integriert worden. In der arabischen und der islamischen Geschichte bildeten die tribalen Bindungen trotz Unterdrückung und rhetorischer Verleugnung stets das grundlegende Element des Gruppenbezugs. Dies vollzog sich in der Vergangenheit im Bezugsrahmen der universalen islamischen Umma/Gemeinschaft; in der Gegenwart geschieht dies nun mit Bezug auf die säkulare, von Europa übernommene Idee der Nation.22 Vom modernen Nationalstaat wird somit ebenso wie vom Umma-bezogenen klassischen islamischen Staat erwartet, den Übergang vom Stamm zur Nation zu erreichen. Es trifft zu, daß der Nahe Osten in seiner neueren Geschichte große sozioökonomische und politische Wandlungen durchlaufen hat. Diese Prozesse stehen in Beziehung zu der gewaltsamen Integration der früheren osmanischen Provinzen in die Weltwirtschaft und später in das internationale System der Nationalstaaten. In diesem Kapitel werde ich die anstehende Problematik am Kerngebiet des Islam, das heißt am Nahen Osten, untersuchen und dabei fragen, ob es noch und überhaupt gerechtfertigt ist, weiterhin von Stämmen zu sprechen. Denn wie weiter unten ausgeführt wird, können nur kleine Teile der Bevölkerungen des Nahen Ostens heute als tribale Segmente bezeichnet werden. Dennoch haben die strukturellen Veränderungen, auf die hier hingewiesen wird, nicht zur Überleitung stammesmäßiger Bindungen in neue Muster nationaler Identität und Loyalität beigetragen. Man kann eher von einer Modernisierung der Stämme als von deren Überwindung sprechen. Ich habe bereits die Formel «Stämme mit Nationalflaggen», als die die arabischen Staaten bezeichnet werden, angeführt. Obwohl «der Stamm» heute als tatsächliche soziale Struktur an Bedeutung eingebüßt hat, behält er weiterhin seine Funktion als Bezugspunkt sozialer Identität und Loyalität. Nur in dieser Hinsicht wird auf das deutsche philosophische Konzept der -153-
«Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem» Bezug genommen, um die parallele Existenz zweier miteinander inkompatibler sozialer und politischer Muster zu konzeptualisieren, die ihre Ursprünge in grundlegend unterschiedlichen historischen Epochen haben: die alten Stämme und der moderne Nationalstaat. Meine These lautet: Der Fundamentalismus erhebt sich mit universellen Ansprüchen gegen den Nationalstaat, ist aber mit dem historischen Erbe belastet, daß der Islam an der Überwindung der Stammeskultur gescheitert ist; der Fundamentalismus bleibt diesem Partikularismus verpflichtet.
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2. Stämme und der Staat: Die Probleme, das Konzept und der Rahmen der Untersuchung Die Nationalstaaten in der Welt des Islam haben die Hoffnung auf Modernisierung und Entwicklung nicht erfüllt; somit sind sie seit dem Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in eine Legitimitätskrise, die zugleich auch eine strukturelle Krise ist, geraten. Aus dieser ist der religiöse Fundamentalismus als eine Herausforderung hervorgetreten. Die Fundamentalisten bieten den islamischen Staat, der auf der Schari'a fußt, als ein Gegenmodell zum Nationalstaat der Volkssouveränität an. Durch die Wiederbelebung des politischen Islam, dessen Vertreter den Nationalstaat bekämpfen und ihn als eine «Hall mustawrad/importierte Lösung»23 delegitimieren, nimmt die Krise des Nationalstaates im Nahen Osten an Heftigkeit zu. Entsprechend können wir den Aufstieg des Fundamentalismus auf das Scheitern des Nationalstaates in allen islamischen Ländern zurückführen. Der nach der Erlangung der Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft gegründete, mehr oder weniger nominelle Nationalstaat hat Entwicklung, Demokratie und Prosperität als Rahmen für die anvisierte nationale Integration der ethnisch und religiös heterogenen Bevölkerung versprochen. In der Realität hatte er aber nur Wirtschaftselend, zunehmende Rückständigkeit und noch dazu politische Unterdrückung vorzuweisen. Modernisiert wurden nicht die Gesellschaftsstrukturen, sondern die dem Staat zur Verfügung stehenden Geheimdienste und andere Repressionsapparate. Die Fundamentalisten versprechen mit ihrer «islamischen Lösung» eine Alternative, die wie ein Allheilmittel alle Probleme lösen soll; entsprechend groß ist der politische «Appeal». In vielen Ländern der Welt des Islam ist der Nationalstaat -155-
nicht Ausdruck eines politischen Gemeinwesens; er vereinigt Stämme, die außer dem Islam wenig gemein haben, und er ist eine Mischung aus orientalischer Despotie und einer mit moderner Technologie ausgestatteten effizienten Unterdrückungsapparatur. Ich habe bereits die vom ägyptischen Diplomaten Tahsin Bashir geprägte Formel «Stämme mit Nationalflaggen» zitiert. Nimmt man z.B. den Irak, der von Saddams Takrit-Klientel beherrscht wird, dann findet man eine in arabische Sunniten und Schi'iten sowie Kurden unterteilte Bevölkerung, die wiederum in Stämme, Clans und Klientel unterteilt ist und nur mit Staatsgewalt zusammengehalten werden kann. In diesem Kapitel wird davon ausgegangen, daß die Krise des Nationalstaates nicht nur die Wiederbelebung der universalen islamischen, heute fundamentalistisch artikulierten Ansprüche fördert, sondern auch das Wiedererwachen lokaler Zugehörigkeitsformen hervorruft, die in der Fachliteratur über den Nahen Osten abwechselnd als «tribal», «ethnisch» und «sektenbezogen» bezeichnet werden. Durch dieses Wiedererwachen fand auch der arabische Sozialphilosoph des 14. Jahrhunderts, Ibn Khaldun, neues Interesse. Sein Thema waren die Stämme, der Staat und die Zivilisation. Nach Ibn Khaldun24 vollzieht sich die orientalische Geschichte in Zyklen, in denen jeweils eine von Stämmen getragene Dynastie von einer anderen abgelöst wird. Hier sind wir wieder bei der Diskrepanz zwischen Universalismus und Partikularismus im Islam angelangt. Zeitgeschichtliche Ereignisse im Sudan, in Libyen, Irak, Syrien, im Maghreb und zuletzt 2001 in Afghanistan lassen das angesprochene Thema wieder aktuell werden. In der politischen Diskussion und in der sozialwissenschaftlichen Literatur der 60er Jahre bildeten die nationale Integration und die Strategien der Nationenbildung («Nationbuilding») den vorherrschenden Problembereich und schienen vielversprechende Aussichten zu -156-
haben (vgl. Anm. 20). Doch diese Hoffnungen schwanden. Anstatt die Früchte der erwarteten und bis jetzt bejubelten Nationenbildung zu ernten, sehen sich Politiker und Wissenschaftler nun mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Ursachen für die Auflösungserscheinungen der nominell souveränen Nationalstaaten in der ehemals Dritten Welt zu untersuchen. Afrika (Somalia, Zaire, Liberia, Äthiopien u. a.) steht hierbei an vorderster Stelle. Es sind nicht nur westliche Beobachter, die nun herausgefordert sind, das Modernisierungskonzept der Nationenbildung erneut zu erforschen, es zu korrigieren und ihre Hypothesen angesichts des erstarkenden Fundamentalismus neu zu formulieren. Auch arabische Autoren, die früher von der Idee der nationalen Einheit wie besessen waren, überdenken nun ihre früheren Annahmen, ohne jedoch die Idee der arabischen Einheit aufzugeben. In einem mehrbändigen Projekt des in Beirut ansässigen Centre for Arab Unity Studies über den Staat wird das Werk Ibn Khalduns aus dem 14. Jahrhundert neu belebt, um zeitgenössische Fragen zu deuten. Ghassan Salamé schreibt in einem der Bände, daß «es in den Ländern, die von einer Vielzahl von Stämmen bevölkert sind, schwierig ist, einen Staat zu errichten».25 Salamés zentrale Idee kreist um die Hypothese, daß die arabischen städtischen, den Nationalstaat tragenden Eliten nicht in der Lage waren, mit den postosmanischen Entwicklungen umzugehen, und somit unwissentlich - den Weg für tribal-rurale Rivalitäten um die Erlangung der Macht geebnet haben: «Während die meisten Teile des städtischen politischen Körpers zurückblieben, waren einige rurale Gruppen, die bis jetzt der politischen Partizipation beraubt waren, fähig, in den modernen Staat einzudringen und in der sozialen Hierarchie aufzusteigen sowie auch ihre politischen Positionen durchzusetzen. Schließlich gelang es ihnen, den Staat zu erobern» (ebd. S. 23). Salamé fügt hinzu: «Rurale Elemente wurden nach und nach urban, und umgekehrt wurde die -157-
Staatsmacht rural. Die Entwicklung des modernen Staates und seiner Institutionen waren überladen mit den hieraus hervortretenden Asabiyyas» (ebd. S. 24). Asabiyya ist ein zentraler Begriff Ibn Khalduns. Darunter versteht er den Zusammenhalt einer Gruppe im Sinne eines gemeinsam geteilten Bewußtseins, eine Art esprit de corps, wie Montesquieu einst diesen Ausdruck verwendete. Wenn wir nun die angesprochenen Auflösungserscheinungen des Nationalstaates im islamischen Orient und die parallele Neubelebung von stammesmäßigen Asabiyyas mit dem hier im Mittelpunkt stehenden Phänomen des Fundamentalismus in Verbindung bringen, dann haben wir gleichzeitig drei soziopolitische Strömungen, die miteinander konkurrieren. Diese sind: 1. die gegenwärtig aus Stämmen, Clans und Klientel hervorgehenden städtischen Eliten, die die politische Macht im Nationalstaat monopolisieren und dieses politische Gebilde gegen seine Gegner mit allen Repressionsmitteln verteidigen. 2. die Stämme und die religiösen Sekten, die sich dem jeweils herrschenden nominellen, d. h. künstlichen Staat widersetzen. 3. die Fundamentalisten, die ihre universalistischen Vorstellungen von einer vom Islam geprägten Weltordnung ideologisch und aktionistisch verfolgen. Eine nähere Betrachtung zeigt, daß Fundamentalismus, Nationalismus und Tribalismus/Klientelismus in den politischen Realitäten des Nahen Ostens oft ineinander übergehen. Hierbei wird offenkundig, wie komplex die fundamentalistische Herausforderung ist. Ein herausragendes Beispiel dieser nahöstlichen Variante der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ist das gegenwärtige Wiederauftauchen der tribalen Asabiyya in Gestalt der nationalen Souveränität und nationalen Legitimität, ohne Bezug zu Stämmen, aber mit Bezug zum modernen Nationalstaat. Der -158-
bereits zitierte Ghassan Salamé erläutert dies: «Diese Asabiyyas hassen es, ihre politischen Praktiken mit ihrem eigenen Namen zu kennzeichnen. Statt dessen präsentieren sie ihren Staat, als ob er ein exemplarisches Instrument im Dienst der gesamten Gesellschaft sei, ein Merkmal, das den modernen arabischen Diskurs charakterisiert... Die herrschenden arabischen Autoritäten sind gefangen in der Ideologie des modernen Staates, die sie zwingt, ihren Ursprung zu verbergen» (ebd., S. 24). Die tribale Macht, für die die Alawiten-Stämme Syriens ein deutliches Beispiel abgeben, wird somit als eine nationale Macht des modernen Nationalstaates präsentiert und legitimiert. Ähnliches läßt sich für die Takrit-Klientel von Saddam Hussein im Irak sagen. Die Alawiten Syriens wie auch die TakritKlientel im Irak gehören jedoch zugleich der arabischen Ba'thPartei an und sind miteinander verfeindet.26 Ist dies ein Widerspruch? Es scheint so, daß Ibn Khalduns Konzept vom Verhältnis von Stamm und Staat nach wie vor für das Studium der araboislamischen Geschichte gültig ist, selbst in der heutigen Zeit, in der der Nahe Osten ein Teil des Weltsystems geworden ist. Von einem komparativen Standpunkt aus betrachtet, teilen der klassische islamische Staat - gleich, ob imperial oder territorial und der moderne Nationalstaat, trotz all ihrer wesentlichen Unterschiede, das gemeinsame Merkmal, deutlich von Stämmen bestimmt zu sein, seien diese nun strukturell begründete Stämme der Vergangenheit oder einfache kommunale Solidargruppen, also psychologische Wir-Gruppen der Gegenwart. Diese Annahme rechtfertigt eine komparative Untersuchung der Errungenschaften beider Staatsmuster in der Vergangenheit und der Gegenwart, die darauf zielt, einen Bezugsrahmen zu entwickeln, der dazu beiträgt, das Wechselspiel zwischen Stämmen und Staaten in den Prozessen der Staatenbildung zu verstehen. Zunächst unterstellt der Verweis auf Ibn Khaldun und die -159-
klassische Unterscheidung zwischen den Stämmen und dem Staat bzw. Zivilisation, daß nur die These, die Geschichte verlaufe zyklisch, richtig sei. Deswegen ist zu fragen, ob die arabo-islamische Geschichte Zyklen aufweist, in denen sich verschiedene Stämme in der Herrschaft ablösen. Ein prominenter Europäer des 19. Jahrhunderts, Friedrich Engels, der weder mit Ibn Khaldun noch mit seinen Thesen vertraut war, glaubte, daß es der arabischen Geschichte an der Dynamik des Fortschritts mangele, da diese zirkulär und statisch sei. Engels vertrat damals die Ansicht, daß die arabische Geschichte in «einer periodisch wiederkehrenden Kollision»27 zwischen Nomaden und der städtischen Bevölkerung verlaufe. Die ersteren seien die Stämme, und die letzteren seien die Träger des Staates, die sich selbst von Beduinen zu Städtern entwickelt haben: «Nach hundert Jahren stehen sie natürlich genau da, wo jene Abtrünnigen standen; eine neue Glaubensreinigung ist nötig» (ebd.). In diesem Kreislauf der Stämme, die urban werden und dann selbst wieder durch andere Stämme gestürzt werden, soll es angeblich keinen Fortschritt geben. Für die angeführte Beurteilung des Islam ist der Begriff Orientalismus28 geprägt worden. Hier steht nicht die Orientalismus-Debatte an, sondern die Dichotomie zwischen Staat (zentralisiertes Machtmonopol) und Stämmen (segmentär, aufgrund der historisch spezifischen Situationen entweder vollständig oder teilweise autonom) als historischer Hintergrund für die fundamentalistische Herausforderung an den Nationalstaat. Aber die Vorstellung des Orientalismus als Stereotyp des Islam zwingt mich, nochmals auf den Begriff der Religion zurückzugreifen, um deren Bedeutung für meine Analyse zu umreißen. Der große deutsche Philosoph Ernst Bloch dient mir als Vorbild; er warnt uns in seiner Studie über Hegel: «Mattes und wenig bedeutendes Denken faßt sich selten kurz. Es braucht viele Worte... (und) muß dauernd um die Sache herumgehen, weil es die Sache, zu deren Aussage es sich -160-
übernommen hat, nicht trifft, vielleicht auch nicht treffen will. Je länger das Geschwätz, desto dünner der Sinn, desto verräterischer die Kürzung.»29 Diese Warnung beherzigend, möchte ich die zentrale Arbeitshypothese meiner Untersuchung formulieren: Jede staatliche Struktur läuft als zentralisiertes Machtmonopol jeder segmentär tribal organisierten Gesellschaft zuwider, da Verschiedenartigkeit und ein gewisser Grad an Autonomie die grundlegenden Charakteristika eines jeden Stammes darstellen. Der Islam als Zivilisation - nicht als Religion - hatte versucht, die Stämme einer Zentralinstanz unterzuordnen; er ist aber gescheitert. Das hat mit der Religion des Islam nichts zu tun. Auf der Basis dieser Annahme möchte ich die Frage stellen, auf welche Weise der traditionelle islamische Staat diese Dichotomie zwischen Staat und Stämmen zu bewältigen suchte. Eine Antwort auf diese Frage kann uns helfen, die Tragweite und die faktischen Wirkungsmöglichkeiten des Universalismus islamischer Fundamentalisten besser einzuschätzen. Wenn in der islamischen Geschichte der Staat als Zentralinstanz die Stämme nicht zu beherrschen vermochte, warum sollen es dann die Fundamentalisten können? Es trifft zu, daß der Koran die Existenz der Stämme anerkennt, indem er feststellt: «Wir haben Euch in Völker/Shu'uh und Stämmen/Qaba'il geschaffen, so daß Ihr einander kennenlernt» (Sure 49, Vers 13). Dennoch herrscht die Vorstellung von den Gläubigen als einer homogenen Gemeinschaft/Umma vor. Jenseits dieser schriftgläubigen Deutung können wir den Islam in den Begriffen der Religionssoziologie als eine organisierte Religion betrachten, die in historischer Perspektive eine Staatsreligion war. Dies führt uns in die Geschichte des Früh-Islam zurück mit der Frage, ob diese für den Konflikt zwischen Staatlichkeit und tribaler Segmentation ein Modell bietet. Dann ist zu bestimmen, ob dieses Modell Relevanz für die Gegenwart hat. Kann die von -161-
Fundamentalisten geforderte islamische Ordnung als eine Alternative zum Nationalstaat die bestehenden ethnischen Konflikte bewältigen? Nachdem das zentrale Problem deutlich geworden ist und die Notwendigkeit hervorgehoben wurde, dieses in seinem konkrethistorischen islamischen Rahmen zu untersuchen, bleibt nun noch die Aufgabe, die angewandten Begriffe zu spezifizieren und die Grundlagen des Vorgehens zu erläutern. Dies beinhaltet den Versuch, das Konzept des Stammes zu durchdenken und diese Überlegungen in den Kontext der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Diskussion zu stellen. Während Historiker und Anthropologen sich in diesem Zusammenhang zumeist auf vornationale Gruppen beziehen, haben Sozialwissenschaftler den vagen Begriff des Stammes durch das anscheinend konsistentere Konzept der «Ethnie»30 ersetzt. Ich schlage vor, beide Konzepte zu integrieren. Der nahöstliche Kontext spricht nicht für eine Gleichsetzung von Stämmen und Ethnien bzw. ethnischen Gemeinschaften. Ohne diese Diskussion vorwegnehmen zu wollen, muß hier festgestellt werden, daß der Idealtyp des Stammes im Weberschen Sinne eine staatenlose segmentäre soziale Gruppe ist, die durch den Mythos einer gemeinsamen Abstammung charakterisiert und durch lineare Loyalitäten verbunden ist. Historisch gesehen hat zu keinem Zeitpunkt ein in diesem Sinne reiner Stamm existiert, da es stets Interaktion zwischen Stämmen auf sämtlichen Ebenen (einschließlich der Mischehe) wie auch zwischen Stämmen und Staaten gab. Für den letzteren Fall gilt, daß die tribale Autonomie nach und nach durch Restriktionen abnahm, die von der Unterwerfung der Stämme unter die Staatsmacht ausgingen. Wenn Stämme sich selbst zu Trägern staatlicher Macht entwickelt hatten, wandelten sie sich auf unterschiedlichste Weise. In unserer Zeit bilden die Stämme des Nahen Ostens, sei es in Syrien, im Irak, Sudan oder in Libyen, einen Teil der nominell «nationalen» Bevölkerung. Die -162-
interne Souveränität des Staates - ein Konzept, das im vierten Abschnitt ausführlich diskutiert wird - ist somit eine nominelle Souveränität. Dieses Argument beinhaltet jedoch nicht, daß die nahöstlichen Bevölkerungen nach wie vor in Stämmen organisiert sind. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte durchlief der Nahe Osten eine Vielzahl von Prozessen des rapiden sozialen Wandels, die eng mit der Integration in die modernen globalen Strukturen verbunden sind. Die Stämme blieben von diesen Prozessen nicht unberührt. Von einigen Ausnahmefällen abgesehen, können wir im gesamten Nahen Osten kaum noch traditionelle Strukturen der sozialen Reproduktion tribalen Lebens beobachten. Dies bedeutet aber nicht, daß die Stämme sich in die nationale Bevölkerung integriert haben. Trotz aller Auflösungserscheinungen aufgrund des überschnellen sozialen Wandels, der von manchen als «Modernisierung» bezeichnet wird, hat nur eine sehr geringe nationale Integration im Sinne des von dem «Nationbuilding»Modell vorgeschlagenen Weges stattgefunden. Die tribalen Loyalitäten und Identitäten haben ebenso wie andere Varianten der vornationalen Loyalitäten überlebt und existieren fort. Die Dichotomie zwischen Stämmen und Staaten ist somit weder ein bloß akademisches Problem, noch ist es eine ausschließlich auf die Vergangenheit bezogene Angelegenheit. Wie bereits zuvor angedeutet, wird diese Dichotomie im Begriff der Ethnizität angesprochen und als eine Quelle von Ethno-Politik betrachtet.31 Hier will ich mich mit dem Hinweis begnügen, daß das Konzept der Ethnizität im Hinblick auf den Nahen Osten mit Vorsicht behandelt werden sollte. Im Falle Afrikas mag es berechtigt sein, das Konzept der Ethnizität zur Beschreibung segmentärer Gruppen heranzuziehen. Araber aber sind demgegenüber in bezug auf Sprache, Religion und ethnischen Ursprung etc. nicht so verschiedenartig wie Afrikaner. Nichtsdestoweniger gibt es innerhalb der arabischen Bevölkerung die stammesbezogene Herkunft, auf die wir das -163-
Konzept der Ethnizität anwenden können. Der Begriff «Arabische Nation» ist eine ideologische Formel (vgl. Anm. 20), der keine Entsprechung in der Realität gegenübersteht. Der Verweis auf den modernen Staat als Nationalstaat und auf kulturell homogene soziale Gruppen als Nationen zwingt uns, den historischen Rahmen dieser Untersuchung darzulegen. Dieser ist eng verbunden mit den zentralen Merkmalen des modernen Zeitalters, das durch eine «Weltzeit» alle Zivilisationen miteinander vernetzt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben die zunehmende Dichte der Kommunikation und des Transportwesens ebenso wie die Entfaltung global umfassender Strukturen dazu beigetragen, die Welt zu einem Ganzen zu formen. «Weltzeit» ist zugleich das Ergebnis des globalisierten internationalen Systems von Nationalstaaten und der transnationalen Strukturen der Weltwirtschaft. Vor seiner Integration in diese globalen Strukturen und in die weltweiten Interaktionsprozesse schien der Nahe Osten noch eine «muslimische Welt» für sich zu sein. Unter den vorherrschenden welthistorischen Bedingungen existiert diese nicht mehr. Der Nahe Osten als Kerngebiet der islamischen Zivilisation ist heute vielmehr ein regionales Subsystem der internationalen Weltordnung. Dieses Subsystem32 hat seine eigene regionale Dynamik, zu der die Dichotomie des Staates und der Stämme gehört. Islamische Fundamentalisten setzen sich zum Ziel, diese Prozesse, die sie Taghrib/Verwestlichung nennen, durch eine Politik der Islamisierung rückgängig zu machen. Obwohl der Nahe Osten seine eigene regionale Dynamik aufweist, wird er zugleich deutlich von seiner internationalen Umwelt beeinflußt. Diese regionalen und globalen Ebenen der Analyse sind unerbittlich miteinander verbunden und können lediglich für heuristische Zwecke getrennt werden. Das nahöstliche Subsystem ist aus Nationalstaaten zusammengesetzt. Wir können somit nicht umhin, uns näher mit dem «Staat» zu befassen. In diesen einleitenden Bemerkungen -164-
reicht es zunächst aus, den Staat simpel, im Sinne Albert Houranis, als «eine Größe mit einer anerkannten Autorität» zu definieren, «die die legitime und exklusive Macht beansprucht».33 Da diese Definition ihr Augenmerk auf das Machtmonopol einer zentralen Autorität richtet, scheint sie ungeachtet der modernen Konnotationen (u.a. die Frage der Legitimität) - auf sämtliche Staaten der Geschichte anwendbar. Dennoch wird der Versuch, dieses Konzept des Staates auf das moderne Zeitalter anzuwenden, uns dazu zwingen, den Begriff als «Nationalstaat» und nicht als Staat im allgemeinen zu spezifizieren.34 Darüber hinaus müssen wir die Definition um jene Elementen ergänzen, die mit den Prinzipien der (internen und externen) Souveränität verbunden sind. Sowohl die Souveränität als auch der Nationalstaat sind ausgesprochen moderne Phänomene, die in Europa ihren Ursprung haben und später Zugang auch zum Nahen Osten hatten. Es ist offensichtlich, daß die Anwendung des Konzepts Nationalstaat in einer stammesmäßigen, heterogenen Gesellschaft eher zu einer Verstärkung der Dichotomie zwischen Staat und Stämmen führt als die Durchsetzung einer traditionellen Staatsform. Ein Nationalstaat erfordert mehr als die bloße Unterordnung der Stämme unter eine zentrale Autorität als Träger der Macht. Nationalstaaten erfordern eine nationale Integration, die nicht nur die Autonomie eines Stammes, sondern ebenso seine Identität berührt. Grundlage ist das Konzept der Staatsbürgerschaft (citizenship), das eine nationale Loyalität im Gegensatz zu tribalen Loyalitäten und Identitäten voraussetzt. Tribale segmentäre Gruppierungen können mit einem traditionellen Staatsgebilde koexistieren, nicht aber mit einem wirklichen Nationalstaat. Es muß die Frage gestellt werden, warum die Entwicklung von Nationalstaaten im Nahen Osten nicht zu einem Übergang von vornationalen, insbesondere tribalen Loyalitäten und Identitäten in solche nationaler Art beigetragen hat. -165-
Generell in der Welt des Islam und speziell im Nahen Osten kann die Dichotomie zwischen Staat und Stämmen nicht länger mit einem Hinweis auf die Thesen Ibn Khalduns erklärt werden. Hier stellt sich nicht mehr die Frage nach der Staatenbildung im allgemeinen, sondern vielmehr nach der Überleitung «nomineller Souveränität» in effektive Staatlichkeit unter den Bedingungen von «Weltzeit». Im folgenden will ich dieser Frage und auch derjenigen nachgehen, ob der Islam historisch - als eine Staatsreligion fähig war, mit diesem zentralen Konflikt umzugehen. Und mehr noch: Bietet der Islam ein Modell für den Übergang vom Stamm zu einem Staat, ein Modell, das für die Gegenwart Relevanz hat? Diese Frage ist insofern wichtig, als muslimische Fundamentalisten den westlichen Begriff der Weltordnung übernehmen und ihm einen islamischen Charakter verleihen. Sie wollen nicht nur vom Stamm zum Staat - wie im klassischen Islam - übergehen, sondern eine islamische Weltordnung als Pax Islamica schaffen, womit sie sich mit US-Präsident Bush auf dieselbe Ebene stellen, der eine Pax Americana anstrebt.
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3. Der islamische historische Hintergrund des Konflikts zwischen Staat und Stämmen: Staatenbildung und das Fortbestehen der Stämme Im vorislamischen Arabien waren ebenso wie in anderen Regionen mit ähnlichen Bedingungen lokale, oft polytheistische Religionen der Rahmen lokaler Identitäten, die die Einheit der stammesmäßigen segmentären Gemeinschaft stärkten. In den Begriffen der Kulturanthropologie kann Religion als ein kulturelles System betrachtet werden, das die Weltsicht seiner Gläubigen bestimmt. In den Begriffen der Religionssoziologie stellen Glaubenssysteme die Symbole der Kommunikation bereit und bieten eine kulturelle Basis für soziale Organisation. Die Erweiterung der Religion von einem lokalen zu einem universalen Glauben schafft also zugleich einen Wandel in der Weltsicht der jeweiligen Gemeinschaft. In diesem Sinne sorgte der Wechsel der lokalen Religionen in Arabien zum universalen Islam für einen Wandel größerer Art. Wie Anthony Smith es in einer allgemeinen Weise verdeutlichte, «(führte) der Aufstieg monotheistischer Heilsreligionen... zu einer Aufhebung ethnischer und politischer Grenzen».35 Das soziopolitische Ergebnis dieser Aufhebung tribaler Grenzen war die Errichtung eines islamischen Staates mit einer zentralisierten öffentlichen Autorität, die über die Macht erst im Stadtstaat bzw. Gemeinwesen von Medina, später in ganz Arabien bzw. im Dar a1-Islam verfügte. Tatsächlich basierte auf dieser Leistung die grundlegende zivilisatorische Errungenschaft des frühen Islam. Die Verfassung von Medina schreibt in ihrem ersten Artikel vor, daß die Gläubigen eine einzige Gemeinschaft/Umma bilden. Das Gemeinwesen von Medina war somit ein Symbol für die Aufhebung stammesmäßiger Zugehörigkeitsformen und sozialer Grenzen in Arabien. Nach der widerstandslosen Eroberung von -167-
Mekka im Jahre 630 und dem kollektiven Übertreten der Quraisch-Stämme zum Islam besiegte Mohammed außerdem einen Zusammenschluß oppositioneller Stämme in Hunayn und setzte auf diese Weise die neue Ordnung für Arabien erfolgreich durch. Es ist sehr wichtig, daß im Früh-Islam stets die Rede von der Umma, nicht vom Staat war. Der Begriff Staat/Daula kommt im Koran nicht vor. Normativ hatte das Bekenntnis zur islamischen Umma einen deutlich höheren Stellenwert als tribale Bindungen und ebnete den Weg zur Etablierung der neuen Staatsstruktur, ohne diese Bindungen jedoch ganz zu überwinden. Dabei stellt sich die Frage, ob sich aus dieser neuen Struktur eine integrierte Gemeinschaft entwickelte. Sollte die neue Konstruktion lediglich die tribalen Loyalitäten überwinden, oder sollte sie diese Bindungen durch eine einzige neue ersetzen? Der international führende Kenner des Früh-Islam, W. Montgomery Watt, räumt eine wachsende Komplexität im Übergang von der tribalen zu einer neuen staatlichen Struktur des Islam als einer organisierten Religion ein. Er fügt jedoch hinzu, daß das Gemeinwesen, welches Mohammed «lenkte, vorislamische Konzepte keineswegs irrelevant machte... Das Ergebnis... war die Schaffung einer Föderation der Stämme in Allianz mit Mohammed. Eine solche Allianz bedeutete, daß der jeweilige Stamm zu einem Bestandteil des islamischen Staates oder des Gemeinwesens wurde.»36 Die neue, durch den Islam geschaffene Ordnung, für die Watt den Begriff Pax Islamica geprägt hat, basierte auf der Stammespolitik Mohammeds, die darauf gerichtet war, mit der «verwirrenden Vielfalt der Gruppen in Gruppen (groups within groups)»,37 das heißt den verschiedenen Stämmen, einig zu werden. Um dies zu erreichen, verband Mohammed die Tugenden eines religiösen Predigers mit jenen eines militärischen Führers und Staatsmannes.38 Mohammed hatte Erfolg in seinen Bemühungen, ein Gemeinwesen unter den Stämmen und gegen sie zu errichten. -168-
Nach Einschätzung Watts könnte Mohammeds Leistung «als der Aufbau eines politischen, sozialen und ökonomischen Systems auf der Basis religiöser Fundamente betrachtet werden... seine Stammespolitik bildete nur einen Aspekt dessen.»39 Die durch den neuen Staat geschaffene Einheit konnte das tribale Element jedoch nicht überwinden. Sie ordnete dieses vielmehr, so Watt, der neuen Politik unter; «die Kämpfe und Rivalitäten der Stämme wurden nicht behoben, sondern lediglich verdrängt» (ebd., S. 149). Wenn wir diese Interpretation aufnehmen und parallel dazu die duale Funktion von Religion - Vereinigung und Teilung - berücksichtigen, dann können wir zu der Schlußfolgerung gelangen, daß das von Mohammed gegründete islamische Gemeinwesen als eine Föderation der arabischen Stämme von Anbeginn an eine zerbrechliche Struktur hatte. Er vermochte die Stämme vorläufig zu befrieden, nicht aber, sie aufzulösen, und paßte statt dessen die Struktur des neuen Staates an diese an. Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann die islamische Umma als ein Super-Stamm angesehen werden, der sich aus einer tribalen Föderation entwickelte. Diese Föderation arabischer Stämme konnte allerdings nicht zu einer homogenen Gemeinschaft weiterentwickelt werden; sie blieb anfällig für Fragmentation. Wie Smith ausführt, müssen «organisierte Religionen, insbesondere nach der ersten enthusiastischen Phase, einig werden mit den vorhandenen ökonomischen und kulturellen Gruppen, besonders wenn diese eine politische Ausdrucksform gefunden haben; und als Resultat finden wir häufig Religionen vor, die ethnische Gesinnungen, mit denen sie sich zu besonderen religio-ethnischen Gemeinschaften vereinigt haben, bestärken, wenn nicht sogar anfachen».40 Im Hinblick auf unser Thema und mit einem besonderen Bezug zur frühen islamischen Geschichte müssen wir uns an dieser Stelle nochmals den Unterschied zwischen tribalen und ethnischen Spaltungen in Erinnerung rufen. Die spaltenden Kräfte des islamischen Gemeinwesens im frühen -169-
Islam waren sowohl stammesbezogen (intra-arabische Rivalitäten) als auch ethnisch (der Konflikt zwischen Arabern und Mawalis, d.h. nichtarabischen Muslimen). Die Gleichsetzung von Ethnizität und Tribalismus, die für andere Kulturräume - z.B. Schwarzafrika - ihre Gültigkeit haben kann, ist nicht auf den arabo-islamischen Nahen Osten übertragbar. Kurz gesagt: Die Interpretation von Watt geht davon aus, daß der Islam insoweit nicht fähig war, die stammesbezogene Struktur Arabiens in eine wirklich homogene Größe umzuwandeln, als die Pax Islamica die zahlreichen Stämme nicht an den Standard einer einzigen, dem islamischen Staat zugrundeliegenden Gemeinschaft anpassen konnte. Die Stämme hinterließen ihre Spuren in der neuen Ordnung. Betrachtet man diese Gegebenheiten des Früh-Islam, dann stellen sich entsprechende Fragen über unsere komplexe Gegenwart. In ihrem Widerstand gegen die Unterteilung des Dar al-Islam in Nationalstaaten beleben die islamischen Fundamentalisten die islamische Umma, die sie gegen den Westen vereinigen wollen. Bei der ersten Auflage dieses Buches (1992) umfaßte die islamische Umma 1,2 Milliarden Muslime (als Khomeini seine Revolution 1979 startete, waren es lediglich 800 Millionen). Im Jahre 2001 ist sie auf 1,5 Milliarden Muslime angewachsen. Diese leben als Mehrheit in 56 Staaten, die in der OIC vereinigt sind, sowie als Minderheit überall in der Welt. Hierbei haben wir es nicht nur mit Stämmen und Ethnien, sondern auch mit zahlreichen, kulturell sehr unterschiedlichen DiasporaGemeinschaften zu tun; diese könnten sich im negativen Fall in Krisensituationen gegen einen vermeintlichen Feind, den Westen, vereinigen, nicht jedoch als ein politisches Gemeinwesen in Erscheinung treten. Trotz der Tatsache, daß die Interpretation Watts den historischen Rahmen des Islam genau wiedergibt, bin ich geneigt, diese Einschätzung durch einige Nuancen zu modifizieren. In meinem früheren Buch Die Krise des modernen -170-
Islam habe ich zwei Aspekte zur näheren Betrachtung vorgeschlagen.41 Zum ersten ist der Islam eine organisierte Religion. In der wissenschaftlichen Diskussion über die Ursprünge von Staat und Zivilisation herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß dem Aufstieg zentraler staatlicher Institutionen ein religiöser Wandel vorausgeht, da in diesen Prozeß organisierte Religionen involviert sind. Entwickelt sich dieses institutionalisierte Zentrum, dann «bewirkt es eine religiöse Überlagerung der familialen und lokalen Kultebenen, die gesamtgesellschaftlich ist und sämtliche Aktivitäten umfaßt. Diese Religion huldigt wahren Göttern, nicht bloß vage definierten Gesinnungen. Die öffentlichen Denkmäler und Tempel, an denen die Zeremonien stattfinden, gehören der Gesellschaft als Ganzem und wurden durch gesellschaftlich umfassende Fronarbeit erbaut»,42 wie der Anthropologe Elman Service betont. Zum zweiten ist der Islam eine monotheistische Religion. Das zitierte Argument von Service ist auf organisierte Religionen im allgemeinen anwendbar. Im Falle der monotheistischen Religionen ist eine besondere Betonung notwendig. Für Religionssoziologen bedeutet Monotheismus die Verkündigung einer umfassenden und einzigen Quelle von Autorität. Dieser monotheistische Anspruch muß sich auf die politische Ordnung auswirken, die in diesem Zusammenhang errichtet wurde. Meiner Ansicht nach bietet der Versuch des Historikers Marschall Hodgson, die politische Errungenschaft des Islam zu beschreiben, eine solide Einschätzung. Hodgson schreibt, ohne mit der oben eingeführten fachlichen Diskussion vertraut zu sein: Die politische Struktur, die Mohammed errichtet hat, war mittlerweile eindeutig eine Staatsstruktur - wie die Staaten in den Nationen rund um Arabien - mit einer zunehmend autoritativen Regierung, die nicht länger ungestraft ignoriert werden konnte. Mohammed schickte Gesandte aus, die den Koran und die Prinzipien des Islam lehrten, den -171-
«zakat/Armensteuer» einsammelten und vermutlich Streitigkeiten beilegten, um den Frieden zu wahren und Fehden zu verhindern.43 Die islamische Religionsstiftung ist deshalb zugleich der Beginn einer islamischen Spielart des Zivilisationsprozesses, weil mit ihr die Gründung einer Zentralinstanz einhergeht, aus der die imperialen Strukturen jener historischen Epoche hervorgingen. Dieses frühe islamische Modell einer staatlich organisierten, integrierten islamischen Gesellschaft war jedoch nicht von Dauer. Teilung, nicht Einheit ist das vorherrschende Merkmal der islamischen Geschichte. In Arabien - ebenso wie in den arabisierten und islamisierten Provinzen des neuen imperialen Staates - blieben die Stämme, ungeachtet der vorhandenen staatlichen Ordnung, die grundlegenden gesellschaftlichen Einheiten, und sie haben bis heute überlebt. Diese Bemerkung bedeutet jedoch nicht, daß die Stämme sich nicht gewandelt hätten. Das Dilemma der arabo-islamischen Geschichte bestand darin, daß die strukturelle Auflösung der Stämme die stammesbezogene Solidarität nicht aufheben konnte. Während die wirtschaftliche Grundlage der sozialen Reproduktion der Stämme durch den gesellschaftlichen Wandel untergraben wurde, blieb das Gefühl der tribalen Identität erhalten. Die islamische Geschichte bietet einen Beleg für die Widerlegung der Auffassung, daß Normen und Werte sich parallel zu wirtschaftlichen Wandlungen verändern. Islamische und tribal-arabische Werte, die in den Islam eingegangen sind, sind resistent gegenüber dem Wandel. Ein arabisches Forscherteam des in Beirut ansässigen Centre for Arab Unity Studies hat in einer bemerkenswerten Studie die tribale Dimension arabo-islamischer Geschichte beleuchtet. Einerseits wird darin die Fortdauer und Vorherrschaft tribaler Organisation - z.B. im Maghreb, ungeachtet des «Makhzan»Staats in Marokko - erkannt, zum anderen wird auf die sozioökonomischen sowie die kulturellen transtribalen Faktoren, die -172-
zu einer Veränderung der sozialen Reproduktion der Stämme im Nahen Osten geführt haben, aufmerksam gemacht. Nach Ansicht der Autoren der angeführten Studie mag der Zyklus Ibn Khalduns für manche historischen Zeiträume gegolten haben; er ist jedoch eindeutig ungeeignet, um die gesamte historische Entwicklung des Islam seit dem 16. Jahrhundert zu beschreiben,44 besonders nachdem die islamische Welt in ein Weltgefüge eingebettet worden ist. Bei aller Würdigung des erreichten strukturellen Wandels durch die islamische Religionsstiftung muß man zugeben, daß es ihr nicht gelungen ist, die vorhandenen starken tribalen Zugehörigkeitsformen zu überwinden. Insgesamt gesehen stimme ich der Einschätzung Watts in bezug auf die Dichotomie zwischen Staat und Stämmen zu, mit der Einschränkung, daß die oben angeführten Nuancen hinzugefügt werden müssen. Watt erkennt nicht den Unterschied zwischen stammesbezogenen Empfindungen und der tribalen Organisation von Gesellschaft. Michael Hudson, der grundsätzlich mit der Interpretation Watts übereinstimmt, daß der Islam unfähig war, Stabilität und Einheit gegenüber den Stämmen zu erhalten, fügt wohlüberlegt hinzu: «Das Versagen ist nicht eindeutig dem Islam zuzuschreiben, sondern vielmehr der zersplitterten verwandtschaftlich verbundenen Gesellschaft, der dürftigen Kommunikation und der Qualität der Führungskraft jener Zeit.»45 Der Islam bleibt eine städtische Kultur, die gegen die Stämme gerichtet ist. Dies ist an der Islamisierung Westafrikas zu beobachten. Dort wurde der Islam von den städtischen Zentren aus verbreitet und begründete im 19. Jahrhundert die urbane Orientierung der Bauern. Wie der dort arbeitende Ethnosoziologe Gert Spittler feststellt, «wird von dem Muslim erwartet, eine supralokale Ausrichtung zu haben... Ein Muslim gehört einer Welt an, die über den Stamm hinausgeht.»46 In der Realität wird dieser übertribale Anspruch nicht eingelöst. Ich habe zum Beispiel im westafrikanischen Senegal gelebt, einem islamischen Land. -173-
Aber die Grenzen zwischen den 13 Stämmen dort sind unüberwindbar. In der Gegenwart führt die Einbettung der Welt des Islam in die moderne Weltwirtschaft und das internationale System von Nationalstaaten ebenso zu einer großen Mobilität wie zu tiefgreifenden interaktionellen und strukturellen Veränderungen, ohne deren Berücksichtigung der Fundamentalismus nicht verstanden werden kann. Nomadenstämme im klassischen Sinn existieren heute in den meisten Ländern des Nahen Ostens nur einige wenige, während nahöstliche Gesellschaften nach wie vor - in Form stammesbezogener Loyalität und Identität - die Charakteristika tribaler Einheiten zeigen. In bezug auf den arabo-islamischen Kern des Dar al-Islam führt Hudson aus: «Stämme sind... nur noch ein kleines Fragment in der arabischen Gesellschaft... Die tribale Lebensart ist in dem Maße aus der arabischen Welt verschwunden, wie modernes Transportwesen, Kommunikationswege und die Ölwirtschaft Wurzeln geschlagen haben. Heute sind vielleicht weniger als fünf Prozent der Bevölkerung der arabischen Welt wirklich nomadisch... ein weit größerer Anteil aber bewahrt ein gewisses Maß an tribaler Identität.»47 Diese Feststellung belegt die Parallelität von der Auflösung der sozioökonomischen Basis der Stämme und dem Überleben ethnischer Identitäten. Ethnische und ethno-religöse Identitäten können in gesellschaftlichen Krisensituationen häufig durch Heilsideologien mit universellem Anspruch, wie jene des islamischen Fundamentalismus, mobilisiert werden. Hierbei tragen die universelle und die lokale Identität zur gegenwärtigen Desintegration des Nationalstaates bei. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: Kann das Wiederaufleben lokaler Bekenntnisse und Loyalitäten als eine Wiederbelebung der stammesbezogenen Empfindungen oder der Ethnizität betrachtet werden, wie dies im Großteil der sozialwissenschaftlichen Beiträge zu diesem Thema vermutet -174-
wird? Wenn die in dieser Frage enthaltene Vermutung zutrifft, dann muß ein Stück Wahrheit an der These vom Zerfall des Nationalstaats und somit der tendenziellen Auflösung des Staatensystems sein.48
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4. Nationalstaaten ohne eine nationale Gemeinschaft: Subgesellschaftliche Spaltungen im Nahen Osten - sind sie tribaler, ethnischer oder sektiererischer Natur? Ein Hauptargument dieses Kapitels lautet, daß den meisten Gesellschaften in der Welt des Islam die grundlegende Voraussetzung des von außen aufgezwungenen Nationalstaates eine homogene nationale Bevölkerung - fehlt. Trotz der strukturellen Auflösung der Stämme, als einer vormodernen gesellschaftlichen Organisationsform, sind die stammesbezogene Identität und Solidarität immer noch das vorherrschende Merkmal der nahöstlichen Gesellschaften. Selbst universalistisch in ihrer Ideologie argumentierende Fundamentalisten bleiben dieser Identität und Solidarität verhaftet. Hier möchte ich das Augenmerk auf das tribale Element richten und dieses dann am nahöstlichen Beispiel auf die Diskussion über Ethnizität beziehen.49 Die tribale Zersplitterung vieler nahöstlicher Gesellschaften steht einer homogenen Bevölkerung als Voraussetzung für eine nationale Gemeinschaft mit den entsprechenden Symbolen und Loyalitäten im Wege. Die meisten nahöstlichen Staaten vereinen - in unterschiedlichem Maße - verschiedenste Gemeinschaften, die durch eigene lokale Symbole und Loyalitäten charakterisiert sind. Pannationale (arabischer Nationalismus), lokalnationale (algerischer, syrischer etc. Nationalismus) oder universelle Ideologien (der islamische Fundamentalismus) waren meistens Angelegenheit der Intellektuellen, die in der noch an lokalen Gruppen orientierten Bevölkerung der betreffenden Staaten nicht Fuß fassen konnten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie diese Gruppenorientierung zu qualifizieren ist. Ist -176-
sie tribaler, ethnischer, religiöser oder bloß sektiererischer Art? In Übereinstimmung mit der gebräuchlichen Praxis im Rahmen der allgemeinen Diskussion zu diesem Thema haben NahostExperten das Konzept der Ethnizität als analytisches Werkzeug übernommen, um die subgesellschaftlichen Spaltungen in jenen Nationalstaaten ohne nationale, d.h. homogene Gemeinschaft zu beschreiben. In diesem Kontext müssen wir fragen, ob der Begriff «Ethnie» nur ein anderes Wort für «Stamm» ist und somit einen Wandel in der Terminologie indiziert oder ob Ethnizität ein neues analytisches Konzept für den Umgang mit unserem Thema einführt. Der bekannte Nationalismus-Forscher Louis Snyder empfiehlt, «der Begriff (Ethnizität) hat so viele verschiedene Bedeutungen angenommen, daß es das beste wäre, ihn zu verwerfen».50 Bevor wir ungerechtfertigterweise zu einem verfrühten endgültigen Urteil gelangen, können wir fragen, warum Wissenschaftler von Ethnien statt von Stämmen sprechen. Europäische Historiker betrachten gesellschaftliche Gruppierungen in vormodernen Perioden ihrer eigenen Geschichte für gewöhnlich als Ethnien, während sie ähnliche Einheiten in der nichteuropäischen Geschichte geringschätzig als Stämme bezeichnen. Der Tribalismus wird somit als ein arabisches oder afrikanisches, nicht aber als ein europäisches soziales Phänomen angesehen. Anscheinend ist dies der Grund dafür, daß Sozialwissenschaftler im allgemeinen - und jüngst Nahost-Forscher im besonderen - den Begriff «Stamm» vermeiden und auf vornationale gesellschaftliche Gruppierungen als «Ethnien» Bezug nehmen. Sie wollen frei sein von den eurozentrischen Konnotationen des Begriffs «Stamm». Ungeachtet der geringschätzigen Bezugnahme moderner arabischer Intellektueller auf Qabailiyya/Tribalismus im Gegensatz zu Qaumiyya/Nationalismus können wir die Tatsache nicht übersehen, daß jene Muslime, die eine Abstammung vom Propheten Mohammed nachweisen können, auf ihre Herkunft aus dem Stamm Quraisch stolz sind. Aus diesem Hinweis wird -177-
deutlich, daß auf die tribale Zugehörigkeit nicht immer herabgeschaut wird. Entsprechende Muslime verweisen auf sich selbst als Aschraf/tribale Nachkommen des Propheten. Anthropologen, die über den Nahen Osten arbeiten, sind zudem vertraut mit der oft stolz hervorgehobenen tribalen Herkunft der einfachen lokalen Bevölkerung, also auch der Menschen, die keine Aschraf-Abstammung beanspruchen können. Trotz des Anspruchs des Islam, die Stämme der islamischen Umma/Gemeinschaft zu unterwerfen, hat das Adjektiv «tribal» im arabischen Kontext nicht eine ähnlich negative Bedeutung wie im afrikanischen. Noch wichtiger ist, daß die Begriffe «Stamm» und «Ethnie», wie sie von Smith gebraucht werden, in bezug auf den Nahen Osten nicht synonym angewandt werden können. Ich schlage deshalb vor, den Begriff «Stamm» wie gehabt weiter zu benutzen und «Ethnie/ethnische Gemeinschaft» in einer modifizierten Form zu verwenden. Um dies überzeugend darzustellen, möchte ich die schi'itische Sekte der Alawiten in Syrien als Beispiel heranziehen. Diese sind, ethnisch gesehen, Araber und in vier Stämmen organisiert. Betrachtet man aber die Wechselbeziehung zwischen den Alawiten und der übrigen syrischen Gemeinschaft, dann können wir fragen, ob alle vier alawitischen Stämme zusammen als Ethnie angesehen werden können. Obwohl die Alawiten Araber sind, unterscheiden sie sich von anderen Arabern durch einen eigenen Mythos der gemeinsamen Abstammung und des gemeinsamen Glaubens; sie bilden somit eine selbständige WirGruppe. Ein genauerer Blick auf die Beziehungen der Alawiten untereinander zwingt uns, sie als einen Verband von vier «Stämmen» anzusehen: Matawirah, Haddadin, Khayyatin und Kalbiyyah. Die gegenwärtig herrschende alawitische Klientel in Syrien rekrutiert sich aus dem Matawirah-Stamm und, noch konkreter, aus dessen subtribalem Clan Numailatiyya.51 Auf die gestellte Frage zurückkommend können wir die Alawiten also weder als separate ethnische Gemeinschaft noch schlicht im -178-
religiösen Sinne als eine Sekte bezeichnen, da diese nicht nur in vier Stämme, sondern auch in die Glaubensrichtungen Shamsis, Qamaris und Murshidin unterteilt sind. Die beiden Forscher Esman und Rabinovich bevorzugen das Konzept der Ethnizität für die Darstellung der Spaltungen in den gegenwärtigen nahöstlichen Nationalstaaten. Sie definieren Ethnizität als «kollektive Identität und Solidarität, die auf solch zuzuordnenden Faktoren basieren wie unterstellte gemeinsame Herkunft, Sprache, Bräuche, Glaubenssysteme und Praktiken (Religion) und in einigen Fällen Rasse oder Farbe».52 Grundsätzlich befassen sich Esman und Rabinovich, wie auch die anderen Autoren ihres Bandes, mit dem gleichen strittigen Gegenstand: den Auswirkungen der Übernahme (ich würde eher sagen: des Aufzwingens; vgl. den folgenden Abschnitt) des europäischen Modells des souveränen Nationalstaats im Nahen Osten. Ich teile mit ihnen die Ansicht, daß die Zunahme «ethnischer» (ich würde lieber sagen «stammesbezogener») Politik im Nahen Osten in Zusammenhang steht mit «(1) der Kontrolle des modernen Staates über politische und ökonomische Ressourcen, die für die Sicherheit und das Wohlergehen seiner Einwohner lebenswichtig sind, und (2) den Spannungen zwischen dem Pluralismus der Gesellschaft und den Ansprüchen des Staates, das Leben aller zu regeln, die in seinen territorialen Grenzen leben... Das (übernommene) europäische Modell des souveränen Staates... war eine Bedrohung für Minderheiten, und in einigen Fällen für Mehrheiten, da es die Spannungen unter den verschiedenartigen ethnischen Gruppengemeinschaften im Nahen Osten und zwischen diesen Gemeinschaften und den neuen Staaten verschlimmerte.»53 Natürlich sind diese neuen Staaten, wie schon mehrfach argumentiert, nur in nominellem Sinne Nationalstaaten, denn diese basieren auf dem Konzept des Nationalismus, das die Existenz einer in der Realität nicht vorhandenen nationalen Gemeinschaft als ein Gemeinwesen -179-
voraussetzt. Im Gegensatz zu Esman und Rabinovich schlage ich vor, zwischen Ethnien als subnationalen Gruppen in den Gemeinschaften der modernen Nationalstaaten des Nahen Ostens und den Stämmen zu differenzieren. Wir können uns somit auf die Berber in Marokko, die Alawiten in Syrien wie auch die Dinka im Sudan oder die Kurden in Iran/Türkei/Syrien/Irak als «Ethnien» beziehen, ohne zu übersehen, daß sie in Stämme unterteilt und entsprechend organisiert sind. Dies führt uns zu der Schlußfolgerung, daß das Konzept des Stammes nicht durch jenes der Ethnizität ersetzt werden kann. Ethnizität kann als eine übergeordnete Kategorie aufgefaßt werden, die hilft, Verschiedenheiten in einer vornationalen Gemeinschaft darzustellen. Sie läßt einerseits den ethnischen Ursprung der gegenwärtigen Nationen und andererseits die subgesellschaftlichen Differenzierungen der Gemeinschaften im Rahmen ihres Entwicklungsprozesses zu Nationen erkennen. Nichtsdestoweniger vermag dieses Konzept nicht, Einsichten in die inneren Strukturen von Ethnien zu geben bzw. das benötigte analytische Werkzeug dafür zu bieten. Das Konzept des Stammes bleibt also weiterhin brauchbar. Indem ich auf der Nützlichkeit dieses Konzepts insistiere, beabsichtige ich jedoch keineswegs, eine veraltete Definition des Stammes wiederaufzunehmen. Tribale Strukturen und Identitäten innerhalb von Ethnien, wie die der Drusen und Alawiten Syriens und die der Berber in Marokko, haben in den vergangenen zwei Jahrhunderten einen enormen und rapiden sozialen Wandel erlebt und sich den ständig verändernden Bedingungen angepaßt. Wir können Stämme nicht länger mit Nomaden oder ruralen Bevölkerungen gleichsetzen. In Syrien zum Beispiel sind die Alawiten vornehmlich in den Bevölkerungen der großen Städte wie Damaskus, Aleppo, Homs und Latakia vertreten. Sie bilden ebenso einen Großteil der herrschenden militärischen und -180-
zivilen, die politische Macht monopolisierenden Eliten des gegenwärtigen syrischen Regimes, dessen Mitglieder nach Batatu «... mit äußerster Sorgfalt (ausgewählt sind) und es ist unwahrscheinlich, daß in der Auswahl nicht jene Männer bevorzugt wurden, die enge tribale Bindungen zu Hafez alAssad haben. Vielen von ihnen wird auch nachgesagt, aus seinem Geburtsort, dem Dorf Qardaha, zu stammen.»54 Nach dem Tod von General Assad im Jahre 2000 wurde sein Sohn Bashar als Nachfolger zum Präsidenten gewählt. Das Amt des Staatschefs wird dynastisch und zudem an Ethnizität gebunden vergeben. Im Falle des Alawiten-Stamms al-Matawirah handelt es sich um eine tribale Gemeinschaft, deren Angehörige zur herrschenden politischen Elite aufgerückt sind. Es gibt andere Fälle, in denen Stammesangehörige zu - wenngleich sozial benachteiligten - Stadtbewohnern wurden, ebenfalls ohne ihre tribale Identität zu verlieren. Dies ist bei den südsudanesischen Dinkas, von denen viele heute in den Slums von Khartoum leben, der Fall. Kurz gesagt, stammesbezogene Zugehörigkeiten sind subethnische gesellschaftliche Spaltungen der Bevölkerungen in den Nationalstaaten des Nahen Ostens. Sie sind nicht länger Charakteristika des sozialen, d. h. nomadischen oder ruralen Lebens. Denn diese Stämme durchliefen lange Übergangsphasen und blieben vom Prozeß des rapiden sozialen Wandels in den nahöstlichen Gesellschaften nicht unberührt. Dennoch kann keine Rede von ihrer Umformung in nationale Gemeinschaften sein. Im Nahen Osten bestehen stammesbezogene Zugehörigkeiten weiterhin. Ähnlich problematisch wie die Gleichsetzung von Stämmen und Ethnien ist die von ethnischen Größen und sektiererischen Gruppen wie im Falle der Shi'a im Irak. Es ist ebenso ungenau, die sunnialawitischen Konflikte in Syrien als bloß sektiererischer Art anzusehen, wie es falsch wäre, die Spannungen zwischen dem Sunni-Establishment des Irak (die Klientel von Takrit) und der -181-
Untergrund-Shi'a in einer ähnlichen Weise zu betrachten. Wie Batatu gezeigt hat, ist die Shi'a ruralen Ursprungs. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, «daß für lange Zeit in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts [des 20. Jahrhunderts] weite Teile des Landes die Heimat semitribaler Gruppen waren... Gleichzeitig ist es notwendig, sich daran zu erinnern, daß viele der ruralen Schi'iten einen relativ beduinischen Ursprung haben und die Beduinen nicht für die Kraft ihrer Religion bekannt waren... Ein anderer wichtiger Faktor, der betont werden muß, ist, daß nicht wenige der Stämme, denen die ruralen Schi'iten angehören, vor relativ kurzer Zeit zum Schi'ismus konvertiert waren. Die bedeutenden Stämme der Rabi'a, Zubayd und Bani Tamim wandten sich beispielsweise erst während der letzten ca. 180 Jahre dem Schi'ismus zu.»55 Darüber hinaus ist es das tribale Element, das diese Konversion zum Schi'ismus erklärt und nicht umgekehrt. Bei der Gründung vieler Nationalstaaten in der araboislamischen Welt war es möglich, einen gewissen Grad von Autonomie als ein Wesensmerkmal eines Stammes trotz des Wandels zu bewahren. Dies kann uns erklären helfen, warum Stämme in Opposition zum Staat als zentralem Machtmonopol stehen und warum sie es ablehnen, diesem untergeordnet zu sein. Wie Batatu ausführt, hat der «Schi'ismus eine regierungsfeindliche Stoßrichtung, die im Irak als schi'itischer Fundamentalismus artikuliert wird; seine Voreingenommenheit gegen Unterdrückung und seine Mystik, die HusaynsLeidenschaft widerspiegelt, harmonierten mit den Gefühlen und Leiden der zu Bauern gewordenen Stammesmitglieder und muß die Aufgabe der herumziehenden Schi'a-Muslims erleichtert haben»,56 die halfen, die Beduinen zum Schi'ismus zu bekehren. Dieser Befund spricht gegen die Reduktion shi'itischer Feindseligkeit gegenüber dem irakischen Staat auf sektiererische Spannungen zwischen Sunniten und Shi'iten. Denn sie beachtet nicht den Antagonismus zwischen Stämmen und Staat. In bezug -182-
auf den islamischen Fundamentalismus variiert dieses Verhältnis von Staat und Stämmen je nach vorgegebenem historischem Kontext. Der irakische Staat unter Saddam Hussein ist trotz des Rückgriffs auf die fundamentalistische Ideologie während des Golfkrieges ein Staat mit einer quasisäkularen Legitimität der Ba'th-Ideologie. Entsprechend richtet sich der schi'itische Fundamentalismus der Stämme (55 Prozent der irakischen Bevölkerung) gegen die stammesartige Klientel von Saddam Hussein aus Takrit. Im Sudan dagegen, wo die arabischsunnitischen Fundamentalisten der islamischen Nationalfront zeitweise ein Bündnis mit General al-Baschir eingingen, hat ihr Führer Hassan al-Turabi den Fundamentalismus zur Staatsideologie zwecks Unterdrückung ethnischer Minderheiten sowie anderer Stämme, wie z.B. des negroiden Dinka-Stamms im Süden Sudans, gemacht. Dieses Bündnis war jedoch nicht von Dauer. In der abschließenden Beurteilung müssen wir in der Lage sein, die Komplexität der Spaltungen in den nominell nationalen Bevölkerungen der heutigen Nationalstaaten im Nahen Osten im Sinne einer Verflechtung tribaler, ethnischer und sektiererischer Elemente zu erkennen. In dieser Hinsicht und in diesem Kontext erweist sich der Stamm - nicht als soziale Organisation, sondern vielmehr als Bezugspunkt von Identität und Gruppensolidarität als bedeutendstes Element der sogenannten Ethnopolitik; in dieser zeigt sich die gegenwärtige Krise des Nationalstaates im Nahen Osten im allgemeinen und seine Desintegration in einigen Extremfällen, wie Libanon und Sudan, im besonderen. Aus dieser Krise geht der islamische Fundamentalismus hervor. Dabei ist es wichtig, sich der Tatsache bewußt zu sein, daß es bis heute keine Alternative zum Nationalstaat gibt, da sämtliche Einheiten des internationalen Systems äußerlich in dieser Weise strukturiert sind und es auch sein müssen. Diese Krise, die nicht als völliger Zusammenbruch betrachtet werden sollte, bezieht sich auf die nominelle interne Souveränität der nahöstlichen -183-
Nationalstaaten. Der politische Islam mit seinem fundamentalistischen Universalismus ist ideologisch eine Alternative zum Nationalstaat, die - wie der Fall Algerien zeigt mobilisieren kann. Faktisch kann er aber keinen Weg zeigen, der aus der Krise führt. Es muß zunächst festgehalten werden, daß die Betrachtung jeglicher ethnischen Gemeinschaft als einer Spielart von Nation ebenso falsch ist wie die Identifikation von Stämmen mit Ethnien. Ethnische Gemeinschaften haben eine lange Geschichte, während die Entstehung von Nationen ein modernes Phänomen ist, das auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückdatiert werden kann. Folglich unterscheiden sich die auf Ethnizität bezogenen kollektiven kulturellen Einheiten und Empfindungen von jenen der Nation. Die Ethnien verschwanden auch nicht einfach mit der Entstehung der Nationen. Anthony Smith57 distanziert sich in seinen Studien von den Modernisten, die die völlige Neuheit der Nation behaupten, indem sie erklären, daß es einen radikalen Bruch zwischen vormodernen Gebilden und der modernen kollektiven Einheit der Nation gegeben habe. Smith distanziert sich in seinen Analysen auch von den «Primordialisten», die demgegenüber die Neuheit der Nation bestreiten, sie schlicht als eine auf den neuesten Stand gebrachte Version älterer kollektiver Einheiten betrachten und somit unterstellen, daß nationale Bindungen nicht neu, sondern vielmehr ein altes, immer schon bestehendes universelles Attribut der Menschheit sind. Im Gegensatz zu den Modernisten und den Primordialisten vertritt Smith die Ansicht, daß es zwischen den vornationalen ethnischen Bindungen und der neuen nationalen Form ein hohes Maß an Kontinuität gegeben hat. In ebendiesem Kontext betrachtet Smith das Konzept der «Ethnie» als einer ethnischen Gemeinschaft mit ihrem Symbolismus.58 In Hinblick auf unseren Gegenstand scheint Smith' Analyse insoweit hilfreich zu sein, als sie die historischen Bedingungen zeigt, unter denen die Verwandlung der Ethnien in -184-
Nationen stattfand. Für uns ist diese Untersuchung interessant, da sie uns helfen kann zu verstehen, warum im Nahen Osten ethnische Gruppierungen aus verschiedenen Stämmen, wie den Alawiten, den Drusen, den Berber oder den Kurden, nicht in Nationen umgeformt wurden, die auch andere ethnische/tribale Segmente einschließen. Anthony Smith erkennt den ethnischen Ursprung von Nationen an und hebt zugleich hervor, daß «wichtige Veränderungen innerhalb kollektiver Einheiten und Gefühle... im bereits bestehenden Rahmen kollektiver Loyalitäten und Identitäten stattgefunden haben, die den Wandel ebenso beeinflußt haben, wie der Rahmen seinerseits durch den Wandel beeinflußt wurde».59 Von dieser Schlußfolgerung leitet Smith die Notwendigkeit «eines Analysetyps (ab), der die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen modernen nationalen Einheiten und Empfindungen und den kollektiven kulturellen Einheiten und Empfindungen früherer Zeiten, die ich als Ethnie begreife, herausarbeiten kann».60 Nach Ansicht Smiths liegt der Kern der Ethnizität «in diesem Quartett von Mythen, Erinnerungen, Werten und Symbolen wie in charakteristischen Formen oder Stilen und Genres bestimmter historischer Konfigurationen der Bevölkerungen».61 Eine «Invention of Tradition» durch eine neue Interpretation von Mythen (z.B. der Mythos vom goldenen Zeitalter des Islam 622-661) spielt beim Aufstieg des Fundamentalismus, bei dem ethnische Eigenarten mit ideologisch-religiösem Universalismus einhergehen, eine wichtige Rolle. Dieses Konzept verspricht für die Bestimmung des Status der Stämme als subethnische Einheiten im Verlauf der Staatenbildung brauchbar zu sein. Esman und Rabmovich bezeichnen unter anderem gemeinsame Sprache und gemeinsame ethnische Abstammung als Hauptcharakteristika von Ethnizität, ohne zu berücksichtigen, daß die Stämme der Alawiten, Drusen und selbst die Klientel der Palästinenser, die sie als Ethnie qualifizieren, nicht nur Arabisch als eine gemeinsame Sprache teilen, sondern auch -185-
niemals behaupten würden, einen anderen ethnischen Ursprung als den arabischen zu haben. Aber auch ein engeres Konzept von Ethnizität, das auf die Unterscheidung zwischen Arabern und Nichtarabern beschränkt wäre, böte keinen Ausweg aus der von Esman und Rabmovich vorgezeichneten Sackgasse in dem Verständnis von Ethnizität. Keiner der Ansätze scheint für den hier verfolgten Versuch geeignet, die Untersuchung über Stämme und Staat in das Konzept der Ethnizität zu integrieren, um den Zusammenhang der Wechselwirkung von ethnischen Partikularitäten, vorhandener nomineller Nationalstaatlichkeit und universellen Ansprüchen des Fundamentahsmus zu verstehen. In bezug auf die vorliegende Untersuchung am besten geeignet scheint die Charakterisierung von Ethnien durch das bereits erwähnte Quartett von Mythen, Erinnerungen, Werten und Symbolen in ihren entsprechenden historischen Zusammenhängen. In diesem Sinne schließt Ethnizität auch arabische Stämme ein, die wir als subethnische Einheit definiert haben, da eine ethnische Gruppierung (wie zum Beispiel die Drusen oder die Alawiten) aus vielen Stämmen zusammengesetzt ist. Warum waren moderne europäische Industriegesellschaften in der Lage, verschiedenartige Ethnien zu einer Nation zu verschmelzen, während nahöstliche Gesellschaften dies nicht vermochten? Industrialisierung und Modernisierung waren in Europa sozusagen organische, gleichmäßige sowie einheimische Prozesse sozialen Wandels, die in der Lage waren, die verschiedenen ethnischen Ursprünge der Nation zu bewältigen. Im islamischen Nahen Osten wie in anderen Teilen der ehemals Dritten Welt wurden Modernisierungsprozesse durch rapiden sozialen Wandel beeinträchtigt; doch sie wurden von außen eingeleitet und setzten sich somit ungleichmäßig fort. Diese Prozesse «entwurzelten notwendigerweise Dörfer und gesamte Regionen, höhlten traditionelle Strukturen und Kulturen aus und -186-
stießen viele Menschen aus ihrer Umwelt in die durch Anonymität und Konflikte der modernen städtischen Zentren dominierte... Welt. Der urbane Schmelztiegel vermochte nicht, durch das Erziehungssystem die Neuankömmlinge in die dominante, des Lesens und Schreibens kundige Kultur zu integrieren.»62 Die sozialen Gruppen, die unter solchen historischen Bedingungen nicht integriert werden können, sind, um überleben zu können, auf die Aufrechterhaltung des Netzwerks ihrer vornationalen tribalen Loyalitäten und Bindungen angewiesen. Soziale Konflikte aufgrund knapper Ressourcen nehmen einen ethnischen oder einen in engerem Sinne tribalen Charakter an. Die aus Slums bestehenden Vorstädte von Khartoum und Casablanca bieten ein deutliches Beispiel für diese Aussage.63 In Fällen, in denen subethnische Stämme, wie der alawitische Matawirah-Stamm in Syrien, im Staat an die politische Macht gelangen, steigen die ehemaligen ‹Underdogs› zu ‹Topdogs› auf und instrumentalisieren ihre vornationalen Stammesbindungen zur Erhaltung der Macht und zur Verteilung von Ressourcen unter ihren Angehörigen. Ironischerweise dient die nationale Ideologie des Arabismus im stammesmäßigen Aufbau Syriens als legitimierende Formel. Auf den Arabismus der in Syrien herrschenden schi'itischen Alawiten antwortet die sunnitische Opposition der Großstädte Hama, Aleppo und Damaskus mit Fundamentalismus. In Irak ist es umgekehrt: Dort wird der Arabismus derselben Ba'th-Partei von einer sunnitischen Klientel aus Takrit gegen die Schi'iten gerichtet. Deshalb ist der islamische Fundamentalismus der irakischen Opposition schi'itisch, nicht, wie in Syrien, sunnitisch. Hier ist die Frage nach der Qualität des modernen Staates im Nahen Osten zu stellen. Warum gelang es dem institutionellen Transplantat des Nationalstaates nicht, im Nahen Osten Wurzeln zu schlagen und die benötigte nationale Gemeinschaft hervorzubringen? Warum besteht die stammesbezogene Identität -187-
trotz der Tatsache fort, daß der strukturelle Bezugsrahmen der sozialen Reproduktion tribalen Lebens nicht mehr gegeben ist? Eine nähere Diskussion des Nationalstaates - wie er sich in Europa entwickelte - und seiner Entstehungsbedingungen in den Gesellschaften des Nahen Ostens im Lichte der Globalisierung des europäischen Systems der Weltwirtschaft und der Institution des Nationalstaats könnte zu einigen annähernden und vorläufigen Antworten auf diese wichtigen Fragen beitragen. Die Ausführungen im folgenden Abschnitt sind kein Exkurs, sondern gehören zum Kern des Untersuchungsgegenstandes.
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5. Das internationale System der Nationalstaaten und sein nahöstliches Subsystem: Die Krise des Nationalstaates in der arabischen Welt als Kerngebiet der islamischen Zivilisation Unsere Untersuchung über die Gleichzeitigkeit traditioneller Stämme und moderner Nationalstaaten als einer historischen Spielart der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem grenzt sich in der Debatte über den Staat im islamischen Nahen Osten von zwei bereits bestehenden Ansätzen ab: einerseits vom Weltsystem-Ansatz, der regionale Bedingungen unberücksichtigt läßt, und andererseits vom deskriptiven und begrenzt regionalistischen Ansatz. Zunächst gehe ich davon aus, daß moderne Staaten Nationalstaaten sind, und behaupte, daß diese dem Nahen Osten neu sind und darüber hinaus aufgezwungen wurden. Ich folge mit dieser Argumentation also nicht dem allgemeinen und unspezifischen Konzept des Weltsystems, das unverzeihlicherweise lokale Faktoren und einheimische Entwicklungen ignoriert. Der Urheber dieses Konzepts, Wallerstein, vertritt die Ansicht, daß «Staaten... geschaffene Institutionen (sind), die die Bedürfnisse der in der Weltwirtschaft operierenden Klassen... im Rahmen eines zwischenstaatlichen Systems widerspiegeln... Die Ideologie dieses Systems ist souveräne Gleichheit, aber die Staaten sind tatsächlich weder souverän noch gleich.»64 Dies ist schlicht die Kombination eines extrem vereinfachenden ökonomischen Reduktionismus und eines Globalismus, der für eine Untersuchung des Wechselspiels zwischen Stämmen und Staaten unter den Bedingungen der «Weltzeit» als nutzlos zu erachten ist. -189-
Hier befasse ich mich mit Stämmen - wie in Abschnitt 3 definiert - als subethnischer und vornationaler Form einer gesellschaftlichen Gruppierung in ihrer Beziehung zum Staat, ohne jedoch den Blick für den umfassenden Kontext zu verlieren. Nahost-Forscher sollten den Versuch machen, die regional spezifischen Elemente des zu betrachtenden Phänomens zu berücksichtigen, ohne aber dabei den Nahen Osten als eine Welt für sich zu begreifen, sei es eine «arabische» oder eine «muslimische Welt». Wie bereits ausgeführt wurde, wird der Nahe Osten hier als ein regionales Subsystem verstanden, d. h. als ein Teil des größeren, weltumfassenden internationalen Systems der Nationalstaaten. Im gegenwärtigen, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bestehenden welthistorischen Kontext, der bereits weiter oben als «Weltzeit» (world time) qualifiziert wurde, sind wir aufgefordert, die Verwobenheit von lokalen und internationalen Bedingungsfaktoren von Entwicklung wahrzunehmen. Nur so sind die «Linkages» (Verbindungen) zu erklären und zugleich jene Prozesse zu analysieren, die sich aus der Wechselbeziehung dieser Faktoren ergeben. Um diesem Anspruch im Hinblick auf unseren Untersuchungsgegenstand gerecht zu werden, müssen wir auf eine Kritik jener frühen und stets wiederkehrenden Argumente zur Nation zurückgreifen, die bereits angesprochen wurden. Unseren Ausgangspunkt bildet die von den historischen Fakten gestützte Annahme, daß die Nation ein modernes Phänomen ist, das sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte. Gewiß gibt es Definitionen, die Nationen als kulturell homogene Gemeinschaften definieren und damit die Nation vom Staat trennen. Dies zwingt uns zu einer Unterscheidung zwischen kultureller Homogenität im allgemeinen, die einige Autoren als vermeintlich unveränderliche Charakteristika verstehen, und der spezifischen Form von Homogenität einer Bevölkerung, die auf den Nationalstaat bezogen ist. Mit anderen Worten: Nicht jede -190-
kulturell homogene Gruppe bildet eine Nation, und kulturelle Homogenität ist nicht immer national. Die Nation kann mit statischen Begriffen wie Sprache, Religion u. ä. nicht hinreichend definiert werden. Um dieses Argument zu konkretisieren, wenden wir uns nun dem islamischen Nahen Osten, der Geburtsstätte des weltweiten islamischen Fundamentalismus, zu. Trotz der Existenz unterschiedlich großer Bevölkerungsteile im arabischen Teil des Nahen Ostens, die von zahlreichen Autoren als «Minoritäten» bezeichnet werden, besteht ein Großteil der Bevölkerungen der zeitgenössischen arabischen Staaten aus muslimischen Arabern. Michael Hudson warnt jedoch zu Recht vor voreiligen Schlüssen, die aus dieser Beobachtung gezogen werden könnten. Es sei zwar zutreffend, «daß die arabische Welt in bezug auf nationale und religiöse Werte grundlegend homogen ist». Dennoch müsse «der Arabismus in einer politischen Kultur, die für die Effektivität und die weiterhin besondere Bedeutung primordialer Identifikationen bekannt ist, mit bestimmten anderen parochialen, aber intensiv wirksamen gemeinschaftlichen Identifikationen koexistieren und konkurrieren... Es ist zu einfach anzunehmen, daß die Modernisierung in der Region eine assimilationistische Schmelztiegel-Funktion ausübt.»65 Darüber hinaus ist der Arabismus im Sinne einer auf das Konzept des Nationalstaates bezogenen panarabischen Unifikationsideologie ein modernes Phänomen, das in den nahöstlichen Gesellschaften bisher nicht verwurzelt ist. «Primordiale» oder besser vornationale Identifikationen, wie die bereits angesprochenen tribalen Bindungen, sind noch immer effektiver in der Beeinflussung bestehender Identitäts- und Loyalitätsmuster als moderne nationale Bindungen. Ausgehend von der Tatsache, daß die kulturelle Affinität zwischen Arabern - selbst wenn man sie in einem statischen Sinne als kulturelle Homogenität akzeptiert - nicht mit der -191-
spezifisch nationalen Homogenität der Bevölkerung eines Nationalstaates gleichzusetzen ist, stellt sich die Frage nach der Qualität und historischen Bedeutung der zeitgenössischen arabischen Nationalstaaten und ihrer Bevölkerungen. Nationalstaaten werden häufig, auch in wissenschaftlichen Beiträgen, als Tatsache betrachtet. In der Folge verwechseln die entsprechenden Autoren den Staat im allgemeinen, den traditionellen Territorialstaat, den nach dem Westfälischen Frieden (1648) entstandenen souveränen Staat und den modernen Nationalstaat. Nur eine solche Begriffskonfusion kann dazu führen, jene Sichtweise abzulehnen, nach der der Nationalstaat entweder in der Theorie unmöglich ist oder in inhärentem Widerspruch zu islamischen Werten steht. Dagegen behaupte ich, daß der Nationalstaat eine moderne politische Struktur ist, die sich von früheren Formen staatlicher Gebilde deutlich unterscheidet. Wenn wir hinzufügen, daß diese Form des Staates zuerst in Europa entstanden ist und später der gesamten übrigen Welt aufgezwungen wurde, müssen wir dies belegen, indem wir den Nationalstaat konkret definieren und herausarbeiten, was diese neue Institution von früheren Formen des Staates unterscheidet. Ohne ein angemessenes Verständnis dieser komplexen Zusammenhänge kann man überhaupt nicht verstehen, was islamischer Fundamentalismus ist, geschweige denn seine Hintergründe erkennen. Um es noch einmal zu wiederholen: Der islamische Fundamentalismus ist eine Ausgeburt der Krise der dem islamischen Orient fremden Institution des Nationalstaates. Als autoritative Quelle über den anstehenden Gegenstand gilt die Arbeit von Anthony Giddens, in der er den historischen Kontext der Nation und der Grundmuster dieser neuen Institution untersucht hat; er hebt hervor: Ein Nationalstaat existiert nur..., wenn ein Staat eine einheitliche administrative Struktur in jenem Territorium besitzt, über welches er Souveränität beansprucht. Ein Nationalstaat... -192-
ist ein ‹bordered powercontainer›... Alle traditionellen Staaten haben das formalisierte Monopol über die Mittel der Gewaltanwendung innerhalb ihrer Territorien für sich beansprucht. Aber erst für den Nationalstaat ist charakteristisch, daß dieser Anspruch mehr oder weniger erfolgreich wird... Der Nationalstaat, der innerhalb eines Komplexes anderer Nationalstaaten existiert, ist ein Satz institutioneller Formen des Regierens, die das administrative Monopol über ein durch Grenzen bestimmtes Territorium aufrechterhalten, wobei die Herrschaft durch Recht und durch die direkte Kontrolle der Mittel interner und externer Gewaltausübung ausgeübt wird.66 Eine der grundlegenden Voraussetzungen für diese welthistorisch neue Institution ist eine in einem sehr spezifischen Sinne national homogene Bevölkerung. Homogenität bezieht sich hier nicht auf statisch kulturelle Eigenschaften, sondern auf die politische Kultur einer Gemeinschaft, deren Züge sich dynamisch verändern können. Der historische Vorläufer des Nationalstaates war der souveräne Staat, der sich als Folge des Westfälischen Friedens (1648) formierte. Zu keinem historischen Zeitpunkt wurde im Islam ein Konzept politischer Souveränität entwickelt. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß nach islamischem Glauben weder der einzelne Mensch noch eine politische Gruppe Souveränität besitzen kann; der einzige Souverän ist Gott. Die fundamentalistische Formel «Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft» leitet sich gerade aus dieser Doktrin ab. Für islamische Fundamentalisten stellt Volkssouveränität ein Ta'til dieser Herrschaft, d.h. eine Negierung der Attribute Gottes als Souverän über den Kosmos dar. In ideengeschichtlicher Perspektive war Jean Bodin der erste, der ein säkulares Konzept von Souveränität erarbeitete, bevor dieses seinen historischen Ausdruck in dem nach dem Westfälischen Frieden entstandenen Staatensystem fand. Nach der Französischen Revolution ging aus der dynastischen Souveränität die Idee der -193-
Volkssouveränität hervor; die bis dahin vorherrschenden souveränen Staaten entwickelten sich zu Nationalstaaten. Die souveränen Staaten Europas in der Periode nach dem Westfälischen Frieden waren dabei nicht nur die Vorläufer der modernen Nationalstaaten; sie bildeten zugleich den Kern des ersten internationalen Staatensystems der Weltgeschichte.67 Die historische Rekonstruktion der grundlegenden Bedeutung von Souveränität für die Entwicklung des Nationalstaates durch Anthony Giddens trägt zur Klärung der These bei, daß nationalhomogene Bevölkerungen für Nationalstaaten unerläßlich sind, wobei dies nicht mit einer statischen kulturellen Homogenität gleichzusetzen ist. Auf dieser spezifischen Bedeutung basiert mein Argument, daß die gegenwärtigen Nationalstaaten des Nahen Ostens durch einen Mangel an der notwendigen grundlegenden Infrastruktur gekennzeichnet sind. Wie Giddens zeigt, ist die Entwicklung staatlicher Souveränität zugleich Ausdruck und weiterer Stimulus einer neuen Form administrativer Ordnung, die sich mit der Formation des absolutistischen Staates bereits abzeichnete, im Nationalstaat aber ihren Höhepunkt erreichte. Ein Staat kann nur dann souverän sein,... wenn weite Teile der Bevölkerung dieses Staates eine Reihe von Konzepten bewältigt haben, die mit Souveränität verbunden sind... Die Entwicklung einer Vorstellung von Staatsbürgerschaft (citizenship)... ist eng damit verknüpft. In vielen Fällen verstand sich weder die Masse der Bevölkerung in traditionellen Staaten als Bürger dieses Staates, noch hatte dies besondere Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung der Macht in ihnen... Die Ausbreitung staatlicher Souveränität bedeutet, daß jene, die ihr unterstellt sind, sich in gewissem Sinne ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft bewußt sind.68 In den nominell souveränen Nationalstaaten des Nahen Ostens ist dies bis heute nicht der Fall. Um dieses Phänomen in seinem Kontext zu verstehen, muß hinzugefügt werden, daß ein solcher -194-
Wandel nicht ein bloßer Wandel in der politischen Kultur des Staatswesens sein kann. Es erfordert zugleich einen strukturellen Wandel dessen, was Giddens als «Wesen und Reichweite der im öffentlichen Bereich verfügbaren diskursiven Artikulation von Information» (ebd., S. 211) bezeichnet. Die Entwicklung gedruckter Medien und die Verbreitung der Fähigkeit des Lesens und Schreibens sind diesem Prozeß zuzuordnen. Die neuen Formen von Gruppen-Symbolismus, insbesondere der der Nation, sind strukturell eingebunden in die Erfordernisse der industriellen Gesellschaft, die «die Verbreitung gemeinsamer Formen des Denkens und Glaubens in der gesamten Bevölkerung verlangen. Nationalismus ist genau die Anbindung solcher Formen des Denkens und Glaubens an den Staat, der das Mittel zu ihrer Koordination bildet» (ebd., S. 214). Im Gegensatz dazu richtet sich der gescheiterte panarabische Nationalismus auf die Realisierung einer von außen eingeführten Utopie, nicht aber auf die bestehenden gesellschaftlichen Bedürfnisse. Daher rührt sein Scheitern, aus dem der islamische Fundamentalismus hervorgegangen ist. Wir können somit zusammenfassen: Souveränität und Nationalstaat sind nicht bloße Konzepte, sondern basieren auf entsprechenden strukturellen Realitäten, ohne die der Nationalstaat nur nominell existiert. Die Nationalstaaten der heutigen islamischen Zivilisation sind im Zusammenhang mit der Globalisierung des europäischen Staatensystems entstanden. Die Gleichzeitigkeit tradierter Stammeskulturen mit den Strukturen der von außen auf gezwungenen Nationalstaaten kann nur in diesem historischen Kontext angemessen verstanden werden. Mich hat es belustigt, einem deutschen Leitartikel während des Afghanistankrieges zu entnehmen, daß man hierzulande im Lichte der Wahrnehmung einer fragmentierenden Wirkung der Stämme den Wert des Nationalstaats durchaus schätzenlernt.
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6. Schlußfolgerungen Warum hat der moderne Staat im Nahen Osten «solche Schwierigkeiten, zu der Organisation in der Gesellschaft zu werden, die auf effektive Weise die Regeln und das Verhalten etabliert»?69 Joel Migdal, der das Problem auf diese Weise beschreibt, hat die Formel «starke Gesellschaften/schwache Staaten» geprägt. Die vorangegangene Untersuchung deutet dieses Phänomen als einen Dualismus von segmentären, fragmentierten Gesellschaften und künstlichen, aufgezwungenen Staaten. Warum aber sind die nahöstlichen Staaten schwach? Kann diese Schwäche mit allgemeinen Begriffen erklärt werden oder unter Hinweis auf das Modell des Nationalstaates? Und warum muß diese Erscheinung zum Aufstieg des islamischen Fundamentalismus führen? Im Unterschied zum früheren imperialen oder territorialdynastischen Staat, der der islamischen Zivilisation bekannt war, blieb das von außen aufgezwungene neue Muster des Nationalstaates eine fremde Institution. Das diesem Staat zugrundeliegende Konzept ist die Souveränität, die nicht nur die Fähigkeit der Zentralmacht voraussetzt, sich im gesamten Territorium zu etablieren; sie verlangt auch eine von allen akzeptierte Staatsbürgerschaft (citizenship) und die damit korrespondierende nationale Identität und Loyalität. In unterschiedlichem Maße mangelt es sämtlichen Staaten der islamischen Zivilisation an dieser für die Verwirklichung des Nationalstaates erforderlichen Struktur. Für den Nahen Osten läßt sich, mit Ausnahme jener Gebiete, die nicht unter osmanischer oder kolonialer Herrschaft standen, feststellen, daß die Staaten eine doppelte Bürde zu tragen haben: das osmanische und das koloniale Erbe. Beide erschweren den Prozeß der neuen Staatenbildung. Auch das Fehlen einer -196-
kulturellen Reform im Islam, die das Konzept der alleinigen Herrschaft Gottes über den Kosmos entpolitisiert, macht die Annahme des Nationalstaates für Muslime unmöglich. Das osmanische Vermächtnis liegt in der Existenz vornationaler Identitäten und Loyalitäten, die das Aufkommen des modernen Nationalstaates überlebt haben. Im Osmanischen Reich war die primäre Unterscheidung die zwischen Muslimen und Nichtmuslimen; diese wurden nach Konfessionen, sprich Religionszugehörigkeit (Millets), getrennt, dann wiederum in ethnische Gemeinschaften unterteilt. Wie der Osmanist Kemal Karpat formulierte, «hat die Etablierung der Religion als hauptsächliches Charakteristikum der Identifikation sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen den ethnischen Sinn nicht etwa zerstört, sondern vielmehr gestärkt».70 Das Osmanische Reich verweigerte als ein nicht zentralstaatlich aufgebauter imperialer Staat lokalen Gemeinschaften ihre Bindungen nicht und hatte daher keine Souveränität im oben beschriebenen Sinne. Erst unter äußerem Druck begann es, diese imperiale Struktur zu verändern. Es gelang ihm damit jedoch nicht, den Zerfall zu verhindern. Karpat ergänzt: «Während die osmanische Regierung ihre Legitimation aus dem Islam bezog und, soweit dies möglich war, islamische Rechtsprechung durchsetzte, identifizierte sie sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts politisch und ideologisch nicht mit der muslimischen Gemeinschaft» (ebd.). In diesem Sinne «umfaßte die muslimische Gemeinschaft eine Vielzahl von ethnischen und sprachlichen Gruppen... der frühe osmanische Staat erkannte diese ethnischen Unterteilungen an» (ebd.). Dies stimmt nicht ganz, weil das osmanische Reich als Millet nur Juden und Christen anerkannte, nicht aber alle ethnischen Gruppen, etwa die Drusen und die syrischen Alawiten, die in Stämmen organisiert und unterteilt waren. Das zweite Vermächtnis bezieht sich auf die koloniale Herrschaft, der der Nahe Osten vor und nach dem Zerfall des -197-
Osmanischen Reiches unterworfen war. Der europäische Kolonialismus brachte zwei miteinander im Widerstreit liegende soziopolitische Bewegungen hervor. Einerseits instrumentalisierten die kolonialen Herrscher bestehende tribalethnische und religiöse Spaltungen in der Gesellschaft im Rahmen ihrer Formel des «divide et impera». Die französische Kolonialmacht stützte sich z.B. in Marokko auf die Berberstämme und in Syrien auf die Stämme der Alawiten und Drusen, um mit Hilfe dieser Minoritäten die Errichtung ihrer kolonialen Herrschaft gegen die Mehrheit durchzusetzen. Andererseits jedoch war die Kolonialherrschaft ungewollt Auslöser antikolonialer Nationalbewegungen. Damit war sie, historisch betrachtet, gleichermaßen die Quelle zweier Kräfte: der vereinheitlichenden nationalen und der trennenden tribalen. Der Legitimationsrahmen der Dekolonisation war der Nationalismus und der aus dieser importierten Ideologie abgeleitete Anspruch, eine Nation zu sein und einen Nationalstaat zu bilden. Der alte Konflikt zwischen städtischer Bevölkerung und Stämmen erhielt unter der kolonialen Herrschaft eine neue Form. In Syrien, unter dem französischen Mandat, beispielsweise ist das Problem in die Begriffe Nationalismus und Separatismus zu fassen. Das Zentrum des Nationalismus war die Stadt, jenes des Separatismus die tribal geprägten ländlichen Gebiete. Der M.I.T.-Historiker Philip Khoury spricht in diesem Kontext von der «Geburt der Nationalbewegung innerhalb einer relativ geeinten und integrierten politischen Kultur»,71 die auf einer «festgefügten sunnitischen Oberklasse in vier Städten» (ebd.) basierte. In deutlichem Gegensatz dazu stand die von der französischen Kolonialmacht unterstützte Kultur der Drusen und Alawiten, d. h. eine politische Kultur, die «nach Stammes- oder Clanzugehörigkeiten gespalten war» (ebd.); Khoury interpretiert dies als «Separatismus». Eben aus diesem Grunde «förderten die Franzosen bestimmte Alawitenführer» (ebd.), um ein -198-
Gegenwicht zur Nationalbewegung herzustellen. Der nationale Block im Zentrum «verkörperte und artikulierte seine Überzeugungen und setzte seinen Code moralischen Verhaltens durch» (ebd.). In diesem Sinne konnte die Nationalbewegung zwar erfolgreich die nationale Unabhängigkeit erringen; es gelang ihr jedoch nicht, auf nationaler Ebene diese Überzeugungen und den urbanen Verhaltenscode in einen starken souveränen Staat umzusetzen. Wie bereits früher angesprochen, gelang es den Alawitenstämmen im nachkolonialen Syrien, die Macht im Staat zu übernehmen und eine eigene Herrschaft zu errichten, die auf der Schwäche des Staates basiert. «Schwacher Staat», dies ist hervorzuheben, wird hier nicht als Gegensatz zu «starker Staat» im Sinne von Zwangsausübung verstanden. Institutionell kann ein Staat nur dann zu einem «starken Staat» werden, wenn es ihm gelingt, seine Souveränität mit einem akzeptierten Muster von Staatsbürgerschaft (citizenship) auszustatten und in diesem Sinne zu jener Organisation zu werden, die Regeln und Verhalten etabliert. Ein Zwang ausübender alawitischer syrischer Staat, der auf der Basis von Patron-KlientBeziehungen strukturiert ist, kann trotz der fortdauernden, auf der Macht der Geheimdienste beruhenden politischen Stabilität nicht als «starker Staat» bezeichnet werden; er kann unter entsprechenden Bedingungen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Zu den Ergebnissen dieses Kapitels gehört die Erkenntnis, daß in den meisten Staaten des arabischen Nahen Ostens die Souveränität nur nominell existiert. Die tribalethnischen und sektiererischen Konflikte, die von den Kolonialmächten im Rahmen ihrer Taktik des «divide et impera» instrumentalisiert worden waren, wurden mit der Erlangung der Unabhängigkeit nicht beigelegt. Die Unfähigkeit der neu entstandenen Nationalstaaten, mit den durch rapide Entwicklungsprozesse ausgelösten sozialen und ökonomischen Problemen umzugehen, -199-
verlangt nach mediatisierenden Institutionen, die diese Staaten nicht bieten können. Unter diesen Bedingungen flüchten sich die Bevölkerungen in vornationale Bindungen, die sie im Rahmen ihrer Patron-Klient-Beziehungen suchen. Dabei kann der Patron über die Macht im Staate verfügen - wie im Falle der Alawiten in Syrien - oder ein ökonomisch aktiver Teil der Gesellschaft sein, wie im Falle der Berber in Casablanca oder der Dinka in Khartoum. Sowohl diese partikularen, ökonomischen Nutzen ziehenden Wir-Gruppen als auch idealisierte, über Partikularitäten hinausgehende Wir-Gruppen (Fundamentalisten) bilden «imaginäre Gemeinschaften».72 In Staaten der islamischen Zivilisation - wie anderswo im postkolonialen Asien und Afrika - nehmen die Konflikte äußerlich die Form eines Kampfes um die politische Macht an; in Wirklichkeit sind es Kämpfe um Ressourcen. Die Formel von der «Ethnisierung von Konflikten» hilft in diesem Kontext, die Wiederbelebung der Stämme in neuem Gewand als Hindernis im Prozeß der Staatsbildung im zeitgenössischen Nahen Osten zu verstehen. Da die gesellschaftlichen Ressourcen angesichts des Fehlens eines funktionierenden Wirtschaftssystems sehr knapp sind, bleibt der Staat der wichtigste Ressourcenanbieter. Dadurch erklärt sich auch die pestartig verbreitete Korruption in diesen Ländern, für die die Lage in Algerien nur ein Beispiel bietet. Der religiöse Fundamentalismus in den islamischen Ländern verspricht, daß der Gottesstaat als Allheilmittel all diese Übel beseitigen werde und für die Entwicklung des Landes und die Befriedigung der Grundbedürfnisse seiner Bewohner (Nahrung, Wohnung, Arbeitsplätze und Gesundheitspolitik) garantiere. Neben der sinnstiftenden Funktion politischer Religion erklärt auch diese Verheißung den «Appeal» des religiösen Fundamentalismus auf große Teile der Bevölkerung. Dort, wo Fundamentalisten jedoch während der Krise des Nationalstaats an die Macht gekommen sind und die Neubelebung des Islam mißbrauchten, haben sie keine -200-
brauchbare Alternative zu dem abgewirtschafteten Nationalstaat bieten können.73 Iran, Sudan und Afghanistan sind Beispiele für den Bankrott des islamistischen Modells. In diesem Zusammenhang ist der Zusammenbruch des Taliban-Staates von Interesse, weil dieser den eingangs erwähnten, bis in das 7. Jahrhundert zurückliegenden Widerspruch zwischen universellem Anspruch und der Realität des Stammespartikularismus aufs neue aktualisierte. Der islamistische Gottesstaat ist kein empfehlenswertes Modell für die Zukunft der islamischen Zivilisation. Hier liegt ein Konflikt mit der Moderne vor.74 Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bleibt diese Auseinandersetzung ungelöst, einerseits weil die Ideen der islamischen Reformer,75 wie die des verstorbenen Pakistani Fazlur Rahman (Chicago) oder des Algeriers Mohammed Arkoun (Paris), lediglich vom Exil aus wirken können, andererseits, weil der Konflikt bisher von keinem an der Wurzel angegangen worden ist.76
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V. VON DER FUNDAMENTALISTISCHEN HERAUSFORDERUNG DES SÄKULAREN NATIONALSTAATES ZUM IRREGULÄREN KRIEG DER ISLAMISTEN GEGEN DIE WESTLICHE ZIVILISATION: BIN LADEN UND DER 11. SEPTEMBER Der religiöse Fundamentalismus geht aus einem Prozeß hervor, bei dem eine Verlagerung von der religiöskulturellen auf die politische Ebene erfolgt, d. h., daß eine Religion politisiert wird. Religion dient hierbei als Ausgangspunkt einer weltanschaulichen Vorstellung von politischer Ordnung.1 Dies gilt allgemein und insbesondere für den Islam; der islamische Fundamentalismus verwandelt den entsprechenden Universalismus des islamischen Glaubens in einen politischen Internationalismus mit weltanschaulichen Ordnungsvorstellungen, der erfolgreich mit säkularen Ideologien wie etwa dem Kommunismus wetteifern, ja sogar ihren Platz einnehmen kann. Die al-Qaida von Bin Laden ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit der Komintern von Lenin und Stalin. Der Islamismus fordert also nicht nur den Nationalstaat heraus, sondern nimmt auch die bestehenden Strukturen des internationalen Systems ins Visier. Das ist nicht bei jedem religiösen Fundamentalismus der Fall, zum Beispiel weder beim politisierten Judentum noch beim politisierten Hinduismus.2 Jüdische Fundamentalisten träumen von Erez Israel und die Hindu-Fundamentalisten von einem Groß-Hindustan. Islamische Fundamentalisten hingegen streben eine islamische Weltordnung an. Hierdurch gewinnt der politisierte Islam eine internationale geopolitische Bedeutung.3 Auf seinen Fahnen -202-
steht die Ablösung der Pax Americana durch eine Pax Islamica; seit Sayyid Qutb (1906-1966), dem geistigen Vater des politischen Islam, war es das Ziel der Fundamentalisten, durch eine «islamische Weltrevolution»4 die Welt zu entwestlichen. Deshalb ist es schlicht falsch, die bestehende Spannung zwischen dem Islam und dem Westen5 auf einen ökonomischen Interessenskonflikt zu reduzieren6 und die weltanschauliche Dimension zu missachten.7
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1. Bin Laden, Bin-Ladismus und der neue Krieg Bin Laden hat die Idee einer islamischen Weltordnung nicht erfunden, wenngleich er doch der erste ist, der den Ruf von Qutb nach einer «islamischen Weltrevolution» in die politische Tat (u. September 2001) umgesetzt hat. Zuvor hatte er den USA mehrmals den Krieg erklärt.8 Die Tat war symbolisch, obwohl ihre Folgen allzu real sind: Neben den Tausenden von Todesopfern ist auch ein unermeßlicher Schaden für die westlich dominierte Weltwirtschaft entstanden. Die beiden Türme des World Trade Center in New York9 galten als Symbol des Westens im späten 20. Jahrhundert. Bereits im Februar 1993 hatten Anhänger Bin Ladens mit einem Sprengstoffanschlag versucht, dieses Symbol zum Einsturz zu bringen. Auch die damalige Tat forderte etwa einhundert Verletzte und verursachte beträchtlichen materiellen Schaden; aber offensichtlich ist diese Vorwarnung nicht angemessen verstanden worden.10 Fast ein Jahrzehnt später ist es gelungen, beide Türme vollständig zu zerstören und ca. 3000 Menschen unter den Trümmern zu begraben. Erst durch diese Tat ist die Welt aufgewacht.11 Für Bin Laden und seine in ca. 60 Ländern global vernetzte alQaida/die Basis als Internationale der Islamisten war dies ein Akt des Djihad. Ist dieser Rückgriff auf die islamische DjihadDoktrin religiösweltanschaulich legitim? Ist es zudem in diesem Zusammenhang gerechtfertigt, von Krieg zu sprechen? Bevor ich versuche, angemessene Antworten auf diese Fragen zu geben, will ich noch einmal auf die weltpolitische Orientierung des islamischen Fundamentalismus hinweisen und betonen, daß mir die vielen, von meiner Deutung abweichenden Ansichten über den 11. September bekannt sind. Es waren sehr viele Hobby-Kommentatoren am Werk, die ohne irgendwelche Kenntnisse über den islamischen Fundamentalismus und die -204-
globale Bin-Laden-Connection nach dem 11. September in den deutschen Medien zu Wort kamen und die Geschehnisse bewerteten. Ich werde mich mit diesen Ansichten auseinandersetzen, doch vorrangig bleibt die Deutung der Zusammenhänge des 11. September auf der Basis präziser Kenntnis des Geschehens und seiner Vollstrecker zu vermitteln. Jede Sachdeutung beginnt mit Fakten. In diesem Sinne möchte ich festhalten, daß sich seit dem Ende des Ost-WestKonfliktes der Charakter des Krieges verändert hat. Hierzu findet eine fachliche, aber nicht nur für Experten relevante Diskussion statt. Neben Kalevi Holsti und Martin van Creveld vertrete auch ich die These, daß der irreguläre Krieg den Platz des von Clausewitz näher beschriebenen zwischenstaatlichen Krieges einnimmt.12 Bei Konflikten dieses Typs werden die Auseinandersetzungen nicht mehr von organisierten Armeen, sondern fast ausschließlich von irregulären, also nichtstaatlichen Akteuren getragen. Der Terrorismus13 ist eine der Formen des irregulären Krieges. In diesem Zusammenhang erscheint auch die islamische Djihad-Tradition in neuem Licht. DjihadKämpfer können als irreguläre Krieger14 angesehen werden, was auch ihrem Selbstverständnis entspricht; ihre Gewalt richtet sich gegen Amerika.15 Besonders relevant an dieser Form des Krieges ist die Legitimation der Gewalt als solche im «Geiste Gottes». Mark Juergensmeyer hat diese religiös legitimierte Gewalt nicht nur im Islam, sondern auch im Judentum, der SikhReligion sowie im Christentum untersucht.16 Die Anschläge vom 11. September waren das bisher intensivste und zugleich erschreckendste Beispiel irregulärer Kriegsführung. Nach dem Ereignis gab es zwar kein Bekennerschreiben, aber alle Spuren führten zur Bin-LadenConnection. Auch ich habe diese Ansicht in vielen Interviews, die ich seinerzeit in Taschkent/Usbekistan gab, wo ich mich am 11. September befand, vertreten.17 Ohne die Identität der Täter preiszugeben, sprach Präsident George W Bush unmittelbar -205-
nach dem Anschlag den richtigen Satz aus: «They declared war on us/Sie haben uns den Krieg erklärt.» Manche Völkerrechtler beanstandeten dies, weil sie immer noch vom regulären Krieg der souveränen Staaten als Völkerrechtssubjekte ausgehen; für den Tatbestand des Krieges setzen sie das Vorhandensein einer völkerrechtlichen staatlichen Erklärung voraus. Solche Argumentationen helfen wenig und ähneln «byzantinischen Debatten». Damit ist folgendes gemeint: Während die Türken vor Konstantinopel standen, debattierten byzantinische Mönche so lange, bis die Stadt schließlich erobert und in Istanbul umbenannt wurde. In Damaskus habe ich den Begriff «byzantinische Debatten» als Ausdruck für unnützes Gerede gelernt. Also kurz: Eine formaljuristische Auslegung hat byzantinischen Charakter. Die Tat vom 11. September war meiner Ansicht nach ein Akt des Krieges, alles andere ist byzantinisches Gerede. Als Antwort auf Präsident Bush und die amerikanisch-britische Bombardierung der terroristischen Ausbildungslager in Afghanistan erklärte Bin Laden Amerika rhetorisch den Krieg, indem er am 7. Oktober 2001 formell zum Djihad aufrief. Zwar ist die Bin-Laden-Connection kein Staat, aber die Djihad-Rede vom 7. Oktober ist entgegen gültigen Völkerrechts als Kriegserklärung einzuordnen. Die Einblendung America at War der CNN-Berichterstattung entsprach der tatsächlichen weltpolitischen Lage. Ein irregulärer Krieg ist ausgebrochen, der bis heute anhält. Die einen nennen ihn Djihad, die anderen «Krieg gegen den Terrorismus». Dieser Akt irregulärer Kriegsführung galt nicht nur Amerika, sondern generell der westlichen Zivilisation. Ich stimme auch dem Inhalt der Rede von Wolfgang Thierse, die er in Harvard auf der Konferenz des European Studies Center hielt, zu; er bekundete seine Solidarität mit Amerika mit folgenden Worten: Wir hofften auf eine dauerhafte Epoche des Friedens. Unglücklicherweise haben ethnische und religiöse Kriege und -206-
vor allem Terrorakte diese Hoffnung zerschmettert... Am 11. September erfolgte ein Angriff auf das Herz unserer Zivilisation, gegen unsere geteilten Werte der Freiheit, des Friedens und der Demokratie.18 In meinem früheren Buch Krieg der Zivilisationen (vgl. Anm. 7) habe ich diesen als «weltanschaulichen Krieg» gedeutet, bei dem es - wie auch Thierse meint - um Wertekonflikte geht. Doch der 11. September hat uns gezeigt, daß diese Wertekonflikte auch militarisiert werden können. In diesem Zusammenhang erscheint es mir falsch, den Angriff als eine rein «kriminelle Tat» zu deuten. Er war ein Akt des irregulären Krieges, und Bin Laden wollte seine Handlung, wie er dies selbst am 7. Oktober 2001 in seiner Video-Rede sagte, als einen Krieg zwischen dem Islam und dem Westen, als «Harb dimiyya bi alasas/im wesentlichen Religionskrieg», verstanden wissen. Präsident Bush machte im September den Fehler, einen «Kreuzzug gegen den Terrorismus» anzukündigen. Dies griffen islamische Fundamentalisten auf und antworteten prompt mit dem Aufruf zum Djihad. Beide Begriffe, «Kreuzzug» und «Djihad»19, fassen die christlich-islamische Kriegsgeschichte zusammen. Doch im 21. Jahrhundert geht es darum, kriegerische Konfrontationen zwischen den Zivilisationen zu verhindern. Ich hatte die Ehre, einen Beitrag zu dem Buch von Roman Herzog Preventing the Clash of Civilizations20 zu schreiben, das den Untertitel A Peace Strategy for the 21th Century/Eine Friedensstrategie für das 21. Jahrhundert trägt. Diese Vision war nach dem n. September 2001 sehr gefährdet, aber Präsident Bush hat schließlich doch besonnen gehandelt und eine islamisch-westliche Allianz gegen den Terrorismus gebildet, zu der auf islamischer Seite vor allem die Türkei, Usbekistan und der Iran gehörten. Er unterstrich seine bedächtige Politik mit dem Satz: «Der Krieg gegen den Terrorismus ist kein Krieg gegen den Islam.» Zur Geschichte von «Kreuzzug und Djihad» gehören zwei -207-
Feindbilder: auf der einen Seite das vom Westen und auf der anderen Seite das vom Islam. Präsident George W. Bush trat der Instrumentalisierung des «Feindbildes Westen» entgegen, indem er islamische Länder in die Antiterror-Allianz mit einbezog.
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2. Die zivilisatorische Dimension des Konfliktes Im Dezember 2001 veröffentlichte die amerikanische Regierung zur Untermauerung des Vorwurfs, daß Bin Laden den Kriegsakt des 11. Septembers vorbereitet hatte, eine in Afghanistan während des Sturms auf al-Qaida-Höhlen in Tora Bora gefundene Video-Aufzeichnung. Für mich mit Arabisch als Muttersprache ist dieser Beweis bereits durch seine Aussagen im Video vom 7. Oktober erbracht. Damals schien es, daß Bin Laden eine sofortige Vergeltung durch die USA erwartete. Es muß sehr enttäuschend für ihn gewesen sein, daß sich Präsident George W Bush in Absprache mit seinen Beratern zunächst zurückhielt und besonnen reagierte. Bin Laden erklärte in dem oben erwähnten Videofilm dem Westen symbolisiert durch die USA - den Djihad. Der Gegenkrieg begann am 7. Oktober, woraufhin die angeführte Rede Bin Ladens von dem arabischen, in Katar ansässigen Fernsehsender al-Jazimh (alDjazira) ausgestrahlt wurde. Der Haß auf Amerika als Inbegriff des Westens ist in der Rhetorik Bin Ladens überwältigend und bedrückend zugleich. Er wollte diesen Krieg und hat ihn bereits 1998 erklärt, als er unter Hinweis auf den Sieg über die Sowjetunion Amerika als nächstes Kriegsziel angab. Er hat wie viele Experten - nicht damit gerechnet, daß die USA diesen Krieg in weniger als einem Vierteljahr gewinnen würden. Die Sowjetunion hatte dagegen zehn Jahre verlustreich gekämpft.21 Anscheinend haben die USA militärische Lehren aus der sowjetischen Niederlage gezogen. Ich möchte bei der Rede Bin Ladens vom 7. Oktober verweilen und ihre Wirkung auf mich nicht verschweigen; ich habe sie in meiner Muttersprache Arabisch gehört und bin mir nicht sicher, ob ihr Inhalt nicht auch auf mich gewirkt hätte, wenn ich nicht bei Adorno und Horkheimer europäische Philosophie studiert und nicht in -209-
Amerika meine geistige Heimat gefunden hätte. Beides schützt mich vor der Rhetorik Bin Ladens. Jedoch repräsentierten der religiöse Diskurs und der sprachliche Duktus der in einem höchst ausgefeilten Arabisch gehaltenen Rede Bin Ladens eine populäre Weltanschauung in der arabischen Welt. Bei nichtarabischen Muslimen wird durch das Zitieren aus dem Koran und Anführung der Überlieferung des Propheten (Hadith) Bewunderung geweckt. Während ich die Rede Bin Ladens direkt nach Beginn der US-Bombardierung Afghanistans am 7. Oktober 2001 sah, fühlte ich mich an den Bericht des USKorrespondenten der New York Times in Saudi Arabien, Neil MacFaquhat, erinnert. Unter dem Titel Bin Laden's Popularity schrieb er: Bin Ladens strenge fundamentalistische Sicht des Islam... genießt einige Sympathie innerhalb der Bevölkerung, die Ärger in bezug auf die USA empfindet... Osama Bin Laden wird als ‹das Gewissen des Islam› bezeichnet... Seine religiöse Weltsicht unterscheidet sich kaum von der jeder anderen Person in SaudiArabien.22 Diese religiöse Weltsicht, die durch Bin Laden politisiert wird, untermauert die These Samuel P. Huntingtons; ohne sein Buch zu kennen, versteht Bin Laden die Weltpolitik als Zusammenprall der Zivilisationen. Ich selbst habe ein Jahr vor Huntington mein Buch Krieg der Zivilisationen (vgl. Anm. 7) veröffentlicht, in dem ich den weltanschaulichen Konflikt zwischen einem zum politischen Islam, sprich Islamismus, stilisierten orthodoxen islamischen Glauben und der Weltsicht der kulturellen Moderne des Westens untersuche. Diesen Krieg der Zivilisationen nennt Bin Laden in seiner Video-Rede vom 7. Oktober einen «Krieg zwischen Iman/Glauben und Kufr/Unglauben». Und er fügt hinzu: Wer sich auf dem Pfad Gottes/Sabil Allah befinde, dem gehöre der Sieg auf Erden und das Paradies im Himmel. Diese Formeln sind keineswegs neu, denn sie stehen bereits in den Katechismen Sayyid Qutbs, des -210-
geistigen Vaters der fundamentalistischen Herausforderung im Islam. Das zentrale Pamphlet Qutbs heißt Ma'alim fi altariq/Wegzeichen. Es ist mir in den vergangenen 20 Jahren in allen Ecken der islamischen Welt in zahlreichen Sprachen begegnet. Sayyid Qutb (vgl. Anm. 4) ist der selbsternannte Prophet des politischen Islam, geistiger Vater des Antiamerikanismus und Begründer des zeitgenössischen «Feindbildes Westen» in der islamischen Zivilisation. Im Gegensatz zu seinem geistigen Sprößling Bin Laden war Sayyid Qutb von 1948 bis 1950 in den USA. Nach seiner Rückkehr war er bis zu seiner öffentlichen Hinrichtung 1966 einer der wichtigsten Aktivisten der Muslimbruderschaft in Ägypten, der ersten fundamentalistischen Bewegung im Islam.23 Der Einfluß Qutbs auf Bin Laden bzw. auf die Terrorpiloten vom 11. September in New York und Washington ist unverkennbar. Aus seiner Biographie24 wissen wir, daß Bin Laden schon als Student der Abdulaziz-Bin-Saud-Universität in Dschidda die Werke Sayyid Qutbs gelesen hat. Beherrschte Samuel P. Huntington Arabisch oder eine andere islamische Sprache, in die Sayyid Qutbs Werke übersetzt sind, könnte man ihn verdächtigen, seine These vom Clash of Civilizations25 den Schriften Qutbs entnommen zu haben. Aus meinen Harvard-Jahren und aus persönlicher Kooperation kenne ich Huntington und weiß, daß dies nicht der Fall ist. Der oben zitierte Ausspruch Bin Ladens aus seiner Djihad-Rede vom 7. Oktober ist praktisch ein Plagiat von Qutbs Äußerungen. In dessen Schrift Muschkilat alhadarah/Die Probleme der Zivilisation geht es um den zivilisatorischen Konflikt zwischen Gläubigen, d.h. Muslimen, und Ungläubigen, d. h. dem Rest der Welt. Und vor allem in der Schrift über den Islam und den Weltfrieden macht Qutb deutlich, daß zur Verwirklichung dieses Friedens ein Religionskrieg zwischen Iman/Glauben (sprich Islam) und Kufr/Unglauben (sprich Westen) stattfinden müsse.26 -211-
Bin Laden lebte - vermutlich bis auf einen Kurzbesuch in Albanien - im Gegensatz zu Qutb nie in einem westlichen Land. In seinen Schriften stellt Qutb seinen muslimischen Lesern die USA, wie sein ägyptischer Biograph schreibt, von innen «Amrika mina aldakhil/Amerika von innen»27 vor. In der Anonymität und Verlorenheit/al-Diya' von New York sieht Qutb Zeichen des Verfalls des Westens und erkennt die vermeintliche Mission des Islam. Diese besteht darin, die Welt von der Vorherrschaft des Westens durch eine Revolution zu befreien, die die westliche durch eine islamische Weltordnung ersetzen soll.28 Qutb erlebte Amerika und den Westen in New York, und sein Haß fokussierte sich deshalb auf diese Stadt. Durch seine Schriften hat er diesen Haß auf andere Muslime übertragen. Dieselben Worte über dasselbe Objekt begegnen uns in den Video-Reden Bin Ladens. In seinen Trainingslagern in Afghanistan (zuvor im Sudan, in Somalia und im Jemen) wurden junge arabische Islamisten nicht nur im irregulären Krieg als Djihad-Soldaten ausgebildet, sondern auch mit Hilfe der Schriften Sayyid Qutbs einer Gehirnwäsche unterzogen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß der ägyptische Terrorpilot Mohammed Atta beim Steuern der Todesmaschine auf das New Yorker World Trade Center die in New York entstandene Formel Qutbs: «Es ist ein Krieg zwischen lman /Glauben und Kufr/Unglauben»29 im Kopf hatte. Auch diese Worte verwendete Bin Laden in seiner Djihad-Rede vom 7. Oktober. In diesem «Feindbild Westen» kommt die zivilisatorische Dimension des Konfliktes (vgl. Anm. 7) zum Ausdruck. Bin Laden ist ein Multimillionär, aber als Jemenite gilt er in Saudi-Arabien als ein «Underdog». Türken in Deutschland sind als «Gastarbeiter» trotz aller Diskriminierungen im Vergleich zu den jemenitischen Gastarbeitern Saudi-Arabiens hoch angesehen. Der Vater Bin Ladens kam im Jahr 1930 als Gepäckträger/Halmal aus dem jemenitischen Hadramut nach Dschidda. Im Baugeschäft arbeitete er sich hoch, wurde zum -212-
Millionär und leistete sich, islamisch durchaus legal, viele Frauen. Osama ist der Sohn von Mohammed Bin Ladens zehnter Frau. 1957 geboren, war er das 43. Kind seines Vaters. An seinem Geburtsort Dschidda studierte er und las während seiner Lehrjahre die Schriften Sayyid Qutbs, die ihn stark beeinflußten und sein Weltbild, also auch das Feindbild vom Westen, noch heute prägen. Die Inspiration zur Gründung von al-Qaida, aus der später die Internationale der Islamisten hervorging,30 erhielt er aus dieser Lektüre. Im Westen sollte man daraus lernen und darauf achten, daß Sayyid Qutbs Gedankengut keinen Eingang in den hiesigen Islam-Unterricht findet. Im Lichte der Lektüre von Sayyid Qutb und der Verinnerlichung des von ihm gepredigten «Feindbild Westen» können wir die Lebensetappen Bin Ladens vom saudischen Dschidda in die Berge Afghanistans nachvollziehen, in denen der Bauunternehmer zum Anstifter des irregulären DjihadKrieges wurde. In ihrer Organisationsstruktur und in ihrem Anspruch auf elitäre Führung ist die in Afghanistan gegründete al-Qaida mit ihrer Logistik in ca. 60 Ländern, zu denen auch die Schweiz und Deutschland gehören, vergleichbar mit der LeninPartei vor 1918, ja sogar - wie bereits getan - mit der Komintern. Was bei Lenin das Proletariat war, sind bei Bin Laden die Gläubigen des Islam. Und doch trifft dieser Vergleich nicht uneingeschränkt zu, weil Lenin sich auf keine Vorgeschichte berufen konnte. Dagegen kann sich Bin Laden auf die islamische Djihad-Geschichte stützen, die im 7. Jahrhundert begann und sogar in einem Welteroberungsprojekt gipfelte.31 Die «Kreuzzüge und der Westen», so glaubte Sayyid Qutb und nun auch Bin Laden als sein Nachfolger, hätten den Islam an der Erfüllung seiner Mission behindert, nämlich die Welt in ein Dar al-Islam und somit in ein Dar al-salam/Haus des Friedens zu verwandeln. Wer diese Geschichte nicht kennt, der kann die hier im Mittelpunkt stehende zivilisatorische Dimension des Konfliktes nicht verstehen. -213-
Der britische Historiker Eric Hobsbawm prägte den Begriff der «invention of tradition/Erfindung von Tradition», um den Verweis auf die Geschichte für eine selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit und die Konstruktion von Identitäten aufzuzeigen.32 Die uns bekannten Selbst- und Fremdbilder der Muslime im Zeitalter der Globalisierung sind eine geeignete Illustration für diese «invention of tradition»; sie gipfeln im «Feindbild Westen», das - wie in New York geschehen - zur irregulären Kriegsform des Neo-Djihad führen kann. In meinem Buch Kreuzzug und Djihad (vgl. Anm. 19) habe ich die islamisch-christliche Geschichte vom 7. bis zum 20. Jahrhundert in acht Epochen unterteilt; die erste (7./8. Jahrhundert) und die vierte (mit Beginn der osmanischen Eroberungen im 15. Jahrhundert) nenne ich die Epochen des Djihad. Dazwischen liegen die Kreuzzüge des 11./13. Jahrhunderts. Die Expansion des Westens beendete bereits im 17. Jahrhundert den klassischen Djihad vor Wien. Der Neo-Djihad des späten 20. Jahrhunderts ist die islamische Antwort auf die westliche Globalisierung. Als irregulärer Krieg des Terrorismus weicht er erheblich vom klassischen Djihad ab, stellt aber in seinen selektiven historischen Bezügen eine «invention of tradition» im Sinne Hobsbawms dar. Die Terroristen des 11. September waren arabische Islamisten und gehörten der Bin-Laden-Connection an. Sie haben ihr Leben dafür gegeben, der westlichen Zivilisation, die den islamischen Djihad beendete, symbolisch den Krieg zu erklären. Ihre Taten in New York und Washington verstanden sie als Neo-Djihad, womit sie sich - wie auch Bin Laden - in den Kontext von Djihad und Kreuzzug einordneten. Beeinflußt von Sayyid Qutb und dessen «Feindbild Westen», empfinden einige Muslime einen derart tiefen Haß gegenüber dem Westen, daß sie zu einer solchen Grausamkeit fähig sind, die sie zudem ihr eigenes Leben kostet. Es ist einfach falsch, diese barbarische Tat als eine Bin-Laden-Angelegenheit zu personifizieren oder gar die -214-
Handlungen der Täter zu psychologisieren. Wir dürfen den globalen Terrorismus nicht herunterspielen, indem wir mit der Warnung vor dem «Feindbild Islam» solche politischen Aktionen als Wahnsinn einzelner Individuen falsch deuten; sie sind ein Produkt des «Feindbildes Westen» und erfüllen den historischzivilisatorischen Auftrag von Sayyid Qutb. Natürlich weiß ich, daß es im Westen ein «Feindbild Islam» gibt, welches ebenfalls historische Wurzeln hat33 und gegen das ich entschieden eintrete. Ich wehre mich jedoch gegen die islamischen Fundamentalisten, die ihre Kritiker mit dem «Feindbild Islam»-Vorwurf brandmarken. Wie bereits erwähnt, habe ich die Attentate in New York und Washington in einem islamischen Land verfolgt, das wegen seiner kommunistischen Vergangenheit und der Dominanz des lockeren Sufi- (mystischer) Islam - im Gegensatz zum Schari'aIslam - sehr untypisch für die islamische Zivilisation ist. Im zentralasiatischen Taschkent empörten sich offene und reformfreudige Muslime mit mir über die Kriegshandlung der Islamisten, die sich gegen die westliche Zivilisation im allgemeinen richtete und als Verbrechen an der zivilen USBevölkerung Gestalt annahm. In den benachbarten Ländern Pakistan und Afghanistan herrschte bei Teilen der Bevölkerung dagegen Freude darüber, daß Muslime dem Westen eine solche Demütigung zufügen konnten. Bin Laden wurde von diesen, wie auch von vielen Muslimen in Ägypten und Palästina, als «unser Held» gefeiert. Leider war diese Freude selbst in Teilen der deutschen Islam-Diaspora festzustellen. Wir dürfen dies nicht aus Angst vor dem «Feindbild Islam» verschweigen und so die Realitäten verschleiern. In der islamischen Welt herrscht ein Bild vom Westen als einer Größe vor, die die islamische Zivilisation an ihrem Djihad-Welteroberungsprojekt gehindert hat. Ich habe auf die Geschichte der christlich-islamischen Beziehungen hingewiesen, zu der gehört, daß die Muslime im 7. Jahrhundert das erste -215-
Welteroberungsprojekt verfolgt haben. Durch den Aufstieg des Westens (1500-1800) im Rahmen der «militärischen Revolution»34 und parallel zum Prozeß der Industrialisierung wurden die Muslime jedoch daran gehindert, ihre Eroberungen fortzuführen. In der historischen Wahrnehmung der Muslime wird dieser Prozeß auf die Zeit der Kreuzzüge zurückdatiert, so daß jede Handlung des Westens in diesen Rahmen eingeordnet wird. Das entspricht auch dem Geschichtsverständnis der Islamisten. Bin Laden ist deshalb nicht der erste Muslim, der die Welt des Islam von den «Kreuzzüglern» befreien will, auch orthodoxe Muslime argumentieren mit dieser Logik und übrigens falschen Geschichtskenntnissen, gemäß denen der Unterschied zwischen dem Abendland und dem Westen als Zivilisation35 nicht existiert. Auch Präsident Bush weiß offenbar nicht um diese historischen Zusammenhänge, weshalb er von seinem Plan einer Gegenoffensive als crusade/Kreuzzug sprach. Obwohl er sich schnell belehren ließ und mit der Friedensfahne in die große Washingtoner Moschee ging und aus Respekt die Schuhe vor dem Betreten auszog, bleibt im islamischen Kollektivgedächtnis nur der Rückgriff auf den Kreuzzug bestehen. Diesen Abschnitt zusammenfassend, stelle ich fest, daß der Haß auf den Westen als Zivilisation der Kreuzzügler das islamische Weltbild bis heute prägt; er bildet den Hintergrund für die Tat, die am 11. September die Welt erschütterte. Terroristen haben Symbole der Identität Amerikas im Rahmen eines Gewaltaktes gegen die westliche Zivilisation vernichtet und dabei einen Mord an etwa 4000 unschuldigen Menschen verübt. Solidarität vermischt sich mit Empörung und zugleich mit der nüchternen Frage: «Wie soll man reagieren?» Westliche Politiker sind sehr gut beraten, wenn sie in ihrem berechtigten Kampf gegen den Terrorismus deutlich machen, daß es um die Bin-Laden-Connection geht, nicht um den Islam. Eine für viele Jahre zu bewahrende islamisch-westliche Front gegen den -216-
Terrorismus ist gefragt und viel effektiver: Sie ist aber nicht populär, weil etliche Muslime, die ihr Dar al-Islam, in dessen Mittelpunkt die arabische Welt steht, als Opfer des «amerikanischen Zeitalters»36 sehen. Wir müssen trotz aller Relativierungen den Zivilisationskonflikt als eine Dimension erkennen und seine Analyse zulassen. Wissenschaftler und Journalisten, die der Wahrheit verbunden sind, müssen als Aufklärer wirken, denn sie unterstehen nicht den diplomatischen Zwängen der Politiker. Der Sache wird jedoch ein Bärendienst erwiesen, wenn bestimmte europäische Intellektuelle und Gesinnungsethiker zusammenhangslos an Kreuzzüge, Kolonialismus und deutschen Judenmord erinnern, um ebenso unvermittelt zu einer Schlußfolgerung zu gelangen, bei der sie einem Vorurteil aufsitzen. Ihrer Ansicht nach hätten weder Amerikaner noch Europäer das Recht, die Gewalt der anderen anzuprangern. Auf diese Weise werde der Terrorismus weiter aufgeputscht, zum «Feindbild Islam» beigetragen und in der Konsequenz die restliche Welt gegen den Westen aufgebracht. Diese Europäer bemerken nicht, daß sie Islam mit Islamismus verwechseln und sich hierbei als Handlanger der Islamisten im Propagandakrieg mißbrauchen lassen. Ich wiederhole es, weil es notwendig erscheint: Islamisten instrumentalisieren die Warnung vor dem «Feindbild Islam» mit dem Ziel, ihre Aktivitäten unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit zu legitimieren. Mit der Novellierung des Vereinsrechtes wird dies in Deutschland nicht mehr möglich sein. Das Verbot des «Kalifatstaates» ist nur der Anfang und hat mit einem «Feindbild Islam» nichts zu tun.37 Sowohl das «Feindbild Islam» als auch das «Feindbild Westen» sind historisch begründet, und wir müssen über ihre Ursprünge als zivilisatorische Dimension des Konfliktes aufklären.
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3. Dialog, Kulturpluralismus und die Unordnung der Welt In der deutschen Debatte über «New York am 11. September» wird zwar eine bessere Beziehung der Zivilisationen zueinander gewünscht, jedoch ohne zu erkennen, daß auf die jeweiligen Feindbilder verzichtet werden muß. Europäische Gesinnungsethiker besonders die deutschen - warnen allein vor der Gefahr eines «Feindbildes Islam». Die Kriegserklärung an die westliche Zivilisation war jedoch keine Tat verrückter Islamisten, sondern bringt ein mit Haß erfülltes Bild vom Westen zum Ausdruck. Wir leben in einer ungeordneten Welt, in der wir nach Frieden im Rahmen eines Dialoges zwischen den Zivilisationen streben. Dies können wir weder auf dem Boden von Selbstbezichtigung der einen noch von Schuldzuweisung der anderen Seite erreichen. Bei dem bisher dominierenden Muster des christlichislamischen Dialoges übernehmen Europäer im Namen der Toleranz sowie der christlichen Nächstenliebe die Verantwortung und erdulden die Beschuldigungen von Islamisten. Der Spiegel hat dies richtig als den «verlogenen Dialog» bezeichnet.38 Es ist wichtig, daß deutsche Christen wissen, daß Muslime keinen Respekt vor Menschen haben, die ihre zivilisatorische Identität verleugnen. Die tragischen Ereignisse vom 11. September sollten Anregung zu einem anderen Dialogmuster sein, bei dem beide Seiten über Probleme, Selbst- und Fremdbilder, Selbstbezichtigung und Schuldzuweisung sprechen. Nicht nur Europäer, auch Muslime müssen sich verändern und aufhören, sich in der Rolle des Opfers selbst zu gefallen, woraus Aggressivität dem anderen gegenüber entsteht. Ich weiß, daß es nicht Thema dieses Kapitels ist, die Internationalisierung der fundamentalistischen Herausforderung -218-
zu erklären; doch muß ich darauf eingehen, wenn ich die Rolle Bin Ladens im Zivilisationskonflikt aufzeige und die militarisierte Form des Djihad-Terrorismus als gefährliche Artikulation dieses Konfliktes anspreche. Wir haben bisher Qutb als geistigen Vater von Bin Laden kennengelernt. Qutb verlangte vom Westen den Verzicht auf dessen Universalismus, ohne dies jedoch in gleicher Weise für die Muslime und ihre Zivilisation zu fordern. Im Zeitalter der Globalisierung müssen die Menschen miteinander in Frieden leben. Die Pax Islamica des Bin Laden ist nicht die Alternative zur globalisierten McWorld der Pax Americana. Die Alternative kann nur heißen: religiöser und kultureller Pluralismus. Der islamische Fundamentalismus jedoch strebt die Vorherrschaft des Islam an. Im Dialog mit Christen verschweigen Islamisten dieses Ziel, und die Europäer verbieten es sich im Rahmen der Political Correctness, darüber zu reden. Als Fachmann für Internationale Politik weiß ich, daß der islamische Fundamentalismus in absehbarer Zeit die von ihm angestrebte Weltordnung nicht verwirklichen kann. In einem zunächst in den USA veröffentlichten Buch, das aus meiner Arbeit am Fundamentalism Project der American Academy of Arts and Sciences hervorging, habe ich 1998 die These vertreten, daß der politische Islam jedoch destabilisierend wirken und eine neue Weltordnung39 schaffen kann. Ich will diese These im Lichte des 11. September hier erneut aufnehmen und neu durchdenken. Der «verlogene Dialog», der nur an der Oberfläche dem kulturellen und religiösen Pluralismus Tribut zollt, darf diese Unordnungsfunktion des politischen Islam nicht länger vertuschen. Einleitend erinnere ich an meine Deutung der gegenwärtigen politischen Lage nach dem 11. September als eine Spannung in einem Zivilisationskonflikt. Wir müssen uns deshalb davor hüten, in diesem Geschehen ein normales tagespolitisches Ereignis zu sehen. Ich schreibe diese Zeilen im Dezember und -219-
habe das Gefühl, daß die Menschen bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Sie übersehen hierbei, daß es im Kern um die Ordnung der Welt geht.40 Ich habe bereits die historische Rivalität zwischen Christen und Muslimen, die die klassische Form von Kreuzzug und Djihad annahm (vgl. Anm. 19), beschrieben. Nach dem Aufstieg des Westens mit seiner auf moderner Wissenschaft und Technologie basierenden militärischen Überlegenheit war die neue Zivilisation in der Lage, die Welt zu erobern und ihr als Struktur eine westlich geprägte Ordnung zu geben. Diese ist so umfassend bzw. global ausgerichtet, daß sogar das Territorium der als Dar alIslam/Haus des Islam definierten islamischen Zivilisation in sie eingefügt wurde.41 Dementsprechend existiert in unserer modernen Welt keine «Welt des Islam» für sich mehr, sondern nur 57 Staaten mit islamischer Bevölkerung, die nominell als Nationalstaaten gelten und zum westlich geprägten internationalen System gehören (vgl. Kapitel IV). Diese Staaten sind allesamt den Regeln und Normen der modernen, nach westlichen Maßstäben gestalteten Weltordnung untergeordnet. Die Übertragung der Ordnung des Westfälischen Friedens auf den Rest der Welt - einschließlich der Welt des Islam - wird von vielen Muslimen als Verwestlichung42 bezeichnet. Die Entkolonisierung, aus der die modernen, nach westlichen Prinzipien organisierten neuen Staaten Afrikas und Asiens hervorgegangen sind, ist sozusagen als «List der Vernunft» ein Element dieser Verwestlichung. Beim Widerstand gegen die europäische Kolonialherrschaft ging es um Freiheit und Unabhängigkeit, nicht aber um die Ablehnung der westlichen Zivilisation und ihrer Werte. Ganz im Gegenteil: Afrikanische und asiatische Freiheitskämpfer griffen auf westliche Werte wie etwa die Volkssouveränität - zurück, um ihren Kampf für die Unabhängigkeit zu begründen. Der islamische Fundamentalismus ist nicht mit den damaligen Dritte-Welt-Ideologien vergleichbar, denn die Konfliktlinien in -220-
der Welt des Islam verlaufen seit der Entstehung eines politischen Islam ganz anders.43 Der Terrorismus44 allgemein sowie der Terrorismus Bin Ladens45 gehören in diese Kategorie. Nicht um Befreiung geht es bei dem neuen weltanschaulichen «Krieg der Zivilisationen» (vgl. Anm. 7), sondern um den Anspruch auf eine Entwestlichung der Welt mit dem Ziel einer «islamischen Weltrevolution». Dies führt zu einer neuen Weltunordnung. Wie ich bereits argumentiert habe, war Samuel P. Huntington nicht der erste, der von einem Clash of Civilizations/Zusammenprall der Zivilisationen gesprochen hat. Schon Sayyid Qutb unterstellte eine Feindschaft zwischen dem Islam und dem Westen und prägte die Formel «islamische Weltrevolution».46 Bin Laden und gleichermaßen die Mitglieder seiner al-Qaida sowie seine Mitläufer führen diese Tradition der Ablehnung eines Dialoges mit dem «kreuzzüglerischen Westen/al-Gharb al-salibi», der den «internationalen Unglauben» verkörpert, fort; sie streben die Entwestlichung der Welt mittels der als Djihad zu führenden «islamischen Weltrevolution» an. Die Vorherrschaft des Islam als neue Weltordnung ersetzt «alSalibyya al-alamiyya/das Weltkreuzzüglertum». Der Djihad nimmt in diesem Kontext die Form des irregulären Krieges an. Der Neo-Djihad der Islamisten47 ist nicht mehr eine Anstrengung im Sinne des Koran, sondern Terrorismus gegen den Westen. In diesem Weltbild ist weder Platz für Dialog noch für irgendwelchen Pluralismus. Es ist schlichter Wahnsinn, wenn die Islamisten glauben, die Weltmacht USA in die Knie zwingen zu können, nachdem sie die Weltmacht Sowjetunion im Afghanistan-Krieg 1979-1989 erfolgreich besiegt haben. Bin Laden glaubte noch bis zu seiner Flucht aus Afghanistan an diese Vision. Dennoch geben die Islamisten auch nach der Niederlage in Afghanistan ihre Ziele nicht auf, sondern sind auch jetzt noch davon überzeugt, daß sie -221-
im 21. Jahrhundert eine neue islamische Weltordnung begründen werden. Es bleibt jedoch nach dem 11. September festzuhalten, daß Islamisten - wie etwa Bin Laden - nur eine destabilisierende Wirkung haben können, aus der eine neue Weltunordnung resultiert. Jenen Westlern mit respektablem Hang zur Weltgerechtigkeit besonders den deutschen Gutmenschen unter ihnen - ist nur schwer die Information zu vermitteln, daß es sich bei der islamistischen «Revolte gegen den Westen»48 nicht um einen Aufstand der «Armen gegen die Reichen» handelt. Vielmehr geht es um den Zusammenprall zweier völlig unterschiedlich begründeter Vorstellungen von einer Weltordnung für unser Zeitalter. Auch der Islam-Experte John Kelsay spricht die Frage nach dem Wetteifern darüber an, wer unserer Welt seine Ordnung geben wird. Er schreibt: In den Begegnungen zwischen dem Westen und dem Islam wird darum gekämpft, wer die Definition einer Weltordnung durchzusetzen imstande sein wird. Wird es der Westen sein, mit seinen Vorstellungen von territorialen Grenzen, Marktwirtschaft, privater Religiosität und der Priorität von individuellen Rechten? Oder wird es der Islam sein, mit seiner Betonung einer stammesübergreifenden Gemeinschaft (Umma), die dazu aufgerufen ist, eine auf einem reinen Monotheismus - welcher der Menschheit natürlicherweise angemessen sei - basierende Sozialordnung zu errichten? Für diejenigen, die eine Weltordnung begründen wollen, stellt sich damit die Frage: Wer bestimmt die Form, die eine solche Ordnung im neuen internationalen Kontext annehmen soll? Genau diese Frage verweist auf eine Konkurrenz zwischen zwei Zivilisationen mit einem jeweils eigenen Verständnis von den Konzepten Frieden, Ordnung und Gerechtigkeit. Sie legt daher eine pessimistische Sichtweise nahe, wenn es um den Ruf -222-
nach einer auf der Idee einer gemeinsamen Humanität basierenden, neuen Weltordnung geht.49 Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1993, in dem Bin Laden weltpolitisch noch nicht in Erscheinung getreten war. Auch daran sehen wir, daß das von Bin Laden verfolgte Ziel einer Pax Islamica anstelle der Pax Americana nicht seine Erfindung ist. Beim Abfassen dieses Textes am Ende der Afghanistan-Krise, nach dem Sieg über die Taliban, ist klar, daß die von Kelsay gestellten Fragen weiterhin bestehen und uns auch in Zukunft begleiten werden. Mein Argument lautet: Islamisten können ihr Ziel nicht erreichen, aber sie können die bestehende Ordnung in eine Weltunordnung verwandeln.50 Der weltanschauliche Anspruch der Islamisten auf eine neue, vom Islam geprägte Ordnung der Welt hat am 11. September 2001 die Form eines irregulären Krieges angenommen. Die USA waren Opfer dieser Kriegserklärung. Sie reagierten, indem ihre Streitkräfte Afghanistan mit dem Ziel bombardierten, die Taliban zu vertreiben und Osama Bin Laden zu fassen. Die Taliban sind zwar besiegt, aber den Terrorismus in seinem Nerv zu treffen ist den USA nicht gelungen. Genausowenig haben sie den Fundamentalismus besiegt. Nun ist Afghanistan ein extrem rückständiges Land mit einer unterentwickelten Infrastruktur. Bereits in den ersten fünf Tagen des Krieges wurde diese weitestgehend zerstört. Dann begann das Taliban-Regime zu zerbrechen.51 Beim Krieg gegen den Terrorismus handelt es sich um einen neuen Kriegstyp, der von irregulären Kriegern auf der Gegenseite getragen wird; er wird in Palästina, Kaschmir, Tschetschenien und anderswo geführt. Mit der Luftwaffe und herkömmlichen Armeen kann er nicht beendet werden. In Afghanistan war es möglich, nach der erfolgreichen umfassenden Bombardierung von Oktober bis Dezember 2001 und dem Sturz des Taliban-Regimes von einer konventionellen Kriegsführung in den Bergen des Landes abzusehen. Nur nach dem Fall Kabuls am 13. Oktober wurden -223-
kleine amerikanische Spezialeinheiten mit Hubschraubern abgesetzt, die kurzfristig einen Auftrag erfüllten und dann auf dem Luftweg abgezogen wurden. Dennoch bedeutet dies kein Ende der islamischen Fundamentalisten und ihres irregulären Krieges. Hier sei erneut auf den Essay von Hassan al-Banna, dem Begründer der Muslimbruderschaft (1928), hingewiesen, in dem er die Grundlage des islamistischen Terrorismus52 legt. Dies wird uns nach dem Krieg in Afghanistan auch in anderen Teilen der Welt begegnen. Aufgrund der Militäraktionen in Afghanistan kommt es in anderen islamischen Ländern zu Unruhen. Auch wenn die Gewalt zunächst nicht offen zutage tritt, schreitet die Polarisierung in der islamischen Welt voran, und genau dies wollte Osama Bin Laden mit der Kriegshandlung am 11. September erreichen. Es ist erfreulich, daß die Amerikaner ihm nicht in die Falle gegangen sind. Die antiwestliche, insbesondere die antiamerikanische Stimmung floriert jedoch unabhängig davon, wie die Amerikaner sich verhalten. Es ist wichtig, dies gegen diejenigen anzuführen, die alles mit Globalisierung und Antiglobalisierung erklären. Ein ehrlicher, am Pluralismus orientierter Dialog bleibt das einzige geeignete Mittel für die bevorstehende Aufgabe, die Welt im 21. Jahrhundert zu ordnen.
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4. Religion und Globalisierung: Über die Schwierigkeit, zu verstehen Beim Antiamerikanismus der islamischen Fundamentalisten geht es um religiös begründete Weltanschauungen. Als Grund für diese Einstellung wird jedoch immer wieder die Palästinenserfrage angeführt. Obwohl ich dies als eine weltpolitische Polarisierung durchschaue, möchte ich folgende Überlegung anführen: Angenommen, es hätte die zweite Intifada53 nicht gegeben und Arafat verstünde sich gut mit den Israelis, so wie er es damals mit Rabin und Peres nach dem Oslo-Frieden von 1993 getan hat - gäbe es dann keinen Haß in der islamischen Welt auf die USA? Ähnlich wie sich Iraks Staatschef Saddam Hussein in seinen Reden vor dem Golfkrieg äußerte, instrumentalisiert Bin Laden jetzt die Palästinafrage.54 Für beide war und ist der Rückgriff auf Palästina nur ein Vorwand. Saddam Hussein wollte Kuwait besetzen, und er hat es getan, egal ob das gut oder schlecht für die Palästinenser war. Bin Laden versuchte, mit der Instrumentalisierung der Palästinafrage die Frontstellung gegenüber dem Westen zu intensivieren und seinen irregulären Krieg voranzutreiben. Dieses Ziel hat er nicht gänzlich verfehlt, auch wenn der Krieg in Afghanistan von einer Allianz westlicher und islamischer Staaten geführt wurde. Die wahren Hintergründe für den Haß auf die USA bzw. den Westen in der islamischen Welt hängen mit der schon erläuterten zivilisatorischen Dimension des Konfliktes zusammen. Trotz dieser Tatsache dominiert ein Interpretationsmuster in Deutschland, wonach die Globalisierung und ihre Verfechter, besonders die USA, die Menschen in den islamischen Ländern zu Opfern machen.55 Mit dieser Argumentationslinie glaubt man alles erklären zu können, auch die Hintergründe der Anschläge in den USA. Ich räume -225-
zwar ein, daß etwas daran richtig ist, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist die islamische Weltanschauung, die für ihre Ordnungsprinzipien universelle Geltung beansprucht. Eine der Erklärungen, warum dies deutschen Lesern nur schwer zu vermitteln ist, besteht darin, daß ihnen das Gespür für die Bedeutung der Religion als Sinnstiftung sowie für die Sprengkraft politischer Religionen völlig abhanden gekommen ist. Die weltpolitischen Tatsachen belehren uns, daß die Religion in Afrika und Asien seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewinnt, während sie in Europa kaum noch eine Rolle spielt; deshalb fällt es den Menschen hier so schwer, die Ereignisse rund um die Terrorattentate zu verstehen. Bin Laden handelt nach seiner Darstellung aus religiösen Motiven, er ist ein gläubiger Muslim und kein Zyniker. Fundamentalismus bedeutet politisierte Religion. Es ist daher falsch, dies als Ausdruck von Zynismus abzutun. Es gibt viele Millionen Muslime, die gläubig sind und dem Fundamentalismus anhängen, obwohl dies ein falschverstandener Glaube ist. Die Vermischung von Religion und Politik stellt ein hohes Explosionspotential dar. Unter Rückgriff auf eine Neuinterpretation des Djihad seiner Vorgänger Hassan al-Banna und Sayyid Qutb hat Bin Laden die schon vor Jahrzehnten bestehende Parole von einem «Konflikt zwischen Glauben und Unglauben» neu entflammt. Mit Hinweisen auf die Globalisierung kann man weder diese Zusammenhänge noch die neue Funktion der politisierten Religion als Fundamentalismus verstehen. Wenn eine Religion politisiert wird, hört sie deswegen nicht auf, Religion zu sein, insofern hat der Islamismus auch etwas mit dem Islam zu tun. Im Fundamentalismus hat die Religion eine duale Funktion: Sie ist sowohl Glaube als auch politische Ideologie. Meine These möchte ich am Beispiel des Begriffes Djihad erläutern, der im Koran eigentlich «Anstrengung» und nicht «Krieg» bedeutet. Im Koran gibt es zudem den Begriff Qital, -226-
der übersetzt «Kampf» bedeutet. Der Djihad nahm in der islamischen Geschichte die Form des Qital im Rahmen des Welteroberungsprojektes an.56 Im Koran stoßen wir auf die Stelle: «Euch ist der Kampf vorgeschrieben» (Sure 2, Vers 216). Qital ist also eine mögliche Form des Djihad. Dennoch kann ein Muslim friedlich Djihad als Anstrengung betreiben. Wenn die Not es aber erfordert, ist er befugt, auch kriegerisch Djihad zu praktizieren. Wenn er dies tut, handelt er im religiösen Glauben. Jedoch gibt es Spielregeln, wie man den Qital durchführt. Muslime dürfen keine Frauen umbringen, keine Kinder oder alten Leute angreifen - und sie dürfen keine unbewaffneten Menschen überfallen. Wenn sie ihre Gegner angreifen, müssen sie eine Vorwarnung geben. Bin Laden interpretiert diese Doktrin jedoch anders; seine auf al-Banna basierende neue Interpretation des Djihad (vgl. Anm. 52) als Terrorismus, also als irregulären Krieg, hat ihre Wurzeln in der 1928 in Kairo gegründeten Bewegung der Muslimbrüder. In all diesen Fällen haben wir es mit dem religiösen und politischen Charakter des Fundamentalismus zu tun.57 Bei der Interpretation der gegenwärtigen Auseinandersetzung als Djihad der Muslime gegen den Westen wird verschwiegen, daß die USA sich mit dem islamischen Pakistan verbündet haben. Die Regierung von Präsident Musharraf hat die Militäraktionen in Afghanistan unterstützt. Dies gilt auch für die Regierungen von Usbekistan und der Türkei. Somit gehören auch islamische Länder zur westlichen Antiterrorallianz, wodurch die Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen entschärft wird. Dieser Bruch in den Frontlinien des Konfliktes zwischen Glauben/Iman und Unglauben/Kufr wird dadurch beseitigt, daß die islamischen Verbündeten des Westens vom Islam ausgegrenzt werden. Angehörige muslimischer Eliten wie Präsident Musharraf haben sich in große Gefahr begeben, als sie sich dem Antiterrorbündnis anschlossen. Die Fundamentalisten in -227-
Pakistan sind politisch extrem stark. Zum Vergleich: In Ägypten hat es an vielen Freitagen in keiner einzigen Moschee militante Djihad-Reden gegeben. Das Mubarak-Regime hat die Fundamentalisten daran hindern können, d. h., daß Präsident Mubarak und sein in Deutschland promovierter Religionsminister Dr. M. Zakzouk die Moscheen in Ägypten völlig im Griff haben. In Pakistan dagegen wurden nach meinen Informationen an etlichen Freitagen in etwa 70 Prozent der Moscheen Djihad-Reden gehalten. Dennoch konnte der pakistanische Präsident Musharraf die Militäraktionen der USA in Afghanistan überleben; er wurde durch deren Erfolg sogar politisch gestärkt. Wir können in all diesen Fällen die Rolle der Religion in der Politik keinesfalls als Resultate der Globalisierung deuten. Generell können wir in der islamischen Welt von einer Spaltung innerhalb der islamischen Gesellschaften sprechen; diese geht auch quer durch die einzelnen Staaten. Es gibt Eliten, die prowestlich und zumeist an der Macht sind, und wir finden Gegeneliten, die als fundamentalistische Opposition zu beschreiben sind.58 Diese Spaltung der islamischen Gesellschaft birgt gewaltigen Sprengstoff. Hier geht es um einen Kampf von Muslimen gegen Muslime, dies hat weder mit der Globalisierung noch mit dem Westen zu tun. Ebenso ist der Konflikt unabhängig von den Geschehnissen in Afghanistan. Afghanistan und Bin Laden - das ist nur die Spitze des Eisberges, nur Öl in ein bereits brennendes Feuer, in dem Religion mehr entflammt, als sie zur Verständigung beiträgt. In dieser Situation einer neuen Weltunordnung stellt sich die Frage: Was kann der Westen tun, um den Konflikt zu entschärfen? Natürlich ist der Krieg des Westens gegen den Terrorismus legitim. Die terroristische Gewalt läßt sich mit den Anschauungen der deutschen Gutmenschen nicht abwenden. Aber der Westen muß auch den Dialog mit den pro-westlichen und gemäßigten Kräften in der islamischen Welt führen, um -228-
Wege für eine Brückenbildung zu etablieren. Und noch eine Dimension: Für den Westen geht es darum, diesen innerislamischen Konflikt nicht in seinen eigenen Ländern zum Ausbruch kommen zu lassen. Man muß die islamische Diaspora von der Konfliktlage in der Welt des Islam abkoppeln. Wenn wir dies nicht schaffen, müssen wir hierzulande mit denselben Auseinandersetzungen wie in den islamischen Ländern rechnen, dann erreicht die neue Weltunordnung Europa. Deutschland kann in diesem Zusammenhang Aufgaben übernehmen, wie etwa die Integration der 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslime, die die beste Maßnahme ist gegen das, was Wilhelm Heitmeyer «Verlockender Fundamentalismus»59 genannt hat. In Deutschland ist es an der Zeit, innenpolitisch entschieden auf zutreten, etwa gegen fundamentalistische Vereinigungen, die sich hinter manchen der Moschee-Vereine verbergen. An dieser Stelle möchte ich in eigener Sache hervorheben, daß ich schon lange vor dem islamischen Extremismus gewarnt habe. In Amerika, Großbritannien, Schweden, in den Niederlanden und in Frankreich bin ich gehört worden, in Deutschland jedoch nicht. Vielleicht liegt es daran, daß es in Deutschland keine Tradition wissenschaftlicher Beratung der Politik gibt, wie etwa in den USA, hierzulande geben die Politiker auf die Ratschläge von Experten nicht allzu viel. Schwerwiegender jedoch ist die Tatsache, daß hier die Vorstellung vorherrscht, die Fremden seien «Heilige». Demzufolge gäbe es also nur gute Muslime. Die Keule des «Feindbild Islam» gegen Kritiker des Islamismus ist in Deutschland mächtig und wirksam. Sie hat aber bisher nicht im Dienst eines besseren Verständnisses des Islam gestanden, vielmehr diente sie dazu, den Islamisten eine Tarnung für ihre Aktionen zu bieten. Nach dem 11. September wird dies nicht mehr so leicht sein. Deutsche Gutmenschen verstehen die Problematik nicht, weil sie nicht begreifen, daß -229-
Fundamentalismus eine rechtsradikale Ideologie ist. Die Zahl der extremistischen Muslime in Deutschland beträgt etwa 100 000. Darunter gibt es ca. 30 000 militante, also gewaltbereite Fundamentalisten. Es ist deshalb richtig, das Religionsprivileg aus dem Vereinsrecht zu streichen, wie das Innenminister Schily durchgesetzt hat, damit sich rechtsradikale Muslime nicht hinter der Religionsfreiheit verstecken können. Ich habe Otto Schily öffentlich gegen die Angriffe, denen er während der Vorbereitung der beiden Antiterror-Sicherheitspakete ausgesetzt war, verteidigt;60 die bisherige Großzügigkeit gegenüber den islamischen Extremisten in Deutschland hat internationale Empörung hervorgerufen. Nicht die Deutschen zahlen den Preis dafür, sondern die Amerikaner, so wie dies in New York und Washington geschehen ist.61 Vor diesem Hintergrund ist mein Konzept vom Euro-Islam international begrüßt worden.62 Zusammenfassend stelle ich fest, daß Islamisten von Muslimen unterschieden werden müssen. Islamisten sind gefährliche Djihad-Krieger, die einen Krieg gegen den Westen führen, den sie zwar nicht gewinnen können; sie können aber destabilisieren und eine neue Weltunordnung herbeiführen. Es beruhigt keineswegs festzustellen, daß die Islamisten ihre Vision einer islamischen Weltordnung nicht verwirklichen können. Die Frage der zukünftigen Weltordnung, obwohl abstrakt und unfaßbar, geht jeden von uns an. Die Tatsache, daß die Islamisten ihre Logistik nicht in der Welt des Islam, sondern in Europa, u. a. in Deutschland haben,63 muß doch sehr beunruhigen. Dies zu beleuchten wird Aufgabe von Kapitel VI sein. Im 21. Jahrhundert wird Religion erheblich an Bedeutung gewinnen, und kein Globalist kann uns dies überzeugend erklären. Der Fundamentalismus ist eine Politisierung der Religion,64 die zu dieser Entwicklung gehört. Dies festzustellen heißt jedoch nicht, daß Fundamentalismus nichts mit Religion bzw. Islamismus nichts mit Islam zu tun hat. Fundamentalisten -230-
sind keine Zyniker, die bewußt die Religion instrumentalisieren; sie halten sich für die «aufrichtigen wahren Gläubigen». Darin besteht ihre Stärke und zugleich die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Daher ist die fundamentalistische Herausforderung sehr ernst zu nehmen und nicht als Auswuchs der Globalisierung herunterzuspielen.
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VI. DER FUNDAMENTALISTISCHE MIßBRAUCH DER ISLAM-DIASPORA: WESTEUROPA ALS RUHEZONE Überall im Westen, sei es in Nordamerika oder im westlichen Europa, ist der Islam während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Migration nach dem protestantischen und katholischen Christentum statistisch zur drittgrößten Religionsgemeinschaft geworden. Gilles Kepel schlägt daraus unwürdig Kapital, indem er sein Buch zu diesem Thema Allah im Westen1 nennt und damit einen Verkaufsschlager landet. Im wesentlichen geht es in diesem Kapitel darum, daß eine IslamDiaspora entstanden ist. Religiöse Toleranz verpflichtet nicht nur zur Akzeptanz des Islam in Europa, sondern auch zum Respekt vor dieser Religion. Das ist die Bringschuld der Europäer, doch genauso haben auch die Muslime eine solche, denn sie müssen die zivilisatorische Identität Europas akzeptieren. Die christlich-islamische Geschichte ist Jahrhunderte älter als die zeitgenössische islamische Zuwanderung nach Europa; sie umfaßt Bedrohung und Faszination auf der einen Seite und gegenseitige Befruchtung auf der anderen.2 Unsere Gegenwart ist in diese Geschichte eingebettet.
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1. Instrumentalisierung der political correctness und der «Feindbild Islam»Vorwurf Für uns ist hier die Gegenwart wichtig, und dabei steht nicht der Islam als Religion zur Diskussion, sondern die erschreckende Tatsache, daß die Islam-Diaspora und die liberalen Freiheiten in Europa durch islamische Fundamentalisten mißbraucht werden. Vor dem 11. September war es verpönt, darüber zu reden. Nur wenige Experten, zu denen ich mich selbst rechne, wagten es seit Jahren, vor dieser Gefahr zu warnen, aber nicht nur, daß man ihnen nicht zuhören wollte, man hat sie in ihrer Arbeit u. a. durch Rufschädigung behindert. So hat der Orientalist Udo Steinbach in der FAZ gegen mich den Vorwurf erhoben, einen «Generalverdacht gegen Muslime» zu schüren.3 Islamisten wußten diese Stimmen bestens zu nutzen: einmal durch Instrumentalisierung der Political Correctness, dann durch den propagandistisch, besonders in Deutschland leicht einsetzbaren Vorwurf der Intoleranz in Form des «Feindbildes Islam». Jeder Kenner weiß, wie die Islamisten, wenn sie unter sich sind, von Christen als Kreuzzüglern und Westlern als dekadenten Menschen sprechen; dabei läßt sich keine Spur von Political Correctness, aber dafür sehr viel «Feindbild Westen» mitten in Europa vorfinden. Natürlich sind westliche Prinzipien für die anti-westlich gesinnten Islamisten willkommen, wenn sie instrumentell dienstbar gemacht werden können. Die Tatsache, daß islamische Fundamentalisten westliche Werte innerlich verabscheuen, hindert sie nicht daran, sie als Waffe für ihre Belange zu nutzen. Das US-Magazin Newsweek hat sich dieser Thematik nach dem 11. September angenommen, nachdem die Sicherheitsdienste herausfanden, daß die Anschläge auf das -233-
World Trade Center in New York in der deutschen IslamDiaspora vorbereitet und auch von dort finanziert wurden. Newsweek stellte in diesem Zusammenhang die Frage, «warum Terroristen Europa mögen».4 Auch in Deutschland - wenngleich sehr begrenzt - ist es nach dem 11. September eher möglich geworden, derartige Fragen zu stellen und sich dieser Thematik zu widmen, ohne mit argumentativen Keulen symbolisch mundtot gemacht zu werden. Am Ende von Kapitel III habe ich anhand von zwei Spiegel-Berichten diesen positiven Wandel veranschaulicht. Die investigativ arbeitenden Journalisten von Newsweek haben erschreckende Tatsachen enthüllt. Mir geht es hier weniger um die Details der Enthüllungen als um die daraus gewonnene Grunderkenntnis: Islamische Fundamentalisten, die einen totalitären Gottesstaat anstreben, haben sich die Prinzipien und Praktiken der Zivilgesellschaft, die sie als dekadentes Muster des Westens verabscheuen, instrumentell angeeignet, um für sich einen Freiraum in Westeuropa, vorrangig in Deutschland, zu schaffen. Deutschland wurde bewußt aufgrund seiner jüngeren Vergangenheit und wegen der Scheu der Nachkriegsdeutschen, Fremden irgendwelche - seien es auch demokratische - Vorschriften zu machen, gewählt. Zudem sind die Deutschen leicht verletzlich, weil ein bloßer Hinweis auf ihre blutbefleckte Vergangenheit sie zum Schweigen bringt. Davon machen die Islamisten bis heute vollen Gebrauch. Aus diesem Grunde war Deutschland, wie die New York Times anmerkte, lange Zeit ein «safe haven/eine Freizone» für die islamischen Fundamentalisten.5 Gesinnungsethiker hierzulande machten sich mehr Sorgen um die Gefahr eines «Feindbildes Islam» als um die Bedrohung der Demokratie durch die Fundamentalisten. Als liberaler Muslim und Migrant hatte ich oft Schwierigkeiten, diese Haltung zu verstehen. Im zitierten Heft von Newsweek wird auf die angeführte, auf dem Titelblatt gestellte Frage mit dem Hinweis auf die postmoderne -234-
europäische Permissivität geantwortet, die alles unter dem Namen der Toleranz zuläßt. In bezug auf Deutschland wird die Erklärung bereits im Titel des Artikels Tolerating the Intolerable von Stefan Theil, Christopher Dicky und Tara Pepper gegeben. Darin ist zu lesen: Fundamentalistische Gruppen haben die liberale Asylgesetzgebung, die nicht zwischen der Religion des Islam und fanatischem Islamismus unterscheidet, ausgenutzt, um in den Genuß europäischer Freiheiten (und Sozialleistungen) zu kommen und dadurch Vorteile für ihre Sache zu erlangen und diese voranzubringen. Sie mißbrauchen die Toleranz, um Intoleranz zu predigen. Sie verbreiten offen Haß-Propaganda, rekrutieren Mitglieder unter jugendlichen Zuwanderern und schüchtern jene ein, die sich ihnen widersetzen. Zu den Mitteln der Einschüchterung gehört die Verbreitung der Angst, als Rassist gebrandmarkt zu werden. Doch all das mag sich verändert haben seit den Terrorangriffen von New York und Washington, die von einer Zelle islamistischer Studenten in Deutschland vorbereitet wurden.6 Vieles hat sich nach dem 11. September geändert. Dank des nüchtern denkenden Bundesinnenministers Otto Schily hat der Bundestag im Dezember 2001 zwei Gesetzespakete zur inneren Sicherheit verabschiedet, die leider - dies schreibe ich als Kenner der islamistischen Szene - bei der rechtsstaatlichen Verfolgung des Islamismus nicht weit genug gehen. Dies werde ich im folgenden noch erklären. Weitreichender als die neue deutsche Gesetzgebung ist das britische Antiterrorgesetz, das im Dezember (FAZ vom 15.12.01) in Kraft getreten ist. In den USA haben die Politiker Konsequenzen aus der Taktik der Islamisten gezogen, einen Mißbrauch des Rechtsstaates durch das Hinziehen von Prozessen über mehrere Jahre zu betreiben, so wie sie dies zum Beispiel nach dem Anschlag auf das World Trade Center vom Februar 1993 taten; deshalb verordnete der US-Präsident nach dem 11. September mit den ihm -235-
rechtsstaatlich zustehenden Kompetenzen Militärtribunale für die Hintermänner der fundamentalistisch-terroristischen Szene. Für manche Beobachter ist die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bei Anwendung dieser Maßnahmen, die durch den USJustizminister Ashcroft beschlossen wurden, umstritten. Ich räume ein, daß es der Rechtsstaatlichkeit widerspricht, wenn unter bloßem Verdacht Festgenommenen im schlimmsten Fall der Tod droht, ohne daß eine Möglichkeit der Anhörung, der Revision und der Hinzuziehung eines Anwalts besteht. Ich führe diese Bedenken an, möchte sie jedoch nicht vertiefen, weil ich mich auf die Problematik selbst konzentrieren möchte. Es geht darum, Gegner der Demokratie daran zu hindern, den westlichen Rechtsstaat nur als Instrument zum Schutz ihrer Aktivitäten zu nutzen. Der Westen darf seine Werte jedoch nicht im Kampf für den Schutz dieser Werte verletzen. Ich teile die Position von Michael Ignatieff, der in der Financial Times vom 13. September in einem Kommentar schrieb, daß der Westen für seine Sicherheit nicht mit Einbußen an Freiheit zahlen dürfe. Er fügt hinzu: «Die einzig effektiven Waffen gegen den Terrorismus sind präzise Maßnahmen, nicht die pauschale Aufhebung bürgerlicher Freiheiten.»7 Der Rechtsstaat ist vorrangig dafür da, seine Bürger, gleich ob Juden, Christen oder Muslime, zu schützen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Der britische Innenminister David Blunkett konnte sich dank des Fehlens moralischer Belastungen in der Vergangenheit seines Landes, das als Mutterland der Demokratie gilt, mehr Freiheit im innenpolitischen Antiterrorkrieg nehmen, als sein deutscher Kollege Otto Schily. Dieser wurde häufig verfemt, obwohl er, anders als der US-Justizminister Ashcroft, sorgfältig die Rechtsstaatlichkeit beachtet. Bestimmte deutsche Sittenwächter haben als Gutmenschen bisher - zum Nutzen islamischer Fundamentalisten - eine Kampagne gegen Bundesinnenminister Schily gestartet. Geht es dabei um Antiterrorismus oder um Antiamerikanismus? Viele -236-
fragten sich, warum Otto Schily als ehemaliger Linker so entschlossen für den Rechtsstaat gegen den Islamismus eintritt. Die Antwort lautet: Im Amt hat er die nüchternen Fakten erfahren. Sicherlich müssen alle polizeilichen Aufgaben rechtsstaatlich abgesichert sein; die Punkte, die in bezug auf das Sicherheitspaket kritisch diskutiert werden, gehören jedoch in eine andere, nämlich rechtswissenschaftliche Analyse. Ich bleibe hier bei der Deskription des Sachverhaltes. Als Bundesinnenminister Otto Schily im November 2001 anläßlich eines Staatsbesuches in Washington war, legte ihm der USJustizminister Ashcroft Fakten vor, die belegten, was er bereits in allen Einzelheiten wußte: Die Terroranschläge vom 11. September in New York und Washington sind weitgehend in der deutschen Islam-Diaspora vorbereitet worden. Zuvor, nämlich Ende September 2001, hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eine Keynote-Rede an der Harvard-Universität gehalten und die Verbrechen von New York und Washington als einen «Angriff auf die Werte der westlichen Zivilisation» verurteilt. Welche Konsequenzen entstehen aus der Tatsache, daß Deutschland die primäre logistische Basis für die Bin-LadenConnection bot? Hier stehen zwei Fragenkomplexe an: 1. Wie kann der Mißbrauch der Demokratie mit rechtsstaatlichen Mitteln verhindert werden, und 2. wie können terroristisch aktive Islamisten verfolgt werden, ohne daß die Islam-Diaspora durch einen «Generalverdacht» in Mitleidenschaft gezogen wird. Mein Ausgangspunkt ist der in den Berichten der New York Times gegen Deutschland erhobene Vorwurf, als «safe haven/Freizone» für islamische Terroristen zu dienen: Die Deutschen würden sich hinter ihrer Vergangenheit verstecken und Gegnern der westlichen Zivilisation einen Freiraum für ihre Terrorakte in anderen Ländern gewähren. Die Anspielung ist auf die uneingeschränkte Toleranz gemünzt, die die Deutschen vor dem 11. September gegenüber allem, was fremd war, übten. -237-
Gewöhnlich erfolgt dieses Verhalten mit dem Hinweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit und den Holocaust. Nun ist aber beispielsweise bekannt, daß die palästinensischen Terrororganisationen - vor allem die Hamas unter dem Deckmantel «gemeinnütziger Vereine» Geld für angebliche Wohlfahrtszwecke sammeln; dieses wird jedoch für Waffen im Kampf gegen Israel verwendet. Die deutschen Behörden wissen das, tun aber nichts dagegen. Hierüber berichtete u. a. Udo Ulfkotte in der FAZ. Doch darf die in Deutschland auferlegte Einstellung, die ich «verordnete Fremdenliebe» nenne, nicht zur Duldung der antisemitischen Haltung mancher Fremder dienen, die unter Hinweis auf die deutsche Vergangenheit erfolgt. Hier fehlt jede logische Konsistenz. Der am Ende von Kapitel III hervorgehobene Wandel in Deutschland deutet indes auf erfolgreiche Lernprozesse. Vor dem Inkrafttreten der neuen Gesetze im Dezember 2001 konnten rechtsradikale Ausländer, zu denen die Islamisten gehören, den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit gegen ihre Gegner einsetzen. Dies hat zu einem Mangel an politischem Willen, gegen ausländische Extremisten vorzugehen, beigetragen. Doch haben sich europäische Innenminister wie der Brite David Blunkett und der Deutsche Otto Schily bei ihren Antiterrorgesetzen nicht einschüchtern lassen. Durch ihre Mitarbeit bei diesen Bemühungen leisten muslimische Migranten den besten Beitrag, um jedem «Feindbild Islam» Einhalt zu gebieten. Keineswegs liegt es im Interesse der IslamDiaspora, von Leuten der Bin-Laden-Connection und anderen Terrororganisationen dazu benutzt zu werden, als Helfer beim Aufbau einer logistischen Basis in Deutschland zu fungieren. Dies soll jedenfalls nach dem 11. September nicht mehr möglich sein. Eine absurde Handhabung des in gewissen Situationen gerechtfertigten «Feindbild Islam»-Vorwurfs ist die Darstellung der Opfer als Täter. Damit meine ich den von manchen -238-
Deutschen oft zu vernehmenden Satz: Die von den Amerikanern vorangetriebene Globalisierung sei Schuld am Terrorismus. Dies ist vergleichbar mit dem Vorwurf an eine vergewaltigte Frau, sie hätte die Tat durch ihre Reize provoziert. Als liberaler Muslim und Kenner des islamischen Fundamentalismus sehe ich wenig Unterschied zwischen der antiamerikanischen Argumentation mancher Islamisten und der einiger deutscher Linksintellektueller. Der Bundesinnenminister wurde während seiner Bemühungen um die Antiterrorgesetze als Handlanger der Amerikaner verfemt. Ich fragte daher in meinen Kommentaren, ob die USA oder der Islamismus der Verbündete ist!8 Otto Schily hat in mehreren Interviews klargemacht, daß die Gefahr nicht vom demokratischen Staat, sondern von seinen totalitären Gegnern ausgeht, gleich ob diese deutsche Rechtsradikale oder islamistische Terroristen sind. Daher ist der Schutz von Demokratie und Freiheit gegen den Terrorismus kein Ausdruck polizeistaatlicher Maßnahmen. Worin besteht die Einschränkung der Freiheit, wenn Islamisten nicht mehr unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit ihre totalitäre Ideologie des Fundamentalismus in der deutschen Islam-Diaspora unbehindert verbreiten dürfen? Ist die Änderung des Vereinsrechts nicht rechtens, um zwischen Religionsfreiheit und religiösem Totalitarismus zu unterscheiden? Der Islamismus ist nicht nur eine Gefahr für die deutsche Demokratie, sondern auch für die gesamte Islam-Diaspora, und zwar in doppelter Hinsicht: Er bringt sie in den Ruf des Terrorismus und verhindert ihre demokratische Integration. Ich denke, daß der nach dem 11. September entstandene Vorwurf, «Rassismus gegen den Islam» zu schüren, in den Bereich der Propaganda gehört schließlich ist der Islam eine Religion und keine «Rasse».9 Als Wahldeutscher bedauere ich, auf die Deutschen und ihre Sonderwege zurückkommen zu müssen; früher waren diese rechts, heute sind sie links. Doch Deutschland als Teil der westlichen Allianz kann sich solche Sonderwege nicht mehr -239-
leisten. Die durch die Anschläge vom 11. September ausgelöste Weltkrise bietet Deutschland eine Chance, sich in den Westen einzuordnen - allerdings ohne die NS-Vergangenheit verdrängen zu dürfen - und in diesem Rahmen zur Normalität zu finden. Deutschland muß aufhören, eine Freizone für Extremisten aus aller Welt im Namen der Überwindung seiner Vergangenheit zu bieten. Denn eine Überwindung ist dies nicht, eher das Gegenteil. Alfred Grosser hat wiederholt das «Selbstmitleid» deutscher Linksintellektueller beklagt; er als gebürtiger Frankfurter Jude und Überlebender des Holocaust ist nicht nur über jeden Verdacht erhaben, sondern widerspricht auch den Belehrungen vieler deutscher Linksintellektueller in bezug auf die Gefahren für die Demokratie. Der Terrorismus, und nicht Amerika, ist der Feind! Es ist bekannt, daß die Franzosen zu den bewußtesten Europäern gehören. Grosser ist stolz darauf, ein citoyen der französischen Republik zu sein. Für die von manchen deutschen Intellektuellen als chauvinistisch verfemten Franzosen sprach nach dem 11. September ihre auflagenstärkste Zeitung Le Monde auf dem Titelblatt - bei aller kritischen Distanz zu den USA - mit der Überschrift: «Wir sind alle Amerikaner». Der bekannte Franzose Dominique Moïsi zitierte diese Überschrift in seinem Kommentar in der Financial Times und hob hervor, daß die Franzosen, wenn die westliche Zivilisation angegriffen wird, sich selbst angegriffen fühlen.10 Von Deutschland hören wir dagegen den Mißton des Antiamerikanismus.11 Die beiden Sicherheitspakete zur Verteidigung der Demokratie gegen den Terrorismus, die der Bundestag verabschiedet hat, sind ein guter Beginn. Es ist zu hoffen, daß die Mehrheit der Deutschen verstehen lernt, daß der Krieg der westlichen Zivilisation gemeinsam mit Ländern anderer Zivilisationen gegen den Terrorismus Deutschland und seiner Bevölkerung die Chance zur «Normalität» bietet; zu dieser Normalität gehört eben auch der normale Umgang mit Fremden. -240-
Dies befähigt sowohl im Denken als auch im Handeln, den rechtsradikalen Islamismus in Deutschland von der Religion des Islam abzukoppeln und wie jede rechtsradikale Ideologie, auch wenn sie von Fremden kommt, zu ächten. Ich stelle fest, daß die Aufklärung über den Islamismus bisher zu den deutschen Tabus gehört hat. Dahinter steckt eine spezifisch deutsche, falsch verstandene Öffnung für andere Kulturen. Aus diesem Grunde war die politische Diskussion innerhalb Deutschlands anders als im Rest der Welt - gleich, ob im Westen oder in der islamischen Welt - über den Krieg in Afghanistan spezifisch deutsch und darüber hinaus sogar exklusiv innenpolitisch geprägt. Dabei entsteht der Eindruck, als fände der Krieg mitten in Deutschland statt. Dies liegt nicht am Gegenstand selbst, sondern an der politischen Kultur dieses Landes, die von politischen Tabus negativ beeinflußt wird. Hierzu schreibt Arnulf Baring: «Unsere Tabuzonen sind weit gezogen; sie umfassen große Problemfelder, die dringend offen diskutiert werden müßten.»12 Der Umgang mit dem Islam und dem Islamismus in der deutschen Öffentlichkeit liefert einen Beweis für diese Ansicht.
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2. Im Pro und Contra der deutschen Feinde und Freunde des Islam geht der Unterschied zwischen Islam und Islamismus unter In der Auseinandersetzung über den anstehenden Gegenstand kommt die deutsche Sitte der Bildung von Pro und Contra ohne Sachkenntnis zum Ausdruck. Auf diese Weise bilden sich die Fronten der «Feinde und Freunde des Islam».13 Beide wissen zwar, wie sich das Wort Islam buchstabieren läßt, doch darin erschöpft sich ihre Kenntnis bereits. Der Autor des zitierten, bei seinem Erscheinen 1996 von den Medien völlig unbeachteten Buches hatte 1995 in der Zeitschrift Merkur die These seines Buches vorab veröffentlicht, ohne Resonanz zu erlangen. Die Redaktion dieser Zeitschrift entschied sich dafür, den Aufsatz nach dem 11. September unverändert in einem Schwerpunktheft zu dieser Thematik erneut zu drucken. Der Aufschrei war groß. Das Feuilleton von FAZ und SZ - beide verrannten sich in die These von der Globalisierung als Ursache des Terrorismus - griffen den Merkur an. Es war in dieser Situation erfreulich, daß der Berliner Tagesspiegel eine Ausnahme machte und diese deutsche Umgangsart mit dem Islam einer Kritik unterzog. Kohlhammer zeigt in seinem Buch, daß es ein «Feindbild Westen» bei den Muslimen gibt. Deutsche Gesinnungsethiker wollen hiervon nichts wissen. Für sie gibt es nur ein zu bekämpfendes Übel: das «Feindbild Islam». Liberale muslimische Männer und Frauen sowie andere Opfer der Fundamentalisten wissen, daß es eher politisch korrekt ist, über diese Thematik zu sprechen. Eines der weiblichen Opfer hat nach der Befreiung aus der Haft der Taliban berichtet: Die mit uns in demselben Gefängnis inhaftierten afghanischen -242-
Frauen wurden geschlagen, bis sie bluteten... Diese Frauen wurden nur aus dem Grunde verhaftet, weil sie ihren Männern wegliefen, nachdem diese sie geschlagen hatten.14 Trägt man zu einem «Feindbild Islam» bei, wenn man sich nicht an die in Deutschland bestehenden Tabus hält, andere Kulturen zu kritisieren? Um meine Kritik an der Mentalität des deutschen Gutmenschen zu veranschaulichen, werde ich ein Erlebnis aus den Niederlanden anführen. Auf einer Veranstaltung im Rahmen der «Kulturhauptstadt Europas» in der Rotterdamer Erasmus-Kirche hielt ich neben der britischen Islam-Expertin Karen Armstrong15 ein Referat über den islamischen Fundamentalismus. Der holländische Fernsehmoderator, der die anschließende Diskussion zwischen Armstrong und mir moderierte, fragte offen: «Verbietet uns denn nicht die alte Toleranztradition dieses Landes, sich über den marokkanischen Imam der Moschee von Rotterdam zu empören, der den Koran zitierend das Schlagen der Frauen befürwortete?» Seine Frage war nur rhetorisch, weil die Niederländer sich eben nicht jedes Verhalten unter dem Deckmantel des Respektes vor den Fremden gefallen lassen. Das Schlagen von Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung, die man nicht unter dem Etikett Toleranz geschehen lassen darf. Es ist klar, daß der Begriff Toleranz einen spezifischen Inhalt und gewisse Spielregeln impliziert; er bedeutet aber niemals Selbstaufgabe.16 Bleiben wir jenseits der fragwürdigen Ideologie der deutschen «Feinde und Freunde des Islam» bei den Fakten: Der Koran erlaubt tatsächlich, daß Männer widerspenstige Frauen bestrafen (Sure 4, Vers 34). Als Reform-Muslim habe ich wie mein Mitstreiter An-Na'im17 Probleme mit dieser Stellung der Frau im Islam, denn wir setzen uns für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Ist es politisch inkorrekt, darüber zu reden? Ist es fremdenfeindlich, solche Sitten in Europa - trotz des Grundrechtes auf Religionsfreiheit - abzulehnen? -243-
Hier geht es nicht nur um Frauenrechte,18 sondern um die Ablehnung der Demokratie durch den Fundamentalismus als antidemokratische Strömung. Ich denke, daß eine liberale Auslegung des Islam eine Vereinbarkeit mit Demokratie zuläßt, der Islamismus hingegen steht einer solchen Deutung im Wege. Außerdem stellt der Islamismus ein sicherheitspolitisches Problem dar,19 das nicht unter Rückgriff auf die Political Correctness ignoriert werden darf. Im Zusammenhang mit der sicherheitspolitischen Herausforderung des Fundamentalismus deute ich den Islamismus als Rechtsradikalismus und sehe in ihm eine Antithese zur Demokratie. In einem seiner Katechismen schreibt der bereits erwähnte Pakistani Maududi, daß der Islam und die Demokratie unvereinbar seien.20 Diese Stelle werde ich weiter unten ausführlich zitieren und beschränke mich hier darauf, zu fragen, ob wir ein Tabu brechen, wenn wir die in Europa im Namen falsch verstandener Toleranz praktizierte Vorschrift, solche totalitären Ansichten unwidersprochen in der IslamDiaspora zu belassen, verwerfen. Nachdem die Welt weiß, daß die als Kriegserklärung an die westliche Zivilisation gemeinten Terrorakte vom 11. September 2001 zwar in New York und Washington ausgeführt, aber in der deutschen Islam-Diaspora vorbereitet wurden, ist die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus zwingender denn je. Bei dieser Differenzierung können wir gleichzeitig muslimische Migranten vor einem Generalverdacht schützen sowie die Islamisten rechtsstaatlich bekämpfen. Im Umgang mit dem totalitären Islamismus gibt es zwei Modelle: das britische und das französische.21 In Frankreich verpflichtet der demokratische Staat auf dem Boden der Verfassung alle Bürger, gleich welcher Religion - also auch die Muslime -, zur Akzeptanz der laïcité als Leitkultur, d. h., die Trennung von Religion und Politik ist als Wert verbindlich. In Großbritannien war dem Staat vor dem 11. September 2001 -244-
verboten, sich in die Angelegenheiten der Muslime einzumischen. Dies änderte sich nach den schrecklichen Ereignissen, insbesondere als bekannt wurde, daß ca. 600 britische Muslime auf seiten der Taliban für Bin Laden kämpften. Nach einer Debatte im britischen Parlament wurde dann im Dezember das britische Antiterrorgesetz verabschiedet. Ein solches Gesetz war in Frankreich überflüssig, denn hier war dem Terrorismus schon vor dem 11. September ein Riegel vorgeschoben worden. Und wie sieht es in Deutschland aus? Das deutsche System ist nicht so stark säkular ausgerichtet wie die beiden anderen europäischen Modelle. Hierzulande unterläßt man es, den Imamen der Moscheevereine demokratische Vorschriften zu machen. So kann eine fundamentalistische Organisation, wie beispielsweise die Islamistische Föderation, mit Hilfe der deutschen Justiz weisungsfrei Islamunterricht22, der islamistischer Indoktrination gleichkommt, erteilen. Ein Berliner Gericht untersagte dem Berliner Senat, in dieser Angelegenheit mitzubestimmen, was zu der Frage führt: Ist das Grundrecht auf Religionsfreiheit ein Freibrief für rechtsradikale Aktivitäten? Zwar ist die Bewegung des Kalifatstaates verboten worden. Aber es gibt noch viele andere, die sich auf eben dieses Recht berufen, um ihre politischen Aktivitäten zu tarnen. Vor den Terrorakten in New York und Washington am 11. September 2001 war es tabu, über das anstehende Thema ungestraft zu reden. Nach dem Ende der totalitären NSHerrschaft wurden die Deutschen von den Amerikanern und den anderen westlichen Alliierten durch Umerziehung zum demokratischen Denken hingeführt. Dieses Unterfangen war nur teilweise erfolgreich; es ist nicht gelungen, die von dem renommierten Philosophen Helmuth Plessner festgestellte Neigung der Deutschen zu Extremen zu vertreiben, diese ist ihnen noch immer eigen. An die Stelle der Mentalität des NSVerbrechers, der alles Fremde dämonisiert, ist nun das -245-
entgegengesetzte Extrem des deutschen Gutmenschen, der den Fremden zum Engel erhebt, getreten. Der deutsche Gutmensch läßt Kritik an dem Fremden nicht zu, selbst dann nicht, wenn dieser kein Vorbild für Demokratie und Menschenrechte ist. Als im Oktober 2000 die Synagoge in Düsseldorf geschändet wurde, war die Nation empört, und der Bundeskanzler rief zum «Aufstand der Anständigen» auf. Als Islamisten als Täter bekannt wurden, schwiegen dieselben Leute.23 Die angesprochene Neigung hat Helmuth Plessner als Klage über die Deutschen formuliert: Wir Deutschen verstünden in den Dingen des öffentlichen Lebens kein rechtes Maß zu finden und verfielen immer wieder dem Zauber der extremen Staatsvergötterung oder Verneinung... Der Extremismus... zu dem gerade die deutschen Denker des 19. Jahrhunderts Wesentliches beigetragen haben, hängt mit der immer wieder gestörten Konsolidierung unserer natürlichen Existenz zusammen.24 Plessner widmet diesem Sachverhalt sein in der Emigration geschriebenes Buch Die verspätete Nation.25 In der von Plessner kritisierten Denkweise verschwinden die Unterschiede und die Vergleiche. Ich möchte hier den Islamismus in eine Tradition einordnen, deren Ablehnung ich von meinem jüdischen Lehrer Horkheimer übernommen habe. Von ihm habe ich gelernt, das Europa der Freiheit zu lieben und kompromißlos gegen seine Feinde - diese sind nach Horkheimer der Hitler-Faschismus und Stalins Kommunismus - zu verteidigen. In meinem Max Horkheimer gewidmeten EuropaBuch habe ich in dieser Tradition als dritten Feind der europäischen Freiheit den islamischen Fundamentalismus hinzugefügt.26 Wie schon wiederholt angeführt, verkünden einige in den Medien teilweise sehr einflußreiche Deutsche in ihren Beiträgen mehr Angst vor dem «Feindbild Islam» als vor den Gefahren, die vom Islamismus ausgehen. Warum? Ich denke, die -246-
Gesinnungsethik des deutschen Gutmenschen rangiert höher als jede Sachinformation. Dabei wird nicht zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als politischer Ideologie unterschieden. In Deutschland als dem Land, das dem von Plessner festgestellten «Zauber der Extreme» erliegt, gibt es nach Auskunft des schon zitierten Siegfried Kohlhammer «Feinde und Freunde des Islam» (vgl. Anm. 13). Die Feinde verteufeln den Islam in Kontinuität zum historischen christlicheuropäischen Islambild,27 wohingegen die Freunde in deutscher Tradition zum Gegenextrem übergehen und im Islam nur das Gute sehen. Bei diesen deutschen Gutmenschen wird selbst der totalitäre Islamismus zu einer positiv eingeschätzten Geisteshaltung der vom Westen Unterdrückten, sozusagen zu einer Spielart des «tiersmondisme», also der Ideologie der «Dritten Welt», hochstilisiert. Deutsche Gutmenschen mögen die Welt durch ihre gesinnungsethisch gefärbte Brille sehen, ändern aber nichts an der Tatsache, daß der Islamismus, aus dem der Terrorismus vom 11. September 2001 hervorgegangen ist, eine Spielart des Rechtsradikalismus und des Totalitarismus bleibt und zudem eine Gefahr für den Frieden in der Welt darstellt.28 Die Gefahren des Islamismus in Deutschland werden tabuisiert, und die Diskussion über den demokratie- und weltfriedenfeindlichen islamischen Fundamentalismus wird unterbunden. Es besteht eine Neigung unter gesinnungsethischen deutschen Intellektuellen, alle Probleme in unserer komplexen Wirklichkeit monokausal zu erklären - also stets auf die Schuld des Westens zurückzuführen. In diesem Zusammenhang wird der Hinweis auf sozialökonomische Auswirkungen der Globalisierung verwendet, um alles zu rechtfertigen, selbst den Terrorismus. Dabei werden die Täter als Opfer dargestellt. Diese Haltung hat nach den jüngsten Terrorakten in den USA Ausmaße angenommen, die ich nicht mehr nachvollziehen kann. Es unterbleibt jede Differenzierung zwischen der Religion des -247-
Islam und der totalitären Ideologie des Islamismus.29 Die Bedrohung für die demokratischen Werte der westlichen Zivilisation wird als eine Reaktion der vom Westen Unterdrückten auf die Globalisierung verniedlicht. Diese Denkweise tritt in Gestalt des Antiamerikanismus auf, worin Miriam Lau einen «links murmelnden deutschen Nationalismus» sieht ( vgl. Anm. 11). Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 12. November 2001 war zu lesen: «Der Terrorismus ist unmoralisch... und entspricht einer Globalisierung, die selbst unmoralisch ist» (S. 16). Was ist nun Globalisierung? Diese ist nicht neu, sondern steht im Zusammenhang mit dem im 16. Jahrhundert begonnenen Aufstieg des Westens und dessen «europäischer Expansion». Was hat sie zudem mit Islamismus und Terrorismus zu tun? Sicherlich bildet der jahrhundertelange Wettkampf zwischen dem islamischen und dem westlichen Globalisierungsmodell30 die Hintergrundgeschichte für die Geschehnisse des 11. September 2001, aber was hat dies mit Moral zu tun? Globalisierung und Terrorismus auf dieselbe Stufe zu setzen, ist Auswuchs einer bis zur Erblindung getrübten Sichtweise. Den irregulären Terrorkrieg des islamischen Fundamentalismus mit der Dominanz des Westens zu entschuldigen ist keine Denkweise, die es verdient, als rational zu gelten. In der Sicht der deutschen Freunde und Feinde des Islam wird Gesinnungsethik mit Ökonomie und Globalisierung vermengt und der Terrorismus in diesem Zusammenhang heruntergespielt. Diese Verharmlosung des Islamismus erlaubt dessen Aktivisten, ihre Arbeit ungestört in der Islam-Diaspora zu verrichten. Es war also kein Zufall, daß die logistische Basis des terroristischen, von islamischen Fundamentalisten als DjihadKrieg gegen den Westen legitimierten Anschlages vom 11. September 2001 im stillen in Deutschland aufgebaut werden konnte. Gibt es womöglich eine Verbindung zwischen den -248-
deutschen Sonderwegen und der Wahl Deutschlands als logistische Basis durch die islamischen Fundamentalisten? Die Islam-Diaspora hat zwei Optionen: eine Brücke zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation zu sein oder - wenn man das Feld den Islamisten überläßt - ein Brückenkopf für den islamischen Fundamentalismus.
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3. Deutschland und seine islamischen Fundamentalisten Arabische Nationalisten hatten eine Vorliebe für Deutschland, worauf die deutschen Demokraten allerdings alles andere als stolz sein können. Diese von mir als arabische Germanophilie dargestellte Haltung gegenüber Deutschland diente während des Zweiten Weltkrieges als geistige Grundlage für ein Bündnis zwischen arabischen Nationalisten und dem NS-Regime sowie leider auch für einen arabischen Antisemitismus.31 Es ist allerdings eine importierte Ideologie, die Antisemitismus und Anti-Judaismus vermengt. Die Islamisten, die nach 1967 die arabischen Nationalisten ablösten, sind wie manche Vorgänger Antisemiten, aber ihre Vorliebe für Deutschland ist pragmatischer und nicht romantischer Natur; sie beruht auf Berechnung, wie ihre «Aktion USA» belegt, die in Deutschland vorbereitet wurde. Die Fakten stehen fest: Der Terrorpilot und Islamist Mohammed Atta, der die Operation anführte, sowie zwei weitere Selbstmord-Flugzeugführer kamen aus der deutschen Islam-Diaspora. Ich habe einleitend das amerikanische Magazin Newsweek zitiert, welches in einem Themenheft auf dem Titelblatt die Frage stellt, warum islamische Fundamentalisten Europa mögen und speziell Deutschland für ihre Operationen als logistische Basis bevorzugen. In diesem Heft wird beschrieben, wie in Deutschland das «Intolerable toleriert wird».32 Für mich als aufgeklärten Muslim, der zwischen Islam und Islamismus unterscheidet und bisher oft dafür verfemt wurde, daß ich diesen Unterschied meinen deutschen Mitbürgern zu vermitteln versuchte, ist es ein Trost, daß Newsweek in der erwähnten Ausgabe folgendes anführt: Der in Syrien geborene und in Göttingen lehrende IslamExperte Bassam Tibi warnt seit vielen Jahren, daß westliche -250-
Menschen nicht zwischen guten und schlechten Muslimen unterscheiden... Niemand wollte auf ihn hören, weil seine Warnungen an das politisch Inkorrekte grenzen. (Newsweek vom 5. November 2001, S. 46) Es fällt mir schwer, rationale Erklärungen dafür zu finden, daß meine aufklärerische Arbeit von vielen deutschen Gesinnungsethikern auch nach dem 11. September 2001 bekämpft wird. Der säkularisierte Glaube an die Nächstenliebe wird von den Fundamentalisten und Terroristen instrumentalisiert. Die von mir als «verordnete Fremdenliebe»33 charakterisierte Einstellung ist eine Spielart dieses fragwürdigen Verständnisses von Nächstenliebe, das selbst durch die Ereignisse vom 11. September 2001 nicht erschüttert werden konnte. Die Protagonisten der «verordneten Fremdenliebe» machen sich mehr Sorgen um die Gefahr eines «Feindbildes Islam» als um die Bedrohung der demokratischen Freiheit durch den islamischen Fundamentalismus. In diesem Sinne suchen diese deutschen Gutmenschen die Schuld für die Attentate vom 11. September nicht bei den Tätern, den islamischen Fundamentalisten, sondern im Westen und in der Globalisierung. Hier zeigt sich das bekannte Muster von Schuldzuweisungen der Islamisten und Selbstbezichtigung der Europäer. Dies erklärt, warum der Islamismus in Deutschland gedeiht; hierzulande kann er mit den deutschen Intellektuellen als Befürwortern uneingeschränkter Toleranz rechnen. Zu dieser falsch verstandenen Toleranz gehört das Schweigen über die Diskriminierung von Frauen durch die Islamisten. Hinzu kommt folgender Mißbrauch: Bekanntlich bringt eine Ehe mit einer Deutschen den Islamisten die erwünschte Rechtssicherheit. In einem Spiegel-Report von zwei deutschen Autoren wird berichtet, daß selbst der «Finanzminister» Bin Ladens bei seiner Verhaftung 1998 angab, «er wolle eine deutsche Frau heiraten, und zwar sehr dringend». Später lesen wir in diesem Bericht die Erklärung, daß bei den Islamisten in Deutschland folgende -251-
Devise gilt: «Finde eine deutsche Frau. Die Vorteile: Arbeitserlaubnis, unbegrenztes Bleiberecht nach zwei Jahren Ehe und die Möglichkeit, einen deutschen Paß zu beantragen, mit dem es sich problemlos reisen läßt. Die Frauen geraten dabei freilich oft in moderne Sklaverei... deutsche Ehefrauen dienen als perfekte Tarnung.»34 In diesem Bericht werden zahlreiche Beispiele für solche Frauen angeführt, von denen nur «wenige den Absprung schaffen: Sie müssen kochen, beten, putzen und sich mit langen Gewändern bedecken» (ebd.). Dies gehört zu den Auswüchsen der Selbstverleugnung. In Deutschland mußte ich die schmerzliche Erfahrung machen, daß die eingangs kritisierten, weltfrommgesinnungsethisch orientierten deutschen Intellektuellen nicht meine Bündnispartner sind bei der Verteidigung der Demokratie gegen Rechtsradikale und Totalitaristen, aus welcher Kultur sie auch kommen. Eine Ausnahme bildet zum Beispiel Alice Schwarzer, die sich nicht nur als sensibler erweist, sondern auch als verständnisvoller in bezug auf die Gefahren für die Demokratie wie auch für die Stellung der Frau. Diese demokratische Publizistin gehört zu den Bündnispartnern bei der Aufklärung über den Islamismus.35 Als Grund dafür, daß die deutschen Intellektuellen keine Differenzierung zwischen den Fremden zulassen, wird die Vergangenheit ins Spiel gebracht. Die Problematik der deutschen Identität nach dem Holocaust36 ist mir bestens bekannt. Aus den Schandtaten von 1933 bis 1945 erwächst für viele Deutsche eine moralische Verpflichtung, sich für andere Kulturen zu öffnen. Diese Öffnung sollte jedoch keinesfalls dem Fundamentalismus zugute kommen. Die historischen Sonderwege Deutschlands dürfen nicht in einer neuen Form wiederkehren, denn sie waren stets mit einem Höchstmaß an Provinzialismus gegenüber dem Rest der Welt verbunden. Das, was ich in Deutschland nach dem 11. September 2001 beobachte, ist alarmierend. Zu den deutschen Sonderwegen -252-
gehörte die Umkehrung des Antisemitismus in Philosemitismus nach 1945. In unserer Gegenwart ist die Parallele dazu die Verwandlung der Fremdenfeindlichkeit in «verordnete Fremdenliebe» bzw. die der Islamophobie in Islamophilie. Eine Normalität im Umgang mit dem Fremden als Ausdruck des anderen erfordert eine demokratische und weltoffene politische Einstellung, welche die Toleranz gegenüber anderen Kulturen mit der Pflicht, zu den Prinzipien der Aufklärung zu stehen, verbindet. Genauso wie es auf der einen Seite demokratische und auf der anderen Seite rechtsradikale Deutsche gibt, haben auch Muslime unterschiedliche Gesinnungen. Muslime bilden keine monolithische Gesamtheit. Der Fremde kann Demokrat, aber auch Rechtsradikaler sein. In der islamischen Zivilisation läßt sich eine große Vielfalt feststellen, die verschiedenen Ausprägungen lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Kurzgefaßt: Auch im Islam gibt es einen Rechtradikalismus, und dieser heißt islamischer Fundamentalismus.37 Ein Grund für das Schweigen der deutschen Intellektuellen über den Rechtsradikalismus der Fremden ist nicht zuletzt ihr Selbsthaß, wonach das «Böse» nur bei einem selbst zu suchen ist. Cora Stephan wirft die Frage auf, «warum sich deutsche Intellektuelle so schwertun, die Ideale des Westens zu verteidigen».38 Jede Kritik am Fundamentalismus wird mit der argumentativen Keule «Feindbild Islam» herabgewürdigt. Der Islam ist jedoch wie gesagt sehr vielfältig, so schließt er gleichermaßen Toleranz und Intoleranz ein. Als eine spirituelle Religion ist er indes keine politische Denkweise. Im Gegensatz dazu ist der Islamismus als Spielart des religiösen Fundamentalismus eine totalitäre Ideologie mit rechtsradikalen Zügen, der man nicht erlauben darf, Kapital aus einer Öffnung Deutschlands für andere Kulturen zu schlagen. Als die Zeitschrift des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die -253-
Gewerkschaftlichen Monatshefte, 1993 das Themenheft «Deutschland nach Solingen» (GMH, 8/1993) vorbereitete, wurde ich gleichermaßen in meiner Eigenschaft als Muslim sowie als ein in Deutschland lebender Fremder eingeladen, an diesem Heft als Autor mitzuwirken. Meine Bedingung für eine Beteiligung war, nicht nur über deutsche Rechtsradikale, sondern auch über Islamisten, die in dieselbe Kategorie gehören, offen schreiben zu können. Dieser Bitte wurde entsprochen.39 Ohne den wichtigen Unterschied zwischen Islam und Islamismus hervorzuheben, können die Deutschen keine Integration islamischer Einwanderer, die eine Herausforderung an die deutsche Demokratie stellt, erreichen. Der Islamismus sucht diese zu verhindern, er fördert die Integrationsunwilligkeit.
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4. Die Öffnung für andere Kulturen soll nicht wertebeliebig sein - für den Fundamentalismus gilt sie nicht Ohne entsprechende Basisinformationen über andere Kulturen kann keine aufrichtige Öffnung erfolgen. Von dieser Öffnung darf der Fundamentalismus als eher politische Erscheinung nicht profitieren. Der religiöse Fundamentalismus kommt in allen Weltreligionen und nicht nur in der Welt des Islam vor. Der Islamismus bietet allerdings weit mehr Stoff für die Analyse von Konfliktpotentialen als irgendeine andere fundamentalistische Strömung. Der wichtigste Grund dafür besteht darin, daß diese neue Ideologie eine weltpolitisch relevante Form einer politisierten Religion angenommen hat. Der Fundamentalismus im Islam beruft sich darauf, eine Religion zu sein, die uneingeschränkte universelle Gültigkeit besitzt. Wenn diese Weltanschauung politisiert wird, geht daraus ein Anspruch auf eine islamische Weltordnung hervor.40 Mit diesem Neoabsolutismus ist kein Kulturdialog möglich, weil Öffnung hier Selbstaufgabe bedeutet. In keiner der autoritativen islamischen Quellen finden wir ein politisches Weltordnungskonzept. Der islamische Fundamentalismus schuf das neoislamische Konzept der Gottesherrschaft/Hakimiyyat Allah als Grundlage für ein Herrschaftsmodell, das für die ganze Welt Gültigkeit beansprucht. Dieses Konzept wurde vom geistigen Vater des islamischen Fundamentalismus Sayyid Qutb zu einer islamischen Weltordnung weiterentwickelt. Im vorangegangenen Kapitel habe ich gezeigt, wie Bin Laden sich diese politische Ideologie angeeignet hat, um seine Herausforderung zu begründen. Bedeutet die Öffnung für andere Kulturen, daß Europäer ohne eine Differenzierung zwischen Islam und Islamismus diese weltpolitischen Ansprüche -255-
wertebeliebig hinnehmen sollten? Die Unterscheidung zwischen Muslimen und Islamisten, die als Aufklärungsarbeit gilt, wird von Islamisten kritisiert. In Deutschland behaupten die Repräsentanten des organisierten Islam, unter denen viele Anhänger des politischen Islam sind, daß es nur einen Islam, nämlich den, welchen sie vertreten, gäbe. Dabei wird nicht nur die angeführte Unterscheidung geleugnet, es wird auch jede Vielfalt im Islam zurückgewiesen. Der Islamismus ist eine neuere Erscheinung. Wenn von manchen Islamisten und von «Experten» behauptet wird,41 daß es im Islam keinen Fundamentalismus gäbe, dann handelt es sich schlicht um Propaganda. Die Islamisten selbst benutzen diese Aussage auch in der deutschen Islam-Diaspora.42 Die Djihad-Terroristen vom 11. September waren Fundamentalisten, aber nicht jeder Fundamentalist ist ein Terrorist. Die friedlichen Islamisten (z. B. in der Türkei) sind jedoch in der Minderzahl. Historisch betrachtet, haben die Muslime nach der islamischen Religionsstiftung Eroberungskriege als Futuhat/Öffnungen (das heißt Öffnung der Welt für den Islam) geführt. Christen und andere Europäer übersetzen das Wort Djihad mit «Gewaltanwendung» und «Krieg», ähnlich wie heutige Islamisten dies gemäß ihrem Verständnis tun. Dennoch ist es falsch, Djihad mit «heiliger Krieg» zu übersetzen, weil der Begriff laut Koran «Anstrengung» zur Verbreitung der Religion bedeutet. Redlicherweise muß eingeräumt werden, daß der praktizierte Djihad Gewaltanwendung einschloß. In der islamischen Geschichte hat Djihad die Form des Eroberungskrieges zur Islamisierung der Welt angenommen.43 In unserer Gegenwart verstehen islamische Fundamentalisten unter Djihad ausschließlich den gewaltsamen Kampf für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele; sie legitimieren ihre Gewaltanwendung islamisch, obwohl nicht alle - wie angemerkt - damit Terrorismus meinen. Dennoch gehen Islamismus, Terror -256-
und Gewalt bei der Einführung der «Gottesherrschaft» Hand in Hand. Die Kriegserklärung vom 11. September 2001 in New York und Washington war eine Veranschaulichung dieser fundamentalistischen Deutung des Djihad: der Neo-Djihad der modernen Zeit. In der Diaspora verstehen Islamisten unter Djihad allerdings eher eine langfristige Politik der Islamisierung. Der Absolutismus der Fundamentalisten, der die Trennung zwischen Religion und Politik, welche die kulturelle Moderne mit sich gebracht hat, vehement ablehnt, macht jede kulturelle Öffnung ihnen gegenüber schwierig. Die Gottesherrschaft soll gleichermaßen durch Gewalt und durch Entsäkularisierung verwirklicht werden. Die Politisierung der Religion und die Zurückweisung der kulturellen Moderne treten in der Welt des Islam besonders deutlich zutage. Der Islamismus lehnt die Säkularität als eine aus dem Westen eingeführte Lebensform ab, ebenso westliche, aus dem Westfälischen Frieden44 hervorgegangene Ordnungsvorstellungen. Gegenüber politisierten Religionen darf deshalb nicht unbegrenzt Toleranz im Rahmen eines religiösen Pluralismus geübt werden. Statt dessen ist eine Aufklärung über die Gefahren für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen notwendig. Dieser Bedarf besteht vor allem angesichts der innerhalb der deutschen Islam-Diaspora lebenden Islamisten, die im Namen von Toleranz und Öffnung gegenüber anderen Kulturen offensiv Anerkennung für ihr Verständnis von der Bindung der Politik an religiöse Weltanschauungen verlangen. Der Islam in Deutschland muß sich mit einer säkularen Gesellschaft anfreunden. Dies gehört zur europäischen Leitkultur, die Pluralismus, aber keine Wertebeliebigkeit zuläßt. Wenn bestimmte Deutsche eine Leitkultur für Deutsche und Migranten ablehnen, müssen sie in der Konsequenz die Leitkultur der Islamisten, die als eine Gegenoption zur demokratischen Leitkultur steht, hinnehmen.45 -257-
Bei der Forderung, Religion und Politik im Sinne der Islamisten zu deuten, sollten die Europäer sich der Lehren aus den Religionskriegen und der historisch auch für andere Kulturen relevanten Erfahrungen des Westfälischen Friedens erinnern. Aus diesen Erfahrungen wissen wir, daß Säkularität ein Bestandteil des Religionsfriedens war, der wiederum die Basis für den politischen Frieden schuf. Entsäkularisierung beinhaltet die Ablehnung alles Westlichen, ist also gleichzusetzen mit dem Bestreben nach einer Entwestlichung der Welt und bedeutet somit eine Gefahr für den Frieden. Der Gegenentwurf der Fundamentalisten zu den säkularen Ordnungen auf nationaler und internationaler Ebene ist der Gottesstaat, welcher weder Pluralismus noch Glaubensfreiheit zuläßt. Das Konzept der Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft ist eine Erfindung der Islamisten und kommt im Koran nicht vor. Die Vertreter dieses Entwurfs einer religiösen Ordnung lehnen die Demokratie ab und erzeugen Unfrieden unter den Muslimen. Solange die Muslime in Europa in der Minderheit sind, beschränken sich die Islamisten darauf, innerhalb von Parallelgesellschaften zu agieren und somit die Integration von Muslimen in ein europäisches Gemeinwesen zu behindern. Ich wiederhole: Die Öffnung für andere Kulturen schließt Toleranz gegenüber diesem religiösen Neo-Absolutismus definitiv aus. Eine absolutistische Ideologie verträgt sich nicht mit einem demokratischen Pluralismus. Einige deutsche Islam-Experten behaupten, daß Fundamentalismus im Islam nicht einmal als Wort in der arabischen Sprache existiere (vgl. Anm. 41). Die Wahrheit ist jedoch, daß das arabische Wort Usuliyya/Fundamentalismus46 ein in den Schlagzeilen der arabischen Presse tagtäglich anzutreffender Begriff ist. Andere Termini zur Bezeichnung dieses Phänomens sind al-Islam alsiyasi/der politische Islam oder al-Islamawiyya/Islamismus. All diese Bezeichnungen dienen dazu, die Ideologie des Islamismus von der Religion -258-
Islam zu differenzieren. Der Islam ist vierzehn Jahrhunderte alt,47 der islamische Fundamentalismus hingegen weitgehend eine Erscheinung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fundamentalismus in der Islam-Diaspora ist ein Import aus der Welt des Islam. Die erste fundamentalistische Bewegung, die Bewegung der Muslimbrüder, wurde 1928 in Kairo gegründet.48 Es gibt zwei Großmoscheen in Deutschland, wo diese Bewegung vertreten wird. Der Islamismus nimmt in der deutschen Islam-Diaspora stark zu und nutzt die gescheiterte Integration49 aus, um die Bildung von Parallelgesellschaften zu fördern. Es gibt Beobachter, die die Meinung vertreten, der Fundamentalismus sei eine vorübergehende Erscheinung. Im Gegensatz zu ihnen bin ich der Ansicht, daß der Fundamentalismus uns weit in das 21. Jahrhundert hinein begleiten wird. Das fragwürdige Buch von Gilles Kepel Déclin de l'Islamisme (Paris 2000) war bereits bei seinem Erscheinen im Jahr 2000 Makulatur, was die Ereignisse vom 11. September 2001 verdeutlichten. Die Präsentation der deutschen Ausgabe als Schwarzbuch Djihad ist eine Irreführung deutscher Leser, die sich für den Islam interessieren.
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5. Fundamentalismus in der islamischen Diaspora-Kultur Islamisten werden in der Welt des Islam politisch verfolgt; sie kommen nach Europa und suchen nicht nur Schutz, sondern auch Freiraum für ihre Politik. Die Nutzung der Demokratie für fundamentalistische Aktivitäten in der Diaspora macht aus Islamisten keine Demokraten. Also kurz: Fundamentalismus kommt aus der Welt des Islam, aber er gedeiht auch in der Diaspora-Kultur. Arabische und andere islamische Regierungen, vor allem die ägyptische, werfen den westlichen Staaten eine Doppelmoral vor, wenn sie einerseits den Fundamentalismus verdammen und andererseits Islamisten und ihren Führern Asyl gewähren. Es hat zum Beispiel im Sommer des Jahres 1997 in London Bemühungen zur Gründung einer «Islamischen Internationalen» gegeben; auf Druck aus der Welt des Islam untersagte die britische Regierung jedoch die Gründungskonferenz. Trotzdem gibt es in London eine institutionelle Zentrale, die «Internationale der Islamisten», welche aufgrund des Verbots ihres Gründungsvorhabens durch die britische Regierung nur ihren Namen änderte. Erst mit der Verabschiedung des britischen Anti-Terrorism-Act vom Frühjahr 2001 wurde in Großbritannien eine rechtliche Grundlage dafür geschaffen, die Islamisten zu verfolgen. Darauf folgte ein weiteres Antiterrorgesetz im Dezember desselben Jahres. Auf der Terrorismuskonferenz des Bundeskriminalamtes (BKA) identifizierte dessen Präsident die «Internationale der Islamisten» als «Internationalen Kampfbund gegen Kreuzzügler und Juden». Schon dieser Titel verrät ein «Feindbild Westen» und den Antisemitismus. Hier darf es keinen Raum für Toleranz geben. Vor dem 11. September - und in bestimmten Kreisen bis heute - wurde Aufklärungsarbeit über die Ausnutzung der Islam-260-
Diaspora durch die Islamisten mit dem Vorwurf, «Angst vor dem Islam zu schüren», verfemt. Ungeachtet der Existenz des angeführten Kampfbundes ist es eine Tatsache, daß Islamisten untereinander stark zerstritten sind und ihrer eigenen Intoleranz zum Opfer fallen. So nennen sie Andersdenkende auch aus ihrem eigenen Kreis Kuffar/Ungläubige und trachten ihnen mitunter nach dem Leben. Algerien, Afghanistan und Ägypten bieten dafür die besten Beispiele. Besonders in Algerien50 fällt auf, daß Fundamentalisten den Kampf gegen «die Feinde Gottes», das heißt gegen den Westen und seine islamischen Verbündeten, proklamieren, in Wirklichkeit aber keine Westler, denn diese befinden sich außerhalb ihrer Reichweite, sondern vorwiegend die Frauen und Kinder ihrer muslimischen Gegner töten. Die Zahlen belegen es: Opfer der Islamisten sind weltweit vorwiegend Muslime. Allein in Algerien beträgt die Zahl ca. 150 000. Die Taliban übertrafen ihre algerischen Brüder im Morden noch bei weitem, bis der Krieg von 2001 die Afghanen von dieser Herrschaft befreite. Viele Opfer der Fundamentalisten fliehen in den Westen, um zu überleben. In Algerien und anderswo in der Welt des Islam gehören vorrangig Frauen zu diesen Opfern.51 Die Intoleranz der Fundamentalisten erstreckt sich jedoch bis in die europäische Islam-Diaspora, von wo aus der Anschlag vom 11. September 2001 durch al-Qaida vorbereitet wurde. Der Hinweis, daß Fundamentalisten innerhalb der Islam-Diaspora eine Minderheit bilden, darf weder als Entwarnung dienen noch zu ihrer Unterschätzung verleiten. Im vorangegangenen Kapitel konzentrierte sich meine Analyse auf die weltpolitische Vernetzung des Fundamentalismus. Hier steht die Integration muslimischer Migranten in ein demokratisches Gemeinwesen als die beste Friedenspolitik und die geeignete Waffe im Mittelpunkt, um gegen die Gewalt der Islamisten in der Diaspora vorzugehen. Islamisten versuchen, die Feindschaft gegenüber dem Westen in -261-
der Diaspora mit dem Ziel zu schüren, die daraus resultierenden Konfliktpotentiale für sich auszunutzen. Zu diesen antiwestlichen Gefühlen gehört der Antiamerikanismus. Deutsche Gesinnungsethiker müssen wissen, daß sie sich mit ihrer antiamerikanischen und ihrer feindlichen Haltung gegenüber der Globalisierung in das Lager der Islamisten begeben. In dieser Krisensituation empfehle ich in der Islam-Diaspora den Dialog mit dem liberalen Islam und eine Bekämpfung des islamischen Fundamentalismus: Toleranz dem Islam, wehrhafte Demokratie dem Islamismus. Angesichts der Versuche der Islamisten, die Islam-Diaspora im Westen zu vereinnahmen, ist das Phänomen auch für diejenigen von Bedeutung, welche sich für die Problematik der Migration aus der Welt des Islam interessieren. Im Prozeß des interkulturellen Dialoges müssen Wege für eine friedliche Zukunft gesucht werden. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der es Menschen aus einer Vielfalt von Kulturen und Religionen gibt, ist deren Integration die zentrale Aufgabe der Zivilgesellschaft. Integrationsfeindlichkeit und Ghettobildung bergen Gefahren für die Demokratie und das friedliche Zusammenleben. Die verordnete Fremdenliebe in Deutschland und die Propaganda vom «Feindbild Islam» dürfen nach dem 11. September 2001 nicht mehr unwidersprochen als Camouflage für islamische Fundamentalisten dienen. Im folgenden will ich zeigen, wie sehr die islamischen Fundamentalisten vor dem 11. September 2001 Deutschland als logistische Basis und Ruhezone mißbrauchen konnten, indem sie die Tarnung, welche ihnen die deutschen Gutmenschen boten, in Anspruch nahmen. Anders als bei den bisher bekannten Formen des Guerillakrieges ist das Hinterland des irregulären Krieges der Islamisten vielfältig und zudem global vernetzt. Die wichtigste logistische Basis islamischer Fundamentalisten befindet sich in Europa, vorrangig in -262-
Deutschland (vgl. Newsweek vom 5. November 2001). Migration und Diaspora bieten neue Domänen. Die Auswahl erfolgt jeweils nach eigenem Gutdünken der Terroristen und gegen den Willen des betreffenden Landes. Man vermutet, daß ca. 60 Länder - darunter in einer Spitzenposition die Bundesrepublik Deutschland - der al-Quaida-Organisation als logistisches Hinterland dienen. Drei der 19 Islamisten, die den Kriegsakt vom 11. September 2001 ausführten, kamen aus Deutschland: Mohammed Atta, Marwan al-Schehhi und Ziad Jarrah. Weitere drei steckbrieflich gesuchte Hintermänner kamen aus Hamburg; sie sind islamische Zuwanderer, von denen zwei sogar die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wie z.B. der Marokkaner Said Bahaji. Die New York Times kritisierte, daß die Deutschen sich hinter den Schandtaten ihrer Vergangenheit versteckten, um ihre grenzenlose Toleranz zu begründen, die bisher auch die Duldung von Terroristen einschloß, und daß sie damit einen «safe haven/Freiraum» für terroristische Aktivitäten böten (vgl. Anm. 5). Es sei den Deutschen überlassen, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehen, doch wenn im Rahmen dieser neuen deutschen Art von Toleranz andere Länder betroffen sind, haben diese das Recht, bei Sicherheitsfragen mitzureden. Es ist Experten bekannt - und dies wird auch von den deutschen Sicherheitsbehörden nicht explizit bestritten -, daß es vor dem 11. September 2001 eine Art «stillschweigende Übereinkunft» gab, auf deren Grundlage die deutschen Behörden bei Islamisten ein Auge zudrückten und dafür die Gewähr erhielten, daß in Deutschland keine Terroranschläge verübt würden. Es geht also gar nicht so sehr um «deutsche Toleranz», sondern vielmehr um Eigennutz. Nach dem 11. September 2001 ist dies nicht mehr tragbar. Ein Problem stellen hier sowohl die deutschen Behörden als auch die deutschen Intellektuellen dar, denn beide erkennen die Zusammenhänge in Deutschland nicht. Letztere neigen dazu, Täter und Opfer zu -263-
verwechseln, und pflegen ihren Antiamerikanismus. Oft hört man von ihnen unverblümt, die Amerikaner und ihre Globalisierung seien an den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001 schuld. Die Migration, die zur Globalisierung gehört, wird zu einem Aspekt der westlichen Sicherheitspolitik, wie der inzwischen verstorbene Migrationsforscher Myron Weiner in seinem Werk über Zuwanderung schon früh erkannte.52 Nachdem bekannt wurde, daß die Täter vom 11. September 2001 nach Deutschland Zugewanderte waren, fließend Deutsch sprachen und zum Teil deutsche Pässe hatten, wird man nicht mehr sagen können, daß Integration allein auf das Erlernen der deutschen Sprache und auf die Einbürgerung beschränkt ist. Um dem Mißbrauch der Diaspora-Kultur vorzubeugen, ist es erforderlich, daß Migranten innerhalb einer europäischwestlichen Leitkultur sozialisiert werden. Erfolgt dies nicht, kann es keine wirkliche Integration geben. An dieser Erkenntnis werden die Multikulturalisten nicht vorbeikönnen. In Deutschland benötigen wir eine Leitkultur gegen den Fundamentalismus innerhalb der Islam-Diaspora. Aus diesem Grund werde ich dieses Kapitel mit einer Debatte über den Multikulturalismus abschließen. Der irreguläre Krieg der Islamisten zwingt zu neuem Denken und neuer Politik. Hier agieren keine organisierten Armeen, sondern kleine Terrorgruppen, die aus dem Hinterhalt angreifen. In diesem Zusammenhang ist die Islam-Diaspora in Deutschland als Hinterland für die Logistik dieses Krieges mißbraucht worden. Es ist nicht möglich, mit den alten Methoden darauf zu reagieren. Im Falles des irregulären Krieges weiß man nie genau, wer der Feind ist, wo er sich aufhält und wann er zuschlägt. Die Erforschung von Migration und Diaspora-Kultur wird im Sinne von Myron Weiner um die Sicherheitsproblematik erweitert werden müssen. Es gilt, die logistischen Basen der Terroristen in Deutschland auszumachen -264-
und die Quellen ihrer Unterstützungsnetze auszutrocknen. Die von Bundesinnenminister Otto Schily verfolgte Politik, die inzwischen Gesetzescharakter hat, erfüllt diese Aufgabe. Schily, dem der Vorwurf, «polizeistaatliche Methoden» einführen zu wollen, gemacht wurde, behielt recht,53 und das deutsche Parlament folgte ihm mehrheitlich. Wenn es den Islamisten vor dem 11. September nicht möglich gewesen wäre, sich in der Islam-Diaspora in den Niederlanden, in Schweden und vor allem in Deutschland uneingeschränkt zu bewegen, hätten sie eine solche Tat wie die am 11. September 2001 nicht ausführen können. Wären die deutschen Sicherheitsbehörden nicht selbst «Schläfer», sondern ihrer Aufgabe gewachsen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, hätten die Dinge einen anderen Verlauf genommen.54 Man muß versuchen, die Logistik der terroristischen Islamisten mit rechtsstaatlichen Mitteln lahmzulegen. Dazu ist eine langfristige Strategie erforderlich, die aber vielversprechender und substantieller ist als eine Politik der Polarisierung und Bombardierung. Ich kann diesen Abschnitt nicht abschließen, ohne die angespannte Beziehung zwischen dem Islam und dem Westen als Zivilisation mit den jeweiligen Feindbildern anzusprechen. Manche vermuten, daß ein Krieg der Religionen beziehungsweise der Zivilisationen entfacht werden könnte. Es ist wichtig, darüber aufzuklären, daß der Islam Terror, das heißt Gewalt aus dem Hinterhalt, vor allem gegen unschuldige Frauen und Kinder, sowie Selbstmord verbietet. Islamische Terroristen handeln daher nicht im eigentlichen Geiste des Islam; der Islamismus verschafft sich jedoch durch seinen selektiven Rückgriff auf den Islam eine islamische Legitimation. Eine entsprechende Wirkung auf die Islam-Diaspora muß bei gleichzeitiger Aufklärung über die Gefahren von Feindbildern verhindert werden. Auch wenn wir den Islamisten nicht erlauben, das «Feindbild Islam» als propagandistische Waffe zu verwenden, dürfen wir nicht übersehen, daß es in Deutschland in -265-
der Tat ein «Feindbild Islam» gibt. Solche Feindbilder müssen unter Kontrolle gehalten werden und dürfen nicht zur Ausgrenzung der Muslime dienen.
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6. Demokratische Integration als Politik gegen den Fundamentalismus in der Islam-Diaspora Eine Politik der Aufklärung über den Islamismus in Zusammenarbeit mit muslimischen Migranten in Deutschland kann helfen, auf der Basis der Integration jede Ausgrenzung zu verhindern. Doch müssen wir an die Islam-Diaspora auch Forderungen stellen, an deren erster Stelle die Loyalität zur säkularen Demokratie steht. Dies möchte ich im folgenden am Beispiel Deutschlands und der arabischen Muslime nach dem 11. September 2001 erläutern, ehe ich abschließend zu meinen Überlegungen zum Fundamentalismus und Multikulturalismus übergehe. Die Terroristen von New York und Washington waren alle arabische Islamisten, die ebenso wie ihre Hintermänner zudem als Mitglieder der Bin-Laden-Connection identifiziert wurden. Nicht nur die westliche Solidarität mit Amerika und den Opfern des Terrorismus, sondern auch zwei andere Tatsachen dominierten in Deutschland die Diskussion über die Folgen des 11. September 2001. Die eine ist das, was Der Spiegel schon im September 2001 «Die deutsche Spur»55 nannte; zwei Monate später folgte Newsweek (vgl. Anm. 6) in der Ausgabe vom 5. November: «Islamische Terroristen lieben Deutschland». Zuvor hatte die New York Times Deutschland als «safe haven/Freiraum» für arabische Terroristen bezeichnet (vgl. Anm. 5). Die zweite Tatsache ist, daß zu der in Deutschland existierenden Islam-Diaspora von 3,5 Millionen Muslimen eine halbe Million Araber zählen. Wie können wir, ohne einem «Feindbild Islam» in die Hände zu arbeiten, den Terrorismus von der Islam-Diaspora abkoppeln? Der angesprochene Hintergrund zwingt uns dazu, das deutsch-arabische Verhältnis im Lichte des 11. September 2001 -267-
neu zu bewerten, um so beurteilen zu können, wie wir die Probleme in Zukunft anpacken sollen. In bezug auf die hier lebenden Araber und die anderen Muslime steht die Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam an vorderster Stelle, denn diese, sozusagen als Leitkultur,56 ist für Muslime die Grundvoraussetzung für ein friedliches Miteinander. Auf diese Frage gibt es zwei gegensätzliche islamische Antworten. Die eine stammt von den Islamisten, deren geistiger Vater, Abu A'la al-Maududi, hierzu schreibt: Ich sage es Euch Muslimen in aller Offenheit, daß die säkulare Demokratie in jeder Hinsicht im Widerspruch zu Eurer Religion und zu Eurem Glauben steht... Der Islam, an den Ihr glaubt und wonach Ihr Euch Muslime nennt, unterscheidet sich von diesem häßlichen System total... Selbst in Bagatellangelegenheiten kann es keine Übereinstimmung zwischen Islam und Demokratie geben, weil sie sich diametral widersprechen. Dort, wo das politische System der Demokratie und des säkularen Nationalstaates dominiert, gibt es keinen Islam. Dort, wo der Islam vorherrscht, darf es jenes System nicht geben.57 Eine versöhnlichere Antwort stammt von den ReformMuslimen und lautet: Islam und Demokratie sind bei entsprechender Interpretation vereinbar. Zu diesen ReformMuslimen gehöre ich und habe in diesem Zusammenhang mein Konzept des Euro-Islam58 entwickelt. Die Schlußfolgerung lautet nun: Im Interesse der Sicherheit der Demokratie in der Bundesrepublik sowie des friedlichen Miteinanders von Muslimen und Deutschen sollte man in Zukunft die schon angegebene Doppelstrategie verfolgen: Toleranz dem offenen europäischen Islam und wehrhafte Demokratie dem Islamismus. Eine weitere Frage betrifft den oft in den Schlagzeilen der Medien behaupteten «Kampf der Kulturen». Das ist eine falsche Formel, weil die beiden Urheber der Diskussion, Huntington in seinem Buch Clash of Civilizations und auch ich (vgl. Anm. 30), -268-
von Wertekonflikten sprechen; diese nehmen die Form eines weltanschaulichen Zusammenpralls an. Weder Huntington noch ich reden vom «Kampf der Kulturen». Wenn ich vom «Krieg der Zivilisationen» (vgl. Anm. 30) spreche, meine ich weltanschauliche Konflikte, wie zum Beispiel jene zwischen den Werten der Demokratie und denen des totalitären Islamismus. Jedoch haben Huntington und ich unterschiedliche Ausgangspositionen sowie Lösungen, obwohl wir von demselben Sachverhalt, dem Zivilisationskonflikt, ausgehen. In zwei Schritten werde ich diese Problematik auf die IslamDiaspora beziehen. Erstens stelle ich fest, daß Menschen aus unterschiedlichen Zivilisationen nicht dieselben Werte verinnerlicht haben. Muslimische Migranten kommen aus einer anderen Zivilisation. Der Islam ist eine einheitliche Zivilisation, die jedoch in zahlreiche Kulturen mit jeweils eigenen Weltanschauungen unterteilt ist. Es ist blind und töricht zu behaupten, zwischen westlichen und islamischen Weltanschauungen gäbe es weder Unterschiede noch Konflikte. Dies wäre eine weltfremde deutsche Gutmensch-Ideologie, da genau das Gegenteil Wirklichkeit ist. Im Lichte der Ereignisse des 11. September 2001 müssen wir zentrale kulturelle Differenzen erkennen, um sie friedlich zu bewältigen und mit ihnen angemessen umgehen zu können. Diesbezüglich besteht zwischen Huntington und mir weitgehende Übereinstimmung in Teilen der Analyse, nicht aber in den Schlußfolgerungen. Mein Plädoyer ist einem Brückenschlag zwischen den Kulturen gewidmet, der eine friedliche Konfliktaustragung einschließt. Bei der Migrationsproblematik heißt dies demokratische Integration. Im übrigen unterscheidet Huntington nicht zwischen Islam und islamischem Fundamentalismus. Das ist hier jedoch - wie der Leser bereits weiß - sehr zentral. Zur Toleranz gegenüber dem Islam bzw. der Islam-Diaspora gehört nicht, auf zentrale Werte wie Demokratie sowie die Trennung von Religion und Politik zu -269-
verzichten. Zweitens will ich fragen, ob der Multikulturalismus uns Wege für den Umgang mit dem Fundamentalismus zeigen kann. In seiner ursprünglichen amerikanischen Version bedeutete Multikulturalismus die nichtkonditionale Zulassung der kulturellen Differenz sowie das Einräumen eines «free space/Freiraums» für deren Ausübung.59 Nach dem 11. September steht dieses Verständnis von Multikulturalismus vor einer großen Herausforderung, ja es wird abgelehnt. Seitdem wird über diesen Gegenstand60 in den USA intensiv nachgedacht. Zunächst möchte ich den Multikulturalismus sowie den ihm zugrundeliegenden Kulturrelativismus im Lichte des Massenmordes vom 11. September aus der Perspektive meiner Fundamentalismus-Kritik neu bewerten. Ich beginne mit der Geschichte des Begriffes: In den USA wurde der Multikulturalismus in den vergangenen Jahrzehnten zur geistigen Mode, weil Migranten aus Asien und Afrika neue Fragen der Integration aufwarfen und Herausforderungen an das Gemeinwesen stellten. Die besondere Tragik der Anschläge von New York und Washington besteht darin, daß diese von Menschen verübt wurden, die westliche Freiheiten nutzten, um ihr menschenverachtendes Vorhaben zu realisieren. Es ist wichtig, auf folgenden Unterschied hinzuweisen: Multikulturalismus ist nicht gleichbedeutend mit kulturellem Pluralismus, das heißt der Akzeptanz kultureller Vielfalt im Rahmen gewisser Spielregeln.61 Im Gegensatz dazu liegt dem Multikulturalismus eine Wertebeliebigkeit des «anything goes» zugrunde, nach der jeder einzelne das Recht hat, nach seiner Façon selig zu werden. In der Sprache der Multikulturalisten heißt dies, daß jeder seine kulturelle Identität ausleben und auf dieser Basis uneingeschränkt handeln darf, wie ich bereits in meinem Buch Europa ohne Identität? (vgl. Anm. 16) gezeigt habe. Die Folge dieser Einstellung sind Parallelgesellschaften, -270-
also Zuwanderung ohne Integration. Es lohnt sich zudem, den Unterschied zwischen dem Begriff des Multikulturalismus und dem des kulturellen Pluralismus zu vertiefen. Der kulturelle Pluralismus sichert den Migranten Respekt vor ihrer Kultur sowie Religionsfreiheit zu, verpflichtet sie jedoch zur Anerkennung von Spielregeln und Werten, welche die Identität des Westens ausmachen. Vertreter des Multikulturalismus lehnen dies mit dem Argument ab, daß man die Migranten damit am Ausleben ihrer kulturellen Identität hindere, und untermauern ihre Position mit kulturrelativistischen Begründungen. Kulturrelativismus ist zwar ein akademisches Fremdwort, trifft allerdings den Nerv der Alltagskultur im Westen. Der Begriff unterstellt, daß die Werte jeder Kultur auch der europäischen - nur relativ, das heißt in ihrem jeweiligen Kontext, gelten. Die Werte der westlichen Zivilisation seien demzufolge nicht auf Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund übertragbar, auch dann nicht, wenn diese als Migranten im Westen leben. Wird man diese Aussage für Einwanderer aus dem islamischen oder einem anderen Teil der Welt nach dem 11. September aufrechterhalten können? Um diese Frage angemessen zu beantworten, erläutere ich meinen Lesern im folgenden die Problematik der Einwanderung anhand des schon zitierten bedeutenden Werkes von Myron Weiner (vgl. Anm. 52), in dem er die Sicherheitspolitik jenseits jeder Romantisierung der Zuwanderung anspricht. Der renommierte Migrationsforscher Myron Weiner, der bis zu seinem Tod an der amerikanischen Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology lehrte, war selbst Migrant. Er gehörte einer jüdisch-baltischen Familie an, die unter der NS-Terrorherrschaft nur durch Migration in die USA dem Tode entkam. Im Gegensatz zu den deutschen Migrationsromantikern, die in Anbetracht positiver Aspekte, zum Beispiel einer multikulturellen Gastronomie, die -271-
Problematik der Zuwanderung verkennen, war Myron Weiner ein Verantwortungsethiker. In seinem bedeutenden Werk The Global Migration Crisis hebt er die Vorzüge der Migration hervor und zeigt, wie sehr diese die amerikanische Gesellschaft bereicherte. Allerdings wies er bereits Jahre vor dem 11. September 2001 darauf hin, daß Migration auch negative Seiten habe und Gefahren berge. Die Zuwanderer bringen nicht nur andere Werteorientierungen, sondern auch die Probleme der Herkunftsländer in die Aufnahmeländer mit. In bezug auf die Welt des Islam ist dies die Einfuhr ethnischer Konflikte und des religiösen Fundamentalismus. Myron Weiner, der dies erläutert, schlußfolgert, daß zur Erforschung der Migration auch die Beschäftigung mit Fragen der Sicherheitspolitik gehört. In vielen Forschungprojekten über Security Studies habe ich in den USA gelernt, daß zu diesem Bereich nach dem Ende des Kalten Krieges auch nichtmilitärische Probleme zu zählen sind, wie etwa Wertekonflikte und Fundamentalismus. Eine der wichtigsten Schlußfolgerungen des Einwanderungslandes USA als führender westlicher Demokratie ist nun die Erkenntnis, daß alle bisherigen Bestimmungen bezüglich der Migration neu geregelt werden müssen. Gegner des Westens sollen in Zukunft nicht mehr jene Freiheit genießen dürfen, die es ihnen ermöglicht, der westlichen Zivilisation einen solch brutalen Schlag zu versetzen. Die Sendungen des amerikanischen Fernsehsenders CNN blendeten nach dem 11. September die Schlagzeile «America at War/Amerika im Krieg» ein. Entgegen der Bewertung eines deutschen Psychoanalytikers in einer Fernsehsendung haben an diesem Tag keine Verrückten gehandelt, sondern Islamisten, die ihrer religiöspolitischen Ideologie folgten. Nach ihrer Interpretation haben die Attentäter einen Kriegsakt des Djihad gegen die westliche Welt ausgeführt. Hierbei handelt es sich allerdings um eine falsche Auslegung des im Koran enthaltenen Begriffes Djihad, der in der -272-
eigentlichen Wortbedeutung als «Anstrengung» übersetzt werden muß und die Tötung von Unschuldigen verbietet. Können wir solche fundamentalistischen Strömungen im Westen im Rahmen der Migration zulassen? Seit dem 11. September erfolgt in Amerika und in der übrigen westlichen Welt nach der zu erwartenden Änderung der Einwanderungsbestimmungen auch eine intellektuelle Revision des Multikulturalismus sowie des ihm zugrundeliegenden Kulturrelativismus. Islamisten haben bisher die kulturrelativistische Position der Multikulturalisten als Schwäche wahrgenommen; sie behaupten abwertend, daß die Christen im Namen der Nächstenliebe auch noch die zweite Wange hinhielten, nachdem man ihnen einen Schlag auf die erste erteilt habe. In Amerika trifft diese Annahme der Islamisten nicht zu, und auch in Europa findet ein Wandel statt, wenngleich viel langsamer. Dieses Kapitel über die innenpolitische Dimension der fundamentalistischen Herausforderung möchte ich mit der Wiederholung meiner These abschließen, daß der Islam eine Religion ist, der Islamismus dagegen die wichtigste antiwestliche Ideologie im post-bipolaren Zeitalter des 21. Jahrhunderts darstellt und daß zwischen beiden unterschieden werden muß. Es ist möglich, daß die westliche Zivilisation einen Dialog mit dem Islam unter Bewahrung ihrer eigenen Identität führt. Eine Antwort auf den Islamismus kann hingegen nur im Rahmen von Sicherheitspolitik gegeben werden. Ich fasse das Ergebnis meiner Diskussion zusammen: Der Multikulturalismus und der ihm zugrundeliegende Kulturrelativismus sind sowohl für den Umgang mit der Religion des Islam als auch mit der politischen Ideologie des Islamismus als Herausforderung an die westliche Zivilisation gänzlich ungeeignet.
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VII. DER ZIVILISATIONSKONFLIKT ALS WETTSTREIT DER MODELLE: FUNDAMENTALISTISCHER SCHARI'A STAAT VERSUS SÄKULARDEMOKRATISCHER STAAT Unbestritten ist, daß die anti-westlichen Vorstellungen vieler nicht-fundamentalistischer Muslime, die auf die Ungerechtigkeiten in unserer Welt zurückgehen, den Fundamentalismus fördern. Wenn aber mit Ansichten über Globalisierung und ungerechte Verteilung die weltanschaulichen Positionsdifferenzen weggezaubert werden, dann sehe ich gesinnungsethische deutsche Intellektuelle am Werk, die ihre eigene Gesinnung höher als die Kenntnis fremder Kulturen setzen. Bei den Ereignissen vom 11. September stand jedoch der weltanschauliche Zivilisationskonflikt als Wettstreit der Modelle im Vordergrund, dessen Analyse hier erfolgen soll. Der politisierte Glaube mündet in einem Einsatz für den Schari'aStaat als Gegenmodell zum westlichen Staat, der zwischen Religion und Politik trennt. In diesem Sinne hatte Bundestagspräsident Thierse recht, als er in seiner Harvard-Rede von Ende September 2001 den Anschlag auf das New Yorker World Trade Center als «Anschlag auf westliche Werte» bezeichnete. In meinem 1995 erstmals erschienenen Buch Krieg der Zivilisationen (neu 2001) habe ich den Wertekonflikt, der dem Zivilisationskonflikt zugrunde liegt, als weltanschaulichen Krieg gedeutet. Dieser wurde am 11. September militarisiert. Es geht nicht mehr nur um Werte, sondern um den Wettstreit darüber, welches Modell im 21. Jahrhundert universell gelten wird: der Schari'a-Staat der Islamisten oder der säkulardemokratische Staat der westlichen Zivilisation. -274-
1. Der weltanschauliche Konflikt und die Toleranz Während der Neufassung dieses Kapitels nahm ich mir über Weihnachten die Zeit für eine Verschnaufpause. Weder Muslime noch Juden feiern diese Zeit, aber mein jüdischer Freund Raphael Seligmann und ich nutzten am Nachmittag des Heiligen Abends mit unseren protestantischen deutschen Frauen die Zeit der «christlichen Besinnung», um im Gespräch miteinander laut über die Gefahren des Islamismus für den Weltfrieden nach dem 11. September nachzudenken. Raphael Seligmann stellte sich die Frage, wie die Deutschen reagiert hätten, wenn der Anschlag einem der Wolkenkratzer in Frankfurt gegolten hätte; er fügte ironisch hinzu: «Bestimmt hätte es die heftige Reaktion nicht gegeben. Vielleicht hätten sich einige Deutsche bei den Muslimen anschließend für die Globalisierung entschuldigt.» Danach schränkte er aber ein: «Die Deutschen lassen sich vieles gefallen; wenn das Faß aber voll ist, dann gehen sie zum Gegenextrem.» Dies erinnerte mich an Plessners Worte: «Wir Deutsche verstehen kein Mittelmaß zu finden.» Was hat dieser Gedankensprung mit dem anstehenden Thema und mit dem 11. September zu tun? Raphael Seligman ist in Tel Aviv geboren, ich in Damaskus, und wir beide leben seit Jahrzehnten unter den Deutschen und kennen sie daher gut; wir lieben sie, und zugleich haben wir unsere Probleme mit ihnen. Dies bezieht sich besonders auf die Gutmenschen unter ihnen, die den heutigen Zivilisationskonflikt nicht verstehen. Dieser geht nicht nur die Weltpolitik an; er betrifft auch die Frage, wie das Gemeinwesen in Europa bei einer Präsenz von 15 Millionen Muslimen gestaltet sein sollte. Es ist wahr, daß die Mehrheit dieser Muslime mit dem Islamismus nichts zu tun hat, wohl aber der organisierte Islam, für den die Schari'a politische Richtschnur ist. Der Wettkampf -275-
zwischen den Modellen, der seit dem 11. September in das öffentliche Bewußtsein gerückt ist, stößt in Deutschland auf unterschiedliche Reaktionen. Die grüne Politikerin Christa Nickels geht im Namen der Toleranz in die Defensive und verlangt, «keine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat»1 anzustreben. Das ist eine Konzession an die Islamisten. Eine andere Christin, Barbara Huber-Rudolf, hält die Forderung nach einem europäischen Islam «für einen Widerspruch in sich», auch wehrt sie sich gegen den Vorwurf der «Blauäugigkeit»; es sei schließlich nicht Sache der Christen, die fehlende «Bereitschaft der Muslime zur Selbstkritik» zu kritisieren. Diese Aufgabe obliege eher der Islamwissenschaft.2 Offenbar weiß Barbara Huber-Rudolf nicht, daß diese Wissenschaft eine Altphilologie ist, also mit der Reform des Islam nichts zu tun hat. Raphael Seligman und ich sind froh, daß die Zukunft der westlichen Zivilisation nicht in Deutschland entschieden wird. Diese Einstellung wird durch Zeitungsberichte wie folgendem mit dem Titel «Muezzinruf statt Glockenläuten?» untermauert: «Der oberste Denkmalschützer im Düsseldorfer Bauministerium Stephan Bajor soll angeregt haben, nicht benötigte Gotteshäuser islamischen Gemeinden zu überlassen.»3 Unter Bezug auf diesen Bericht wird in der Kolumne «Kreuz und Halbmond»4 im FAZ-Feuilleton die Aufregung über diese Meldung zurückgewiesen. Der Kolumnist greift auf Lessings Ringparabel zurück und erinnert an die Erkenntnis, die «Häuser des in vielerlei Gestalt verehrten Gottes» seien gleich. Die Erkenntnis ist richtig unter der Voraussetzung des gegenseitigen Respektes. Hier wird aber nicht zwischen dem Hang der Islamisten, die Welt zu islamisieren, und dem Gebot religiöser Toleranz auf pluralistischer Grundlage unterschieden. Ein wenig Hoffnung gibt die Titelgeschichte von Der Spiegel Ende 2001 über «Werte des Westens». In der langen Überschrift ist zu lesen: Der New Yorker Terrorangriff der islamischen -276-
Fundamentalisten zielt auch auf das liberale Credo des Abendlandes: Europäer und Amerikaner [haben, B. T.] eine geistige Tradition, die es wert ist, verteidigt zu werden auch gegen den Islam.5 Um ein Plädoyer für die westlichen Werte, d. h. für einen säkulardemokratischen und gegen den Schari'a-Staat, geht es in diesem Kapitel. Nur 1,5 der 6 Milliarden zählenden Weltbevölkerung sind Muslime, und nur eine Minderheit unter ihnen strebt eine islamische Ordnung an. Doch selbst wenn es zuträfe, daß alle Muslime dies wollten, wäre der Ruf nach einem islamischen Staat als universellem Ordnungsprinzip nicht hinzunehmen; er wäre eine Kriegserklärung an den Rest der Menschheit. Weltfriede ist nur auf der Basis menschlichen Zusammenlebens ohne Rückgriff auf einen bestimmten religiösen Glauben zu erreichen. Immanuel Kants Erkenntnis, daß nur eine republikanische, säkulare Verfassung einen Weltfrieden garantiere,6 bietet die Alternative zur islamischorthodoxen oder fundamentalistischen Weltanschauung vom Schari'a-Staat.7 Dies gilt nicht nur für die Weltpolitik, sondern auch für islamische Minderheiten in einem Staat, denen man Toleranz, nicht aber Geltung der Schari'a einräumen darf. Die Idee Kants ist heute die Grundlage für das Konzept vom «demokratischen Frieden», sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Staaten der Einwanderungsgesellschaften, z. B. der Bundesrepublik Deutschland.8
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2. Die fundamentalistische Herausforderung: Das «islamische Regierungssystem» und die Anwendung der Schari'a Seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts erstarkt der islamische Fundamentalismus mit seinem neuen Verständnis von Djihad9 und bietet sich als die Alternative mit universellem Anspruch für die bestehende Weltordnung an. Ohne arabozentrisch zu argumentieren, läßt sich beobachten, daß der arabische Teil der sich heute neu formierenden «Welt des Islam» die zentrale Quelle für die Ideologie des islamischen Fundamentalismus bildet.10 Die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren durch die Folgen der arabischen Niederlage im SechsTage-Krieg von 196711 geprägt, die den Prozeß der Verbreitung des politischen Islam entschieden förderten. Fundamentalisten greifen auf die traditionelle Idee der Universalität der islamischen Offenbarung zurück, auf der sie ihre Weltanschauung mit einer bestimmten Ordnungsvorstellung aufbauen. Die Ideologie des politischen Islam strebt die Umsetzung dieser Vorstellung auf zwei Ebenen an: einmal was die internationale Ordnung angeht und dann aber auch auf staatlicher Ebene. Ehe ich hierauf eingehe, werde ich erläutern, wie diese Problematik von westlichen «Experten» angegangen wird. Das größte Problem der westlichen Literatur über den islamischen Fundamentalismus ist, daß ihre Autoren - oft mangels Sprachkenntnissen - keine Originalquellen für ihre Studien über den politischen Islam verwenden. Es gibt natürlich die Orientalisten, aber viele unter ihnen können diese Aufgabe nicht erfüllen. Nur wenige Wissenschaftler, wie etwa Emmanuel Sivan,12 schreiben kompetent über den politischen Islam. Wir -278-
hören und lesen die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung, das «Feindbild Islam» zu bekämpfen, aber über das von den Islamisten gebotene Gegenmodell zum säkularen Staat ist wenig Kritisches zu vernehmen, geschweige denn über das «Feindbild Westen», das die weltanschauliche Ablehnung der Demokratie beinhaltet. Das zentrale Thema in den wichtigen Schriften des politischen Islam ist das islamische Regierungssystem/Nizam Islami. Nach Ansicht der Autoren der jeweiligen Arbeiten haben alle existierenden politischen Systeme in der Welt des Islam, sowohl «konservative» als auch «radikale», versagt.13 Daraus folgern sie, daß es an der Zeit sei, zum Islam - d. h. zum wahren, nicht westlich beeinflußten Islam - zurückzukehren. In diesem Sinne sind ihre Zukunftsausblicke rückwärts gerichtet, weil sich für sie der wahre Islam im goldenen Zeitalter von Medina unter dem Propheten (622-632) und seinen rechtgeleiteten Nachfolgern (632-661) gebildet hatte. Oberflächlich gesehen stellt der islamische Fundamentalismus eine Rückkehr zu der einst vom Propheten Mohammed errichteten Medina-Ordnung dar. Die Wahl des neoarabischen Wortes Nizam,14 um die von diesen Autoren gemeinte alte Ordnung des 7. Jahrhunderts zu bezeichnen, offenbart eine typische Verwechslung zwischen Altem und Neuem. Es dürfte daher kaum überraschen, bei den islamischen Fundamentalisten sehr viele Projektionen und weniger eine Beschäftigung mit der Realität vorzufinden. Entsprechend entpuppt sich der politische Islam bei näherem Hinsehen eher als neuer Wein in alten Schläuchen. Die alten Schläuche sind indes nicht immer authentisch. Denn die verwendete Sprache (z.B. der neoarabische Begriff Nizam) besteht häufig aus modernen Wortbildungen, die zur klassischen islamischen Terminologie hinzugefügt werden.15 In diesem Zusammenhang wird auf zwei klassische islamische Konzepte zurückgegriffen: erstens die Schura/Konsultation und zweitens die Schari'a/Gottesgesetz. Es -279-
gibt nur zwei Stellen im Koran, in denen der Begriff Schura vorkommt. Der Inhalt dieser zwei sehr knappen Textstellen kann kaum ein «Konzept» genannt werden, solange er nicht in extensiver Weise interpretiert wird, was die Advokaten des neuen politischen Islam allerdings in der Tat vollbringen. Das neue Konzept eines islamischen Regierungssystems (Nizam Islami) wird durch den Verweis darauf, daß die Schura für muslimische Herrscher verpflichtend ist, mit den Attributen einer Demokratie geschmückt. Daher muß sich unsere Lektüre der zeitgenössischen politischen Literatur des islamischen Revivalismus auf die miteinander verbundenen Begriffe von Nizam Islami und Schura konzentrieren, die für die Fundamentalisten im Mittelpunkt stehen. Bei den Islamisten macht die Anwendung des islamischen Rechts/Tatbiq alschari'a die grundlegende Bedingung für die Realisierung eines islamischen Regierungssystems aus. Unsere Diskussion des Nizam Islami muß daher auch auf den Ruf nach der Verwirklichung der Schari'a bezogen werden. Mit der Neubewertung des politischen Islam in Gestalt des gegenwärtigen islamischen Revivalismus und des aus ihm hervorgehenden Fundamentalismus hat sich im arabischen politischen Denken ein bedeutsamer Wandel vollzogen: eine Verschiebung von säkularen zu religiös-politischen Bindungen. Selbst ein führender arabisch-marxistischer Autor wie der international bekannte Anwar 'Abd al-Malek glaubte plötzlich zu entdecken, daß der Koran lange vor Marx die politische Praxis empfohlen hatte: «Zwölf Jahrhunderte vor der Hervorhebung der Praxis in den Marxschen ‹Thesen zu Feuerbach› hat der Koran die Gläubigen dazu aufgefordert, sich... der Praxis [der Politik, B. T.] zu verpflichten.»16 So spricht 'Abd al-Malek mit Verachtung von Verfassern säkularer Schriften wie 'Ali 'Abd al-Raziq (alhlam wa, usul alhukm, Kairo 1925) und Sadiq Djalal al-'Azm (Naqd alfikr aldini, Beirut 1969). Diese Verschiebung zu religiös-politischen Bindungen ist -280-
in hohem Maße für das Verständnis der fundamentalistischen Herausforderung relevant, so daß jede Diskussion der wichtigsten Themen der arabischen politischen Gegenwartsliteratur unvollständig bleibt, wenn sie diesen Schwerpunkt nicht beleuchtet. Die fundamentalistische Herausforderung ist parallel zum Aufstieg des politischen Islam in den Ländern des arabischen Teils der islamischen Zivilisation hervorgetreten; sie hat also nicht im Iran begonnen, wie eine weitverbreitete Meinung unterstellt. Der schon zitierte zeitgenössische islamische Fundamentalist Yusuf al-Qaradawi veröffentlichte seinen Ruf nach einer «Islamischen Lösung/al-Hallal-Islami»17 in den frühen 70er Jahren, als Khomeinis Name noch völlig unbekannt war. Die erste Auflage der zentralen Publikation über das politische System des Islam, geschrieben von Muhammad Salim al-'Awwa, wurde 1975 ohne einen Verweis auf Khomeini oder den Iran veröffentlicht.18 Erst in späteren Auflagen (7. Auflage 1988) finden wir solche Bezüge. Ich will hiermit keineswegs bestreiten, daß auch die iranische Revolution ihr Staatsmodell einer Gottesherrschaft für den Export präsentierte. Doch dies ist gescheitert, wenngleich die Wirkung dieser Revolution in der Welt des Islam19 sehr groß war. Im Gegensatz zu den europäischen, auf eine bessere Zukunft zugeschnittenen Utopien (vgl. Anm. 6) sind islamische Utopien rückwärtsgewandt; ihr Modell bleibt Medina. Diese Fixierung der Muslime auf die Vergangenheit20 bedeutet jedoch noch keinen Traditionalismus. Die Spannung zwischen Tradition und Moderne hängt mit außerordentlich komplexen Strukturen zusammen, die vom islamischen Denken begriffen werden müssen. Hierfür benötigen Muslime die Fähigkeit zur Selbstkritik, wie der Damaszener Philosoph Sadiq Djalal al'Azm einmal unterstrich.21 Statt dessen greifen sie auf ihre «ruhmreiche Vergangenheit», in die sie ihre Ideologie projizieren, zurück. Das Ergebnis ist eine erneute politische -281-
Rolle des Islam, aus der die fundamentalistische Herausforderung hervorgeht. Jede Kritik weisen Muslime dann als einen Ausdruck der westlichen Feindschaft gegenüber dem Islam zurück. Seit einem Vierteljahrhundert steht der neue Begriff des «Westlichen Orientalismus» für diese Feindschaft. Orientalismus heißt hier, wie man den «Orient» im Westen sieht! Die Kritik, die Edward Said, der diesen Begriff geprägt hat, zunächst zu Recht formulierte, wurde dann zu einem Verbot für Westler, sich kritisch mit dem Orient zu befassen, pervertiert; nach dem 11. September 2001 ist sie sogar zu einer postmodernen Gegenaufklärung geworden.22 Nun handelt es sich nicht um einen Orientalismus, wenn hier der islamistische Schari'a-Staat als Gegenmodell zur westlichen Demokratie zurückgewiesen wird. Der islamische Reformer 'Ali 'Abd al-Raziq hat 1925 in einer bedeutenden Schrift argumentiert, der Islam sei ein Glaube und kein Regierungssystem.23 Diese Idee hat heute keinen Bestand mehr in der Welt des Islam. In einigen Debatten wird Bezug darauf genommen, um über die Auflösung des Kalifats im Jahre 1924 nachzudenken. Die Mehrheit der Islamisten zitiert das frühe Werk von 'Ali 'Abd al-Raziq, al-Islam wa usul alhukm/Der Islam und die Regierungsformen, um die Trennung von Islam und Politik, für die er eintrat, zu widerlegen. Trotz Polemik streben die Vertreter des politischen Islam keine Wiederherstellung des 1924 aufgelösten Kalifats als islamisches politisches System an. Mit anderen Worten: Die Islamisten betonen zwar in ihren Schriften den politischen Charakter des Islam, beharren jedoch nicht länger auf der Beibehaltung des Begriffs «Kalifat». Die fundamentalistische Herausforderung bringt daher ein neues Staatsmodell hervor und ist aus diesem Grund kein Traditionalismus.
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3. Der fundamentalistische Gottesstaat als eine islamische Ordnung: Islamische Herrschaft gegen säkulare Regime Die Islamisten haben die neue Formel geprägt, der Islam sei Din wa daula/Staat und Religion zugleich. Bei meinem Besuch in Algier im Februar 1992, nur wenige Tage vor der Ausrufung des Ausnahmezustandes, stand die Parole «al-Daula alIslamiyya/der islamische Staat» auf vielen Mauern der Kasbah und Bab al-Ouo'd. Was soll dieser Anspruch auf eine islamische Staatsordnung beinhalten? In der allgemeinen Krise wird bei den Bevölkerungen der islamischen Staaten die Erwartung geweckt, die Fundamentalisten mit ihrer «islamischen Regierungsform» könnten ein brauchbares Staatsmodell bieten. Diese Erwartung wird jedoch im Verlaufe der Durchsicht der fundamentalistischen Literatur enttäuscht. Über Wiederholungen der zentralen Begriffe der islamistischen Ideologie hinaus stoßen wir kaum auf Inhalte. Mit Slogans kann man einen weltanschaulichen Konflikt schüren, aber keine Lösungen für die bestehende Krise bieten. Wie bereits angemerkt, steht die Behauptung im Mittelpunkt, der Islam sei Din wa daula, eine untrennbare Einheit von Staat und Religion. Diese Formel finden wir weder im Koran noch in der Hadith-Tradition des Propheten.24 Das ist auch das Argument von 'Abd al-Raziq gegen den Anspruch des Kalifats, es sei das einzig legitime islamische Regierungssystem. Nun meinen die Islamisten mit Dm wa daula, den islamischen Staat. Ihr Ruf nach einer islamischen Regierungsform/Nizam Islami ist heute ein zentrales Thema der zeitgenössischen fundamentalistischen Herausforderung; vom Kalifat ist dabei keine Rede mehr. Sehr früh haben drei islamistische Denker, Muhammad Yusuf Musa mit Das politische System des Islam und Muhammad -283-
Dia'uddin al-Rayes mit Islamische politische Theorien sowie 'Abdulhamid Mutawalli mit Grundzüge des Regierungssystems im Islam, die Grundlagen für die neue Weltanschauung gelegt.25 Alle drei Schriften hatten jedoch vor den 1970er Jahren kaum Einfluß. Erst nach 1967 fanden sie Anklang, und seitdem hält ihre mobilisierende Wirkung an. Vor dem Aufstieg des politischen Islam galt die in dem autoritativen Lehrbuch al-Islam; 'aqidah wa schari'a/lslam; als Dogma und als ein Gesetz enthaltene Islam-Interpretation als vorherrschend. Dieses Werk wurde von dem einstigen Rektor von al' Azhar, Mahmud Schaltut, verfaßt.26 In dem in zehn Auflagen erschienenen Buch wird al-Umma fi al-Islam/Die Gemeinschaft im Islam von Daula/Staat abgekoppelt. Schaltut betont dagegen die Ukhuwwa al-Islamiyya/islamische Brüderlichkeit. Die brüderliche Verbindung der Muslime untereinander, welche den ethischen Wert und die Substanz der Solidarität zwischen Muslimen darstellt, sei der grundlegende Sinngehalt der islamischen Umma. Ferner verweist er auf das schon angeführte islamische Prinzip der Schura, schränkt aber ein, daß «weder der Koran noch der Prophet ein spezifisches System der Schura konzipiert haben».27 Mit anderen Worten, indem er die Betonung auf die Umma im Sinne von Brüderlichkeit anstatt auf den Staat/Daula als Ausdruck eines politischen Systems legt, vollzieht Mahmud Schaltut eine indirekte Entpolitisierung des Islam. Dadurch, daß er den islamischen Primärquellen die Stiftung eines «spezifischen Systems der Schura» abspricht, reduziert er diese islamische Vorschrift auf eine Norm politischer Ethik und verwirft praktisch den Begriff einer islamischen Regierungsform/Hukumah Islamiyya, dem Khomeini später zu Weltruhm verholfen hat. Zum Aufstieg des Fundamentalismus gehört nicht nur die Entsäkularisierung, sondern auch das «Feindbild Westen». In einem vielgelesenen Buch des politischen Islam, Asalib alghazu -284-
alfikri li al-'alam al-Islami/Methoden der intellektuellen Invasion in der islamischen Welt,28 begegnen wir einigen der neuen fundamentalistischen Einstellungen. Die Autoren dieses Buches, Djarischa und Zaibaq, nehmen nicht einmal die geistigen Väter des islamischen Modernismus von ihrer Polemik aus. Für sie waren selbst die berühmten islamischen Reformer des 19. Jahrhunderts, Muhammed 'Abduh und Djamal al-Din alAfghani, Produkte der in ihrem Buchtitel angesprochenen «intellektuellen Invasion».29 Der polemische Ton wird noch schärfer, wenn es um Rifa'a al-Tahtawi geht, der in seinem bekannten Tagebuch,30 das seine Erfahrungen als Imam einer Gruppe ägyptischer Studenten in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufzeichnet, eine enthusiastische Beschreibung des Pariser Lebens liefert. Die beiden zitierten Fundamentalisten ziehen nicht in Betracht, daß das Konzept eines Kalifats im Koran nicht vorkommt. Das Verb khalafa/nachfolgen erscheint zwar in mehreren Suren, jedoch in Bedeutungen, die von «im Amt nachfolgen» in einem über alle Muslime herrschenden Kalifat sehr verschieden sind. Für islamische Fundamentalisten wurde «der arabische Nationalismus von dem britischen Spion Lawrence verbreitet».31 Arabische Nationalisten sind bekanntlich Säkularisten, da sie zwischen einer göttlichen Ordnung und dem säkularen Nationalstaat unterscheiden, eine Tatsache, die sie nach Ansicht der fundamentalistischen Herausforderer zu Opfern des westlichen Einflusses macht. In dieser Sicht sind die Juden Vorläufer der Trennung von Religion und Staat mit der Absicht, «die Religion zu zerstören... der Islam erlaubt jedoch eine solche Trennung nicht. Der Staat ist in der Fiqh [Jurisprudenz, B. T.] des Islam ein unteilbarer Bestandteil der Religion, so daß es keine Religion ohne den Staat geben kann und vice versa.»32 Es fällt auf, wie stark das fundamentalistische Denken im Islam von der Vorstellung einer Verschwörung des Westens gegen die Muslime dominiert wird. Selbst die «New World Order»-Formel -285-
von US-Präsident Bush sen. ist für sie Ausdruck einer «christlich-jüdischen Verschwörung».33 Eine vorurteilslose Lektüre vieler fundamentalistischer Pamphlete führt zu der Einschätzung, daß wir es mit einer Kategorie politischer Propaganda zu tun haben. Stil, Sprache und argumentative Methode offenbaren deutlich eine propagandistisch angeleitete Denkweise. Das ist nicht abfällig gemeint. Durch diesen Charakter haben die Pamphlete eine mobilisierende Wirkung. Wenn nun das Kalifat als historische Form der politischen Herrschaft im Islam gedeutet wird, müssen wir diese klassische Ordnungsvorstellung mit der zeitgenössischen Vorstellung vom islamischen Staat vergleichen. Dazu soll das auf historischen Quellen basierende Werk al-Islam wa alkhilafah/Der Islam u. das Kalifat von 'Ali Husni al-Khartabuli herangezogen werden. Obwohl alKhartabuli das islamische Kalifat verteidigt, weist er darauf hin, daß weder der Koran noch die Hadith eine einzige Textstelle enthalten, die die Idee vom Kalifat als der wahren islamischen Regierungsform legitimiert. Al-Khartabuli besteht jedoch darauf, daß das Kalifat nicht mit dem christlichen Universalreich des Mittelalters gleichgesetzt werden könne. «Trotz der Tatsache, daß das Kalifat in der Türkei aufgelöst wurde, ist es immer noch göttlicher Natur und wird von allen Muslimen respektiert. Seit seinem Ende haben Muslime nicht aufgehört, nach seiner Restauration zu verlangen.»34 Dies ist die einzige auf die Gegenwart bezogene Äußerung in diesem umfassenden Buch, das die Geschichte des Kalifats von seinem Beginn nach dem Tode des Propheten Mohammed bis zu seiner Auflösung im Jahre 1924 darstellt. Ohne in Verlegenheit zu geraten, verweist al-Khartabuli auf das 10. Jahrhundert, in welchem die Muslime drei Kalifen gleichzeitig hatten, einen in Bagdad, den zweiten in Kairo und den dritten in Cordoba, von denen jeder beanspruchte, islamischer Nachfolger des Propheten zu sein. AlKhartabuh beschreibt diesen Zustand lediglich und beschränkt -286-
sich darauf zu sagen, daß die Herrschaft des Kalifen über die zwei heiligen Schreine (in Mekka und Medina) nicht länger die Bedingung für die Errichtung eines Kalifats als islamische Ordnung gewesen sei. Für Islamisten steht das Kalifat nicht auf der Tagesordnung. Dennoch ist es das Ziel des zeitgenössischen politischen Islam, eine islamische Ordnung/Nizam Islami als politisches System zu begründen. Heute gehören säkulare Optionen der Vergangenheit an. In bezug auf die Islam-Diaspora stellt sich die Frage, ob die Einführung dieses islamischen Regierungssystems, das auf einem gleichermaßen rigiden Verständnis der islamischen Schari'a basiert, toleriert werden sollte. Ich habe einleitend die grüne Kirchenpolitikerin zitiert, die «keine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat» will. Das wollen die Fundamentalisten der Islam-Diaspora auch!
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4. Was ist ein Nizam siyasi Islami/lslamisches politisches System? Kann es ohne Gewalt durchgesetzt werden? Im fundamentalistischen Sprachgebrauch wird das neuarabische Wort Schar'iyya/Legitimität aus dem klassischen arabischen Begriff Schari'a abgeleitet, um eine Begründung für den islamischen Staat vorzulegen. Das autoritative arabische Buch über das islamische System von al-'Awwa erschien - wie angemerkt (vgl. Anm. 18) - lange vor der iranischen, islamisch legitimierten Revolution. Nach al-'Awwa brachte der Islam das erste politische System in der Geschichte hervor, das auf Legitimität und nicht auf Zwang beruhte, da es den Regierungsprozeß und das politische Handeln der Herrscher dem Rechtssystem der Schari'a unterwarf.35 In Wirklichkeit ist dies eine Projektion moderner Staatsauffassung auf den Islam. Der Leser dieser fundamentalistischen Ausführungen erwartet eine klare Darstellung der vielgenannten islamischen Herrschaftsform. Was von al-'Awwa auf etwa 100 Seiten folgt, ist jedoch nichts anderes als das obligatorische Repertoire der Entstehungsgeschichte des Islam (S. 35-128), das in auffallender Weise eine Rückprojektion moderner Demokratie auf den Islam des 7. Jahrhunderts offenbart. Das ist so lange in Ordnung, wie es als Begründung für die Muslime dient, die moderne Demokratie anzunehmen. Aber hier stellt sich die Frage: Ist der islamische Staat eine Demokratie? Schon die Entstehungsgeschichte des Konzepts zeugt von Intoleranz. Das Nizam siyasi Islami wird durch die verbale Hinrichtung des Sündenbocks 'Ali 'Abd al-Raziq entfaltet. Ich habe bereits die Auffassung von 'Abd al-Raziq aus dem Jahr 1925 zitiert, wonach der Islam eine Religion und keine Herrschaftsform sei; infolge dieser Behauptung büßte er alle -288-
seine islamischen Ämter ein. 'Abd al-Raziq wird vom Islamisten al-'Awwa beschuldigt, seine Ansichten opportunistisch nach der Auflösung des Kalifats durch «den Diktator Kemal Atatürk und seine jüdischen Anhänger» veröffentlicht zu haben.36 Wie demokratisch ist dieser Geist? Im nachhinein, im Jahr 1983, wird eine Begründung für die Entlassung eines islamischen Richters und Professors 1925 aus al-Azhar geliefert, der für seine reformislamische Haltung mit seiner Existenz bezahlt hat. Die Frage «Was ist das islamische Herrschaftssystem?», deren Beantwortung der Leser von al-'Awwa 422 Seiten lang erwartet, bleibt offen. Al-'Awwa teilt uns lediglich mit, was das islamische Staatssystem nicht ist: «Es ist keine dynastische Monarchie», schreibt er, obwohl dies während der Herrschaft der Omayyaden und Abbasiden (661-1258) und auch unter den Osmanen der Fall war. Al-'Awwa empfiehlt uns aber, die Geschichte zu ignorieren und ausschließlich den Vorschriften zu vertrauen. Das islamische System basiere nicht auf Wahlen; es sei auch «keine göttliche Ordnung, in welcher der Klerus das Staatsoberhaupt ernennt» (ebd., S. 127). Wenn wir fragen, wer denn die Ulama (islam. Rechtsgelehrte) und die Ahl alhall wa al-'aqd (wörtlich: «Leute, die binden und lösen») waren, die die Zeremonie der Bay'a (Ernennung durch die Leistung eines Treueeides) inszenierten, werden wir wieder ermahnt, nicht die Geschichte, sondern nur die reine Lehre heranzuziehen. Unter Bezugnahme auf die Analyse über den Widerspruch Universalismus-Partikularismus im Islam, der in Kapitel IV erläutert wurde, ist dann die Frage zu stellen, ob der islamische Staat einen stammesmäßigen Charakter tragen würde. Dieser Frage liegt die Bedingung zugrunde, daß der islamische Herrscher ein Quraischi sein, das heißt aus dem Stamm des Propheten kommen muß. Entgegen der Tatsache, daß der Konflikt zwischen den Ansar (der Bevölkerung von Medina) und den Mukadjirun (den Angehörigen der Quraischi, die den Propheten bei dessen Hidjra von Mekka nach Medina im Jahre -289-
622 begleiteten) ein Konflikt um die Vorherrschaft der Quraischi über die anderen Stämme war, weist al-'Awwa auch diese Frage auf den Seiten 75-82 seines Buches strikt, jedoch ohne historische Beweise, zurück. Der fundamentalistische Ideologe al-'Awwa ist Anwalt und friedlicher Islamist, in diesem Sinne weist er wiederholt die Position 'Ali 'Abd al-Raziqs zurück. Seine Grundposition ist der Glaube, daß die «Politik des Staates ein Bestandteil der islamischen Lehren ist, insofern der Islam zugleich eine Religion und ein Rechtssystem ist» (ebd., S. 129). Al-'Awwa belebt alle Verleumdungen gegen 'Abd al-Raziq aufs neue, einschließlich diverser von al-Azhar sowie den Muftis von Ägypten und anderer islamischer Länder veröffentlichter inquisitorischer «Rechtsgutachten/Fetwas». Eines dieser Fetwas, das des Muftis von Tunis, Ben-Ashour, trägt den obskuren Titel Nuqd 'ilmi li kitab al-Islam wa usul alhukm/Eine wissenschaftliche Kritik des Buches ‹Der Islam und die Regierungsformen›. Das Adjektiv «wissenschaftlich» gehört auch zum sprachlichen Repertoire von al-'Awwa. Es ist beispielhaft für das modernistische Moment in der Argumentation der Islamisten, die sich im Kampf gegen ihre Widersacher auf die Wissenschaft berufen. Die meisten von ihnen sind sich dieses Moments nicht bewußt. Die Schlußfolgerung, die al-'Awwa aus seiner Kritik an 'Abd alRaziq zieht, ist die, daß der Einfluß des Westens diesen dazu verführt habe, für eine Trennung von Religion und Politik einzutreten. Auch bei gründlicher Lektüre der fundamentalistischen Schriften finden wir keine Antwort auf die Frage, welches die konstitutiven Elemente des islamischen Regierungssystems sind. Wir werden belehrt, daß die «Herrschaft der Religion» das Merkmal ist, welches die islamische Regierungsform von anderen unterscheidet. Dieses «unterscheidende Merkmal/al'Unsur almumayiz» sei das zentrale Kennzeichen einer -290-
islamischen Regierung. Man ist versucht, auf die arabische Redewendung zu verweisen, dies sei, wie wenn man Wasser dadurch definiert, daß man sagt, es sei eine Flüssigkeit/Fassara alma'a bi alma'i. Nichts anderes ist die Aussage, daß die islamische Regierung auf «religiöser Unterwürfigkeit» basiere, wie dies al-'Awwa mehrmals in seinem Buch hervorhebt. Die fundamentalistische Begründung der islamischen Herrschaft, die dem Ziel des islamischen Staates dienen soll, ist offensichtlich tautologisch. Es werden fünf konstitutionelle Prinzipien des Islam angegeben: Schura/Konsultation, al-'Adl/Gerechtigkeit, al-Hurriya/Freiheit, al-Musawah/Gleichheit und Musa'alat ra'is al-/Verantwortlichkeit des Staatsoberhauptes (ebd., S. 191-252). Die Diskussion dieser fünf konstitutionellen Elemente führt nicht zu mehr Gewißheit über den fraglichen Gegenstand. Eine große Unbestimmtheit, gepaart mit unreflektierten Projektionen moderner Fragestellungen auf die islamische Geschichte, begegnet uns auf jeder Seite fast aller zentralen Schriften des politischen Islam, der die ideologischen Argumente für die fundamentalistische Herausforderung liefert. Muhammad Sahm al-'Awwa ist ein gemäßigter Islamist, der den islamischen Staat ohne Gewalt durchsetzen und durch ein Denkverbot über die Trennung zwischen Religion und Politik im Islam etablieren will. Andere Fundamentalisten, die sich ebenfalls der Neubelebung der Schari'a verschrieben haben, entfalten die Formel vom Islam als einer Din wa daula, d. h. einer göttlichen Staatsordnung. Diese beabsichtigen sie mit Gewalt durchzusetzen. Gegen Islamisten aller Schattierungen möchte ich den liberalen Muslim Husain Fauzi al-Nadjar und sein Buch über Islamische politische Theorie und die Herrschaftsform im Islam anführen; darin argumentiert er, daß es in den primären Quellen der islamischen Schari'a keine einzige authentische Textstelle gebe, welche die Formel von Din wa daula zuverlässig belege. Al-Nadjar hebt hervor: Wir glauben nicht daran, daß Mohammed kam, um ein -291-
Königreich oder einen Staat zu errichten. Er war einfach ein Prophet und Bote für die gesamte Menschheit... Der Islam zwingt die Menschen nicht, sich ihm zu unterwerfen... Der Koran sagt eindeutig, ‹Es soll keinen Zwang zur Religion geben› (al-Baqarah, Vers 256).37 Nachdem al-Nadjar dieses Argument ausgeführt hat, fügt er «die Tatsache hinzu, daß der Ruf nach dem Islam eine Verschmelzung von Religion und Staat ist. In der islamischen Schari'a gibt es nichts, was dazu verpflichtet, die Religion an eine bestimmte Staatsform zu binden. Die Schari'a beschäftigt sich nicht mit irgendeinem spezifischen Regierungssystem» (ebd., S. 66). Nach dieser Sicht basiert die islamische Offenbarung nicht auf der Einheit zwischen der Religion des Islam und einer existierenden staatlichen Struktur bzw. einer noch zu verwirklichenden Ordnung. Der Islam spreche die gesamte Menschheit an, während ein Staat immer auf eine begrenzte Menschengruppe beschränkt sei. Al-Nadjar zieht daraus jedoch nicht den Schluß, der Islam sei apolitisch. Kein Historiker oder Theologe kann übersehen, daß der Islam auch eine politische Dimension hat. Für Reform-Muslime hat er eher die Bedeutung einer religiösen Ethik für die Leitung eines Gemeinwesens, aber nicht die eines Ordnungskonzeptes. Dagegen meinen Islamisten, daß der Islam eine politische Ordnung biete. Sie unterscheiden sich nur durch die Wahl der Mittel: Der islamische Staat ist friedlich oder mit Gewalt durchzusetzen. Reform-Muslime rehabilitieren den Autor 'Abd al-Raziq und seine Lehre (vgl. Anm. 23), der nichts anderes getan hat, als zu zeigen, daß die Hauptquellen der islamischen Religion keine Vorschriften für ein politisches System enthalten. Wie 'Abd alRaziq argumentiert auch der liberale Muslim al-Nadjar, daß historische Umstände den Propheten gezwungen haben, politisch zu handeln und in einer vorstaatlichen Gesellschaft politische Funktionen zu übernehmen. Die Verbindungen -292-
zwischen religiösen und politischen Funktionen im frühen Islam sind nach Ansicht al-Nadjars eher ein historischer Zufall als ein Bestandteil des islamischen Glaubens. Das Kalifat sei zu jeder Zeit ein weltliches und kein religiöses Amt gewesen.38 Mit diesem Vorverständnis kritisiert al-Nadjar besonders, daß dem Kalifat der Abbasidenherrscher ein göttlicher Charakter zugeschrieben wird. Daraus resultiere die Stagnation des politischen Diskurses im Islam, da die Politik von sakralen Fragestellungen dominiert wurde und sich auf die Rechtfertigung der politischen Handlungen der Herrscher und ihrer despotischen Ordnung beschränkte. Die vorangegangenen Ausführungen vermitteln reformislamische Positionen. Mir scheint es - gerade weil ich für deutsche Leser schreibe - dringend erforderlich, darauf hinzuweisen, daß es kritische islamische Denker wie etwa 'Abd al-Raziq (1925) und al-Nadjar (1977) gibt, die andere Positionen als die der Islamisten vertreten. Deshalb weise ich in diesem Zusammenhang auf folgendes innerislamisches Problem hin: Ist der Islam ein Text oder eine Historie? Natürlich ist diese Frage, die Muslime trennt, durch eine andere Frage zu relativieren: Läßt sich der religiöse Text im Islam historisch einordnen? Oder anders formuliert: Gibt es nicht eine Vermittlung zwischen der Absolutheit des Textes und der Geschichte im Islam? Eine Lösung für das islamische Dilemma wäre in der Historisierung des Textes zu suchen. Der aufgeklärte marokkanische Muslim Abdulhadi Abdulrahman hat in seinem Buch Sultat alnas/Vorherrschaft des Textes gezeigt, wie der religiöse Text in der islamischen Geschichte instrumentalisiert wurde.39 Dagegen geben die islamischen Fundamentalisten vor, sie gingen von Fundamenten/al-Usul des Islam aus, aber in Wirklichkeit ziehen sie den religiösen Text sehr selektiv heran, um ihn zu instrumentalisieren. Mit al-Nadjar bin ich jedoch der Ansicht, daß der Islam eine Religion und keine staatliche Ordnung ist; eine Religion, die die ethischen und sozialen Grundlagen einer -293-
Zivilisation gelegt hat.40 Daher ist der Islam nur in dem Sinne politisch, daß er eine religiöse Ethik, nicht aber die technischen Instrumente für die Errichtung eines Regierungssystems offeriert. Zurück zum islamischen Staat als Gegenmodell zum demokratischen Staat der westlichen Zivilisation: Jene am europäischen Modell des Nationalstaates orientierten Muslime verwenden den Begriff al-Iradat al-'ammah (eine moderne arabische Übersetzung von volonté génerale/allgemeiner Wille, einem zuerst von Jean-Jacques Rousseau systematisch ausgearbeiteten Konzept). Damit unterstellen sie der muslimischen Umma eine säkulare Quelle von Souveränität (Siyadah) und politischer Herrschaft (Sulta). Diese Auffassung steht vollkommen im Widerspruch zu der fundamentalistischen Vorstellung von einer Gottesherrschaft und zu jeder Idee einer göttlichen Ordnung. Ich muß ehrlicherweise einräumen, daß diese reform-islamische Auffassung keine Popularität in der heutigen islamischen Zivilisation mehr genießt. Dagegen dominiert heute im islamischen Denken die Lehre, daß nur Gott Souveränität habe; Menschen könnten nicht über Souveränität verfügen. Deshalb ist die Idee der Volkssouveränität für sie eine Häresie. Diese Position wird zum Beispiel von der algerischen Islamischen Heilsfront/FIS vertreten. Islamische Fundamentalisten argumentieren auf eine totalitäre Weise, wenn sie hervorheben, daß das Nizam Siyasi des Islam alle Lebensbereiche umfasse, und hinzufügen, daß diese durch vom Staat zu verteidigende islamische Vorschriften reguliert werden müßten.41 Im Gegensatz dazu steht die Betonung des Ethischen bei aufgeklärten Muslimen in ihrer Interpretation der islamischen Lehre. Bei den Islamisten fällt der Glaube in den Bereich des Polizeistaates, nicht der Ethik. Die Bindung des Staates an das islamische Gesetz, die Schari'a, steht im Zentrum der Weltanschauung des islamischen Fundamentalismus. Rechtsgelehrte, die über den Islam arbeiten, -294-
wissen, daß ein homogener, genau definierter und abgegrenzter Bestand an Rechtsquellen, den wir als islamische Schari'a bezeichnen könnten, nicht existiert.42 Die meisten der politischen Aktivisten des islamischen Revivalismus haben nur geringe Kenntnis über die islamische Schari'a und sind sich in der Regel der Tatsache nicht bewußt, daß sie im Fall einer Machtergreifung kein kohärentes Rechtssystem hätten, das sie über Nacht anwenden könnten. In jenen islamischen Ländern, in denen die Fundamentalisten an die Macht gekommen sind (Iran, Sudan und bis zum Fall der Taliban auch Afghanistan), bestand die Anwendung der Schari'a aus einer reinen Willkür von Staatsgewalt. Es ist zu befürchten, daß auch in anderen Fällen fundamentalistischer Machtergreifung die willkürliche Praxis politischer Herrschaft mit dem Mantel der Schari'a bedeckt würde. Totalitäre islamische Fundamentalisten befassen sich nicht mit dem Mißbrauch der Schari'a für politische Zwecke und wiederholen in ermüdender Weise die Aussage, daß der Islam nach seinen Grundsätzen und nicht nach dem Verhalten von Muslimen beurteilt werden solle. Aufgeklärte Muslime glauben, daß eine Schari'a-Reform43 möglich ist. Säkularisten reduzieren die Schari'a auf eine Ethik. Die Diskussion über das islamische politische Modell als Alternative zum demokratischen säkularen Staat erfordert mehr Wissen über die Schari'a als Ausdruck eines Rechtssystems. Ehe ich zu dieser Thematik im folgenden Abschnitt komme, schließe ich meine Ausführungen über die Idee eines islamischen Regierungssystems mit der Feststellung, daß die Politisierung des Islam durch willkürlich ausgewählte Komponenten der islamischen Lehre sowie durch die Projektion moderner Konzepte auf den Islam erfolgt. Das Nizam Islami geht selten über rückwärtsgerichtete, chiliastische Verweise auf das goldene Zeitalter des Islam hinaus, und ihm fehlt jede systematische Reflexion über eine praktikable politische Herrschaftsordnung. Es dient der beabsichtigten -295-
Delegitimierung der bestehenden, als säkular verdammten und beschimpften politischen Ordnungen, selbst wenn es diejenigen, an die es sich wendet, über die notwendigen Formen des Handelns im unklaren läßt. Die mit diesem diffusen Konzept verknüpfte politische Praxis ist oft mit Gewalt, ja Terrorismus verbunden. Der Fundamentalismus bleibt letztendlich in einer romantischen Protesthaltung befangen; wenn er praktische Formen annimmt, destabilisiert er und führt zu Chaos wie in Algerien und Afghanistan.
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5. Der Ruf nach Tatbiq alschari'a/Anwendung des islamischen Rechts Jeder, der die Frage nach der Schari'a, dem islamischen Gesetz, stellt, findet nur zwei wissenschaftlich fundierte Werke zum Thema: die Klassiker von Schacht und Coulsen.44 In beiden finden wir die Feststellung, daß ein zusammenhängendes und einheitliches Rechtssystem namens Schari'a nicht existiert und nie existiert hat. Es überrascht nicht, wenn islamische Fundamentalisten eine solche Erkenntnis zurückweisen und als einen Ausdruck von Orientalismus verfemen (vgl. Anm. 22). Hier geht es nicht darum, das islamische Recht im allgemeinen zu diskutieren oder die Natur der Schari'a als ein interpretatives Recht zu untersuchen. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht vielmehr das Bemühen, zu erkunden, wie diese Problematik im Denken des politischen Islam der vergangenen zwei Jahrzehnte behandelt worden ist. Charakteristisch für die Wiederbelebung der islamischen Schari'a sind die jeweiligen konstitutionellen Veränderungen in den Staaten der islamischen Zivilisation, für die Ägypten als ein repräsentatives Beispiel herangezogen werden kann. Die neue Verfassung von 1971 enthält in Artikel 2 die Klausel, daß «die Grundsätze der Schari'a eine wesentliche Quelle der Gesetzgebung sind». Später, im Jahre 1980, ist aus dem unbestimmten Artikel eine ein bestimmter geworden, womit die Schari'a von «einer wesentlichen Quelle» in «die wesentliche Quelle» umgewandelt wurde. Diese Veränderung konnte jedoch weder die öffentlich auftretende noch die im Untergrund agierende islamisch-fundamentalistische Opposition zufriedenstellen. Für die Mehrheit der islamischen Fundamentalisten gelten «das heilige Buch und das Schwert»45 als eine Einheit; für sie sind die Quellen des religiös-politischen -297-
Denkens nicht in einer - wenn auch abgeänderten - Verfassung zu finden. Allein der Koran hat als Quelle der Schari'a Gültigkeit. Beherzigen wir den Glauben der Islamisten und begeben wir uns an die Koran-Lektüre. Wir können erstaunt feststellen, daß der Begriff Schari'a nur ein einziges Mal vorkommt. In der Sure 45, «al-Djatbiya/Auf den Knien», Vers 18, lesen wir: «Nun haben wir dich auf den rechten Weg/Schari'a gebracht. Folge ihm.»46 Daneben gibt es noch zwei andere Passagen im Koran, in denen ein aus diesem Wort abgeleitetes Verb und ein zweites Derivat auftauchen. In der Sure «al-Schura/Konsultation», Vers 13, lesen wir: «Er hat für die Menschen den Glauben bestimmt (Schar'a lakum), den Er dir geoffenbart hat»; und in der Sure «al-Ma'idah/Die Tafel», Vers 48: «Wir haben ein Gesetz bestimmt und einen Weg gewiesen (Schar'a wa minhagan) für jeden von euch.» Es lassen sich im Koran keine weiteren Rechtsvorschriften enthaltende Textstellen finden, in denen entweder das Verb schara'a oder das Substantiv Schari'a verwendet wird. Unter den vielen tausend Veröffentlichungen über die Schari'a, die seit dem Aufbruch des politischen Islam veröffentlicht worden sind, ragt eine einzige Schrift hervor, die der Islam-Reformer Muhammad Sa'id al-Aschmawi vorgelegt hat. Darin zeigt er: Schari'a hat ursprünglich die sprachliche Bedeutung von ‹Quelle des Wassers› oder ‹Seinen Mund›. Der Begriff bedeutet die ‹Methode von etwas› oder den ‹Weg zu etwas› (Tariq). Dies ist in Wirklichkeit die koranische Bedeutung von Schari'a. Weder in bezug auf den Sprachgebrauch noch hinsichtlich des Sinngehaltes des Koran hat Schari'a die Bedeutung von Gesetzgebung oder Gesetz.47 In seiner präzisen Untersuchung des Koran-Textes stellt alAschmawi einen Zusammenhang zwischen Text und Geschichte her. Daraus folgt: Das, was heute als Rechtssystem Schari'a gilt, -298-
geht auf spezifische historische Situationen zurück. In diesem Sinne wurde die Schari'a weder einheitlich verkündet, noch wurde sie als ein Abstraktum aufgefaßt. Sie war stets auf die bestehenden Realitäten bezogen, auf die sie angewendet wurde; sie zog vorherrschende Traditionen und Gebräuche heran, von denen sie ihre eigenen Regeln ableitete. Der Fortentwicklung dieser Traditionen und Gebräuche paßte sie sich an, um den Wandel bewältigen zu können... Für die Verwirklichung der Schari'a zu plädieren, ohne diese faktischen Ursprünge in Betracht zu ziehen, heißt, sich mit theoretischen und logischen Anliegen beschäftigen, die dem Geist des Islam widersprechen.48 In ihrem konstruierten Staatsmodell greifen Islamisten auf die Schari'a zurück, ohne überhaupt ihre Ursprünge zu kennen. Ich hatte Ende der 1980er Jahre die Ehre, den Islam-Reformer alAschmawi in Harvard kennenzulernen, und konnte ihn danach mehrmals bis Mitte der I990er Jahre in seiner schwerbewachten Wohnung in Kairo besuchen und ausgiebig mit ihm über die Schari'a sprechen. Thema dieser Gespräche war auch der von Islamisten konstruierte Zusammenhang zwischen Schari'a und «islamischer Herrschaft». Im Koran kommt das Verb hakama vor, das heute sowohl «urteilen» als auch «herrschen» bedeutet. Al-Aschmawi zeigt, daß im Koran der Begriff stets die Bedeutung von «Urteil», nicht von «Herrschaft» hat. Die Fundamentalisten wählen willkürlich die letztere Bedeutung. AlAschmawi ruft die Muslime dazu auf, sowohl zwischen Gottes Religion und menschlichem religiösen Denken zu unterscheiden als auch zwischen der Herrschaft Gottes und der Herrschaft der Menschen. Auf diese Weise würde die Bedeutung der Schari'a als Weg/Methode (tariq/manhadj) vom Rechtsverständnis abgekoppelt. Zudem fordert al-Aschmawi, den Islam zu historisieren. Heute erschallt in der islamischen Zivilisation jedoch nicht mehr die aufgeklärte Stimme al-Aschmawis, die geistige -299-
Hegemonie haben die Islamisten; diese debattieren ohne Rationalität, schwingen das Schwert, jedoch ohne die islamische Doktrin zu beachten, daß Djahl/Ignoranz zum Unglauben gehört. Ein islamischer Aufklärer, Hussein Ahmad Amin, beschreibt, wie ignorant die Islamisten in bezug auf ihre Religion und Zivilisation sind: Die Mehrheit dieser Menschen ist weder mit der islamischen Geschichte noch mit den grundlegenden Büchern der Fiqh und Scbari'a vertraut. Sie beziehen sich in der Hauptsache auf überlieferte Geschichten und Predigten, sowie auf armselige und stupide Pamphlete, die alle möglichen Fragestellungen oberflächlich behandeln.49 In der Regel besteht ein Zusammenhang zwischen Ignoranz und Intoleranz. Islam-Reformer riskieren ihr Leben, und es zeugt nach dem Erstarken des politischen Islam von außergewöhnlichem Mut, wenn al-Aschmawi in Kairo publiziert. In seinem Buch al-Islam alsiyasi/Der politische Islam äußert er sich sehr freimütig über die islamischen Fundamentalisten und kritisiert ihre Auffassung von einem islamischen Staat.50 Ein anderer Ägypter, Faradj Fuda, mußte in Kairo 1992 mit seinem Leben für sein geistiges Eintreten für die Säkularisierung51 bezahlen. Der Ruf nach Tatbiq alschari'a/Anwendung des islamischen Gottesgesetzes wird von einem sehr schwachen Bewußtsein für historische Wahrheiten, dafür aber von viel neuem Absolutismus begleitet. Auf diesen Geist stoßen wir in einem bedeutenden fundamentalistischen Werk über Fan alhukm fi alIslam/Die Regierungskunst im Islam. Doch der Autor Mustafa Abu-Zaid Fahmi ist als Linksfundamentalist einzuordnen, der Volkssouveränität im Sinne von Schura/Konsultation im Islam verankern will.52 Er läßt die islamische Lehre, daß nur Allah Souveränität habe, außer acht und schreibt: Wenn politische Demokratie lediglich bedeutet, daß politische Herrschaft auf der Herrschaft über das Volk durch das Volk -300-
basiert und daß das Volk die Quelle der Souveränität des Staates und all seiner Gewalten ist... dann muß der Islam die erste Demokratie auf Erden gewesen sein... Ich frage mich, warum Wissenschaftler bis jetzt nicht über diesen Gegenstand geschrieben haben, um zu zeigen, daß der Islam das Individuum nicht weniger vor der Tyrannei schützt als irgendeine der entwickelten modernen Verfassungen (ebd., S. 200). Im Islam hat es bisher aber weder eine Zivilgesellschaft noch Individuation gegeben! In Kapitel IV habe ich gezeigt, daß Volkssouveränität in den nominellen Nationalstaaten der heutigen islamischen Zivilisation nur auf dem Papier steht. Nun muß ich fairerweise einräumen, daß Linksislamisten wie der zitierte Fahmi oder der einflußreiche Hasan al-Hanafi53 totalitären Fundamentalisten wie etwa Maududi vorzuziehen sind. Doch die Auffassung, daß die Souveränität eines Staates auf dem Willen Gottes basiere, ist das Hauptmerkmal des Staatsmodells, welches alle Islamisten heute als Alternative zum säkularen Staat propagieren. Abschließend möchte ich auf der Grundlage meiner Feststellung eines weltanschaulichen Konfliktes zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation fragen, warum Muslime im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder Tyranneien unterworfen waren und die meisten ihrer Herrscher verhaßte Despoten gewesen sind. Von Fundamentalisten bekommen wir hierauf die bekannte Antwort: Nicht der Islam, sondern die Muslime selbst sind dafür verantwortlich. Lange bevor muslimische Fundamentalisten damit begannen, das wortwörtliche Verständnis des Koran zu neuem Leben zu erwecken, hatte sich der moderne Muslim Schakib Arslan die Frage gestellt: «Warum sind Muslime rückständig geblieben, während sich andere zur gleichen Zeit fortentwickelt haben?»54 Seine Antwort war einfach: Muslime haben nicht im Einklang mit dem Islam gelebt, wie es der Koran vorschreibt. Im Mittelalter hatten die Muslime allerdings eine hochentwickelte -301-
Zivilisation. Ist diese im Laufe der Geschichte55 nur wegen des Abweichens vom Islam untergegangen? Ganz gewiß ist der Glaube des islamischen Fundamentalismus unangemessen, die Anwendung der Schari'a und die Errichtung des Gottesstaates als Lösung für die Überwindung der islamischen Misere zu betrachten. Ganz im Gegenteil, die Anwendung der Schari'a hat zum Klerikal-Faschismus geführt. Wenn die Fundamentalisten als Vertreter des politischen Islam meinen, daß nur Gott herrschen könne und nur göttliches Recht, die Schari'a, die Muslime mit vorbildlichen Vorschriften ausstatte, nach denen sie ihr Leben in Unterwürfigkeit auszurichten hätten, dann verschreiben sie ihnen damit eine totalitäre Herrschaftsform. Ohne Demokratie und Säkularität kann es weder Entwicklung noch Frieden geben. Für die Zukunft bleibt nur die Hoffnung, daß Muslime trotz der anhaltenden fundamentalistischen Herausforderung dazu fähig sein werden, ihre eigene Geschichte zur Kenntnis zu nehmen. Der Fundamentalismus ist mit seinem Totalitarismus eine Herausforderung an die westliche Demokratie, und seine Intoleranz ist eine Bedrohung für den benötigten interkulturellen Dialog zwischen Orient und Okzident. Wie der Wettbewerb zwischen den politischen Modellen - fundamentalistischer Schari'a-Staat und demokratischer säkularer Staat - in der Welt des Islam ausgehen wird, ist Sache der Muslime selbst. Dieser Wettbewerb betritt jedoch auch Europa, weil hier eine IslamDiaspora besteht und stets anwächst (von 800000 im Jahr 1950 auf 15 Millionen im Jahr 2000). Ich stimme dem einleitend zitierten Spiegel-Bericht zu, der gegen die fundamentalistische Herausforderung empfiehlt: «Nur wer sich zur eigenen Kultur bekennt, kann am Ende auch glaubwürdig die fremde anerkennen; und hat Aussicht, von dieser anerkannt zu werden» (wie Anm. 5). Zu dieser politischen Kultur gehört der säkulare Rechtsstaat. Wer seine Verleugnung unter der Vorgabe von Toleranz zuläßt, -302-
akzeptiert ein Verständnis von «Freiheit», das der Franzose Jean François Revel «Democracy against itself/Demokratie gegen sich selbst»56 nannte. Im weltanschaulichen Wettbewerb kann die säkulare Demokratie gegen die fundamentalistische Herausforderung siegen, wenn die Demokraten sich zu ihr als ihrer politischen Kultur und zu ihren zivilisatorischen Werten bekennen.
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VIII. SCHLUßFOLGERUNGEN: ISLAMISCHER FUNDAMENTALISMUS ALS EINE HERAUSFORDERUNG? Bis auf die Bilder der Gewalt aus Palästina/Israel waren islamische Fundamentalisten vor dem 11. September weitgehend aus den Medien verschwunden, weil es einer Reihe islamischer Staaten - so zum Beispiel Ägypten - gelungen war, islamistische Terroristen in den Griff zu bekommen. Daraus wurde die falsche Schlußfolgerung gezogen, daß der Fundamentalismus mit dem Terrorismus gleichzusetzen sei. Viele Beobachter haben nicht erkannt, daß die fundamentalistische Herausforderung vor allem darin besteht, daß sie bestehende Ordnungen herausfordert, um an deren Stelle auf lange Sicht die Gottesherrschaft zu errichten.1
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1. Der Niedergang von al-Qaida als Ende des Fundamentalismus? Die wichtigste Fehleinschätzung ist die Deutung des Fundamentalismus als eine vorübergehende Erscheinung. Sehr oft läßt sich zudem eine Gleichsetzung von islamischem Fundamentalismus und Khomeinismus im Iran feststellen, so daß nur die iranische Revolution im Iran als fundamentalistische Herausforderung angesehen wird. Vom Iran aus sollte die weltweite islamische Revolution angestoßen werden. Als dies mißlang und ein gemäßigter Islamist sowie fälschlicherweise als Reformer gedeuteter M. Khatami gewählt wurde, dachte man im Westen, der Spuk des Fundamentalismus sei vorüber. Es erstaunte mich, als manche westlichen Kommentatoren mit dem Ende des Fundamentalismus gleichzeitig auch das Ende des Islamismus herbeireden wollten. Unausgereifte Bücher über den déclin de l'islamisme2 wurden veröffentlicht, und unaufgeklärte islamische und westliche Autoren schienen erfolgreich in ihrer Bemühung zu sein, das bereits in den Jahren 1991-1995 erschienene fünfbändige epochale Werk über den Fundamentalismus zu diskreditieren, das die Chicago University Press für die American Academy of Arts and Sciences veröffentlicht hat.3 Der Iraner S. Nasr und andere sprachen von einer «Schande», daß der Begriff Fundamentalismus überhaupt verwendet wurde. Auch andere bezeichneten die Rede vom Fundamentalismus als Ausdruck eines im Westen verbreiteten «Feindbildes Islam»; sie sahen darin ein Medienprodukt, das in Wirklichkeit nicht existiere. Diese «Kritiker» haben in der Regel die genannten einschlägigen Bände nicht gelesen. Dann kam am 11. September 2001 die für manche unerwartete Ernüchterung. Es wurde bekannt, daß Osama Bin Laden 55 Militärlager in Afghanistan unterhält,4 in denen außer den Gotteskriegern der Taliban auch ca. 13 000 arabische, -305-
tschetschenische, kaschmirische, xinjiangchinesische, philippinische und andere Islamisten nicht nur in den irregulären Krieg als Djihad eingeführt, sondern auch geistig indoktriniert wurden. Während des Krieges wurde im Oktober 2001 in Afghanistan ein elfbändiges Manual of Jihad entdeckt, das eine Einführung in den irregulären Krieg enthält. Es gibt Menschen, die unbelehrbar sind. Dazu gehören die Mitglieder eines deutschen Sprachgremiums, das «Gotteskrieger» zum «Unwort des Jahres» erklärt hat, offensichtlich - wie Die Welt vermutete um jede Kritik am Islam/Islamismus zu unterbinden. Als die USA am 7. Oktober 2001 dem Taliban-Regime und der BinLaden-Connection den Krieg erklärten, zerfiel die zuvor bekundete Solidarität mit den USA im europäischen Westen. Im Gegenzug hat Bin Laden «al-Kufralalami/dem internationalen Unglauben» den Djihad erklärt. Unkundige Kommentatoren sagten den USA dieselbe Schmach voraus, die die Sowjetrussen zehn Jahre lang in Afghanistan erlitten hatten. Keiner dieser Experten schien zu ahnen, daß der Krieg in nur einem Vierteljahr von Oktober bis Dezember 2001 gewonnen werden könnte und das Regime der Taliban völlig zerbrechen würde. Die 55 al-Qaida-Lager in Afghanistan wurden zerstört und die dort agierenden Mudjahidin als Gotteskämpfer (von einem Orientalisten bemerkenswert falsch als «Söldner» bezeichnet) entweder getötet oder gefangengenommen. Kaum war dieser Sieg errungen, versuchte der US-Kommentator William Pfaff die Welt zu beruhigen. In seinem Leitartikel schrieb er: Das Phantom Fundamentalismus «was blown away».5 Wenn dieses Buch im Herbst des Jahres 2002 erscheint, stellt sich die Frage: Ist die fundamentalistische Herausforderung nun wirklich zu Ende? William Pfaff meinte dazu im November 2001: Der Sieg hat... eindeutig gezeigt, daß der islamische Fundamentalismus, der Washington gebannt hielt und Menschen sowie Regierungen in der islamischen Welt beeinflußte, nichts anderes als ein Phantom war, das nach einem ersten -306-
entschiedenen Angriff weggefegt wurde (ebd.). Auch meint Pfaff, daß die US-Lektion die Anziehungskraft des Fundamentalismus auf die Muslime gemindert habe. Es ist diese Art von Kommentatoren, die weder veränderte Weltpolitik noch Politisierung der Religion und ihre Einbettung in Konflikte verstehen und diese Ignoranz auf ihr Konsumentenpublikum übertragen. Besser sind jene Journalisten, die nicht in einem westlichen, sondern einem islamischen Land leben und arbeiten und die dortige Kultur angemessen verstehen; entsprechend können sie besser informieren. Der Saudi-Arabien-Korrespondent der New York Times berichtet von der Popularität Bin Ladens in jenem zentralen islamischen Land und fügt hinzu: «Osama Bin Laden wird das Gewissen des Islam genannt... Seine Weltsicht unterscheidet sich kaum von der jedes einfachen SaudiArabers.»6 Auch Durchschnittsmuslime, die den Terrorismus der alQaida ablehnen, empfinden Haß gegen den Westen, wenn die USA ihre mächtige Kriegstechnologie zur Bombardierung eines islamischen Landes - sei es der Irak, der Sudan oder Afghanistan - einsetzen. Fundamentalisten sprechen hier von «Kreuzzug», und dies weckt im islamischen Kollektivgedächtnis entsprechende Erinnerungen und Empfindungen (vgl. Anm. 8). Sehr korrekt hat der Leitartikler der New York Times Thomas Friedman nach einer Tour durch islamische Länder festgestellt, daß seine islamischen Gesprächspartner wünschen, die USA würden Bin Laden nie erwischen.7 Nun, jenseits der Rhetorik von Kreuzzug und Djihad,8 gilt es einen Blick auf Konfliktpotentiale im Zusammenhang mit dem Fundamentalismus zu werfen. Diese traten vor allem in den folgenden vier Bereichen auf: 1. islamischer Fundamentalismus als Ideologie der im Untergrund tätigen Opposition in islamischen Ländern, -307-
2. islamischer Fundamentalismus und regionale Konflikte in der Weltpolitik (Kaschmir, Palästina, Tschetschenien, Xinjiang etc.), 3. Politisierung des Islam gegen Nichtmuslime in der eigenen Bevölkerung (Nigeria, Philippinen, Indien, Ägypten), 4. Islam-Diaspora im Westen und ihr Mißbrauch als «Hinterland» des Terrorismus, wie dies am 11. September geschah. Über jedes dieser Konfliktpotentiale lassen sich umfangreiche Bücher schreiben. Warum dann das Gerede über «das Ende des Fundamentalismus» bzw. die Deutung, daß diese Herausforderung eine vorübergehende Erscheinung sei? Im Lichte der Erkenntnis, daß der Fundamentalismus uns im 21. Jahrhundert weiterhin begleiten wird, werde ich in diesem abschließenden Kapitel meine Ergebnisse zusammenfassen.
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2. Ein Rückblick In den vorangegangenen sieben Kapiteln habe ich gezeigt, daß der islamische Fundamentalismus ein politisches und ein soziokulturelles Phänomen ist, welches eine modernisierte archaische Haltung gegen die von der kulturellen Moderne betriebene Trennung von Religion und Politik zum Ausdruck bringt. Diese Haltung bedient sich der Religion als Mittel der Artikulation. Es ist falsch, in den Fundamentalisten religiöse Menschen zu sehen, aber es ist ebenso falsch, sie außerhalb der Religion zu plazieren. Das Gerede vom Fundamentalismus als einer «Renaissance der Religion» oder einer Wiedergeburt der Tradition entbehrt jeglicher Grundlage. Der Fundamentalismus ist weder ein Neotraditionalismus9 noch eine «Renaissance der Religion», da sein Ziel zuvorderst eine neue Gestaltung der politischen Weltordnung ist. Kurzum, der religiöse Fundamentalismus ist, wie seine islamische Spielart veranschaulicht, eine politische Ideologie, die durch die Konfrontation mit der Moderne entstanden ist. Die Fundamentalisten sind keine Traditionalisten, weil sie von einer «halben Moderne»10 träumen; sie verbinden eine mittelalterliche Schari'a-Auffassung sowie ihre Weltbilder mit den Instrumenten der modernen Wissenschaft und Technologie. Die Hervorhebung des politischen Charakters des islamischen Fundamentalismus könnte das Gegenargument hervorrufen, daß es eine Trennung von Religion und Politik im Islam gar nicht gebe und der Islam immer eine politische Religion gewesen sei. Es ist zwar richtig, daß in der islamischen Geschichte der Doktrin zufolge der wahre Imam als religiöse Autorität zugleich der politische Führer, d.h. seinerzeit der Kalif, sein sollte.11 Dieser historische Hinweis bezieht sich jedoch auf längst vergangene Zeiten, berührt also den zeithistorischen Gegenstand dieser Untersuchung, den Fundamentalismus, nicht. Der Fundamentalismus strebt nicht nach einer Wiederherstellung des -309-
Kalifats. Meine zentrale These lautet, daß der islamische Fundamentalismus eine völlig neue, zeitgenössische Synthese zwischen Religion und Politik darstellt, die im Kontext der Konfrontation des Islam mit der Moderne entstanden ist. Mit anderen Worten: Der islamische Fundamentalismus ist ein neues Phänomen im modernen Islam, das mit der klassischen Verbindung von Politik und Religion im frühen und mittelalterlichen Islam nicht vergleichbar, d. h. in der islamischen Geschichte bisher beispiellos ist. Denn ohne die Moderne und ohne ihre Globalisierung würde es weder im Dar al-Islam noch in den anderen, sich fundamentalisierenden Kulturkreisen (z.B. dem politischen Hinduismus, um ein Beispiel außerhalb der monotheistischen Religionen aufzugreifen) das uns heute bekannte globale Phänomen des Fundamentalismus12 geben. Die kulturelle Moderne trennt gleichermaßen Staat und Sphäre des Wissens von der der Religion. Der Bereich des Wissens wird zu einer Sphäre der Wissenschaft und Technologie. Staat heißt in der Sprache der Moderne: demokratischer, auf der Grundlage der Volkssouveränität basierender, d.h. säkularer Nationalstaat. Zu den Folgen der Globalisierung gehört, daß sich alle Gemeinwesen der Welt als Nationalstaaten13 organisieren, ganz gleich, ob sie dies substantiell wie in Europa und Nordamerika oder nominell wie in weiten Teilen von Asien und Afrika tun.14 Nach außen sind diese Nationalstaaten insofern gleich, als sie über externe Souveränität verfügen. Diese souveränen Nationalstaaten sind im internationalen System miteinander verbunden. In diesem Buch haben die Leser die Normen und Werte sowie die Prozeduren, die den Umgang der innerhalb dieses Systems miteinander verkehrenden Nationalstaaten regeln, als eine Grundlage der bestehenden Weltordnung kennengelernt.15 Der religiöse Fundamentalismus als eine politische Ideologie und zugleich als eine soziale Protestbewegung (ungeachtet, ob legal -310-
als Parteien oder illegal als Djihad-Gruppen im Untergrund organisiert) wendet sich gegen die westliche Moderne in ihrer soeben beschriebenen doppelten Bedeutung, d.h. zum einem gegen die Trennung zwischen Wissen und Religion und zum anderen gegen die Trennung zwischen Religion und Politik. In den vorangegangenen Kapiteln steht die politische Revolte des islamischen Fundamentalismus gegen die bestehende Weltordnung im Mittelpunkt meiner Untersuchungen, mit dem Hauptaugenmerk auf dem Kampf des islamischen Fundamentalismus gegen die nationalstaatlich, auf der säkularen Grundlage der Volkssouveränität16 organisierte Weltordnung der Moderne. Es gibt noch einen anderen Aspekt des islamischen Fundamentalismus, nämlich die Revolte gegen die Trennung von Religion und Wissen im Kontext der modernen Wissenschaft, den ich jedoch in einem anderen Buch untersucht habe (vgl. Anm. 10). Da in diesem Buch häufig von Weltordnung und vom Fundamentalismus als Widerstand gegen diese Ordnung die Rede ist, sollte die Bedeutung dieses Begriffes näher bestimmt werden. Unter Weltordnung verstehe ich jene Ordnung zwischen souveränen Staaten, die sich nach dem Westfälischen Frieden von 1648 entwickelt hat. Nach der Französischen Revolution wurden jene souveränen Staaten zu Nationalstaaten. In ihren Anfängen bildeten die an dieser ursprünglichen Weltordnung beteiligten staatlichen Akteure eine europäische Staatengemeinschaft. Die europäische Expansion, die mit der Entstehung des Westens17 und der damit verbundenen Globalisierung einherging, bildet den historischen Rahmen der Verbreitung des europäisch geprägten internationalen Systems. Vor allem die dem Zweiten Weltkrieg folgende Welle der Entkolonialisierung trug zur Globalisierung des ursprünglich europäischen Staatensystems bei, das heute die gesamte Welt umfaßt. Während ihres Kampfes gegen die Kolonialherrschaft schrieben sich die antikolonialen Bewegungen die europäische -311-
Idee des Nationalstaates und die damit zusammenhängenden Werte und Normen des damals noch exklusiv europäischen Staatensystems auf ihre Fahnen, d.h., sie machten sich diese zu eigen.18 Die im Rahmen der Entkolonialisierung gebildeten nominellen Nationalstaaten in Asien und in Afrika sind jedoch, wie bereits ausgeführt, an der Erfüllung ihrer entwicklungspolitischen Aufgaben, d. h. an der Aneignung der Moderne, gescheitert. Der Aufstand der Dritten Welt gegen die Weltordnung nimmt heute einen fundamentalistischen Charakter an.19 Am Beispiel des islamischen Fundamentalismus haben wir gesehen, daß die Revolte gegen den Westen zugleich als eine Revolte gegen die bestehende Weltordnung anzusehen ist. Das Elend und die Ungerechtigkeiten, die ihr zugrunde liegen, kann keiner übersehen. Die zwei zentralen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, lauten: Ist der Westen schuld an diesem Elend im Dar al-Islam? Und: Kann eine Politisierung der Religion, die, wohlgemerkt, nicht mit einer «Renaissance des Religiösen» zu verwechseln ist, der Menschheit bessere Zukunftsperspektiven bieten? Nach dem 11. September haben viele Feuilleton-Journalisten und andere deutsche Gesinnungsethiker die erste Frage bejaht und so den Terrorismus zu erklären versucht, wodurch sie ungewollt dem Fundamentalismus eine Legitimation verschafft haben. Haben sie recht?
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3. Auf der Suche nach einer Erklärung für den Fundamentalismus Ohne die großen Belastungen des Kolonialerbes zu bestreiten, bin ich der Ansicht, daß es nicht weiterhilft, uns damit zu begnügen, sämtliche Probleme der islamischen Welt mit der sicherlich verbrecherischen kolonialen Praxis der Europäer in der islamischen Welt zu erklären. Zu diesen Problemen gehört zum Beispiel die Explosion der Bevölkerungszahlen. So hat sich die Bevölkerung Algeriens in einem Zeitraum von 40 Jahren mehr als verdreifacht (von 9 Millionen 1962, dem Jahr der Unabhängigkeit, auf etwa 34 Millionen heute). Jeder weiß, daß keine Ökonomie ihre Ressourcen innerhalb von drei Jahrzehnten parallel zu einem solchen Bevölkerungswachstum vermehren kann. Bevölkerungsexplosion bedeutet zwangsläufig eine Verknappung der Ressourcen und somit Elend als unvermeidliche Begleiterscheinung. Dabei gehört Algerien als ein erdölproduzierendes OPEC-Land nicht gerade zu den armen Ländern Afrikas. Ist der Westen nun daran schuld, daß das FLNEinparteienregime in Algerien alle Ressourcen des Landes in einem von Anfang an falsch konzipierten Industrialisierungsprogramm vergeudet hat? Von diesem zeugen heute nur noch Ruinen. Früher haben einige westliche Entwicklungstheoretiker ohne regionale Kenntnisse die Idee von einer «Abkoppelung der Dritten Welt» von der Weltwirtschaft geprägt, um einen Ausweg aus der Sackgasse der Unterentwicklung aufzuzeigen. Diese Idee basierte auf der These von der «Ausbeutung der Dritten Welt». Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes gibt es jedoch keine «dritte» Welt mehr, sondern eine Welt der Zivilisationen. Im Gegensatz zur Kolonialzeit bieten Asien und Afrika heute wenig lukrative Möglichkeiten für die Industrieländer, dort aktiv zu sein. Aus diesem Grunde rufen Wissenschaftler wie der Amerikaner -313-
Stephen Krasner zur Abkoppelung des Westens von der Dritten Welt auf, denn der «strukturelle Konflikt»20 zwischen beiden scheint nicht lösbar. Jenseits der Rhetorik der «Dritten Welt» formiert sich das Dar al-Islam als Zivilisation gegen den Westen und die von ihm dominierte Weltordnung. Dennoch gehören islamische Staaten zur Weltgemeinschaft, und dies dem islamischen Fundamentalismus wie Krasner gleichermaßen zum Trotz. «Strukturelle Konflikte» (Krasner) zwischen der Welt des Islam und dem Westen müssen gemeinsam bewältigt werden. Fest steht jedoch, daß die Globalisierungsthese keine plausible Erklärung für die Entstehung des Fundamentalismus bietet. Richtiger ist die Einschätzung, daß es sich beim Fundamentalismus um eine neue Synthese von Religion und Politik handelt, die aus den Problemen unseres Krisenzeitalters im 21. Jahrhundert erwächst. Diese Problematik ist deshalb so zentral, weil die angeführte Synthese nicht etwa nur von Randgruppen vertreten wird. Wir leben im Zeitalter des Fundamentalismus, der behauptet, politische Lösungen für anstehende Probleme aus der Religion zu entnehmen. Es gilt, eine Antwort auf die Frage zu suchen, ob die fundamentalistische Herausforderung für die heute wirtschaftlich, ethnisch/national sowie politisch und kulturell fragmentierte Menschheit ein Fluch oder ein Segen ist. Der Fundamentalismus will desäkularisieren, d. h. die Trennung von Religion und Staat/Politik rückgängig machen. Talal Asad, der den Fundamentalismus im Kontext Religion/Politik erörtert, verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der «irrationalen Intoleranz» und merkt dazu an, daß er sich der Tautologie bewußt sei, dennoch den Begriff bewahren wolle. Fundamentalisten glauben im Besitz der einzig gültigen Wahrheit zu sein und wollen das, was sie für die Wahrheit halten, anderen aufzwingen: «Religiöse Intoleranz, die das Ziel verfolgt, den anderen religiöse Glaubenssätze aufzuzwingen, ist -314-
deshalb irrational, weil das, was für eine Wahrheit gehalten wird, sich niemals durch Zwang aufsetzen ließe.»21 Zwang ist immer politisch, und wenn er im religiösen Gewand erscheint, trennt er Menschen unterschiedlichen Glaubens voneinander. Menschen können nur dann einen interreligiösen Dialog miteinander führen, wenn sie sich von ihrem religiösen Absolutismus befreien, wodurch sie zur Toleranz fähig werden. Der Fundamentalismus kann diese Vorbedingung nicht erfüllen; er ist eine religiöspolitische Ideologie, die keine Renaissance der Religion mit sich bringt, auf der Basis von Zwang operiert und daher in den Bereich der bereits angeführten «irrationalen Intoleranz» fällt. Die Religion ist transzendental, und sie bringt den ursprünglichen menschlichen Traum vom Paradies22 zum Ausdruck, ist also ein urmenschliches Bedürfnis, welches die Philosophen der Aufklärung in ihrem Sturm auf die Religion verkannt haben. Aber das wahrhaft Religiöse kann nur nach der Entpolitisierung der Religion, d.h. nach ihrer Befreiung von Ideologie und Zwang, zum Ausdruck kommen. In diesem Sinne ist die nicht antireligiös gesinnte Säkularisierung23 weit mehr als eine Trennung von Religion und Staat/Politik. Zum einen schützt eine solche Säkularisierung die Religion vor politischem Mißbrauch, zum anderen beseitigt sie die vorhandenen religiös bedingten Barrieren zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturgemeinschaften. Daher bin ich der Ansicht, daß politisierte Religionen, d. h. alle Varianten des Fundamentalismus, den Nährboden nicht nur für Intoleranz, sondern auch und vor allem für Konflikt und Zwist unter der religiös gespaltenen Menschheit bilden. Innerhalb eines Nationalstaates wie Indien unterminiert die Verwandlung der Hindu-Religion in einen politischen Hinduismus und des IndoIslam in eine indische Variante vom islamischen Fundamentalismus den inneren Frieden.24 Der Konflikt in Indien ist einer zwischen Hindus und Muslimen. Es gibt andere -315-
Konflikte, die sich auf die Spannungen zwischen Christen und Muslimen beziehen, sei es auf dem Balkan, in Tschetschenien, Nigeria, auf den Philippinen oder anderswo. Ähnliches läßt sich im Nahen Osten beobachten, wo der jüdische und der arabischislamische Fundamentalismus die Möglichkeit eines Friedens25 unterminieren. Kurzum, jede Politisierung der Religion spaltet die Menschheit und verhärtet vorhandene Konfliktpotentiale. Der Fundamentalismus läßt sich nicht mit der «Schuld des Westens» erklären; seine Entstehung geht auf eine komplexe Kombination sowohl interner als auch externer Bedingungsfaktoren zurück. Auf der Suche nach einer Strategie gegen den Fundamentalismus stimme ich mit Talal Asad darin überein, daß «Säkularisierung etwas mehr als nur eine Trennung von Religion und Staat bedeutet; sie beinhaltet eine zwingende Universalisierung von moderner Moralität, von Wissen, von Recht und von Nationalstaatlichkeit».26 Diese Leistung kann keine Religion vollbringen, es sei denn durch ihre eigene Universalisierung auf Kosten der anderen Religionen. Die angeführten universellen Werte, die durch eine Säkularisierung religionsübergreifend etabliert werden können, werden jedoch (bis auf den Begriff der Nationalstaatlichkeit) auch von islamischen Fundamentalisten verwendet. Auch sie sprechen von Recht, Wissen und Sittlichkeit. Wenn sie von «Recht» sprechen, meinen sie jedoch Schari'a/Islamisches Recht und beanspruchen hierfür universelle Geltung. Mit der Globalisierungsthese kann man nicht erklären, warum ein fundamentalistisches Regime wie im Sudan 60 Prozent der Bevölkerung unterdrückt. Der Zwang, der aus dem Anspruch des islamischen Rechts auf Universalität resultiert, führt zum Bürgerkrieg, der seit September 1983, d. h. seit der Einführung der islamischen Schari'a, andauert. Das fundamentalistische Programm basiert immer auf Zwang. Islamische Fundamentalisten wollen zunächst die -316-
nichtfundamentalistischen Muslime, denen sie Abfall vom Glauben bzw. Rückfall in die Djahiliyya vorwerfen, auf den «richtigen Pfad» zwingen. In einer weiteren, zweiten Stufe wollen sie dann ihre Hall Islami/Islamische Lösung dem Rest der Menschheit aufzwingen. Genau das ist der Inhalt der fundamentalistischen Herausforderung; sie läßt sich nur auf der weltanschaulichen Ebene deuten und verstehen, obwohl sie in globale politisch-ökonomische Zusammenhänge eingebettet ist. Die in diesem Buch vorgelegten Analysen der zentralen Themen der fundamentalistisch-islamischen Herausforderung der Gegenwart verdeutlichen, daß der Widerstand gegen die Trennung von Religion und Politik aus der kulturellen Moderne erwächst, der der politische Islam entgegentritt. Der islamische Fundamentalismus ist kein Zufall. Die Weltanschauung des Fundamentalismus läßt sich nicht auf soziale, politische und ökonomische Rahmenbedingungen zurückführen, auch wenn diese eine wesentliche Rolle spielen. Die Verbreitung des islamischen Fundamentalismus geschieht in einer Krisensituation, in der sich Soziales und Weltanschauliches vermengen. Das Beispiel Algeriens zeigt, wie eine Krise, die sowohl auf die Verschlechterung der sozioökonomischen Verhältnisse (Verdreifachung der Bevölkerung) als auch auf den Prozeß der Delegitimierung (Legitimitätsverlust der FLN) zurückzuführen ist, ein Milieu schafft, in dem der politische Islam gedeiht.
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4. Der Zeitpunkt: Die Entstehung des islamischen Fundamentalismus und seine geistigen Quellen Es steht eindeutig fest, daß der Prozeß der Entstehung und Ausbreitung des politischen Islam in den frühen 70er Jahren, d. h. lange vor der «iranischen Revolution», eingesetzt hat. Die fundamentalistische Neufassung der alten islamischen Idee von der Einheit von Religion und Politik verbreitete sich in einer Phase, in der der Name und die Schriften Khomeinis in der gesamten Welt fast unbekannt waren. Die Revolution im Iran, in der die Mullahs den «Mantel des Propheten» anlegten, lenkte jedoch die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die gegenwärtige Krise in der Welt des Islam. Doch wurde ihre Wirkung dadurch begrenzt, daß sie schi'itisch war. Nur zehn Prozent der 1,5 Milliarden Menschen umfassenden islamischen Gemeinde bekennen sich zur Schi'a. Der überwiegende Teil der Muslime ist sunnitisch. Die sich islamisch darstellende Revolution im Iran hat dennoch die Idee der Einheit von Religion und Politik neu belebt. Die geistigen Quellen des sunnitisch-islamischen Fundamentalismus gehen jedoch auf Sayyid Qutb (hingerichtet 1966) zurück, der lange vor Khomeini die Idee des Gottesstaates gepredigt und für sie den neoislamischen Begriff Hakimiyyat Allah geprägt hatte. Für dieselbe Idee des Gottesstaates hat Khomeini lediglich die klassische schi'itische Doktrin von Wilayetifaqih neu gedeutet; diese Doktrin ist als klassisch zu bezeichnen, und sie existierte vor Khomeini, der ihr aber eine neue Bedeutung gab.27 Noch in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts glaubte man, daß die Vorstellung vom islamischen Gottesstaat bereits Geschichte sei. Im Jahre 1925 erschien das bahnbrechende Buch von 'Ali 'Abd al-Raziq, in welchem er Islam und Politik voneinander trennt.28 In den 50er und auch in den 60er Jahren wurden zwar einige -318-
wichtige neue islamische Beiträge zu dieser alten Debatte publiziert, die den Einwänden gegen 'Abd al-Raziqs Ansichten über die Trennung von Religion und Politik neues Leben verliehen. Unter ihnen waren die bedeutenden Bücher von alRayes (1953), Musa (1962) und Mutawalli (1966). Diese vom Geiste her fundamentalistischen Bücher waren jedoch zu keiner Zeit so verbreitet bzw. populär wie die damals dominierenden Befürwortungen säkularer Lösungen, wie sie z. B. in den antiklerikalen Schriften von Khalid Muhammad Khalid zum Ausdruck kommen.29 Khalid prägte auch den damals in der islamischen Doktrin nicht vorhandenen Begriff Kahana Islamiyya/islamische Theokratie, um zu zeigen, daß islamische Schriftgelehrte, die Ulema, sich in Wirklichkeit doch zu Geistlichen entwickelt hatten, obwohl der Islam in seiner Doktrin keinen Klerus zuläßt.30 Khalid Muhammad Khalid führte wiederholt den Koran und den Propheten Mohammed an, um seine Forderung nach Trennung von Religion und Politik zu untermauern. Er wollte den Islam als einen religiösen Glauben und eine ethische Orientierung, nicht jedoch als eine politische Ideologie erhalten wissen. Während der 50er und 60er Jahre repräsentierten die aufgeklärten Schriften von Khalid und nicht die von al-Rayes, Musa oder Mutawalli, die heute Popularität genießen, die vorherrschende geistige Orientierung im arabischsprachigen islamischen Teil der Welt. Es ist sehr wichtig, die geistigen Quellen als Ursprung der weltanschaulichen Dimension der fundamentalistischen Herausforderung zu verstehen. Diese finden wir seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Schriften des ägyptischen Muslimbruders Yusuf al-Qaradawi, der für eine Hall Islami/lsiamische Lösung31 eintritt und dessen Bücher den Aufstieg des politischen Islam ankündigten und seitdem begleiten. Die der kulturellen Moderne entnommene Idee der Trennung von Religion und Politik wurde im späten 19. Jahrhundert -319-
zunächst von christlichen Arabern vertreten; sie bot ihnen die Möglichkeit, sich von ihrem Status als Dhimmi/geschützte religiöse Minderheit zu befreien. In einer säkular definierten arabischen Nation wären christliche und muslimische Araber gleichberechtigt. Dagegen können Nichtmuslime in einer islamischen Umma geduldet, aber niemals gleichberechtigt sein. Im Islam heißt Toleranz nicht mehr als Duldung.32 Als die Idee der Trennung von Religion und Politik im Übergang zum 20. Jahrhundert von muslimischen Arabern aufgenommen wurde, war sie nicht länger auf Christen beschränkt. Doch nur arabische Christen blieben der säkularen Orientierung treu, weil diese für sie gleichbedeutend mit «Überleben» war.33 Ihren Höhepunkt erreichte diese Orientierung mit der Formulierung des geistigen Vaters des Panarabismus, Sati' al-Husri: «al-Din li-Allah wa alwata U algami'/ Religion ist eine Angelegenheit zwischen Gott und dem Einzelnen, während das Vaterland das Anliegen aller ist.»34 Mit dem Aufstieg des politischen Islam und dem Niedergang säkularer Orientierung im Orient sind viele frühere Säkularisten (wie z.B. der zitierte Khalid) Fundamentalisten geworden. Nach dem Aufstieg des politischen Islam wurde nur von arabischen Christen weiterhin die säkulare Orientierung gepflegt. Nach der Auflösung des letzten islamischen Reiches, des Osmanenreiches, 1924, hat sich die islamische Welt geteilt. Am Ende des 20. Jahrhunderts, parallel zur Auflösung des kommunistischen Imperiums, hat das Dar al-Islam begonnen, sich auch politisch als islamische Zivilisation neu zu gestalten. In diesem Zusammenhang nimmt der islamische Fundamentalismus den Platz des säkularen arabischen Nationalismus ein, der zuvor die Unterscheidung zwischen Arabern und Türken als Basis für die Abgrenzung der Araber von der restlichen islamischen Welt vorgenommen hatte. Hierbei ging es ursprünglich um Ansprüche auf eine kulturelle Einheit aller Araber bzw. die politischen Forderungen nach -320-
arabischer Autonomie, die gegen das islamisch legitimierte Osmanenreich gerichtet waren. Der implizit säkulare Charakter selbst des frühen arabischen Nationalismus war eng mit diesen historischen Begleitumständen verknüpft. Der Arabismus mußte säkular sein, weil er aufgrund seiner Zielsetzung, der Errichtung eines arabischen Nationalstaates, gegen das islamische Universalreich gerichtet war.35 Ebenso wie der Arabismus, der totalitär und niemals demokratisch orientiert war, ist der politische Islam antidemokratisch. Im Gegensatz zum Panarabismus ist jedoch der politische Islam ein Universalismus, der einen Weltstaat errichten will, die Unterschiede zwischen Turkvölkern, Arabern oder Persern allerdings nicht wegzaubern kann. Die Bedrohung durch die iranische Revolution sowie ihr Anspruch - während der Khomeini-Ära - auf Übertragbarkeit in die benachbarten arabischen Staaten trug seinerzeit zu Veränderungen in den Anschauungen arabisch-islamischer Fundamentalisten bei. Seit den beiden Golfkriegen ist der politische Islam im arabischen Teil des Nahen Ostens mit dem Arabismus verknüpft. In der Sprache der arabischen Nationalisten hat sich heute die neue Formel «islamisch-arabischer Nationalstaat» eingebürgert, die in der Tat einen Widerspruch in sich birgt. Denn der Nationalstaat ist dem Dar al-Islam eine fremde Institution. Konsequente islamische Fundamentalisten lassen sich auf solche Versöhnungsversuche zwischen Islam und Nationalstaat nicht ein und bestehen somit weiter auf Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft, womit sie das Prinzip demokratischer Volkssouveränität kategorisch zurückweisen. Der Universalismus der islamisch legitimierten Revolution im Iran konnte keinen Widerhall im sunnitisch-arabischen Teil der islamischen Zivilisation finden, weshalb der Export dieser Revolution gescheitert ist.36 Der sunnitisch-islamische Fundamentalismus bleibt seinen Quellen treu. Einer der führenden sunnitischen islamischen -321-
Fundamentalisten, Muhammad 'Immara, gehörte einst zu den Teilnehmern eines Dialoges zwischen Panarabisten und Fundamentalisten, der unter dem Motto «Islam und arabischer Nationalismus» stattfand und dem ich beiwohnen durfte. 'Immara ist Autor eines der einflußreichsten Bücher über Islam und Arabismus.37 Für 'Immara steht fest, daß «der Säkularismus nicht unsere Präferenz für eine fortschrittliche Option ist.... Diejenigen unter uns, welche dem Säkularismus verpflichtet sind... sind bewußt oder unbewußt Imitatoren.»38 Den Islam, der nach 'Immaras Ansicht die Substanz des Arabismus darstellt, deutet er arabozentrisch. Arabismus und Islam seien aufgrund des «einzigartigen arabischen Charakters des Islam»39 untrennbar miteinander verbunden. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Araber können den iranisch-schi'itischen Anspruch auf eine islamische Führungsrolle nicht hinnehmen. Diese Gleichsetzung von Islam und Arabismus zielt bei der arabozentrierten Richtung des Fundamentalismus darauf ab, den panarabischen Nationalismus islamisch neu zu definieren und den Universalismus des Islam auf eine Bindung an gemeinsame Werte zu reduzieren. Daher geht die Entstaatlichung des islamischen Universalismus, d. h. die Aufgabe des universellen Kalifats, einher mit einer auf den arabischen Kulturraum beschränkten Politisierung des Islam. Dies scheint widersprüchlich zu sein, doch gehört logische Widerspruchsfreiheit nicht zu den Stärken des islamischen Fundamentalismus. Ähnliche ideologische Konstellationen lassen sich bei den pantürkisch orientierten Fundamentalisten in Zentralasien oder bei Universalisten der iranischen Revolution feststellen. Letztere entpuppen sich oft als persische EthnoNationalisten. Islam und Ethnizität waren, wie bereits deutlich wurde, während der gesamten islamischen Geschichte miteinander verwoben. Es stellt sich die Frage, was die Idee des Gottesstaates mit der islamischen Schari'a zu tun hat. Es sei hier an das Erbe des -322-
mittelalterlichen islamischen Sakraljuristen (Faqih) Ibn Taimiyya erinnert,40 der als orthodoxer Muslim schon früher ähnliche Ansichten vertreten hatte. Im Jahre 1953 versicherte uns Muhammad Dia' al-Rayes, daß der Islam eine Form von legaler Herrschaft anbiete, weil politische Autorität im Islam an die Schari'a als eine Rechtsinstitution gebunden sei. Diesen Gedanken finden wir im 12. Jahrhundert auch bei Ibn Taimiyya. Diejenigen, die nicht mit solchen Ideen übereinstimmen, werden heute von Islamisten geistig in die Nähe der europäischen Orientalisten gebracht: Die Behauptung der Orientalisten, daß die Herrschaft im Islam die Form einer Despotie annimmt, ist falsch... Der Grund für diesen Fehler ist, daß sie das Kalifat, wie es in der Geschichte wirklich existiert hat, in den Blick nehmen... Damit verwechseln sie den Islam als eine Rechtsidee mit dem, was in der Welt der Muslime wirklich geschah.41 Wir sehen, daß der Islam als ein reines Ideal betrachtet wird, das von dem Schmutz der Geschichte reingehalten werden soll. Die Realisierung dieses Ideals bleibt stets ein frommer Wunsch des orthodoxen Islam. Ähnlich wie bei al-Rayes teilt uns auch 'Abdulhamid Mutawalli mit: «Wenn es um die Regierungslehre geht, dann bietet der Islam die einzigen allgemeinen Grundsätze, die für jede Zeit und jeden Ort Gültigkeit für sich beanspruchen können.»42 Hier wird deutlich, wie der orthodoxe mittelalterliche Islam in einen religiösen Fundamentalismus übersetzt wird, der aus der Religion eine Ordnungsvorstellung macht. Nach dieser Ideologie garantieren diese Grundsätze der Schari'a eine reibungslose Umsetzung der «islamischen Verfassungsnormen», nämlich Gerechtigkeit, Freiheit, Partizipation (Schura) und Gleichheit in einer politischen Realität. Kenner der islamischen Geschichte wissen jedoch, daß diese «Verfassungsnormen» (das Wort Verfassung/Dustur ist allerdings neuarabisch!) keine materielle Entsprechung hatten. Das Amt des Staatsrichters/Kadi war jeweils dem Kalifen untergeordnet. Die Richter haben mit -323-
dem Rückgriff auf die Schari'a die Handlungen ihres Herrschers post festum stets gerechtfertigt. Die orthodoxen Muslime waren Legitimatoren, die heutigen Islamisten sind Ideologen. Die beiden Väter des islamischen Fundamentalismus Qutb und Maududi lehnen eindeutig die Demokratie als Kufr/Unglauben ab. Gemäßigte Islamisten wie Muhammad Yusuf Musa vertreten die Auffassung, daß ein islamischer Herrscher insofern demokratisch ist, als er sich verpflichtet, «seine Herrschaft und seine Politik in Übereinstimmung mit dem islamischen Recht auszuüben, wie es im Koran und der Sunna des Propheten fixiert ist».43 Nach der inhaltlichen Bestimmung einer islamischen Herrschaft gefragt, führt Musa aus: Der Islam ist nicht theokratisch, weil er keinen göttlichen Charakter des Herrschers kennt... weder ist der Islam eine Monarchie, da er die Form der dynastischen Herrschaft nicht erlaubt... noch ist er despotisch, weil ein islamischer Herrscher dem Recht unterworfen ist; und daher verbürgt er den Staatsangehörigen alle Freiheiten... Er kann jedoch nicht als Demokratie im antiken griechischen oder im modernen westlichen Sinne bezeichnet werden, weil im Islam der Volkswille nur zählt, wenn er sich in Einklang mit der Schari'a befindet. Im Islam besitzt die Schari'a die oberste Souveränität.44 Aus der islamischen Geschichte wissen wir, daß der klassische und mittelalterliche Islam weder Demokratie noch politische Beteiligung kennt. Angesichts dieser Tatsache ist zu fragen: Worin besteht das islamische System, und was ist so einzigartig islamisch an ihm? Wir erhalten folgende Antwort: Dieses System unterscheidet sich von allen anderen der Menschheit bekannten, sei es im Altertum, im Mittelalter, in der Neuzeit oder in der Gegenwart... In Anerkennung des einzigartigen Charakters dieses Systems müssen wir feststellen, daß es unvergleichlich ist. Es ist das islamische System, und das -324-
ist ausreichend (Fa huwa alnizam al-Islami wa). Die Wahrheit ist, daß alle Attribute des «islamischen Regierungssystems», die von Fundamentalisten verleugnet werden, wie etwa die autokratischdespotische sultanische Regierungsform als politische Herrschaft im Islam, in der islamischen Geschichte die Regel waren. Die politischen Schriften von al-Rayes, Musa und Mutawalli, die den Grundstein für eine fundamentalistische Sichtweise des Islam in den 50er und 60er Jahren legten, werden in die zeitgenössische Ideologie des islamischen Fundamentalismus neu aufgenommen. In der gesamten Primärliteratur konnte ich keine substantiell neuen Standpunkte zu Schari'a, Schura, Nizam Islami etc. entdecken, die nicht schon bei den angeführten Schriften zu finden ist: Wie bereits angeführt, geht es in dieser politischen Ideologie nicht um eine «Renaissance des Religiösen». In der während der vergangenen drei Jahrzehnte publizierten politischen Literatur des islamischen Fundamentalismus kann ich keine andere Zukunftsvision finden als die von der Überlegenheit des Islam gegenüber nichtislamischen Kulturen, Religionen und Herrschaftsformen. Diese Versicherung reicht den Fundamentalisten als Begründung ihrer Herausforderung, die in dem politischen Glauben gipfelt, daß dem Islam die Führung der gesamten Welt nach dem Abdanken bzw. dem Untergang des Westens gebührt. Der Vater dieser Idee ist Sayyid Qutb, und sein ideologischer Sprößling ist Bin Laden. Trotz des aggressiven Tons läßt sich nicht übersehen, daß es sich hierbei um eine durch eine Krisensituation bedingte defensiv-kulturelle Einstellung handelt. Der islamische Fundamentalismus ist nicht nur ein Totalitarismus; seine Herausforderung an den Westen ist Ausdruck einer Defensivkultur.46 Ich möchte dieses Buch mit der Bemerkung abschließen, daß nicht nur islamische Fundamentalisten die Weltgemeinschaft -325-
herausfordern. Auch sie selbst werden von den Erfordernissen des modernen Zeitalters herausgefordert. Beides kann nur dann friedlich gelöst werden, wenn eine Versöhnung zwischen Islam und Moderne gelingt. Solange aufgeklärte islamische Denker in ihrer eigenen Kultur nicht zum Zuge kommen können, solange islamische Fundamentalisten selbstherrlich jede Kritik als Verschwörung47 abweisen und es ablehnen, ihre Religion sowie ihre Zivilisation zu historisieren,48 solange sie ihren Geist nicht von der Schriftgläubigkeit der Orthodoxie freimachen, um sich selbst von ihren intellektuellen Ketten zu befreien, so lange wird der Fundamentalismus sie daran hindern, adäquate Antworten auf die Herausforderungen des modernen Zeitalters zu finden. Diese Herausforderungen werden defensivkulturell in eine «fundamentalistische Herausforderung» umgekehrt. In einer Situation, in der keine einfachen Lösungen erkennbar sind, mag uns das Blochsche «Prinzip Hoffnung»49 vor einem trostlosen Pessimismus bewahren. Es mag sein, daß diejenigen recht haben, die im Bin-Ladismus eine vorübergehende Erscheinung sehen. Aber die in diesem Buch vorgelegten Analysen zeigen, daß die fundamentalistische Herausforderung ein anhaltendes Problem ist, für das der Westen bis heute kaum geeignete Antworten zu bieten hat.
ANMERKUNGEN I. Der islamische Fundamentalismus und die Weltordnung 1 Zur Souveränitätsproblematik vgl. Francis H. Hinsley, Sovereignty, Neuausgabe Cambridge 1986 (zuerst 1966). 2 Hierzu Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton/NJ 1975, S. 45. 3 Vgl. Adam Watson, The Evolution of International Society. A Comparative Historical Analysis, London 1992. -326-
4 Hierzu B. Tibi, «Weltordnung als Staatengemeinschaft und die Gefahr ihres Zerfalls im 21. Jahrhundert», in: Harenberg Staatenlexikon. Die Geschichte aller Staaten im 20. Jahrhundert, Dortmund 2000, S. 951 -965. 5 Sayyid Qutb tut dies in mehreren klassisch gewordenen Katechismen, deren Lektüre heute bei der Gehirnwäsche, also der Indoktrination, junger Muslime zu Fundamentalisten als Pflicht gilt. Dazu gehören vor allem: Ma'alim fi altariq (Wegzeichen), 13. «legale Auflage» (laut Impressum), Kairo 1989, und al-Salam alalami wa al-Islam (Weltfriede und der Islam), 10. Auflage, Kairo 1992. 6 Zum Kalten Krieg vgl. Mary Kaldor, The Imaginary War. Understanding the East-West Conflict, Oxford 1990; zu seinem Ende vgl. Bogdan Denitch, The End of the Cold War. European Unity, Socialism, and the Shift in European Power, Minneapolis 1990. 7 Zentral hierüber Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York und London 1977, S. 8-9 und 36-37. 8 Im einzelnen hierüber B. Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State-War to New Security, neue erweiterte Auflage, New York 1998; Teil IV über den Golfkrieg. 9 Vgl. hierüber die arabischen Originaldokumente in dem Sonderheft von al-Muntada (Amman), Bd. 5 (1990), H. 60, bes. S. 19-22 mit Originaltexten von Saddam Hussein. Als Gesamtdarstellung siehe Lawrence Friedman und Efram Karsh, The Gulf Conflict 1990-1991. Diplomacy and War in the New World Order, Princeton/NJ 1993. 10 Im sunnitischen Islam ist der Imam zugleich Staatsoberhaupt. Zu der neuen Deutung des «FundamentalistenFührers» in der Eigenschaft als Untergrund-Imam vgl. B. Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, 3. Auflage, München 2001 (zuerst 1996), S. 303-313. Zum Neo-327-
Djihad vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001), Kapitel 8. 11 Vgl. hierüber den Bericht von Edward Mortimer, «Reality versus Rhetoric in the New World Order», in: Financial Times vom 28. Dezember 1990. Zur Interpretation und Evaluierung nach dem Golfkrieg vgl. Richard K. Herrmann, «The Middle East and the New World Order. Rethinking US Political Strategy after the Gulf War», in: International Security, Bd. 16 (1991), H. 2, S. 42-75, und Ted G. Carpenter, «The New World Disorder», in: Foreign Policy, H. 84 (1991), S. 24-39. 12 Vgl. den Bericht «Prof. Tibi Blasts President Bush's New World Order», in: Harvard Crimson, Frühjahr (1991). 13 Dies ist der Untertitel meines US-Buches, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and The New World Disorder, Berkeley 1998, Neuausgabe 2002 (deutsch: Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999, 3. Auflage 2001). 14 Sayyid Qutb, Ma'alim fi altariq (Wegzeichen) (wie Anm. 5), S. 6-7; über Sayyid Qutb vgl. Youssef M. Choueiri, Islamic Fundamentalism, Boston 1990, S. 93 ff. 15 Vgl. hierüber im einzelnen Christopher Chase-Dunn, Global Formation. Structures of the World-Economy, Cambridge/MA 1989; und grundsätzlich Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990, v. a. das Kapitel «Globalisierung», S. 63 ff. Vgl. auch die neuere Arbeit von Martin Albrow, The Global Age. State and Society beyond Modernity, Stanford 1997. 16 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983, 1985, 1988 und 1990. Vgl. auch Geoffrey Parker, Die militärische Revolution: Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990 (Original Cambridge 1988). 17 Mein Verständnis der kulturellen Moderne ist durch das -328-
Werk von Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, geprägt. Mehr dazu in Kapitel II unten. 18 Das Scheitern bezeugt der Autor auf der Basis seiner eigenen Mitwirkung am christlich-islamischen Dialog; vgl. die Dokumente: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Hamburg 1981, veröffentlicht beim Kreuz Verlag Stuttgart 1981, S. 628666; und M. Salim Abdullah/Hubert Dobers u.a., Religion in Culture, Law and Politics, Mainz 1982, bes. S. 140 f. Vgl. den Artikel von Jochen Bölsche, «Der verlogene Dialog», in: Der Spiegel vom 17.12.2001 (Heft 51), S. 44-56. 19 Hierzu im einzelnen B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 1994 (Serie Piper 1996 und 1999). Dieses Buch ist hervorgegangen aus dem USProjekt: Abdullahi A. An-Na'im/Francis Deng (Hg.), Human Rights in Africa. Cross-Cultural Perspectives, Washington, D. C. 1990, darin B. Tibi, «The European Tradition of Human Rights and the Culture of Islam», S. 104-132; vgl. auch Ann E. Mayer, Islam and Human Rights, Boulder/Col. 1991, bes. Kapitel 2, S. 2311. 20 Hierzu das Kapitel 8 über den Export der iranischen Revolution in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002), S. 117-132. 21 Führend unter ihnen ist der Amerikaner Daniel Pipes, der in seinen Büchern häufig den Islam diskreditiert, vgl. sein Buch, In the Path of God. Islam and Political Power, New York 1983. 22 Hierzu ausführlich B. Tibi, Die neue Weltunordnung (wie Anm. 13). 23 Bull (wie Anm. 7), S. 273. 24 Vgl. James Piscatori (Hg.), Islamic Fundamentalisms and the Gulf Crisis, Chicago 1991, mit sieben Fallstudien zum Verhalten der Fundamentalisten in einzelnen islamischen -329-
Ländern. 25 So Mohammed 'Ammara, al-Sabwa al-Islamiyya wa altahadbi alhadari (Das islamische Erwachen und die zivilisatorische Herausforderung), Kairo 1991. 26 So Hasan al-Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Kairo 1989. 27 Aus dieser Mitwirkung sind meine Bücher, The Challenge of Fundamentalism (wie Anm. 13); und Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 20) hervorgegangen. 28 Siehe Sayyid Qutb, al-Islam wa muschiklat alhadarak (Der Islam und die Probleme der Zivilisation), Neudruck, 9. «legale Auflage» (laut Impressum), Kairo 1988. Vgl. auch Anm. 5 und 14 oben. 29 Hierzu das Kapitel «Hidjra» in: B. Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (neu 2001). 30 Vgl. den Bericht von Tony Walker aus Bagdad: «Moslem Militants want Saddam as Caliph», in: Financial Times vom 10. Januar 1991, S. 2. 31 Vgl. B. Tibi, Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter mit einem Essay: «Islamischer Fundamentalismus als Antwort auf die doppelte Krise», 2. Auflage der erweiterten Ausgabe, Frankfurt/M. 1991 (unveränderter Neudruck 2001), bes. S. 210ff., 22off. 32 Vgl. B. Tibi, «Der Traum von der halben Moderne. Über das schiefe Verhältnis des Islams zu Europa und die Wurzeln des Fundamentalismus», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton) vom 19. Februar 1991, S. 35; sowie die Einleitung über die «halbe Moderne» in: B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992 (3. Auflage 2001). -330-
33 Hierzu Geoffrey Parker, Die militärische Revolution (wie Anm. 16). 34 Hedley Bull/Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1988, darin bes. das Kapitel von H. Bull, «The Revolt Against the West», S. 217-228. 35 Zur Bedeutung der international geteilten Normen und Regeln in der internationalen Politik vgl. Friedrich V Kratochwil, Rules, Norms, and Decisions. On the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs, Cambridge 1991. 36 Hierzu B. Tibi, Die neue Weltunordnung (wie Anm. 13), und Graham Fuller und Ian O. Lesser, The Sense of Siege. The Geopolitics of Islam and the West, Boulder/Col. 1995.
II. Der islamische Fundamentalismus und die Moderne 1 Siehe Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985. 2 Hierzu die Arbeit von Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford 1990. 3 Vgl. Geoffrey Parker, The Military Revolution. The Rise of the West 1500-1800, Cambridge 1988, deutsche Übersetzung: Die militärische Revolution: Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990. 4 Hierzu B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001 mit einem neuen Vorwort zum 11. September), Kapitel 6 und 7. 5 Vgl. Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt - und was sie eint, München 1994. 6 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 4). 7 Hierzu B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 3. erweiterte Neuausgabe, -331-
Frankfurt/M. 1987 (Neudruck 2001), S. 74-80. 8 Vgl. Dieter Senghaas, «Schluß mit der FundamentalismusDebatte. Plädoyer für eine Reorientierung des interkulturellen Dialogs», in: Blätter für die deutsche und internationale Politik, Bd. 40 (1995), H. 2, S. 180-191. Dieser Aufruf wurde in der Orientalistik bestens befolgt: Ich besitze Gutachten, in denen Orientalisten gegen die Förderung dieser Forschung auftreten; ich zitiere anonym daraus in meinem Buch, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). 9 Vgl. Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1968, hierzu Vorwort, Bd. 1, S. XIII. 10 Hierüber vgl. die Einleitung in: B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992 (Neudruck 2001), S. 12-27. 11 Vgl. Edward Said, «Kampf den Ignoranten», in: Die Welt vom 20.10.2001; und der Gegenartikel von B. Tibi, «Zwischen Said und Huntington», in: Die Welt vom 26.10.2001, S. 8. 12 Vgl. B. Tibi, «Edward Said und die Gegenaufklärung», in: Der Standard (Wien) vom 10. November 2001, Beilage: Album, S. 3. 13 Zu den beiden Türmen vgl. Angus K. Gillespie, The Life of New York City's World Trade Center, New Brunswick/NJ 1999 (neu 2001). 14 Hierzu meine in Anm. 10 zitierte Arbeit; sowie William M. Watt, Islamic Fundamentalism and Modernity, London 1988. 15 Zu Bin Laden vgl. die Arbeit von Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama Bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001. 16 Vgl. B. Tibi, «The Worldview of Sunni Arab Fundamentalists. Attitudes Toward Modern Science and Technology», in: Martin Marty/Scott Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project. Bd. 2: Remaking the World, Chicago -332-
1992, S. 73-102. 17 Hierzu Fatma Müge-Göcek, East Encounters West. France and the Ottoman Empire in the 18th Century, New York 1987, S. 7ff., 72ff. 18 Siehe David B. Ralston, Importing the European Army. The Introduction of European Military Techniques and Institutions into the Extra-European World 1600-1914, Chicago 1990; und auch Kapitel III über den «industrialisierten Krieg», in: B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie (wie Anm. 10). 19 Zu diesem doppelten Aspekt der Moderne (kulturelles Projekt und globalisierte institutionelle Dimension) vgl. den Essay im Anhang zu der erweiterten Neuausgabe von B. Tibi, Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlichtechnischen Zeitalter, 2. Auflage, Frankfurt/M. 1991, S. 202-279. 20 Vgl. Ali Muhammad Djarischa/Muhammad Scharif alZaibaq, Asalib algbazu alfikri U al-'alam al-Islami (Die Methoden der intellektuellen Invasion der islamischen Welt), Kairo 1978, bes. S. 10ff. 21 Westtoxication/Gharbzadegi bedeutet Westkrankheit und ist die fundamentalistische Bezeichnung für die Einstellung verwestlichter islamischer Intellektueller. Vgl. Mehrzad Boroujerdi, Iranian Intellectuals and the West, Syracuse 1996, besonders S. 66-69. 22 Eine seriöse wissenschaftliche Deutung des Fundamentalismus in deutscher Sprache legte der heute in Chicago lehrende Soziologe Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990, als Habilitationsschrift vor; vgl. dazu meine Würdigung in: Soziologische Revue, H. 1 (1992). 23 Vgl. das Kapitel über Saudi-Arabien und Marokko in: B. Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung -333-
sozialen Wandels, 3. Auflage, Frankfurt/M. 1991, Kapitel 11. 24 Vgl. hierzu den Bericht in: International Herald Tribune vom 31. Dezember 1991. 25 Hierüber im einzelnen Sharam Chubin und Charles Tripp, Iran and Iraq at War, Boulder/Col. 1988. 26 So 'Adel Hussein in seinem Artikel in der prominenten fundamentalistischen Kairoer Wochenzeitung al-Scha'b, «Li man nad'u bil nasr fi salatuna (Für wen sollen wir beten für den Sieg?)», in: al-Scha'b vom 21. August 1990. 27 Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung sind in: B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie (wie Anm. 10), Kapitel V, enthalten. 28 Leonard Binder, Islamic Liberalism. A Critique of Development Ideologies, Chicago 1988. Vgl. auch B. Tibi, «Vom liberalen Islam zur Militanz des islamischen Fundamentalismus», in: Neue Politische Literatur, Bd. 36 (1991), H. 4, S. 476-489. 29 Bruce B. Lawrence, Defenders of God. The Fundamentalist Revolt Against the Modern Age, San Francisco 1989, S. 2. 30 Ebd., S. 6. 31 Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Neudruck, Darmstadt 1988 (zuerst Paris 1934). 32 Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt/M. 1972, S. 110. 33 Vgl. Emmanuel Sivan, Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven 1985; sowie die Arbeit in Anm. 10 oben und B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). -334-
34 Vgl. Hassan al-Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Bd. 6 des Werkes des Fundamentalisten al-Hanafi mit dem Titel al-Din wa althawrah (Die Religion und die Revolution), Kairo 1989. 35 Vgl. die Arbeit von Youssef M. Choueiri, Islamic Fundamentalism, Boston 1990; und Dilip Hiro, Holy Wars. The Rise of Islamic Fundamentalism, London 1989; sowie Henry Munson Jr., Islam and Revolution in the Middle East, New Haven 1988, S. 29ff. 36 Vgl. Fazlur Rahman, Islam and Modernity, London 1988. 37 Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1972, S. 56. 38 Ebd., S. 55. 39 Vgl. Johannes J. G. Jansen, The Dual Nature of Islamic Fundamentalism, Ithaca/NY 1997. 40 Bereits im Jahr 1985 habe ich in meinem auch in den USA in einer amerikanischen Ausgabe und inzwischen in einer dritten deutschen Auflage vorliegenden Buch, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt/M. 1985 sowie 1991, Kapitel 8 (Islam and the Cultural Accommodation of Social Change, Boulder/Col., 2. Auflage 1991), diese Formel geprägt und gezeigt, daß der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus im arabischen Nahen Osten keine Reislamisierung bedeutet, dieser war immer islamisch; der Islam wird nur wieder politisch, d.h. repolitisiert. Dazu vgl. auch mein neues, in Harvard geschriebenes und unter der Patronage von Harvard veröffentlichtes Buch, Islam Between Culture and Politics, London und New York 2001. 41 Zu diesem Sechs-Tage-Krieg vgl. B. Tibi, Konfliktregion Naher Osten. Regionale Eigendynamik und Großmachtinteressen, 2. erweiterte Auflage, München 1991, Kapitel II. Zur Rolle der arabischisraelischen Kriege im Erstarken des politischen Islam vgl. das Kapitel von Yvonne -335-
Haddad, «The Arab-Israeli Wars», in: John L. Esposito (Hg.), Islam and Development, Syracuse/NY 1980, S. 107-122. 42 Yusuf al-Qaradawi, al-Hulul almustawrada wa kaif djanat 'ala ummatina (Die importierten Lösungen und wie sie Verbrechen an unserer Umma/Gemeinschaft begangen haben), Bd. 1 der dreibändigen Reihe Hatmiyat alhall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen Lösung), Neuauflage, Beirut 1980. 43 Siehe Wilfred C. Smith, The Meaning and End of Religion, 2. Auflage, New York 1978, S. 117. 44 So der große Islamwissenschaftler Maxime Rodinson in seinem Buch, Mohammed, Luzern 1975; zu dem grundlegenden Beitrag Rodinsons zur Islam-Forschung vgl. meine Abhandlung, «Maxime Rodinson, der Islam und die westlichen IslamStudien», Einleitung zu: Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Neuausgabe, Frankfurt/M. 1986, S. IX-LI. 45 Vgl. John L. Esposito (Hg.), Voices of Resurgent Islam, New York 1983. 46 Mehr hierzu in: B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 1994 (Serie Piper 1996 und 1999). 47 So z. B. in dem Buch von Djarischa und al-Zaibaq, Asalih alghazu alfikri li al- 'alam al-Islami (Die Methoden der intellektuellen Invasion der islamischen Welt) (wie Anm. 20). 48 Fred Halliday in: Times Literary Supplement vom 14.-20. April 1989. 49 Zum Rückgriff auf europäische Ideen zur Begründung der Entkolonisation vgl. B. Tibi, «Politische Ideen in der ‹Dritten Welt› während der Dekolonisation», in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361-402. 50 B. Tibi, «Der Traum von der halben Moderne. Über das -336-
schiefe Verhältnis des Islams zu Europa und die Wurzeln des Fundamentalismus», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Feuilleton) vom 19.Februar 1991, S. 35. 51 Vgl. hierzu das Vorwort zur Auflage von 2001 von B. Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Frankfurt/M. 2001. Allgemein vgl. Walter Reich (Hg.), Origins of Terrorism. Psychologies, Ideologies, Theologies, States of Mind, Cambridge 1990. Neu: Paul R. Pillar, Terrorism and US Foreign Policy, Washington/DC 2001. 52 Vgl. hierzu die arabischen Quellen 'Adel Hammuda, Qanabil wa masahif. Qissat tanzim al-Djihad (Bomben und Heilige Bücher. Die Geschichte der Djihad-Organisation), Kairo 1989, und Ni'matuallah Djaninah, Tanzim al-Djihad (Die Organisation des al-Djihad), Kairo 1988. 53 Zu islamischem und jüdischem Fundamentalismus vgl. Emmanuel Sivan und M. Friedman (Hg.), Religious Radicalism and Politics in the Middle East, Albany/NY 1990.
III. Die Revolte des islamischen Fundamentalismus gegen die Weltordnung 1 Charles Krauthammer, «The Issue is World Order Not just Oil», in: International Herald Tribune vom 18./19. August 1990. 2 Vgl. Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001. 3 Interview mit Hichem Djait, in: North African News, Bd. 1 (1990), H. 3, S.5. 4 Hedley Bull, «The Revolt Against the West», in: H. Bull/Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Neudruck Oxford 1988, S.217-228. 5 Lionel Caplan (Hg.), Studies in Religious Fundamentalism, London 1987, Einleitung, S. 1. Vgl. auch das Kapitel über den islamischen Fundamentalismus in dem aufschlußreichen Buch -337-
von Bruce B. Lawrence, Defenders of God. The Fundamentalist Revolt Against the Modern Age, San Francisco 1989, S. 189226. Zum neuesten Stand vgl. B. Tibi: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). 6 Joseph S. Nye, Bound to Lead. The Changing Nature of American Power, New York 1990, S. 185. 7 Joel S. Migdal, Strong Societies and Weak States. StateSociety Relations and State Capabilities in the Third World, Princeton/NJ 1988. In bezug auf den Nahen Osten vgl. einige der interessanten Kapitel in: Milton J. Esman/Itamar Rabinovich (Hg.), Ethnicity, Pluralism, and the State in the Middle East, Ithaca/NY 1988, bes. den Beitrag von Gabriel Ben-Dor, «Ethnopolitics and the Middle Eastern State», S. 71-92. 8 Nye, Bound to Lead (wie Anm. 6), S. 187 (eigene Hervorhebung). 9 Vgl. Bull, «The Revolt Against the West» (wie Anm. 4) und Anthony Giddens, Consequences of Modernity, Stanford 1990; sowie B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, Frankfurt/M. 1987 (aktualisierte Neuauflage 1991, Neudruck 2001). 10 Der Begriff «World time» stammt von Theda Skocpol, States and Social Revolutions. A Comparative Analysis of France, Russia, and China, Cambridge 1987, S. 23. 11 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, S. 68. Zum Souveränitätsprinzip als Grundlage dieser Interaktion vgl. Francis H. Hinsley, Sovereignty, 2. Auflage, Cambridge 1986. 12 Adam Roberts/Benedict Kingsbury (Hg.), United Nations, Divided World. The UN's Role in International Relations, Oxford 1988. 13 Nye, Bound to Lead (wie Anm. 6), S. 182ff. -338-
14 Bull, The Anarchical Society (wie Anm. 11), S. 54. 15 Sayyid Qutb, Ma'alim fi altariq (Wegzeichen), Neudruck, 13. «legale Auflage», Kairo 1989, S. 6. Vgl. auch Hisham Qablan, Ma'a al-Qur'an fi aldin wa aldunya (Der Sinngehalt des Koran für die Religion und die Welt), Beirut 1986, S. 343 ff., als ein Beispiel für die Artikulation solcher Sichtweisen des integralen Islam. 16 Bull, The Anarchical Society (wie Anm. 11), S. 257. 17 Ebd., S. 273 (eigene Hervorhebung). 18 Zbigniew Brzezinski, Between Two Ages. America's Role in the Technotronic Era, New York 1970, S. 3. Entsprechend ist die UN-Organisation, vgl. Roberts/ Kingsbury, United Nations, Divided World (wie Anm. 12). 19 Giddens, Consequences of Modernity (wie Anm. 9), Teil II über die Globalisierung der Moderne. 20 Professor Marty hat das Fundamentalismus-Projekt geleitet, aus dem dieses Kapitel hervorgegangen ist. Vgl. Martin Marty/ Scott Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project, 5 Bde., Chicago 1991-1995. Ich bin Mitautor von Bd. 2, Fundamentalism and Society, Chicago 1992. 21 Hierzu Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, bes. S. 9-33; vgl. auch Richard J. Bernstein (Hg.), Habermas and Modernity, Cambridge/MA 1986. Über den europäischen Prozeß der Zivilisation, als dessen Ableger Nordamerika betrachtet werden kann, vgl. das Standardwerk von Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., neue redigierte Ausgabe der EliasStiftung Amsterdam, bearbeitet von Heike Hammer, Frankfurt/M. 1997. Zu einer Interpretation von Elias' Version dieses «Zivilisationsprozesses» vgl. Stephen Mennell, Norbert Elias. Civilization and the Human Self-Image, Oxford 1989. 22 Für genauere Details über diesen Gegenstand vgl. B. Tibi, -339-
«Politische Ideen in der Dritten Welt während der Dekolonisation», in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361-402. Vgl. auch das erste Kapitel meines Buches, Vom Gottesreich zum Nationalstaat (wie Anm. 9), S. 15-57, 23 Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (wie Anm. 21). 24 Bull, «The Revolt Against the West» (wie Anm. 4), S. 223 (eigene Hervorhebung). 25 Ebd., S. 227. Es ist wichtig anzufügen, daß dieser kulturelle Aufstand gegen westliche Werte auch die Dimension eines Interessenkonfliktes hat. Über den letzteren vgl. Stephen D. Krasner, Structural Conflict. The Third World against Global Liberalism, Berkeley 1985. Zur Bedeutung von Normen und Werten in der internationalen Politik vgl. Friedrich V Kratochwil, Rules, Norms and Decisions. On the Conditions of Practical and Legal Reasoning in International Relations and Domestic Affairs, Cambridge 1991. Es ist jedoch völlig falsch, den Zivilisationskonflikt allein als Interessenkonflikt zu deuten und die normativ-weltanschauliche Dimension zu übersehen. Dies tut Fawaz A. Gerges, America and Political Islam. Clash of Cultures or Clash of Interests?, Cambridge 1999. 26 Hierzu Ahmed Rashid, Taliban. Militant Islam, Oil and Fundamentalism in Central Asia, New Haven 2000 (deutsche Übersetzung: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Djihad, München 2001). 27 Hierzu B. Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, 2. erweiterte Auflage, Hamburg 1994. 28 Vgl. James Piscatori, Islam in a World of Nation-States, Cambridge 1986, S. 45. Zur Kritik an Piscatori vgl. das einleitende Kapitel zu der amerikanischen Ausgabe von B. Tibi, Arab Nationalism, 3. Neuausgabe, New York 1991. 29 Vgl. folgende islamische Quellen zum Völkerrecht und -340-
den Internationalen Beziehungen: Sabir Tu'aima, al-Shari'a alIslamiyya fi'asr al-'ilm (Das islamische Recht im Zeitalter der Wissenschaf t), Beirut 1979, S. 208 ff., sowie Nadjib Armanazi, al-Schar' alduwali fi al-Islam (Völkerrecht im Islam), Damaskus 1930 (Neudruck London 1990). Zur Interpretation des islamischen Rechtsverständnisses vgl. Kapitel 4 in: B. Tibi, Krieg der Zivilisationen, Hamburg 1995 (Neuauflage 1998, 2001). 30 Abu A'la al-Maududi, Bayn yadi alshabab (In den Händen der Jugend), saudische Ausgabe, Dschidda 1987, S. 59ff. 31 Hierzu Yossef Bodansky, Bin Laden. The Man Who Declared War on America, Rocklin/CA 1999. 32 Siehe Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama Bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001. 33 Hierzu vgl. B. Tibi, «The European Tradition of Human Rights and the Culture of Islam», in: Abdullahi A. AnNa'im/Francis Deng (Hg.), Human Rights in Africa. Cross Cultural Perspectives, Washington/DC 1990, S. 104-132. 34 Hierzu B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 1994 (Serie Piper Ausgabe 1996, 1999), hier Kapitel 3. 35 René Descartes, Von der Methode/Discours de la Méthode, deutsche Ausgabe, Hamburg 1960, S. VI. 36 Tu'aima, al-Shari'a al-Islamiyya fi'asr al-'ilm (Das islamische Recht im Zeitalter der Wissenschaft) (wie Anm. 29), S. 208. 37 Stephen D. Krasner (Hg.), International Regimes, Ithaca/NY 1983, S. 2. 38 Djamal al-Din al-Afghani, al-A'mal alkamilah (Gesamtwerk), hg. v. Muhammad 'Imara, Kairo 1968, S. 328. 39 Nikki R. Keddie (Hg.), An Islamic Response to Imperialism. Political and Religious Writings of al-Afghani, -341-
Berkeley 1983, zitiert aus der Einleitung zur neuen Ausgabe, «From Afghani to Khomeini», S. XXI. 40 Hassan al-Scharqawi, al-Muslimum 'ulama' wa hukama' (Die Muslime als Wissenschaftler und als Weise), Kairo 1987, S. 12 (eigene Hervorhebung). 41 Charles Tilly (Hg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton/NJ 1975, S. 45. 42 Vgl. Tu'aima, al-Shari'a al-Islamiyya fi'asr al-'ilm (Das islamische Recht im Zeitalter der Wissenschaft) (wie Anm. 29), S. 211 ff. 43 Zu detaillierten Angaben vgl. Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990 (Original Cambridge 1988). 44 Vgl. das Kapitel «aslamat alteknologia (Islamisierung der Technologie)», in: 'Imaduldin Khalil, al-'Aql al-Muslim wa alru'ya alhadariyya (Die islamische Vernunft und die zivilisatorische Sicht), Kairo 1983, S.43-53. 45 So der malayische Fundamentalist Syed Muhammad Naquib al-Attas, Islam, Secularism and the Philosophy of the Future, London 1985, bes. das Kapitel «Dewesternization of Knowledge», S. 127ff. Zur Entwestlichungsproblematik vgl. B. Tibi, Krieg der Zivilisationen (wie Anm. 29), Kapitel 6. 46 So der britisch-pakistanische Fundamentalist Ziauddin Sardar, Islamic Futures. The Shape of Ideas to Come, London 1985, S. 85ff. Dieser war nach dem u. September 2001 sogar in Deutschland Autor in der «Welt» (Literarische Beilage) als Professor für «Post-Colonial Studies». 47 Al-Attas, Islam, Secularism and the Philosophy of the Future (wie Anm. 45), S.138. 48 Vgl. B. Tibi, «Islam and Arab Nationalism», in: Barbara Freyer Stowasser (Hg.), The Islamic Impulse, London 1987, S. -342-
59-74. Vgl. auch Anm. 9 oben. 49 Samir al-Khalil, The Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq, Berkeley 1989, S. 152ff. Al-Khalil ist ein Pseudonym für den in London lebenden Iraker Kanan Makiyya. Eine ausführliche Darstellung des Werkes von al-Husri und seines Einflusses findet sich in: Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat (wie Anm. 9), Kapitel III und IV 50 Hierzu ausführlich B. Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State-War to New Security, neue erweiterte Ausgabe, New York 1997, hier Kapitel 3 und 4. 51 Die wichtigste analytische Darstellung dieser Prozesse ist das Buch von Fouad Ajami, The Arab Predicament. Arab Political Thought and Practice since 1967, Cambridge 1981, bes. S. 28-40. Vgl. hierzu auch B. Tibi, Konfliktregion Naher Osten. Regionale Eigendynamik und Großmachtinteressen, 2. erweiterte Auflage, München 1991, S. 103 ff. 52 John L. Esposito (Hg.), Voices of Resurgent Islam, New York 1983. 53 Hierzu Fouad Ajami, «The End of Pan-Arabism», neu abgedruckt in: Tawfic E. Farah (Hg.), Pan-Arabism and Arab Nationalism. The Continuing Debate, Boulder/Col. 1987, S. 96114. 54 Vgl. beispielhaft das Buch von Anwar al-Djundi, Ahdaf altaghrib fi al-'alam al-Islami (Die Ziele der Verwestlichung in der islamischen Welt), Kairo 1987; vgl. dazu auch Ali Muhammad Djarischa/Muhammad Scharif al-Zaibaq, Asalib alghazu al fikri H al- 'alam al-Islami (Die Methoden der intellektuellen Invasion der islamischen Welt), Kairo 1978. 55 Yusuf al-Qaradawi, Bayinat alhall al-Islami wa schabahat al-'ilmaniyyin wa almustagbribin (Die Grundzüge der islamischen Lösung und die Anzweiflungen der Säkularisten und der Verwestlichten), Bd. III von Qaradawis Buchserie Hatmiyat al-Hall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen -343-
Lösung), Kairo 1988. Die Bde. 1 und 2 wurden zuerst 1971 bzw. 1974 in Beirut veröffentlicht. Seitdem wurden sie vielfach wiederaufgelegt. Die dreibändige Veröffentlichung ist bis heute das zentrale ideologische Werk des zeitgenössischen islamischen Fundamentalismus. 56 Hierzu B. Tibi, «Islam and Modern European Ideologies», in: International Journal of Middle East Studies, Bd. 18 (1986), H. 1, S. 15-29. 57 Vgl. Muhammad al-Mubarak, al-Umma al-'Arabiyya fi ma'rakat tahqiq aldhat (Die arabische Nation im Kampf um ihre Identität), Damaskus 1959, S. 67ff.; vgl. auch Teil II, S. 86ff. 58 Zu den grundsätzlichen Unterscheidungen zwischen Stamm, Umma/ Gemeinschaft und Nation im Kontext der araboislamischen Geschichte bis zur Gegenwart vgl. B. Tibi, «The Simultaneity of the Unsimultaneous. Old Tribes and Imposed Nation-States in the Modern Middle East», in: Philip Khoury/Joseph Kostmer (Hg.), Tribes and State Formation in the Middle East, Berkeley 1990, S. 127-152; und Kapitel IV dieses Buches. 59 Emmanuel Sivan, Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven 1985. 60 Zu einer umfassenden Ausarbeitung des Islam als ein kulturelles System und seiner Politisierung vgl. B. Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, 3. Auflage, Frankfurt/M. 1991. Kapitel IV dieses zitierten Buches enthält Fallstudien (Ägypten, Iran, Marokko und Saudi-Arabien) zu diesem Prozeß. 61 Djarischa/al-Zaibaq, Asalib alghazu alfikri li al-'alam alIslami (Die Methoden der intellektuellen Invasion der islamischen Welt) (wie Anm. 54), S. 15 ff. 62 Ebd., S. 38 f. 63 Ebd., S. 75ff. -344-
64 Ebd., S. 248. 65 Ebd., S. 244. 66 Mahmud 'Abdulmaula, Anzimat almudjtama' wa, aldaula fi al-Islam (Die Gesellschafts- und Staatssysteme im Islam), Tunis 1973, S. 44. 67 Vgl. Muhammad Salim al-'Awwa, Fi alnizam alsiyasi li aldaula al-Islamiyya (Über das politische System des islamischen Staates), 6. Auflage, Kairo 1983, S. 22. Eine 7. Auflage dieses zentralen fundamentalistischen Buches erschien 1989 in Kairo. Ich zitiere hier nach der 6. Auflage von 1983. 68 Ebd.,S. II. 69 Ebd., S. 259. 70 Hierzu ausführlich Moojan Momen, An Introduction to Schi'i Islam, New Haven 1985. 71 Vgl. hierzu ausführlich B. Tibi, Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlichtechnischen Zeitalter, zuerst München 1981. Die Neuausgabe von 1991 mit dem Essay «Islamischer Fundamentalismus als Antwort auf die doppelte Krise» ist als erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1991 erschienen. Vgl. auch Rouhollah K. Ramazani, Revolutionary Iran. Challenge and Response in the Middle East, Baltimore 1986; und B. Tibi, «The Iranian Revolution and the Arabs», in: Arab Studies Quarterly, Bd. 8 (1986), H. I, S. 29-44. Vgl. auch Ervand Abrahamian, Khomeinism. Essays on the Islamic Republic, Berkeley 1993. 72 Hierzu Yitzhak Nakash, The Schi'is of Iraq, Princeton/NJ 1994; und Fouad Ajami, The Vanished Imam. Musa al-Sadr and the Schi'a of Lebanon, Ithaca/NY 1986. 73 Hierzu das Kapitel über den Iran in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 5), S. 117-132. 74 Khalid Muhammad Khalid, Min buna nabda' (Von hier an -345-
beginnen wir neu), 10. Auflage, Kairo und Bagdad 1963, S. 184. 75 Vgl. Khalid Muhammad Khalid, al-Daula fi al-Islam (Der Staat im Islam), Neudruck Kairo 1989, S. 28. 76 Siehe Joseph Mughaizel, al-'Uruba wa alilmaniyya (Arabismus und Säkularismus), Beirut 1980. 77 Siehe B. Tibi, «al-Islam wa alalmanah» (Islam und Säkularisierung), in: Qadaya Arabiyya (Beirut), Bd. 7 (1980), H. 3, S. 12-13; und ders., «al-Islam wa altaghyir aligtima'i fi alsharq» (Der Islam und der soziale Wandel im Orient), in: alWaqi' (Beirut), Bd. 1 (1981), H. 2,S.61-80. 78 Vgl. Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt/M. 1977. 79 'Imaduldin Khalil, Tabafut alilmaniyya (Die Refutation des Säkularismus), Beirut 1979, S. 108-111 und S. 136. 80 Ebd., S. 166. 81 Diese Schriften können hier aus Platzmangel nicht angeführt werden. Vgl. jedoch als ein repräsentatives Beispiel Yahaya H. H. Farghal, Haqiqat alilmaniyya, (Die Wahrheit über den Säkularismus), Kairo 1989, bes. das Kapitel «Säkularismus ist gleichbedeutend mit intellektueller Invasion», S. 250ff. 82 Während des Kalten Krieges war der Islam in der Sowjetunion ein bedeutendes Thema. Vgl. Michael Rywkin, Moscows Muslim Challenge. Soviet Central Asia, überarb. Auflage, Armonk/NY 1990. Vgl. auch die Arbeit von Hélène Carrère D'Encousse, Islam and the Russian Empire, Berkeley 1988. Über die Folgen nach der Auflösung der Sowjetunion informiert Gregory Gleason, The Central Asian States, Boulder/Col. 1997. 83 Vgl. hierüber die Arbeiten von Graham Smith (Hg.), The Nationalities Question in the Soviet Union, New York 1991; und Lubomyr Hajda/ Mark Beissinger (Hg.), The Nationalities Factor in Soviet Politics and Society, Boulder/Col. 1990. -346-
84 Grundlegend ist die Arbeit von Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, S. 87ff.; dt. Ausgabe: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983. Zu einer Ausarbeitung dieser Thematik in bezug auf den Islam vgl. Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels (wie Anm. 60), Kapitel I, II und III. Sowie neu B. Tibi, Islam between Culture and Politics, London und New York 2001, S. 24-52. 85 Herbert L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 221; dt. Ausgabe, Der Begriff des Rechts, Frankfurt/M. 1973. Vgl. auch das Kapitel über das islamische Recht in: Tibi, Islam between Culture and Politics (wie Anm. 84), Kapitel 7. 86 Filmer S. C. Northrop, The Taming of the Nations. A Study of the Cultural Bases of International Policy, Neudruck, Woodbridge/Conn. 1987 (zuerst 1952). 87 Ebd., S. 2f. (eigene Hervorhebung). 88 Ebd., S. 172. 89 Richard Falk, «Religion and Politics: Verging on the Postmodern», in: Alternatives, Bd. 13 (1988), H. 3, S. 379-394, hierzu S. 391. 90 Ebd., S. 380. 91 Vgl. das Sonderheft der britischen Fachzeitschrift Millennium. Journal of International Studies über «Religion and International Relations», Bd. 29, Heft 3, 2000 (darin mein Aufsatz S. 843-860). 92 Über diese im Untergrund wirkenden Bewegungen des islamischen Fundamentalismus vgl. die entsprechenden Kapitel in dem Band des in Beirut ansässigen Markaz Dirasat al-Wihda al-'Arabiyya/Centre for Arab Unity Studies (Hg.), al-Harakat al-Islamiyya almu'asira fi alwatan al-'Arabi (Die zeitgenössischen islamischen Bewegungen in den arabischen Ländern), Beirut 1987. -347-
93 Vgl. B. Tibi, «Von der Schwierigkeit der Europäer, arabische Politik zu verstehen», in: Georg Stein (Hg.), Nachgedanken zum Golfkrieg, Heidelberg 1991, S. 97-107. 94 Hierzu Dilip Hiro, Holy Wars. The Rise of Islamic Fundamentalism, London 1989. 95 Hierzu B. Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, München 2002. 96 «Der verlogene Dialog», in: Der Spiegel vom 17. Dezember 2001, S. 44-57. 97 Vgl. das Themenheft «Der Glaube der Ungläubigen. Welchen Glauben hat der Westen?», Der Spiegel vom 22. Dezember 2001, hierzu S. 50-66. 98 Hierzu B. Tibi, «Kulturarbeit als Dialog zwischen den Zivilisationen», in: 5o Jahre Goethe-Institut, München 2001, S. 25-38. 99 Sascha Lennartz, «Auch Muslime müssen müssen. Der interreligiöse Kuscheldialog steht in der Kritik», in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. Dezember 2001, S. 53.
IV. Islam, Fundamentalismus und souveräne Staaten 1 Hierzu ausführlich Barnett Rubin, The Fragmentation of Afghanistan. State Formation and Collapse in the International System, New Haven 1995. 2 Zu den Taliban vgl. Ahmed Rashid, Taliban. Militant Islam, Oil and Fundamentalism in Central Asia, New Haven 2000 (deutsche Übersetzung: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Djihad, München 2001). 3 Dies ist meine Deutung im Anschluß an Norbert Elias. Vgl. B. Tibi, Die Krise des modernen Islams (zuerst 1981), Neuausgabe, Frankfurt/M. 1991 (3. Nachdruck 2001), S. 38 ff. -348-
4 Hierzu B. Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, 2. Auflage München 1997 (Serie Piper Ausgabe 1998), Kapitel 1 (Neuauflage 2001). 5 Hierzu vgl. Denise A. Spellberg, Politics, Gender and the Islamic Past. The Legacy of A'isha bint Abi Bakr, New York 1994. 6 Zum Kalifat vgl. das klassische Werk von Sir Thomas W Arnold, The Caliphate, Oxford 1924 (mehrmals nachgedruckt). 7 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im Islam, hier Band I, Berlin 1991, S. 17. 8 Hierzu Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974, hier Band 1. 9 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001 mit einem Vorwort nach dem 11. September). Kapitel I zum Djihad der Araber im 7./8. Jahrhundert und Kapitel IV zum türkischen Djihad. Kapitel II über die Kreuzzüge, Kapitel VI über die westliche Expansion. 10 Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt/M. 1990 (Original Cambridge 1988). 11 Hierzu B. Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe, München 1994, hierzu Teil IV 12 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton/NJ 1975, S. 45. Zur Souveränität des Staates vgl. die Arbeiten von Francis H. Hinsly, Sovereignty, neue Ausgabe, Cambridge 1986; und Allan James, Sovereign Statehood, London 1986. 13 Die beste Arbeit hierüber stammt von Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Berkeley 1977. Zur -349-
Globalisierung dieses Musters besonders Kapitel 10. 14 Vgl. Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, Neuauflage, Oxford 1979, hier Kapitel III. 15 Vgl. Theodore H. von Laue, The World Revolution of Westernization. The 20th Century in Global Perspective, New York 1987. 16 Zur Entwestlichung vgl. B. Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus (zuerst 1995), erweiterte Ausgabe, München 1998 (Neudruck 2001). Hierzu Kapitel 6. 17 Zum Begriff «Nominal Nation-State» in bezug auf arabischislamische Länder vgl. B. Tibi, «The Simultaneity of the Unsimultaneous. Old Tribes and Imposed Nation States», in: Philip S. Khoury/Joseph Kostiner, Tribes and State Formation in the Middle East, Berkeley 1990, S. 127-152. 18 Hierzu grundlegend Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977. 19 Hierzu Kapitel 8 über den Iran in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002), S. 117-132. 20 Zur grundsätzlichen Problematik des europäischen Nationalstaates im Islam am Beispiel des Konflikts zwischen Panarabismus und Fundamentalismus vgl. B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 3. erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 1987 (Neudruck 2001). Zum Ursprung des Nationalstaates und zu seiner Globalisierung vgl. Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1991; sowie Christopher Chase-Dunn, Global Formation. Structures of the World-Economy, Cambridge/MA 1989. Darüber, daß Nationalstaaten in der außerwestlichen Welt Quasi-Nominalstaaten sind, informiert Robert Jackson, QuasiStates. Sovereignty, International Relations and the Third -350-
World, Cambridge 1990. 21 Zur Auflösung des Osmanischen Reiches und Bildung des aus Nationalstaaten bestehenden Nahen Ostens vgl. David Fromkin, A Peace to End All Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York 1989. 22 Es ist verwirrend, daß im Arabischen sowohl das islamische Konzept einer universalen Gemeinschaft (al-Umma alhlamiyya) als auch die säkulare Idee der Nation (Arabische Nation: al-Umma al-'Arabiyya) mit dem Begriff Umma bezeichnet werden. Zu weiteren Einzelheiten vgl. B. Tibi, «Islam and Arab Nationalism», in: Barbara Freyer Stowasser (Hg.), The Islamic Impulse, London 1987, S. 59-74. 23 Yusuf al-Qaradawi, al-Hulul almustawrada wa kaif djanat 'ala ummatina (Die importierten Lösungen und wie sie Verbrechen an unserer Gemeinschaft begangen haben), Bd. 1 der dreibändigen Reihe Hatmiyat alhall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen Lösung), Neuauflage, Beirut 1980; Bd. 3 erschien in Kairo 1988. 24 Vgl. die Muthana-Ausgabe von Ibn Khalduns alMuqaddimah, Bagdad o. J.; und zu dem großen Philosophen Ibn Khaldun vgl. das entsprechende Kapitel in: B. Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 4), Kapitel 6. 25 Ghassan Salamé, al-Mudjtama' wa aldaula fi al-Maschreq al-'Arabi (Gesellschaft und Staat im Arabischen Osten), Beirut 1987. Darin wird die Relevanz Ibn Khalduns hervorgehoben. 26 Zur syrischirakischen Feindschaft vgl. auch Kapitel 8 in: B. Tibi, Die Verschwörung (wie Anm. 11). 27 Friedrich Engels in: Karl Marx/Friedrich Engels, Über Religion, Berlin (Ost)1958, S. 256. 28 Hierzu das Orientalismus-Kapitel in: B. Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001 (erweiterte Neuausgabe 2002), S. 136-190. -351-
29 Ernst Bloch, Subjekt - Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Neudruck, Frankfurt/M. 1972. 30 Zum Begriff «Ethnie» ist die Arbeit von Anthony D. Smith zentral; hier steht «ethnische Gemeinschaft» in Kontrast zur Nation. Vgl. hierzu Smiths wegweisende Arbeit, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986, hierzu S. 13-16. 31 In bezug auf den Nahen Osten vgl. Milton J. Esman/Itamar Rabinovich (Hg.), Ethnicity, Pluralism, and the State in the Middle East, Ithaca/NY 1988, vor allem die Einführung der Autoren und der Beitrag von Gabriel Ben-Dor, «Ethnopolitics and the Middle Eastern State», S. 71 -92. 32 Zum Subsystem vgl. B. Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State-War to New Security, neue erweiterte Ausgabe, New York 1997, S. 47ff. 33 Albert Hourani, «Conclusion: Tribes and States in Islamic History», in: Khoury/Kostiner (Hg.), Tribes and State Formation in the Middle East (wie Anm. 17), S. 303 - 311. 34 Hierzu das Standardwerk von Anthony Giddens, The Nation-State and Violence (wie Anm. 13). 35 Smith, The Ethnic Origins of Nations (wie Anm. 30), S. 35. 36 W Montgomery Watt, Islamic Political Thought, Edinburgh 1968, S. 13. 37 W Montgomery Watt, Muhammad at Medina, Oxford 1977, S. 78. 38 Zu weiteren Einzelheiten dieser Verbindung vgl. Maxime Rodinson, Mohammed, Luzern und Frankfurt/M. 1975 (Original: Paris 1961). 39 Watt, Muhammad at Medina (wie Anm. 37), S. 144. 40 Smith, The Ethnic Origins of Nations (wie Anm. 30), S. 35. 41 B. Tibi, Die Krise des modernen Islams (wie Anm. 3), -352-
Kapitel 4. 42 Elman R. Service, Origins of the State and Civilization. The Process of Cultural Evolution, New York 1975, S. 297. 43 Marschall G. S. Hodgson, The Venture of Islam (wie Anm. 8), hierzu Bd. I: The Classical Age of Islam, S. 193. 44 Vgl. Ghassan Salamé, Elbaki Herssani und Khaldun alNaqib als Autoren und Saad Eddin Ibrahim als Koordinator und Herausgeber, al-Mudjtama' wa aldaula fi alwatan al-'Arabi (Gesellschaft und Staat im Arabischen Heimatland), Beirut 1988, vgl. hierzu S. 103 -118. 45 Michael C. Hudson, Arab Politics. The Search for Legitimacy, New Haven 1977, S. 99. 46 Gerd Spittler, Herrschaft über Bauern. Die Ausbreitung staatlicher Herrschaft und einer islamischurbanen Kultur in Gabir (Niger), Frankfurt/M. 1978,S.103. 47 Hudson, Arab Politics (wie Anm. 45), S. 88 f. 48 Hierzu B. Tibi, «Weltordnung als Staatengemeinschaft und die Gefahr ihres Zerfalls im 21. Jahrhundert», in: Harenberg Staatenlexikon. Die Geschichte aller Staaten im 20. Jahrhundert, Dortmund 2000, S. 951 -965. 49 Vgl. den Reader von Anthony D. Smith und John Hutchinson (Hg.), Ethnicity, Oxford 1996 (darin B. Tibi, S. 174ff.). Unter den früheren grundlegenden Werken sind zitierenswert: Benjamin B. Ringer und Elinor R. Lawless (Hg.), Race - Ethnicity and Society, London 1989; und Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985; zum Stamm-Begriff vgl. Harold R. Isaacs, Idols of the Tribe. Group Identity and Political Change, Cambridge/MA 1975. 50 Louis Snyder, «Nationalism and the Flawed Concept of Ethnicity», in: Canadian Review of Studies in Nationalism, Bd. 10 (1983), H. 2, S. 253-265, hier S. 263. 51 Vgl. Hanna Batatu, «Some Observations on the Social -353-
Roots of Syria's Ruling Military Group and the Causes of its Dominance», in: The Middle East Journal, Bd. 35 (1981), H. 3, S. 331-344, hier S. 331 f. Vgl. dazu auch Patrick Seale, Asad. The Struggle for the Middle East, Berkeley 1989, S. 8 ff. 52 Esman/Rabinovich, Ethnicity, Pluralism, and the State in the Middle East (wie Anm. 31). 53 Ebd., S.3f. 54 Batatu, «Some Observations on the Social Roots...» (wie Anm. 51), S. 332. 55 Hanna Batatu, «Iraq's Underground Shi'a Movements. Characteristics, Causes and Prospects», in: The Middle East Journal, Bd. 35 (1981), H. 4, S. 578-594, hierzu S. 583f. Zum aktuellen Stand der schi'itischfundamentalistischen Opposition im Irak vgl. Amatzia Baram, «From Radicalism to Radical Pragmatism: The Shi'ite Fundamentalist Opposition Movement of Iraq», in: James Piscatori (Hg.), Islamic Fundamentalisms and the Gulf Crisis, Chicago 1991, S. 28-51. Generell zur Shi'a im Irak vgl. Yitzhak Nakash, The Shi'is of Iraq, Princeton/NJ 1994. 56 Batatu, «Iraq's Underground Shi'a Movements...» (wie Anm. 55), S. 584. 57 Smith, The Ethnic Origins of Nations (wie Anm. 30), S. 713. 58 Vgl. ebd., S.13-16. 59 Ebd., S. 13. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 15. 62 Ebd., S. 10. 63 Auf dieses Phänomen bezieht sich Ghassan Salâmes Formulierung «Tamaddun alsukkan wa tarayuf alsulta/Die Urbanisierung der Bevölkerung und die Ruralisierung der politischen Macht». Vgl. hierzu Salamè, al-Mudjtama wa -354-
aldaula fi al-Maschreq al-'Arabi (Gesellschaft und Staat im Arabischen Osten) (wie Anm. 25), S.215-218. Soziologisch betrachtet, können die Beziehungen zwischen den Besitzern der staatlichen Macht verstanden als Zentrum der Ressourcenverteilung - und ihren vornationalen Gemeinschaften als Patron-Klient-Beziehungen charakterisiert werden. Einen Versuch, sich dieser komplexen Thematik zu nähern, unternimmt John Waterbury, «An Effort to put Patrons and Clients in Their Place», in: Ernest Gellner/John Waterbury (Hg.), Patrons and Clients in Mediterranean Societies, London 1977, S. 329-342. 64 Immanuel M. Wallerstein, The Politics of the World Economy. The States, the Movements, and the Civilizations, Cambridge 1984, S. 33. 65 Hudson, Arab Politics. The Search for Legitimacy (wie Anm. 45), S. 56f. 66 Giddens, The Nation-State and Violence (wie Anm. 13), S. 119-121. 67 Weitere Ausführungen zu dem Argument, daß frühere Staatensysteme nicht in diesem Sinne als internationale Systeme zu bezeichnen sind, enthält die bahnbrechende Arbeit des verstorbenen Oxford-Gelehrten Hedley Bull, The Anarchical Society (wie Anm. 18). 68 Giddens, The Nation-State and Violence (wie Anm. 13), S. 210. 69 Joel S. Migdal, Strong Societies and Weak States. StateSociety Relations and State Capabilities in the Third World, Princeton/NJ 1988. 70 Kemal Karpat, «The Ottoman Ethnic and Confessional Legacy in the Middle East», in: Esman/Rabinovich, Ethnicity, Pluralism, and the State in the Middle East (wie Anm. 31), S. 35-53, hierzu S. 43. 71 Philip S. Khoury, Syria and the French Mandate. The -355-
Politics of Arab Nationalism, 1920-1945, Princeton/NJ 1987, S. 13. 72 Zu dieser Problematik vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (Neuausgabe 1991). 73 Vgl. das Kapitel über den Nationalstaat in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 19), S. 55-72. Zu den heutigen Nahost-Staaten vgl. B. Tibi, Das arabische Staatensystem, Mannheim 1996. 74 Vgl. W Montgomery Watt, Islamic Fundamentalism and Modernity, London 1988. 75 Beispiele für islamische Reformer sind: Fazlur Rahman, Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago 1982; Mohammed Arkoun, Rethinking Islam. Common Questions, Uncommon Answers, Boulder/Col. 1994. 76 Vgl. mein Essay «Islamischer Fundamentalismus als Antwort auf die doppelte Krise», Anhang zu der Neuausgabe von, Die Krise des modernen Islams (wie Anm. 3), S. 202-279.
V. Von der fundamentalistischen Herausforderung des säkularen Nationalstaats zum irregulären Krieg der Islamisten gegen die westliche Zivilisation 1 Vgl. hierzu das fünfbändige Ergebnis des an der American Academy of Arts and Sciences durchgeführten «Fundamentalism Project»; die fünf Bände sind bei Chicago University Press zwischen 1991 und 1995 erschienen und wurden herausgegeben von Martin Marty und Scott Appleby. Band 1: Fundamentalism Observed, Chicago 1991. Ich bin Mitautor des zweiten Bandes: Fundamentalism and Society, Chicago 1993 («The World View of Sunni-Arab Fundamentalists. Attitudes toward Modern Science and -356-
Technology», S. 73-102). 2 Zum jüdischen Fundamentalismus vgl. das Kapitel von Micha Brumlick und zum Hindu-Fundamentalismus das Kapitel von Hermann Kulke, in: Dietz Lange (Hg.), Religiöser Fundamentalismus, Politik, Religion, Frankfurt/M. 1996 (darin mein Kapitel über den Islam auf S. 9-27). 3 Vgl. Graham Fuller und Ian Lesser, A Sense of Siege. The Geopolitics of Islam and the West, Boulder/Col. 1995. 4 Vgl. Ahmad S. Mousalli, Radical Islamic Fundamentalism. The Ideological and Political Discourse of Sayyid Qutb, Beirut 1992. 5 Vgl. Shireen T. Hunter, The Future of Islam and the West. Clash of Civilizations or Peaceful Coexistence?, London 1998. 6 So falsch argumentiert Fawaz A. Gerges, America and Political Islam. Clash of Cultures or Clash of Interests?, Cambridge 1999. Eine Gegenposition ist in meinem in Anmerkung 39 nachgewiesenen Buch enthalten. 7 Zur Deutung des weltanschaulichen Konflikts, B. Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995 (erweiterte und revidierte Neuausgabe, München 1998; vgl. die neue, mit einem Vorwort zum 11. September versehene Ausgabe von 2001). 8 Vgl. Yossef Bodansky, Bin Laden. The Man who Declared War on America, Rocklin/CA 1999. 9 Hierzu Agnus Kress Gillespie, Twin Towers. The Life of New York City's World Trade Center, New Brunswick/NJ 1999. 10 Im Terrorismus-Kapitel meines Buches, Der religiöse Fundamentalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert, Mannheim 1995 (Kapitel 4, S. 61-76), habe ich auf S. 66 ff. diese Vorwarnung vom Februar 1993 gedeutet und gezeigt, daß einer der Terroristen Mohammed Abu-Halema, der aus -357-
Deutschland kam, zur Afghanistan-Bin-Laden-Connection gehörte und sogar die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Dies wurde damals zur Kenntnis genommen. Auch einige der TerrorIslamisten vom 11. September, wie ihr Anführer Mohammed Atta, kamen aus der deutschen Islam-Diaspora. In einem 1999 geschriebenen, jedoch erst 2000 erschienenen Fundamentalismus-Buch schreibe ich, daß Bin Laden in bezug auf die USA eine Wahnsinnstat vorbereitet, vgl. B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000, S. 124 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). Das US-Magazin Newsweek schrieb am 5. November 2001: «Bassam Tibi a Syrian born Islam expert... has warned for years... No one wanted to hear that» (S. 46). Nach dem 11. September lud das Bundeskriminalamt mich ein, am 14. November auf der Herbsttagung ein Hauptreferat über den Terrorismus zu halten; hierzu der Wiesbadener Kurier vom 15. November 2001: «Politikwissenschaftler Tibi warnt vor Expansionsdrang des Islamismus auf BKA Tagung». 11 Noch ein paar Monate vor dem 11. September schrieb Gert Ueding als Rezensent meines Buches, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 10), unter der Überschrift «Inschallah aufgewacht» folgendes: «Ginge es bei uns so autoritär wie im Islam zu, könnte man die Lektüre dieses... Buches allen... verordnen... zu ihrer... Erneuerung und Rettung zugleich», Die Welt vom 14. Juli 2001 (Beilage: Die literarische Welt). 12 Die drei zentralen Werke zum irregulären Krieg sind: Kalevi J. Holsti, The State, War, and the State of War, Cambridge 1996. Zuvor Martin van Creveld, The Transformation of War, New York 1991. Vgl. auch B. Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State-War to New Security, New York 1997, besonders Kapitel 12. 13 Unter den zahlreichen Arbeiten zu dieser Problematik vgl. Grant Wardlaw, Political Terrorism. Theory, Tactics and Counter-Measures, Cambridge 1982 (Neuausgabe 1989); sowie -358-
neu Paul R. Pillar, Terrorism and US Foreign Policy, Washington/D. C. 2001; sowie David J. Whittaker (Hg.), The Terrorism Reader, London und New York 2001. 14 Vgl. John Kelsay, Islam and War. A Study in Comparative Ethics, Louisville/KY 1993, besonders Kapitel 5 über Irregular War in the Tradition of Islam. 15 Vgl. Philip B. Heymann, Terrorism and America. A Commonsense Strategy for a Democratic Society, Cambridge/MA 1998. 16 Vgl. Mark Juergensmeyer, Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence, Berkeley 2000, darin Kapitel 4 über den Islam. 17 Vgl. z.B. «TA-Gespräch mit B. Tibi unterwegs in Usbekistan» (mit Hanno Müller), in: Thüringer Allgemeine vom 15. September 2001, S. 3. Darin findet sich u.a. meine Aussage, es ist «sicher, daß die Bin-Laden-Connection hinter den Anschlägen steht. Ich bestehe aber auf einer Differenzierung zwischen Islam und Islamismus.» 18 Rede-Manuskript der in Harvard im Oktober 2001 auf Englisch vorgetragenen Keynote-Address von Wolfgang Thierse; hier meine Übersetzung. 19 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001). 20 Roman Herzog, Preventing the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for the 21st Century, New York 1999, darin: B. Tibi, «International Morality and Cross-Cultural Bridging», S. 107-126. 21 Zum ersten Afghanistan-Krieg vgl. Olivier Roy, Islam and Resistance in Afghanistan, Cambridge 1986; zu diesem Krieg als Quelle des Terrorismus vgl. John Cooley, Unholy Wars. Afghanistan, America and International Terrorism, London 1999. -359-
22 Neil MacFaquhat, «Bin Laden's Popularity is a Problem for Saudi Rulers», in: International Herald Tribune vom 6./7. Oktober 2001, S. 2. 23 Hierzu Richard P. Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, Oxford 1969. 24 Hierzu der Bericht über die Biographie Bin Ladens in: alHayat vom 4. Oktober 2000. 25 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, deutsch mit einer falschen Übersetzung des Buchtitels «Kampf der Kulturen». 26 Vgl. Sayyid Qutb, al-Salam alalami wa al-Islam (Der Weltfriede und der Islam), Neudruck Kairo 1992; ferner Muschkilat alhadarah (Die Probleme der Zivilisation), Neudruck, Kairo 1986. 27 Salah A. al-Khalidi, Amrika mina aldakhil bi mindhar S. Qutb (Amerika von innen mit der Brille S. Qutbs gesehen), Mansura, Ägypten und Dschidda, Saudi-Arabien 1987. 28 So in der Schrift von Sayyid Qutb, Ma'alim fi altariq (Wegzeichen), laut Impressum 13. legale Ausgabe 1989. 29 Ebd. S. 201. 30 Hierzu die Arbeiten von Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama Bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001, und Udo Ulfkotte, Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten, München 2001. 31 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 19), Kapitel 1. 32 Eric Hobsbawm/Terence Ranger, The Invention of Tradition, Neuausgabe, Cambridge 1996. 33 Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Neudruck, Oxford 1990 (zuerst 1960). 34 Vgl. Geoffrey Parker, The Military Revolution. The Rise of the West 1500-1800, Cambridge 1988. -360-
35 Vgl. B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 19). Zum christlichen Abendland Kapitel II, zum Westen Kapitel V 36 Osama Khalid, al-Mutaqbal al-Arabi fi alasr alamriki (Die arabische Zukunft im amerikanischen Zeitalter), Kairo 1992. 37 Vgl. die Artikel auf S. 4, in: Die Welt vom 14. Dezember 2001, u.a. den Artikel von Gernot Facius, «Zwischen Dialog, Allah und Märtyrertod». 38 Vgl. Jochen Bölsche, «Der verlogene Dialog», in: Der Spiegel vom 17.12.2001 (Heft 51), S. 44-56. 39 Vgl. B. Tibi, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998, erweiterte Neuausgabe 2002, deutsche Übersetzung: Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999 (neu 2001). 40 Grundlegend ist das Werk von Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977. 41 Vgl. Marshall G. Hodgson, The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974, hier Band 3. 42 Ebd. S. 176 ff. sowie S. 249 ff. Vgl. auch Theodore H. von Laue, The World Revolution of Westernization. The 20th Century in Global Perspective, New York 1987. 43 Vgl. B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 10). 44 Vgl. David J. Whittaker (Hg.), The Terrorism Reader, London und New York 2001. 45 Vgl. Simon Reeve, The New Jackals. Ramzi Youssef, Osama Bin Laden and the Future of Terrorism, Boston 1999. 46 Sayyid Qutb hat die geistigen Grundlagen für eine islamische Weltrevolution gelegt in seinem Katechismus alSalam alalami wa al-Islam (Der Weltfriede und der Islam) (wie Anm. 26). -361-
47 Zum ~Neo-Djihad vgl. Kapitel 8 in: B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 19, S. 236-258), und zum Terrorismus vgl. Kapitel 10 in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 10), S. 147-159. 48 Vgl. Hedley Bull, «The Revolt against the West», in: H. Bull/ Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1988, S. 217ff. 49 John Kelsay, Islam and War (wie Anm. 14), S. 117. 50 Vgl. B. Tibi, Die neue Weltunordnung (wie Anm. 39). 51 Vgl. Ahmed Rashid, Taliban. Militant Islam, Oil and Fundamentalism in Central Asia, New Haven 2000 (deutsche Übersetzung: Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Djihad, München 2001). 52 Vgl. den Essay «Risalatf al-Djihad», in: Hassan al-Banna, Madjmu'at rasail al-Imam alscbahid Hassan al-Banna (alBannas gesammelte Essays), «legale Ausgabe» (so im Impressum), Alexandria 1990, S. 271-292. Für al-Banna ist der Djihad eine Farida/Pflicht. 53 Hierzu B. Tibi, «Von der nationalen zu der von den Islamisten geführten Intifada», in: K. Spillmann/A. Wenger (Hg.), Zeitgeschichtliche Hintergründe aktueller Konflikte, Bd. VIII, Zürich 2001. 54 Zur Palästinafrage im Kontext des Oslo-Friedens und seinem Niedergang im Konflikt vgl. B. Tibi, Pulverfaß Nahost. Eine arabische Perspektive, Stuttgart 1997. 55 Dabei wird die «Globalisierung» ausschließlich ökonomisch gedeutet und die sie begleitende kulturelle Fragmentation (weltanschaulicher Werte-Dissenz und Konflikt) völlig übersehen. Mehr dazu in: B. Tibi, Die neue Weltunordnung (wie Anm. 39), dort besonders Kapitel I und V. 56 Hierzu B. Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001 (erweiterte Neuausgabe 2002), Kapitel 2. -362-
57 Vgl. Johannes J. G. Jansen, The Dual Nature of Islamic Fundamentalism, Ithaca/NY 1997. 58 Vgl. B. Tibi, «The Fundamentalist Challenge to the Secular Order in the Middle East», in: Fletcher Forum for World Affairs, Bd. 23 (1999), S. 191-210. 59 Wilhelm Heitmeyer u.a., Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/M. 1997. Vgl. auch B. Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (neu 2001). 60 Vgl. B. Tibi, «Schily hat Recht. Verordnete Fremdenliebe verhindert effektive Maßnahmen gegen den Terrorismus», in: Rheinischer Merkur vom 2. November 2001, S.17. 61 Vgl. Stefan Theil u. a., «Tolerating the Untolerable», in: Newsweek vom 5. November 2001, S. 46-47. Darin steht: «B. Tibi hat seit Jahren vor den Islamisten in Deutschland gewarnt, ohne gehört zu werden.» 62 Zum Beispiel in einem Schwerpunktheft des Time Magazine über «Islam in Europe» (Heft 26) vom 24. Dezember 2001. Darin steht auf S. 49: «Bassam Tibi who coined the term Euro-Islam insists on the integration of Europe's Muslims.» 63 Vgl. B. Tibi, «Deutschland ist Ruhezone für Terroristen», in: Rheinzeitung vom 25. Oktober 2001, S.5. 64 Zur zunehmenden Bedeutung der Religion in der Weltpolitik vgl. das Spezialheft der Londoner Zeitschrift Millennium. Journal of International Studies (hg. von der London School of Economics, LSE) über «Religion und International Relations», Bd. 29, Heft 3, 2000 (darin mein Aufsatz S. 843-860); sowie die Arbeit von Jeff Haynes, Religion in Global Politics, London 1998, darin Kapitel 7 und 8 über den Islam.
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VI. Der fundamentalistische Mißbrauch der IslamDiaspora 1 Gilles Kepel, Allah im Westen. Die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996. 2 Hierzu B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu 2001). 3 Udo Steinbach, «Generalverdacht gegen Muslime in Deutschland», in: FAZ vom 4.Januar 2001 als Leserbrief zu dem Artikel von B. Tibi, «Hidschra nach Europa», erschienen in: FAZ vom 18. Dezember 2000. 4 So die Titelgeschichte von Newsweek vom 5. November 2001. 5 Steven Erlanger, «Extremists found a Haven in Liberal and Open Germany», in: New York Times vom 6./7. Oktober 2001, S. 3. 6 Stefan Theil u. a., «Tolerating the Intolerable», in: Newsweek (wie Anm. 4), hier S. 46-47. 7 Michael Ignatieff, «Paying for Security with Liberty», in: Financial Times vom 13. September 2001, S. 15. 8 Vgl. z. B. B. Tibi, «Schily hat Recht. Verordnete Fremdenliebe verhindert effektive Maßnahmen gegen den Terrorismus», in: Rheinischer Merkur vom 2. November 2001, S. 17. 9 Vgl. B. Tibi, «Der Kampf gegen Terror ist kein Rassismus», in: Berliner Tagesspiegel vom 15. Januar 2002, S. 8. 10 Dominique Moïse, «America's Unexpected Weakness has Revived the West's Sense of Solidarity», in: Financial Times vom 13. September 2001, S.15. 11 Miriam Lau, «Der links murmelnde Nationalismus. Wie sicher alter Antiamerikanismus versteckt wird», in: Die Welt vom 23. November 2001, S. 9. 12 Hierzu Arnulf Baring, Scheitert Deutschland - Abschied -364-
vorn Wunschdenken, Stuttgart 1997, S. 290. 13 Vgl. Siegfried Kohlhammer, Die Feinde und die Freunde des Islam, Göttingen 1996, S. 15 ff. 14 Molly Moore, «Freed Aid Workers Describe Taliban Beating of Afghan Women», in: International Herald Tribune vom 17./18.. November 2001, S.4. 15 Karen Armstrong ist unter anderem Autorin der in deutscher Übersetzung vorliegenden Biographie: Muhammed. Religionsstifter und Staatsmann, München 1993. Von ihr stammt auch das Standardwerk Holy War. The Crusades and Their Impact on Today's World, New York 1991. 16 Vgl. B. Tibi, Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998 (TaschenbuchAusgabe, Berlin 2000 und 2001). 17 Vgl. Abdullahi A. An-Na'im, Towards an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law, Syracuse/NY 1990. 18 Zu den Frauen im Islam vgl. Leila Ahmed, Women and Gender in Islam. Historical Roots of a Modern Debate, New Haven 1992; sowie Kapitel 10 über den Schleier in: B. Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, München 1998, S. 320-340. 19 Vgl. B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). 20 Zu Maududi als Lehrstoff für britische Muslime vgl. Gilles Kepel, Allah im Westen (wie Anm. 1), S. 173ff., besonders S. 178. 21 Zu beiden Modellen in bezug auf Deutschland vgl. B. Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (neu 2001), Kapitel VII, S. 247-264, besonders S. 257ff. 22 Zum Islam-Unterricht in Berlin vgl. Rolf Busch (Hg.), -365-
Religion und Integration. Islamischer Religionsunterricht an Berliner Schulen, Berlin 2000, darin B. Tibi über Indoktrination, S. 83-99. 23 Vgl. B. Tibi, «Islamismus ist genauso gefährlich wie Rechtsradikalismus. Der Aufstand der Anständigen», in: Die Welt vom 15. Januar 2001, S. 2. 24 Helmuth Plessner, Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Neudruck, Frankfurt/M. 1974, S. 7. Plessner schreibt auch über die Deutschen: «Was den älteren Industrienationen dank ihrer revolutionären Vorgeschichte geglückt war... blieb uns versagt.» Ich nenne diesen «Zauber der Extreme» auch Gesinnungen. 25 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Neudruck, Frankfurt/M. 1969. 26 Vgl. B. Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 16), vgl. darin die Widmung. 27 Vgl. Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Neudruck, Oxford 1990 (zuerst 1960). 28 Vgl. B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 19). 29 So haben - bis auf Die Welt (14.07.2001) - alle auflagenstarken deutschen Zeitungen mein Buch, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 19) totgeschwiegen. Auf S. 124 steht bereits, was Bin Laden im Sinn hatte und am 11. September 2001 Wirklichkeit wurde. Auch nach dem 11. September hielt das Schweigen dieser Zeitungen an. Der WeltRezensent fragte in der Überschrift seiner Rezension vom 14. Juli 2001: «Inschallah aufgewacht?». 30 Vgl. dazu das Vorwort zu der Neuausgabe B. Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus (zuerst 1995), erweiterte Ausgabe, München 1998 (neu 2001); sowie auch ders., Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 2). -366-
31 Hierzu mit historischen Details B. Tibi, Der Islam und Deutschland (wie Anm. 21). 32 Stefan Theil, «Tolerating the Intolerable», in: Newsweek (wie Anm. 4), 46 ff. 33 So in meinem Buch, Europa ohne Identität? (wie Anm. 16). Vgl. dazu auch die Rezension von Hella Kaiser, «Verordnete Fremdenliebe», in: Tagesspiegel/Berlin vom 22. Februar 1999. 34 Dominik Cziesche/Conny Neumann, «Moderne Sklaverei», in: Der Spiegel vom 12.11.2001 (Heft 46), S. 58-61. 35 Vgl. Alice Schwarzer (Hg.), Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002. 36 Vgl. Mary Fulbrook, German National Identity after the Holocaust, Cambridge 1999. 37 Vgl. dazu das entsprechende Kapitel von mir in dem Band von Ulrich Wank (Hg.), Der neue und der alte Rechtsradikalismus, München 1993, S. 139-168, neben Autoren wie Ernst Piper und Otto Schily. 38 Cora Stephan, «Abschied von Lebenslegenden», in: Die Welt vom 4. Dezember 2001, S. 9. 39 Vgl. B. Tibi, «Die deutsche Ausländerfeindlichkeit und der Rechtsradikalismus der Ausländer», in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1993, Heft August, S. 493-502. 40 Zum Islamismus und zu seinen weltpolitischen Ansprüchen vgl. B. Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999 (neu 2001) (Original: The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998); vgl. ferner B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 19). 41 Vgl. H. Ch. Buch, «Was wissen die Islam-Experten», in: Die Welt vom 19. Oktober 2001, S. 8. 42 Aufklärerisch über den Islam in Deutschland und die -367-
europäische Islam-Diaspora: Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland. Nebeneinander oder Miteinander?, Freiburg 1998 (neu 2001), besonders Kapitel 5 und 6. 43 Hierzu B. Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 2), Kapitel I; ders., Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001 (erweiterte Neuausgabe 2002), Kapitel II. 44 Über die Bedeutung des Westfälischen Friedens auch für die Welt des Islam vgl. die Beiträge (u. a. von B. Tibi) in: Detlef Kroger (Hg.), Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden, Osnabrück 2000, darin S. 17-28. Und generell: Adam Watson, The Evolution of International Society. A Comparative Historical Analysis, London 1992, S. 182ff. 45 Zur Leitkulturdebatte: B. Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 16). 46 Vgl. Hasan al-Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Kairo 1989. 47 Als eine Einführung in den Islam und seine Geschichte vgl. B. Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 (Serie Piper Ausgabe 1998 und neu 2001). 48 Vgl. Richard P. Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, London 1969. 49 Vgl. B. Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, München 2002. 50 Vgl. Michael Willis, The Islamist Challenge in Algeria. A Political History, New York 1996. 51 Marina Lazreg, The Eloquence of Silence. Algerian Women in Question, New York 1994. 52 Vgl. Myron Weiner, The Global Migration Crisis. Challenge to States and to Human Rights, New York 1995. Er erläutert in einem Kapitel, daß Migration auch sicherheitspolitische Aspekte einschließt. Vgl. auch B. Tibi, -368-
Islamische Zuwanderung (wie Anm. 49), Kapitel I. 53 Vgl. B. Tibi, «Schily hat Recht» (wie Anm. 8). 54 Vgl. B. Tibi, «Deutsche Behörden haben viel verschlafen», in: Focus vom 8.Oktober 2001, S. 82. 55 «Die deutsche Spur», in: Der Spiegel vom 15. September 2001 (Heft 38) mit der Titelgeschichte «Der Terror-Angriff: Krieg im 21. Jahrhundert», hier S. 26-31. 56 Vgl. die 2001-Neuausgabe meines Buches, Europa ohne Identität? (wie Anm. 16) mit dem neuen Untertitel: Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München und Berlin 2001. 57 Abu A'la al-Maududi, al-Islam wa almadaniyya alhaditba (Der Islam und die moderne Zivilisation), ohne Datum, S. 4142. 58 Zum Euro-Islam vgl. B. Tibi, Der Islam und Deutschland (wie Anm. 21), Kapitel XI. Dort finden sich Belege über die Entstehung des Konzepts in Paris 1992. 59 Vgl., wenngleich kritisch, Christian Joppke/Steven Lukes (Hg.), Multicultural Questions, Oxford 1999. 60 Vgl. Bhikhu C. Parekh, Rethinking Multi-Culturalism. Cultural Diversity and Political Theory, Cambridge/MA 2000. 61 Hierzu B. Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 16), Kapitel 4 und 5, sowie ders., Islamische Zuwanderung (wie Anm. 49), Teil 3 und 4.
VII. Der Zivilisationskonflikt als Wettstreit der Modelle 1 Gernot Facius, «Grüne fordern islamische Theologie. Kirchenexpertin Nickels ‹keine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche›», in: Die Welt vom 24. Dezember 2001, S. 2. Vgl. auch den Bericht von G. Facius, «Zwischen Dialog, Allah und Märtyrertod», in: Die Welt vom 14. Dezember 2001, S. 4, über das Doppelspiel sowie die Doppelzüngigkeit der Islamisten in -369-
Deutschland. 2 Zitiert nach Sascha Lennartz, «Auch Muslime müssen müssen. Der interreligiöse Kuscheldialog steht in der Kritik», in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. Dezember 2001, S. 53. Vgl. auch den Bericht von Jochen Bölsche, «Der verlogene Dialog», in: Der Spiegel (Heft 51) vom 17. Dezember 2001, S. 44-56. 3 Nach «Muezzinruf statt Glockenläuten?», in: Berliner Morgenpost vom 21. Dezember 2001, S. 17. Postmoderne Christen scheinen nicht zu verstehen, daß die Verwandlung einer Kirche in eine Moschee für Muslime eine Eroberung und nicht Toleranz bedeutet. 4 «Kreuz und Halbmond», in: FAZ vom 24. Dezember 2001, S. 33. 5 Der Spiegel vom 22. Dezember 2001 (Heft 52) mit der Titelgeschichte «Der Glaube der Ungläubigen. Welche Werte hat der Westen?», S. 50-66 von R. Mohr u. a. 6 Die Schrift von Immanuel Kant «Zum ewigen Frieden» ist in dem Band Friedensutopien, hg. von R. Saage, Frankfurt/M. 1979, enthalten. 7 Hierzu B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002). 8 Vgl. Bruce Russett, Grasping Democratic Peace. Principles for a Post-Cold War World, Princeton/NJ 1993. 9 Vgl. Dilip Hiro, Holy Wars. The Rise of Islamic Fundamentalism, New York 1989. 10 Vgl. R. Hrair Dekmejian, Islam in Revolution. Fundamentalism in the Arab World, Syracuse/NY 1985, bes. das Kapitel «Islamic Ideology and Practice», S. 37ff.; und Shireen T. Hunter (Hg.), The Politics of Islamic Revival. Diversity and Unity, Bloomington 1988 (mit Fallstudien). -370-
11 Mehr hierüber bei B. Tibi, Conflict and War in the Middle East. From Inter-State-War to New Security, erweiterte Neuausgabe, New York 1997, Teil II. 12 Vgl. Emmanuel Sivan, Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven 1985. 13 Vgl. Yusuf al-Qaradawi, al-Hulul almustawradah wa kaif djanat 'ala ummatina (Die importierten Lösungen und wie sie Verbrechen an unserer Umma begangen haben), Beirut 1980 (Bd. I der Serie Hatmiyat alhall al-Islami/Die Notwendigkeit der islamischen Lösung). Dieser Islamist machte sich nach dem 11. September durch entsprechende Fetwas international bekannt. Vgl. auch Anm. 17 unten. 14 Der Begriff Nizam läßt sich weder im Koran noch in den klassischen Quellen belegen. Vgl. dazu Wilfred C. Smith, The Meaning and End of Religion, 2. Auflage, New York 1978, S. 117. 15 Vgl. Bernard Lewis, The Political Language of Islam, Chicago 1988, bes. S. 3-6. 16 Anwar 'Abd al-Malek, al-Fikr al- 'arabi fi ma 'rakat alnahda (Arabisches Denken im Kampf um eine Renaissance), 2. Auflage, Beirut 1978, S. 115. 17 Yusuf al-Qaradawi, Hatmiyat alhall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen Lösung), 3 Bände, Bd. I: alHulul almustawradah (wie Anm. 13); Bd. 2: al-Hall al-Islami faridah wa darurah (Die islamische Lösung, eine Pflicht und eine Notwendigkeit), Beirut 1974; und Bd. 3: Bayinat alhall alhlami wa schabahat al-'ilmaniyyin wa almustaghribin (Die Grundzüge der islamischen Lösung und die Anzweiflungen der Säkularisten und der Verwestlichten), Kairo 1988. 18 Vgl. Muhammad Salim al-'Awwa, Fi alnizam alsiyasi li aldaula al-Islamiyya (Das politische System des islamischen Staates), 6. Auflage, Kairo 1983. Eine 7. Auflage erschien in Kairo 1988. -371-
19 Vgl. dazu B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 7), Kapitel 8. 20 Vgl. Abdallah Laroui, The Crisis of the Arab Intellectual. Traditionalism or Historicism?, Berkeley 1976, S. VII-XI. 21 Vgl. Sadiq Djalal al-'Azm, al-Naqd aldhati ba'd alhazima (Die Selbstkritik nach der Niederlage), 4. Auflage, Beirut 1970 (die erste Auflage erschien 1968 in Beirut). Von al-'Azm liegt auch eine Schrift in deutscher Sprache vor: Unbehagen in der Moderne, Frankfurt/M. 1993, zum Fundamentalismus siehe S. 80ff. 22 Zu dieser Orientalismus-Debatte siehe B. Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001 (erweiterte Neuausgabe 2002), Kapitel 4 und Nachwort. Vgl. auch den Artikel B. Tibi, «Zwischen Said und Huntington», in: Die Welt vom 26.10.2001, S. 8; sowie ders., «Edward Said und die postmoderne Gegenaufklärung», in: Der Standard/Wien vom 10. November 2001, Beilage: Album. 23 Vgl. 'Ali 'Abd al-Raziq, al-Islam wa usul alhukm (Der Islam und die Regierungsformen), 2. Auflage, Beirut 1966 (zuerst 1925 veröffentlicht); dieses Buch wurde u. a. attackiert von Mahmud 'Abdulmaula, Anzimat almujtama' wa aldaula fi al-Islam (Gesellschaftssysteme und Staat im Islam), Tunis 1973, S. 47ff. Zu Abd al-Raziq vgl. B. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, Frankfurt/M. 1987 (3. Auflage 2001), S. 159-166. 24 Die beste deutsche Koranübersetzung stammt von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 1979. Zur Hadith-Tradition vgl. die Sammlung von Adel Th. Khoury, So sprach der Prophet, Gütersloh 1988. 25 Muhammad Yusuf Musa, Nizam alhukm fi al-Islam (Das politische System des Islam), Kairo 1962; Muhammad Dia'uddin al-Rayes, al-Nazariyyat alsiyasiyya alhlamiyya (Islamische politische Theorien), Kairo 1953; und 'Abdulhamid Mutawalli, Mabadi' nizam alhukm fi al-Islam (Grundzüge des -372-
Regierungssystems im Islam), Alexandria 1964. 26 Mahmud Schaltut, al-Islam; 'aqidah wa schari'a (Islam; als Dogma und als ein Gesetz), 10. Auflage, Kairo 1980. 27 Ebd., S. 440. 28 Ali Djarischa/Muhammad Scharif al-Zaibaq, Asalib alghazu alfikri li al-'alam alhlami (Methoden der intellektuellen Invasion in der islamischen Welt), 2. Auflage, Kairo 1978. 29 Ebd., S. 201-204. 30 Rifa'a R. al-Tahtawi, Ein Muslim entdeckt Europa. Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826-1831, hg. von Karl Stowasser, München 1989. Zu Tahtawi vgl. das würdigende Kapitel in: B. Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München 1997 (Serie Piper Ausgabe 1998), Kapitel 1 (Neuauflage 2001), S. 221-237. 31 Djarischa/Zaibaq, Asalib alghazu alfikri(wie Anm. 28), S. 41. 32 Ebd.,S.60f. 33 Vgl. Mohammed Y. Kassab, Après l'Iraque à qui le tour? L'Islam face au Nouvel Ordre Mondial, Algier 1991, bes. S. 67ff., 75ff.; und zu dieser Denkweise B. Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe, München 1994. 34 'Ali Husni al-Khartabuli, al-Islam wa alkhilafah (Der Islam und das Kalifat), Beirut 1969, S. 39. 35 Vgl. al-'Awwa, Fi alnizam alsiyasi U aldaula (wie Anm. 18), S. 22 f. 36 Ebd., S. 130. 37 Husain Fauzi al-Nadjar, al-Islam wa alsiyasa. Bahth fi usul alnazariyya alsiyasiyya wa nizam alhukm fi al-Islam (Islam und Politik. Eine Untersuchung über die Ursprünge der islamischen politischen Theorie und der Herrschaftsform im Islam), Kairo 1977, S. 64. -373-
38 Ebd., S. 172. 39 Vgl. Abdulhadi Abdulrahman, Sulfat alnas (Die Vorherrschaft des Textes), Casablanca 1993. 40 Vgl. ebd., S. 172. 41 So z. B. al-'Awwa, Fi alnizam alsiyasi H aldaula (wie Anm. 18), S. 153 f. 42 Vgl. das Kapitel über die Schari'a in: B. Tibi, Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte, München 1994 (Serie Piper Ausgabe 1996, 1999). Dort Hinweise auf die Fachliteratur. 43 So Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation Civil Liberties, Human Rights, and International Law, Syracuse/NY 1990; sowie den von Tore Lindholm und Kari Vogt hrsg. Band, Islamic Reform and Human Rights, Copenhagen and Oslo 1993 (darin An-Na'im, S. 97ff., sowie B. Tibi, S. 75 ff.). 44 Vgl. die Standardwerke von Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, 5. Auflage, Oxford 1964; und Noel J. Coulson, A History of Islamic Law, 3. Auflage, Edinburgh 1964. 45 Vgl. Nabil 'Abd al-Fattah, al-Mishaf wa alsaif(Das heilige Buch und das Schwert), Kairo 1984. In diesem Buch beschäftigt sich 'Abd al-Fattah mit Ideologie und politischer Aktion islamischer Neo-Fundamentalisten (al-Djama'at al-Islamiyya) in Ägypten. 46 Hier wird der Koran im Original verwendet; eigene Übersetzung. Rudi Paret übersetzt den Begriff mit «Ritus» (Der Koran, wie Anm. 24); Adel Th. Khoury übersetzt ihn passender mit «Richtung in der Angelegenheit» (Adel Th. Khoury, Der Koran, Gütersloh 1987). 47 Muhammad Sa'id al-Aschmawi, Usul alschari'a (Die Ursprünge der Schari'a), 2. Auflage, Kairo 1983, S. 31. -374-
48 Ebd., S. 89. 49 Hussein Ahmad Amin, Dalil al-Muslim alhazin. Haul alda'wa ila tatbiq alschari'a alhlamiyya (Führer für den traurigen Muslim. Reflexionen über die Anwendung der Schari'a), Kairo 1987, hier S. 198. 50 Vgl. Muhammad Sa'id al-Aschmawi, al-Islam alsiyasi (Der politische Islam), 2. Auflage, Kairo 1989. 51 Vgl. Faradj Fuda, Hiwar haul alilmaniyya (Dialog über den Säkularismus), Kairo 1992. 5 2 Vgl. Mustafa Abu-Zaid Fahmi, Fan alhukm fi al-Islam (Die Regierungskunst im Islam), Kairo 1981, S. 195-255. 53 Vgl. Hasan al-Hanafi, al-Usuliyya al-Islamiyya (Der islamische Fundamentalismus), Kairo 1989. 54 Schakib Arslan, Limatha ta'khara al-Muslimun wa limatha taqadama ghairuhum (Warum sind Muslime rückständig geblieben, während sich andere zur gleichen Zeit fortentwickelt haben?), Neudruck, Beirut 1965. Über Arslan vgl. Ahmad alScharbasi, Schakib Arslan. Da 'iyat al- 'uruba al-Islam (Schakib Arslan und sein Aufruf zum Arabismus und Islam), 2. Auflage, Beirut 1987. 55 Vgl. B. Tibi, Einladung in die islamische Geschichte (wie Anm. 22), dort besonders Kapitel 3; und zuletzt B. Tibi, «Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben? Die militärische Revolution des Westens und der Erfolg der Orthodoxie im Kampf gegen Rationalität», in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Dezember 2001, Wirtschaftsteil, S. 27. 56 Jean François Revel, Democracy against Itself. The Future of Democratic Impulse, New York 1993, Kapitel «Islamic Democracy or Islamic Terrorism», S. 199-221.
VIII. Schlußfolgerungen 1 Hierzu ausführlich B. Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin -375-
1999 (neu 2001) (Original: The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998). 2 Vgl. Gilles Kepel, Jihad. Expansion et déclin de l'islamisme, Paris 2000; deutsch mit der falschen Übersetzung: Schwarzbuch Djihad, München 2002. 3 Martin Marty/Scott Appleby (Hg.), The Fundamentalism Project, 5 Bde., Chicago 1991-1995. Eine Zusammenfassung aller 5 Bände findet der Leser bei B. Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, Darmstadt 2000 (3. erweiterte Neuausgabe 2002), S. 14-18. 4 Hierzu Financial Times vom 27. September 2001. 5 William Pfaff, «The Fundamentalist Phantom was Blown Away», in: International Herald Tribune vom 17./18. November 2001, S. 8. 6 Neil MacFaquhat, «Bin Laden's Popularity is a Problem for Saudi Rulers», in: International Herald Tribune vom 6./7. Oktober 2001, S. 2. 7 So Thomas Friedman in Leitartikeln nach Reisen in islamischen Ländern, in: International Herald Tribune, übernommen von New York Times. 8 Dieser Rhetorik liegt aber eine reale Geschichte zugrunde, vgl. das neue Vorwort zur Ausgabe von 2001 von B. Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Taschenbuchausgabe von 2001). 9 Deshalb ist die Deutung von Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung amerikanischer Protestanten (1910-28), Tübingen 1990, der im Fundamentalismus einen «radikalen Traditionalismus» sieht, völlig falsch. 10 Mehr hierzu in: B. Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992 (3. Auflage 2001), Einleitung, S. 12-27. -376-
11 Hierzu B. Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München 1997 (Serie Piper Ausgabe 1998), Kapitel 1 (Neuauflage 2001). 12 Vgl. die Aufsätze von P. van der Veer und P. Chatterjee über den politischen Hinduismus (Fundamentalismus) in: Social Research, Bd. 59 (1992), H. 1, S. 85 ff. und 111 ff.; sowie den Beitrag von Daniel Gold, in: Martin Marty/Scott Appleby (Hg.), Fundamentalism Observed, Chicago 1991 (872 Seiten), mit Untersuchungen über alle wichtigen FundamentalismusVarianten, hier S. 531 ff. 13 Vgl. Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Berkeley 1987, Kap. 10. 14 Vgl. Robert H.Jackson, Quasi-States: Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge 1990. Zu den nahöstlichen «Quasi-Staaten» vgl. Kap. IV dieses Buches sowie ferner B. Tibi, «The Simultaneity of the Unsimultaneous. Old Tribes and Imposed Nation-States in the Modern Middle East», in: Philip Khoury and Joseph Kostiner (Hg.), Tribes and State Formation in the Middle East, Berkeley 1990, S. 127-152. 15 In diesem Sinne Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, bes. den ersten Teil. 16 Vgl. Francis H. Hinsley, Sovereignty, Neuausgabe, Cambridge 1986 (zuerst 1966), bes. Kap. VI, S. 214ff. 17 Hierüber im einzelnen William McNeill, The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago 1963, S. 656ff. und 726ff. 18 Vgl. B. Tibi, «Politische Ideen in der Dritten Welt während der Dekolonisation», in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, München 1987, 5 Bde., Bd. 5, S. 361 -402. 19 Vgl. Hedley Bull, «The Revolt against the West», in: H. -377-
Bull/Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1988, S. 217ff., hier S. 223. 20 Stephen D. Krasner, Structural Conflict. The Third World against Global Liberalism, Berkeley 1985. 21 Talal Asad, «Religion and Politics», in: Social Research, Bd. 59 (1992), H. I, S. 3-16, hier S. 7. 22 Vgl. Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1972, S. 56. 23 Zur Debatte über Säkularisierung vgl. den Sammelband von Heinz Horst Schrey (Hg.), Säkularisierung, Darmstadt 1981. 24 Vgl. das Kapitel zu Indien in: B. Tibi, Der religiöse Fundamentalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert, Mannheim 1995, S. 97-106. 25 Zum jüdischen Fundamentalismus vgl. Ian S. Lustick, For the Land and the Lord. Jewish Fundamentalism in Israel, New York 1988. Im Zentrum steht die Gush-Emunim-Bewegung. Hierüber auch das Kapitel von Gideon Aran in: Marty/Appleby, Fundamentalism Observed (wie Anm. 12), S. 265 ff. Die islamische Gegenposition kommt in der islamischen Lösung der Palästinafrage zum Ausdruck; hier der Fundamentalist Muhsin Antabawi, Limadha narfud al-Yakud (Warum lehnen wir die Juden ab?), Kairo o. D., bes. S. 44ff. Darüber, wie islamische und jüdische Fundamentalisten gegen den Frieden einander in die Hände arbeiten, vgl. B. Tibi, Pulverfaß Nahost, Stuttgart 1997, Kapitel 7. Die islamisch autoritative Quelle des Fundamentalismus ist Sayyid Qutb, Ma'alim fi altariq (Wegzeichen), «13. legale Auflage», Kairo 26 Talal Asad, «Religion and Politics» (wie Anm. 21), S. 16. 27 Hierüber Hamit Enayat, «Iran: Khumayni's Concept of the Guardianship of the Jurisconsult», in: James Piscatori (Hg.), Islam in the Political Process, Cambridge 1983, S. 160ff. 28 Vgl. 'Ali 'Abd al-Raziq, al-Islam wa usul alhukm (wie -378-
Anm. 23 oben), 29 Vgl. Khalid Muhammad Khalid, Min huna nabda' (Von hier an beginnen wir neu), 10. Auflage, Kairo und Bagdad 1963. Die erste Auflage erschien 1950. 30 Vgl. ebd., S. 184. Vgl. darin auch das Kapitel über «alKabana» (Der Klerus), S. 44 ff. 31 Vgl. Yusuf al-Qaradawi, al-Hall al-Islami faridah wa darurah (ausführlicher Nachweis in Anm. 17 zu Kapitel VII). 32 Zu den Grenzen islamischer Toleranz vgl. B. Tibi, «Repressive Toleranz», in: Jüdische Allgemeine vom 17. Januar 2002. 33 Stellvertretend hierfür der prominente libanesische Christ Joseph Mughaizil, al-'Uruba wa al-'ilmaniyya. (Arabismus und Säkularismus), Beirut 1980. 34 Mehr über al-Husri und über diese Formel bei B. Tibi (Anm. 28), S. 113ff. und 152ff. 35 Vgl. B. Tibi, «Islam and Arab Nationalism», in: Barbara F. Stowasser (Hg.), The Islamic Impulse, Washington D. C. 1987, S. 59-74. 36 Vgl. B. Tibi, «The Iranian Revolution and the Arabs», in: Arab Studies Quarterly, Bd. 8 (1986), H. 1, S. 29-44; sowie das Iran-Kapitel in: B. Tibi, Fundamentalismus im Islam (wie Anm. 3), Kapitel 8. 37 Vgl. Muhammad 'Immara, al-Islam wa al-'uruba, wa al'ilmaniyya (Islam, Arabismus und Säkularismus), Beirut 1981. 38 Ebd., S. 64. 39 Ebd., S.9. 40 Zu Ibn Taimiyya und seinem Werk vgl. B. Tibi, «Der wahre Islam», München 1996 (neu 2001), Kapitel 5. 41 Muhammad Dia'uddin al-Rayes, al-Nazariyyat alsiyasiyya alhlamiyya (Die politischen Theorien des Islams), 4. Auflage, Kairo 1966 (zuerst 1925), S. 225-226. Vgl. die Nachweise auch in Anm. 25 zu Kapitel VII. -379-
42 Zum Beispiel 'Abdulhamid Mutawalli, Mubadi' nizam alhukm fi al-Islam (Grundlagen des islamischen Herrschaftssystems), Alexandrien 1964, S. 548. 43 Muhammad Yusuf Musa, Nizam alhukm fi al-Islam (Das politische System des Islam), Kairo 1962, S. 13. 44 Ebd., S. 142-145. 45 Ebd., S. 146-147. 46 Zur Defensivkultur B. Tibi, Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlichtechnischen Zeitalter, zuerst München 1981, Neuausgabe 1991, Nachdruck 2001. 47 Vgl. B. Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe, München 1994. 48 Vgl. auch Abdallah Laroui, The Crisis of the Arab Intellectual. Traditionalism or Historicism?, Berkeley 1976. 49 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt/M. 1976.
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