Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Heiner Rank Die letzte Zeugin
Kriminalroman
Oberleutn...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Heiner Rank Die letzte Zeugin
Kriminalroman
Oberleutnant Heym hat Zweifel. Auf Grund von Indizien mußte er eine Frau unter dem Verdacht des Mordes verhaften. In ihrer Wohnung starb Hellberger an einer Tablette, die sein Herz nicht vertrug. Sie wußte, daß er an diesen Tabletten sterben würde, die ihr Arzt ihr verschrieben hatte. Die Beweise sind erdrückend. Und trotzdem zweifelt Heym. Er hat jemand anderen in Verdacht. Doch Verdacht allein genügt nicht. Es gibt nur einen Weg, sie zu überführen. Dazu muß er alle Zeugen noch einmal verhören und Staatsanwalt Sommerfeld den Beweis liefern, daß seine Vermutungen richtig waren. Die Zeuginnen sitzen im Vorzimmer des Staatsanwaltes und warten auf das Verhör. Es sind alles Frauen, denn Hellberger hatte so seine Geheimnisse. Und eine von ihnen ist die Mörderin und wähnt sich noch in Sicherheit.
Heiner Rank
Die letzte Zeugin
Verlag Das Neue Berlin
1 „Meine Geduld ist zu Ende!“ Staatsanwalt Sommerfeld klappt energisch seinen Terminkalender zu. „Seit drei Wochen sitzt die Frau in Untersuchungshaft. Bei jedem Haftprüfungstermin haben Sie mir versichert, Sie stünden kurz vor der Lösung. Aber wie ich sehe, sind Sie mit diesem Fall nicht einen Schritt weitergekommen!“ Sommerfeld wirft den Kalender auf den Schreibtisch, lehnt sich zurück und schweigt. Der Mann, an den die Worte gerichtet sind, antwortet nicht. Er nickt nur leicht, auf den Lippen ein dünnes Lächeln. „Als Staatsanwalt bin ich nicht nur Ankläger“, sagt Sommerfeld, und sein Ton klingt ein wenig freundlicher. „Ich habe für die Einhaltung unserer Rechtsnormen zu sorgen. Frau Ballhorn wird heute entlassen, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen, mein lieber Heym. Was Sie als stichhaltige Fakten bezeichnen, überzeugt mich nicht.“ „Mich auch nicht.“ „Wie bitte?“ „Es ist doch ganz einfach.“ Oberleutnant Heym breitet entschuldigend die Hände aus. „Ich habe mich geirrt. 6
Gleich zu Beginn meiner Untersuchung ist mir ein Fehler unterlaufen. Ich habe also noch einmal von vorn angefangen und die richtige Lösung gefunden.“ „Tatsächlich?“ Sommerfeld lächelt matt. Den Wunsch, eine spöttische Bemerkung zu machen, unterdrückt er. Er weiß, seinem Partner ist damit nicht beizukommen. Ironie läuft an diesem Menschen ab wie Wasser an einer Ente. „Ich habe die fünf Zeuginnen noch einmal vorgeladen“, fährt Heym fort. „Ich bin ganz sicher, daß es mir gelingt, die Schuldige zu überführen. Falls Sie keine Einwände gegen meinen Plan erheben. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.“ Sommerfeld schweigt und betrachtet sein Gegenüber. Ein rundes, jugendliches Gesicht. Blondes, schon etwas schütteres, zu lustigen Locken geringeltes Haar. Randlose Goldbrille. Ein freundliches, ja verschmitztes Lächeln, das auf die Neigung hindeutet, den Genüssen des Lebens nichts schuldig zu bleiben. Wildlederjacke, brauner Pullover, graue Hose mit korrekten Bügelfalten. Kein Mensch würde in diesem netten jungen Mann die fast kriminelle Phantasie vermuten, mit der er sich in die Gedankengänge und Empfindungen seiner Gegner einschleicht. Dazu eine Ausdauer, die an Sturheit grenzt. Aber das ist schon nicht mehr Sache der Persönlichkeit, das gehört zum Beruf. Wer keine Ausdauer hat, darf seine Zivilklamotten reinen Gewissens an den Nagel hängen und zum Streifendienst zurückkehren. „Na gut“, seufzt Sommerfeld. „Sie haben mich tatsächlich neugierig gemacht. Und das wollten Sie ja auch, nicht wahr? Also entwickeln Sie mal Ihren Plan.“ Heym erhebt sich, öffnet die Tür und gibt einen Wink ins Vorzimmer. Ein Volkspolizist schleppt eine Kiepe voll Birkenholz herein. Heym stellt den Kaminschirm zur Seite. Er zieht aus 7
seiner Aktentasche Zeitungspapier, Kohlenanzünder, Streichhölzer, knüllt das Papier zusammen, stopft es in den Kamin. „Was soll das? Was treiben Sie da?“ fragt Sommerfeld beunruhigt. „Wollen Sie eine Brandstiftung demonstrieren?“ „Ich brauche Feuer. Falls die Täterin hartnäckig leugnet, kann ich sie vielleicht mit einem kleinen Trick zum Geständnis bringen.“ „Sind denn Ihre Beweise so mager, daß Sie diese zweifelhafte Methode nötig haben?“ „Was ich habe, sind Indizien. Ohne Geständnis reichen sie vor Gericht nicht aus. Das wissen Sie doch besser als ich.“ „Finden Sie nicht selbst, Genosse Heym, daß so ein Kaminfeuer etwas merkwürdig aussieht? Wir sind hier in einem Dienstzimmer und nicht im Ferienheim.“ „Warum darf sich ein Staatsanwalt nicht ein Kaminfeuer leisten, wenn die Zentralheizung kaputt ist? Es gibt doch gewiß keinen Zweifel, daß Sie in der Lage sind, diesen Sachverhalt überzeugend glaubhaft zu machen. Nur für den Fall, daß jemand dumme Fragen stellt.“ „Ich beneide Sie um Ihren Optimismus. Aber reden wir überhaupt noch von der gleichen Sache? Ist es der Fall Hellberger, den Sie heute lösen wollen?“ „Er ist es.“ „Schön. Sie sagen, Sie hätten jetzt die richtige Lösung. Soll das heißen, daß Sie Frau Ballhorn nicht mehr für die Täterin halten?“ „Ja.“ „Aber es gibt noch den Tatbestand, daß Wolfgang Hellberger in der Wohnung der Frau Ballhorn an einer Medikamentenvergiftung starb?“ „Ja.“ „Gilt noch, daß er der Geliebte der Frau Ballhorn war?“ „Ja.“ 8
„Und daß sie triftige Gründe zur Eifersucht hatte?“ „Ja.“ „Und daß sie im Besitz des tödlichen Medikaments war?“ „Ja.“ „Und schließlich, daß sie erst zwölf Stunden nach Hellbergers Tod den Arzt rief?“ Heym nickt und scheint ganz davon in Anspruch genommen, die Birkenscheite im Kamin aufzuschichten. „Waren diese Fakten“, fragt Sommerfeld hartnäckig weiter, „waren diese Fakten und die Lügen der Frau Ballhorn die Begründung der Kriminalpolizei für den Haftbefehl, den ich Ihnen unterschrieben habe und mit dem Sie die Frau in Untersuchungshaft brachten?“ „Ja.“ „Sind Sie im Besitz von Beweismitteln oder Zeugenaussagen, die an diesen Fakten etwas ändern?“ „An diesen Fakten ist nichts zu ändern.“ „Und trotzdem bilden Sie sich ein“, sagt Sommerfeld entrüstet, „Sie könnten heute eine andere Frau der Tat überführen?“ „Allerdings.“ „Dann erklären Sie mir das, zum Teufel!“ „Es wird sofort geschehen.“ Heym entzündet ein Streichholz und hält es an das Zeitungspapier. Er betrachtet einige Augenblicke die Flammen, die knisternd durch den Holzstoß züngeln, reibt sich zufrieden die Hände und wendet sich dem Staatsanwalt zu.
2 Bezirksgericht. Ein kalter, einschüchternder Bau. Beklommen hocke ich auf meinem Platz. Fünf Generatio9
nen haben schon auf dieser Bank gesessen, haben das harte Holz blankgewetzt in nervöser Erwartung, in Seelennöten und qualvollen Ängsten. Mord, Diebstahl, Aufruhr, Hochverrat, Erpressung, Raub, Unterschlagung und Notzucht. Eine endlose Reihe von Verbrechen und Verbrechern. Der Staat hatte sich gegen sie gewehrt mit einer endlosen Reihe von Urteilen. Gefängnis, Zuchthaus, fünf Jahre, zwanzig Jahre, lebenslänglich, Tod durch den Strang, Tod durch Erschießen, Tod durch das Fallbeil. Hundertjähriges Unheil klebt an diesen Mauern, schwängert die Luft in den Gerichtssälen, den Korridoren und Wartezimmern, lastet auf meiner Seele. Ja, ich habe ihn umgebracht. Vorsätzlich. Und ich liebe ihn noch immer. Nie wieder in meinem Leben wird mir ein Mann so viel bedeuten wie er. Draußen, außerhalb des Glaskastens, in dem ich mit ihm allein bin, flattern die Leute vorbei, reden auf mich ein, fragen, erklären. Ich weiß nicht, was ich ihnen antworten soll. Für mich sind sie wesenlos, anonym, eine Schar unheimlicher Vögel, die mit den Flügeln schlagen und etwas krächzen, das ich nicht verstehe. Warum muß ich Tag und Nacht an ihn denken? Warum kann ich meinen Gedanken nicht befehlen wie meinen Händen? Hundertmal, tausendmal habe ich mich gefragt, warum das alles so und nicht anders geschehen mußte. Draußen hinter den hohen Fenstern fällt lautlos der Regen. An den Ästen der Kastanie hängen Wassertropfen. Die Backsteingiebel auf der anderen Straßenseite sind nur undeutlich zu erkennen. Schon immer habe ich dieses Motiv geliebt, habe es fotografieren wollen, einen regenschwarzen Baum im Novembernebel. Aber ich glaube nicht mehr, daß ich jemals dazu kommen werde. Jetzt ist er schon seit mehr als einem Monat tot. Er 10
könnte auch gestern oder vor zwei Jahren gestorben sein. Zeit ist bedeutungslos, wenn man in der Vergangenheit lebt.
3 Es begann im Frühjahr, an einem trüben Morgen im März. Ich war unterwegs zur Straßenbahnhaltestelle, in jeder Hand einen Koffer mit meiner Fotoausrüstung. Dunkle Wolken jagten über die Dächer der Innenstadt. Ein kalter Wind wehte, und es regnete. Auf den Granitplatten der Gehwege standen Pfützen. Hinter vielen Fenstern brannte noch Licht. Das schlechte Wetter konnte mir nichts anhaben. Ich hatte gut geschlafen und gut gefrühstückt. Zu Hause wurde ich verwöhnt. Wärme, ein liebevoll gedeckter Frühstückstisch, Musik. Im Zimmer der Duft von Kaffee und frischem Toast. Ein Wagen überholte mich und stoppte am Bordstein. Die Bremslichter glühten, das Seitenfenster glitt herunter. „Wünschen Sie ein Taxi, Fräulein?“ Mit soviel Glück hatte ich nicht gerechnet. Ich öffnete rasch die Tür, schob die Koffer hinein und ließ mich auf den Rücksitz fallen. „Technische Messe.“ Hinter den tropfenbesetzten Scheiben glitt der Hauptbahnhof vorbei, das Opernhaus. Der dreieckige Riesenturm der Universität ragte grau in den Himmel. In der Grimmaischen Straße stauten sich überfüllte Straßenbahnen. Wir schlichen in einer Autokolonne von Haltestelle zu Haltestelle. Die Scheiben beschlugen, der Heizventilator summte. Ich riß die Druckknöpfe meines Mantels auf. Die Augen des Fahrers begegneten mir im Rückspiegel, mus11
terten mich mit ruhiger Neugier. Ich lehnte mich zurück, um aus ihrem Blickfeld zu kommen. Hinter der Deutschen Bücherei schwenkte der Wagen auf den Messeparkplatz ein. Der Fahrer stieg aus und nahm die Koffer in Empfang. Er grinste wie ein Junge, dem es gelungen war, die Oma hinters Licht zu führen. Doch es steckte noch etwas anderes in diesem Grinsen, eine spöttische Überlegenheit, die mir den Eindruck gab, er könnte meine Gedanken bis auf den Grund durchschauen. Er trug einen weißen Regenmantel und sah aus wie der Filmtyp, von dem Schulmädchen träumen. Groß, breite Schultern, männliches Gesicht, sportlich gebräunte Haut. Ich mochte schöne Männer nicht. Die meisten sind dumm und aufgeblasen. Natürlich ein Vorurteil. Jedenfalls hatte ich bisher immer eine Vorliebe für Männer, wie es die Freunde meiner Mutter waren, für wohlsituierte Herren zwischen vierzig und fünfzig, die den Frauen mit Höflichkeit und Respekt entgegenkommen. Um Zeit zu gewinnen, tat ich so, als ob ich in meiner Handtasche nach der Geldbörse suchte. Auf einen vernünftigen Gedanken brachte mich das nicht. Wie hatte ich nur auf diesen dummen Taxitrick hereinfallen können? Mit plötzlich aufwallendem Ärger, entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, ließ ich die Handtasche zuschnappen und stieg aus. Wir standen uns gegenüber. Ich. sah ihm in die Augen. Ich sah nur diese Augen, die dunkel waren und glänzend und die mich festhielten. Ich wollte etwas sagen, aber es fiel mir nichts ein. Alle meine Gedanken hatten sich auf seltsame Weise verflüchtigt. „Wohin wollen Sie mit Ihren Köfferchen?“ „Halle Schwermaschinenbau.“ Er nickte und schloß den Wagen ab. „Ich heiße Wolfgang“, sagte er über die Schulter. „Wolfgang Hellberger.“ 12
4 „Gegrüßt, mein schönes Kind!“ Ich schrecke aus meiner Erinnerung auf. Ein Mann steht vor mir, breit und groß, in einem karierten Anzug. Er nimmt den Hut ab und verbeugt sich. Seine Kugelglatze blitzt mir in die Augen. „Erinnern Sie sich nicht?“ fragt er und sieht mich eindringlich an. „Doch, doch.“ Irgendwo hatte ich ihn schon mal gesehen. Irgendwann hatte ich seine Stimme gehört. „Wirklich tragisch, diese Geschichte“, röhrt er. „Daß sie ihn aber auch gleich vergiften mußte! Eifersucht ist ja schön und gut, und der Junge hat’s natürlich auch ein bißchen arg getrieben, zugegeben. Aber ich frage Sie, was hat das Weib davon. Hat sich letzten Endes selber mehr Ärger gemacht als ihm. Er hat alles hinter sich, und sie sitzt in der Tinte. Begreifen Sie das?“ Er redet weiter auf mich ein mit seiner dröhnenden Stimme, im Tonfall ehrlicher Entrüstung. Ich höre ihm nicht mehr zu, spüre nur, es ist tröstlich gemeint. Wenn er doch bloß nicht so schreien wollte. Er ergreift mit seinen Pranken meine Hand und schüttelt sie. „Also nicht den Mut verlieren, Kindchen. Hab’ hier irgendwo Termin. Aber denken Sie, man findet was in dem verdammten Kasten. Das Leben geht weiter, vergessen Sie das nicht. Und wenn der ganze Mist vorbei ist und Sie wollen sich mal anständig amüsieren, dann denken Sie an mich, an den alten Münchmeyer, der steht immer zu Diensten.“ Er lacht dröhnend, läßt meine Hand los und eilt mit hallenden Schritten davon. Neben mir auf der Bank die vier Frauen. Sie sehen mich vorwurfsvoll an. Als ob ich etwas für die Geschmacklosigkeiten könnte, die der alte Elch in die Welt 13
trompetet. Jetzt blicken sie zu Boden, peinlich berührt. Sie tun mir leid mit ihren vom Weinen gedunsenen Gesichtern, ihren geschwollenen Augenlidern, ihren albernen schwarzen Kostümen und ihrer verlogenen Feierlichkeit. Spielen eine Rolle und merken nicht, wie lächerlich sie sich machen. Ein Dahingeschiedener und vier Witwen. Und nicht mal richtige. Witwen in spe, wenn man das so sagen kann. Jede bildet sich noch heute ein, er hätte ausgerechnet sie geheiratet. Wenn das nicht alles so dumm wäre, könnte ich nur lachen. Über die vier Weiber und die fünfte in der Zelle. Über den Herrn Staatsanwalt und seine tüchtigen Kriminalisten, die sich so emsig und so vergeblich bemühen, einen Fall aufzuklären, dessen Zusammenhänge sie gar nicht begreifen. Und natürlich auch über mich selbst. Ich schließe die Augen. Münchmeyer, Münchmeyer? Richtig, das war auch an jenem ersten Abend.
5 Wir waren verabredet. Als ich vor seinem Hotel aus dem Taxi stieg, stand er schon vor dem Eingang und wartete auf mich. Er küßte mir die Hand und führte mich eine Treppe hinunter in eine riesige Bar. Sie lag im Kellergeschoß und sah aus wie alle Bars in den neuen Hotels. Kastriertes Kunsthandwerk. Sie hatten für Wolfgang und mich einen Tisch reserviert. Ich wußte, was es bedeutet, zur Messe überhaupt in eine Bar hineinzukommen. Er mußte ein hohes Tier sein oder unwahrscheinlich gute Beziehungen haben. Ich hatte Durst. Ich weiß nicht, ob es an der trockenen Luft lag oder an meiner Aufregung. Wolfgang winkte, und der Ober brachte Sekt. Wir tranken schnell hintereinander mehrere Gläser. Dann gingen wir auf die 14
Tanzfläche. Er war ein guter Tänzer. Nicht ein einziges Mal gab es zwischen uns auch nur die Spur von einem Mißverständnis. Wir schwebten dahin, mühelos und harmonisch. Die zärtliche Musik, das bunte Licht, das Gewebe aus Stimmen und Gläserklirren. Die Stirn an seine Schulter gelehnt, überließ ich mich meinen Träumen, kostete das Gefühl aus, in seinen Armen zu sein. Als wir zurückkamen, saß Münchmeyer mit drei asiatisch aussehenden Herren an unserem Tisch. Sie zwitscherten mit ihren Vogelstimmen über irgendein Exportbusiness, höflich, zurückhaltend, unermüdlich lächelnd. Wolfgang stellte mich vor und wurde sofort ins Gespräch gezogen. Ich war enttäuscht. Was hatten diese Leute hier zu suchen, ausgerechnet jetzt? Ich hatte mir eingebildet, wir würden den Abend für uns allein haben. Warum hatte er mir nicht gesagt, daß er in Wirklichkeit mit seinem Chef und drei fernöstlichen Handelsreisenden verabredet war? Ich spielte mit meinem Glas und dachte darüber nach, wie es weitergegangen wäre, wenn uns diese Kerle nicht gestört hätten. Direktor Münchmeyer versuchte mit mir anzubändeln, so ganz nebenbei, während er mit den Japanern über gemusterte Gardinenstoffe verhandelte. Ich sah ihn feindselig an. Auf diese Art hätte er bei mir nicht einmal unter normalen Umständen eine Chance gehabt. Er machte einen Anlauf nach dem anderen und nahm es nicht übel, daß ich abweisend blieb. Als er mein Glas nachfüllte, tätschelte er freundlich meine Hand. Wolfgang stand auf und schob sich zwischen uns, anscheinend nur, um einem der Japaner Feuer zu geben. Doch ich spürte den Druck seines Ellbogens und rückte zur Seite auf seinen Platz. Münchmeyer grinste in die Runde. Er schien über15
haupt nichts übelzunehmen, auch nicht, daß ich nun aus seiner Reichweite entkommen war. Ich begann mich nun ernsthaft zu langweilen und hatte keine Lust, meine Ungeduld länger zu verbergen. Noch gehörte ich nicht zu den Frauen, die wie die Schaufensterpuppen herumsitzen, wenn ihre Männer von Geschäften sprechen. Ich stieß Wolfgang mit dem Knie an. Er blickte auf und lächelte. Ich fühlte seine Blicke auf meiner Haut und schlug die Augen nieder. Münchmeyer, der schon auf einer Woge Whisky schwamm, machte eine zweideutige Bemerkung. Auf diese Gelegenheit schien Wolfgang nur gewartet zu haben. Er stand abrupt auf, griff nach meiner Hand und führte mich zur Bar. Hinter dem Tresen arbeitete eine gefärbte Blonde, die sich für die Königin von Jordanien hielt. Als wir auf die Hocker kletterten, hob sie für zwei Sekunden ihre falschen Wimpern und taxierte uns. Und als sie uns die Cocktails servierte, ertappte ich sie, wie sie Wolfgang anstarrte – mit halboffenem Mund und einem selbstvergessenen Ausdruck auf ihrem Puppengesicht. Zum erstenmal hatte ich Angst um einen Mann. Das war ein ganz neues Gefühl, ich war erschrocken und erstaunt zugleich. Bisher war ich immer die Überlegene gewesen, die Männer hatten mich bewundert, waren mir nachgelaufen und schon dankbar, wenn sie nur in meiner Nähe sein und etwas für mich tun durften. Natürlich war mir das sehr angenehm, ich hatte mich daran gewöhnt, obwohl ich nie recht begriff, woher diese Wirkung kam, die ich auf Männer ausübte. Erkennt man vielleicht erst an der Eifersucht, daß man jemanden liebt? Ein verrückter Gedanke. Mir jedenfalls war Eifersucht als ein Ausdruck der Schwäche, ja sogar der Haltlosigkeit erschienen, zumindest aber hatte sie immer einen Beigeschmack der Lächerlichkeit. Ich versuchte, mich dagegen zu wehren. Ich sagte mir, daß ich ihn erst seit ein paar Stunden kannte, daß 16
er mir überhaupt nichts bedeutete, daß wir uns ja noch nicht einmal geküßt hatten, daß es genug andere gab, die ihn ersetzen konnten – vergeblich, mit Vernunft war dagegen nicht anzukommen. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, daß die blonde Schlange hinter der Bar ihn ansah. Daß er mit ihr sprach und dabei lächelte. Vermutlich war sie schon dabei, sich auszumalen, wie sie mit ihm ins Bett ging. Der Spaß war mir verleidet, ich wollte weg, ’raus aus diesem überfüllten Keller, mit ihm allein sein. Er war einverstanden. Wir tranken aus und zahlten. Die Straßen waren still und leer. Ein böiger Wind wehte, und es regnete noch immer. Er legte schützend den Arm um meine Schultern. Die Laternen schwankten, und wenn ich die Augen zukniff, verwandelten sie sich in Sterne mit langen goldenen Strahlen. Wir sprachen nicht. Als wir vor meiner Haustür standen, ließ er mich los. Ich schloß die Tür auf. Ich reichte ihm die Hand und wollte auf Wiedersehen sagen, da nahm er mich in die Arme und küßte mich.
6 Als ich aufwachte, quälte mich Durst. Auf einem Henkeltischchen neben dem Bett standen ein Glas Milch und eine Schachtel Schmerztabletten. Die gute Mama. Ich trank die Milch aus und ließ mich in das Kopfkissen zurücksinken. Der Wind bewegte die Gardinen, ihr Schatten flirrte über das Blumenmuster des Bettbezugs. Ich sah auf die Uhr. In einer Stunde mußte ich im Büro sein. Seufzend rollte ich mich aus dem Bett, nahm meinen Transistor und ging ins Bad. Wie üblich saß Mama schon angezogen und frisiert 17
am Frühstückstisch und las die letzte Seite der Zeitung. Es roch nach Kaffee und Rührei mit Schinken. Ich küßte Mama auf die Wange und setzte mich. Sie legte die Zeitung zur Seite, nahm die Weißbrotscheiben aus dem Toaster, schob sie zwischen die Servietten in den Korb und reichte ihn mir. Sie fragte nichts, aber ich wußte, daß sie einen Bericht erwartete. Das war selbstverständlich, ich konnte es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Es gehörte zu meinem Leben wie die Wohnung mit ihren vier Zimmern, den dunklen Eichenmöbeln und Orientteppichen, den Stuckornamenten an den Decken, den holzgetäfelten Wänden und den geschnitzten Doppeltüren. Ende der zwanziger Jahre, gleich nach ihrer Hochzeit, waren meine Eltern in diese Wohnung gezogen. Vater war Buchhändler und wurde später Teilhaber eines kartographischen Verlages. Er hat mich sehr verwöhnt, doch seine Gegenwart machte mich immer ein bißchen traurig. Er war ein stiller Mann, ich hatte ihn nie lachen sehen. Früher wäre er anders gewesen, behauptete Mama. Er habe den Tod meines Bruders nicht verwinden können, der im Frühjahr 1945 gefallen war, kaum sechzehnjährig. Einige Jahre später war er selbst gestorben, eigentlich ohne ersichtlichen Grund. Ich vermutete, an gebrochenem Herzen, aber Mama wurde ärgerlich über diese Vermutung, und so sprachen wir nicht mehr davon. Er hinterließ ihr ein kleines Vermögen in Edelsteinen; davon lebte sie noch heute. Seit Vaters Tod fühlte sich Mama plötzlich für alles verantwortlich, was mich betraf – für meine Freunde, meine Arbeit, meine Zukunft. Und später natürlich für die Männer, die in meiner Nähe auftauchten. Da war jede Einzelheit wichtig, das Benehmen, die Anzüge, das Aussehen; von ihrer Herkunft, ihrem Beruf und ihren Überzeugungen ganz zu schweigen. Nach Mamas Meinung gab es drei Dinge für eine Frau, die wirklich wichtig waren. 18
Sie darf sich erst in einen Mann verlieben, wenn sie sicher ist, daß auch er sie liebt. Der einzige Maßstab, der für die Liebe eines Mannes gilt, ist die Bereitschaft, für seine Frau Opfer zu bringen. Und schließlich drittens, ein Mann muß so viel verdienen, daß er die Ansprüche, die eine Frau an das Leben stellt, erfüllen kann. Nach diesen Grundsätzen hatte sie meinen Vater gefunden, der ein Leben lang diese Ansprüche erfüllte und noch über seinen Tod hinaus alle ernsthaften Schwierigkeiten von ihr fernhielt. Allerdings hatte ich zuweilen den Eindruck, daß er dabei nicht ganz so glücklich gewesen war wie sie. Mama war jetzt Mitte der Sechzig, sah aber aus wie Ende Vierzig, hatte nie schlechte Laune und war von einem Schwarm heiratswilligen Verehrern umgeben. Natürlich dachte sie nicht daran, noch einmal zu heiraten. Wozu auch? Was sie brauchte, hatte sie. Nachdem ich ihr ausführlich den vergangenen Abend geschildert hatte, nickte sie nachdenklich und sagte: „Du hast dich also in diesen Wolfgang verliebt.“ „Ja, Mama.“ „Was ist das eigentlich für ein Mensch?“ „Ein wundervoller Mensch.“ Ich lächelte glücklich. „Soso, wundervoll. – Und er liebt dich auch?“ „Ich glaube schon.“ Mama legte ihr Brot auf den Frühstücksteller und sah mich unzufrieden an. „Mit Glauben ist da nichts getan, mein Kind. Wenn du einen Mann mehr liebst als er dich, fällst du unter Garantie auf die Nase.“ „Heute ist das alles ganz anders als früher.“ „Unsinn. Das sind ewige Gesetze. Und was soll übrigens aus Peter werden? Schließlich bist du mit ihm so gut wie verlobt.“ Ich zuckte die Schultern. „Ich will dir nicht hineinreden“, sagte Mama, „aber die Sache gefällt mir nicht. Meine Ahnungen trügen mich selten.“ 19
7 Das Werbebüro, bei dem ich beschäftigt bin, befindet sich im fünften Stockwerk eines alten Mietshauses in der Innenstadt. Ich war ziemlich außer Atem, als ich auf die Klingel drückte, zweimal kurz, einmal lang. Das Türschloß summte. Im Korridor empfing mich ein intensiver Bohnerwachsgeruch. Also Mittwoch. An den weißen Latexwänden hingen die altbekannten Fotos. Ein paar davon waren von mir. Als ich unseren Arbeitsraum betrat, schnarrte auf meinem Schreibtisch das Telefon. Ich hob den Hörer ab. „Guten Morgen, meine Liebe!“ Es war die piepsige Stimme der Bayerlein. „Der Chef möchte dich sprechen. Ob du wohl einen Moment Zeit hättest?“ Die Bayerlein konnte jeden von uns am Klingeln erkennen, obwohl wir alle das gleiche Zeichen benutzten. Einem Brief sah sie von außen an, ob er gute oder schlechte Nachrichten enthielt. Sie wußte, wann der Chef fünf Treppen tiefer das Haus betrat. Jahrelang hatte er versucht, ihr auf die Schliche zu kommen. Dann hatte er resigniert und sich mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten abgefunden. Sie konnte es übrigens selbst nicht erklären. Sie fühle es in der Magengrube, sagte sie. Ich zog den Mantel aus und ging ins Sekretariat. Die Bayerlein war eine unscheinbare Person mit den putzigen Bewegungen einer Maus. Die Zeit schien ihr nichts anzuhaben. Solange ich sie kannte, sah sie unverändert aus. Sie deutete mit dem Kopf auf die Tür und wandte sich wieder ihren Papieren zu. Ich zögerte. „Was will er denn?“ Sie krauste das Näschen und lächelte mit ihren Knopfaugen. Das hieß etwas Unerfreuliches. Hinter der Polstertür saß er an seinem Mahagonischreibtisch: Johann Sebastian Riegel, mein Chef. ‚Fotos 20
mit Regie für Verlag und Industrie‘. Seine Freunde durften ihn Jonny nennen. Er musterte mich finster. Dann griff er zu einem roten, innen schwarz gefütterten Umschlag im A4-Format, eine Spezialität unserer Firma, zog ein Päckchen Glanzfotos heraus und fächerte sie mit einer Daumenbewegung auf. „Ausschuß“, sagte er und ließ sie auf die Tischplatte fallen. Ich brauchte mir die Bilder gar nicht anzusehen, es waren meine Schiffsdiesel vom Vortag. Mir war selbst klar, daß sie nicht viel taugten. Ich hasse technische Fotografie. Sie liegt mir einfach nicht, und obendrein war ich mit meinen Gedanken nicht bei der Sache gewesen. Aber er hätte es ein bißchen freundlicher sagen können. Ich hob bedauernd die Schultern und ließ mich in den Sessel vor seinem Schreibtisch fallen. Hoffentlich machte er es kurz. Ich hatte keine Lust, mir zum hundertstenmal anzuhören, welche Richtlinien bei der Fotografie technischer Objekte unbedingt zu beachten seien. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. Ich betrachtete meine Schuhe. Endlich klappte er sein goldenes Zigarettenetui auf. „Zigarette?“ Ich schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er Widerspruch erwartet und sich ein paar hübsche Sätze zurechtgelegt. Mit meinem Schweigen hatte ich ihm seinen Auftritt verpatzt. Ich begann mich wohler zu fühlen. Das Feuerzeug klickte. Er erhob sich, kam um den Schreibtisch und legte mir den Arm um die Schulter. „Nun sei nicht deprimiert. Auch Fehler sind produktiv. Sie machen einen mittelmäßigen Zustand so schlecht, daß er unerträglich wird.“ Er liebte derartige Sprüche. Neben der Kognakflasche in seinem Schreibtisch lag ein dicker Stapel Aphorismenbände. 21
Ich gab keine Antwort. „Also hör mal zu“, sagte er seufzend, „ich weiß, du hast gesagt, es liegt dir nicht, und die Bayerlein hat es auch gesagt. Meiner Ansicht nach ist das Quatsch. Ein guter Fotograf muß alles können. Aber schön, ich wollte nicht auf euch hören. So gesehen, habe ich mehr Schuld als du.“ „Was soll nun werden?“ fragte ich. „Die Bilder müssen heute in die Druckerei.“ „Strutzke ist schon unterwegs. Der erledigt das in drei Stunden.“ Ich atmete auf. „Dann kann ich meine Campingserie zu Ende machen?“ Er lächelte. „Wir brauchen dringend ein paar hübsche Landschaften, als Hintergrund für den Katalog. Das macht niemand besser als du.“ Er ließ meine Schulter los und setzte sich wieder in seinen Sessel. „Wie wär’s an diesem Wochenende? Wir nehmen den Wagen, Freitag nachmittag geht’s los, Sonntag abend sind wir zurück. Einverstanden?“ Ich konnte ihn gut leiden, und noch gestern hätte ich ohne zu zögern ja gesagt. Er war Anfang Vierzig, lachte gern, hatte Ideen und konnte mit Leuten umgehen. Seine paar Kilo Übergewicht, die vom guten Essen und zuviel Kognak stammten, störten mich nicht. Vor zwei Jahren war ihm seine Frau mit einem Klavierspieler durchgebrannt. Allerdings hatte niemand von uns den Eindruck, daß er sich besonders bemüht hätte, sie zurückzuhalten. Wenn ich nur wollte, hätte ich ihn heiraten können. Aber er war für mich als Mann noch nie in Betracht gekommen. Ich wußte nicht, warum. Vielleicht war er mir eine Spur zu selbstsicher. „Nun, was ist? Hast du’s dir überlegt?“ „Du bist der Chef“, sagte ich und stand auf. „Viel Hoffnung kann ich dir aber nicht machen. Sollte ich die Absicht haben, krank zu werden, sage ich bis morgen Bescheid.“ 22
„Das wirst du mir nicht antun.“ Er lachte. „Weißt du, was mir an dir gefällt? Deine schöne Offenheit.“ Ich kehrte zurück an meinen Schreibtisch und rechnete meine Überstunden aus. Falls dieses Wochenende noch dazukam, hatte ich fast vierzehn Tage, die ich abbummeln konnte. Vielleicht fand Wolfgang auch einmal Zeit, dann konnten wir zusammen in Urlaub fahren. Der Vormittag schlich dahin, ich dachte an Ferien. Ostsee, Spaziergänge durch Prag oder Warschau, eine Reise in die Hohe Tatra. In der Mittagspause ging ich mit Martin und Helga in einen Schnellimbiß. Ich wollte rasch zurück sein. Er hatte noch immer nicht angerufen. Danach half ich Helga im Labor. Sie war natürlich erstaunt darüber und löcherte mich mit dummen Fragen, aber ich gab ihr keine Antwort. Schon deshalb wäre ich viel lieber mit Martin in das Dachatelier gegangen, wo die Campingserie in Arbeit war. Aber da oben gab es kein Telefon. Gegen drei wurde ich unruhig, sah alle paar Minuten auf die Uhr. Er hatte versprochen, er würde sich melden, sobald er wüßte, wann er Zeit hat. Eigentlich hätte er auch zwischendurch mal anrufen können, einfach nur so, um zu hören, wie es mir geht. Aber Männer sind komisch. Sie brauchen immer einen sogenannten vernünftigen Grund, bevor sie das Telefon in Anspruch nehmen. Ich mußte wirklich besser aufpassen. Jetzt hatte ich schon zum zweiten Mal die Entwicklerflüssigkeit verschüttet. Helga schüttelte den Kopf. Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht, und im Rotlicht sah sie aus wie eine Hexe aus der Walpurgisnacht. „Ist was?“ fragte sie. „Nein.“ Kurz nach halb vier läutete endlich das Telefon. Ich stürzte an den Apparat. Er hatte Zeit, aber er wußte nicht, wie lange. Am Abend 23
mußte er mit Münchmeyer zu einem Empfang. Ob wir uns nicht gleich treffen könnten? Ich sagte ja, ohne nachzudenken. „Du kannst doch hier allein weitermachen, nicht wahr, Helgachen? Ich gehe ’rüber zur Werbeabteilung ins Centrum. Wegen der Campingrequisiten.“ „Wann kommst du wieder?“ „Weiß nicht. Kann spät werden.“ Sie fing an zu feixen. „Mir schwante doch, daß was in der Luft liegt. Wie sieht er denn aus?“ „Tschüs dann“, sagte ich. Sie war ein netter Kerl, aber von unerträglicher Neugier. „Scheint dich ja ganz schön erwischt zu haben“, schrie sie mir nach. Noch auf dem Korridor hörte ich ihr wieherndes Lachen.
8 Helles Mondlicht fiel durch das Fenster. Im Kamin glimmte rote Glut unter der Asche. Wolfgang atmete ruhig. Ich sah, wie seine Brust sich hob und senkte, und spürte seinen warmen Atem. Ich stand auf und öffnete ein Fenster. Es rauschte geheimnisvoll in den Bäumen. Die Luft war feucht, sie roch nach Erde und Frühling. Gleich als wir uns am Nachmittag trafen, hatte er mir gesagt, daß der Empfang mit Münchmeyer nur ein Vorwand gewesen sei, um mich so schnell wie möglich zu sehen. Das hörte ich gern – und trotzdem, irgendwie war mir nicht ganz geheuer zumute. Lag es vielleicht daran, daß ich ihm sofort bedingungslos geglaubt hatte, daß ich nicht den geringsten Zweifel gehabt hatte an der Wahrheit seiner Worte? Oder war es das Mißtrauen meiner Mutter, das sich auf mich übertragen hatte? 24
Wir gingen in den Zoo. Als wir an den Käfigen mit den grünen Meerkatzen vorbeikamen, blieb ich unwillkürlich stehen. Eins der Tiere saß reglos auf seinem Ast, den Greifschwanz um den Stamm gewickelt, und blickte auf mich herab. Ein undurchschaubares Biest, hatte ich denken müssen, es hat hintergründige Augen. Und wieder hatte mich dieses dunkle Gefühl des Unbehagens beschlichen. „Nymphe im Mondlicht“, hörte ich seine Stimme hinter mir. „Ich dachte, du schläfst.“ „Bitte beweg dich nicht.“ Ich stand ein Weilchen still. Die Kühle rieselte über meine Haut. „Möchtest du rauchen?“ „Nein.“ Ich wandte mich um. Er hatte sich aufgerichtet und zog eine Zigarette aus der Packung. Das Licht der Streichholzflamme tanzte auf dem Glasbauch einer Flasche und erlosch. „Wie kommst du eigentlich zu diesem feudalen Gartenhaus?“ „Geerbt.“ „Von den Eltern?“ „Von meiner Tante.“ „Wollen wir an sie in Dankbarkeit denken.“ Ich schwieg. Ich hatte Tante Lilly wirklich gern gehabt. „Sie muß ganz schön betucht gewesen sein“, sagte er. „Ja, Geld hatten sie.“ „Woher kam denn Tantchens Wohlstand?“ „Puddingpulver.“ „Was für Puddingpulver?“ „Ihr Mann besaß eine Puddingpulverfabrik.“ „Mensch“, seufzte er, „kaum zu glauben, was es alles für Möglichkeiten gibt, sein Glück zu machen.“ 25
„Von Geld hängt doch das Glück nicht ab. Jedenfalls nicht für mich.“ Er stieß verächtlich die Luft durch die Nase. „So reden nur Banausen. Oder Snobs, die genug davon haben.“ „Bist du unzufrieden mit dem, was du verdienst?“ „Ich kann nicht klagen. Komm her, dir wird doch kalt dort am Fenster.“ „Nein.“ „Dann nimm meine Jacke.“ Er stand auf und legte sie mir um die Schultern. Plötzlich riß er mich in die Arme. „Laß mich los!“ Ich fuhr ihm mit beiden Händen in die Haare. Ich fühlte seine Küsse auf meinem Gesicht, meinen Schultern, meinen Brüsten. – Mein Kopf lag auf seinem Arm. Draußen war tiefe Stille. Nicht einmal die Bäume vor dem Fenster bewegten sich. Es war die letzte Stunde der Nacht, kurz bevor die Vogelrufe kamen. „Ich liebe dich“, sagte er leise. „Du riechst wie frisches Heu. Am liebsten würde ich jetzt ein Esel sein. Aber es geht nicht – ich muß zurück nach Berlin.“ „Wann?“ „In zwei Stunden.“ Ich fuhr auf und starrte auf seinen schwarzen Schatten. Nicht eine Sekunde hatte ich daran gedacht, daß wir uns so plötzlich trennen müßten. Wir waren ja noch nicht einmal seit zwei Tagen zusammen. Wie betäubt stand ich auf und begann meine Sachen zu suchen. „Warte doch, wir haben noch Zeit“, sagte er. „Seit wann weißt du es?“ „Was? Daß ich zurück muß? – Das steht schon seit Wochen fest. Aber es hätte doch gar keinen Sinn gehabt, wenn ich es früher gesagt hätte. Ich dachte mir …“ Er schwieg und zuckte die Schultern. „Du dachtest dir, daß ich dann nicht mit dir schlafen würde?“ 26
„Schon möglich.“ Ich wollte ihm eine wütende Antwort geben, sagte aber nur blöde: „So ist das also. – Sehen wir uns wieder?“ „Ganz bestimmt. Ich weiß nur noch nicht, wann.“ „Wieso nicht?“ „Ich muß ins Ausland.“ Er hatte ja nicht unrecht. Wenn er es mir am Abend gesagt hätte, wäre nichts aus dieser Nacht geworden, es hätte mir die Stimmung verdorben. Im Grunde war ich über mich selber wütend. Weil ich ihn liebte. Und weil der Gedanke weh tat, daß alles so schnell, wie es begonnen hatte, wieder zu Ende sein könnte. „Ich muß nach Wien“, erklärte er. „Exportverhandlungen. Man kann vorher nie genau sagen, wie lange so etwas dauert. Ich werde dir gleich schreiben.“ „Nicht nötig.“ „Warum nicht?“ Mit Befriedigung hörte ich, daß er verblüfft war. „Wir werden uns nicht wiedersehen. Das weißt du so gut wie ich.“ Er gab keine Antwort. „Beeil dich, ich möchte gehen.“ Ich nahm die Schlüssel aus der Handtasche und griff nach meinem Mantel. Auf dem Weg zum Gartentor wich er nicht von meiner Seite. Zwanzig Meter weiter parkte sein Wagen unter einer Laterne. Ich ging daran vorbei. Er hielt meinen Arm fest. „Bitte“, sagte er, „bitte hör mir doch erst einmal zu.“ Seine Stimme klang rauh. „Ich brauche keinen Trost.“ „Ich möchte dir erklären …“ „Ich brauche keine Erklärungen.“ „Komm in den Wagen. Ich fahr’ dich nach Hause.“ „Danke. Ich wollte mich amüsieren. Das haben wir hinter uns. Jetzt will ich frische Luft. Und zwar allein.“ 27
„Das ist nicht wahr.“ „Hältst du dich für unwiderstehlich?“ „So – so bist du doch gar nicht“, stammelte er. „Ich liebe dich. Wie soll ich dir das erklären …“ „Am besten gar nicht“, sagte ich. „Du bist viel zu dumm. Nach zwei Minuten fällst du auf jedes Weib rein, das dir schöne Augen macht.“ Ich wollte ihn loswerden. Ich hatte keine Kraft mehr für einen sentimentalen Abschied. Er lächelte erleichtert. Wahrscheinlich dachte er, ich wäre eifersüchtig. „Die anderen haben nichts zu bedeuten“, begann er. „Glaub mir, du bist die erste, die mir wirklich wichtig ist.“ Ich riß meinen Arm los, wandte ihm den Rücken zu und ging davon, fest entschlossen, ihn niemals wiederzusehen.
9 Im Kamin prasseln die Birkenscheite. Das Büro des Staatsanwaltes ist angenehm warm. Heym und Sommerfeld haben es sich in den Ledersesseln bequem gemacht. „Gut“, sagt Sommerfeld und zündet zum siebenundfünfzigstenmal an diesem Vormittag seine Pfeife an. „Wen Sie für die Täterin halten, habe ich verstanden, Genosse Heym. Aber wie sind Sie eigentlich auf diesen Verdacht gekommen?“ „Es war der Telefonanruf.“ „Telefonanruf?“ „Frau Ballhorn hatte ihn in ihrer ersten Vernehmung erwähnt. Ganz am Rande nur, und ich bin leider nicht näher darauf eingegangen. Ich habe seine Bedeutung einfach nicht erkannt, ließ mich von den Fakten, die mir 28
scheinbar so eindeutig vor der Nase lagen, zu einem voreiligen Urteil hinreißen. Ein solcher Fehler hätte mir nach fünfzehn Dienstjahren eigentlich nicht passieren dürfen.“ „Mag schon sein“, knurrt Sommerfeld. „Also wie war das mit dem Anruf?“ „Dazu muß ich etwas weiter ausholen. Denn zu Anfang war es ja wirklich so, daß sämtliche Indizien gegen Frau Ballhorn sprachen. Aber je länger ich versuchte, ihr die Tat eindeutig nachzuweisen, um so widerspruchsvoller wurde alles. Als ich nicht mehr weiter wußte, habe ich mir noch einmal die Protokolle der Aussagen angesehen. Dabei stieß ich auf besagten Anruf. Ich befragte Frau Ballhorn, und plötzlich wurde mir klar, daß in diesem Anruf der Schlüssel zur Lösung des Falles steckte. Folgendes war geschehen: Am zweiten Oktober abends gegen neun Uhr klingelt in der Wohnung Ballhorn in Neuruppin das Telefon. Frau Ballhorn geht an den Apparat. Es meldet sich eine Frau, die, bittet, Wolfgang Hellberger ans Telefon zu holen. Erst auf die Fragen der Frau Ballhorn erklärt sie, sie rufe vom VEB Wirkwaren Berlin an und müsse Hellberger in einer dringenden dienstlichen Angelegenheit sprechen. Hellberger ist zu dieser Zeit bereits seit einer guten Stunde bei der Ballhorn. Gleich nach seinem Eintreffen bekam er bekanntlich einen Herzanfall, nahm die falsche Tablette ein und liegt nun sterbenskrank im Bett. Davon erwähnt aber Frau Ballhorn in dem Telefongespräch keine Silbe. Sie wimmelt die Anruferin in der für sie typischen Art ab, indem sie schlichtweg behauptet, Hellberger sei gar nicht bei ihr. Soweit die Fakten.“ „Welche Schlüsse ziehen Sie nun daraus?“ fragt der Staatsanwalt und saugt dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife. „Daß Hellberger einem Mordanschlag zum Opfer gefallen ist.“ 29
„Wieso denn das?“ „Der Anruf war fingiert. Am zweiten Oktober um einundzwanzig Uhr saß im VEB Wirkwaren Berlin nur der Nachtpförtner. Er hat nicht telefoniert. Die drei Sekretärinnen des Betriebes, die allenfalls noch in Frage kämen, haben ebenfalls nicht telefoniert. Das alles ist durch Nachforschungen im Fernsprechamt und durch Zeugenaussagen zweifelsfrei bewiesen. Des weiteren haben wir festgestellt, daß es an diesem Tag überhaupt keine dienstliche Angelegenheit im VEB Wirkwaren gab, die ein Ferngespräch mit Hellberger erfordert hätte. Hinzu kommt, niemand im Betrieb ahnte etwas von Hellbergers Weibergeschichten. Natürlich kannte auch niemand den Namen, geschweige die Adresse der Frau Ballhorn, und erst recht wußte niemand im VEB Wirkwaren, daß sich Hellberger an diesem Abend in Neuruppin befand. Was folgt daraus? Die Anruferin muß zu Hellbergers engstem Bekanntenkreis gehören. Sie kennt nicht nur Frau Ballhorn und deren Telefonnummer, sie weiß auch, daß er an diesem Abend zu ihr fahren will. Nun meine Behauptung, die ich später durch Indizien beweisen werde: Die Anruferin will unbekannt bleiben, damit man sie für den Fall, daß Hellbergers Tod Verdacht erweckt, nicht ermitteln kann. Warum will sie nicht ermittelt werden? Weil sie es ist, die Hellberger die tödliche Tablette ins Röhrchen getan hat. Warum aber ruft sie dann überhaupt an, werden Sie fragen. Sie ruft an, um einen Streit zwischen Hellberger und Frau Ballhorn zu provozieren. Sie weiß, Frau Ballhorn ist rasend eifersüchtig. Sie rechnet damit, daß die Ballhorn Hellberger eine Szene macht, daß er infolge der Aufregung einen Herzanfall bekommt und die tödliche Tablette einnimmt.“ „Das wäre ja ein wahrhaft teuflischer Plan“, sagt Sommerfeld. „Nur gut, daß Ihre Vermutungen falsch sind.“ „Das sind sie nicht“, sagt Heym entrüstet. 30
„Vor zwei Minuten haben Sie selbst gesagt, Hellberger hatte schon vor dem Anruf die Tablette eingenommen und lag sterbenskrank im Bett.“ „Aber ich bitte Sie, das ist doch kein Gegenbeweis! Die Anruferin konnte ja nicht wissen, daß ihr Plan bereits ohne ihre Mithilfe Wirklichkeit geworden war. Daß Hellberger durch Zufall oder, besser gesagt, durch die Anstrengungen des vorangegangenen Tages, den Herzanfall, den sie erst provozieren wollte, bereits bekommen hatte.“ „Wäre es nicht denkbar, daß sie nur anruft, um zu erfahren, was geschehen ist? Wenn ich unterstelle, daß Ihre Vermutung richtig ist, die Anruferin habe die tödliche Tablette in das Röhrchen getan, dann liegt auf der Hand, daß sie von der schrecklichen Ungewißheit geplagt war, ob ihr Opfer die Tablette schon geschluckt hatte oder nicht.“ „Sicher, das wäre denkbar. Aber es gefällt mir nicht, und ich sage Ihnen auch, warum. Weil es nicht zwingend ist. Wenn sie es dem Zufall hätte überlassen wollen, wann Hellberger die Tablette nimmt, dann wäre der Anruf nur ein sinnloses Risiko gewesen.“ „Aber es gibt noch einen zweiten, sehr zwingenden Grund für den Anruf“, sagt Sommerfeld. „Die Täterin bereute ihre Tat und wollte Hellberger warnen.“ „Immerhin geben Sie damit zu, daß der Anruf von der Täterin gekommen sein muß.“ Der Staatsanwalt lächelt. „Ich gebe zu, Ihre Theorie klingt ganz vernünftig. Sie haben aber eins übersehen: Frau Ballhorn hat bisher die Tat hartnäckig geleugnet, die fünf anderen Frauen leugnen selbstverständlich auch. Deshalb können wir die Möglichkeit eines Unfalls noch immer nicht völlig ausschließen. Und auch Selbstmord ist theoretisch noch nicht widerlegt.“ „Unfall würde bedeuten“, erwidert Heym, „daß die tödliche Tablette rein zufällig in das Röhrchen gelangte. Dieser Zufall ist so unwahrscheinlich, daß ich ihn für die 31
Praxis nicht akzeptieren kann. Und was die Selbstmordtheorie angeht – wir haben Hellbergers Persönlichkeit und Lebensweise sehr genau unter die Lupe genommen. Das Ergebnis zeigt, daß Hellberger offensichtlich nicht zu den Menschen zählte, die Selbstmord begehen. Auch die Tatumstände sind für einen Selbstmord sehr untypisch. Der Tote hat keine Zeile hinterlassen, die seinen Entschluß begründet. Wir haben keinen Zeugen gefunden, dem gegenüber er jemals die Absicht geäußert hätte, seinem Leben ein Ende zu machen. Außerdem konnte er gar nicht wissen, ob diese falsche Tablette wirklich tödlich ist. Selbstmörder mit ‚ehrlichen Absichten‘ pflegen eine möglichst sichere Todesart zu wählen. Und daß er den Selbstmord nur simulieren wollte, dafür liegen ebenfalls keine Anzeichen vor.“ „Es gab Fälle, in denen der Selbstmörder alle Spuren seines Selbstmordes sorgfältig verwischte, um einen anderen Menschen in Mordverdacht zu bringen.“ „Ich weiß. Aber das Motiv für eine solche Tat ist immer nur Rache. In unserem Fall wäre es Rache aus verschmähter Liebe. Können Sie sich vorstellen, daß ein Mann wie Hellberger, der an jedem Finger zehn Frauen haben konnte, sich ausgerechnet wegen der dicken Ballhorn das Leben nimmt?“
10 Ich schob den Kuchenteller zur Seite und sah hinaus in den Regen. Die Zweige der Platane hatten kleine hellgrüne Blätter. Ihre vorjährigen Früchte schwankten wie Fliegenkugeln im Wind. „Du mußt essen, Kind“, sagte Mama. „Du hast abgenommen in den letzten Wochen. Ein paar Pfund mehr könnten deiner Figur nicht schaden.“ 32
Die Gute machte sich Sorgen. Wir hatten längere Gespräche geführt, in denen sie sich mit rührender Geduld darum bemüht hatte, meinen Depressionen auf den Grund zu kommen. Ich konnte ihr nicht helfen. Ich wußte selber nicht genau, was mit mir los war. Seit den zwei Monaten unserer Trennung hatte er fünfmal geschrieben. Drei Briefe aus Wien, einen aus Berlin und den letzten aus Kopenhagen. Ich hatte nicht geantwortet. Dann war eines Abends gegen elf, ich lag schon im Bett, ein Ferngespräch gekommen. Er ließ mich fragen, ob er mich besuchen dürfe. Ich wollte nicht selbst mit ihm sprechen, dazu war ich viel zu verwirrt. Mama mußte ihm sagen, daß ein Besuch vorerst nicht möglich wäre, weil ich zuviel Arbeit hätte. Heute morgen hatte wieder ein Brief von ihm auf dem Frühstückstisch gelegen. Er könne es nicht mehr länger aushalten, ohne mich zu sehen, schrieb er, er würde kommen, mit oder ohne meine Einwilligung. Wenn ich nur wüßte, was ich tun sollte. Früher war alles einfacher gewesen. Ich hatte zufrieden gelebt, ohne mir über Männer allzuviel Gedanken zu machen. Mama hatte diese Haltung nicht gebilligt, ich merkte es an der Art, wie sie über ihre eigene Jugend sprach und dabei hin und wieder durchblicken ließ, daß sie in meinem Alter längst verheiratet war. Immerhin war ich schon sechsundzwanzig. „Willst du dich nicht umziehen?“ fragte sie über den Rand ihres Buches. „In einer halben Stunde kommt Peter.“ „Hab’ keine Lust. Fällt dir nicht irgendeine Ausrede ein?“ „Unmöglich. Er hat Karten für die Oper.“ „Sag ihm, ich hab’ Migräne. Oder Ohrensausen.“ Sie klappte ihr Buch zu und legte es betont ruhig auf den Tisch. Ein deutliches Zeichen, daß sie entschlossen war, eine Grundsatzfrage zu erörtern. 33
„So geht es nicht weiter mit euch beiden“, sagte sie auch schon. „Du übertreibst es, Kind, du behandelst ihn zu schlecht. Das läßt sich kein Mann auf die Dauer bieten. Und mit Recht, würde ich sagen. Schließlich hat man nichts davon, einen Hampelmann zu heiraten.“ „Ich habe nicht die Absicht, ihn zu heiraten.“ „Red kein dummes Zeug. Peter ist ein lieber Mensch. Er hat Ausdauer, ist zuverlässig und solide. Und vor allem, er liebt dich.“ Ich seufzte und machte ein leidendes Gesicht. „Mir ist wirklich nicht gut, Mama. Du kannst es ihm doch irgendwie erklären. Nur noch einmal, ich verspreche dir …“ „Nein. Du gehst jetzt in dein Zimmer und ziehst dich um. Das Dunkelblaue liegt schon auf dem Bett.“ Ich ging in mein Zimmer. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu streiten, am Ende würde sie doch recht behalten. Und außerdem, wenn ich es mir überlegte, war es immer noch besser, mich mit Peter in der Oper zu langweilen, als den Abend vor dem Fernseher totzuschlagen. Peter war zehn Jahre älter als ich. Wir hatten uns vor zwei Jahren bei einer Silvesterfeier kennengelernt, und in der ersten Zeit hatte ich mir tatsächlich eingebildet, ihn zu lieben. Doch schon nach ein paar Monaten war er mir schrecklich langweilig geworden. Unser Zusammensein, soweit es mich betraf, war eigentlich nur noch eine bequeme Gewohnheit. Zwei- oder dreimal in der Woche kam er angetrabt, wir besuchten seine Freunde, gingen ins Kino, ins Theater, in Kunstausstellungen oder ins Konzert, danach zuweilen auch noch in seine Junggesellenwohnung. Einige Male waren wir auch im Gartenhaus gewesen, meistens dann, wenn seine Eltern zu Besuch kamen. Besonders recht war mir das nie gewesen, und in den letzten Monaten hatte ich es aus einer merkwürdigen Beklemmung, über deren Ursache ich nicht nachdenken wollte, ganz vermieden. Er schien es gar nicht zu bemerken. 34
Am liebsten hatte er es, wenn er mich zu seinen Freunden schleppen konnte. Ich mußte dicht neben ihm sitzen, damit er meine Hand halten oder den Arm um meine Schulter legen konnte, während er seine weltbewegenden Diskussionen über Kunst und Politik führte. Manchmal fand ich die Schauspieler und Regisseure ganz interessant. Vor allem, wenn sie sich wie Besessene für irgendeine Sache begeisterten. Doch meistens gingen mir diese Gespräche auf die Nerven, Alles bewegte sich im Kreise, Immer wieder die gleichen Themen, die gleichen Haltungen, Anekdoten und Intrigen. Der Gedanke, ein Leben lang neben Peter zu sitzen und das Gerede dieser Leute zu ertragen, drehte mir den Magen um. Schon mehrmals hatte er über seine Heiratsabsichten gesprochen. Es begann jedesmal mit Blumen, dunklem Anzug und Abendessen in einem teuren Restaurant. Bisher war es mir gelungen, ihn mit nichtssagenden Redensarten hinzuhalten. Doch jetzt hatte er seine Taktik geändert und begonnen, Mama in den Ohren zu liegen. Ich wußte, der Erfolg würde nicht lange auf sich warten lassen. Es klingelte an der Wohnungstür. Mama ging und öffnete. Ich hörte sie mit entzückter Stimme sagen: „Aber nein, Peter, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.“ Er hatte ihr also wieder eine Bonbonniere mitgebracht. Bald darauf klirrte die Kühlschranktür. Mama holte Eis und Zitrone für ihren abscheulichen Wermut. Und nach dem zweiten Glas würde ihr der liebe Peter erklären, daß ich mir endlich darüber klarwerden müßte, was ich vom Leben erwarte. Die Sicherheit oder das Abenteuer. Und Mama würde zustimmend mit dem Kopf nicken. Ich warf das Dunkelblaue in die Ecke, setzte mich an den Schreibsekretär und zog die Mappe mit dem Briefpapier hervor. 35
11 Er kam Anfang Juni. Als Mama erfuhr, daß wir uns wiedersehen würden, reagierte sie völlig unerwartet. Kein Wort mehr von Peter, keine Vorhaltungen, keine Ermahnungen. „Wenn du willst“, sagte sie beiläufig, „kann er bei uns übernachten. Wir haben genug Platz, und mit den Hotels ist das ja meistens so eine Sache.“ Sie brannte vor Neugier. Und natürlich wollte sie sich ein Urteil bilden, was am besten geht, wenn man jemand ein paar Tage im Haus hat. Pünktlich auf die Minute stand er vor unserer Tür. Er küßte zuerst Mama und dann mir die Hand. Für sie brachte er einen Riesenstrauß gelber Rosen, für mich nur eine besonders schöne in Rot. Zwanzig Minuten später war das Eis gebrochen. Ich sah es an der Art, wie Mama lächelte und dabei den Kopf neigte. Am nächsten Vormittag fand eine Autofahrt statt. Mama hatte vor, seinen Wagen und seine Fahrweise zu inspizieren. Mir fehlte die rechte Lust, und ich überließ deshalb Mama den vorderen Sitz. Von Jonny Riegel war ich quietschende Bremsen, ruckartiges Anfahren, Fluchen, Hupen und falsches Einordnen gewöhnt. Und wenn wir glücklich am Ziel waren, hatte ich feuchte Hände und fühlte mich wie zerschlagen. Wolfgang fuhr gut. Selbst im dichtesten Stadtverkehr behielt er Ruhe und Übersicht. „Ein wunderschöner Wagen“, sagte Mama. „Kein hiesiger, nicht wahr?“ „Ein rumänischer, gnädige Frau. Lizenz von Renault.“ „Französisch, das dachte ich mir. Die Innenausstattung ist wirklich exklusiv.“ Mama war dafür, ein Stück über Land zu fahren. Es machte ihr Vergnügen, in einem Auto zu sitzen und die Gegend zu betrachten. 36
Neben der Chaussee zogen sich die Zäune der Viehkoppeln hin. Ein großer bräunlicher Vogel hockte reglos auf einem Pfahl. „Habt ihr den gesehen?“ fragte Mama. „Es war schon der dritte.“ „Mäusebussard“, sagte Wolfgang. „Muß ein ziemlich langweiliges Leben sein“, sagte ich. „Deshalb sitzt er ja an der Chaussee“, sagte Mama. Nach einer halben Stunde kamen wir über eine Brücke. Am anderen Ufer des Flusses reckte sich eine Zitadelle in den Himmel. Ein düsteres Bauwerk, gewaltig und drohend, und doch nur errichtet für die friedliche Produktion von Dauerbackwaren. Wir waren in Wurzen, der Heimatstadt meiner Mama. Kreuz und quer kurvten wir durch die Straßen, über Plätze und durch holprige Gassen. Mama wurde lebhaft wie ein junges Mädchen. „Das graue Haus, da ging ich zur Schule. Und dort, die Bäckerei gehörte den Eltern meiner Freundin. In dem Schuppen da drüben war früher ein Kino. Alle Filme haben wir uns damals angesehen. Am liebsten die mit Valentino und Pola Negri. Eine herrliche Zeit war das.“ Sie erzählte aus ihrer Jugend. Sie erzählte, wie sie meinen Vater kennengelernt hatte. Wie ungemein flott und lustig das Leben damals gewesen war. Auch die Geschichte mit dem verlorenen Silberfuchs, von der ich bisher offenbar nur die gereinigte Fassung gehört hatte, wurde zum besten gegeben. Erstaunliche Dinge kamen ans Licht. Und ich hatte geglaubt, meine Mama zu kennen. Als wir zu Hause waren, hatte sie gerötete Wangen und glänzende Augen. Auch ich war zufrieden und sah meinen Wolfgang zärtlich an. Kein Zweifel, die Schlacht um das Mutterherz hatte er gewonnen.
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12 Was sind drei Tage, wenn man sich liebt? Nun mußte ich mich wieder mit seinen Briefen begnügen. Ein ganzer Stapel war es schon geworden, der wohlgehütet in meinem Schreibsekretär lag. So groß mein Glück in diesen drei Tagen war, so unglücklich war ich heute. Mama hatte für meine Launen, wie sie es nannte, kein Verständnis. Sie hatte Wolfgang in ihr Herz geschlossen, er war für sie zum Idol geworden. Was er tat, wurde nicht mit der profanen Elle gemessen, die sie sonst an Männer legte. Und wenn ich auch nur ein kritisches Wort über ihn sagte, geriet sie darüber so in Rage, als wäre er ihr einziger, über alles geliebter Sohn und ich die mäkelnde Schwiegertochter. Aber was hatte ich von seinen Briefen? Ich konnte es nicht ertragen, so lange von ihm getrennt zu sein, und noch weniger konnte ich die Ungewißheit ertragen. Wochen um Wochen würden vergehen, bis wir uns wiedersehen konnten, und es stand noch nicht einmal fest, wann. Sein blöder Beruf war daran schuld. Auf die Dauer würde ich mich nicht damit abfinden. Mama war anderer Meinung. Ein Mann müsse in jungen Jahren intensiv arbeiten, um die Existenzgrundlage für seine Familie zu schaffen. Später kämen dann bequemere Zeiten. Sie wurde nicht müde, mir zu schildern, welche Opfer sie für Vaters Karriere gebracht hatte. Und zwar ganz ohne Murren. Ich hatte darüber etwas anderes gehört, zuweilen sogar von ihr selbst. Doch das wollte sie heute nicht mehr wahrhaben. Ich jedenfalls hatte nicht die Absicht, in Sehnsucht und Ergebenheit auf einen Mann zu warten, und wenn ich ihn noch so sehr liebte. Wenn er nicht alles tat, um in meiner Nähe zu sein, konnte mich seine Liebe nicht ganz überzeugen. Manchmal ließ ich mich von Peter nach Hause brin38
gen. Er tat mir leid. Außerdem brauchte ich einfach hin und wieder einen Mann, der mich bewunderte und ein bißchen verwöhnte. Mama durfte davon allerdings nichts erfahren. Sie hatte ihm unmißverständlich klargemacht, daß ein anderer an seine Stelle getreten war. Mir überließ sie die undankbare Aufgabe, ihm zu erklären, wie es dazu hatte kommen können. Er war wie vor den Kopf geschlagen, begriff überhaupt nichts und suchte alle Schuld bei sich selbst. Gestern abend war ich mit ihm in seine Wohnung gegangen. Es sollte die „letzte Aussprache“ stattfinden, zu der er mich schon seit langem drängte und die ich immer wieder hinausgeschoben hatte. Ich hatte bereits seit Tagen keine Post von Wolfgang bekommen und fühlte mich irgendwie verraten. Vielleicht ging ich deshalb mit. Wir redeten stundenlang dummes Zeug über die Liebe und das Leben und tranken dabei Wodka aus Whiskygläsern. Gegen Mitternacht war er den Tränen nahe. Für ihn sei nun alles aus, sagte er. Er hätte nur mich gehabt auf dieser Welt. Nie wieder würde er eine andere Frau lieben können. Seine Verzweiflung rührte mich. Und dann geschah, was geschehen mußte. Am morgen hatte ich einen Katzenjammer und kam mir verdammt schäbig vor. Das ärgerte mich. Ich liebte Wolfgang, aber war ich deshalb verpflichtet, wochenlang brav und geduldig auf ihn zu warten? Noch waren wir nicht verheiratet. Noch war ich ein Mensch für mich und ließ mich nicht in eine kleinkarierte Moral zwingen. Warum war er nicht da? Wußte ich denn, was er inzwischen tat? Natürlich hätte ich viel lieber mit ihm zwei Flaschen Wodka getrunken. Aber er war nicht da, und ich ließ mir von niemandem vorschreiben, wie ich mich zu verhalten hatte. Nur vor Mama, vor der ich früher nie Geheimnisse hatte, mußte ich auf der Hut sein. Wenn sie dahinterkam, würde sie es eine „bodenlose Frivolität“ nennen 39
und mir Tag und Nacht die Hölle heiß machen. Sie war nicht zimperlich, doch sie hatte unerschütterliche Vorstellungen, wie sich ein Mädchen kurz vor der Ehe zu verhalten habe. Denn sie machte bereits Pläne. Es war noch kein Wort darüber gefallen, daß Wolfgang und ich heiraten würden, aber für sie war es eine beschlossene Sache. Ich bewunderte sie, mit welcher Konsequenz sie daranging, ihre Wunschbilder in die Tat umzusetzen. Das Brautkleid, die Schuhe, die Blumen, die Frisur, das Hochzeitsmahl, die Liste der Gäste. Es sollten nicht zuviel und nicht zuwenig sein. Wo würde die Feier stattfinden? In unserer Wohnung? Das hieß dann Möbel umstellen und neue Tapeten. Sollte eine Hochzeitsreise gemacht werden? Wenn ja, hatte man seine Wahl zu treffen und sich rechtzeitig um Plätze zu kümmern. Diese ganze Betriebsamkeit war mir unheimlich, wenn sie auch vorerst zum größten Teil nur in Mamas Phantasie existierte. Schließlich war zu bedenken, daß Wolfgang von seinem Glück noch gar nichts ahnte. Mama ließ meine Einwände nicht gelten. Er würde es noch früh genug erfahren. Nach ihrer Meinung war ein Mann zu allem zu bewegen, man mußte nur gut nachdenken und dann im rechten Moment die richtigen Mittel anwenden. Darüber sollte ich mir keine Sorgen machen. Sie wüßte besser als ich, wie man einen Mann zu behandeln habe. „Was hast du dir für die Zeit nach der Hochzeit gedacht?“ fragte sie mich eines Morgens beim Frühstück. „Es gibt keine Hochzeit. Wolfgang ist dauernd unterwegs. Und er hat nur ein möbliertes Zimmer.“ „Daran habe ich schon gedacht. Das beste wäre ein Wohnungstausch. In Berlin wird viel gebaut, und wir haben hier eine wunderschöne Vierzimmerwohnung zu bieten. Mitten im Zentrum. Ich bin sicher, das läßt sich arrangieren.“ 40
„Wieso wir?“ „Ich komme natürlich mit“, sagte sie. „Ich werde euch den Haushalt führen. Ihr wollt doch beide arbeiten. Oder hast du die Absicht, deinen Beruf aufzugeben?“ „Ich bitte dich, Mama! Wir haben uns erst dreimal gesehen.“ „Ihr kennt euch schon ein halbes Jahr.“ „Wir schreiben uns ein halbes Jahr. Zusammen waren wir höchstens zehn Tage.“ „Was willst du eigentlich? Er hat eben einen Beruf, der ihn in Anspruch nimmt.“ „Das weiß ich auch. Aber über ihn selbst und vor allem über seine Vergangenheit weiß ich so gut wie nichts.“ „Er hat einen ausgezeichneten Eindruck auf mich gemacht.“ „Der Eindruck kann täuschen. Bevor ich ernsthafte Pläne mache, würde ich ihn gern noch etwas näher kennenlernen.“ „Wir haben uns doch ausführlich mit ihm unterhalten. Er hat eine leitende Position im Außenhandel, ist achtundzwanzig Jahre alt und verdient sehr gut. Seine Eltern sind tot. Sein Vater war Direktor einer Schuhfabrik. Was willst du noch mehr?“ Ich zuckte die Schultern und schwieg. „Liebst du ihn oder liebst du ihn nicht?“ „Ich liebe ihn.“ „Dann willst du ihn auch heiraten, nicht wahr?“ „Ich denke schon. Aber erst später.“ „Gut. Man muß wissen, was man will, alles andere wird sich finden. Glaube mir, Kind, wenn man sich für einen Mann entschlossen hat, darf man ihn nicht an der langen Leine führen. Er gewöhnt sich zu leicht daran und ist dann schwer wieder an die Hand zu bekommen.“ „So fest entschlossen bin ich ja noch gar nicht. Manchmal glaube ich, er verbirgt irgendwas, er hat Geheimnisse vor mir.“ 41
„Papperlapapp, Geheimnisse! Man soll den Männern ihre kleinen Geheimnisse lassen. Sie lieben das und sind dankbar dafür. Vom Geheimnis zum schlechten Gewissen ist es nur ein kleiner Schritt. Und ein wenig schlechtes Gewissen kann für eine kluge Frau nur von Vorteil sein.“
13 Um acht wollten wir losfahren. Ich kam um halb neun ins Büro, und das war immer noch eine Stunde zu früh. Wie üblich konnte mein Chef nicht fertig werden. In Hut und Mantel rannte er hin und her, suchte Papiere, telefonierte und erinnerte sich an tausend Dinge, die unbedingt noch erledigt sein mußten. Helga, Martin und ich standen im Sekretariat und rauchten. An Weggehen war nicht zu denken, Jonny Riegel brauchte uns als seine Statisten. Endlich, gegen halb zehn, hatte er sich ausgetobt. Er blieb stehen, rieb sich das Kinn und sah sich ratlos um. Die Bayerlein hatte auf diesen Augenblick gelauert. Sie drückte ihm wortlos die Aktentasche in die Hand und schob uns aus der Tür. Auf der Autobahn war viel Verkehr. Jonny fuhr wie von Furien gejagt. Er konnte nicht anders. Solange im Motor noch irgendeine Reserve steckte, mußte er sie herausquetschen. Ich lehnte mich zurück und warf einen Blick auf das Tachometer. „Du fährst hundertvierzig.“ „Reg dich nicht auf, der Wagen macht das spielend.“ „Du bist nicht zurechnungsfähig, wenn du am Steuer sitzt. Aber warum bringt man nicht die Leute hinter Gitter, die in einem Land, in dem hundert die gesetzliche 42
Höchstgeschwindigkeit ist, Autos verkaufen, die hundertfünfzig fahren?“ Jonny nahm den Fuß vom Gas und sah mich irritiert an. Ein Wagen zischte haarscharf an uns vorbei. Jonny riß das Lenkrad herum, unser Wartburg machte einen heftigen Schlenker. „Das kommt von dem blöden Gerede!“ sagte Jonny wütend. Für die nächsten zehn Minuten fuhr er langsamer. Wir gelangten heil in die Hauptstadt. Die Aluminiumkugel des Fernsehturms blinkte in der Sonne. Dann kam die erste Umleitung. Jonny begann zu fluchen, ein Zeichen, daß er die Orientierung verloren hatte. Nach zwanzig Minuten stießen wir auf bekanntes Territorium. Vor uns lag der Bahnhof Friedrichstraße. Also zurück. An einer Kreuzung bogen wir nach links ein. Es war eine breite Straße mit zwei Fahrbahnen und einem Mittelstreifen, auf dem junge Lindenbäume wuchsen. Ich griff Jonnys Arm. „Halt an!“ „Was ist denn los?“ „Halt sofort an!“ Die Bremsen quietschten. Ich sprang aus dem Wagen und lief zurück. Ein Taxi mußte einen Bogen machen. Der Fahrer schrie etwas, das nicht sehr schmeichelhaft klang. In der Reihe der Fahrzeuge, die am Mittelstreifen parkten, stand ein zitronengelber Dacia mit schwarzen Lederpolstern. Im Rückfenster lag der Autoatlas, in dem ich auf der Fahrt nach Wurzen geblättert hatte. Was hatte sein Wagen hier zu suchen? Erst vor zwei Tagen war ein Brief gekommen, in dem er mir schrieb, daß er noch mindestens zehn Tage auf der Messe in Bratislava zu tun hätte. Ich ging um den Wagen und versuchte, die Türen zu öffnen. Sie waren abgeschlossen. Und dann entdeckte ich die Damenhandschuhe aus rotem Leder. Sie lagen in der Mulde zwischen den Vordersitzen. Ich fühlte, wie ein Schauer über meine Haut 43
lief. Die Eifersucht drang mir wie Nadeln ins Herz. Ich sah mich um. Irgendwo mußte er doch sein. Aber hatte es einen Sinn, ihn in dieser Unzahl von Bürohäusern, Geschäften und Gaststätten zu suchen? Der Wartburg rollte rückwärts auf mich zu. Jonny steckte den Kopf aus dem Fenster. „Ist was, Engelchen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Na los, dann steig ein. Wir kommen sowieso schon zu spät!“ Ich ließ mich auf den Sitz fallen und schlug die Tür zu. Der Wartburg setzte sich mit einem heftigen Ruck in Bewegung. „Was war denn das für eine Karre?“ „Laß mich in Ruhe.“ „Na dann nicht.“ Jonny zuckte gekränkt die Achseln. Helga begann zu kichern. „Hör auf“, sagte Martin streng. „Siehst du nicht, daß sie weiß ist wie ein Leichenhemd?“ Als wir ankamen, hatte die Arbeitstagung bereits begonnen. Ich zwängte mich auf einen freien Stuhl. Von dem Referat und den Diskussionen hörte ich nichts. In meinem Kopf war dumpfe Leere. Warum hatte er mich nicht angerufen, wenn er in Berlin war? Ich suchte nach Erklärungen, die ihn entschuldigen konnten. Ich wollte mich mit Gewalt beruhigen, doch mein Mißtrauen ließ das nicht zu. Wenn ich doch nur seine Adresse gehabt hätte. Die Briefe schrieb ich ihm postlagernd. Schlechte Erfahrungen mit der Wirtin, hatte er mir erklärt. Ihre krankhafte Neugier würde sie veranlassen, mit seiner Post Dampfbäder zu veranstalten. Plötzlich erschien mir diese Erklärung reichlich fadenscheinig. Warum hatte ich ihm nicht eine Nachricht unter den Scheibenwischer geklemmt? Die einfachste Sache der Welt, und ich hatte sie vor lauter Kopflosigkeit vergessen. 44
In der Mittagspause nahm ich ein Taxi und fuhr zurück. Der Dacia war verschwunden. Eine Viertelstunde lief ich die Reihen der parkenden Wagen ab. Ich konnte ihn nirgends entdecken.
14 Wir saßen im Erkerzimmer. Ich rauchte schweigend meine Zigarette. Wolfgang drehte am Transistorradio. Mama hatte den Frühstückstisch abgeräumt und war in der Küche mit ihrem Braten beschäftigt. Ich hatte ihr nichts von meiner Entdeckung gesagt. Das war mir schwergefallen, aber ich wollte sie nicht beunruhigen. Und vor allem wollte ich die Sache auf meine Art klären. Wenn sie etwas gewußt hätte, wäre sie mir unweigerlich mit ihrer Diplomatie in die Quere gekommen. Sie hätte Andeutungen gemacht, indirekte Fragen gestellt. Sie hätte ihn gewarnt und ihm Zeit gelassen, eine Ausrede zu finden. Natürlich alles nur in bester Absicht. Unser Glück lag ihr am Herzen. Sie war davon überzeugt, daß keiner besser wußte als sie, wie man einen Mann zu behandeln hatte. Sie vertraute auf ihre Methoden, bestätigt durch die Erfolge von mehr als vierzig Jahren. Aber es ging um mich. Und ich hatte meine eigenen Methoden. „Du bist so schweigsam“, sagte er und griff nach meiner Hand. Ich zog sie weg. „Irgendwie verändert. Ich habe das schon vorhin gemerkt, als ich kam.“ „Könntest du die alberne Musik ausmachen?“ Er drückte auf die Taste. „Also, was ist? Oder willst du nicht darüber reden?“ „Ich war in Berlin. Am Mittwoch vor acht Tagen. Unter den Linden stand dein Wagen.“ 45
Er sah mir ruhig in die Augen. „Schon möglich. Und weiter?“ „Die roten Damenhandschuhe neben dem Fahrersitz. Kannst du mir das erklären?“ „Ich finde es wunderbar, wenn du eifersüchtig bist.“ „Warum lügst du mich an? Warum schreibst du, daß du in Bratislava bist?“ „Ich war doch in Bratislava“, sagte er und lachte. „Ich hatte den Wagen einem Bekannten geliehen. Sein Moskwitsch ist in der Werkstatt. Doktor Marwitz, ein Arbeitskollege. So einfach ist das. Wir rufen ihn an, wenn dich das beruhigt.“ Ich stand auf und ging aus dem Zimmer. Er war nicht eine Sekunde unsicher geworden. Was er gesagt hatte, hörte sich plausibel an. Oder war er in Wirklichkeit ein ganz ausgefuchster Lügner? Den ganzen Tag wurde ich von Zweifeln geplagt. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als ihm glauben zu können. Manchmal schien es mir so gut wie sicher, daß ich mir etwas einredete, daß meine Eifersucht mich zum Narren machte. Dann wieder schien mir, als sei sein Verhalten zu selbstsicher gewesen, seine Erklärung zu glatt, zu einleuchtend. Als hätte er sich darauf vorbereitet, mich mit diesem Trick zu überrumpeln. Vielleicht hätte ich doch darauf eingehen sollen, diesen Doktor Marwitz anzurufen. Wer weiß, wie er darauf reagiert hätte? Vielleicht hätte er sich dabei verraten? Jetzt war es natürlich zu spät. Jetzt hatte ich schon zu lange gewartet und so getan, als ob ich ihm glaubte. Aber es mußte doch einen Weg geben, Gewißheit zu erlangen. Das war mein gutes Recht. Als er vor dem Schlafengehen ins Bad ging, öffnete ich heimlich seinen Koffer. Ich wollte irgendeinen Beweis für seinen Aufenthalt in Bratislava finden, eine Hotelrechnung, einen Fahrschein, irgend etwas, das mir die Zweifel nahm. Es war nichts zu finden. 46
Ich durchsuchte die Taschen seiner Lederjacke. Ausweis, Fahrerlaubnis. Was war das? Ein Notizbuch? Vor Aufregung konnte ich nichts entziffern. Ich trat ins Licht und zwang mich zur Ruhe. Stenografie, ganze Seiten voll. Damit konnte ich nichts anfangen. Dann Hotelanschriften. Wien, Brüssel, Sofia, Prag. Nichts von Bratislava. Moment. Eine Seite voller Namen und Adressen, einige davon durchgestrichen. Was hatte er mit all diesen Frauen zu tun? Es war kein einziger Mann darunter. Alles nur Frauen. Wie konnte ich mir die Namen merken? Ich rannte aus dem Zimmer, über den Flur in meine Laborkammer. Ich schloß die Tür hinter mir ab. Ich nahm die Kamera, schob sie mit fliegenden Händen ins Stativ, legte das Notizbuch darunter und drückte auf den Auslöser.
15 Ich konnte nicht mehr arbeiten, ich konnte nicht mehr schlafen. Unaufhörlich kreisten meine Gedanken um das Stückchen fotokopiertes Papier, das ich in meine Kassette eingeschlossen hatte. Wolfgang war am nächsten Morgen weggefahren, fröhlich und selbstsicher wie immer. Angeblich mußte er wieder nach Wien. Ich konnte ihm nicht mehr trauen. Das beste wäre, ich würde ihn vergessen, seine Briefe ungelesen ins Feuer werfen und so schnell wie möglich meinen braven, zuverlässigen Peter heiraten. Mama würde mich sicher für verrückt erklären und handgreifliche Beweise verlangen, aber mit der Zeit würde ich sie schon irgendwie auf meine Seite bringen. Unsinn. Wenn ich meine Ruhe wiederfinden wollte, mußte ich herausbekommen, was hinter diesen Namen 47
steckte, was er mit diesen Frauen zu tun hatte. Leider hatte ich niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Männer waren für dieses Thema ungeeignet, und mit Frauen hatte ich schon seit der Schulzeit nicht viel im Sinn. Entweder sie waren von meiner Art, dann brachte uns bald die Rivalität auseinander. Oder sie waren dumm, und dann ertrug ich sie nicht lange. Mama hatte mich in dieser Haltung noch bestärkt, vermutlich nicht ganz ohne Selbstsucht, damit sie mich für sich allein hatte. Allerdings galt auch für sie der Grundsatz, lieber mit zehn Männern als mit einer Frau befreundet zu sein. Helga war die einzige, zu der ich regelmäßige, wenn auch lockere Beziehungen hatte. Sie lud mich zu ihren Geburtstagen ein, wir sprachen über Filme und Theaterbesuche, und manchmal lieh sie sich bei mir Bücher aus. Doch mit ihr konnte ich über mein Problem schon gar nicht reden. Sie würde mir allenfalls zwei Minuten zuhören, dann den Spieß umdrehen und mich mit den Problemchen überschütten, die sie mit ihrem Martin hatte. Also mußte ich sehen, wie ich ohne fremde Hilfe fertig wurde. Ich zog das Telefon heran und wählte Jonnys Nummer. „Du bist es, Engelchen?“ sagte er. „Wenn du gleich kommst, hab’ ich ein paar Minuten Zeit für dich.“ Er lehnte am Fenster, hatte die Hände in den Taschen und zwischen den Zähnen eine schwarze Pfeife. Das bedeutete, daß er in einer gereizten Stimmung war. Normalerweise verbrauchte er vierzig Zigaretten täglich. Hin und wieder schob ihm die Bayerlein einen Zeitungsausschnitt über Lungenkrebs zwischen die Akten. Dann rauchte er Pfeife. Etwa drei Tage. Danach warf er den ganzen Kram in den Papierkorb, die Reinigungsdrähte, die Kratzer, die Stopfer, die Bohrer und kehrte zu seinen Zigaretten zurück. 48
„Ich brauche ein paar Tage Urlaub“, sagte ich. Er sah mich gequält an. „Ausgerechnet jetzt. Wie stellst du dir das vor?“ „Passen tut es nie. Ich habe noch vierzehn Tage Überstunden.“ „Vierzehn Tage! Ausgeschlossen.“ Er stieß sich vom Fensterbrett ab und setzte sich energisch hinter seinen Schreibtisch. „Ich brauche nur ein paar Tage.“ „Ein paar Tage, ein paar Tage! Wieviel Tage?“ „Sieben.“ Er senkte den Kopf und starrte auf seine Hände. „Wenn ich krank wäre, müßte es auch gehen. Es ist wirklich dringend, Jonny.“ „Du weißt selbst, wie sehr wir in Druck sind. Kannst du nicht noch einen Monat warten?“ „Nein.“ „Erst muß der Chemieauftrag fertig sein.“ „Das schaffe ich bis zum Wochenende.“ „So? Auf einmal?“ „Ich mache abends ein bißchen länger.“ „Also schön. Hol’s der Teufel.“ „Dann bin ich ab Montag frei?“ Er nickte und machte ein Gesicht, als hätte ich ihm seinen rechten Arm abgehandelt.
16 „Doktor Zimmermann bitte!“ Die Stimme der Justizangestellten hallt im Treppenhaus wider. Eine Frau erhebt sich, sie ist etwa vierzig Jahre alt. Sie trägt ein dunkles Schneiderkostüm. Die schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haare sind straff nach hinten genommen und zu einem Knoten gesteckt. 49
In aufrechter Haltung geht sie über den Gang, verfolgt von unseren Blicken, bis sich die Tür zum Büro des Staatsanwaltes hinter ihr schließt. Hannelore Zimmermann. Warum gerade sie? Mit ihr hatte ich meine Nachforschungen begonnen. Ist das etwa der Grund für den Staatsanwalt, sie als erste hereinzurufen? Haben sie bereits einen Verdacht? Sind sie schon auf meiner Spur? Unmöglich. Ich habe doch bei meinen Aussagen sorgfältig überlegt, habe keinen Fehler gemacht. Oder doch? Sie können mir nichts anhaben. Ich muß ganz ruhig bleiben. Ich werde noch einmal alles genau überdenken. Also wie war das?
17 In der Halle des Magdeburger Hauptbahnhofs fand ich eine Telefonzelle. In der Zelle fand ich ein Telefonbuch. Sogar die Seite, auf die es mir ankam, war vorhanden. Ich besaß zwei Groschen, die in den Schlitz paßten. Der Apparat behielt sie bei sich, die Leitung war frei, die Verbindung klappte. Es würde ein erfolgreicher Tag werden. „Frau Doktor Zimmermann? – Guten Tag. Ich mache eine Reportage über berufstätige Frauen. – Ja, für eine Zeitung. Es handelt sich zunächst nur um eine Materialsammlung. Wären Sie bereit, mir eine halbe Stunde Ihrer Zeit zu opfern? – Ja, es müßte noch heute sein. – Im Restaurant Interhotel? – Gegenüber vom Hauptbahnhof, ich weiß. – Sechzehn Uhr dreißig. Das paßt mir ausgezeichnet. Vielen Dank.“ Es waren noch gut zwei Stunden Zeit. Ich hatte keine Ruhe, mich irgendwo hinzusetzen. Ich lief durch die Stadt, ohne etwas wahrzunehmen, prüfte zum zehntenoder zwanzigstenmal meinen Plan. Je länger ich über 50
ihn nachdachte, um so besser gefiel er mir. Er ersparte mir alle Erklärungen, und wenn ich ein bißchen geschickt war, konnte ich beliebig viele Fragen stellen, ohne meine eigentlichen Absichten zu enthüllen. Dazu hatte er den Vorteil, daß Wolfgang von diesem Gespräch nichts erfahren würde, zumindest nicht, daß ich dahintersteckte. Und sollte sich mein Verdacht nicht bestätigen, hatte ich mir außerdem die Blamage erspart. Kurz vor halb fünf betrat ich das Restaurant. Es waren nur wenig Gäste da: Ich nahm einen Tisch am Fenster, damit ich die Straße übersehen konnte. Vor einigen Monaten hatte ich mit einer Bekannten, die als Redakteurin bei einer Wochenzeitschrift arbeitet, eine Reportage über landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gemacht. Sie hatte die Bauern befragt und den Text geschrieben, ich die Bilder geliefert. Wie man ein Interview anfing, wußte ich also ungefähr. Um einen professionellen Eindruck zu machen, legte ich den Fotoapparat auf den Tisch, Notizblock und Kugelschreiber daneben. Dann zog ich die Gardine ein wenig zur Seite und sah hinaus auf den Platz vor dem Hotel. Es war niemand zu entdecken, der meiner Vorstellung von Frau Doktor Zimmermann entsprach. „Ich vermute, Sie sind mit mir verabredet“, sagte eine Stimme hinter mir. „Zimmermann ist mein Name.“ Ich ließ die Gardine los, stand auf und stellte mich mit dem Namen meiner Bekannten vor. Wir setzten uns. Doktor Zimmermann war eine magere, ziemlich große Frau mit streng hervortretenden Wangenknochen und schmalen Lippen. Sie trug ein unauffälliges Kleid aus gutem Wollstoff. Am Ringfinger ihrer rechten Hand steckten zwei Eheringe. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig. Eine Schönheit war sie gewiß nicht. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß zwischen ihr und Wolfgang eine Beziehung bestehen sollte, die etwas mit Liebe zu tun hatte. 51
Plötzlich kam ich mir lächerlich vor mit meiner Eifersucht und meiner Reporterkomödie. Sie faltete die Hände auf dem Tisch und sah mich aufmerksam an. „Also, was haben Sie auf dem Herzen?“ Ja, was hatte ich auf dem Herzen? Sollte ich den ganzen Unsinn aufgeben und ihr erzählen, worum es mir wirklich ging? Es wäre mir das liebste gewesen, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen. Sie machte einen so kühlen, so unnahbaren Eindruck, daß ich fürchtete, sie würde kein Verständnis aufbringen für meine Hirngespinste und mir sehr übelnehmen, daß ich ihre kostbare Zeit in Anspruch genommen hatte. „Was für Fragen wollen Sie mir stellen?“ drängte sie. „Ja – nun – vielleicht erzählen Sie erst einmal Ihren Lebenslauf“, stotterte ich. „Nur in Stichpunkten. Damit wir einen Anfang haben.“ „Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen. Ich bin hier in Magdeburg geboren. Mein Vater war Ingenieur bei Junkers. Leider ist er noch fünf Minuten nach zwölf ums Leben gekommen. Als Volkssturmmann, im Mai fünfundvierzig, auf eine völlig überflüssige und tragikomische Weise. Er wollte die weggeworfenen Waffen ordnen. Dabei explodierte eine Panzerfaust. Aber vielleicht war es auch die göttliche Gerechtigkeit. Als Antwort darauf, daß er unsere Mutter jahrzehntelang mit seiner Pedanterie und seinem zynischen Unglauben gequält hatte. Nun, wir kamen auch ohne ihn aus, was zuvor völlig undenkbar schien. Neunzehnhundertneunundvierzig machte ich das Abitur, darauf folgte ein Medizinstudium in Halle. Während des Studiums lernte ich meinen Mann kennen, er war ebenfalls Mediziner. Neunzehnhundertdreiundfünfzig haben wir geheiratet und waren sechzehn Jahre lang sehr glücklich.“ Sie machte eine Pause, sah mir ruhig in die Augen und sagte dann: „Im Winter vor drei Jahren ist er tödlich verunglückt. Mit unserem Auto.“ 52
Ich schwieg. Ich wußte nicht, wonach ich sie noch hätte fragen können, ohne taktlos zu sein. „Sagen Sie bitte, wie sind Sie eigentlich gerade auf mich gekommen?“ Mit Gegenfragen hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Zu meinem Glück setzte just in diesem Moment Musik ein, und ich konnte mich einen Augenblick umdrehen. Auf dem Podium geigten vier alte Herren in schwarzen Fräcken. Die Melodie klang dünn und zittrig. Doktor Zimmermann sah mich erwartungsvoll an. „Ihre Anschrift habe ich von meiner Redaktion“, schwindelte ich drauflos. „Ich habe noch mehr Namen, eine ganze Liste. Wir interessieren uns für das Schicksal alleinstehender, berufstätiger Frauen. Wir würden zum Beispiel gern von Ihnen erfahren, wie Sie mit Ihrem Leben fertig werden. Und vor allem, was Sie von der Zukunft erwarten.“ „Von der Zukunft?“ Sie zuckte die Achseln. „Beruflich habe ich keine Sorgen. Die Urologie ist ein interessantes Arbeitsgebiet, und ich fühle mich wohl in meinem Kollegenkreis.“ „Und wie steht es mit dem Privatleben?“ „Ich weiß nicht recht. In erster Linie muß ich mich um meine zwei Mädchen kümmern, sie haben ja nur noch mich. Das Hauptproblem ist im Augenblick die Schule. Wenn sie nicht wenigstens einen Durchschnitt von eins Komma fünf bringen, haben sie ja heutzutage kaum noch Aussicht auf einen anständigen Beruf. Wer nicht selbst schulpflichtige Kinder hat, kann sich nicht vorstellen, wieviel Zeit und Mühe das auch von den Eltern verlangt.“ „Sie sind doch noch viel zu jung, Frau Doktor Zimmermann, um nur für Ihre Kinder zu leben.“ „Meinen Sie wirklich?“ fragte sie und sah mich skeptisch an. Ich nickte. 53
„Möglicherweise haben Sie recht. Ich zerbreche mir nämlich schon lange den Kopf über diese Frage.“ „Ja?“ sagte ich erwartungsvoll. „Ich denke, ich sollte es Ihnen erzählen. Als Außenstehende können Sie mir vielleicht einen Rat geben, der nicht allzusehr durch Vorurteile getrübt ist.“ „Wenn ich es kann, sehr gern.“ „Vor etwa sechs, sieben Monaten bin ich in eine ziemlich komplizierte Geschichte hineingeraten, und ich weiß immer noch nicht, wie ich mich entscheiden soll.“ „Handelt es sich um einen Mann?“ Sie neigte den Kopf und errötete. „Ja, es handelt sich um einen Mann. Ich lernte ihn auf einem medizinischen Symposium des Instituts für Körperkultur und Sport kennen. Zuerst interessierte er mich natürlich nur rein fachlich, aber als ich dann seine Lebensgeschichte näher kennenlernte, erregte er meine Teilnahme und – ich gebe es zu – auch meine Neugier. Sein Schicksal ist wirklich ungewöhnlich. Trotz einer verworrenen Kindheit, trotz der Tatsache, daß er schon früh seine Eltern verlor, hatte er es geschafft, die Sportschule zu besuchen, das Abitur zu machen und ein ausgezeichneter Leichtathlet zu werden. Nach jahrelangen Mühen stand er dann endlich vor seinem ersten großen Erfolg. Und ausgerechnet in diesem Moment erlitt er beim Training einen Herzmuskelriß. Hätte ihn dieser Schicksalsschlag nicht getroffen, wäre er wahrscheinlich ein paar Tage später Europameister im Zehnkampf gewesen. – Als er Monate danach aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er nur noch ein halber Mensch. Von Sport keine Rede mehr. Jede körperliche Anstrengung, jede Aufregung mußte er vermeiden. Doch am schwersten zu ertragen war wohl für ihn die unsagbare Enttäuschung. All die Entbehrungen, die Selbstdisziplin, die harte, auf ein einziges Ziel gerichtete Arbeit, all das war vergeblich gewesen, alle seine Hoffnungen waren zunichte. Ich begann 54
mich um ihn zu kümmern, versuchte ihn zu trösten, ihm neuen Lebensmut zu geben. Denn Wolfgang und ich, wir sind ja beide Pechvögel, und das verbindet auf eine gewisse Weise. Ich glaube sogar, ich liebe ihn. Verstehen Sie das?“ „Ja“, sagte ich, „ich verstehe das.“ Ich verstand überhaupt nichts, war wie vor den Kopf geschlagen. Was ging hier eigentlich vor? Sportschule, Europameisterschaft, Herzmuskelriß? Davon hatte er mir kein Wort gesagt. Sie nannte ihn Wolfgang, sie liebte ihn. War meine Eifersucht also doch kein Hirngespinst? Wie kam er zu dieser Frau? Was konnte sie ihm bedeuten? Sie hatte zwei Kinder, war bestimmt weit über vierzig, wirkte streng und reizlos. Und warum hatte er mir das alles verschwiegen? Meine Gedanken verwirrten sich, Eifersucht und Verzweiflung drohte mich zu überwältigen. Ich umklammerte mit beiden Händen meinen Kugelschreiber, versuchte mit aller Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren, mir nichts von meinen Gefühlen anmerken zu lassen. Doktor Zimmermann hatte weitergesprochen. Ihre Stimme drang zu mir wie durch eine Wattewand. „Natürlich hat der Leistungssport seine ganze Kraft in Anspruch genommen, die übrige Entwicklung war dabei logischerweise zu kurz gekommen. Die Männer seines Jahrgangs haben einen großen beruflichen Vorsprung, und das entmutigt ihn natürlich sehr. Er ist nämlich ein recht sensibler, ja zuweilen sogar labiler Mensch. Ich war selbst erstaunt, als ich das entdeckte, denn nach außen macht er einen entschlossenen und durchweg selbstbewußten Eindruck.“ Ich hatte mich wieder halbwegs in der Gewalt. „Heute steht doch niemand mehr allein“, sagte ich. „Schon gar nicht in einem solchen Fall.“ „Sicher. Er bekam ja auch Unterstützung von seiner Sportgemeinschaft, von den sozialen und staatlichen 55
Einrichtungen, aber Sie wissen doch, auf die Dauer kann man sich nur selbst helfen. Was er braucht, ist Energie und einen starken Willen zur Selbstbehauptung. Ich fürchte allerdings, er wird beides nicht aufbringen können, wenn er nicht eine verständnisvolle und zugleich konsequente Partnerin zur Seite hat.“ Am liebsten hätte ich sie nach Einzelheiten gefragt, wie er aussieht zum Beispiel oder wie er mit Nachnamen heißt, aber ich bezwang mich. Ich würde meine Karten nicht aufdecken, ich würde es auch so herausfinden. Ich wollte von ihm die Wahrheit hören und nicht von dieser Fremden. Der Gedanke ernüchterte mich vollends. „Und wie steht es mit Ihnen?“ konnte ich kühl und scheinbar ohne jede Beteiligung sagen. „Wären Sie nicht die richtige Partnerin für ihn? Oder ist Ihre Zuneigung nicht groß genug, um diese Belastung auf sich zu nehmen?“ „Ich sagte ja schon, ich liebe ihn. Und ich traue mir auch zu, ihm helfen zu können. Andererseits, ich bin nicht mehr zwanzig, es besteht ein ziemlich großer Altersunterschied zwischen uns. Und ich habe zwei Töchter, die auch meine Liebe brauchen, für deren seelische und geistige Entwicklung ich verantwortlich bin. Darf man unter diesen Umständen nur an das eigene Glück denken, muß man da nicht sorgfältig und gründlich prüfen, ob eine neue Bindung für alle Beteiligten von Vorteil ist?“ Sie schwieg und starrte in ihre Kaffeetasse. „Andererseits: Ich weiß, es ist für mich wahrscheinlich die letzte Chance, noch einmal einen Mann zu bekommen. Der Beruf nimmt mich arg in Anspruch, so daß ich kaum Gelegenheit habe, Bekanntschaften zu machen. Und überhaupt, Männer in meinem Alter, die obendrein auch noch zu mir passen würden, gibt es so gut wie gar nicht mehr. Die was taugen, sind verheiratet. Die anderen suchen allenfalls ein amouröses Abenteuer. Und selbst wenn das nicht zuträfe, wäre ich nicht in der 56
Lage, eine Ehe auseinanderzubringen. Das verbietet mir einfach meine christliche Grundhaltung. Falls ich also Wolfgang aufgeben würde, bliebe mir kaum noch etwas zu hoffen. Es wäre lächerlich, wenn ich mir da Illusionen machen wollte.“ „Sind Sie wirklich sicher, daß auch er Sie liebt?“ „Natürlich bin ich sicher“, sagte sie und nickte heftig. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie so sicher war, wie sie gern gewesen wäre. „Darf ich noch etwas fragen?“ „Bitte“, sagte sie. Ich wußte es im voraus, daß es Wahnsinn war, ihr eine solche Frage zu stellen. Und dennoch, ich konnte mich nicht beherrschen, irgendein Zwang trieb mich dazu. „Hat er Ihnen nur gesagt, daß er Sie liebt, oder gibt es dafür auch – Tatsachen?“ Sie sah mich unbeweglich an. „Wie meinen Sie das?“ „Ich meine – nun, Sie sind eine erwachsene Frau, Sie hatten einen Mann, Sie haben Kinder. Auch wenn Sie nicht mit ihm verheiratet sind, so sind Sie schließlich nicht aus Holz.“ „Ich verstehe noch immer nicht.“ Ich mußte sie zu einer Antwort zwingen, ich mußte unbedingt Gewißheit haben. Ich sagte: „Sie behaupten also, er liebt Sie. Dann gibt es doch gewiß intime Beziehungen zwischen Ihnen, nicht wahr? Ja oder nein?“ Ihr Gesicht erstarrte. Sie schien überhaupt nichts zu begreifen, doch es ging gegen ihre Selbstachtung, sich in eine Lüge zu flüchten. „Ja“, sagte sie. „Aber wer sind Sie eigentlich? Was gibt Ihnen das Recht, mir derartig unverschämte Fragen zu stellen?“ Ich schwieg und senkte den Blick. „Es war eine große Dummheit von mir, mich mit Ihnen in ein Gespräch einzulassen. Ich wünsche Sie nie 57
wieder zu sehen. Und ich verbiete Ihnen, über mein Leben auch nur eine einzige Zeile in die Zeitung zu bringen.“ Sie sprang mit einer heftigen Bewegung auf, knallte ein Fünfmarkstück auf den Tisch und ging.
18 „Da ist noch etwas, Frau Doktor Zimmermann“, sagte der Staatsanwalt. „In Ihrer ersten Aussage erwähnten Sie ein Gespräch mit einer jungen Dame, die sich als Reporterin ausgab. Das war aber bloß ein Vorwand. In Wahrheit interessierte sie sich offenbar nur für die Beziehung, die zwischen Ihnen und Wolfgang Hellberger bestand.“ „Ja, das ist wohl richtig.“ „Sie hat uns inzwischen erklärt, welche Gründe sie für dieses Versteckspiel hatte. Aber vielleicht ist es nur die halbe Wahrheit, vielleicht führt sie uns auch an der Nase herum. Deshalb würden wir gern wissen, wie Sie über diese Begegnung denken und über diese Frau.“ „Um es gleich vorweg zu sagen, ich hatte von Anbeginn kein gutes Gefühl.“ „Wieso? Hatten Sie denn gleich den Verdacht, daß Sie hinters Licht geführt würden?“ „Nein, das nicht. Die Person war mir zunächst nur unsympathisch. Ich mußte dann das Gespräch sogar abbrechen, weil sie im höchsten Grade indiskret wurde. Und als ich am Abend noch einmal in Ruhe darüber nachdachte, kam mir allerdings ernsthaft der Verdacht, ob ich nicht etwa einer Schwindlerin aufgesessen war.“ „Haben Sie mit Hellberger darüber gesprochen?“ „Leider nicht. Ich konnte einfach keinen Grund dafür finden, warum sie mich belogen haben sollte. Im ersten 58
Ärger wollte ich mich sogar an die Redaktion wenden, für die sie zu arbeiten vorgegeben hatte. Aber nach ein paar Tagen erschien mir das dann alles nicht mehr so wichtig. Heute mache ich mir die heftigsten Vorwürfe, daß ich es nicht getan habe. Sicher wäre sonst das Unglück verhindert worden.“ „Verhindert worden? Können Sie das etwas deutlicher erklären, Frau Doktor Zimmermann?“ „Nach meiner Überzeugung ist die eigentliche Schuldige an Wolfgangs Tod diese sogenannte Reporterin. Ihr selbstsüchtiger Charakter und ihre gekränkte Eitelkeit haben sie dazu verleitet, mit Hilfe von Täuschung, Betrug und anderen unwürdigen Machenschaften die Frauen, die mit Wolfgang bekannt waren, auszuhorchen. Ohne diese tückische Methode wäre Frau Ballhorn gewiß nicht auf den Gedanken gekommen, ein solches Verbrechen zu begehen.“ „Nun, nun, Wolfgang Hellberger ist zweifellos auch nicht ganz schuldlos an seinem Schicksal. Sie selbst, Frau Doktor Zimmermann, hatten ja auch gewisse Zweifel an seiner Zuverlässigkeit. Sie nannten ihn sensibel und zuweilen sogar labil.“ „Nein“, erwidert Doktor Zimmermann heftig, „nein, das ist nicht wahr! Das kann nur ein Mißverständnis sein oder eine böswillige Verdrehung. Wolfgang besaß eine ausgeglichene und heitere Natur. Es gab für mich nie irgendeinen Zweifel an seiner grundsätzlichen Ehrlichkeit mir gegenüber. Unsere Ehe war eine beschlossene Sache. Wenn nicht dieses unglückselige Geschöpf mit seiner krankhaften Eifersucht dazwischengekommen wäre und in Wolfgangs Zufallsbekanntschaften herumgestochert hätte, dann wären wir inzwischen mit Sicherheit verheiratet.“ „Wollen Sie etwa damit sagen“, fragt Sommerfeld, „daß Sie auch heute noch, nach allem, was Sie über Hellberger erfahren haben, diesen Mann heiraten würden?“ 59
„Ja – warum denn nicht? Halten Sie mich für so wankelmütig und kleingläubig? Was ich über ihn erfahren habe, kann doch nichts ändern an meiner Einstellung zu ihm. Ich habe Wolfgang geliebt, und er liebte mich auch. Was wäre das für eine Liebe, die bei der ersten Belastungsprobe zerbricht? Nein, gerade jetzt hätte er mich gebraucht, und natürlich wäre ich an seiner Seite geblieben.“ „Aber er hat Sie doch mit kalter Berechnung hintergangen! Die Tatsachen beweisen es.“ Der Staatsanwalt schlägt auf den Aktenstapel mit den Aussagen. „Wie können Sie davor die Augen verschließen?“ „Was sind schon Tatsachen? Diese Tatsachen sind für mich nur Verleumdungen. Sie dürfen doch nicht alles glauben, was Ihnen Frauen aus Haß oder aus Enttäuschung erzählen. Ich hätte von Ihnen wirklich etwas mehr Objektivität erwartet. Wolfgang war ein lieber, zärtlicher und feinfühliger Mensch, in manchen Dingen des Lebens vielleicht sogar naiv. Zu seinem Unglück sah er auch noch gut aus. Ist es da ein Wunder, daß sich die Frauen wie Kletten an ihn hängten? Zwischen ihm und mir gab es doch keine Geheimnisse. Ich wußte ja, daß ihn auch noch andere lieben. Er hat mit mir darüber gesprochen, weil er nicht mehr wußte, was er tun sollte. Er war einfach zu empfindsam, er brachte es nicht übers Herz, diese einsamen, unglücklichen Wesen vor den Kopf zu stoßen, ihnen ins Gesicht zu sagen, daß er eigentlich nur Mitleid für sie empfand. Wenn man ihm überhaupt etwas vorwerfen kann, dann ist es seine Rücksichtnahme, seine Empfindsamkeit, sein Mangel an Brutalität.“ „Diese Empfindsamkeit hat ihn nicht daran gehindert, allein im Laufe eines Jahres von den Frauen, die ihm vertrauten, vierzigtausend Mark zu ergaunern.“ „Sie können nicht beweisen, daß er auch nur einen einzigen Pfennig verlangt hat. Man hat ihm das Geld 60
aufgedrängt. Und da er krank war, sich also in einer Notlage befand, hat er es in gutem Glauben angenommen. Konnte er denn ahnen, daß die vermeintlich so selbstlosen Damen weiter nichts im Sinn hatten, als ihn mit diesem Geld an sich zu fesseln? Und jetzt, da er tot ist und sich nicht mehr wehren kann, wird auch noch der Versuch gemacht, sein Andenken zu beschmutzen und ihn zum Verbrecher zu stempeln. Das finde ich abscheulich. Ihnen bedeutet Wolfgang Hellberger nichts. Es ist Ihr Beruf, überall nur niedrige Beweggründe zu vermuten. Doch einen Grundsatz sollten Sie bei allem Eifer nicht über Bord werfen: De mortuis nil nisi bene.“ Heym und Sommerfeld sehen sich an. Der Staatsanwalt schüttelt verzweifelt den Kopf. Heym ist weniger beeindruckt. Er kennt aus seiner praktischen Arbeit viele ähnliche Fälle, bei denen es nicht einmal gelungen war, die Frauen auch nur zu einer Aussage zu bewegen. „Haben Sie bei dem Gespräch mit der Reporterin erfahren, daß sie ähnliche Besuche bei den anderen Frauen vorhatte?“ wendet er sich an Doktor Zimmermann. „Nein. Sie erwähnte zwar eine Liste alleinstehender Frauen, aber ich hatte natürlich keine Ahnung, was sie wirklich im Schilde führte, daß dieses ganz Unternehmen gegen Wolfgang gerichtet war. Sonst hätte ich ihn natürlich gewarnt.“ „Welche von den anderen Frauen kannten Sie eigentlich?“ „Dem Namen nach keine. Er hat mit mir nur ganz allgemein darüber gesprochen.“ „War Ihnen Meiningen im Zusammenhang mit Herrn Hellberger ein Begriff?“ „Ich glaube kaum. Von der Existenz dieser Ballettänzerin habe ich erst nach seinem Tode gehört.“
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19 Ich saß im halbdunklen Zuschauerraum, ziemlich weit hinten, auf dem äußersten Platz in einer leeren Reihe. Die Bühne lag im Arbeitslicht. Seitlich an der Rampe stand ein Klavier, auf dem ein dünner Mensch mit haarsträubender Geduld immer wieder die gleichen Takte spielte. Das Ballett in seinen schwarzen und fleischfarbenen Trikots krebste wirr durcheinander. „Halt!“ brüllte der Regisseur. „Mehr Dekadenz! Luxus und Dekadenz! Könnt ihr das nicht kapieren?“ Man kehrte seufzend in die Ausgangsstellung zurück. Ein neuer Anfang, wieder verpfuscht. „Wo ist die Ballettmeisterin?“ schrie der Regisseur. Eine Minute verging. Dann kam eine Frau aus den Kulissen, schob die strickenden Chordamen in den Hintergrund und ordnete ihre Tanzgruppe. Sie flüsterte mit dieser und jenem, machte ein paar bedeutungsvolle Gesten, demonstrierte einige Figuren. Dann gab sie ein Zeichen, der Mann am Klavier begann mit seiner Melodie, der Chor erwischte den Einsatz, das Ballett tanzte. Und plötzlich sah die Sache nach etwas aus. Trotzdem werde ich nie begreifen, wie es diese Hühner fertigbringen, aus ihren mageren Körperchen so viel Eleganz und Grazie hervorzuzaubern. Die Ballettmeisterin stieg von der Bühne und kam auf mich zu. Sie hatte kräftige Waden, einen flachen Busen und eine zu große Nase, die ihrem Gesicht etwas Raubvogelhaftes gab. „Schmidt-Rohloff“, sagte sie und reichte mir die Hand. „Sie sind die Kollegin von der Presse, nicht wahr? Wenn’s recht ist, setzen wir uns in die Kantine.“ Die Kantine lag im Keller. In ihren Räumen hatte der Jugendstil die Zeiten überdauert. Wir suchten uns einen Platz in einer abgelegenen Ecke, in der Hoffnung, dort möglichst ungestört zu bleiben. 62
Schon während der Probe hatte ich mir Gedanken gemacht, wie ich das Gespräch beginnen könnte, um meiner Rolle als Journalistin gerecht zu werden und nicht wieder einen Fehler zu machen. Es war mir nichts Vernünftiges eingefallen, doch beim Anblick der Szenenfotos an den Kantinenwänden erinnerte ich mich, daß ich einmal bei Peter einen längeren und sehr heftigen Disput über die Meininger Theatertradition hatte anhören müssen, ohne daß ich wußte, worum es dabei eigentlich gegangen war. Es brachte mich aber auf die Idee, nach dem Ursprung dieser Tradition zu fragen. Die Schmidt-Rohloff lachte. Offenbar war ich nicht die erste, die danach fragte. Sie erklärte mir, daß die Meininger berühmt geworden waren vor etwa hundert Jahren durch ihren Theaterherzog, offiziell Georg II. von Sachsen-Meiningen. Er hatte eine Theaterreform begonnen, um durch Detailtreue von Bühnenbild und Kostümen und durch die Sorgfalt der Inszenierungen das klassische Drama zu erneuern. Und das gelang ihm auch. Europa horchte auf. Die Meininger machten viele erfolgreiche Gastspielreisen, sogar nach Wien, Paris und Moskau. Daß bei diesem Aufwand für das Theater das sachsenmeiningische Staatssäckel schwindsüchtig wurde, hat heute keine Bedeutung mehr, der Ruhm dauert fort. „Woran man sieht“, sagte die Ballettmeisterin, „daß Kunstbegeisterung nicht die schlechteste Art ist, die Staatsfinanzen zu ruinieren. Doch die Zeiten der alten Meininger sind längst vorbei. Sie erlagen ihrem Erfolg und ihren Nachahmern, die den ursprünglichen Geist nicht begriffen und in die vielgeschmähte Meiningerei, in hohles Pathos und Naturalismus verfielen. So etwas geschieht unausweichlich. Wir sehen es daran, wie unsere heutigen Dummköpfe die Brechtsche Art des Theaterspielens durch geistlose Nachahmung der äußeren Effekte verhunzen und in Verruf bringen.“ Ich wollte kein kunstästhetisches Gespräch in Gang 63
setzen. Um das Thema zu wechseln, nickte ich zustimmend und fragte: „Wie kamen Sie zum Theater, Frau Schmidt-Rohloff? War es eine Berufung?“ „Der Teufel weiß es. Als ich am Theater anfing, war ich ja noch ein halbes Kind, gerade erst achtzehn. Damals glaubte ich wohl an eine Berufung. Ich hatte vier Jahre Ballettschule hinter mir und einen brennenden Ehrgeiz im Leib. Eine zweite Ulanowa wollte ich werden, wenn Sie wissen, wen ich meine. Doch heute danach gefragt, kommt mir das Gerede über die Berufung zum Künstler recht zweifelhaft vor. Tänzerin zu sein oder Schauspieler ist ein Beruf wie jeder andere. Man muß immer wieder lernen und ziemlich hart arbeiten. Ich jedenfalls wurde Tänzerin mehr oder weniger durch Zufall, wie eben bei vielen Dingen in unserem Leben der Zufall eine große Rolle spielt. Natürlich darf ich das nicht laut sagen, die meisten meiner Kollegen würden mich dafür steinigen, schon allein wegen Entweihung ihres Künstlertums. Und das muß man auch wieder verstehen. Sie haben einen schweren Beruf und verdienen dabei relativ wenig, also wollen sie wenigstens die Ehre haben und sich einbilden dürfen, daß sie etwas Besonderes sind.“ „Sie haben sehr früh geheiratet. Wie ich hörte, Ihren Intendanten.“ „Ganz recht, den Herrn Intendanten. Am Theater ist das ein Wesen gleich nach dem lieben Gott. Ich bin ihm nachgerannt wegen einer kleinen Rolle, buchstäblich auf Schritt und Tritt, ohne mir sonst etwas dabei zu denken. Er faßte es natürlich anders auf. Er dachte, ich sei in ihn verliebt, weil ich ihm schöne Augen machte. Er verführte mich im Handumdrehen, und am Ende meiner ersten Spielzeit waren wir schon verheiratet. Ich merkte bald, die große Liebe war es nicht, aber ich wollte nun einmal unbedingt Karriere machen, ich kluges Kind. Für einen Solopart hätte ich mein linkes Auge gegeben. Leider wurde es nichts mit der Karriere.“ 64
„Warum denn nicht? Als Frau des Intendanten ist man doch konkurrenzlos. Eine Art absolute Fürstin.“ „Das schon. Aber mein Gemahl war verrückt nach Kindern, er wollte unbedingt Kinder haben oder wenigstens erst mal eins. Und ich war noch zu unerfahren, ich ahnte nicht, was es für eine Tänzerin bedeutet, ein Kind zu bekommen. Als es schließlich geboren war, saß ich zwischen Windeln und tausend anderen Hausfrauenpflichten. Mein Mann erwartete anständiges Essen, saubere Hemden, ein gemütliches Familienleben. Das war ihm bedeutend wichtiger als meine Träume von der Primaballerina. Nach zwei Jahren konnte ich dann mit dem Tanz wieder anfangen, aber da war ich hoffnungslos aus dem Training. Ende der Kletterstange.“ Die Kantine begann sich zu füllen. Frau SchmidtRohloff blickte auf. „Schon wieder Pause“, sagte sie. In Schwärmen kamen die Künstler herein, umlagerten die Theke, nahmen Teller mit Bockwurst und Kuchen in Empfang und ließen sich an den Tischen nieder. Ein junger Mann im schwarzen Trikot stellte seine Kaffeetasse auf unseren Tisch. „Tschuldige, Angela, muß dich was fragen. Irrsinnig dringend.“ Er nickte mir flüchtig zu und nahm Platz. „Gib mir doch mal rasch einen Rat. Wo früher der flaschengrüne Samt war, im Gang zum Bad, da hab’ ich jetzt einen zauberhaften Perlenvorhang. Und rechts daneben, auf der Wand mit der Biedermeiertapete, genau an der Stelle, wo jetzt das Meißen mit dem Drachenmuster hängt, ob da nicht zwei gekreuzte Samuraischwerter hinpassen? Ich dachte mir, das wäre vielleicht etwas frischer. Du hast doch Geschmack.“ „Schon möglich.“ „Und auf der anderen Seite …“ „Hör mal, Ingo, können wir nicht später darüber reden? Ich habe hier im Augenblick ein Gespräch.“ „Bereits verstanden.“ Ingo lehnte sich zurück, durch65
bohrte mich sekundenlang mit seinen Blicken und ließ sich plötzlich vornüber auf die Hände fallen. „Mosquito!“ sagte er und schritt im Handstand davon. Frau Schmidt-Rohloff lächelte. „Ein bißchen exzentrisch. Aber sonst ein ganz Lieber. Wo waren wir stehengeblieben? – Ach ja, kurzum, das Leben als Hausputtel füllte mich nicht aus, ich war recht unglücklich und fand doch nicht die Kraft für einen neuen Anfang. Eines Tages brachte mein Mann einen Dichter ins Haus. Sie wollten zusammen ein Stück schreiben. Er war in meinem Alter, wir verstanden uns auf Anhieb. Er war nett, er hatte Einfälle, und er hatte auch mehr Zeit für mich, er war ja freischaffend. Erst spielte ich nur mit dem Gedanken, mich in ihn zu verlieben, dann verliebte ich mich wirklich, und die Katastrophe nahm ihren Anfang. Das heißt, zuerst sah es aus wie das große Glück. Wir trafen uns, fuhren mit dem Auto über Land und schmiedeten Pläne, malten uns eine gemeinsame Zukunft aus. Natürlich bekam mein Mann heraus, was gespielt wurde. Es packte ihn eine rasende Eifersucht. Er machte mir Szenen. Die Frühstückseier, die Leber, die Heringe flogen durch unsere Küche. Er war nämlich ein Choleriker, müssen Sie wissen. Eine Weile ließ ich mir alles gefallen, vielleicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Dann gingen mir seine Tobsucht und die nächtelangen Diskussionen so auf die Nerven, daß ich selber unausstehlich wurde. Es war ein unerträglicher Zustand. Das Kind hatte ich zu den Schwiegereltern gebracht, weil ich befürchtete, er würde ihm in seinen blinden Wutanfällen etwas antun. Ich begann meinen Mann zu hassen, oder jedenfalls bildete ich mir ein, ihn zu hassen. Plötzlich störten mich eine Unzahl Dinge, die mir vorher kaum aufgefallen waren. Seine gierige Art zu essen zum Beispiel. Sein Schnar66
chen. Seine ungepflegten Zähne und seine Anzüge mit den zu weiten Hosen. Und am meisten haßte ich seine unermüdlichen Versuche, mich wieder in sein Bett zu zerren. All das hätte ich irgendwie durchgestanden, wenn sich nur ein Ende abgezeichnet hätte. Aber mein Dichter konnte sich nicht entscheiden. Er hatte eine junge Frau und einen kleinen Sohn, und es fiel ihm offenbar schwer, die beiden im Stich zu lassen. Er schlich wie die Katze um den heißen Brei, wurde mit seinen Problemen nicht fertig und demzufolge auch nicht mit seinem Roman. Er machte sich Vorwürfe, er machte Schulden, er verkrachte sich mit seiner Frau und klagte mir stundenlang sein Leid. Er wollte heute in die Berge fliehen und morgen an die Ostsee. In Wirklichkeit geschah nichts. Es mußte aber etwas geschehen, wenn ich nicht vor die Hunde gehen wollte. So kam ich auf den genialen Einfall, zu einem Anwalt zu gehen. Wenn ich erst mal geschieden bin, dachte ich, würde er begreifen, wie ernst es mir mit unserer Liebe ist. Ich verließ also Mann und Kind, meine Wohnung, meine gesicherte Existenz. Denn ich war felsenfest davon überzeugt, das würde ihn aufrütteln, würde seiner Entschlußkraft den nötigen Stoß geben. Es gab ihr auch einen Stoß, nur in die falsche Richtung. Er bekam Angst vor der eigenen Courage. Er liebe mich, wie er mir versicherte, aber er könne es nicht durchstehen. Der ganze Ärger mit der Scheidung und dem Gericht, der Krach mit der Familie und mit seiner Frau, schon der Gedanke daran sei zuviel für ihn. So flüchtete er zurück zu Weib und Kind. Es war die größte Enttäuschung meines Lebens.“ Sie schwieg, das Kinn in die Hände gestützt, und blickte ins Leere. Ihre Haltung erinnerte mich an ein Bild von Picasso. Eine alternde Artistin, abgearbeitet, die Ellbogen auf dem Kneipentisch. Ein Mann in einem grauen Kittel riß die Tür auf. „In 67
zwanzig Minuten Kostümprobe!“ schrie er in die Kantine und hastete wieder hinaus. Frau Schmidt-Rohloff strich das Haar aus der Stirn und sah mich an. „So ist das Leben“, sagte sie. „Natürlich hätte ich nun gern meinen Intendanten wiedergehabt. Es spielte keine Rolle mehr, wie er aussah und wieviel Klöße er verschlang. Er war ein Mensch, der mich brauchte und auf dessen Liebe ich mich verlassen konnte. Was hätte ich darum gegeben, hinter seinem Rücken Schutz zu finden und meine wunde Seele zu pflegen. Doch der Zug war verpaßt. Ich hatte ihn zu tief gekränkt, oder er konnte nicht allein sein. Jedenfalls hatte er sich schnell ein Nachwuchstalent gesucht, und ich stand da, allein, ohne Geld, ohne Freunde, ein Opfer meiner Verblendung … Ich suchte mir ein Engagement an einem anderen Theater, begann zu arbeiten, notgedrungen zuerst, bis ich entdeckte, daß Arbeit das beste Heilmittel ist. Ich schuftete Tag und Nacht und schonte niemanden, weder mich noch meine Kollegen. Dabei blieb mir wenigstens keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit für ein Privatleben und erst recht keine Zeit für Männer. Um diese Halunken machte ich einen großen Bogen.“ „Sie sagen, machte ich einen Bogen. Darf man daraus schließen, daß sich Ihre Einstellung geändert hat?“ „Ja, das darf man“, sagte sie lächelnd. „Kommen Sie, ich muß mich umziehen.“
20 Die Garderobe war eine winzige Kammer, in der es faszinierend nach Schminke, Mastix und Puder roch. Frau Schmidt-Rohloff bot mir einen Klappstuhl an, mit dem ich gerade noch Platz fand zwischen dem Schminktisch und einem von Kostümen überquellenden Kleiderständer. 68
„Im vergangenen Jahr“, sagte sie, „hatte ich zum erstenmal wieder richtigen Urlaub. Beschluß der Gewerkschaft. Mußte fahren, ob ich wollte oder nicht. Hiddensee, kennen Sie sicher, eine herrliche Insel. Ich liebe ja das Meer über alles. Eine Woche saß ich allein am Strand, las oder sonnte mich, ging allein essen, ging allein spazieren. Im Laufe der Jahre hatte ich nämlich schon fast vergessen, daß ich eine Frau war. Und dann passierte ein Wunder. Ein Mann kam, legte sich neben meinen Strandkorb, und ich verknallte mich in ihn wie ein Teenager. Als ich begriffen hatte, was los war, mein Gott, da war ich ganz schön durcheinander. – Verdammt, jetzt geht auch noch der Knopf ab!“ Sie zerrte sich das Kleid vom Leibe, in das sie sich gerade hineingeschlängelt hatte, öffnete ein paar Schubkästen, fand ein Körbchen, setzte sich wieder vor den Schminktisch und begann zu nähen. „Hoffentlich hat es sich gelohnt“, sagte ich leise. Ich fühlte mich beklommen. Ich hatte Angst vor ihrer Antwort. „Und ob es sich gelohnt hat“, sagte sie unbekümmert. „Wolfgang ist wirklich ein Prachtkerl, ganz anders als die anderen Männer, die ich bisher kannte. Keiner von diesen exaltierten Affen, die immer nur von sich selbst reden, keine Komplexe, kein Angeber. Einfach ein Mensch, mit dem man sich vernünftig unterhalten und mit dem man sogar lachen kann. Er wirkt erstaunlich erwachsen, trotz seiner Jugend. Das hat mich besonders überrascht.“ „Was hat Sie denn daran überrascht?“ fragte ich blöde. Ich senkte den Kopf und suchte in meiner Handtasche nach einem Taschentuch. Ich wollte, daß sie weitersprach. Sie durfte nicht bemerken, wie verzweifelt ich war. Sie bemerkte es nicht. „Überrascht hat es mich nur auf den ersten Blick. Als er mir erzählte, wie es ihm ergangen 69
ist, wurde mir alles klar. Es hat ihn nämlich ganz schön erwischt. Er kann von Glück sagen, daß er überhaupt durchgekommen ist mit seinem kaputten Herzen.“ Ich brauchte meine ganze Kraft, um die Tränen zurückzuhalten. Also auch bei ihr hatte er auf Mitleid spekuliert, genauso wie bei Hannelore Zimmermann. Warum eigentlich? Hatte er das nötig? Weshalb aber hatte er bei mir nichts von seinem kranken Herzen erwähnt? Was hatte das alles für einen Sinn? Ich begriff überhaupt nichts mehr. „Jetzt ist er allerdings über den Berg“, sagte Frau Schmidt-Rohloff, während sie damit beschäftigt war, das Kleid über den Kopf zu ziehen. „Hat in Berlin eine Bombenstellung. Er spricht nicht gern darüber, macht nur hin und wieder eine Andeutung. Aber ich bin auch nicht besonders neugierig auf seine Berufsgeheimnisse. Soweit ich es verstanden habe, handelt es sich um vertrauliche Aufgaben. Er ist so etwas wie ein diplomatischer Kurier im Außenministerium. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt einen Menschen ausfüllen kann – immer unterwegs sein, nur ewig herumreisen. Doch in ein, zwei Jahren ist es ja damit sowieso aus. Dann heiraten wir, und er bekommt eine Arbeit, bei der er zu Hause bleiben kann.“ „Sie wollen ihn heiraten?“ stammelte ich hilflos. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, alles verwirrte sich. Eifersucht, Haß, Verzweiflung, ich drehte mich in einem Wirbel widerstreitender Gefühle. Dann hörte ich sie lachen. „So eilig ist es nicht. Ich habe ihm erst einmal ein Auto gekauft, damit wir uns ein bißchen öfter sehen können. Wenn er immer mit der Bahn kommen soll, das kostet zuviel Zeit. Und was soll ich mit dem Geld? Es liegt doch nur auf der Bank, und andere bauen sich Häuser davon.“ Geld? Was hatte sie von Geld gesagt? Wieso kaufte sie ihm ein Auto? Verdiente er denn selbst nicht genug? 70
Offenbar nicht. Sie aber mußte es annehmen, denn sie wußte ja nichts von den anderen Frauen, von denen er ebenfalls Geld bekam. Und mit dem er bei ihr den Mann mit der gutbezahlten Stellung spielte. Er ließ sich aushalten, das war die Quelle seines Wohlstandes. Nicht um Liebe ging es ihm, es ging um Geld. „Was ist denn mit Ihnen, ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja ganz grün aus.“ Frau Schmidt-Rohloff ließ die Puderquaste sinken und sah mich kritisch an. „Es geht schon wieder“, sagte ich. „Wie gut kennen Sie eigentlich Ihren Freund? Sie haben ihm ein Auto geschenkt. Und wenn er Sie nun sitzenläßt? Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, auf was für ein Risiko Sie sich eingelassen haben?“ „Sitzenläßt? Risiko? Mein Gott, Kleines, was reden Sie denn da? Ich verfüge schließlich über ein bißchen mehr Lebenserfahrung als Sie, und ich sage Ihnen, es gibt keinen besseren.“ „Wann haben Sie ihn denn zum letztenmal gesehen?“ „Das ist jetzt fast sechs Wochen her. Ich sagte ja schon, er hat viel im Ausland zu tun. Und dort verfügen andere Leute über seine Zeit, es hängt eben nicht von ihm ab, wann er wieder nach Hause kommt. Aber daran bin ich schon gewöhnt.“ Sie war schon daran gewöhnt, sie hatte nicht den geringsten Verdacht, sie ahnte überhaupt nicht, was mit ihr geschah. Ich hielt es nicht länger aus, ich mußte ’raus aus dieser Enge, ’raus an die frische Luft, bevor ich erstickte, ganz egal, was sie von mir dachte. Ich sprang auf und stürzte zur Tür. „Was ist denn los?“ fragte sie. „Wohin wollen Sie?“ „’raus. Mir ist übel. Eigentlich sind Sie mehr schuld als er. Sie mit Ihrer hirnverbrannten Leichtgläubigkeit.“ Sie riß die Augen auf und öffnete den Mund. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte ich die Tür von außen zugeschlagen. 71
21 Ich war also auf einen Heiratsschwindler hereingefallen! Auf einen Kerl, der sich an einsame Frauen heranmachte, der seine Liebe verkaufte, der einen schmutzigen Gewinn herausschlug aus der Einsamkeit und der Sehnsucht nach Glück. Mir, ausgerechnet mir mußte so etwas passieren. Ich ballte die Fäuste. Wenn ich ihn jetzt gehabt hätte, hätte ich ihn erwürgt. Aber ich hatte ihn nicht. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, wo er sich umhertrieb. Vielleicht war er gerade wieder dabei, ein neues Opfer auf den Leim zu locken. Der Gedanke machte mich rasend. Hilflosigkeit war noch schlimmer als alle Qualen der Eifersucht. Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Hotel kam. Der Mann am Empfang sah mich neugierig an. Ich riß ihm die Schlüssel aus der Hand und rannte die Treppen hinauf. Als ich mein Zimmer aufschloß, merkte ich, daß mir die Tränen über das Gesicht liefen. Ich warf mich aufs Bett und heulte meinen Schmerz in die Kissen. Als ich endlich wieder zu mir kam, war es draußen schon dämmrig. Ich fühlte mich völlig erschöpft und so ausgelaugt, daß ich es kaum fertigbrachte, mich auszuziehen. Im Zimmer war es unerträglich heiß. Ich stand auf und öffnete die Balkontür. Laue Herbstluft drang herein. Ich schluckte zwei Schlaftabletten und legte mich wieder ins Bett. Einschlafen konnte ich trotzdem nicht. Die Tabletten bewirkten das Gegenteil. Mein Herz klopfte wild, meine Phantasie begann Purzelbäume zu schlagen. Warum? Warum tat er das? Warum nur? Er hatte doch einen richtigen Beruf, Münchmeyer und die Japaner waren keine Erfindung. Verdiente er nicht genug? Wie war er überhaupt dazu gekommen? War es Geldgier oder Leichtsinn oder Geltungssucht? Aber er war doch 72
nicht dumm. Konnte er sich nicht vorstellen, daß er mit seinem Schwindel früher oder später auf die Nase fallen würde? Vielleicht bildete er sich ein, klüger zu sein als andere, die Kriminalpolizei eingeschlossen. Immerhin handelte er überlegt, plante, wählte seine Opfer aus, spielte seine Rolle, erfand Geschichten, Ausreden, Lügen. Offenbar hielt er sich für einen begnadeten Sonderfall und dachte, ihm zuliebe würde der Zufall außer Kraft gesetzt. Der Zufall, der allen diesen Eseln eines Tages das Genick bricht. Ein Verbrecher kann noch so klug sein, er kann seine Pläne mit äußerster Geschicklichkeit und Präzision ins Werk setzen, das alles nutzt ihm gar nichts. Denn er muß außerdem auf Schritt und Tritt, bei allem, was geschieht, immer und immer wieder das Glück auf seiner Seite haben. Wenn er nur einmal Pech hat, wenn nur einmal durch einen albernen Zufall etwas schiefgeht, schon ist er verloren. Die Polizei ist dagegen immer im Vorteil, sie hat das Recht auf ihrer Seite und braucht deshalb das Glück nicht unbedingt. Sie hat Zeit, sie kann warten, sie kann Pech haben, sie kann sich sogar einen Fehler leisten, am Ende kommt der Erfolg. Es ist wie beim Würfeln, der Budenbesitzer gewinnt, weil er den Zufall nicht nötig hat. Der Lärm draußen wollte nicht aufhören. Motoren dröhnten, Reifen quietschten. Dieselgeruch hatte sich in meinem Zimmer ausgebreitet. Das Hotel lag an einer Hauptstraße, die Hauptstraße wurde von einer Fernstraße gekreuzt. Unten kamen Leute aus dem Restaurant. Ihre trunkenen Gesänge hallten weithin durch die Nacht. Oder hielt er sich gar nicht für einen Verbrecher? Vielleicht brauchte er das Gefühl der Überlegenheit und des Erfolges, um seine Enttäuschung, sein krankes Herz, seine Angst vor dem plötzlichen Tod zu vergessen? Von vielen Frauen begehrt zu werden, das Ziel ihrer Hoff73
nungen, ihrer Wünsche zu sein, vielleicht gab ihm das Selbstsicherheit, Lebenskraft? Und machte er sie nicht auch glücklich, brachte er nicht einen Sinn in ihr trostloses Dasein, Freude, Aufregung, Glanz, sei es auch nur für ein paar Monate, ein Jahr? Immer noch besser als nichts. Wenn sie dafür zahlten, war das nicht ihre Sache? Wo bekommt man im Leben etwas geschenkt? Ob darauf überhaupt sein Erfolg beruhte? Wer redet schon von Geld, wenn es um Liebe geht? Und wenn die Liebe vorbei ist, wenn man den Betrug entdeckt hat? Dann ist man unglücklich und enttäuscht, fühlt sich betrogen und hintergangen. In dieser Situation ist Geld erst recht etwas Nebensächliches. Soll man zur Polizei laufen, Aussagen machen, Protokolle unterschreiben, sich Ermahnungen und Vorwürfe anhören? Soll man sich vor den Nachbarn, den Kollegen, den Freunden lächerlich machen, weil man blind und dämlich war und auf einen Ganoven hereingefallen ist? Nein, wer die Selbstachtung und den Verstand nicht ganz verloren hat, wird sich hüten, seine Dummheit öffentlich auszuschreien. Man wird allein damit fertig werden, in den eigenen vier Wänden. Und mit der Zeit verblaßt dann das Häßliche, und die Erinnerung, die sanfte Lügnerin, hebt nur noch das Schöne hervor. Man wird geneigt zu verzeihen. Wohltuender Selbstbetrug schleicht sich ein, vielleicht sogar eine verrückte Hoffnung. Es war alles gar nicht so gräßlich und gemein, es war nur ein Unglück, ein Mißverständnis, höhere Gewalt hatte an allem schuld. Eines Tages wird er mit Blumen vor der Tür stehen, wird alles aufklären und ein neues … Nein, nein, das war ja der blanke Wahnsinn! Ich richtete mich auf und tastete nach dem Taschentuch, das irgendwo unter dem Kopfkissen liegen mußte. Was gingen mich eigentlich die anderen Frauen an? Die Frage war doch eigentlich nur, warum er sich mit mir eingelassen hatte. Was ich besaß, trug die Katze auf 74
dem Schwanz weg. Oder gingen seine Absichten in eine andere Richtung? Hatte er etwa sein Auge geworfen auf Mamas Kassette mit den Brillanten, Saphiren und Rubinen? Aber davon konnte er doch noch gar nichts gewußt haben, als er mich traf. Oder etwa doch? War vielleicht die Begegnung an jenem Märzmorgen, als er mich mit seinem Auto zur Messe fuhr, bereits geplant? Ich fing an zu spinnen, ich brauchte Bewegung. Ich zog mich an und ging hinunter. Der Nachtportier war hinter dem Empfangstisch eingenickt. Ich wollte ihn nicht stören und schlich auf Zehenspitzen an ihm vorbei. Weit kam ich nicht. Die Hoteltür war abgeschlossen, auch die Tür zum Hof. Ich mußte also doch den Portier wecken. Aber was sollte ich sagen? Er würde sicher eine Menge komischer Fragen stellen, und davor graute mir. Ich wanderte ein Weilchen durch die leeren Hotelgänge, stieg Treppen hinauf und hinunter, kehrte schließlich in mein Zimmer zurück und warf mich aufs Bett. Hexenhafte Schmidt-Rohloff-Gesichter. Megären in schwarzen Ballett-Trikots. Sie zerrten mich durch einen Gefängnisgang. Sie rissen die Zellentüren auf. In jeder Zelle saß Wolfgang. Ich mußte ihn ansehen. Immer wieder. Er trug Ketten und Sträflingskleider. Die Megären schlugen mit blechernem Scheppern die Zellentüren zu. Beng! – Beng! – Beng! Ich fuhr auf, schweißgebadet. Der Alptraum ging weiter, das blecherne Scheppern nahm kein Ende. Ich rannte hinaus auf den Balkon und sah mich um. Erstes Morgengrauen. Vor dem Seiteneingang des Hotels stand ein Lastwagen. Zwei Männer knallten mit Inbrunst leere Milchkannen auf die Ladefläche. Der Himmel war wolkenlos und versprach einen sonnigen Tag. Eine Lokomotive pfiff, im Park zwitscherten die Vögel. Irgendwo rauschte ein Flüßchen. Die Morgenluft auf dem Balkon tat mir gut. Ich atmete tief. Wolfgang war ein Krimineller, das war sicher. Genau75
so sicher war, daß ich zur Polizei gehen mußte, um ihn anzuzeigen. Oder war das vielleicht noch zu früh? Verdacht allein genügte ja nicht. Was wußte ich denn bis jetzt? Ich kannte erst zwei von den fünf Frauen, die auf seiner Liste standen. Die erste hatte überhaupt nichts von Geld erwähnt, die zweite hatte es freiwillig gegeben. Bisher existierte noch kein Beweis, daß er wirklich die Frauen um ihr Geld betrog. Wenn ich voreilig etwas unternahm, würde ich ihm nur Gelegenheit geben, seine Gemeinheiten zu vertuschen. Also war es klüger, noch zu warten. Suchte ich etwa auch schon nach Umständen, die ihn entschuldigten? Liebte ich ihn noch immer? War ich vielleicht genauso verrückt wie die anderen Weiber, die sich seinem Einfluß nicht entziehen konnten? Ich holte mir eine Zigarette, zündete sie an und dachte in Ruhe nach. Nein, ich würde heute nicht zur Polizei gehen. Das hatte noch Zeit. Erst mußte ich erfahren, wer die anderen Frauen waren, mußte hören, was sie über ihn zu sagen hatten. Ich ließ die Zigarette über die Brüstung fallen und wartete, bis sie unten auf dem Asphalt in einem Funkenregen versprühte. Dann ging ich zurück ins Zimmer und begann meinen Koffer zu packen.
22 „Gräßliche Hitze! Kaum zu glauben, wieviel Wärme so ein bißchen Holzfeuer hergibt.“ Sommerfeld macht den obersten Hemdknopf auf und lockert die Krawatte. „Ich fürchte, wir machen uns da etwas vor. Die Chancen, daß Ihre Täterin auf den Gedanken kommt, den Kugelschreiber ins Feuer zu werfen, stehen eins zu hundert.“ 76
Heym runzelt die Stirn. „Ich weiß, ich weiß“, sagt er. Er steht auf und öffnet einen Fensterflügel. „Man könnte natürlich ihre Gedanken in diese Richtung lenken“, fährt Sommerfeld fort. „Der Haken ist nur, sie darf dabei nicht den geringsten Verdacht schöpfen.“ „Das war mir klar von Anfang an. Ich muß aber diese winzige Chance nutzen, weil ich keine andere habe. Mit pessimistischen Prognosen ist mir nicht geholfen.“ „Schon gut“, lenkt Sommerfeld ein, „kommen wir zurück auf die Zeugenaussagen. Doktor Zimmermann können wir wohl mit einiger Sicherheit von der Liste der Verdächtigen streichen. Sie wußte weder etwas von dem Verhältnis Hellberger–Ballhorn, noch kannte sie Hellbergers Arbeitsstelle beim VEB Wirkwaren.“ „Das ist richtig. Das Entscheidende aber ist“, fügte Heym hinzu, „sie war an dem Tag, an dem Hellberger starb, nicht in Leipzig. Also kann sie auch nicht von dort in Neuruppin angerufen haben. Ihr Alibi schließt jeden Zweifel aus. Wir haben es gründlich überprüft.“ Sommerfeld lächelt sorgenvoll. „Ich weiß nicht recht, Genosse Heym, vielleicht überschätzen Sie doch die Bedeutung dieses Telefonanrufes. Im Grunde ist er ein sehr äußerliches Indiz, er steht mit der Tat in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Genausogut könnte dabei auch der berühmte Kommissar Zufall seine Finger im Spiel haben. Nur daß er diesmal für die Gegenseite arbeitet.“ „Es war kein Zufall“, sagt Heym mit Überzeugung. „Wie können Sie nur so sicher sein? Frau Ballhorn ist nach Ihrer Meinung nicht die Täterin. Also muß eine andere die Tabletten in das Röhrchen getan haben. Diese andere kann aber – ganz unabhängig von dem Telefonanruf – jede der Frauen gewesen sein, zu denen Hellberger Beziehungen hatte. Jede konnte sich die Tabletten beschaffen, und jede hatte ganz gewiß auch eine Gelegenheit, sie in das Röhrchen zu praktizieren.“ 77
„Das stimmt nicht ganz. Die Tabletten ins Röhrchen tun konnte wahrscheinlich jede. Viel schwieriger war es schon, in den Besitz der Tabletten zu kommen. Sie sind nämlich streng rezeptpflichtig.“ „Für eine Ärztin wie Doktor Zimmermann zum Beispiel kein Problem. Frau Ballhorn bekam sie verschrieben. Auch Frau Petersein aus Rostock hätte es nicht schwer gehabt. Sie ist doch Apothekerin, soviel ich weiß.“ „Ja, sie ist Apothekerin.“ „Daß drei der verdächtigen Frauen so leicht in den Besitz der tödlichen Tabletten gelangen konnten, spricht in gewissem Sinne ebenfalls gegen Ihre Theorie, nicht wahr? Oder können Sie mir sagen, woher Ihre Täterin die Tabletten bekommen hat?“ Heym schüttelt den Kopf. „Bisher ist es mir nicht gelungen, irgendeinen Hinweis darauf zu finden. Es gibt leider zu viele Möglichkeiten, weil das Medikament relativ häufig verschrieben wird. Gerade deshalb ist eben mein wichtigstes Indiz der Anruf. Aus dem Anruf lassen sich nämlich folgende Bedingungen für die Täterin ableiten: Sie muß Frau Ballhorn gekannt oder zumindest deren Telefonnummer gewußt haben. Zweitens: Sie muß gewußt haben, in welchem Betrieb Hellberger arbeitet. Drittens: Sie muß an dem Abend, als Hellberger starb, in Leipzig gewesen sein. Ich habe Ihnen ja bereits den Beweis vorgelegt, daß der Anruf aus einer öffentlichen Sprechzelle im Bahnhofspostamt Leipzig gekommen ist.“ „Augenblick bitte. Drei der Frauen bestreiten, den Namen Ballhorn vor Hellbergers Tod gehört zu haben. Aber woher wissen wir denn, daß sie uns die Wahrheit sagen, zum Beispiel in bezug auf die Telefonnummer von Frau Ballhorn oder in bezug auf Hellbergers Arbeitsstelle? Es gehört nicht viel dazu, und man hat beides in Erfahrung gebracht. Wenn man schuldig ist, wird 78
man aber logischerweise schweigen und diese Indizien nicht der Kriminalpolizei auf die Nase binden.“ „Sicher. Aber ich sagte ja bereits, meine Täterin muß nicht nur Frau Ballhorn und Hellbergers Arbeitsstelle gekannt haben. Sie muß auch – und das ist ganz wesentlich – am Abend des zweiten Oktober in Leipzig gewesen sein.“ „Also gut. Ich will für uns beide hoffen, daß Sie mit Ihrer Theorie recht behalten. Wen haben Sie jetzt auf Ihrem Programm?“ „Die Ballettmeisterin.“ „Dann herein mit ihr.“ Frau Schmidt-Rohloff tritt in gesammelter Haltung ein, Rücken gerade, Kinn gestreckt. Heym stellt sie dem Staatsanwalt vor. Sie nickt den beiden Herren würdevoll zu, nimmt Platz und schlägt die Beine übereinander. „Frau Schmidt-Rohloff“, beginnt Heym, „am Morgen des Tages, an dem Wolfgang Hellberger starb, kam er da zu Ihnen in die Theatergarderobe?“ „Ich sagte bereits bei unserem ersten Gespräch, daß ich mich daran nicht mehr genau erinnern kann. Es könnte auch ein oder zwei Tage früher gewesen sein.“ „Diese Zeitfrage hat inzwischen Bedeutung erlangt“, sagt Heym. „Wir haben uns deshalb Gewißheit verschaffen müssen, und wir haben sie auch bekommen. Es steht fest, Sie waren an diesem Morgen mit Hellberger in Ihrer Garderobe. Es gab eine heftige Auseinandersetzung. Hellberger wollte sich von Ihnen trennen.“ „Darf ich erfahren, Herr Oberleutnant, woher Sie diese Weisheiten haben?“ Heym greift in seine Aktentasche und zieht einen Schnellhefter heraus. „Es liegt die Aussage eines Herrn Ingo Süberling vor, Sie werden ihn kennen. Tänzer in Ihrer Ballettgruppe in Meiningen. Herr Süberling gibt die Einzelheiten, die ich Ihnen vorhalte, zu Protokoll. Er kann sich an das Datum 79
präzis erinnern, denn an diesem Tag fand die erste Ballettprobe zur ‚Fledermaus‘ statt. Er mußte Sie vertreten, Frau Schmidt-Rohloff, weil Sie kurz nach zehn Uhr mit Wolfgang Hellberger das Theater verließen.“ Heym legt einen zweiten Schnellhefter auf den Tisch. „Diese Aussage wird ergänzt durch Herrn Ehrenfried Mahler, Oberspielleiter für Oper und Operette am Meininger Theater. Herr Mahler erklärt, Sie hätten ihn am zweiten Oktober gegen zehn Uhr in einer dringenden Privatangelegenheit um Urlaub gebeten. Wollen Sie dem widersprechen?“ Frau Schmidt-Rohloff zuckt die Schultern. „Wenn das die beiden sagen, dann wird es schon stimmen.“ Heym nickt. „Dann erzählen Sie bitte, was geschah, nachdem Sie mit Hellberger das Theater verlassen hatten.“ „Wir sind nach Leipzig gefahren.“ „Hatte er Sie dazu aufgefordert?“ „Ich kann mich auch unaufgefordert in ein Auto setzen, das von meinem Geld bezahlt wurde.“ „Aus welchem Grund sind Sie mitgefahren?“ „Weil ich so nicht mit mir umspringen lasse. Er faselte irgend etwas von Trennung. Und als ich ihn fragte, warum, hatte er plötzlich keine Zeit und wollte verschwinden.“ „Sie fuhren also mit, um zu erfahren, warum er sich von Ihnen trennen wollte.“ „Ich bewundere Ihren Scharfsinn.“ „Danke. Haben Sie es erfahren?“ „Ich hörte nur das Übliche. Angeblich mußte er einen Lehrgang machen und danach wieder einmal ins Ausland. Er sagte, er hätte vorläufig keine freie Minute mehr und könne mir nicht zumuten, für unbestimmte Zeit auf ihn zu warten. Mir kam das alles irgendwie spanisch vor. Ich hatte das dumme Gefühl, es steckt eine andere Frau dahinter.“ „Hatten Sie einen konkreten Verdacht?“ 80
„Nein. Ich fragte ihn zwar, aber er wollte mir keine Antwort geben. Er lachte nur.“ „Sprachen Sie auch über die Schulden, die Hellberger bei Ihnen hatte?“ „Ja.“ „Um wieviel Geld handelte es sich?“ „Um zwanzigtausend. Er bot mir an, es in Raten zurückzuzahlen.“ „Waren Sie überhaupt bereit, sich mit einer Trennung abzufinden?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich wollte erst einmal Zeit gewinnen. Er hatte ja schon öfter derartige Anfälle, und es hat sich dann immer wieder eingerenkt.“ „Wollen Sie damit sagen, daß er auch diesmal gar nicht ernsthaft die Absicht hatte, die Beziehung zu Ihnen zu beenden?“ „Mein Gott, woher soll ich denn das wissen? So wie die Dinge stehen, werde ich darauf wohl niemals mehr eine Antwort bekommen.“ „Wie weit sind Sie mit Hellberger im Auto gefahren?“ „Bis nach Leipzig. Er brachte mich zum Opernhaus. Ich wollte die Gelegenheit für eine Engagementsverhandlung nutzen.“ „Wie sind Sie mit ihm verblieben?“ „Er sagte, er würde mir schreiben.“ „Wissen Sie, wohin Hellberger fuhr, nachdem Sie ausgestiegen waren?“ „Nach Berlin. Jedenfalls hatte er diese Absicht während der Fahrt geäußert.“ „Am Abend waren Sie wieder in Meiningen?“ „Ich hatte es vor. Leider verpaßte ich meinen Zug und kam deshalb erst am nächsten Vormittag zurück.“ „Haben Sie in Leipzig telefoniert?“ „Telefoniert? Nicht, daß ich wüßte.“ „Sie haben um achtzehn Uhr zwanzig im Postamt des Leipziger Hauptbahnhofs ein Gespräch angemeldet.“ 81
„Ach ja, richtig, das hatte ich vergessen. Ich wollte das Theater anrufen, um mich für mein Fehlen bei der Abendvorstellung zu entschuldigen. Aber die Verbindung kam nicht zustande. Das heißt, es dauerte mir zu lange, und ich zog die Anmeldung wieder zurück.“ „Statt dessen haben Sie dann ein Gespräch mit Neuruppin geführt.“ „Mit Neuruppin? Wieso denn? Warum sollte ich? Ich kenne ja überhaupt keinen Menschen in Neuruppin.“ „Hellberger ist an diesem Tag nicht nach Berlin gefahren. Er fuhr nach Neuruppin. Das wußten Sie doch, nicht wahr? Der Anruf bei Frau Ballhorn kam aus einer öffentlichen Fernsprechzelle im Postamt des Leipziger Hauptbahnhofs. Also überlegen Sie bitte sehr genau, was Sie mir jetzt antworten. Haben Sie am Abend des zweiten Oktober in Neuruppin angerufen?“ Frau Schmidt-Rohloff schlägt die Augen nieder und denkt einige Sekunden nach. Dann schüttelt sie heftig den Kopf. „Nein“, sagt sie. „Nein. Ich habe bestimmt nicht in Neuruppin angerufen.“
23 Es war eine dünnbesiedelte Vorstadtgegend, vorwiegend Schrebergärten mit Lauben, Garagen und Hühnerställen, hin und wieder auch mal ein richtiges Haus. Auf dem breiten Streifen zwischen der Fahrbahn und dem staubigen Fußweg wucherte Gras. Das Haus lag ziemlich weit hinten in einem großen Grundstück. Unter verwilderten Obstbäumen blühten Phlox und Goldrute. Ich drückte auf den Klingelknopf am Gartenzaun. Während der langen Bahnfahrt hatte ich mich nach 82
vielem Hin und Her zu dem Entschluß durchgerungen, ihr die Wahrheit zu sagen. Das schien mir die einzige Rechtfertigung zu sein für meinen Besuch. Vielleicht konnten wir uns auch gemeinsam überlegen, wie wir uns verhalten sollten, wenn wir Wolfgang wiedersahen. Eine junge Frau steckte ihren Kopf aus einem Fenster im Erdgeschoß. „Kommen Sie ’rein“, rief sie. „Sie sind doch die Journalistin, nicht wahr?“ Ein Weg aus roten Ziegelsteinen führte auf das Haus zu. Die junge Frau, sie mochte Anfang Zwanzig sein, kam mir entgegen, reichte mir die Hand und musterte mich dabei neugierig. Dann schob sie mich durch einen verglasten Vorbau in einen Flur und von dort in die Küche. Auf dem wachstuchbezogenen Tisch lagen zwei Netze mit Einkäufen, im Spülbecken und auf dem Herd stand schmutziges Geschirr. „Bin auch eben erst nach Hause gekommen“, sagte sie, „muß noch ein bißchen aufräumen.“ Sie band sich eine Schürze um und machte sich an die Arbeit. Ich stand etwas hilflos da. „Vielleicht sollte ich später noch einmal wiederkommen“, sagte ich. „Nicht doch! Mutter hat mich im Betrieb angerufen und gesagt, ich soll mich um Sie kümmern, falls sie noch nicht da ist. Sie wird aber jetzt jeden Moment auftauchen. Also nehmen Sie schon Platz.“ Sie deutete auf einen Küchenstuhl. „Dann sind Sie gar nicht Johanna Strempel?“ „Nee, ich bin Brigitte Strempel.“ „Am Telefon war das aber genau Ihre Stimme.“ „Da werden wir immer verwechselt, Mutter und ich. Nun nehmen Sie doch Platz.“ „Danke.“ Ich setzte mich. Eine Weile war es still. Nur das Geschirr klirrte, die Schranktüren klappten, und der Teekessel auf dem Gasherd begann zu summen. 83
„Ich muß erst mal was essen“, sagte sie. „Frisches Landbrot. Leberwurst auch ganz frisch. Wollen Sie auch?“ „Danke.“ Sie zuckte die Achseln, schnitt Brot ab, wickelte Wurst aus dem Papier, schnitt ein Stück Butter durch und klappte es auf. „Oder was trinken? Brause, Kaffee?“ „Nein danke, wirklich nicht.“ „Für welche Zeitung arbeiten Sie?“ fragte sie kauend. „Bezirkspresse?“ „Magazin der Frau.“ „Kenn’ ich gar nicht. Wo wird denn das gemacht?“ „Leipzig.“ „Und dann kommen Sie extra hierher nach Potsdam?“ „Die Umfrage findet in mehreren Bezirken statt. – Ihre Mutter ist nicht verheiratet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nee, wir sind schon seit – Augenblick – seit sechzehn Jahren geschieden.“ „Haben Sie noch Verbindung zu Ihrem Vater?“ „Brauchen Sie das für die Reportage?“ „Ein bißchen Hintergrund kann nichts schaden.“ „Er lebt jetzt mit seiner Familie im Ausland. Manchmal schickt er uns ein Päckchen.“ Ich machte ein betretenes Gesicht. Sie lachte. „Nee, nee – nicht, was Sie denken. Er ist bei der Botschaft. Wenn er Urlaub hat, besucht er uns sogar. Ich finde das zwar ziemlich blöde, weil dadurch bei Mutter immer wieder der Eindruck entsteht, daß sie für ihn dasein muß, daß er sie doch noch brauchen würde. Alles Humbug. Er braucht sie überhaupt nicht. Er hat Frau und Kind, er hat vor allem seine Arbeit. Und wenn es wirklich schwierig wird, hat er seine Genossen. Die Partei ist sein Leben. Die war ihm schon immer zehnmal wichtiger als Frau und Kinder und der ganze Familienkram.“ 84
Sie biß herzhaft in ihr Leberwurstbrot. „Wissen Sie“, fuhr sie fort, „Inge und ich sind deshalb zu der Ansicht gekommen, Mutter hat nun endlich auch mal ein bißchen eigenes Glück verdient. Darum haben wir die Anzeige aufgegeben. Erst war es uns ja etwas komisch dabei, aber es gab wirklich keinen anderen Weg.“ „Etwa eine Heiratsanzeige?“ „Warum denn nicht?“ fuhr sie auf. „Leben wir vielleicht im Mittelalter, wo die Frauen warten mußten, bis sich die Kerle gnädig herablassen? Nee, die Zeiten sind vorbei.“ Sie nahm einen Schluck aus der Brauseflasche und sagte ruhiger: „Sehen Sie mal, meine Schwester ist nun schon seit zwei Jahren verheiratet, und bald werde ich auch aus dem Haus gehen. Was wird dann aus Mutter? Sie braucht einfach einen Menschen, den sie in persönliche Pflege nehmen kann, sonst geht sie ein wie eine Primel ohne Wasser. Sie ist nämlich ein ausgeprägt sozialer Typ.“ „Und Ihre Mutter war damit einverstanden?“ „Haha! Was glauben Sie, was das für ein Affentheater war, bis wir sie endlich von der Notwendigkeit überzeugt hatten. ‚Ich bin keine Stute, die man öffentlich zum Decken anpreist‘, hat sie uns angeschrien. ‚Kuppelei‘, hat sie geschrien, ‚überholte Relikte einer kleinbürgerlichen Denkweise‘. Aber wir haben nicht lockergelassen. Heute hat doch eine Frau – auch als Frau, meine ich – eine viel höhere Lebenserwartung als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Mutter sieht prima aus für ihr Alter, hat noch alles, was einen Mann – ich meine, auch als Mann – interessieren könnte. Die Tatsachen haben das real bestätigt.“ „Wieso?“ „Sie hat einen ganzen Haufen Zuschriften bekommen, darunter auch ein paar recht vernünftige.“ „Und hat sie einen davon genommen?“ 85
„Ja.“ Ich wartete, daß sie weitersprechen würde, doch ihre Unbefangenheit war plötzlich wie weggeblasen. „Sie waren doch so dafür, daß sie einen Mann kriegt.“ „Aber nicht gerade den.“ „Was stört Sie denn an ihm?“ Sie machte ein abweisendes Gesicht. „Nee“, sagte sie, „darüber kann sie selbst mit Ihnen reden, wenn sie Lust hat. Ich will mich nicht mehr einmischen. Sie ist alt genug und muß wissen, was sie macht.“ „Warum hat sich Ihre Mutter eigentlich damals scheiden lassen?“ „Mein Vater hatte was mit einer anderen. Mutter hat sich das eine Weile mit angesehen, und dann hat sie eben Schluß gemacht.“ „Das hört sich fast an, als ob es Ihnen recht gewesen wäre.“ „War uns auch recht. Er war ja sowieso so gut wie nie zu Hause. Und wenn er mal kam, hat er sich aufgespielt, wollte uns erziehen, weil Mutter das angeblich nicht konnte. Den ganzen Tag bloß ’rumkommandieren. Tobt nicht so viel, sitzt nicht da wie die Ölgötzen, treibt mal Sport, steckt eure Nasen in ein anständiges Buch und nicht in diese Schwarten, wascht euch die Hände, macht Schularbeiten, freßt nicht wie die Schimpansen. Und dann sollten wir noch lieb sein zu dem Alten, aber wir haben ihm natürlich was gespuckt. Dann ist er wütend geworden, Mutter hat ihre Kinder in Schutz genommen, und sofort gab’s den schönsten Kladderadatsch. Na ja, heute kann ich ihn schon eher verstehen. Er wollte zu Hause Ruhe und Ordnung, seine Arbeit kostete Nerven, und er hat wirklich geschuftet bis zum Umfallen – aber damals, soweit ich mich erinnern kann, waren wir richtig froh, daß endlich der Stunk zu Ende war.“ „Dann hatten Sie wohl keine sehr glückliche Kindheit?“ 86
„Wie kommen Sie denn darauf? Mit Mutter sind wir prima ausgekommen. Sie hat uns viel Freiheit gelassen, manchmal vielleicht sogar zuviel. Wir konnten spielen, wann und mit wem wir wollten, wir konnten einkaufen und kochen und den Haushalt führen, und mit Geld war sie auch nie knauserig. An den Wochenenden sind wir mit dem Boot rausgefahren. Zelten, baden, Lagerfeuer, jede Menge gute Freunde. Nee, da können wir uns wirklich nicht beklagen.“ Ich hörte Schritte auf dem Steinweg vor dem Haus, dann klirrte ein Schlüsselbund. „Mutter ist da“, sagte Brigitte und wischte sich rasch mit der Schürze den Mund ab.
24 Johanna Strempel war eine rundliche Frau mit schwarzem Bubikopf. Sie hatte strahlende graue Augen und einen Kirschenmund. Ich hatte mir ausgerechnet, daß sie Mitte der Vierzig sein mußte, aber sie wirkte jünger, allenfalls wie Ende Dreißig. „Tut mir leid, daß ihr warten mußtet“, sagte sie fröhlich. „Aber ich konnte doch unseren Be-Ge-Eller nicht im Stich lassen. Es gab wieder mal Ärger mit einem Transportarbeiter. Rückfalldiebstahl. Die Kollegen wollten ihn diesmal rausschmeißen, ohne Federlesen. Männer sind da rigoros und kurzsichtig. Ich habe sie also gefragt, ob das für unsere Gesellschaft auch nur den geringsten Nutzen haben würde. Der Junge geht in einen neuen Betrieb und klaut da munter weiter. Ihr kennt ihn, habe ich gesagt, behaltet ihn und schaut ihm auf die Finger. Bis sie das einsehen wollten, hat es natürlich ein Weilchen gedauert.“ Sie lächelte. Zwei Grübchen erschienen auf ihren Wangen. 87
„Warum hockt ihr eigentlich in der Küche, Leute? Konntet ihr nicht ins Wohnzimmer gehen?“ „Ich mußte hier erst ein bißchen Ordnung machen.“ Johanna Strempel nickte und nahm meinen Arm. „Wir zwei beide setzen uns in mein Zimmer. Und du, Gitti, bringst uns noch einen ordentlichen Kaffee, bevor du gehst, ja? Ich hab’ Durst wie eine Zicke.“ Vor dem Fenster des Wohnzimmers stand ein Schreibtisch, auf dem in dicken Stapeln Zeitungen, Broschüren und Bücher lagen. Ein kleiner Tisch neben dem braunen Kachelofen war mit Unterwäsche und dem Inhalt eines ausgekippten Nähkästchens bedeckt. Außerdem gab es drei braune Polstersessel aus den ersten Jahren der HO, einen ramponierten Fernseher mit einem Porzellanhirsch obendrauf, einen Bücherschrank und die zwei Standarddrucke von Vincent van Gogh, Sonnenblumen und Fischerboote am Strand von San Weißichwas. Johanna Strempel öffnete die Tür zum Balkon. Während sie die Wäsche in den Schrank räumte, sah ich hinaus. An einem Tisch standen drei Korbstühle. Die Abendsonne schien auf die bunten Petunien in den Blumenkästen. Frau Strempel kam zu mir an die Tür. „Eigentlich ein schöner Septembertag“, sagte sie. „Könnten wir auch draußen sitzen.“ Ich nickte. Wir ließen uns in den Korbstühlen nieder. „Na, dann schieß mal los. Sonst kriegst du heute überhaupt keinen Feierabend mehr. Hast nichts dagegen, wenn ich ‚du‘ zu dir sage, was? Bist doch in der Partei?“ „Nein.“ „Macht auch nichts, sind wir halt Kollegen. Also, was willst du wissen?“ „Sind Sie eigentlich, mit Ihrem bisherigen Leben zufrieden?“ Sie sah mich erstaunt an, dann zuckte sie die Schultern. „Was heißt schon zufrieden? Zufrieden ist man nie. 88
Aber wenn du mich fragst, ob ich alles noch mal so machen würde, dann sage ich, im Prinzip ja.“ „Und Sie bereuen gar nichts?“ „Du kannst auch du sagen. Bereuen, weißt du, ist eine ganz unproduktive Einstellung. Sie hilft dir nicht weiter. Das soll nicht heißen, daß ich keine Fehler gemacht hätte, besonders im privaten Bereich, aber die waren unvermeidlich. Wie überhaupt die meisten Fehler unvermeidlich sind. Erst wenn man älter wird, begreift man nämlich, daß man wohl nur aus seinen Fehlern etwas lernt.“ Brigitte erschien mit einem Tablett, auf dem zwei Steinguttassen und eine dicke Kaffeekanne standen. Sie schob das Tablett auf das Tischchen. „Ich gehe dann“, sagte sie. „Der Schlüssel zum Gartentor liegt im Briefkasten. Also tschüs.“ Johanna nickte ihrer Tochter zu, griff nach der Kanne und schenkte ein. „Die Kinder heute haben es gut. Wenn ich da an meine Jugend denke, meine Güte, wir waren nicht auf Rosen gebettet. Als ich in die Schule kam, begann der Krieg. Unser Vater wurde eingezogen, und Mutter war von morgens bis abends in der Fabrik. Die Nachbarn machten einen Bogen um uns, weil wir in dem Ruf standen, Rote zu sein. Da war aber nicht viel dran. Vater hatte nur ein paarmal die Schnauze nicht halten können, als er merkte, was wirklich gespielt wurde. Eigentlich fing für mich das Leben erst richtig nach der Nazizeit an. Man hatte uns eine alte Baracke gegeben, in der wir uns ein FDJ-Heim einrichten konnten. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Ich bewunderte ihn. Die Faschisten hatten seinen Vater zum Krüppel geschlagen, seine zwei Brüder umgebracht, und doch war er weder entmutigt noch verbittert. Er glühte für den Kommunismus, war dafür unermüdlich Tag und Nacht auf den Beinen. Seine Begeisterung steckte mich 89
an. Wir stürzten uns auf das Studium der Klassiker, wir organisierten die Jugendarbeit, wir organisierten mehr oder weniger legal die Einrichtung für das FDJ-Heim. Ich wich Herbert nicht mehr von der Seite, hing an ihm wie eine Klette. Er hauste in einer Dachkammer. Nachdem ich ihn ein paarmal dort besucht hatte, war es selbstverständlich, daß wir heirateten. Das war im Frühjahr neunzehnhundertachtundvierzig, ich war gerade erst achtzehn geworden. Acht Jahre hat es dann gedauert, bis ich begreifen lernte, daß zu einer Ehe noch etwas mehr gehört als ein gemeinsames politisches Ziel.“ Sie trank ihren Kaffee aus und lächelte. „Und trotzdem, ich möchte auf diese Zeit um keinen Preis verzichten. Jeder Tag brachte neue Überraschungen, neue Erfolge und natürlich auch Schwierigkeiten. Wir waren damals Idealisten, das heißt, wir haben nicht bei jeder guten Tat auf eine Prämie spekuliert. Inzwischen sind die Zeiten anders geworden. Wenn man heute von der Jugend etwas verlangt, wird sofort gefragt, was haben wir davon, wie zahlt sich das aus? Nicht, daß ich mich darüber beklage. Schließlich haben wir hart gearbeitet, damit es unseren Kindern mal besser geht. Wenn sie also die materiellen Güter in Anspruch nehmen, dann ist das nur richtig. Aber von nichts ist nichts. Und wer heute jammert, sollte hin und wieder mal an den schweren Anfang denken.“ „Wie ging es damals weiter?“ fragte ich. „Wir führten eine Funktionärsehe, mit anderen Worten, ein normales Familienleben gab es nicht. Herbert steckte bis über beide Ohren in der Arbeit. Einsätze, Aktionen, wochenlange Kampagnen irgendwo in der Republik. Wenn wir uns mal länger als zehn Minuten zu Gesicht bekamen, dann war es bestimmt auf einer Sitzung. Das konnte auf die Dauer nicht gutgehen. Er war schließlich auch nur ein Mann, und zuweilen verlangt 90
die Natur ihr Recht. Die eigene Frau war nicht erreichbar, sie reiste durch die märkischen Dörfer und organisierte Maßnahmen, um den Rückstand bei der Kartoffelernte zu überwinden. Was sollte er tun? Nun, ein weibliches Wesen war immer in der Nähe und verfügbar, seine Sekretärin nämlich. Kann man einen Mann deshalb verdammen? Natürlich nicht. Das sage ich heute. Damals sagte ich was anderes. Erst wollte ich nicht glauben, was mir zugeflüstert wurde, und als der Tatbestand nicht mehr zu übersehen war, da dachte ich vor allem an die Kinder und führte mit Herbert eine grundsätzliche Aussprache. Er war zerknirscht und gelobte Besserung. Wie ich später erfuhr, hatte ihm die Partei bereits den Pelz gewaschen. Ein Jahr ging alles gut, seine hilfsbereite Sekretärin war versetzt worden. Doch plötzlich tauchte sie wieder bei ihm auf, der Teufel weiß, wie sie es eingefädelt hatte, und Herbert fand nicht die Kraft, ihren Lockrufen zu widerstehen. Ich ertrug meinen Kummer zwei Jahre, in der Hoffnung, es wird nur eine Episode sein und vorübergehen. Aber endlich verlangte meine Selbstachtung eine Entscheidung. Es fiel mir verdammt schwer, aber es war für alle Beteiligten das richtige. Lotte ist heute seine Frau, und die Ehe hält. Sie versteht es besser als ich, ihren Anspruch an das Leben seinen Aufgaben unterzuordnen.“ Die Sonne versank hinter den Bäumen in Nachbars Garten. Es war empfindlich kühl geworden. „Gehen wir ’rein“, schlug Johanna vor. „Bitte noch nicht.“ Ich mußte nun der Sache rasch ein Ende machen. Aber ich wußte einfach nicht, wie ich ihr die Tatsachen erklären sollte, und je mehr Zeit verging, um so schwieriger wurde es. Immerhin hatte ich noch eine kleine Hoffnung. Vielleicht erwies sich bei ihr mein Verdacht als unbegründet. Bisher hatte sie Wolfgang noch mit keinem Wort erwähnt. 91
„Ich hörte von deiner Tochter, du hättest wieder einen Mann gefunden?“ „Ja“, sagte Johanna, und ihre Augen strahlten. „Bist du glücklich mit ihm?“ „Wie soll ich das sagen, ich verstehe mich selbst kaum. Ich hätte ja nie geglaubt, daß ich mich in meinem Alter noch einmal verlieben könnte. Es gibt Tage, da komme ich mir vor wie zwanzig. Ich weiß, es ist albern, ein solcher Gefühlsüberschwang, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Und warum sollte ich auch? Ich bin niemandem verpflichtet, es ist das letzte Mal in meinem Leben, daß ich mit einem Mann glücklich sein kann.“ „Liebt er dich auch?“ „Warum denn nicht? Er sagt es, und wenn wir uns nicht sehen, dann schreibt er es. Was soll er für Gründe haben, mir etwas vorzumachen?“ Es klang ganz natürlich, und doch glaubte ich in ihrer Stimme ein wenig Unsicherheit zu hören. Sie sah mich mit ihren strahlenden Augen an, als würde sie eine Erklärung erwarten für diese merkwürdige Frage. Ich senkte den Blick. Ich war zu feige, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. „Natürlich bin ich nicht mehr so naiv wie früher“, sagte sie nachdenklich. „Ich weiß, er ist ein paar Jahre jünger als ich, und es ist schon wirklich ein Wunder, daß er gerade auf mich verfallen ist. Aber warum soll es in der Liebe keine Wunder geben? Es besteht ja auch ein ganz besonderes, ein nicht alltägliches Verhältnis zwischen uns. Er ist ohne Eltern aufgewachsen. In manchen Augenblicken spüre ich ganz deutlich, daß er in mir mehr die Mutter sucht als die Frau. Und das gefällt mir sogar. Ich habe mir immer einen Sohn gewünscht. Dieser Wunsch ist nun doch noch auf andere Art in Erfüllung gegangen.“ „Ich hatte den Eindruck“, sagte ich, „daß deine Tochter nicht ganz mit ihm zufrieden ist.“ 92
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. „Die Mädchen wollen unser besonderes Verhältnis nicht begreifen. Erst haben sie mir den Gedanken an einen neuen Mann eingeredet, und jetzt paßt es ihnen nicht mehr. Stell dir vor, Brigitte sagt doch neulich zu mir, der Kerl ist ihr nicht geheuer. Er sieht viel zu gut aus, als daß er es ehrlich meinen könnte. Natürlich Unsinn, möglich auch, daß bei ihr ein bißchen Eifersucht mit im Spiel ist. Ich kenne ihn jedenfalls. Nicht umsonst war ich sieben Jahre in der Kaderleitung, da bekommt man einen Blick für Menschen und lernt, wie man sie einzuschätzen hat.“ „Bist du da auch wirklich sicher?“ „Absolut. Er macht manchmal einen übertrieben forschen Eindruck, aber das täuscht. In Wirklichkeit leidet er unter Minderwertigkeitsgefühlen. Sein Leben war schwer, er hat viel Pech gehabt. Aus Gründen, an denen er keine Schuld trägt, muß er mit der Berufsausbildung noch einmal ganz von vorn beginnen. Jetzt arbeitet er in einem Textilbetrieb. Aber dafür ist er mir zu schade, es stecken Anlagen in ihm, er ist intelligent, er kann noch viel für die Gesellschaft leisten. Ich bin dabei, ihm in Berlin eine hübsche Neubauwohnung zu beschaffen, Zimmer, Küche, Bad. Und im Herbst wird er sein Studium aufnehmen, Politökonomie.“ „Was denn, studieren?“ fragte ich bestürzt. „In dem Alter?“ „Ja“, sagte sie voller Stolz, „und das ist mein Werk.“ „Er ist kein Jüngling mehr“, sagte ich, „er hat gewisse Ansprüche. Selbst wenn er ein Stipendium bekommt, ist es immer noch viel weniger, als er jetzt in seinem Textilbetrieb verdient.“ „Das war auch der Hauptgrund, weshalb er an das Studium so gar nicht ’ran wollte. Er wollte sich nicht abhängig machen, wollte nicht noch einmal wie beim Sport auf fremde Hilfe angewiesen sein. Aber was soll das, frage ich dich? Natürlich kann man einem erwach93
senen Mann nicht zumuten, mit zweihundert Mark im Monat auszukommen. Soll er ja auch gar nicht. Ich verdiene, und ich gebe von Herzen gern, zumal wenn ich damit etwas für ihn tun kann.“ „Wenn es so ist“, sagte ich, „dann mach dir keine Sorgen. Er wird dein Geld nehmen.“ „Weißt du“, sagte Johanna Strempel mit verklärtem Lächeln, „seit ich ihn kenne, hat mein Leben einen neuen Sinn bekommen. Ich habe wieder eine Aufgabe. Einem Menschen bei seiner Entwicklung zu helfen, etwas aus ihm zu machen, das ist doch das Schönste, was es gibt auf der Welt.“ Ich fühlte mich hundeelend. Was sollte ich ihr über diesen Schurken sagen? Sie würde mir kein Wort glauben. Und wenn sie mir glaubte, wäre es noch viel schlimmer. Ich sah auf meine Armbanduhr und erhob mich. „Mein Gott, jetzt muß ich gehen, sonst verpasse ich meinen Zug.“
25 Die Straßenbahn kam heulend näher. Das Licht aus den Wagenfenstern geisterte über die Birkenstämme am Rande des Wäldchens. Johanna drückte mir warm die Hand. „Also gute Reise dann. Wann bist du zu Hause?“ „In drei Stunden.“ „Du kannst mit der Vier bis zum Hauptbahnhof fahren, brauchst nicht umzusteigen. Hauptbahnhof ist Endstation.“ „Danke.“ „Schick mir eine Karte, ja? Damit ich weiß, wann deine Reportage erscheint.“ 94
„Es ist doch noch gar nichts entschieden. Ich mache vorerst nur eine Materialsammlung.“ Ich war froh, daß ich endlich einsteigen konnte. Die Lügen hingen mir zum Hals heraus. Rote Warnlampen leuchteten auf, eine Klingel schrillte, die Türen schlugen zu. Johanna blickte lächelnd zu mir hinauf. Sie winkte, bis ich sie in der Dunkelheit aus den Augen verlor. Sie war eine so liebe, eine so sympathische Frau. Sie glaubte an das Gute im Menschen, sie hoffte auf eine glückliche Zukunft. Mußte ausgerechnet ich diejenige sein, die diesen Glauben, diese Hoffnung zerstörte? Was gab mir das Recht, mich in ihr Leben einzumischen? Was gab mir das Recht, ihr zu sagen, daß ihr Glück auf Betrug beruhte? Warum sollte ich Hellberger diese peinliche Aufgabe abnehmen? Er sollte ihr selbst eines Tages in die Augen sehen und ihr sagen müssen, wie sehr er sie hintergangen hatte. Ich würde ihm nicht helfen, sich aus der Sache herauszuwinden. Nein, ich würde ihn nicht anzeigen. Das hatte überhaupt keinen Sinn. Ich selbst konnte ihn nicht belasten, von mir hatte er ja noch nie Geld verlangt. Also würde die Polizei erst einmal die anderen Frauen befragen, und die würden ihn wahrscheinlich noch in Schutz nehmen. Und selbst wenn man ihm etwas nachweisen konnte, was würde ihm schon passieren? Im Grunde gar nichts. Man ist doch bei uns so verdammt human mit den Kriminellen. Man würde ihm ein paar Vorhaltungen machen, ihn zu Schadenersatz verurteilen – abzuzahlen in bequemen Raten, damit es ihm nur ja an nichts fehlt – und ihn allenfalls für ein paar Monate ins Loch sperren. Und wenn er noch keine Vorstrafe hat, würden sie ihn sogar noch auf Bewährung laufen lassen. Das war doch keine Strafe! Nein, ich mußte nachdenken, um eine gerechte Strafe für ihn zu finden. Vielleicht sollte ich an seine Frauen 95
schreiben, sie warnen. Oder besser noch, ihn zwingen, das erschwindelte Geld zurückzuzahlen. Ich kannte ja seine Methoden; wenn er nicht tat, was ich ihm sagte, dann würde ich ihm mit der Polizei drohen. Tag und Nacht sollte er schuften. Nur ein paar Pfennige würde ich ihm lassen fürs Überleben. Schlaflose Nächte sollte er haben, und selbst wenn er schlief, sollten ihn Angstträume quälen. Bei diesen Gedanken wurde mir wohler.
26 „Glauben Sie mir, Genosse Heym, ich bin nicht so leicht kleinzukriegen, aber das war zuviel. Ich schäme mich vor meinen Töchtern in Grund und Boden. Er ist tot, und das ist bestimmt mehr Strafe, als er verdient hat – aber wenn ich ehrlich sein soll, manchmal beneide ich ihn, manchmal möchte ich am liebsten selber tot sein. Nein, nein, ich bereue nichts, aber ich schäme mich, auch vor euch, die ihr so was doch sicher gewöhnt seid, ich schäme mich für meine Blödheit, für meine Gefühlsduselei, daß ich mir in meinem Alter eingebildet habe, es könnte sich ein so junger, ein so schöner Mann in mich verlieben.“ Sommerfeld räuspert sich. „Ich verstehe das alles“, sagt er, „das geht vorbei. Sie werden gewiß über die Sache hinwegkommen. Sie haben doch Ihren Irrtum erkannt. Und lassen Sie vor allem die Selbstanklagen, die sind sinnlos. Es ist nun einmal passiert. Versuchen Sie zu vergessen.“ Johanna Strempel nickt ergeben. Ihre strahlenden grauen Augen schimmern feucht. „Also dann, Frau Strempel, ich denke, wir können unser Gespräch beenden.“ Die Stimme Sommerfelds klingt 96
ungewohnt freundlich. „Wir haben keine Fragen mehr an Sie.“ Johanna Strempel erhebt sich und geht zur Tür. „Vielleicht wollen Sie erst mal ins Nebenzimmer, um sich ein bißchen zu beruhigen. Mir scheint, es ist nicht unbedingt nötig, daß man Sie mit verweinten Augen hier rauskommen sieht.“ „Danke, ja. Vielen Dank.“ „Gut, ich sage der Kollegin im Vorzimmer Bescheid.“ Sommerfeld greift zum Telefon. Kaum hat er den Hörer wieder aufgelegt, sagt Heym: „Über diese Frau haben wir doch wohl keine Zweifel?“ Sommerfeld bewegt unbehaglich die Schultern. „Nun ja, sie wußte immerhin Bescheid über Hellbergers Arbeitsstelle im VEB Wirkwaren. Und sie war auch schon vor Hellbergers Tod mit Frau Ballhorn bekannt.“ „Schön, sie kannte Hellbergers Arbeitsstelle. Andererseits konnte sie überzeugend glaubhaft machen, daß sie über die Beziehungen zwischen Hellberger und Frau Ballhorn nicht informiert war. Sie kannte zwar die Ballhorn, aber doch nur ganz flüchtig. Wie man sich eben kennt, wenn man sich alle paar Jahre auf der Bezirksdelegiertenkonferenz des Demokratischen Frauenbundes begegnet. Das hat doch nichts zu bedeuten.“ „Sie brauchen sich nicht zu ereifern, Genosse Heym. Mir ist die Frau ebenso sympathisch wie Ihnen, ich glaube auch nicht, daß sie einen Giftmord begehen würde. Aber als Staatsanwalt darf ich mich auf Gefühle nicht verlassen. Was ich bis jetzt habe, ist nur ihre eigene Aussage, nicht mehr und nicht weniger. Falls sie doch schuldig wäre, wird sie uns das nicht auf einem silbernen Tablett servieren.“ „Sie haben ja recht“, seufzt Heym. „Ich habe Unsinn geredet. Lassen wir also Frau Ballhorn hereinkommen. Ich hoffe, ihre Aussage wird Sie überzeugen.“ „Überzeugen? Wovon denn?“ 97
„Daß ich trotz allem mit dem Fall Hellberger kurz vor der Lösung stehe.“
27 Eine Frau wird den Gang entlanggeführt, rechts und links von ihr eine Begleiterin in Polizeiuniform. Bei ihrem Anblick beginnt mein Herz heftig zu schlagen, meine Finger verkrampfen sich im Taschentuch. Renate Ballhorn, seit vier Wochen in Untersuchungshaft, verdächtig des Mordes an Wolfgang Hellberger. Sie sieht niemanden an, mit niedergeschlagenen Augen geht sie vorbei. Daß man sie für seinen Tod verantwortlich macht, ist meine Schuld, wenn es auch nicht meine Absicht war. Die drei verschwinden im Vorzimmer des Staatsanwaltes. Ich wollte sie nicht belasten, ich wollte niemanden belasten. Ich hatte gehofft, man würde es für einen natürlichen Tod halten, schlimmstenfalls für einen Unfall. Es ist anders gekommen. Das Räderwerk hat sich in Gang gesetzt, der Staatsanwalt braucht einen Täter. Daß es gerade die Ballhorn ist, ist nicht einmal so ungerecht. Sie hat sich ja selbst hineingeritten mit ihren hirnverbrannten Lügen und ihrer krankhaften Angeberei. Ich kann ihr nicht helfen, nicht ein Wort kann ich zu ihrer Entlastung sagen, ohne mich selbst in Verdacht zu bringen. Aber diesen Fehler werde ich nicht machen. Warum soll ich mich opfern für dieses unsympathische Geschöpf? Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich, sie hat ihr Leben gelebt. Und überhaupt, was kann ihr denn schon groß passieren? Eine Mordabsicht werden sie ihr kaum nachweisen können, ich habe mich über die juristischen 98
Möglichkeiten informiert. Wenn sie nur einen halbwegs geschickten Anwalt hat, bekommt sie vielleicht zwei oder drei Jahre wegen fahrlässiger Tötung. Bei guter Führung werden sie ihr davon noch ein Drittel schenken. Oder sie hat Glück, und es kommt sogar eine Amnestie. Wenn sie mich erwischen, wäre das ganz anders. Ich müßte bis ans Ende meiner Tage hinter Gittern sitzen. Dann lieber sterben, schnell und schmerzlos, das wäre besser als dieses endlose Dahinvegetieren hinter Mauern und verschlossenen Türen. Ob sie mir etwas anmerken von meinen Gedanken? Es soll ja Menschen geben, die können in den Gedanken anderer lesen wie in einem Buch. Ach was, das sind doch nur Märchen, um Kinder einzuschüchtern. Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz bei Verstand. Ich muß das jetzt durchstehen, muß die Nerven behalten, dann geht auch alles gut. Schließlich halten sie doch die Ballhorn für die Mörderin, und ich bin nur als Zeugin hier. Wenn ich will, kann ich gehen. Niemand hält mich zurück. Ich soll weiter nichts als eine Aussage machen, die den Verdacht gegen sie bestätigt. Es ist ganz absurd, daß sich irgend jemand einbildet, ich könnte etwas mit Wolfgangs Tod zu tun haben. Warum auch? Er ist in Neuruppin gestorben, in ihrer Wohnung. Nein nein, ich bin ganz ruhig. Sie können mir nicht das geringste anhaben.
28 „Nehmen Sie Platz, Frau Ballhorn“, sagt Oberleutnant Heym. „Sie wissen, worum es heute geht. An dem Abend, als Wolfgang Hellberger starb, kam ein Telefonanruf für ihn. Erzählen Sie dem Staatsanwalt bitte möglichst genau, wie sich dieses Ereignis abspielte.“ 99
„Natürlich, selbstverständlich. Ich habe das alles schon berichtet, aber das macht nichts, wirklich, ich berichte gerne noch einmal, wenn Sie es wünschen. Es ist ja in meinem eigenen Interesse. Keiner wird von mir sagen können, daß ich nicht jederzeit bereit bin zu einer konstruktiven Zusammenarbeit. Die staatlichen Untersuchungsorgane …“ „Um welche Zeit kam denn der Anruf, Frau Ballhorn“, unterbricht sie der Staatsanwalt. „Der Anruf?“ Sie blickt beunruhigt von Heym zu Sommerfeld. „Ja, da muß ich dann sagen, also wenn ich ehrlich sein soll, und ich will wirklich ehrlich sein, da muß ich sagen, ganz genau kann ich mich zeitmäßig nicht mehr erinnern. Wissen Sie, es hat an diesem Abend so viel Aufregung gegeben und Wolfgang – wenn ich geahnt hätte, was passiert – Wolfgang.“ Sie senkt den Kopf, zieht ein Taschentuch aus dem Ärmel und betupft sich das Gesicht. Sommerfeld wirft Heym einen hilfesuchenden Blick zu. „Sie erinnern sich an unser Gespräch vor drei Tagen, Frau Ballhorn“, schaltet sich Heym ruhig ein. „Da haben Sie doch eine recht genaue Zeitangabe gemacht.“ Sie läßt das Taschentuch sinken und sieht Heym mit leidender, doch aufmerksamer Miene an. „Wie war das an diesem Abend? Wann kam der Anruf?“ „Es muß so gegen einundzwanzig Uhr gewesen sein.“ „Gut. Schildern Sie uns, was bei diesem Gespräch gesagt wurde, und zwar immer schön der Reihe nach.“ „Ja also, ich hatte – nein, er hatte – ich meine, es war ihm schon nicht gut. Da klingelte auf einmal das Telefon. Ich dachte, wenn es bloß nicht wieder was Dienstliches ist. Die rufen einen rücksichtslos mitten in der Nacht an, wenn es irgendwo nicht weitergeht, ein Privatleben hat man ja schon überhaupt nicht mehr. Auf der 100
anderen Seite, was sein muß, muß natürlich sein, der wirtschaftliche …“ „Es klingelte also das Telefon.“ „Richtig, es klingelte das Telefon. Ich ging ’ran und habe den Hörer abgenommen. Da war jemand dran und wollte Herrn Hellberger sprechen. Ich habe erst gar nicht verstanden, was eigentlich los ist, die Verbindung war ziemlich schlecht. Eine Freundin von mir, die sagt jedesmal, wenn sie das Telefon abhebt …“ „War es ein Ferngespräch, Frau Ballhorn?“ „Natürlich. Ich habe dann aber gleich gesagt, es geht nicht, weil …“ „Moment bitte“, sagt Sommerfeld. „Woraus schließen Sie, daß es ein Ferngespräch war?“ „Es war doch sein Betrieb. VEB Wirkwarenfabrik. Die sitzen irgendwo in Berlin, nicht wahr?“ „Wußten Sie denn an jenem Abend schon, daß Hellberger beim VEB Wirkwarenfabrik beschäftigt war?“ „Nicht direkt, ich meine, für mich war er im Außenhandel beschäftigt, das hat er mir jedenfalls gesagt. Das mit der Wirkwarenfabrik habe ich, genaugenommen, erst später erfahren, Herr Staatsanwalt.“ „Wie konnten Sie dann wissen, daß es sich um ein Ferngespräch handelt?“ „Das Fernamt hat sich doch gemeldet.“ „Ach so, ja. – Welches Fernamt?“ „Weiß ich nicht. Irgendein Fernamt jedenfalls.“ „Nicht irgendein Fernamt, Frau Ballhorn“, sagt Heym. „Vor drei Tagen haben Sie mir den Namen genannt.“ „Ich glaube, es war Leipzig.“ Sommerfeld legt mit mühsam beherrschter Bewegung seine Pfeife auf die Tischplatte. „Glauben Sie es oder wissen Sie es?“ „Ja, ich dachte – ich hatte so …“ „Es war Leipzig. Die Ermittlungen haben das bestätigt“, erklärt Heym. „Wie verlief nun das Gespräch?“ 101
„Also wie schon gesagt, es wollte jemand Herrn Hellberger sprechen, aber ich habe gleich gesagt, das geht nicht, weil ich mir dachte …“ „Wer war dieser Jemand? Ein Mann oder eine Frau?“ „Eine Frau. Die ist ja noch frech geworden. Die hat fast so getan, als ob ich ihr was vorlüge.“ „Welchen Eindruck hatten Sie von ihr? War sie jung oder alt?“ „Über das Alter kann ich nichts sagen. Ich denke mir aber, sie war vielleicht Chefsekretärin. Sie hatte jedenfalls einen ziemlich anmaßenden Ton.“ „Würden Sie ihre Stimme wiedererkennen?“ „Nein, ich glaube nicht, bei den vielen Gesprächen, die ich schon rein berufsmäßig jeden Tag führe.“ „Versuchen Sie nun bitte, das Gespräch möglichst wortgetreu wiederzugeben.“ „Ja, Herr Staatsanwalt. Es hat also geklingelt, und dann habe ich mich mit meiner Nummer gemeldet, das mache ich nämlich immer so, es muß ja nicht jeder gleich meinen Namen wissen. Und dann hat das Fräulein vom Amt gesagt, daß sie jetzt verbindet, ja. Ja und dann sagte diese Sekretärin oder so irgendwas von VEB Wirkwarenfabrik, das habe ich aber gar nicht gleich verstanden, und dann sagte sie, daß sie Herrn Hellberger sprechen müßte, es wäre sehr dringend. Und dann habe ich erst mal gefragt, worum es überhaupt geht, und dann hat sie wieder gesagt, es wäre was Dienstliches und ich sollte ihn an den Apparat rufen. Aber er war ja zu diesem Zeitpunkt schon krank und lag im Bett, und dann wollte ich auch nicht, daß er noch mitten in der Nacht gestört wird, und da habe ich einfach gesagt, er wäre gar nicht da. Das war doch richtig, das muß man doch verstehen. Sehen Sie mal, es geht doch nicht, daß man um diese Zeit einen todkranken Menschen aus dem Bett holt, da muß man ein bißchen Rücksicht nehmen, nicht wahr?“ 102
„Hat sich die Anruferin mit dieser Auskunft zufriedengegeben?“ „Was sollte sie denn machen? Ich habe ja einfach aufgelegt, weil ich mich wieder um Wolfgang kümmern mußte.“ „Haben Sie Hellberger von diesem Anruf informiert?“ „Er lag doch bereits im Bett. Bei Herzkranken ist Aufregung das Schlimmste, und die wollte ich ihm natürlich ersparen. Und überhaupt war er schon seit einer ganzen Weile eingeschlafen.“ Sommerfeld greift nach einem Bleistift, an dem er sich festhalten muß, um die Geduld zu bewahren. „Frau Ballhorn“, sagt er dann, „erst behaupten Sie, Sie hätten sich um Hellberger kümmern müssen, und im nächsten Satz sagen Sie, er hätte schon seit einer ganzen Weile geschlafen. Was ist nun richtig?“ „Also eigentlich – eigentlich ist es so … Entschuldigen Sie bitte, wenn ich alles durcheinanderbringe, ich bin heute so schrecklich aufgeregt, daß ich das gar nicht mehr mit Sicherheit sagen kann. Ich meine, an dem Abend hatte es auch eine ziemliche Aufregung gegeben, ich war ganz und gar durcheinander …“ „Warum waren Sie durcheinander?“ „Na, weil er mich so angeschrien hat. Und da bin ich natürlich auch nicht still gewesen. Man kann sich doch nicht so einfach …“ „Warum hat er Sie angeschrien?“ „Erst hat er gesagt, er hat alles satt und es geht nicht mehr so weiter mit uns, weil er sowieso wieder für längere Zeit ins Ausland gehen muß. Aber so leicht konnte er sich das doch auch nicht machen. Schließlich war unsere Urlaubsreise schon gebucht, und das hat alles eine Menge Rennerei und Geld gekostet. Und plötzlich hat er dann keine Zeit mehr dafür. Das habe ich ihm gesagt, und das war ja auch die Wahrheit, und da hat er dann geschrien, das Geld könnte ich mir – ich könnte es mir, na ja, an den Hut stecken, sozusagen.“ 103
„Sie hatten also doch Streit an diesem Abend! In allen Ihren Aussagen haben Sie aber bisher einen Streit hartnäckig geleugnet, Frau Ballhorn. Wie soll man Ihnen noch etwas glauben? Sie verwickeln sich ständig in neue Widersprüche, in neue Lügen!“ Der Staatsanwalt schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch, daß die Federhalter tanzen. Frau Ballhorn zuckt zusammen, als hätte sie selbst diesen Schlag empfangen. „Ich kann nicht mehr“, heult sie auf. „Ich halte das alles nicht mehr aus. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.“ Und dann beginnt sie hemmungslos in ihr Taschentuch zu schluchzen. Sommerfeld ist selbst erschrocken über die Wirkung, die er hervorgerufen hat. Er schaut hinüber zu Heym, doch der schüttelt resignierend den Kopf. „Also schön, machen wir eine kleine Pause.“
29 Eine Rubensfigur wallte auf mich zu und schüttelte mir kräftig die Hand. „Wir hier im Rat freuen uns immer, wenn sich die Öffentlichkeit für unsere Probleme interessiert. Sie wollen also ein Interview machen.“ Sie mochte Ende Dreißig sein, hatte ein rosiges Gesicht mit solidem Doppelkinn und machte einen couragierten Eindruck. Ihre frischfrisierten Haare glänzten kastanienrot. „Ich sammle Material für eine Reportage, Frau Ballhorn.“ „Richtig, das haben Sie schon am Telefon gesagt. Und nun wollen Sie etwas über meinen persönlichen Werdegang erfahren.“ Sie legte mir, den Arm um die Schulter und zog mich zu einem Sessel. „Also Frauenzeitschrift“, sagte sie nachdenklich und 104
setzte sich zurecht, „da sind Sie ja mit den Bedingungen vertraut. Ich brauche gar nicht zu erklären, wie schwer es heutzutage eine Frau im Berufsleben hat, insbesondere hier im Bauwesen. Ziemlich rauhe Burschen, die sind nicht zimperlich, alles, was recht ist. Aber innen, da steckt in jedem ein guter Kern.“ Sie lachte mit tiefer Stimme. „Wenn man sich auf der Baustelle Respekt verschaffen will, da hat schon mancher Mann zu kämpfen, und ich als eine Frau, ich kann Ihnen sagen, da muß ich schon echt was leisten und mich um die Belange kümmern. Aber es lohnt sich. Meine Arbeiter, die gehen für mich durchs Feuer. Die wissen, ich habe für jeden ein Herz und für alle Probleme ein offenes Ohr. Natürlich muß ich den Brüdern auch manchmal die Zähne zeigen. Aber das tut der Liebe keinen Schaden, im Gegenteil. Und nach außen, da kann kommen was will, da stehen wir zusammen wie ein echtes Kollektiv. – Schreiben Sie sich denn gar nichts auf, Kollegin?“ Ich sah sie fragend an. „Sie müssen das doch später für Ihren Artikel auswerten, was ich Ihnen hier erzähle.“ „Das behalte ich im Kopf. Reine Übungssache.“ Sie hob die Brauen, einen Augenblick aus dem Konzept gebracht. „Also gut“, fuhr sie fort. „Aber passen Sie schön auf. Es wäre schlecht, wenn es hinterher Entstellungen gäbe.“ Es klopfte. Die Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür. „Der Mühlenstengel vom WBK möchte dich wegen der Betonpumpen sprechen.“ „Ich habe jetzt keine Zeit“, sagte sie ungehalten. „Soll morgen wiederkommen.“ Die Sekretärin trat ein und schloß die Tür. „Er war doch angemeldet“, flüsterte sie. „Ich habe eine wichtige Besprechung, Herrgott noch mal! Laß dir irgendwas einfallen.“ 105
„Aber die warten doch schon seit drei Wochen auf deine Entscheidung.“ „Misch dich nicht ein, Elvira, davon verstehst du nichts. Und bring uns lieber einen Kaffee, wenn der Mühlenstengel wieder draußen ist.“ „Bitte schön“, sagte die Sekretärin pikiert und zog sich zurück. „Sie ist lieb und nett und meint es auch gut“, seufzte Frau Ballhorn, „aber sie übersieht die Dinge noch nicht in der Wichtigkeit ihrer Reihenfolge. Die Kollegen machen einen Haufen Wind mit ihren Betonpumpen, und nachher stehen die Dinger auf dem Bauplatz und vergammeln. Alles schon erlebt.“ Das Telefon klingelte. Sie griff hinüber zum Schreibtisch. „Ach du bist es, Genosse Mühlenstengel“, sagte sie in erstauntem Ton. „Ja, ich hab’ schon gehört, daß du da bist. – Aber nein, das verstehe ich nicht, das muß ein Irrtum sein. – Natürlich bin ich zur Zeit voll ausgelastet. – Aber das weißt du doch, auf mich kannst du dich immer verlassen. – Nein, sie hat mich da falsch informiert. Nimm ihr das nicht übel, sie ist da ein bißchen überfordert. – Aber klar, die Pumpen sind unterwegs. – Wir sprechen morgen über die Einzelheiten. – Schon gut. Ja, wiederhören.“ Sie legte auf, lehnte sich in den Sessel zurück und massierte ihre Schläfen. „So, nun mal wieder zu uns. Wie war Ihre letzte Frage?“ Ich hatte noch nicht den Mund geöffnet, da schrillte schon wieder das Telefon. Sie sprang auf. „Nun reicht’s aber. Man kommt ja überhaupt nicht mehr zur Ruhe.“ Sie riß die Tür auf. „Ich hab’ dir doch gesagt, Elvira, daß ich nicht gestört sein will!“ Elvira sagte etwas, das ich nicht verstand. Frau Ball106
horn sah mich einen Moment unentschlossen an, dann trat sie hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Fünf Minuten später kam sie zurück, die Stirn in sorgenvollen Falten. „Hier geht es heute zu wie in einem Taubenschlag. Wissen Sie was, wir fahren zu mir nach Hause.“ Sie blickte auf ihre Uhr und drückte lächelnd ein Auge zu. „In einer Stunde ist sowieso Feierabend.“
30 Unterwegs hatte sie Kirschtorte und Schlagsahne gekauft. Wir saßen auf der Terrasse hinter dem Haus und tranken Kaffee. Die Amseln zwitscherten, im Nachbargarten klapperte ein Rasenmäher, und durch die Ligusterhecken kam der Geruch von frischgeschnittenem Gras. „Sie trinken noch eine Tasse, nicht wahr? Und auch noch ein Löffelchen Sahne? Also bitte, keine falsche Bescheidenheit. Mit Ihrer Figur können Sie das wirklich vertragen.“ Als ich das dritte Stück Torte vertilgt hatte, wußte ich bereits alles über ihre Nachbarn, ihre Mitarbeiter, ihre Lieblingsgerichte und über sämtliche Ereignisse der letzten Monate in Neuruppin und Umgebung. Nur von Wolfgang hatte sie noch keine Silbe erwähnt. Sie ließ mich einfach nicht zu Worte kommen, überhäufte mich mit der Schilderung ihrer rastlosen Tätigkeit zum Wohle des Gesellschaft. Kaum hatte sie die letzte Schlagsahne aus der Schüssel gekratzt, räumte sie das Geschirr ab und erschien kurz darauf mit der Weinbrandflasche. Mir grauste. Nicht daß ich Angst vor einem Schluck Alkohol hatte, im Gegenteil, ich konnte ihn brauchen. Ich fürchtete nur, 107
daß der Schnaps ihre Redseligkeit noch mehr beflügeln würde. Sie prostete mir zu. „Sehen Sie, Kollegin“, sagte sie und blickte mir ernst in die Augen, „das Leben ist nicht immer ein gerader Weg. Es hat seine Irrungen und Wirrungen, wie unser Dichter Fontane sagt, der seine Jugend in dieser Stadt verbrachte. Ehret die Frauen, sie flechten und weben. Sie sollten sich diese Fakten vielleicht doch notieren, denn gerade für die junge Leserin hier und heute enthalten sie nicht unwesentliche Hinweise.“ Sie gönnte sich den nächsten Doppelten. „Das eigene Leid öffnet die Augen für das Leid der anderen“, fuhr sie fort. „Das ist ein Reifeprozeß. Bei dem einen kommt es früher, beim anderen gar nicht. Bei mir kam es sehr früh, das hing von den besonderen Umständen ab. Ich wurde noch unter kapitalistischen Verhältnissen geboren und bin in Westberlin aufgewachsen, müssen Sie wissen. Und die Erfahrungen waren dann auch dementsprechend. Mein damaliger Chef, Bauunternehmer, war ein ekelhaftes, trunksüchtiges Schwein und nebenbei noch ein Fuchs, ein ganz durchtriebener. Zum Komplizen wollte er mich machen bei der Ausbeutung seiner Arbeiter. Und mir dann auch noch in die Bluse greifen. Dachte, er hätte leichtes Spiel, der Halunke, bei einem jungen Mädchen, das ihm für ’n Appel und ’n Ei seine Dreckarbeit machte.“ „Wie das Schicksal so spielt“, murmelte ich. Sie warf mir einen Blick zu, einen langen, prüfenden Blick aus den Augenwinkeln. Ich war nicht nach ihrem Geschmack, ich spürte es deutlich. Sie mißtraute mir, obwohl mir nicht klar war, was sie für Gründe haben konnte. Ob sie ahnte, daß mir ihr Gerede auf die Nerven ging? Sie labte sich aus der Flasche und goß auch mir wieder ein. „Wo war ich stehengeblieben? – Ach so, ja. Und 108
das schönste war, der Kerl war verheiratet und hatte drei Kinder. Jedenfalls, bei mir konnte er nicht landen, und da drohte mir doch der Schuft, er würde mich wegen Spesenunterschlagung anzeigen. Dabei hatte er mich selbst dazu angestiftet, weil er ja alles von der Steuer absetzen konnte. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Na, ich hatte daraufhin die Nase voll von der ‚freien Welt‘, packte meine Siebensachen und siedelte in die DDR über, hierher nach Neuruppin zu meiner Tante. Und Sie können sich gar nicht denken, wie anständig man mich behandelt hat. Sofort bekam ich Arbeit und bald darauf eine nette Wohnung. Seit siebzehn Jahren bin ich jetzt im sozialistischen Bauwesen, habe mich hochgearbeitet bis zum stellvertretenden Abteilungsleiter. Natürlich bin ich auch gesellschaftlich tätig und mache nebenbei noch ein Fernstudium. Und das alles als Frau.“ „Sehr beachtlich“, sagte ich. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Wir hatten uns ins Wohnzimmer zurückgezogen. Frau Ballhorn griff zur Flasche und wollte einschenken. „Leer!“ sagte sie enttäuscht. „Na macht nichts, ich hole eine neue.“ Sie stemmte sich aus dem Sessel und segelte mit leichter Schlagseite hinaus. Der letzte Bus kam mir in den Sinn, der einundzwanzig Uhr vierzig nach Oranienburg fuhr, wo ich gerade noch Anschluß nach Leipzig hatte. Ich schob den Gedanken an die Heimfahrt lässig zur Seite. Ich fühlte mich pudelwohl in diesem gemütlichen Häuschen. Wenn ich die Augen schloß, hatte ich das Gefühl, in einem Schlauchboot auf sanfter Meeresdünung zu kreisen. Aus dem Nebenzimmer kam ein Poltern, ein unterdrückter Schrei und das Klirren von Glas. „Hilfe!“ schrie Frau Ballhorn, „Hilfe, ich kann nicht mehr aufstehen!“ Ich sprang auf und rannte hinüber. 109
Sie saß in einem kleinen Arbeitsraum auf dem Teppich, die eine Hand rückwärts auf den Boden gestützt, in der anderen eine unversehrte Wodkaflasche. Ihr linker Fuß hatte sich unter einem Schrank verklemmt. Ich zerrte ihn hervor. Sie quietschte und ließ sich wimmernd auf den Rücken fallen. Ich nahm ihr die Flasche ab, ergriff sie bei den Händen und versuchte, sie aufzurichten. Es ging nicht, sie war schwer wie ein Sandsack. Ich trat hinter sie, packte sie unter den Achseln und hievte sie auf die Füße. Sie jammerte und humpelte haltsuchend gegen den Schreibtisch. Irgend etwas auf der Schreibtischplatte fiel um. Es war eine Fotografie in einem Silberrahmen. Ich wollte sie wieder aufstellen, warf einen Blick darauf – und war schlagartig nüchtern. Wolfgang. Die Vergrößerung einer Aufnahme, die ich selbst von ihm gemacht hatte. Eine unsägliche Wut packte mich. Ich nahm die Fotografie und schlug sie auf die Schreibtischkante. Die Glassplitter schwirrten durch das Zimmer. Die Ballhorn fuhr herum. „Um Gottes willen! Was haben Sie denn da gemacht?“ sagte sie entsetzt. Ich gab ihr keine Antwort. Sie bückte sich und zog das Foto aus den Scherben. Ich riß es ihr aus der Hand und warf es auf den Schreibtisch. „Tut mir leid“, sagte ich, „ist aus Versehen passiert.“ Für einen Moment trat noch einmal das alte Mißtrauen in ihren Blick, dann wurden ihre Augen wieder glasig. Sie kicherte. „Aber nicht doch, regen Sie sich nicht auf, der Schaden wird morgen behoben.“ Sie legte mir den Arm um die Schulter. „Na kommen Sie, auf den Schreck wollen wir noch einen trinken.“ Sie angelte die Flasche vom Fußboden und humpelte zurück ins Wohnzimmer. „Wer ist der Mann auf dem Bild? Ihr kleiner Bruder?“ 110
„Sie sind vielleicht naiv. Kleiner Bruder. Das ist mein Verlobter. Mein Verlobter ist das.“ „Wirklich? Wie haben Sie ihn kennengelernt? Das würde mich interessieren.“ „Im letzten Sommer war das, ich war gerade auf einer Dienstfahrt. Da stand sein Auto am Straßenrand, schicker gelber Dacia, vorn die Haube auf, und er stand daneben und sah irgendwie hilflos aus. Ich habe natürlich angehalten. Angehalten hab’ ich und ihn gefragt, ob ich helfen kann. Die Panne war in paar Minuten behoben, er hat sich bedankt – Handkuß, Manieren hat er, kann ich Ihnen sagen –, und ich bin weitergefahren. In dem nächsten Nest gehe ich eine Tasse Kaffee trinken, und stellen Sie sich vor, da kommt er in das Café ’rein und setzt sich direkt an meinen Tisch. Erst hab’ ich an einen Zufall geglaubt, aber später, später hat sich herausgestellt, daß es von seiner Seite Liebe war. Liebe auf den ersten Blick. Hat er mir selbst gesagt. So was finden Sie nicht wieder. Intelligenter, gebildeter Mensch, und dabei ungeheuer bescheiden. Sieht blendend aus, ist charmant, spricht mehrere Sprachen. Wenn Sie ihn sehen würden, ich kann Ihnen sagen …“ Sie kippte ihren Wodka und verdrehte die Augen. „Da haben Sie aber viel Glück gehabt“, sagte ich. „So etwas passiert in Ihrem Alter nicht alle Tage.“ „Na hör’n Sie mal!“ protestierte sie und wollte sich aus ihrem Sessel erheben. Der Versuch mißlang. Sie sank ächzend in die Polster zurück. Ich schob ihr noch einen Wodka hin. „Was ist er denn von Beruf?“ „Er liebt mich“, sagte sie mit schwerer Zunge. „Er hat keine andere. Das hat er mir tausendmal geschworen, hat er mir schwören müssen. Und Sie müssen mir das auch glauben, wirklich, ist die reine Wahrheit. Nur mich liebt er, nur mich. Wenn einer was anderes sagt, dann ist er ein hundsgemeiner Lügner.“ 111
„Beruf“, sagte ich. „Was für einen Beruf?“ „Geld spielt bei ihm überhaupt keine Rolle. Er kann das gar nicht alles ausgeben, was er verdient. Das müssen Sie sich mal vorstellen, ein solcher Mann! Sieht blendend aus, hat Geld wie Heu, immerzu im Ausland, macht diplomatische Karriere. Richtiger Märchenprinz. Und der liebt mich. Verstehen Sie das? Nein? Aber ich kann Ihnen genau sagen, warum. Er sieht eben nicht bloß aufs Äußere. Er hat soviel Verstand, daß er den inneren Wert einer Frau erkennt. Ich bin nämlich nicht so eine, die sich mit billigen Liebschaften abgibt, wie es diese Flittchen machen, die jungen, bei uns im Rat. Und die alten sind beinah noch schlimmer. Da spielt sich vielleicht was ab, das kann ich Ihnen flüstern. Ich sage nur Frauentag und so. Aber bei mir nicht. Ich kann mich beherrschen, da bin ich eisern, ganz klare Linie. Ich werd’ mir doch nicht mein ganzes Leben versauen. Stellen Sie sich mal vor, wenn der Junge dahinterkäme. Da wär was los. Er ist nämlich verdammt eifersüchtig, ist er, jawohl.“ Sie bekam einen Schlucken, stützte den Kopf in die Hände und starrte mich mit hervorquellenden Augen an. Ganz plötzlich wurde mir übel. Das Zimmer begann sich zu drehen, mein Magen hob sich. Ich schloß die Augen, um die Karussellfahrt und den Brechreiz zu unterdrücken. „Mein Wolfgang“, lallte sie neben meinem Ohr, „mein Wolfgang besorgt mir auch ganz nagelneuen Dacia – saharagelb – macht gar keine Schwierigkeiten – bei den Beziehungen, die der hat. Erstklassige Beziehungen bis in die höchsten Stellen. Schon alles klar. Angezahlt und so weiter – zehntausend. Liefervertrag, Papiere – läuft alles. Gar keine Schwierigkeiten – kommt nicht in Frage. Absolut zuverlässig, sag’ ich dir, absolut der Junge. Kein Zweifel – nicht der geringste Zweifel.“ 112
Ich konnte es nicht mehr aushalten. „Wo ist das Bad?“ stöhnte ich. „Geradeaus, zweite Tür links. Aber bitte – bitte kotz mir nicht ins Waschbecken, wenn’s geht.“ Sie begann dröhnend zu lachen. Ich stürzte hinaus. Als ich das Schlimmste hinter mir hatte, drehte ich den Wasserhahn auf und ließ ein Weilchen kaltes Wasser über Hände und Arme laufen und kühlte auch mein Gesicht. Da ging auf einmal die Tür auf, und sie stand hinter mir. „Na, wie geht’s dir denn?“ Sie hatte eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand und wirkte wieder einigermaßen nüchtern. „Ich geh’ mal an die frische Luft.“ „In dem Zustand kommst du keine zehn Schritte.“ „Lassen Sie mich vorbei.“ „Ich mach’ dir einen starken Kaffee, ja? Und dann nimmst du erst mal eine Tablette.“ „Ich geh’ lieber“, sagte ich und versuchte, mich an ihr vorbeizudrängen. Sie packte mich am Handgelenk und zerrte mich zurück ins Badezimmer. Sie hatte erstaunliche Kraft. Dann öffnete sie den Apothekenschrank, nahm ein Glas heraus und ließ es voll Wasser laufen. „Sieh dir mal an“, sagte sie. „Alles da, von den Kreislaufmitteln bis zum Antiseptikum. Beinahe wie in der Apotheke. Das meiste brauch’ ich für Wolfgang, er ist nämlich sehr empfindlich. Besonders mit dem Herzen.“ Ich schwankte und mußte mich auf den Rand der Badewanne setzen. Sie schüttete mir zwei Tabletten in die Hand. „Runterschlucken. Das wird dir guttun.“ Ich stopfte die Tabletten in den Mund und spülte sie hinunter. „Wolfgang arbeitet zuviel“, sagte sie. „Ich sag’s immer wieder, aber er will nicht auf mich hören. Einmal hatte er einen Herzkollaps, da dachte ich schon, der Junge 113
geht mir hops. Seitdem hab’ ich alles im Hause. Selber muß ich mich nämlich auch schonen. Viel zu hoher Blutdruck. Weiß genau Bescheid, kenne nicht umsonst jeden Medizinmann hier in der Stadt. Und Wolfgang hat genau das Gegenteil, zu niedrigen Blutdruck. Muß höllisch aufpassen, daß wir nicht mal eines Tages die Tabletten verwechseln.“ Der Gedanke schien ihre Heiterkeit zu erregen, jedenfalls kicherte sie. Ich starrte auf die Röhrchen mit den Tabletten, auf die Salben und Fläschchen. Irgendwo in meinem Hinterkopf spukte eine Idee. Ich konnte sie noch nicht richtig fassen, aber sie war da. Eine neue Welle von Übelkeit packte mich. Ich rutschte von der Badewanne, machte zwei Schritte und ging in die Knie. Als ich wieder zu mir kam, war es dunkel. Ich lag auf der Couch, zugedeckt mit einer Wolldecke. Mir war so elend, daß ich glaubte, ich müßte sterben.
31 „So, Frau Ballhorn“, sagt der Staatsanwalt, „ich hoffe, Sie haben sich wieder gefaßt. Nun erzählen Sie noch einmal, was wirklich passiert ist an dem Abend vor Hellbergers Tod.“ Er lehnt sich zurück und nimmt sich vor, sich durch diese Frau nicht wieder aus der Ruhe bringen zu lassen. Frau Ballhorn schweigt und kaut an der Unterlippe. „Also, was ist?“ sagt Heym aufmunternd. „Sie hatten doch jetzt Zeit genug, sich Ihre Aussage genau zu überlegen.“ Frau Ballhorn schluckt. „Ja“, sagt sie dann kläglich und sieht Heym mit feuchten Hundeaugen an. „Ich bin ja schon kein Mensch mehr. Wenn Sie mir versprechen, 114
daß Sie mich dann in Ruhe lassen – also, also dann gebe ich es eben zu.“ „Was wollen Sie zugeben?“ fragt Heym alarmiert. „Na, daß ich es wahrscheinlich doch gewesen bin.“ „Was sind Sie gewesen?“ Heym springt auf und starrt seine Zeugin fassungslos an. „Unabsichtlich natürlich, ganz unabsichtlich. Ich war doch an dem Abend so schrecklich aufgeregt, und da habe ich vielleicht die Tabletten verwechselt. Das kann jedem mal passieren, es war ja keine böse Absicht, Sie müssen mir das glauben. Ich weiß selbst nicht mehr genau, wie es …“ „Augenblick, Frau Ballhorn!“ unterbricht sie Sommerfeld scharf. „Sie geben zu, die Tabletten verwechselt zu haben, durch die der Tod von Herrn Hellberger verursacht wurde? Habe ich Sie da richtig verstanden?“ Frau Ballhorn wird unsicher. „Ich – ich weiß nicht genau“, stottert sie. „Es könnte doch so gewesen sein, daß ich – ich meine aus Versehen – daß ich das falsche Röhrchen in die Hand genommen habe. Ich wollte ihm in dem Moment doch auch nur helfen. Es ist natürlich …“ „Zum Donnerwetter, geben Sie eine klare Antwort! Haben Sie die Tabletten verwechselt? Ja oder nein?“ „Ja, also, ich habe mir gedacht, daß eine solche Möglichkeit eventuell gegeben wäre, man kann das jedenfalls nicht ganz ausschließen.“ „Also ja oder nein?“ „Ja.“ „Haben Sie sich das auch genau überlegt? Bleiben Sie bei dieser Aussage?“ „Ich bleibe dabei.“ „Nun gut“, sagt Sommerfeld. „Dann bereiten Sie sich darauf vor, daß wir ein Protokoll über Ihre Aussage anfertigen und daß Sie das unterschreiben müssen. Wenn Sie im Augenblick keine weiteren Fragen haben, Genosse Heym, sollten wir erst mal Schluß machen.“ 115
Der Oberleutnant nickt. „Sie können gehen, Frau Ballhorn.“ Heym öffnet ihr die Tür zum Vorzimmer. Dann sinkt er in seinen Sessel und schüttelt verzweifelt den Kopf. Sommerfeld zündet sich die Pfeife an und denkt nach. Je länger er nachdenkt, um so stärker wird sein Lächeln. „Nun sind Sie sprachlos, nicht wahr?“ sagt er endlich. „Und ich hab’ mir eingebildet, Sie könnte überhaupt nichts erschüttern.“ Heym richtet sich auf. „Das ist doch der blanke Unsinn“, sagt er wütend. „Eigentlich können Sie doch zufrieden sein. Jetzt haben Sie endlich Ihr Geständnis, um das Sie sich seit Wochen bemühen.“ „Dieser gottverdammte Rübensam hat ihr das eingeflüstert. Von allein wäre sie nie auf die Idee gekommen.“ „Sie meinen, ihr Anwalt hat ihr diesen Gedanken nahegelegt?“ „Natürlich. Rübensam ist doch kein Dummkopf. Er weiß inzwischen, wie tief sich seine Klientin mit ihren ewigen Lügen in den Schlamassel geritten hat. Wenn sie damit vor Gericht so weitermacht, dann muß er mit einem Schuldspruch wegen vorsätzlicher Tötung rechnen. Gibt sie aber andererseits die Möglichkeit zu, die Tabletten aus Versehen verwechselt zu haben, dann kann man sie nur wegen fahrlässiger Tötung anklagen. Damit kommt sie wesentlich billiger weg, nämlich mit maximal zwei Jahren. Ich bin sicher, das ganze sogenannte Geständnis ist nichts als eine Schutzbehauptung.“ „Und wenn sie nun auf ihrer Aussage beharrt?“ „Soll sie beharren, soviel sie will. Die Kriminalpolizei hat festzustellen, ob ein Geständnis im Sinne einer objektiven Beweisführung richtig ist oder falsch. In diesem Fall ist es falsch. Also werde ich nicht die Schuld, sondern die Unschuld der Frau Ballhorn nachweisen.“ 116
32 Im Morgengrauen weckten mich mit häßlichem Kreischen die Elstern, die in den Apfelbäumen vor dem Fenster ihr Unwesen trieben. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, wo ich mich befand und was sich am Abend zuvor ereignet hatte. Aus dem Nebenzimmer drang durch die angelehnte Tür ihr Schnarchen zu mir herein. Auch dieses unmögliche Weib also war eines seiner Opfer. Zehntausend Mark hatte er ihr abgeknöpft, für ein Auto, das sie wohl nie zu Gesicht bekommen würde. Zum erstenmal befiel mich so etwas wie Schadenfreude. Doch sie verging mir sofort wieder bei dem Gedanken, was er für dieses Geld hatte leisten müssen. Die Ballhorn war ganz bestimmt nicht der Typ, der sich mit leeren Redensarten und einem Handkuß abspeisen ließ. Doktor Zimmermann und die Tänzerin hatten wenigstens noch ein gewisses Niveau, sie waren in ihrer Art nicht unsympathisch. Aber diese hier war wirklich das letzte. Doch was hieß schon Niveau? Er war nicht wählerisch, er nahm jede, Hauptsache, sie hatte Geld. Plötzlich überkam mich Ekel. Hellberger, die Ballhorn, das Zimmer mit dem Geruch ihres süßlichen Parfüms, meine Eifersucht, mein blödsinniges Bemühen, ihm hinter die Schliche zu kommen. Ich hatte einen Mann geliebt, der sich von einem solchen Weib anfassen ließ, sie küßte – und sicher nicht nur das. Unter keinen Umständen wollte ich ihr noch einmal begegnen, das würde ich nicht ertragen. Ich warf die Decken zur Seite, zog meine Schuhe an, ging in den Flur, nahm Tasche und Mantel, rannte aus dem Haus. Berufsverkehr. Eine qualvolle Stunde in einem überfüllten Bus, dann stand ich in Oranienburg auf dem Bahnhof. Der D-Zug nach Rostock wurde angekündigt. Rostock, das war Gerlinde Petersein. Ich stieg in den Zug, ohne nachzudenken. Erst als ich in einem Abteil saß, auf einem Fens117
terplatz, und hinaussah in die märkische Landschaft, kam mir zum Bewußtsein, daß ich schon wieder eine Dummheit beging. Was sollte ich jetzt noch in Rostock? Ich hatte sie gründlich satt, die Gespräche mit den Damen des Herrn Hellberger. Es kam doch immer nur die gleiche, widerwärtige Geschichte zum Vorschein. Egal, ich hatte meine Fahrkarte bezahlt. Im Abteil war es warm und angenehm. Vielleicht konnte ich bis Rostock ein bißchen schlafen. Mit dem nächsten Zug würde ich nach Hause fahren. Aus dem Schlafen wurde nichts. Mein Kopf schmerzte, ich spürte die Schienenstöße wie Nadelstiche im Gehirn. Nach drei Stunden endlich hatte die Qual ein Ende. Zu Fuß ging ich in Richtung Innenstadt. Der frische Seewind und der Nieselregen taten mir gut. Die Müdigkeit machte meine Glieder weich und schwer wie Sirup. In einer Imbißstube an der Kröpeliner Straße aß ich ein Fischbrötchen und trank zwei Tassen Espresso schwarz. Danach fühlte ich mich etwas wohler. Ich hatte fünf Stunden totzuschlagen, bis ein Zug nach Leipzig fuhr. Die Aussicht, im Regen durch die Stadt zu traben oder in einer trostlosen Gaststätte zu hocken, war wenig erfreulich. Da konnte ich mir genausogut auch noch Gerlinde Petersein ansehen. Merkwürdig. Sie war die einzige auf meiner Liste, neben deren Namen weder die Arbeitsstelle noch eine Telefonnummer stand. Ich kaufte mir einen Stadtplan. Der Patriotische Weg war eine Straßenzeile in der Nähe des alten Hafens. Das Haus Nummer 33 befand sich in einem abbruchreifen Zustand, wie die meisten Häuser in dieser Gegend. Im Flur roch es modrig. Ich tappte die halbdunklen Stiegen hinauf. Im obersten Stockwerk entdeckte ich auf einem Pappschild den Namen Petersein. Irgendwo in der Ferne heulte eine Beatgruppe. Ich blieb unschlüssig stehen und überlegte, was ich sagen sollte. Die Tür öffnete sich. Ein junger Mann, der vorwie118
gend aus Haaren bestand, starrte mich mißtrauisch an. Eine wirre Mähne fiel ihm über die Schultern, den Oberkörper von der Nase abwärts bedeckte ein Bart so groß wie ein Kohlensack. „Wollen Sie zu mir?“ „Herr Petersein?“ „Na wer denn sonst?“ fragte er grob. „Rübezahl vielleicht.“ „Ungeheurer Witz, ich lach’ mich kaputt. Sonst noch Wünsche?“ „Ich hätte ein paar Fragen.“ „Fragen? Was für Fragen? Kommen Sie mal rasch ’rein.“ Und dann sehr laut: „Die Alte da drüben klebt schon wieder am Guckloch.“ Ich quetschte mich an ihm vorbei in einen engen Flur. Aus seinem Bart strömte mir eine Wermutwolke entgegen. Er schob mich vor sich her in ein Zimmer, in dem es nach billigen Zigarren, Fusel und Terpentin roch. Auf dem zerwühlten Bett lagen Kleidungsstücke. In der Ecke neben dem Kachelofen stand ein Haufen leerer Flaschen. Vor dem Fenster war eine Staffelei, darauf eine halbfertige Murkserei in Öl. Auf Tisch und Stühlen zwischen Brot, Marmelade, Geschirr und allerlei anderem Kram waren Paletten, Pinsel und Farbtuben verstreut. Aus einem Recorder auf dem Fußboden dröhnte die Beatmusik. Der junge Mann ging hin und schaltete das Gerät aus. Dann ließ er sich auf das Bett fallen. „Also los, stellen Sie schon Ihre Fragen. Das heißt Moment mal, wer hat Sie eigentlich hergeschickt?“ „Die Sozialfürsorge.“ Er sah mich zum zweitenmal mißtrauisch an, dann senkte er den Blick. „Wollen Sie meinen Ausweis sehen?“ fragte ich. Er grinste gequält. „Wieder so ein doofer Witz. Möchte bloß wissen, wann endlich mal Ruhe ist. Bin schließ119
lich ein kranker Mensch, das hab’ ich jetzt schriftlich. Mit Arbeitsbummelei ist nichts mehr.“ „Ich dachte, Sie sind Maler.“ „Hören Sie auf mit dem Quatsch!“ schrie er aufgebracht. „Kommen Sie lieber zur Sache.“ „Warum erregen Sie sich, Herr Petersein? Es geht gar nicht um Sie. Ich möchte Gerlinde sprechen.“ Wieder ein mißtrauischer Blick. Dann Schweigen. Er brütete eine Weile vor sich hin, sagte dann leise: „Meine Schwester ist nicht da. Kommt auch nicht mehr. Sie sind hier an der falschen Adresse.“ „Durchaus nicht. Die Adresse stammt aus einer zuverlässigen Quelle.“ „So? – Na von wem denn? Von wem denn, wenn man fragen darf?“ „Darüber möchte ich nur mit Gerlinde reden.“ Er runzelte die Stirn und rutschte unruhig hin und her. „Ich kapiere nicht, was hier eigentlich gespielt wird, aber ich geb’ Ihnen einen guten Rat. Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen.“ „Mich interessiert nur Ihre Schwester.“ „Ich möchte bloß mal wissen, wie Sie daraufkommen, daß sie hier in meiner Wohnung ist.“ „Sagt Ihnen der Name Hellberger etwas?“ Ein langer Blick. Unsicherheit und Zweifel, dann Angst. Ich sah ihn an und wartete auf eine Antwort. „Scheiße!“ stöhnte er und ließ sich rückwärts auf das Bett fallen. Er lag etwa eine Minute reglos, den Unterarm über die Augen gepreßt. Plötzlich rappelte er sich auf. „Also schön. Was sollen wir hier lange rumeiern. Gehen wir.“
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33 Er wickelte sich in eine speckige, grünlichbraune Kutte. Vor der Haustür warf er einen Blick zum Himmel, stülpte die Kapuze über den Kopf und zog mit langen Schritten los. Ich hatte Mühe, an seiner Seite zu bleiben. Nach zehn Minuten Fußmarsch machte er vor einer Apotheke halt. Die Tür war abgeschlossen. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach eins. Er bummerte an die Scheibe. Aus dem dämmrigen Hintergrund des Ladens tauchte eine Frau in einem weißen Kittel auf, gereizt über die Störung. Als sie meinen Begleiter erkannte, hellte sich ihre Miene auf. Sie öffnete die Tür. Der junge Mann schob mich in den Laden. „Schön, daß du dich mal wieder sehen läßt, Bodo“, sagte die Frau. Sie war groß und gut gewachsen. Das weizenblonde Haar hatte sie straff zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einer dicken Flechte aufgesteckt. Bodo gab ein Grunzen von sich, das man mit gutem Willen für einen Gruß halten konnte. Er machte eine Kopfbewegung in meine Richtung und knurrte: „Besuch für dich, Bohne. Kommt jetzt nicht mehr selber, der Herr, schickt uns seine Mieze.“ Die Frau musterte mich flüchtig. Sie hatte ein angenehmes Gesicht. „Mein Gott, Bodo“, sagte sie lächelnd. „Könntest du dich mir zuliebe ein bißchen verständlicher ausdrücken? Von welchem Herrn ist die Rede?“ Der junge Mann riß die Kapuze vom Kopf und schüttelte wütend seine Mähne: „Mensch, kapier doch mal was! Wölfchen, unser guter alter Kumpel. Na, hat’s geklingelt?“ Das Gesicht der Frau wurde hart. „Ist das wahr?“ Sie sah mich zum erstenmal richtig an. „Kommen Sie von Hellberger?“ 121
Ich nickte. Sie trat einen Schritt auf mich zu und sagte in eisigem Ton: „Das ist ja eine bodenlose Frechheit!“ Ich wollte antworten, doch sie wehrte mit einer raschen Handbewegung ab. „Schon gut, entschuldigen Sie. Ein Streit würde zu nichts führen. Es ist zwar gegen die Absprache, aber ich hätte wissen müssen, daß darauf kein Verlaß ist.“ Ich sagte nichts. Ich hatte keine Ahnung, in was ich hineingeraten war. Bodo drehte uns den Rücken zu. „Mich kotzt das an“, sagte er laut. Er hob die Arme, warf den Kopf in den Nacken und brüllte: „Ich werde – dem Schwein – in die Fresse – schlaaagen!“ Seine Schwester packte ihn an der Kutte und schüttelte ihn. „Bodo! Bodo, hör damit auf! Nimm dich zusammen!“ Bodo kam wieder zu sich, seine Wut war verflogen. Er murmelte: „Restlos Schnauze voll. Soll er doch endlich zu den Bullen rennen, der Idiot.“ „Du gehst jetzt nach Hause. Nimm zwei von deinen Tabletten und leg dich eine Stunde hin. Kein Grund zur Unruhe.“ „Mensch, Bohne“, sagte er grämlich, „bin doch schon wieder okay, kann genausogut hierbleiben.“ „Ich bringe das allein in Ordnung.“ Sie öffnete die Ladentür. Bodo zögerte. „Brauchst du Geld?“ Bodo schaukelte mit dem Oberkörper und starrte unwillig auf seine Schuhe. Die Frau griff in die Kitteltasche, zog ein paar Scheine hervor und drückte ihm davon zwanzig Mark in die Hand. „Bitte vertrink nicht alles. Kauf dir wenigstens ein bißchen was zu essen.“ 122
Bodo schob den Schein in die Tasche und trottete hinaus. Die Frau schloß die Tür ab, lehnte die Stirn an die Scheibe und sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Sie ging an mir vorbei, als wäre ich nicht vorhanden, schaltete das Neonlicht ein, trat hinter den Verkaufstisch. „Also bitte, sagen Sie ihren Spruch.“ „Sind wir allein?“ „Das ist doch vor allem meine Sache.“ „Es könnte Ihnen peinlich werden, wenn jemand mithört.“ „Seien Sie beruhigt, die Kollegen sind zum Essen.“ „Wie lange kennen Sie Hellberger schon?“ „Verschonen Sie mich mit Ihrem Geschwätz.“ „Warum sind Sie eigentlich so aggressiv?“ „Leute Ihres Schlages gehen mir auf die Nerven. Also fassen Sie sich kurz.“ „Haben Sie ein schlechtes Gewissen?“ „Es ist jetzt genug. – Wieviel?“ „Wieviel? Meinen Sie Geld?“ Sie ballte die Fäuste. „Hat Herr Hellberger schon einmal etwas anderes gewollt?“ Endlich hatte ich begriffen. Ich ging langsam auf sie zu. „Ich will kein Geld.“ „Kein Geld? Was denn sonst?“ „Sie haben ja recht“, sagte ich. „Hellberger ist ein Krimineller. Womit erpreßt er Sie?“ Sie sah mich fassungslos an. „Ja wieso denn? Ich dachte … Sind Sie nicht seine …“ „Nein.“ „Ich verstehe kein Wort. Weshalb kommen Sie dann zu mir?“ „Sie stehen auf der Liste seiner Opfer.“ 123
„Wie bitte?“ „Wußten Sie nicht, daß er vom Heiratsschwindel lebt?“ „Nein. Nein, ich … Heiratsschwindel? Sind Sie etwa von der Polizei?“ „Von mir haben Sie nichts zu befürchten.“ „Wie meinen Sie das?“ „Vielleicht könnten wir sogar – unsere Interessen auf einen Nenner bringen.“ „So? Da bin ich aber neugierig.“ „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, womit er Sie erpreßt.“ „Ich will darüber nicht reden.“ „Es handelt sich um Ihren Bruder, nicht wahr? Was hat er denn auf dem Kerbholz?“ „Das ist allein meine Sache. Ich halte es für besser, wenn Sie jetzt gehen.“ „Gut. Dann werde ich eben noch einmal mit Bodo sprechen.“ „Nein! Nein, das dürfen Sie nicht. Sie haben doch gesehen, daß er nicht … daß er krank ist.“ Ich blickte ihr in die Augen. Ich konnte warten. Nach einigen Sekunden hob sie hilflos die Schultern. „Es war wirklich ein Unfall“, sagte sie leise. „Ich glaube es Ihnen. Erzählen Sie weiter.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie Sie wollen.“ Ich wandte mich zur Tür. „Augenblick!“ sagte sie hastig. „Kommen Sie doch zurück. Ich bitte Sie!“ Ich kehrte zum Ladentisch zurück. „Bodo und Hellberger waren befreundet. Mein Mann hatte ein Bootshaus draußen in Ribnitz, Ich hatte den beiden den Schlüssel gegeben. Sie wollten mit der Jolle ’raus. Mein Mann hatte es verboten, er konnte meinen Bruder nicht ausstehen. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, daß er an diesem Tag dort auftauchen würde. 124
Er war zu einer Fachtagung in Schwerin. Aus ungeklärten Gründen hatte er sie vorzeitig verlassen und war zum Bootshaus gefahren. Vielleicht wollte er das günstige Wetter ausnutzen, wer weiß. Jedenfalls stieß er im Bootshaus auf Bodo und Hellberger. Es kam zum Streit. Mein Mann wollte Bodo hinauswerfen. Bodo hatte wieder einmal getrunken. Er gab meinem Mann einen Stoß vor die Brust, und der fiel so unglücklich die Treppe hinunter, daß er sofort tot war. Die beiden stiegen auf ihr Motorrad und fuhren nach Hause. Sie dachten sich weiter nichts dabei, sie nahmen an, mein Mann sei allenfalls ohnmächtig und würde bald wieder zu sich kommen. Bodo ließ sich an diesem Tag nicht mehr bei mir sehen. Zwei Tage später ging ich zu ihm, um mir den Schlüssel zu holen. Es war der Abend, an dem mein Mann hätte nach Hause kommen müssen. Bodo hatte den Schlüssel nicht. Er sagte, mein Mann hätte sie im Bootshaus überrascht und den Schlüssel an sich genommen. Von dem eigentlichen Zwischenfall erwähnte er nichts. Als mein Mann am nächsten Mittag immer noch nicht zu Hause war, wurde ich unruhig. Ich ging wieder zu Bodo. Er bekam einen furchtbaren Schreck und erzählte, was geschehen war. Wir fuhren mit dem Motorrad zum Bootshaus. Bodo war erschüttert. Er weinte wie ein Kind und wollte sich der Polizei stellen. Wahrscheinlich wäre das auch das beste gewesen. Aber damals war ich anderer Meinung. Mein Mann war tot. Das war schon schlimm genug, aber es war nicht mehr zu ändern. Ich wollte nicht, daß dafür auch noch mein Bruder ins Gefängnis kam, denn wie die Dinge lagen, glaubte ich einfach nicht, daß uns die Polizei die Geschichte mit dem Unfall abnehmen würde. Bodo war der einzige Mensch, den ich noch hatte. Und mir grauste vor dem Alleinsein. Das Bootshaus liegt sehr einsam. Niemand hatte die 125
beiden kommen oder davonfahren sehen. Die Treppe war steil. Mein Mann hätte auch ohne den Stoß hinunterstürzen können. Ich konnte Bodo überreden, daß wir der Polizei den Sachverhalt auf diese Weise darstellen.“ „Und seitdem bekommt Hellberger Geld von Ihnen.“ „Ja. Ich mußte ihn doch informieren, damit er das Richtige aussagt, falls die Polizei ihn fragen sollte. Es ist aber Gott sei Dank nie dazu gekommen.“ „Wie lange zahlen Sie schon?“ „Zwei Jahre. Das heißt, seit einem halben Jahr nicht mehr. Wir hatten uns darüber geeinigt, als ich ihm einen größeren Betrag gab, der ihm für sein Auto fehlte. Aber sicher ist man natürlich nie. Wenn er in Geldverlegenheit kommt, wird er sich schon wieder an mich erinnern.“ „Das ließe sich verhindern. Ich kenne einige Frauen, denen er ebenfalls erhebliche Beträge abgeschwindelt hat. Wenn noch Ihre Geschichte dazukäme, wären wir ihn los. Er würde für längere Zeit ins Gefängnis wandern.“ „Nein, das möchte ich nicht.“ „Warum denn nicht?“ „Ich will nicht, daß alles noch einmal aufgerührt wird. Bodo hat einen Schuldkomplex. Nach der Beisetzung ist er auf dem Weg nach Hause mit dem Motorrad gegen eine Böschung gefahren. Ich bin sicher, es war ein Selbstmordversuch, obwohl er es nicht zugeben will. Er hat eine Hirnverletzung zurückbehalten, kann sich nicht mehr konzentrieren, bekommt psychoneurotische Anfälle und ist nur noch bedingt arbeitsfähig. Er würde in seinem Zustand eine polizeiliche Ermittlung nicht noch einmal durchstehen.“ „Man wird gewiß auf seinen Zustand Rücksicht nehmen. Andererseits kann man doch einen Kriminellen nicht straflos davonkommen lassen.“ „Ich will es nicht, verstehen Sie? Verlangen Sie von 126
mir, was Sie wollen, aber das nicht. Außerdem ist Hellberger herzkrank. Ich glaube kaum, daß er noch viel Zeit zum Leben hat.“ „Mit dieser Hoffnung kann man sich auch verrechnen. Es gibt Fälle, daß gerade solche Leute besonders alt werden.“ „Dann muß man sich damit abfinden.“ „Ich werde mich nicht damit abfinden. Ich werde etwas tun, um dem Kerl das Handwerk zu legen. Denken Sie einmal an die vielen Frauen, die er schon auf dem Gewissen hat. Und es werden immer neue hinzukommen.“ „Sie wollen ihn anzeigen?“ „Was soll ich denn sonst tun?“ „Ich weiß es nicht. Aber vielleicht – ich meine, falls Sie das wirklich tun – wäre es da nicht möglich, daß Sie meinen Namen unerwähnt lassen?“ „Das würde wohl nicht viel nutzen. Wenn sich die Polizei erst einmal mit Hellbergers Leben beschäftigt, wird sie auch ohne meine Hilfe auf den Namen Gerlinde Petersein stoßen.“ „Hm – das könnte allerdings stimmen. – Trotzdem, ich wüßte einen Ausweg. Wenn ich einfach sagte, ich wäre auch eine von denen, die auf seinen Heiratsschwindel hereingefallen sind.“ „Ja, vielleicht haben Sie damit Glück. Vorausgesetzt, ich würde den Mund halten.“ „Ihnen kann es doch egal sein, wofür er bestraft wird.“ „Ich will aber nicht, daß er nur ein paar lächerliche Monate bekommt. Außerdem, was machen Sie denn, wenn er von sich aus redet?“ „Der schweigt schon im eigenen Interesse. Ich werde ihn wissen lassen, wie ich mir die Sache denke, und vor allem, daß ich kein Geld zurückverlange.“ „Ausgeschlossen! Damit würden Sie ihn ja warnen 127
und ihm Gelegenheit geben, alles zu vertuschen. Nein, ich will, daß er wirklich hart bestraft wird.“ „Dann weiß ich auch nicht weiter“, sagte sie, „dann muß eben das Schicksal seinen Lauf nehmen.“ Ich überlegte. Die Idee, die sich in Neuruppin geregt hatte, war plötzlich wieder da. Diesmal etwas deutlicher. „Ich weiß selbst noch nicht, was ich tun werde“, begann ich. „Ich muß erst noch einmal mit ihm reden. Davon hängt sehr viel ab. Sicher wird er sich bei diesem Gespräch furchtbar aufregen. Es wäre also gut, wenn ich ein paar von seinen Herztabletten im Hause hätte.“ „Dafür brauchen Sie ein Rezept.“ Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Gut, ich werde sie Ihnen geben.“ Sie öffnete die gläserne Tür des Arzneimittelschrankes hinter sich an der Wand und griff nach einem Medikament. „Die nicht“, sagte ich. „Die anderen dort drüben, die in der blau-gelben Packung.“ „Aber er leidet doch an …“ „Sie irren sich.“ Sie warf mir einen seltsamen Blick zu, dann spannten sich ihre Wangenmuskeln, und in ihre Augen trat so etwas wie Bewunderung. „Ich muß das verwechselt haben“, sagte sie, öffnete die andere Tür und legte die blau-gelbe Packung vor mir auf die Glasplatte. Ich ließ die Schachtel in meiner Handtasche verschwinden. „Vielen Dank, Frau Petersein. – Ach, Entschuldigung, Sie heißen ja gar nicht mehr Petersein.“ „Doch. Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen.“ „Dann waren Sie wohl nicht sehr glücklich in Ihrer Ehe?“ „Nein, nicht besonders.“ 128
„Einzelheiten wollen Sie mir sicher nicht erzählen?“ „Nein. Weshalb auch?“ „Verstehe ich. Ich bin ja für Sie eine völlig Fremde. Sie haben mich noch nie in Ihrem Leben gesehen.“ „Natürlich nicht. Wir kennen uns nicht. Deshalb wissen Sie auch weder etwas von mir noch von meinem Mann noch von Bodo. Eins bedingt das andere. Logisch, nicht wahr?“ Ich nickte und wandte mich zur Tür. Sie kam mit schnellen Schritten an mir vorbei und ließ mich hinaus.
34 Sommerfeld zündet seine Pfeife an und wedelt das Streichholz aus. „Ich bitte Sie, Frau Petersein“, sagt er, „werden Sie nicht ungeduldig. Soweit haben wir das schon verstanden. Merkwürdig ist nur, daß Sie bei Ihrer ersten Befragung in Rostock zu Protokoll gegeben haben, Hellberger hätte von Ihnen kein Geld bekommen. Inzwischen wurden aber unter seinen Papieren eine Anzahl Postanweisungen über jeweils dreihundert Mark gefunden, die alle von Ihnen stammen. Warum haben Sie uns denn nicht die Wahrheit gesagt?“ „Ist das so schwer zu begreifen, Herr Staatsanwalt? Bei der ersten Aussage hatte ich noch keine Ahnung, daß Frau Ballhorn ihn vergiftet hat. Ich nahm natürlich an, er lebt. Also wollte ich ihn nicht belasten.“ „Wollen Sie damit sagen, Sie liebten ihn?“ „Hätte ich mich wohl sonst mit ihm eingelassen?“ „Da treffen wir auf eine andere Merkwürdigkeit.“ Sommerfeld nimmt einen Notizzettel zur Hand, liest ihn und legt ihn zurück in den Aktendeckel. „Die Rostocker Ermittlungsorgane teilen uns folgendes mit: Frau 129
Gerlinde Petersein, geboren, wohnhaft und so weiter, hat seit etwa einem Jahr häufigen Kontakt mit Herrn Doktor Hans-Joachim Kohlrausch, Anästhesist an der Städtischen Poliklinik. Doktor Kohlrausch besucht Frau Petersein in ihrer Wohnung, fährt mit ihr einkaufen, begleitet sie ins Theater und ähnliches. – Ist das überhaupt richtig?“ „Ja.“ „Dann stimmt vielleicht sogar das Gerücht, daß Sie ihn demnächst heiraten wollen?“ „Möglich.“ „Aha! Wie vereinbart sich das mit Ihrer Behauptung, Sie würden Herrn Hellberger lieben?“ „Sie wissen doch, was Hellberger für ein Mensch war. Ich hatte seit längerer Zeit Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Hans-Joachim ist dagegen ein zuverlässiger Mann in gesetztem Alter. Er ist immer da, ich kann mich auf ihn verlassen. Das mag nicht sehr moralisch klingen, aber es war nun einmal so.“ „Lassen wir die Frage. – Wie haben Sie Hellberger eigentlich kennengelernt?“ „Ich weiß es nicht mehr genau. Ich glaube, wir sind uns irgendwo zufällig begegnet.“ „Irgendwo. Sehr schön. Und wann?“ „Vor einigen Jahren.“ „Vor fünf Jahren oder vor zwei Jahren?“ „Vor etwa drei Jahren.“ „Wann ist Ihr Mann gestorben?“ „Im Sommer vor zwei Jahren.“ „Genau vor zwei Jahren und vier Monaten.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „In welchem Verhältnis standen Sie zu Hellberger, als Ihr Mann noch lebte?“ Frau Petersein preßt die Lippen zusammen. In ihr Gesicht steigt eine dunkle Röte. „Das ist wirklich eine unerhörte Unterstellung!“ „Keine Unterstellung. Nur eine Frage.“ 130
„Selbstverständlich begann die Beziehung zu Wolfgang erst nach dem Tode meines Mannes.“ „Da sind wir schon wieder bei einer Merkwürdigkeit.“ „Wieso denn das?“ „Ihre Hausnachbarn können sich überhaupt nicht an einen Mann erinnern, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit Hellberger hatte. Und Sie haben offenbar sehr aufmerksame Hausnachbarn.“ „Allerdings. Es ist der übelste Verein von Klatschweibern, der je um einen Tisch gesessen hat.“ „Warum haben die Nachbarn ihn nie gesehen?“ „Mein Gott! Wolfgang war fünfzehn Jahre jünger. Weil ich die Klatschweiber kenne, wollte ich nicht, daß er mich zu Hause besucht. Ich habe ein Bootshaus draußen am Bodden. – Was sollen überhaupt diese ganzen Fragen? Ich sehe nicht den geringsten Grund dafür.“ „Aber Sie müssen zugeben, daß sie nicht ganz unlogisch sind. Etwas anderes noch. Die Journalistin ist also nicht bei Ihnen gewesen?“ „Nein. Ich habe Ihnen das schon zu Anfang erklärt.“ „Richtig. Immerhin ist es ebenfalls merkwürdig. Sie sind nämlich die einzige Frau auf ihrer Liste, die sie nicht besucht hat.“ „Dafür kann ich doch nichts. Ich habe sie jedenfalls heute zum erstenmal gesehen und noch nicht mehr als zwei Worte mit ihr gewechselt.“ „Das wollte ich noch einmal hören.“ „Dann kann ich jetzt gehen? Mein Zug fährt in einer Stunde.“ „Tut mir leid, Frau Petersein. Ich muß Sie bitten, noch etwas zu bleiben. Möglicherweise haben wir später noch einige Fragen an Sie.“ Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, erhebt sich Heym aus seinem Sessel. Er legt den Stenogrammblock auf den Tisch und macht Fingergymnastik. „Die Frau ist nicht dumm“, sagt er. „Trotzdem, ihre 131
Geschichte stimmt hinten und vorne nicht. Davon bin ich jetzt mehr denn je überzeugt.“ „Mag ja sein, daß sie uns etwas verheimlicht. Das muß aber nicht unbedingt mit Hellbergers Tod in Zusammenhang stehen.“ Heym massiert nachdenklich sein Kinn. „Ich weiß nicht. Wenn ich nur etwas mehr wüßte über ihr Vorleben, ich glaube, dann könnte ich ihr irgendwie beikommen. Ihr Mann ist verunglückt, als er allein in seinem Bootshaus war. Der Fall wurde gründlich untersucht, es kam aber nichts dabei heraus. Dennoch ist es ganz interessant, daß sie runde achtzigtausend Mark von der Versicherung kassiert hat.“ „Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Sie sagen selbst, der Fall wurde gründlich untersucht. Und er ist abgeschlossen.“ „Ja, schon, aber mir kommt da eine gewisse Vermutung. Ich kann es noch nicht genau erklären. Vielleicht sollte ich doch noch einmal mit den Genossen in Rostock reden.“ „Bitte, dort steht das Telefon.“ „Sehen Sie mal, Genosse Sommerfeld, die Liebesgeschichte mit Hellberger, die kaufe ich ihr einfach nicht ab. Diese Frau sucht doch keine Abenteuer, das entspricht gar nicht ihrem Wesen. Sie ist nüchtern, praktisch, weiß, was sie will. Wenn sie ein Ziel hat, geht sie ohne Umwege darauf los. So eine verliebt sich nicht in einen Mann wie Hellberger. Und wenn doch, dann bekennt sie sich auch zu ihm, dann will sie ihn heiraten, ganz egal, was die Klatschweiber in der Nachbarschaft dazu sagen. Jedenfalls würde sie sich bestimmt nicht mit ihm in einem Bootshaus verkriechen. Wohin sollte das führen? Das hätte doch für sie gar keinen Sinn gehabt.“ „Irgendwie leuchtet mir das ein. Und was folgern Sie daraus?“ 132
„Sie besitzt eine ganze Menge Geld. Hellberger hatte dafür schon immer eine feine Nase. Und wenn man bedenkt, daß sie ihm nach dem Tode ihres Mannes fast zwei Jahre lang monatlich dreihundert Mark überwiesen hat, dann erinnert mich das weniger an Liebe, sondern eher an Erpressung. Wenn ich auch noch nicht weiß, womit er sie eigentlich erpreßt haben könnte.“ „Interessanter Gedanke“, sagt Sommerfeld. „Erpressung. Wäre übrigens auch kein schlechtes Motiv für einen Mord.“ „Oder für Beihilfe“, sagt Heym und greift zum Telefon.
35 Seit meiner Rückkehr aus Rostock waren zehn Tage vergangen. In dieser Zeit hatte ich mir genau überlegt, wie ich ihn in die Enge treiben wollte. In meiner Phantasie war das ganz einfach gewesen. Er saß bequem in seiner Sofaecke, rauchte und sah mich wohlwollend an. „Komm, setz dich zu mir.“ „Nein.“ Ich suchte verzweifelt nach einem Anfang. „Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen“, sagte er. „Und noch ehe wir uns richtig begrüßt haben, machst du einen Bogen um mich und willst ‚Fragen‘ stellen. Es muß sich ja um etwas ungeheuer Wichtiges handeln.“ Er hatte eine niederträchtige Art, einem den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Man hat dich gesehen. Mit einer Frau!“ stieß ich hervor. Das war schon mal sehr ungeschickt. Ich wußte es, kaum daß ich es ausgesprochen hatte. „Wo hat man mich gesehen?“ „In Neuruppin.“ 133
„In Neuruppin, soso.“ Er grinste. „Und wer hat mich dort gesehen?“ „Das ist doch egal!“ schrie ich. Ich war wütend auf mich selbst. Gleich zu Beginn hatte ich alles falsch gemacht. Aber das hatte auch einen Vorteil. Nun brauchte ich keine diplomatischen Verrenkungen mehr. „Man hat dich eben gesehen, basta!“ sagte ich. „In Neuruppin, in Meiningen, in Potsdam. Jedesmal mit einer anderen Frau. Ich will wissen, was du darauf zu antworten hast.“ Er sah mich scharf und aufmerksam an, eine Sekunde lang. Dann lehnte er sich zurück und senkte die Lider. Als er sie wieder hob, waren seine Augen sanft und feucht. „Du hast recht“, sagte er ruhig, weder gekränkt noch aggressiv. Er trank einen Schluck von dem Whisky, den er mitgebracht hatte. „Ich will gar nicht wissen, wieviel du weißt und woher du es weißt. Du sollst alles von mir selbst erfahren. Zuvor muß ich dir noch etwas sehr Wichtiges sagen: Ich liebe dich. Dich und sonst keine. Das mußt du mir glauben.“ Er nippte wieder an seinem Glas. „Ich war leichtsinnig, ja. Ich habe ein recht fröhliches Leben geführt. Ich gestehe sogar, ich habe eine Zeitlang geschwankt, ob ich es deinetwegen aufgeben soll.“ Ich machte eine ungeduldige Bewegung. Er hob beschwörend die Hände. „Begreif doch, ich habe Vertrauen zu dir. Was soll es für einen Sinn haben, nur einen Teil der Wahrheit zu sagen? Entweder man sagt alles, oder man sagt nichts. In den letzten Wochen habe ich mir viel Gedanken gemacht, habe mich immer wieder gefragt, wie es dazu gekommen ist. Wahrscheinlich lag es an meiner Jugend. Meinen Vater kenne ich nicht. Er hat meine Mutter verlassen, noch bevor ich geboren wurde. Mit drei Jahren kam ich in ein Heim. Was zu meiner Zeit in so einem Kinderheim 134
los war, kannst du dir nicht vorstellen. Ich will es dir auch nicht erzählen, weil du es doch nicht glauben würdest.“ Er schwieg und zündete sich eine neue Zigarette an. „Eins habe ich jedenfalls dort gelernt: daß man für jede Anständigkeit postwendend einen Tritt in den Hintern kriegt.“ „Mit dieser Einstellung kann man doch nicht leben.“ „Vielleicht nicht in deinen Kreisen. Wo ich herkomme, kannst du nur mit dieser Einstellung leben, sonst gehst du vor die Hunde.“ „Man sieht es.“ „Ich habe mir ja vorgenommen, mich zu ändern. Das wird einem aber verdammt sauer gemacht. Gib nur einen Fehler zu, gleich hacken sie auf dich ein. Und du bist offenbar auch so eine. Mit welchem Recht eigentlich? Hast immer bequem und glücklich gelebt, wohlversorgt mit Nestwärme und mit dem Geld von Mama.“ „Wenn man selbst unglücklich ist, dann muß man andere auch unglücklich machen. Eine feine Moral.“ „Unglücklich? Meinst du die paar Frauen, die ich kenne?“ „Allerdings.“ Er lachte. „Die hat das Leben unglücklich gemacht, das war nicht meine Schuld. Weißt du eigentlich, wie viele Frauen es gibt, die sehnsüchtig auf einen Mann warten? Die es satt haben, allein zu sein, abends, an den Wochenenden, im Urlaub? Sie klammern sich an jede Hoffnung, sie sind dankbar für jede gemeinsame Stunde, selbst wenn sie wissen, daß es nicht von Dauer ist. Lieber eine kurze Zeit glücklich sein als ganz darauf verzichten.“ „Du hast sie nur um ihr Geld betrogen.“ „Betrogen? Das ist doch lächerlich. Ich habe nie etwas verlangt, sie haben es mir förmlich aufgedrängt.“ 135
„Du hast dir aber immer Frauen gesucht, die etwas zum Aufdrängen hatten.“ „Gut, gut, es war ein Geschäft auf gegenseitigen Nutzen. Ich habe ihnen schöne Stunden geliefert, Freude, Hoffnung, und sie haben eben dafür gezahlt. Wenn du ins Kino gehst, ein Stück Wurst willst oder eine Flasche Schnaps, das bekommst du ja auch nicht umsonst.“ Mir lief es kalt über den Rücken. „Mein Gott, wie kann man über die Liebe mit soviel Zynismus reden? Was bist du bloß für ein Schuft!“ Noch vor einer halben Stunde hatte ich gehofft, ich würde vielleicht doch noch alles wieder einrenken können, hatte mich sogar darauf gefreut. Jetzt fand ich ihn nur noch abstoßend. „Dann bin ich eben ein Schuft“, sagte er ruhig. „Aber ich will leben. Ich weiß ja gar nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt. An die Zukunft zu denken hat für mich überhaupt keinen Zweck. Das ist mir erst so richtig klargeworden, als ich im Krankenhaus kurz vor dem Abkratzen war. Ekelhaft, jetzt fange ich doch an, mich zu entschuldigen.“ „Bildest dir wohl ein, du hättest das nicht nötig?“ „Hab’ ich im Grunde auch nicht.“ „Und was war in Rostock? Hat dir Frau Petersein das Geld ebenfalls aufgedrängt?“ „Von der Geschichte weißt du auch? Bist ja ausgesprochen raffiniert.“ Er lächelte und schien nicht ein bißchen betroffen. „Heiratsschwindel ist schon gemein genug“, schrie ich. „Aber Erpressung ist wohl das Übelste!“ „Nun hör mal gut zu. Die schöne Gerlinde hat ihren Alten gehaßt wie die Pest. Jede Woche ist sie auf Knien im Bootshaus rumgekrochen und hat dreimal die Treppe gebohnert. Vermutlich immer in der Hoffnung, daß er sich mal das Genick bricht. Und das ist ja dann auch passiert.“ „Was denn? Willst du behaupten, es war Mord?“ 136
„Unsinn. Der Alte wollte Bodo an den Kragen, und der hat ihn zurückgestoßen. Was konnte er dafür, daß der Mann ausrutscht und die Treppe runterfällt.“ „Also hat Bodo den Unfall verschuldet. Und Frau Petersein hat ihn vor dem Gefängnis bewahrt.“ „Was heißt denn verschuldet. Genaugenommen war es Notwehr. Bodo hätten sie nicht viel anhaben können. Bloß eine langwierige Untersuchung hätte es gegeben. Aber gerade die wollte Gerlinde verhindern. Sie wollte nicht, daß man in ihre Familienverhältnisse hineinleuchtet, weil sie Angst hatte, daß dann vielleicht die Versicherung Ärger macht. Es standen immerhin achtzigtausend Mark auf dem Spiel. Lebensversicherung des Mannes, bei Unfall doppelte Summe. Und die hat sie auf die Art postwendend kassiert.“ „Und was hast du kassiert?“ „Knappe dreitausend, wenn du es genau wissen willst, in kleinen Raten über zwei Jahre. Das war sehr bescheiden für mein Risiko. Denn falls die Sache platzt, stehe ich als Augenzeuge ziemlich dumm da.“ „Und was soll nun werden?“ „Gerlinde kriegt keinen Pfennig zurück. Für die anderen Sachen werde ich wohl oder übel geradestehen. Ich weiß überhaupt nicht, was mich so verändert hat. Seit ich dich kenne, hat sich so vieles verändert.“ Er machte ein Gesicht, als wäre er plötzlich über sich selbst erstaunt. „Willst du dich der Polizei stellen?“ „Mich stellen?“ Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Was denkst du denn, was mir dann passiert? Die drehen mich durch den Wolf, bis kein guter Faden mehr an mir bleibt. Ich würde für ein Jahr in den Knast gehen, und mit dem, was ich dort verdiene, könnte ich meine Schulden ewig nicht bezahlen. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. – Oder willst du mich etwa anzeigen?“ 137
Ich schüttelte den Kopf. Ich war verwirrt und wußte nicht mehr, was ich denken sollte. „Ich wußte, ich kann mich auf dich verlassen“, sagte er unbekümmert. „Es wäre ja auch der blanke Wahnsinn gewesen, wenn ausgerechnet du mir die Zukunft versaut hättest, du, die einzige Frau, die ich wirklich liebe. Ehrlich, ich bin heilfroh, daß du alles weißt. Der ganze Quatsch lag mir wie ein Alpdruck auf der Seele. Ich muß nur sehen, wie ich diese Schulden los werde, sonst geht vielleicht doch noch etwas schief. Aber keine Angst, mir fällt immer was ein. Vielleicht sollten wir erst einmal zwei Wochen Urlaub machen. Wenn wir zurückkommen, bin ich ein neuer Mensch. Dann habe ich einen Plan, wie ich aus allem rauskomme. Ich sehe schon verschiedene Möglichkeiten. Im Grunde ist das gar nicht so schwierig.“ Er redete und redete. Alles drehte sich um seine Schwierigkeiten. Jetzt, wo er sicher war, daß von mir keine Gefahr mehr drohte, spielte ich nur noch eine Nebenrolle. Er liebe mich, hatte er gesagt. Damit war nach seiner Meinung alles entschieden. Ob ich ihn noch liebte nach allem, was geschehen war, darauf verschwendete er keinen Gedanken. Er war noch immer so selbstsicher, so borniert, daß er sich für unwiderstehlich hielt. „Was ist mit dir?“ fragte er. „Woran denkst du?“ „Du machst doch nur Redensarten, nicht ein bißchen hast du dich geändert.“ „Aber wieso denn? Ich erkläre dir die ganze Zeit …“ „Du mußt sofort etwas tun. Mach Schluß mit dem Schwindel. Solange das nicht geschehen ist, rede ich kein Wort mehr mit dir.“ „Im Ernst?“ „Darauf kannst du dich verlassen.“ Er wurde nachdenklich. „Hm“, sagte er, „warum eigentlich nicht? Je schneller ich das hinter mich bringe, um so besser. – Willst du noch einen Whisky?“ 138
„Nein.“ Er schenkte trotzdem ein. „Wie denkst du dir das?“ „Sehr einfach, fahr los. Geh zu den Frauen und sage ihnen die Wahrheit.“ „Heute noch?“ „Ja, sofort.“ „Möglich wäre es. Bis Neuruppin brauche ich nur drei Stunden, und die erwartet mich sowieso schon seit Tagen. Um acht wäre ich da, eine Stunde dauert die Chose, gegen halb elf könnte ich dann in Berlin sein. – Ach so, jetzt würde ich doch gerne wissen, wie du das rausgekriegt hast.“ „Später vielleicht.“ „Weiß die Ballhorn über unser Verhältnis Bescheid?“ „Nein.“ „Und die anderen?“ „Die auch nicht.“ Er stand auf. „Gut, dann werd’ ich jetzt gehen. Das heißt, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn ich gleich etwas zurückzahlen könnte, und wenn es nur ein paar hundert Mark wären. Das macht die Sache glaubwürdiger.“ „Dann tu es doch.“ „Jaja, ich hab’ nur nicht genug bei mir“, sagte er und griff nach meiner Hand. „Vielleicht kannst du mir da aushelfen. Natürlich nur für kurze Zeit.“ Fassungslos starrte ich ihn an. Hatte ich richtig verstanden? Geld wollte er von mir? Geld? Ich riß ihm meine Hand weg und sprang auf. Eine blinde Wut packte mich. „Du Lump!“ schrie ich. „Du widerlicher Lump! Hältst du mich auch für eine dumme Gans, die du rupfen kannst? Erst kommt das Geschwätz von Liebe, und dann geht es an mein Geld. Darauf falle ich nicht ’rein, ich nicht! Wie konnte ich mich überhaupt mit dir einlassen? Mit einem Heiratsschwindler, einem billigen Gauner, der nur davon lebt, den Frauen das Geld abzuschwatzen. 139
Aber nun ist es genug. Ich bringe dich ins Loch. Und ich wünsche mir, daß du dein Leben lang nicht mehr herauskommst!“ Er war leichenblaß geworden und starrte mich an mit offenem Mund. Langsam kam er auf mich zu. „Faß mich nicht an!“ Ich stieß ihn von mir und stürzte aus dem Zimmer. Im Flur begann ich zu schluchzen. Ich rannte ins Badezimmer und verriegelte die Tür. Im Spiegel sah ich mein tränenüberströmtes Gesicht. Ich riß ihn von der Wand und schleuderte ihn auf die Fliesen. Alles begann sich zu drehen. Der Boden schwankte unter meinen Füßen. Ich lehnte mich zitternd an die Wand. Ich haßte diesen Menschen. Ich haßte ihn, wie ich noch nie jemanden gehaßt hatte. Ich wünschte ihm tausend Tode. Mir schien, als müßte ich vor hilfloser Wut den Verstand verlieren. Irgend etwas mußte geschehen, irgend etwas mußte ich tun. Mein Blick fiel auf die Konsole über dem Waschbecken. In der Lederhülle seines Rasierapparates klemmte ein Tablettenröhrchen. Ich zog es heraus. Es war zur Hälfte leer. Im Apothekenschrank lagen die Tabletten aus Rostock. Einige davon schob ich in das Röhrchen, den Rest warf ich in die Toilette. Ich rieb das Röhrchen mit dem Handtuch ab und steckte es wieder an seinen Platz. Das Herz schlug mir bis zum Halse. In meinen Ohren rauschte das Blut. Er klopfte an die Tür und sagte etwas von Mißverständnissen. Er würde mir alles in Ruhe erklären. Seine Stimme hatte einen flehenden Tonfall. Eine neue Woge von Wut überschwemmte mich. Was dachte sich dieser Kerl? Glaubte er, ich würde jemals mit ihm wieder reden? Und wenn er vor mir auf dem Bauch rutschte, nicht eine Sekunde würde ich ihn anhören. 140
Neben der Tür stand sein Koffer. Ich stopfte Schuhe, Rasierapparat und seinen anderen Krempel hinein, riß die Tür auf und schleuderte den Koffer hinaus. Darauf hatte er gewartet. Es kümmerte ihn nicht, daß der Koffer gegen sein Schienbein geschlagen war. Er versuchte, die Tür aufzudrücken. Ich wollte ihn nicht sehen, um keinen Preis. Ich bot einen jämmerlichen Anblick, verheulte Augen, die Wimperntusche verschmiert. Aber ich kam nicht gegen ihn an. Meine Füße fanden auf den Fliesen keinen Halt, langsam drückte er mich zurück. Noch ein paar Sekunden, und er würde sich durch die Tür zwängen. Ich ließ los, die Tür schlug krachend gegen die Wand. Er machte einen Schritt nach vorn, sah mich an mit verdutztem Gesicht. Ich faßte die Tür und schlug sie mit voller Wucht gegen seinen Kopf. Er stöhnte und taumelte zurück. „Scher dich zum Teufel!“ schluchzte ich. „Und komm mir nie wieder unter die Augen.“ Ich drehte den Schlüssel herum, ließ mich auf den Boden sinken und heulte hemmungslos. Die Wohnungstür klappte. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, daß er gegangen war. Ich machte die Tür auf und blickte hinaus auf den Flur. Tatsächlich, er war weg. Auch der Koffer war weg. Ich hastete die Treppen hinunter. Ich mußte ihn zurückrufen, mußte ihm sagen, was ich getan hatte. Auf der Straße war er nicht mehr zu sehen. Ich lief bis zur Ecke, dann quer durch das Gebüsch auf den Parkplatz. Sein Auto war nirgends zu entdecken. Ich rannte hin und her und rief seinen Namen. Ein paar Kinder tauchten auf und glotzten mich an wie ein Gespenst. Ich streckte ihnen die Zunge ’raus, drehte mich um und lief nach Hause.
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36 Mama kehrte im Bad die Scherben zusammen. „Um Gottes willen, Kind, was ist denn passiert?“ fragte sie verstört. „Wer hat denn den schönen Kristallspiegel zerschlagen?“ Der Spiegel! Ausgerechnet der blöde Spiegel. Das war typisch Mama. Als Vater gestorben war, fing sie erst an zu weinen, als sie sah, daß er die Teekanne aus Meißner Porzellan vom Tisch gerissen hatte. „Wo ist Wolfgang? Habt ihr euch gestritten?“ „Laß mich in Ruhe, ich erklär’ es dir später.“ Ich lief in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und hielt mir die Ohren zu, weil ich nicht hören wollte, was sie mir hinterherrief. Ich fühlte mich kraftlos und wie zerschlagen. Hätte ich ihm doch nicht diese Tabletten in das Röhrchen getan. Wenn ich es doch rückgängig machen könnte! Gern wäre ich bereit, auf meine Rache zu verzichten, nur sterben sollte er nicht. Aber ich konnte nichts tun, ich wußte ja nicht einmal seine Adresse. Warum hatte ich nicht daran gedacht, ihn nach seiner Adresse zu fragen? Dann könnte ich jetzt wenigstens ein Telegramm schicken. Vielleicht kam er auch von selbst zurück. Vielleicht hatte er eingesehen, daß es ein Fehler war, einfach so wegzulaufen ohne ein Wort des Abschieds. Wenn er mich wirklich liebte, würde er zurückkommen. Dann wäre alles gut. Ich würde ihm das Röhrchen wegnehmen und die Tabletten vernichten. Und wenn er nicht kam? Wenn er sich wochenlang nicht mehr sehen ließ? Nein, das durfte nicht sein. Ich würde diese Ungewißheit, diese schreckliche Angst keine zwei Tage aushalten. Ob ich ihm einen Brief schrieb? Sinnlos, es konnte ewig dauern, bis er die Post aus seinem Schließfach holte. Und Mama? Vielleicht würde sie einen Ausweg wis142
sen. Sie wußte doch für alles einen Rat. Aber wenn er inzwischen von den Tabletten genommen hatte? Wenn er daran gestorben war? Dann war ich seine Mörderin. Nein, ich durfte mit niemandem darüber reden, ich mußte sehen, wie ich allein damit fertig wurde. Es war ja auch noch gar nichts verloren. Warum sollte er ausgerechnet heute oder morgen einen Herzanfall bekommen? Hatte er nicht gesagt, daß diese Anfälle nur in großen Zeitabständen auftreten? Und wenn es doch geschah, mußte er nicht gleich die falsche Tablette erwischen. Vielleicht hatte er noch ein anderes Röhrchen. Oder es war ein Arzt in der Nähe, der ihm helfen konnte. Im Grunde war er eigentlich an allem selber schuld. Was konnte ich für seine Betrugsaffären? Ich hätte ihm doch geholfen, wenn er es ehrlich gemeint hätte. Aber was hatte er getan? Er hatte sofort versucht, aus meinem Mitgefühl Kapital zu schlagen. Ich stand auf und setzte mich an den Schminktisch, um mein Make-up in Ordnung zu bringen. Die Angst war lächerlich. Ich durfte mich nicht von meiner Phantasie verrückt machen lassen. Es war sehr wahrscheinlich, daß in den nächsten Tagen gar nichts passierte. Inzwischen würde mir schon einfallen, wie ich ihn erreichen konnte. Kein Mensch brauchte von der Geschichte etwas zu erfahren. Zu Mama würde ich sagen, wir hätten einen kleinen Streit gehabt und sie solle sich keine Sorgen machen. Ich schaltete das Radio ein, hörte Nachrichten und ein bißchen Musik, zog mich um, bürstete mein Haar, zündete mir eine Zigarette an und setzte mich in meinen Lieblingssessel. An nichts mehr denken. Ich nahm ein Buch. Nach der dritten Seite bemerkte ich, daß ich überhaupt nicht wußte, was ich gelesen hatte. Ich klappte das Buch zu und knipste die Stehlampe aus. Über Wände und Zimmerdecke geisterte das Scheinwer143
ferlicht der Autos. Eine Weile sah ich den tanzenden Lichtstreifen zu. Und jedesmal hoffte ich, das Auto würde anhalten, und dann würde er dreimal auf die Hupe drücken, wie immer, wenn er spät kam und die Haustür abgeschlossen war. Ich begann mich zu ärgern, daß ich mich mit dieser albernen Hoffnung zum Narren hielt. Ich machte das Licht an und griff wieder zu meinem Buch. Es half nichts. Ich lauschte mit gespitzten Ohren auf jedes Geräusch, das von der Straße heraufdrang. Was war an diesem Mann? Wie war es möglich, daß er mir mein ganzes Leben durcheinanderbrachte? Warum kam er nicht zurück? Konnte er sich nicht denken, daß ich mir Sorgen machte? Ich verging hier vor Unruhe, und er kutschierte in seinem Auto über die Landstraßen, vergnügt und wohlbehalten. Oder er saß bereits auf dem Sofa bei diesem dicken Weibsbild in Neuruppin. Moment! Hatte ich nicht ihre Telefonnummer? Natürlich. Ich würde dort anrufen und ihm sagen, was ich getan hatte, ganz egal, was er dann von mir denken würde. Hauptsache, ich hatte diese Angst von der Seele. Fünf Minuten später war ich auf dem Weg zur Post.
37 Eine schreckliche Nacht lag hinter mir. Ich hatte ihn nicht erreichen können. Offenbar war er gar nicht nach Neuruppin gefahren. Die Ballhorn hatte mich sehr unfreundlich abgefertigt. Noch bevor ich sagen konnte, daß sie ihm etwas ausrichten soll, falls er noch eintrifft, hatte sie schon aufgelegt. Auch meine Hoffnung, er würde zurückkommen, hatte sich nicht erfüllt. Das konnte nur bedeuten, es war ihm etwas zugestoßen. 144
Mama beobachtete mich mit Argusaugen. Sie glaubte mir nicht. Je länger ich versuchte, die Ereignisse des gestrigen Abends als harmlosen Streit hinzustellen, um so größer wurde ihr Mißtrauen. Ich konnte ihren forschenden Blicken nicht mehr standhalten, ließ das Frühstück stehen und verschwand. Vor dem Haus kam mir ein gelber Dacia entgegen. Ein heißer Schreck durchzuckte mich. Ich starrte erwartungsvoll auf das Auto. Es rauschte vorbei. Ich mußte mich an einer Laterne festhalten, so fuhr mir die Enttäuschung in die Glieder. Tränen stiegen mir in die Augen, das Herz schlug bis zum Hals. Nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Gedanken war ich am Ende meiner Kraft. Ich mußte etwas tun, sonst würde mich die Ungewißheit um den Verstand bringen. Wenn ich mit Jonny sprach? Der hatte genug eigenen Ärger. Und Helga? Nein, sie würde mir auch nicht helfen können. Es blieb nur eins, ich mußte zur Polizei gehen. Vielleicht war es gar nicht nötig, die Geschichte in jeder Einzelheit zu erzählen. Ich wollte ja weiter nichts, als seine Anschrift erfahren. Das VP-Revier befand sich in einem Bürohaus im ersten Stock. Hinter der Barriere saß ein grauhaariger Mann in Uniform und telefonierte. Sein jüngerer Kollege tippte mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine. Der Grauhaarige legte den Hörer auf und sah mich fragend an. „Ich möchte einen Suchantrag stellen“, sagte ich und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ich mit diesem Satz in ein Räderwerk geraten, aus dem ich nie wieder herauskäme. „Was ist denn verlorengegangen?“ „Ein Mann.“ Die Schreibmaschine hörte auf zu tippen. Der Grauhaarige runzelte die Stirn. Er suchte in meinem Gesicht 145
nach Anzeichen von Ironie. Dann deutete er auf die Tür neben der Barriere. „Vermißtenanzeigen Zimmer vier.“ Nummer vier war ein Zimmer mit hellen Möbeln und Gardinen. Am Schreibtisch saß ein Mann, der silberne Schulterstücke trug. Er fragte, was er für mich tun könne. Ich stotterte zusammenhangloses Zeug. Wir hätten einen Streit gehabt, wir liebten uns, aber ich wüßte seine augenblickliche Adresse nicht. Sein Name sei Wolfgang Hellberger. Er nickte und sagte: „Wie ist Ihre Anschrift, Frau Hellberger?“ „Nein! Wir sind doch gar nicht verheiratet.“ „Entschuldigung, ich hatte diesen Eindruck.“ „Wir sind verlobt.“ „Und Sie wissen seine Anschrift nicht?“ Ich biß mir auf die Lippen und wäre am liebsten davongelaufen. „Was erwarten Sie nun von uns?“ „Vielleicht könnten Sie ihn finden. Er wohnt in Berlin, möbliert. Ich habe die Anschrift von seinem Postfach.“ „Dann schreiben Sie ihm doch.“ „Das dauert zu lange. Ich muß ihn so schnell wie möglich sprechen. Es geht um … Es ist sehr wichtig, verstehen Sie?“ In seinen Augen blitzte es spöttisch. „Ihre Privatangelegenheiten müssen Sie schon selbst regeln. Die Volkspolizei ist kein Suchdienst für verlorengegangene Liebhaber.“ Ich fühlte, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen, wühlte ein Taschentuch hervor und begann zu schluchzen. „Aber, aber, mein liebes Fräulein“, sagte er überrascht. „Sie müssen mir helfen“, stammelte ich. „Sie sind meine letzte Hoffnung. Es passiert eine Katastrophe. Ich – ich nehme mir das Leben!“ 146
Er sah mich nachdenklich an. Offenbar wußte er nicht, wie er sich verhalten sollte. Meine Selbstbeherrschung hing an einem seidenen Faden. Ein hartes Wort von ihm, und ich wäre zusammengebrochen. Ich hätte ihm alles erzählt, alles, die ganze Wahrheit. „Hören Sie doch auf zu weinen“, sagte er freundlich. „Meine Bemerkung war nicht böse gemeint. Geben Sie mir mal Ihren Personalausweis.“ „Wozu?“ „Ich will sehen, was sich machen läßt.“ Ich kramte meinen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn über den Schreibtisch. Er nahm ein Blatt Papier und machte sich Notizen. „Bitte den Namen und das Geburtsdatum des Gesuchten.“ „Wolfgang Hellberger, sechzehnten April neununddreißig.“ „In welchem Stadtbezirk wohnt Herr Hellberger?“ „Weiß ich nicht. Er erwähnte einmal, er hätte es von seiner Wohnung nicht weit bis zum Bahnhof Friedrichstraße.“ „Und die Anschrift des Postfachs?“ „Null zwei vierundsechzig, einhundertacht Berlin acht.“ Er gab mir meinen Ausweis zurück. „Nun machen Sie sich keine Sorgen mehr. Wir werden ihn schon finden. Doch falls er sich von selbst meldet, rufen Sie mich bitte an. Dann können wir uns die weitere Arbeit sparen.“ Er drückte mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer in die Hand und stand auf. „Kommen Sie in zwei oder drei Tagen wieder vorbei. Wahrscheinlich kann ich dann schon etwas sagen.“ Am liebsten hätte ich ihn umarmt, so erleichtert war ich. 147
38 „Da ist immer noch ein Punkt“, sagt Sommerfeld hartnäckig, „der gegen Ihren Verdacht spricht, Genosse Heym. Warum hat die Frau versucht, über die Volkspolizei Hellbergers Anschrift zu erfahren? Unter den in seinem Nachlaß gefundenen Papieren gab es keinerlei Hinweis auf sie. Hätte sie geschwiegen, hätten wir sie nie gefunden, hätten überhaupt nichts von ihrer Existenz und ihren Beziehungen zu Hellberger gewußt.“ „Das konnte sie nicht ahnen. Es gibt einen Haufen Leute, die sie mit Hellberger gesehen haben. Aus ihrer Sicht wäre es eher verdächtig gewesen, wenn sie plötzlich versucht hätte, ihre Verbindung mit Hellberger zu vertuschen.“ „Überzeugt mich nicht. Sie gibt bereits einen Tag nach seinem Tod diesen Suchantrag auf. Ein solches Verhalten wäre für eine Frau, die den Plan hat, Hellberger umzubringen, völlig sinnlos. Es scheint sie eher zu entlasten, denn es deutet darauf hin, daß sie nichts von seinem Tod wußte.“ „Sie wußte ja auch nichts von seinem Tod, aber das entlastet sie überhaupt nicht. Als sie den Antrag aufgab, lagen die Dinge für sie so: Sie hat Hellberger ein paar tödliche Tabletten mit auf den Weg gegeben. Die Absicht jedoch, durch den Anruf in Neuruppin ihren Plan zu vollenden, bleibt erfolglos. Sie muß also annehmen, daß Hellberger dort gar nicht angekommen ist, und denkt verzweifelt darüber nach, was geschehen ist. Lebt er oder lebt er nicht? Und wenn er nicht mehr lebt, hat jemand Verdacht geschöpft, oder ist der Mord unentdeckt geblieben? Sie will sich Klarheit verschaffen, deshalb geht sie zur Meldestelle. Das ist doch sehr einleuchtend, wenn man bedenkt, in welcher Ungewißheit sie sich befand.“ „Ihre Vermutungen in allen Ehren, Genosse Heym. 148
Was noch immer fehlt, sind Beweise. Zum Beispiel: Wie ist sie in den Besitz der tödlichen Tabletten gelangt? Und wenn Sie das nicht wissen, bringen Sie mir wenigstens den Beweis, daß sie es war, die bei Frau Ballhorn angerufen hat.“ „Den Beweis habe ich nicht. Ich habe Indizien.“ „Die reichen nicht aus.“ „Eben deshalb werde ich sie dazu bringen, ein Geständnis abzulegen.“ Das Telefon klingelt. Sommerfeld hebt ab und reicht den Hörer an Heym. „Gespräch für Sie. Rostock.“ Heym hört längere Zeit mit unbewegtem Gesicht zu. Schließlich legt er den Hörer auf und reibt sich zufrieden die Hände. „Nun, was ist?“ fragt Sommerfeld. „Haben die Rostocker etwas Brauchbares geliefert?“ „Ich denke schon. Frau Petersein hat einen Bruder namens Bodo. Aus der Untersuchungsakte über den Unfall ihres Mannes im Bootshaus bei Ribnitz geht eindeutig hervor, daß nicht sie mit Hellberger befreundet war, sondern ihr Bruder Bodo.“ „Das schließt doch nicht aus, daß sie später mit Hellberger ein Verhältnis hatte.“ „Kurz nach dem Tode seines Schwagers hatte Bodo Petersein einen schweren Motorradunfall. Und vor einer halben Stunde, als Bodo noch einmal über die Zusammenhänge mit Hellberger befragt wurde, hat er zugegeben, daß dieser Unfall ein Selbstmordversuch war. Er fühlte sich schuldig, weil er seinen Schwager im Bootshaus die Treppe hinuntergestoßen hat. Hellberger war dabei und hat seitdem die Peterseins erpreßt.“ „Gratuliere. Ihre Nase ist nicht schlecht. Dann werden wir uns wohl mit der Dame noch einmal unterhalten müssen.“
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39 Ich sehe hinaus in den trüben Nachmittag. Der Nebel hat sich verdichtet, es wird schon dunkel. Alle haben bereits ihre Aussage gemacht, nur ich war noch nicht dran. Warum lassen sie mich so lange warten? Die Tür geht auf. Jetzt werden sie mich rufen, endlich. Nein, die Petersein wird noch einmal geholt. Weshalb eigentlich? Nach ihrer ersten Aussage kam sie nicht zurück auf unsere Bank. Sie wurde in ein Nebenzimmer geführt. Sie schien bedrückt und warf mir im Vorbeigehen einen fragenden Blick zu. Ich habe schnell weggesehen. Wir kennen uns nicht. Ob ich vielleicht einen Fehler gemacht habe, damals vor fünf Wochen, bei meinem ersten Gespräch mit der Kripo? Von der Petersein habe ich doch ganz bestimmt nichts gesagt. Oder wie ist das gewesen?
40 Ich war mit Wasko im Dachatelier beim Ausleuchten einer Dekoration. Helga steckte den Kopf durch die Tür und rief mir zu: „Komm mal ’runter, es ist jemand da, der dich sprechen will.“ „Wer denn?“ „Ein Knabe in einer braunen Wildlederjacke. Schöne blaue Augen.“ Er stand im Gang vor dem Sekretariat, reichte mir die Hand und fragte nach meinem Namen. Ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende Zwanzig. Nachdem Helga in ihrem Labor verschwunden war, zog er einen Ausweis hervor und sagte etwas von Oberleutnant und Kriminalpolizei. Er hätte einige Fragen und wo wir uns ungestört unterhalten könnten. 150
Ich hatte geahnt, daß etwas Unangenehmes auf mich zukommen würde, aber daß es gleich die Kriminalpolizei war, versetzte mir einen ziemlichen Schock. „In den Gewerkschaftsraum vielleicht?“ fragte ich. Er nickte. Ich holte den Schlüssel. Kalte Angst kroch mir den Rücken hinauf. Meine Hände zitterten so, daß ich kaum das Schlüsselloch fand. Der Raum roch nach Bohnerwachs und abgestandenem Zigarettenrauch. Die Fahnen in der Ecke, das Leninbild hinter dem Rednerpult, der lange Tisch, die Aschenbecher aus rosa Preßglas, alles altvertraute Dinge. Heute nahm ich sie mit unnatürlicher Deutlichkeit wahr. Wir setzten uns. Mit aufreizender Langsamkeit knöpfte er seine Lederjacke auf, zog aus der Aktentasche Notizblock und Kugelschreiber und legte beides auf den Tisch. Dann sah er mich prüfend an, als wollte er herausfinden, wie er mich am besten packen könnte. Was hatte er vor? Was wußte er? Ich fühlte mich wie eine Maus, vor der ein sprungbereiter Kater sitzt. „Sie waren vor drei Tagen im VP-Revier einundzwanzig. Sie wollten die Adresse von Herrn Wolfgang Hellberger erfahren?“ Ich schlug die Augen nieder und spürte, daß ich rot wurde. Ich hatte es befürchtet, es ging um Wolfgang. Was war passiert? Wäre ich doch nur nicht in dieses Polizeirevier gegangen! „Seit wann kennen Sie Herrn Hellberger?“ „Seit sieben Monaten.“ Er begann etwas auf seinen Block zu kritzeln. „Hat er die Absicht geäußert, Sie zu heiraten?“ „Daraus wird wohl nichts werden.“ „Warum nicht?“ „Wir haben uns verkracht.“ „Würden Sie mir sagen, weshalb?“ „Es ging um sehr private Dinge. Ich möchte darüber nicht reden.“ 151
Er warf mir einen ernsten, beinahe traurigen Blick zu. „Hat er irgendwann einmal Geld oder andere Wertgegenstände von Ihnen verlangt? Oder haben Sie ihm freiwillig etwas gegeben?“ „Nein. Wie kommen Sie darauf?“ „Wann haben Sie ihn das letztemal gesehen?“ „Vor – vor vier Tagen.“ „Vor vier Tagen?“ Das schien ihn zu überraschen. „Also am Montag dieser Woche. Sind Sie ganz sicher?“ „Ja.“ „Erzählen Sie bitte.“ „Was soll ich erzählen?“ „Wo haben Sie sich getroffen? Was hat sich bei dieser Begegnung ereignet? Wie lange hat sie gedauert?“ „Hier in Leipzig haben wir uns getroffen. Er kam zu mir nach Hause. Das war etwa gegen halb vier am Nachmittag. Gegen fünf Uhr ist er wieder weggefahren.“ „Gab es bei dieser Begegnung den Krach, von dem Sie eben gesprochen haben?“ „Ja.“ „Bitte schildern Sie etwas ausführlicher! Es kostet doch unnütz Zeit, wenn ich Ihnen jedes Wort abringen muß.“ „Ich begreife das alles nicht!“ sagte ich heftig. „Was ist denn passiert? Warum fragen Sie danach?“ „Sie haben nichts zu befürchten. Es geht nur darum, einen Sachverhalt aufzuklären.“ „Einen Sachverhalt! Was für einen Sachverhalt?“ „Vor allen Dingen wollen wir uns nicht aufregen, das hat keinen Sinn.“ Ich konnte diesen Onkel-Doktor-Ton noch nie leiden, aber jetzt wirkte er geradezu alarmierend. „Sie verbergen mir etwas!“ schrie ich. „Warum sagen Sie nicht, was passiert ist? Es ist etwas passiert, ich weiß es! Haben Sie ihn verhaftet? Oder ist ihm etwas zugestoßen? So reden Sie doch!“ 152
„Wir haben ihn nicht verhaftet.“ „Er ist tot, nicht wahr? Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.“ Er sah an mir vorbei und schwieg. „Deshalb sind Sie also hier!“ Verzweiflung drohte mich zu verschlingen. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Wolfgang lebte nicht mehr, ich würde ihn nie mehr wiedersehen. War es meine Schuld? Hatte ich ihn umgebracht? Ich mußte unbedingt erfahren, wie es geschehen war. Er berührte mich an der Schulter. „Möchten Sie ein Glas Wasser? Oder eine Zigarette?“ Ich richtete mich auf und wischte die Tränen aus den Augen. „Seit wann ist er … Ich meine, wie konnte denn das passieren?“ Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Was hat Sie auf den Gedanken gebracht, daß Herr Hellberger tot ist?“ Ich zuckte die Schultern. „Woher haben Sie es gewußt?“ sagte er leise, doch mit deutlicher Schärfe. „Ich habe es ja gar nicht gewußt. Es war weiter nichts als eine Vermutung, eine ganz vage Vermutung.“ „Gut, eine Vermutung. Welchen Grund hatten Sie zu dieser Vermutung?“ „Ich – ich weiß es nicht. Vielleicht eine Vorahnung. Sehen Sie, er ist sehr krank, er hat einen schweren Herzfehler. Und da dachte ich – und weil Sie von der Kriminalpolizei kommen –, das konnte doch gar nichts Gutes bedeuten.“ Er machte ein unzufriedenes Gesicht. Meine Erklärung schien ihm nicht zu genügen. „Sie hatten also am Montag einen Streit“, fuhr er fort. „Worum ging es?“ Ich fand diese Methode gemein. Was ich wissen woll153
te, darauf ging er nicht ein, das nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis. Statt dessen erwartete er von mir, daß ich bereitwillig über mein Privatleben Auskunft gab. Ich überlegte hin und her, aber ich fand keine Möglichkeit, seiner Frage auszuweichen. Wenn ich schwieg, würde ich mich nur verdächtig machen. „Ich war eifersüchtig“, sagte ich. „Weshalb?“ „Er hatte Geheimnisse. Ich wußte ja nicht einmal seine Adresse.“ „Und was wußten Sie von seinen anderen Frauen?“ Ich zuckte zusammen. Sie waren also bereits dahintergekommen. Wie sollte ich mich jetzt verhalten? Zunächst fing ich wieder an zu weinen, das verschaffte mir Zeit zum Nachdenken. Ich würde nun nicht länger um die Wahrheit herumkommen. Wenigstens nicht um einen Teil der Wahrheit. Wenn sie von seinen Frauen wußten, würden sie auch bald herausfinden, daß ich sie kannte, daß ich sie sogar besucht hatte. Da war es besser, wenn ich von selbst alles sagte. Das bewies, daß ich nichts verbergen wollte. Also erzählte ich. Wie ich Wolfgang kennenlernte, wie ich Verdacht zu schöpfen begann, wie ich die Adressenliste fand, wie ich bei meiner Rundreise von seinen Heiratsschwindeleien erfuhr und wie wir uns vor drei Tagen deshalb gestritten hatten. Nur die Fahrt nach Rostock erwähnte ich natürlich nicht. Der Kriminalist machte keinen Versuch, mich zu unterbrechen. Er war emsig damit beschäftigt, meine Aussage zu stenografieren. „Fertig?“ fragte er. Ich nickte. Er lehnte sich zurück, dachte einige Zeit nach, dann zog er ein Päckchen Zigaretten hervor und bot mir eine an. Das versetzte mir einen Stich. Es gab meiner Befürchtung, daß ich einen Fehler gemacht hatte, neue Nahrung. Im Fernsehen hatte ich gesehen, daß Polizis154
ten einen geständigen Verbrecher immer mit einer Zigarette belohnen. Wir rauchten schweigend. Ich gab mir Mühe, ruhig zu erscheinen, während ich in Gedanken hastig meine Aussage prüfte. Was hatte ich falsch gemacht? Wo war mir ein Fehler unterlaufen? Wir hatten kaum ein paar Züge geraucht, da griff er wieder zu seinem Kugelschreiber. „Warum haben Sie sich als Journalistin ausgegeben?“ „Glauben Sie vielleicht, seine Damen hätten mir etwas gesagt, wenn sie gewußt hätten, aus welchen Gründen ich frage? Rausgeworfen hätten sie mich.“ „Weshalb haben Sie der Volkspolizei diese Fakten verschwiegen? Sie wußten doch ganz genau, daß Hellberger ein Heiratsschwindler ist. Wenn Sie Kenntnis von einem Verbrechen bekommen, ist es Ihre Pflicht, Anzeige zu erstatten.“ „Das kann niemand von mir verlangen!“ sagte ich aufgebracht. „Ich wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Schließlich liebe ich ihn.“ „Ich weiß“, seufzte er. „Die Liebe! Dagegen haben Gerechtigkeit und Vernunft keine Chance.“ „Halten Sie es für vernünftig, den Mann, den man liebt, ins Gefängnis zu bringen?“ „Sie lieben ihn, gut. Aber er liebte Sie nicht. Typen wie Hellberger spekulieren auf die Dummheit der Frauen, und leider haben sie damit immer wieder Erfolg. Selbst wenn wir sie überführen, können sie noch mit der Sympathie ihrer Opfer rechnen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Sie wissen eben nicht, wie einer Frau zumute ist. Sie können ihre Gefühle nicht verstehen.“ „Schon gut“, sagte er resignierend. „Sie erwähnten vorhin die Fotokopie seiner Adressenliste. Darf ich sie einmal sehen?“ „Ich habe sie in meiner Handtasche.“ 155
„Sehr schön. Dann wollen wir sie holen, ja?“ Ich ging in mein Arbeitszimmer und brachte ihm die Kopie. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich zu voreilig gewesen war. Er betrachtete die Namen sorgfältig. „Sie haben vergessen“, sagte er plötzlich, „mir Ihren Besuch bei Frau Petersein zu schildern.“ „Nein. Ich war gar nicht in Rostock.“ „Warum nicht?“ „Ich hatte keine Lust mehr.“ „So, keine Lust mehr. Das Verhältnis Hellbergers zu Frau Petersein hat Sie also nicht interessiert?“ „Nach dem Gespräch mit Frau Ballhorn wußte ich genug. Es waren doch immer wieder die gleichen Affären.“ Er sah mich durchdringend an, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. „Danke“, sagte er unvermittelt. „Kommen Sie bitte morgen vormittag zwischen acht und zwölf in die Bezirksbehörde Zimmer dreihundertachtzehn, um das Protokoll zu unterschreiben.“ Er erhob sich und steckte seine Sachen ein. Ich begleitete ihn hinaus. An der Tür zum Treppenhaus blieb ich stehen. „Ich würde gerne wissen, wann die Beerdigung stattfindet.“ „Das weiß ich nicht. Am besten, Sie wenden sich an die Abteilung Kriminalpolizei der VP-Bezirksbehörde Potsdam.“ „Ist er in Potsdam gestorben?“ „Nein, in Neuruppin.“ „Danke“, sagte ich und wandte mich ab. Also hatte mich die Ballhorn angelogen, diese verdammte Bestie. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, bis die Tür hinter ihm zugefallen war, dann bekam ich einen hysterischen Weinkrampf. Helga schaffte mich in Jonnys Arbeitszimmer, legte mich auf das Sofa und gab mir ein Beruhigungsmittel. Eine halbe Stunde später war Peter da. Die Bayerlein 156
hatte ihn angerufen. Er bestellte ein Taxi und brachte mich nach Hause.
41 Gerlinde Petersein sitzt kerzengerade auf dem lederbezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch des Staatsanwaltes. „Ich gebe alles zu“, erklärt sie gefaßt, „aber es ging mir nicht um das Geld. Das hätte ich in jedem Fall bekommen. Ich wollte Bodo schützen. Er ist als Kind viel krank gewesen und konnte noch nie seelische Belastungen ertragen.“ „Sie wollten ihm Schwierigkeiten ersparen und haben alles nur noch schlimmer gemacht.“ „Jetzt weiß ich das auch. Aber seine Fehler begreift man leider immer erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Vor allem werde ich mich nie wieder auf andere Leute verlassen. Sobald sie einen nicht mehr nötig haben, wird man verraten und verkauft.“ „Auch das hätten Sie vorher wissen müssen. Auf die Moral der Kriminellen ist eben kein Verlaß.“ „Nicht nur auf die Moral der Kriminellen, Herr Staatsanwalt. Ich habe doch dieser Frau nicht den geringsten Anlaß gegeben, unsere Abmachung zu brechen. Aber vermutlich wollte sie sich bei Ihnen lieb Kind machen.“ Frau Petersein hält den Kopf gesenkt, dabei entgeht ihr, daß Heym und Sommerfeld einen raschen Blick wechseln. „Sie sollten inzwischen gelernt haben, daß man mit der Wahrheit am weitesten kommt“, sagt Heym doppeldeutig. „Ich finde es trotzdem unanständig. Es enthüllt einen miserablen Charakter.“ 157
„Da übertreiben Sie wohl etwas.“ „Ich übertreibe überhaupt nicht. Ihr droht keine Gefahr. Zu ihrem Glück hat ja Frau Ballhorn den Hellberger vergiftet, ist ihr also quasi zuvorgekommen. Und da sie nun von mir nichts mehr zu befürchten hat, liefert sie mich unbekümmert ans Messer.“ „Sie nehmen also an, sie hätte sich unter anderen Umständen ganz anders verhalten?“ „Selbstverständlich. Wenn sie schuldig wäre und Hellberger umgebracht hätte, dann hätte sie sich sehr gehütet, etwas über mich und Bodo und den Unfall zu erzählen. Damit hätte sie nämlich zugegeben, daß sie bei mir in Rostock war. Und außerdem hätte sie natürlich befürchten müssen, daß ich etwas von den falschen Tabletten sage, die sie von mir bekommen hat.“ Heym sieht sie erstaunt an. Dann lächelt er und nickt dem Staatsanwalt voller Genugtuung zu. „Sie also haben ihr die falschen Tabletten gegeben, Frau Petersein. Und als Gegenleistung wollte sie über den Unfall schweigen.“ „Wieso?“ fragte Frau Petersein irritiert. „Hat sie Ihnen von den Tabletten nichts erzählt? Nun ja, das hätte ich mir eigentlich denken können, es ist aber wiederum sehr bezeichnend für diese Frau. Es war dumm von mir, überhaupt davon anzufangen, denn wie die Dinge liegen, hat es ja keinerlei Bedeutung für die Polizei.“ „Für uns hat alles Bedeutung“, sagt Heym. „Wir danken Ihnen, Frau Petersein.“
42 Die Apothekerin kommt aus dem Zimmer des Staatsanwalts. Sie sieht mich an, als wäre ich ein ekelhaftes Insekt. Was soll dieser Blick? Ich habe ihr nichts getan, ich bin mir keiner Schuld bewußt. Aber sie hat ja schon da158
mals in Rostock auf mich einen etwas zwielichtigen Eindruck gemacht. Mein Name wird aufgerufen. Die Sekretärin steht in der Tür und nickt mir auffordernd zu. Ich stehe auf und gehe in das Vorzimmer. Es ist ein nüchterner Büroraum, in dem es nach Frühling und Maiglöckchen riecht. Die Sekretärin öffnet eine Polstertür. Sie macht ein Gesicht wie eine Nonne, die mich ins Allerheiligste eintreten läßt.
43 Ein Mann kommt mir entgegen. Ich kenne ihn. Es ist der Oberleutnant in der braunen Lederjacke, der mich damals im Gewerkschaftsraum ausgefragt hat. Er führt mich zu einem Stuhl vor dem Schreibtisch. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein zweiter Mann, vermutlich der Staatsanwalt. Er könnte fünfzig sein, vielleicht auch jünger, hat eine gebräunte Haut und helle, aufmerksame Augen. Auf seinem Schreibtisch steht neben dem Telefon eine silberne Turnerfigur. Von den beiden Männern geht Ruhe aus. Sie wirken freundlich, fast väterlich. Der Staatsanwalt stopft sich eine Pfeife. Im Kamin knistert ein Feuer, es duftet nach Birkenholz. Seltsamer Luxus für ein Amtszimmer. Ich muß auf der Hut sein, darf mich nicht ablenken lassen. Sie haben mich sicher nicht ohne Grund als letzte gerufen, wollten mich durch langes Warten zermürben, mich meinem Gewissen ausliefern. Unsinn. Sie können gar nicht wissen, daß ich ein schlechtes Gewissen habe. Jedenfalls können sie mir nichts beweisen. Wenn ich diese Vernehmung durchstehe, habe ich es geschafft. Dann ist es endgültig überstanden. 159
Der Staatsanwalt zündet seine Pfeife an. Er lehnt sich zurück und pafft ein paar Rauchwolken in die Luft. „Wir kommen nicht recht weiter. Wir brauchen Ihre Hilfe.“ „Wie soll ich Ihnen helfen? Was ich weiß, habe ich schon gesagt.“ „Zunächst brauchen wir noch ein paar Auskünfte über die Persönlichkeit des Toten. Hellberger führte in den letzten Jahren ein unstetes Leben. Was hat er Ihnen von seinem Beruf und seinen Dienstreisen erzählt?“ „Er sagte, er wäre Textilkaufmann und hätte viel im Ausland zu tun.“ „Seine letzte Auslandsreise liegt über drei Jahre zurück.“ „Aber ich habe doch in diesem Jahr noch Briefe von ihm bekommen, aus Kopenhagen, Wien, Bratislava.“ „Die waren fingiert.“ „Unmöglich. Es war seine Handschrift, die kenne ich ganz genau.“ „Der Absendeort war fingiert. Hellberger hatte einen Bekannten, der die Briefe mit ins Ausland nahm. Hat er etwas von seinen Reisen innerhalb der Republik erwähnt?“ „Nein.“ Ich zucke hilflos die Schultern. „Können Sie uns irgendwelche Angaben machen über seine Lebensverhältnisse?“ fragt Heym jetzt. „Ich kannte ja nicht einmal seine Wohnung.“ „Aber Sie waren drauf und dran, ihn zu heiraten.“ „Das haben Sie mir nun oft genug vorgehalten.“ „Sie haben durch Ihr Schweigen seinen Betrügereien beträchtlichen Vorschub geleistet.“ „Nicht ich allein.“ „Den anderen Frauen haben wir das auch gesagt.“ „Es war ihre Zeit, ihr Geld, ihr Leben. Wen geht es etwas an, was sie damit machen?“ „Sie glauben also, wir mischen uns in Ihr Privatleben ein? Aber Sie irren sich. Sie haben sich schuldig ge160
macht. Auch wenn es anfangs so aussah, als ginge es nur Sie allein etwas an. Sie leben nicht allein. Sie tragen Verantwortung gegenüber Ihren Mitmenschen. Wenn Sie einen Verbrecher schützen, ermutigen Sie ihn, seine Straftaten fortzusetzen.“ Ich antworte nicht. Es hat keinen Sinn. Wenn ich das schon höre: Verantwortung, Verbrecher, Straftaten! Schließlich waren diese Frauen glücklich, zumindest für eine gewisse Zeit. Und das ist ja wohl auch etwas wert. Glück ist nämlich eine sehr kostbare Ware. Ich glaube kaum, daß die Frauen von diesen beiden hier glücklich sind. Wer weiß, was sie für traurige Ehen führen. Aber über andere herfallen, die ein bißchen mehr vom Leben erwarten, das sieht ihnen ähnlich. „Vielleicht können Sie uns in einem anderen Punkt helfen“, sagt der Staatsanwalt. „Hellberger hatte eine Platzwunde an der Stirn. Er muß sie sich wenige Stunden vor seinem Tode zugezogen haben. Wissen Sie vielleicht, wie?“ „Schon möglich. Ich habe ihm die Badezimmertür gegen den Kopf geschlagen.“ „Und wie hat sich das zugetragen?“ „Wir hatten Streit. Das habe ich alles schon erzählt.“ „Aber sehr lückenhaft. Daß Sie ihm eine Kopfwunde beigebracht haben, hatten Sie bisher nicht erwähnt.“ „Weil ich von der Wunde gar nichts wußte.“ „Sie hat geblutet. Das müssen Sie doch gesehen haben.“ „Ich habe nichts gesehen. Ich hatte mich im Badezimmer eingeschlossen.“ „Wie konnten Sie ihm dann die Tür gegen den Kopf schlagen?“ „Sein Koffer war im Bad. Als ich ihn auf den Flur stellte, versuchte er sie aufzudrücken.“ „Sie hatten sich also im Bad eingeschlossen, um den Koffer zu packen. Bei dieser Gelegenheit haben Sie natürlich auch sein Reisenecessaire in die Hand genommen.“ „Das weiß ich nicht mehr.“ 161
„Im Protokoll Ihrer ersten Aussage haben Sie erklärt, Hellberger sei gleich nach seiner Ankunft ins Bad gegangen, um sich zu waschen und umzuziehen. Also muß er zu diesem Zweck sein Necessaire ausgepackt haben, nicht wahr?“ „Ja“ „Dann müssen Sie es demnach wieder eingepackt haben.“ „Kann schon sein.“ „Wie kommt es dann, daß auf dem Kunststoff des Necessaires, einem Material, das besonders gut Fingerspuren aufnimmt, von Ihnen kein einziger Abdruck gefunden wurde?“ „Das weiß ich auch nicht.“ „Aber wir wissen es. Im Necessaire befand sich das Röhrchen mit Hellbergers Herztabletten. Sie haben die tödlichen Tabletten in das Röhrchen getan und danach Ihre Fingerspuren mit einem Lappen oder einem Handtuch beseitigt.“ „Nein! Das ist eine ganz gemeine Lüge. Ich habe ja diese Tabletten gar nicht gehabt. Die hat nur Frau Ballhorn gehabt. Sie muß es also gewesen sein, die Wolfgang umgebracht hat.“ „Ganz so einfach ist es nicht. Frau Ballhorn hat bisher energisch bestritten, in irgendeiner Weise an Hellbergers Tod schuldig zu sein.“ „Aber das ist nicht wahr. Ich kenne sie, sie lügt wie gedruckt. Sie behauptet immer das, wovon sie sich einen Vorteil verspricht.“ „Sie sagen es. Eine Behauptung ist noch kein Beweis. Wir wollen herausfinden, wer wirklich schuld ist am Tode Hellbergers.“ „Und weil Sie mit Frau Ballhorn nicht weiterkommen, wollen Sie mir jetzt die Schuld in die Schuhe schieben.“ „Woher wissen Sie überhaupt, daß Frau Ballhorn die Tabletten im Haus hatte, an denen Hellberger gestorben ist?“ 162
„Sie hat sie mir gezeigt, als ich bei ihr zu Besuch war.“ „Halten Sie es für wahrscheinlich, daß eine Mörderin so etwas tut?“ „Damals wußte sie ja noch gar nicht, daß sie einen Mord begehen wird.“ „Immerhin wissen wir jetzt, daß auch Sie wußten, mit welcher Art von Tabletten man Hellberger umbringen konnte.“ „Das ist niederträchtig.“ „Wieso? Sie sind doch intelligent genug, um zu begreifen, daß wir jede Möglichkeit prüfen müssen. Sie haben Frau Ballhorn verdächtigt. Also müssen Sie sich gefallen lassen, daß auch der Verdacht auf Sie fällt, wenn die Umstände darauf hinweisen.“ „Sie wollen mich in die Enge treiben. Weshalb eigentlich? In Wirklichkeit haben Sie doch Frau Ballhorn in Verdacht. Sonst würde sie ja gar nicht in Untersuchungshaft sitzen.“ „Na eben. Warum sind Sie dann so aufgeregt?“ „Ich bin nicht aufgeregt.“ „Sehr gut. Dann können wir in Ruhe weitermachen. Nach Zeugenaussagen hat Hellberger in den letzten Wochen vor seinem Tod sehr optimistisch von seiner Zukunft gesprochen. Er hatte sich offenbar zum erstenmal in seinem Leben richtig verliebt.“ „Verliebt? In wen denn?“ „In Sie natürlich. Oder bezweifeln Sie das?“ „Nein. Ich meine, ich …“ „Gut. Wie kamen nun nach Ihrer Meinung die falschen Tabletten in das Röhrchen?“ „Irgend jemand muß sie hineingetan haben.“ „Richtig. Und zwar vorsätzlich. Das Motiv der Eifersucht und Rache trifft auf alle Frauen zu, mit denen Hellberger in Beziehung stand. Auch Sie könnten sie hineingetan haben.“ „Ich? Warum denn gerade ich?“ 163
„Wie bereits bewiesen, hatten Sie wenige Stunden vor seinem Tod die Gelegenheit, an das Röhrchen heranzukommen. Sie wußten als einzige über den ganzen Umfang seiner Betrugsaffären Bescheid. Sie hatten sogar deswegen einen heftigen Streit mit ihm.“ „Das ist doch lächerlich! Ich war überhaupt nicht eifersüchtig. Frau Ballhorn war es. Das sind die Tatsachen. Nur Sie wollen sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen.“ „Gut, aber dann erklären Sie uns, wie Sie die Tatsachen sehen.“ „Bei seinem letzten Besuch sagte mir Wolfgang, daß er mich liebt. Nur mich und keine andere. Ich hatte aber inzwischen herausgefunden, was für ein routinierter Lügner er war, daß er Beziehungen zu anderen Frauen hatte und daß es ihm dabei immer nur um Geld ging. Das hielt ich ihm vor. Er versprach mir, diese Beziehungen abzubrechen, seine Schulden abzuzahlen und ein neues Leben zu beginnen. Weil ich ihm nicht sofort und bedingungslos glaubte, wurde er wütend und machte mir Vorwürfe. Ich ließ mir das nicht gefallen. Wir gerieten in Streit, und schließlich warf ich ihn aus der Wohnung. Er setzte sich in sein Auto und fuhr nach Neuruppin zu Frau Ballhorn.“ „Woher sollen wir wissen, ob Sie nicht bei Ihrer Darstellung etwas sehr Wesentliches ausgelassen haben?“ „Sie müssen mir schon glauben, es gibt keine Zeugen.“ „Also weiter. Was geschah dann in Neuruppin?“ „Dort bekam er seinen Herzanfall. Frau Ballhorn brachte ihn zu Bett und gab ihm die falsche Tablette.“ „Warum sollte sie das getan haben?“ „Na hören Sie mal! Aus Eifersucht natürlich.“ „Wieso? Hatte sie denn überhaupt einen Grund zur Eifersucht?“ „In ihrem Alter hat man immer Grund. Außerdem hat ihr Wolfgang gesagt, daß er sich von ihr trennen will.“ 164
„Und das halten Sie für ein ausreichendes Motiv?“ „Sie sind ungerecht! Wenn ich eifersüchtig bin, genügt Ihnen das doch auch als Motiv.“ „Also gut. Wenn Sie behaupten, daß Eifersucht ein ausreichendes Motiv ist, dann wollen wir Ihnen glauben.“ „Warum wollen Sie mir plötzlich glauben? Was bedeutet das?“ „Eifersucht als ausreichendes Motiv für einen Mord. Wir nehmen es zur Kenntnis.“ „Aber ich habe das nur in bezug auf Frau Ballhorn gemeint.“ „Warum soll für Frau Ballhorn gelten, was für andere nicht gilt?“ „Ich habe mir doch ein Bild von ihr machen können.“ „Und wie sieht dieses Bild aus?“ „Unehrlichkeit ist ihre zweite Natur. Sie läßt nie eine Gelegenheit aus, um sich Vorteile zu verschaffen. Das hat sie auch zur Genüge bei Wolfgang getan. Und als sie dann erkennen mußte, daß er nichts mehr von ihr wissen will, hat sie die Nerven verloren und ihn umgebracht.“ „Sie wollen uns also glauben machen, Frau Ballhorn sei eine Mörderin.“ „Ist sie es etwa nicht?“ „Nein. Eine andere Frau hat die Tat begangen.“
44 In meinem Kopf ist dumpfe Leere. Ich bin wie gelähmt von der Gewißheit, hilflos in die Katastrophe zu treiben. Ich schließe die Augen, gleich werde ich in Ohnmacht fallen. „Was ist?“ fragt der Staatsanwalt. „Sie sind plötzlich so bleich. Möchten Sie ein Glas Wasser?“ 165
„Nein danke, mir fehlt nichts.“ Ich zwinge mich, den Staatsanwalt anzusehen. Das Schwächegefühl schwindet. „Wir haben Zeugenaussagen“, beginnt Heym, „die mit der Wahrheit besser übereinstimmen. Zunächst einmal dürfen wir annehmen, daß die tödlichen Tabletten vorsätzlich in das Röhrchen getan wurden. Die Täterin wußte – auch dafür haben wir gute Gründe –, daß sich Hellberger bei Frau Ballhorn befand. Sie rief in Neuruppin an, und zwar in der Absicht, bei Frau Ballhorn Eifersucht zu provozieren und dadurch einen Streit zwischen Frau Ballhorn und Hellberger heraufzubeschwören. Sie hoffte offenbar, Hellberger würde sich dabei so erregen, daß er einen Herzanfall bekommt und die Tablette einnimmt. Können Sie mir folgen?“ Ich nicke. Ich habe nicht mehr die Kraft, mich gegen die Beleidigung zu wehren, die in dieser Frage liegt. „Sehr schön“, sagt er gönnerhaft. „Nun wird es interessant. Wir haben nämlich den Beweis, daß die Täterin aus Leipzig angerufen hat.“ „Woher denn? Ich meine, wer könnte denn das gewesen sein?“ Heym macht eine gleichgültige Handbewegung. „Nun, Frau Schmidt-Rohloff zum Beispiel war an diesem Tag in Leipzig. Sie hat sogar zugegeben, daß sie in einem Postamt war, um zu telefonieren.“ Mir fällt eine Last von der Seele. Jetzt haben sie also tatsächlich die Ballettmeisterin in Verdacht, diese Holzköpfe. „Aber ich verstehe nicht, woher sie wissen konnte, daß Wolfgang in Neuruppin war.“ Heym zieht einen Bogen Papier aus seiner Mappe. „Haben Sie vielleicht einen Kugelschreiber zur Hand?“ Ich greife bereitwillig in meine Handtasche und reiche ihm den Kugelschreiber. „Sehen Sie“, sagt er, „wenn wir uns einen Überblick verschaffen, ist die Sache leicht zu begreifen.“ 166
Er beginnt Zahlen auf das Papier zu kritzeln. „Am Morgen des zweiten Oktober war Hellberger in Meiningen. Die Nacht hatte er in der Wohnung von Frau Schmidt-Rohloff verbracht. Frau Schmidt-Rohloff hätte also durchaus die Gelegenheit gehabt, die Tablette in das Röhrchen zu tun. Etwa um zehn Uhr dreißig fuhren die beiden nach Leipzig. Und möglicherweise hat sie dabei herausbekommen, daß Hellberger noch am gleichen Tag nach Neuruppin fahren wollte. Entscheidend aber ist, daß nur die Frau, die das falsche Medikament in das Tablettenröhrchen getan hat, Hellberger in Neuruppin angerufen haben kann, und zwar in der Absicht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Das ist doch zu verstehen, nicht wahr?“ „Warum denn nicht? Wenn Sie das so darstellen, verstehe ich es schon.“ „Ich darf also feststellen: Nach Ihrer Ansicht kann nur die Frau, die in Neuruppin angerufen hat, die Täterin sein.“ „Wieso nach meiner Ansicht? Weshalb legen Sie auf meine Ansicht solchen Wert?“ Heym schiebt den Bogen Schreibpapier hinüber auf den Tisch des Staatsanwaltes. „Nun wollen wir uns einmal genauer mit diesem Telefongespräch beschäftigen. Wir wissen, es wurde vom Bahnhofspostamt geführt. Die Täterin meldete sich bei Frau Ballhorn unter falschem Namen. Sie gab vor, die Chefsekretärin des VEB Wirkwaren zu sein, und wollte Hellberger in einer dienstlichen Angelegenheit sprechen.“ Es klopft an der Tür. Heym schweigt und schaut unwillig auf. Die Sekretärin kommt herein. „Entschuldigung“, sagt sie. „Ich brauche die Unterschriftenmappe.“ Der Staatsanwalt legt einen Aktendeckel an den Rand des Schreibtisches, direkt auf die Stelle, wo der Bogen 167
Schreibpapier liegt. Zögernd tritt die Sekretärin näher. Der Staatsanwalt nickt ihr zu. Sie nimmt den Aktendeckel und geht rasch aus dem Zimmer. Der Bogen ist verschwunden. Ein plumper Trick. Ich muß unwillkürlich lächeln. Doch im gleichen Moment befällt mich Unruhe. Was hat das für einen Sinn, frage ich mich. Was steckt dahinter? „Also weiter“, sagt Heym und tut, als hätte er nichts bemerkt. „Der Anruf in Neuruppin war fingiert, das ist geklärt. Es beweist aber, daß die Anruferin sehr genau über Hellberger, über seine beruflichen und privaten Verhältnisse Bescheid wußte. Und auch das wieder weist mit Sicherheit darauf hin, daß sie zu dem engen Kreis der Frauen gehört, zu denen Hellberger Beziehungen hatte. Genauer gesagt, daß es die Täterin sein muß. Und damit sind wir an dem Punkt, an dem wir diese Frau überführen können. Sie hat nämlich den Fehler gemacht, mit ihrem Kugelschreiber im Telefonbuch des Postamtes die Nummer von Frau Ballhorn anzukreuzen.“ Er hat tatsächlich recht, ich habe die Telefonnummer angekreuzt, ich habe sogar die Nummer auf einen Zettel geschrieben und der Telefonistin gereicht. Mich überfällt panische Angst, das Zimmer verschwimmt vor meinen Augen. Jetzt begreife ich, was er vorhatte, als er meinen Kugelschreiber verlangte. In diesem Augenblick kommt die Sekretärin wieder herein. Sie hat ein gelbes Telefonbuch unter dem Arm und in der Hand den Bogen Schreibpapier. „Nun, was ist?“ fragt Heym. „Haben Sie schon das Ergebnis?“ „Ja“, sagt sie eifrig. „Der Farbstoff des Kugelschreibers im Telefonbuch und der von dieser Schriftprobe stimmen zweifelsfrei überein.“ Sie legt beides auf den Tisch. „Das chemische Gutachten wird bereits angefertigt.“ 168
Heym nimmt den Kugelschreiber und hält ihn mir vor die Nase. „Begreifen Sie, daß weiteres Leugnen zwecklos ist? Sie haben Hellberger umgebracht. Der Kugelschreiber ist das Beweisstück. Legen Sie ein Geständnis ab!“ „Nein!“ schreie ich und springe auf. „Nein, Ihr Beweisstück ist nichts wert. Damit werden Sie mich nie überführen.“ Ich reiße ihm den Kugelschreiber weg, sehe mich suchend um. Wohin damit? Heym tritt auf mich zu und nimmt ihn mir aus der Hand. „Sie brauchen ihn nicht in den Kamin zu werfen“, sagt er. „Wir haben einen besseren Beweis, mit dem wir Sie überführen.“ Ich sehe ihn entgeistert an. „Sie haben überhaupt keinen Beweis!“ schreie ich wütend. Aber ich bin nicht mehr davon überzeugt. Er lächelt über meinen Wutausbruch. So selbstsicher ist nur jemand, der das Netz schon zugezogen hat. „Sie haben die tödlichen Tabletten von Frau Petersein bekommen.“ „Das ist nicht wahr.“ „Warum nicht?“ „Weil sie das nicht … Weil ich nie in Rostock war.“ „Frau Petersein hat keinen Grund mehr, Sie zu schützen. Die Erpressungsgeschichte mit Hellberger ist uns bekannt.“ „Aber – aber das ist nicht möglich. Davon weiß ich doch gar nichts.“ „Sie wissen es sehr genau. Oder wollen Sie eine Gegenüberstellung?“ Es ist aus, ich habe verloren. Ich kann nichts mehr empfinden, nicht einmal Angst. „Haben Sie die Tabletten von Frau. Petersein bekommen?“ „Ja.“ „Haben Sie mit diesen Tabletten Hellberger vergiftet?“ 169
„Ja.“ „Das genügt uns für heute.“ Heym wendet sich von mir ab. Die Tür öffnet sich. Ich erkenne undeutlich zwei Frauen in grünen Uniformen. Sie kommen auf mich zu. Etwas Kaltes legt sich um meine Handgelenke, dann ein metallisches Klicken. Ich beginne zu schwanken, möchte zu Boden sinken, alles vergessen, nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Ich spüre einen harten Griff um meinen Oberarm, der mich in die Wirklichkeit zurückreißt. Sie führen mich hinaus.
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2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1977 (1976) Lizenz-Nr. 409-160/166/77 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan by *MM* 622 1802 DDR 2,- M