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Buch Der Alte Niemand ist tot und sein Werk vernichtet. Die Araukarier sind von den Truppen des Schwarzen Prinzen ins Verbotene Land verschleppt worden, um dort ein geheimnisvolles Tor zu errichten: Die Pforte von Sklava Mhor. Auch Bolgan – einer der drei Gefährten, die der Alte Niemand dazu bestimmt hat, den Kampf gegen den Schwarzen Prinzen fortzuführen – leistet Fronarbeit an dem unheimlichen Bauwerk, nach dessen Fertigstellung die Macht des Bösen ins Unermessliche wachsen soll. Da gelingt es ihm, den Ring des Schwarzen Prinzen zu stehlen, dessen Schmuckstein ein Bruchstück des machtbringenden Erfts ist. Unterdessen hat sich Bolgans Gefährte Hatib in die Nördlichen Königreiche durchgeschlagen und die Stadt Barku vor dem nahenden Nebelheer gewarnt. Den Nordländern gelingt ein verzweifelter Sieg, doch die Rache des Schwarzen Prinzen ist absehbar. Hatib macht sich mit dem Waldläufer Imril ins wolkenverhangene Fernfeld auf. In einer Höhle finden die beiden ein weiteres Bruchstück des Erfts und gelangen gerade noch rechtzeitig an den Ort der entscheidenden Schlacht … Autor Ralf Lehmann, Jahrgang 1973, ist auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen. Geprägt vom rauen Mittelgebirge, beschäftigte er sich schon als Kind mit den Sagen seiner Heimat. Später schärften Reisen in die schottischen Highlands, aber auch in die Wüsten Innerasiens seinen Blick für Landschaften und Menschen. Nach dem Studium der Geografie, Romanistik und Germanistik in Tübingen kehrte er in seine Heimatstadt Heidenheim zurück, wo er seitdem als Lehrer arbeitet.
Bereits erschienen: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: I. Die Legende von Araukarien (24285), 2. Die Melodie der Masken (24306) In Kürze erscheint: DAS BUCH DES SCHWARZEN PRINZEN: 3. Das Kristallhaus (24343)
Ralf Lehmann
Die Melodie der Masken Das Buch des Schwarzen Prinzen 2
BLANVALET
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Originalausgabe 2/2005
Copyright © 2005 by Ralf Lehmann Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Luserke/Ivanchenko Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24306 Redaktion: Andreas Heckmann V B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24306-8 www.blanvalet-verlag.de
1 Die Errichtung von Sklava Mhor Berngar zuckte zusammen, als er den Gifalken sah. »Der ist meinetwegen hier«, flüsterte er furchtsam. »Ich habe zu viel geredet.« »Abwarten«, versuchte Bolgan ihn zu beruhigen. Doch auch ihm wurde mulmig. Ein überwältigender Anblick bot sich den drei Gefährten. Alsfar pfiff durch die Zähne. »Junge, Junge.« Vor ihnen erstreckte sich eine Ebene über mindestens zwanzig Meilen, und trockenes Gras wogte im Wind. Bolgan fühlte sich an die Gegend von Khor erinnert, die er mit dem Alten Niemand durchquert hatte. Am fernen Horizont erhoben sich die Roten Berge, die das Verbotene Land umgaben wie eine unbezwingbare Mauer. Der einzige Zugang zu der Wüste, die sich wie eine Spinne hinter den verwitterten Bergen verbarg, war – Sklava Mhor. Das furchterregende Bauwerk war bereits zu einem Viertel fertig gestellt – ein Pylon wie die Pforte von Khor, aber noch viel größer. Trotz der heißen Mittagssonne wirkte die Sklava düster und bedrohlich, ein dunkler Fleck in der hellen Südlandschaft. An diesen gottverlassenen Ort hatte man die gefangenen Araukarier also geschafft. »Das ist das Werk eines Wahnsinnigen«, murmelte Nauru entsetzt. 6
»Der Schwarze Prinz dürfte das anders sehen«, erwiderte Alsfar. »Ein Menschenleben ist ihm nicht wichtig. Und Tausende auch nicht.« »Weil er ein Ziel hat, das wir nicht verstehen«, erklärte Bolgan und betrachtete dann lange die gigantischen Fundamente. Ihn fror trotz der Hitze. »Die Sklava wächst rasch«, hörte er Ogrok sagen. »Wie es scheint, presst unser Herr das Letzte aus den Gefangenen.« Ormon nickte bedächtig. »Wenn alles glatt geht«, schnarrte er, »ist sie in vier Monaten fertig.« »Vier Monate?«, staunte Ogrok. »Das ist unmöglich.« »Alles ist möglich, wenn der Schwarze Prinz es verlangt«, erwiderte Ormon und trieb sein Pferd an. Die unglücklichen Gefangenen hatten große Anstrengungen unternommen, das Land urbar zu machen. Schöpfwerke holten Wasser aus tiefen Brunnen, um es in Kanäle zu gießen, die es über die neu angelegten Äcker verteilten. Das erste Grün flaumte da und dort – ein Hoffnungsschimmer in der Einöde, den selbst die bedrückende Gegenwart von Sklava Mhor nicht ganz auslöschen konnte. »Der Schwarze Prinz will die Menschen also dauerhaft hier ansiedeln«, sagte Nauru. »Als Sklaven.« »Aber das alles kann nicht erst nach der Zerstörung Araukarias geschehen sein«, wandte Bolgan ein. Ormon, der vorausritt, drehte sich um. »Zwei Jahre«, schnarrte er. »Zwei Jahre wurde dieses Werk 7
vorbereitet. Seit Ankunft der Araukarier arbeiten sechzigtausend Männer an der Pforte und hundertzwanzigtausend in Sklava Firr, der Hauptstadt einer neuen Welt. Aber was rede ich! Die Größe dieses Unternehmens geht sowieso über euren Verstand.« Bolgan hatte eine böse Antwort auf der Zunge, sagte aber nichts. Aurians Behandlung wirkte immer noch nach. ›Er muss hellsehen können‹, dachte er. ›Oder er hat Ohren wie ein Luchs. Aber wir haben doch ganz leise gesprochene.‹ Als die Sonne sank, konnte Bolgan Einzelheiten der gigantischen Baustelle erkennen. Nach Osten erstreckten sich die Fundamente einer gigantischen Stadt. Das musste Sklava Firr sein. Hunderte aus dem Boden gestampfte Dörfer zogen sich am Gebirge entlang, und in regelmäßigen Abständen thronten hölzerne Wachtürme wie Krähennester über der Ebene. »Willkommen daheim«, knurrte Alsfar, während sie sich einem der trostlosen Weiler näherten. »Schaut mal«, sagte Bolgan. Westlich der Sklava war eine riesige Burg in den Felsen gehauen. Sie hing dreihundert Meter über ihren Köpfen, und nur eine einzige Treppe führte empor. Ogrok drehte sich um. »Das ist Sklava Märtolon«, grinste er. »Die Felsenzwinge des Schwarzen Prinzen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr er sich freut, dass ihr beim Bau der Pforte helft.« Bolgan schauderte. Der Gedanke, dass aus diesen 8
leeren Fensterhöhlen der Zerstörer Brangwens auf sie herunterschaute, machte ihm Angst. Erst jetzt wurde ihm klar, wie wenig der Alte Niemand über den Schwarzen Prinzen gewusst hatte. Was nützten seine Forschungen aus siebenhundert Jahren schon gegen das, was sich hier an den Pforten des Verbotenen Landes offenbarte? Kein Zweifel, der Schwarze Prinz musste in den vergangenen Jahrhunderten an Kraft und Bösartigkeit gewonnen haben – in dem Maße, wie die Macht des Alten Niemand abnahm, der sich in seiner Hütte im Land der Tanzenden Berge hinter Schriftrollen verschanzt hatte. Und er, Bolgan, hatte den Auftrag, dem Schwarzen Prinzen den Großerft zu nehmen. Schöne Aussichten. »Morgen lernt ihr, was arbeiten heißt«, sagte Ogrok, als sie bei den ärmlichen Lehmhütten angekommen waren. »Recht so!« Hauptmann Berngar lachte nervös. »Sie haben es nicht anders verdient.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, schnauzte Ogrok. »Noch weißt du nicht, was mit dir geschehen wird.« Berngar zog den Kopf ein; um Ormons Mund spielte ein Lächeln. Die Siedlung lag fast verlassen da. Ogrok winkte eine Frau herbei, die aus einer Hütte kam. »Gib den dreien Quartier. Morgen melden sie sich bei Fardon, dem Vorarbeiter. Er soll sie schuften lassen, bis sie schwarz werden!« »Schuften tun hier alle.« Die Frau war sicher über 9
sechzig und ging etwas gebeugt, als trage sie eine unsichtbare Last auf den Schultern, doch die Gefangenschaft hatte ihr die Würde nicht nehmen können. Mit prüfendem Blick musterte sie die Neuankömmlinge. »Man hat euch schon angekündigt. Wir haben drei Betten frei gemacht.« »Das gefällt mir schon besser«, sagte Alsfar zufrieden. »Wie heißt du?«, fragte Bolgan. »Blinja. Aber Namen zählen nichts in Sklava Mhor.« Ogrok und Ormon machten sich mit ihrem Trupp an den Aufstieg nach Sklava Märtolon. Es sollte lange dauern, bis die drei Gefährten sie wieder sahen. »Wo sind die Männer?«, wandte sich Bolgan wieder an Blinja. »Sie arbeiten an der Sklava.« Die alte Frau wandte sich zum Gehen, und die Gefährten folgten ihr. Erst als die Sonne längst hinter den Roten Bergen versunken war, kam eine Arbeiterkolonne von der Sklava hergeschlurft. Die Gesichter der Männer waren grau und müde. Wortlos stiegen sie in ihre Betten, ohne die Gefährten zu beachten. Die waren froh darüber. Was hätten sie auch erzählen sollen? Von ihren Abenteuern hätten die Gefangenen wahrscheinlich nichts verstanden. Nach kurzer Zeit waren sie eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurden sie von einem Fanfarenstoß geweckt. Die Sonne stieg hinter der Bergkette des Verbote10
nen Landes auf und tauchte die staubige Ebene in ein unwirkliches Licht. Vor dem Haus stand Blinja mit einem Kessel Suppe. »Was ist denn das für ein Fraß?« Alsfar beäugte misstrauisch einige seltsam aussehende Fleischstücke, die in einer kargen Brühe schwammen. Ein alter Arbeiter wandte ihm sein schmales, sonnenverbranntes Gesicht zu. »Es ist wesentlich besser als das, was wir zu Anfang bekommen haben.« »Dann bin ich froh, jetzt erst hier zu sein.« »Ich bin Fardon, der Vorarbeiter«, sagte der Mann. »Und ihr seid vermutlich die drei, die man uns angekündigt hat?« »Genau«, antwortete Bolgan und betrachtete den kleinen, sehr faltigen Mann. »Es scheint eine harte Arbeit zu sein.« »Es ist eine Arbeit für drei«, erwiderte Fardon ernst. »Was das heißt, werdet ihr noch merken. Am Anfang sind sie hier wie die Fliegen gestorben – nun sind nur noch die Kräftigsten übrig. Aber es kommt ständig Nachschub.« »Welchem Zweck dient das alles? Weshalb baut man ein Tor vor ein Land, das niemand betreten will?« »Das weiß keiner.« Fardons Augen waren hell und gescheit, und wie bei Blinja lag eine Güte darin, die alles Leid nicht hatte brechen können. Wieder ertönte ein Fanfarenstoß aus der Ferne. »Morgen lernt ihr, was arbeiten heißt«, sagte Ogrok, als sie bei den ärmlichen Lehmhütten angekommen waren. 11
»Recht so!« Hauptmann Berngar lachte nervös. »Sie haben es nicht anders verdient.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, schnauzte Ogrok. »Noch weißt du nicht, was mit dir geschehen wird.« Berngar zog den Kopf ein; um Ormons Mund spielte ein Lächeln. Die Siedlung lag fast verlassen da. Ogrok winkte eine Frau herbei, die aus einer Hütte kam. »Gib den dreien Quartier. Morgen melden sie sich bei Fardon, dem Vorarbeiter. Er soll sie schuften lassen, bis sie schwarz werden!« »Schuften tun hier alle.« Die Frau war sicher über sechzig und ging etwas gebeugt, als trage sie eine unsichtbare Last auf den Schultern, doch die Gefangenschaft hatte ihr die Würde nicht nehmen können. Mit prüfendem Blick musterte sie die Neuankömmlinge. »Man hat euch schon angekündigt. Wir haben drei Betten frei gemacht.« »Das gefällt mir schon besser«, sagte Alsfar zufrieden. »Wie heißt du?«, fragte Bolgan. »Blinja. Aber Namen zählen nichts in Sklava Mhor.« Ogrok und Ormon machten sich mit ihrem Trupp an den Aufstieg nach Sklava Märtolon. Es sollte lange dauern, bis die drei Gefährten sie wieder sahen. »Wo sind die Männer?«, wandte sich Bolgan wieder an Blinja. »Sie arbeiten an der Sklava.« Die alte Frau wandte sich zum Gehen, und die Gefährten folgten ihr. 12
Erst als die Sonne längst hinter den Roten Bergen versunken war, kam eine Arbeiterkolonne von der Sklava hergeschlurft. Die Gesichter der Männer waren grau und müde. Wortlos stiegen sie in ihre Betten, ohne die Gefährten zu beachten. »Es ist Zeit.« Fardon stellte seinen Napf beiseite und deutete auf den kleinen Murk. »Den könnt ihr nicht mitnehmen. Gebt ihn Blinja, meiner Frau. Die kümmert sich um ihn.« Nauru seufzte, gehorchte aber. Hunderte von Menschen marschierten mit ihnen auf dem staubigen Weg. Wieder fröstelte Bolgan, als er sich dem Riesenbauwerk näherte. Sklava Mhor bestand aus zwei gewaltigen, rechteckigen Tortürmen, die dreihundert Meter lang und sechzig Meter breit waren. Zu beiden Seiten zogen Kolonnen über eine Rampe behauene Steine hinauf, die sie von einem riesigen Haufen regellos aufgeschichteter Blöcke geholt hatten. »Jeden Tag muss der Bau um einen Meter wachsen«, sagte Fardon, als sie die Rampe betraten. »Sonst gibt es abends nichts zu essen.« »Einen ganzen Meter?«, fragte Bolgan erschrocken. »Bei dieser riesigen Fläche?« »Einen ganzen Meter«, bestätigte Fardon. Schon jetzt hatte Sklava Mhor eine Höhe von über siebzig Metern, und die Arbeiter wirkten wie Ameisen, die auf einem gewaltigen Ameisenhügel und in seinem Umkreis unterwegs waren. Einige schlössen sich Fardon beim Aufstieg an. 13
»Unsere Aufgabe ist es, die angelieferten Steine an den richtigen Ort zu bringen und einzupassen«, sagte der Vorarbeiter. »Dabei muss man gründlich und genau sein. Ihr seht aus, als könnte ich euch das übertragen.« Auf dem westlichen Torturm angekommen, sah Bolgan sich um. Tief unten war das eigentliche Tor – eine gewaltige eiserne Pforte, mit einem Baum verriegelt und mit mannshohen eisernen Angeln in die Sklava eingelassen. Nach Süden erstreckte sich das Verbotene Land, doch der Blick tat weh: Eine öde rote Wüste, so weit das Auge reichte, belebt nur von Staubstürmen, die darauf tanzten. Am Horizont meinte Bolgan einen schwarzen Punkt wahrzunehmen. »Schau nicht hin.« Fardon stand neben ihm. »Das bringt Unglück. Außerdem könntest du beobachtet werden.« »Von wo?« Der Vorarbeiter deutete nach oben. »Siehst du die Fensterhöhlen? Das ist Sklava Märtolon, die Wohnung des Schwarzen Prinzen. Von dort überwacht man uns.« Schon kamen die ersten Kolonnen mit Steinen angekrochen. Fardon achtete darauf, dass die richtigen nebeneinander zu liegen kamen. Seine Männer wuchteten die Blöcke dann mit Holzpflöcken in Position. An den Rändern war es am gefährlichsten: Glatt wie polierter Stahl sollte die Außenfläche der Sklava werden. Seltsamerweise passten die Blöcke haarge14
nau aufeinander, als hätte eine geheime Macht es so bestimmt; einmal aneinander gefügt, drang selbst das schärfste Messer nicht mehr dazwischen. »Da ist Hexerei im Spiel«, murrte Alsfar schwitzend. »Kein Mensch kann diese Dinger so perfekt behauen.« »Sei still.« Fardon hatte seine Worte gehört. »Du weißt nie, wer dir zuhört.« Dann packte er Alsfar am Handgelenk und deutete auf den riesigen Steinvorrat hinunter. »Er wird nicht weniger«, flüsterte er. »Als wüchsen die Blöcke nach. Dieses Bauwerk ist verflucht, sage ich; und verflucht sind wir, die wir es errichten.« Die Gefährten tauschten stumme Blicke. »Machen wir weiter«, murmelte Nauru. Als die Sonne in der Wüste versank, hatten sie gerade eine Steinlage fertig, und die Pforte war wieder einen Meter höher geworden. Müde stiegen sie die Rampe runter und machten sich auf den Heimweg. Als sie das Bauwerk hinter sich ließen, wurde ihnen leichter. »Und das macht ihr jeden Tag?«, fragte Bolgan den Vorarbeiter. »Seit zweieinhalb Monaten«, antwortete Fardon. »Fünfundsiebzig Meter ist die Sklava seither gewachsen.« »Das kann nicht sein«, sagte Bolgan verwirrt. »Du bist doch Araukarier – du kannst frühestens vor anderthalb Monaten hier angekommen sein!« 15
»Aber es ist so«, beharrte Fardon. Bolgan drang nicht weiter in ihn. Schon jetzt hatte er das Gefühl, zu viel erfahren zu haben. Auf dem Heimweg kamen sie an Ruinen vorbei, die ihm am Morgen nicht aufgefallen waren. Zum Teil waren sie zugeweht. Unter einem eingestürzten Torbogen bleichten Knochen im Sand. »Das«, erklärte Fardon, »war der Tempel der Wahrheit. Der Schwarze Prinz hat ihn zerstört. Die Priester mussten fliehen und nahmen den Ring der Wahrheit mit, der ihr Heiligtum ist. Man konnte sie alles fragen – wenn sie einem wohlgesonnen waren, streiften sie den Ring über und gaben Auskunft.« »Du weißt sehr viel«, sagte Bolgan. »In Araukaria bin ich Gelehrter gewesen«, erwiderte der Vorarbeiter ruhig. »Und Sterndeuter. Ich habe in den Tempeln gearbeitet, als Diener der Priester des Verborgenen Gottes.« »Und jetzt musst du Steine schleppen«, brummte Alsfar. »Das ist bestimmt nicht leicht für einen Sterndeuter.« Fardon lächelte. »Aber auch nicht schwerer als für jeden anderen.« Die Menschlichkeit ihres Vorarbeiters gab Bolgan Hoffnung. Als sie in die Siedlung gekommen und ihre Suppe gelöffelt hatten, erwartete sie eine Überraschung. Ausgerechnet auf Alsfars Pritsche lag – Hauptmann Berngar. »Was machst du denn hier?«, fuhr Alsfar ihn an, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Bol16
gan sah diebische Freude in seinen Augen: Sein Gefährte war heilfroh, jemanden gefunden zu haben, auf dem er rumhacken konnte. »Musst du mir jetzt auch noch den Schlafplatz wegnehmen, du Faulpelz?« Berngar öffnete blinzelnd die Augen. »Sie haben mich degradiert«, jammerte er. »Weil ich das Floß verloren habe. Jetzt muss ich arbeiten wie die Gefangenen. Daran seid nur ihr schuld.« »Recht so! Hast du gestern nicht gesagt, wir sollten an der Sklava schuften, bis wir schwarz werden?« »Ich hab’s nicht so gemeint«, maulte Berngar. »So«, sagte Alsfar. »Jetzt kannst du jedenfalls richtig anpacken. Nun aber raus aus meinem Bett, du Flohsack; ich will nicht wissen, was sich in deinem Schnauzer angesammelt hat.« Bolgan musste grinsen. Berngar und Alsfar zusammen in einer Kolonne – das konnte heiter werden. Aber vielleicht würde er von Berngar erfahren, wozu sie das Tor errichteten. Er musste ans Verbotene Land denken, das er heute zum ersten Mal gesehen hatte. Abermals schauderte ihn, als er an die rote Wüste dachte, an die tanzenden Staubfahnen – und an das, was sich dahinter verbarg. Die nächsten Tage waren ein ödes, anstrengendes Einerlei, das aus Arbeiten, Essen, Schlafen und wieder Arbeiten bestand. Wenn die Sonne hinter den Bergen aufstieg, marschierten sie in langen Kolonnen zur Pforte, um Steine zu schleppen, bis das 17
Bauwerk wieder einen Meter höher geworden war. Jeder hatte Angst vor den unsichtbaren Augen, die sie von Sklava Märtolon aus überwachten. Abends gab ihnen Blinja Suppe, und Nauru bekam den kleinen Murk zurück. Der ehemalige Hauptmann Berngar war bei der Arbeit keine Hilfe, denn er war ungeschickt. Alsfar persönlich passte auf ihn auf. »Mehr rechts, Hauptmann!«, rief er. »Und stärker! Du drückst ja gar nicht!« »Ich drücke doch«, japste Berngar und stemmte sich gegen seinen Holzpfahl. »Das reicht nicht«, erwiderte Alsfar mitleidlos und trat näher, um besser sehen zu können. »Du musst dich mehr anstrengen.« »Jaaa«, ächzte Berngar und machte einen letzten Anlauf, »jetzt geht’s doch.« »Autsch!«, brüllte Alsfar und zog die Hand gerade noch rechtzeitig zurück, bevor der Spalt sich schloss. »Beinahe hättest du mir die Finger eingeklemmt, du Tollpatsch!« »Selber schuld«, sagte Nauru. Er hatte Mitleid mit dem Hauptmann. »Ja, ja«, murrte Alsfar. Der Schmerz hatte ihm den Spaß verdorben. »Trotzdem geschieht’s ihm recht.« »Mir geschieht’s immer recht, ich weiß«, maulte Berngar, legte seinen Pflock beiseite und beäugte kritisch sein Werk. Der Stein schloss sich fugenlos an die anderen. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich beim araukarischen Heer geblieben.« 18
»Du bist beim araukarischen Heer gewesen?«, fragte Bolgan verblüfft. »Natürlich«, sagte Berngar stolz und bleckte die paar Zähne, die ihm nach seiner Begegnung mit den Erminari geblieben waren. »Unter Führung von Morgreal, dem Heeresvorsteher.« »Interessant.« Bolgan half ihm, den nächsten Block zu setzen. »Wie bist du zum Diener des Schwarzen Prinzen geworden?« »Lange Geschichte.« Froh über das Interesse an seiner Person, begann der ehemalige Hauptmann zu erzählen. Bolgan hörte gespannt zu. Manches hätte er sich denken können. Berngar war einfacher Soldat gewesen, hatte es zum Hauptmann gebracht und war dann in Schwierigkeiten geraten. Warum, sagte er nicht. Bolgan vermutete, dass er wegen Unfähigkeit degradiert werden sollte. Da war Morgreal, seit einem Jahr Heeresvorsteher, an ihn herangetreten. Berngar hatte den Befehl über einen Trupp Soldaten bekommen und sollte Neugierige vom alten Hexentanzplatz fernhalten. Nach dem Fall Araukarias hätte er mit Morgreal nach Barku ziehen sollen, war jedoch im letzten Moment abkommandiert worden, um ein Gefangenenfloß zum AyakilFelsen zu bringen. Damit hatte seine Pechsträhne begonnen. »Und jetzt haben sie mich zum Gefangenen gemacht«, schimpfte er. »Nach allem, was ich für sie getan habe.« »Das tut mir Leid«, log Bolgan. Er wollte Bern19
gars Redseligkeit ausnutzen und fragte: »Hast du eigentlich eine Ahnung, wozu wir dieses Tor bauen?« »Das hat dir die Felsenstimme doch gesagt.« Jetzt, da er degradiert war, fiel Berngar das Sprechen leicht. »Es soll die Macht des Schwarzen Prinzen vergrößern.« »Aber wie?« »Keine Ahnung.« Berngar schielte nach Sklava Märtolon hinauf, das wie ein drohendes Verhängnis über ihren Köpfen hing. »Diesen Ormon bringe ich um«, knirschte er. »Der hat mich beim Schwarzen Prinzen angeschwärzt, und zwar mit Vergnügen.« »So ein Schuft«, sagte Bolgan mit echter Entrüstung. »Aber was sind Gifalken überhaupt?« »Eine Bande von Hundesöhnen«, erwiderte Berngar zornig. »Kein Mensch weiß, woher sie kommen.« Dann senkte er die Stimme: »Es heißt, sie werden ohne Seele geboren.« Mit großen Augen blickte er Bolgan an. »Im Verbotenen Land gibt es einen alten Brunnen, der direkt in die Unterwelt führt. Von dort hat sie der Schwarze Prinz mitgebracht. Sie sind seine treusten und furchtbarsten Diener, gleichen einander wie Brüder und ernähren sich von Träumen, vor allem …« »Ich weiß.« Bolgan warf einen vorsichtigen Blick nach Sklava Märtolon hinauf. Etwas da oben warnte ihn. »Ich habe gesehen, was Ormon in Tifillan getan hat.« Sie arbeiteten weiter, doch die Wut über seine Erniedrigung ließ Berngar nicht los. 20
»Sie gehorchen nur dem Schwarzen Prinzen«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Sie nennen ihn Fathär.« »Eigenartiger Name«, sagte Bolgan. »Hast du ihn eigentlich mal gesehen?« »Ich habe sogar mit ihm gesprochen. Damals war er sehr gut zu mir und sagte, ich hätte den Hexentanzplatz vorbildlich bewacht. Dafür bekam ich ein Goldstück aus seiner Hand.« »Dann hast du den Großerft also schon mal gesehen!« »Natürlich«, warf sich Berngar in die Brust. »Er ist in einen Ring gefasst, und der Schwarze Prinz trägt ihn immer überm Handschuh. Komisch, nicht?« Bolgans Verstand arbeitete fieberhaft. War das der geeignete Moment? Es kam darauf an, die richtigen Worte zu finden. »Wenn der Schwarze Prinz seine Macht aus dem Erft bezieht«, fragte er mit erzwungener Ruhe, »warum hat dann nie jemand versucht, den Stein zu stehlen und so zum Herrn der Welt zu werden?« »Den Schwarzen Prinzen bestehlen?«, fragte Berngar irritiert zurück. »Das traut sich doch niemand! Allerdings …« – er dachte scharf nach – »… gibt es ein Gerücht, dass es einmal jemand versucht hat. Es ist nämlich nicht unmöglich.« Der Hauptmann setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Manchmal nimmt der Schwarze Prinz den Ring ab, und zwar, wenn ein Gewitter kommt, denn der Erft zieht Blitze an. Während eines Unwetters – das muss Jahrhunderte her sein – soll ein Diener ihm den 21
Ring genommen haben und geflohen sein, der Schwarze Prinz aber soll ihn gefangen und ihm die schlimmste aller Strafen auferlegt haben.« »Nämlich?«, fragte Bolgan neugierig. »Der Diener musste werden wie er.« »Das verstehe ich nicht.« Berngar breitete grinsend die Arme aus. »Ich auch nicht.« Fardon trat zu ihnen. »Ihr solltet weniger reden und mehr arbeiten«, sagte er ernst. »Die Augen von Sklava Märtolon sind schon auf uns gerichtet.« Bolgan folgte seinem Blick. Droben an der Fensterhöhlung stand eine dunkle Gestalt. War es Ormon, der Gifalk? Oder der Schwarze Prinz persönlich? »Worüber habt ihr gesprochen?«, fragte Fardon. »Über nichts Besonderes«, meinte Berngar kleinlaut. »Hoffentlich.« Ein Blick zeigte Bolgan, dass der Vorarbeiter Angst hatte. Sie verbrachten den Tag mit Steinerücken, und der ehemalige Hauptmann tat sein Bestes, es den anderen gleichzutun. Als die Sonne sank, war die Sklava wieder einen Meter gewachsen. Doch heute war es ihnen schwer gefallen. Erschöpft wankten die Arbeiter vom Bauwerk herunter, das sich im Abendlicht sonnte wie ein schlafendes Raubtier. Unten an der Rampe stand Ormon. Berngar zuckte zusammen, als er ihn sah. »Der ist wegen mir hier«, flüsterte er furchtsam. »Ich habe zu 22
viel geredet.« »Abwarten«, versuchte ihn Bolgan zu beruhigen. Doch auch ihm wurde mulmig. Der Gifalk musterte teilnahmslos die Vorüberziehenden. Schlank, schwarz und reglos wie eine Statue stand er da. Auch Bolgan und Berngar streifte er mit kurzem Blick. Der ehemalige Hauptmann begann zu zittern. »Ich hätte das nicht sagen sollen«, flüsterte er, das Gesicht wächsern vor Angst. »Vergiss, was ich erzählt habe. Vergiss es einfach.« »Natürlich«, versprach Bolgan. Wusste Ormon wirklich, was Berngar ihm anvertraut hatte? Bei einem Gifalken war alles möglich. Ormon blickte nach Sklava Märtolon hinauf. Als habe er von dort einen unhörbaren Befehl erhalten, nickte er unmerklich und folgte ihnen zur Siedlung. Berngar hastete in die Hütte und setzte sich schwer atmend auf seine Pritsche. »Ich habe Angst«, sagte er. »Ormon wird Rache nehmen.« »Keine Sorge«, entgegnete Bolgan nicht sehr überzeugt. Alsfar trat ein. »Heute gibt es kaum etwas zu essen. Beeilt euch, sonst bekommt ihr nichts mehr.« »Ich habe keinen Hunger«, flüsterte Berngar. Bleich und mit angezogenen Knien hockte er da, ein Bild des Elends. Bolgan wusste nicht, was er tun sollte. Er ließ den Hauptmann allein und folgte Alsfar. »Er hat Angst«, sagte er. »Ormon ist ihm gefolgt.« »Der?«, fragte Alsfar verwundert. »Ich habe ihn 23
gar nicht gesehen.« »Eben war er noch hier.« Bolgan blickte sich suchend um, doch der Gifalk war verschwunden. »Hoffen wir das Beste«, sagte Alsfar. An diesem Abend behandelte er Berngar freundlicher. Doch es war zu spät. Am nächsten Morgen, als sie wieder von einem Fanfarenstoß geweckt wurden und aufstanden, sagte Alsfar: »Seht mal – Berngar …« »Was ist mit ihm?« Bolgan trat an sein Bett und schluckte. Der Hauptmann war tot. Bleich und mit wächsernen Wangen lag er da; die Augen starrten gebrochen zur Decke. Sein Gesicht war verzerrt vor Angst, als habe er die spitzfingerige Hand, die ihm das Leben nahm, noch gesehen. Alsfar untersuchte den Leichnam. »Er hat keine Wunde. Ich frage mich, woran er gestorben ist.« »Angst«, brummte Nauru. »Ormon«, sagte Bolgan. »Worüber habt ihr gestern gesprochen?«, fragte Alsfar. »Ihr habt euch lange unterhalten. Dann ist Fardon gekommen und hat es euch verboten. Ab da war Berngar nicht mehr der Alte.« »Da seht ihr, wohin es führt, wenn man zu viel redet.« »Eine weise Antwort«, brummte Alsfar. »Sie steigert unsere Lebenserwartung.« Traurig starrte Bolgan auf den toten Hauptmann. Ein angenehmer Mensch war Berngar nicht gewesen – aber bei weitem nicht das dunkelste 24
Rad der gnadenlosen Maschinerie des Schwarzen Prinzen, von der er am Ende selbst zermahlen worden war. »Lassen wir ihn hier«, sagte er und strich Berngar über das Gesicht, um ihm die Augen zu schließen. »Heute Abend wollen wir ihn begraben.« Doch als sie von der Sklava zurückkamen, war sein Bett leer, sogar eine neue Decke lag dort, sauber gefaltet. Niemand wusste, wer den Leichnam weggebracht hatte, auch die Frauen nicht. Bolgan, der die Zusammenhänge ahnte, spürte seinen Hass auf Ormon brodeln und Blasen schlagen wie kochender Leim. ›Trotzdem hast du nicht verhindern können, dass ich das Geheimnis des Schwarzen Prinzen erfahren habe‹, dachte er wütend, irgendwann wird er den Ring vom Finger nehmen – und dann werde ich zur Stelle sein.‹ Doch zunächst kamen Wochen und Monate härtester Arbeit. Mit unglaublicher Schnelligkeit wuchs die Sklava in den blauen Wüstenhimmel. Dennoch meinte Bolgan, die Zeit stehe still. Jeder Tag schien völlig gleich, und er konnte nicht sagen, warum. Als er Fardon eines Morgens darauf ansprach, blieb der stehen, nahm Bolgans Hand und führte sie zum Horizont. »Siehst du die Sonne über den Roten Bergen aufgehen?« »Natürlich.« »Und die Felsspitze direkt daneben?« 25
»Worauf willst du hinaus?« Fardon ließ sich nicht beirren. »Die Sonne geht rechts davon auf«, sagte er. »So knapp, dass von hier gesehen kein Daumen dazwischen passt. Weißt du, wo sie gestern und vorgestern aufgegangen ist, Bolgan?« »Genau dort«, antwortete der verblüfft. »Aber mit dem Frühling müsste sie nach Norden wandern.« »So ist es, seit die Lande erschaffen wurden – aber in Sklava Mhor gilt dieses Gesetz nicht mehr.« »Es gibt keine Jahreszeiten«, meinte Bolgan verblüfft. »Der Winter dauert ewig.« »Nicht ganz«, sagte Fardon. »Der Schwarze Prinz kann die Zeit nicht anhalten, aber verzögern. Drei Tage in Sklava Mhor entsprechen einem Tag in den übrigen Landen. Ich habe es ausgerechnet.« »Aber wie verlangsamt man die Zeit?« »Das weiß ich nicht.« Der alte Vorarbeiter wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ den Pfahl sinken, mit dem er sich abgemüht hatte. Die Arbeit schien ihm heute besonders schwer zu fallen. »Da ist noch etwas.« Er schien sich entschlossen zu haben, Bolgan ein Geheimnis anzuvertrauen. »Drei auf einen ist nur ein Mittelwert. Am Anfang waren es zwei Tage auf einen, also halb so schnell. Mittlerweile sind es vier.« Bolgan hielt den Atem an. »Immer mehr Tage«, flüsterte er. »Warum?« Fardons kluge Augen glitzerten. »Damit die Sklava schneller fertig wird. Draußen in den Landen gibt es einen Zeitpunkt, zu dem sie vollendet sein muss – 26
sonst war der Bau vergeblich.« Jetzt schwang Triumph in seiner Stimme. »Alle glauben, der Schwarze Prinz sei allmächtig, aber das stimmt nicht. Er ist in Eile – und das ist kein Zeichen von Allmacht.« Bolgan wagte kaum zu atmen. Was der Vorarbeiter da sagte, ließ Hoffnung keimen. Sogar auf den Steinen von Sklava Mhor. Fardons Strafe sollte auf dem Fuße folgen. Als die beiden abends von der Rampe kamen, sahen sie Ormon unten stehen – genau dort, wo er auf Berngar gewartet hatte. Gleichgültig betrachtete er sie und folgte ihnen in kurzer Distanz. »Er hat es gehört«, murmelte Fardon verzweifelt. »Das hätte ich wissen müssen.« Bolgan biss sich auf die Lippe und schämte sich, den Alten ausgefragt zu haben. »Tut mir Leid«, murmelte er schließlich. »Das braucht es nicht.« Fardon blieb stehen, wandte sich um und ging zum Gifalken. Die anderen Arbeiter machten einen Bogen; jeder wusste, dass Ormons Auftauchen Tod bedeutete. Einen Moment maßen sie sich mit den Augen, der Gifalk und der alte Vorarbeiter, der einmal ein Gelehrter gewesen war. »Suchst du Streit?«, fragte Ormon. »Geh zu deinen Leuten!« »Auf ein Wort«, entgegnete Fardon ruhig. »Ihr habt sicher gehört, was ich Bolgan gesagt habe. Wenn Ihr mich töten wollt, weil ich ein Geheimnis 27
verraten habe, tut es jetzt und versucht nicht, mir Angst einzujagen. Ich war ein Diener des Verborgenen Gottes – erwartet nicht, dass ich den Tod fürchte. Oder Euch, nur weil Ihr über mich verfügen könnt.« Zum ersten Mal wirkte der Gifalk überrascht. »Wie kommst du darauf, dass ich dich töten will?«, fragte er lauernd. »Es ist Euer Blick.« »Ich lasse mich nicht von dir beleidigen, alter Mann«, schnarrte Ormon, und seine blassen Augen begannen gefährlich zu glitzern. »Gib mir deine Hand.« Bolgan zuckte zusammen. Er erinnerte sich an die Qualen auf dem Schiff. Gleich würde Fardon in die Knie sinken und … Doch nichts dergleichen geschah. Fester und fester umklammerte der Gifalk die Hand des Vorarbeiters, doch der alte Mann stand aufrecht wie ein Fels. »Gebt Euch keine Mühe«, sagte er. »Eure Macht lebt von unserer Angst, doch ich habe keine. Nicht vor Euch.« Da ließ Ormon los. Die Maske der Gleichgültigkeit war gewichen und hatte grenzenloser Grausamkeit Platz gemacht. Zum ersten und letzten Mal sah Bolgan das wahre Gesicht eines Gifalken, und dieser Anblick ließ ihn schaudern. »Geh deines Weges, alter Mann«, zischte er. »Ihr tragt den Tod in Euch«, sagte Fardon. »Doch selbst Ihr seid nicht allmächtig.« »Macht hat viele Gesichter«, entgegnete Ormon. 28
»Und du kennst noch nicht alle.« Aber sie hatten den Gifalken schon stehen lassen. Als sie außer Hörweite waren, fragte Bolgan: »Wie hast du das gemacht?« »Ich weiß, welche Qualen er einem zufügen kann«, erwiderte Fardon. »Doch in diesem Augenblick konnte er es nicht.« Bolgan schaute zurück. Der Gifalk war verschwunden. Nur Rafi, ein alter Arbeiter aus Fardons Kolonne, ging hinter ihnen. ›Er ist weg‹, dachte Bolgan verwundert. ›Oder hat er sich verwandelt?‹ Etwas an Rafis Gang kam ihm seltsam vor. Sah er jetzt schon Gespenster? Im Weiler angekommen, blieb Bolgan hinter der Tür stehen, um Rafi zu beobachten. Ein Kind rannte auf den Alten zu: Raulin, sein Enkel, ein Spielkamerad des kleinen Murk. Rafi erwiderte die Umarmung. Dann nahm er Raulin wortlos mit sich. ›Ich habe mich wohl getäuscht‹, dachte Bolgan. Da erfasste er Blinjas Blick. Sie starrte dem alten Mann nach. In ihren Augen stand ein Hass, der an Wahnsinn grenzte. Und verzweifelte Ohnmacht. ›Was geht hier vor?‹, fragte sich Bolgan. Dann sah er die Antwort: Der echte Rafi trat aus der Tür und schaute sich um. Er suchte seinen Enkel. Als er ihn nicht fand, ging er zu Blinja; die schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Als der alte Mann begriff, sank er in die Knie. 29
Die Treppen nach Sklava Märtolon waren ungefähr dreihundert Meter entfernt. Dort sah Bolgan jetzt den Gifalken gehen – an seiner Hand den kleinen Raulin. ›Er ist ein Wandlers dachte er erschrocken. ›Er hat den Jungen glauben machen, er sei sein Großvater.‹ Alsfar kam und reichte Bolgan einen Napf Suppe. »Ich habe es gesehen«, sagte er. In seinen Augen stand nackte Wut. »Auch Nauru weiß Bescheid. Im Augenblick ist er bei den Frauen, um Murk zu holen. Ihn kriegt Ormon nicht, und wenn es uns alle das Leben kostet.« Fardon sah verzweifelt nach Sklava Märtolon hinauf. »Er rächt sich«, flüsterte er. »Macht hat viele Gesichter, hat er gesagt; aber auf diese Art …« Er wandte sich ab. Tränen standen ihm in den Augen. »Es ist meine Schuld. Ich habe ihn herausgefordert.« Von nun an sah man jeden Abend ein Kind die Treppen nach Sklava Märtolon hochsteigen. Die Frauen konnten nicht verhindern, dass immer wieder plötzlich eines verschwand und den Weg hinauf nahm. »Es ist meine Schuld«, sagte der verzweifelte Fardon stets aufs Neue. »Ich hätte ihn nicht reizen sollen.« »Vielleicht hat es gar nichts mit dir zu tun«, versuchte ihn Bolgan dann zu beruhigen. »Er braucht ihre Träume und hätte sie sowieso geholt.« 30
Das Schlimmste war, dass sie ohnmächtig zusehen mussten. Meist dauerte es über eine halbe Stunde, bis die Kleinen die Treppe emporgestiegen und ihren Blicken entschwunden waren. Dann hielt das ganze Dorf Wache, um die Kinder, wenn sie endlich im Dunkeln zurückkamen, in Empfang zu nehmen. Meist waren die Kleinen dann völlig teilnahmslos, als hätte Ormon ihnen mit den Träumen auch den Verstand geraubt. Sie schliefen nicht mehr, sondern starrten mit gebrochenen Augen an die Decke. Wenn die Erschöpfung sie dann doch einnicken ließ, wachten sie bald schreiend wieder auf. Die Alpträume, die ihnen der Gifalk im Tausch für ihre Träume überließ, schienen sie zu überwältigen. In kürzester Zeit verfielen sie und sahen aus, als würden sie durchsichtig. Viele starben. Hatte ein Kind das Glück, die ersten Tage durchzustehen – meist waren es die ganz Kleinen –, bestand Hoffnung. Doch ein großer Teil überlebte die Behandlung des Gifalken nicht. Fardons Feststellung, der Schwarze Prinz sei offenbar in Eile, hatte ins Schwarze getroffen. Nun wurde auch nachts unter Aufsicht an der Sklava gearbeitet. Fackeln vertrieben die Dunkelheit um die Pforte, und Schreie, Befehle und das Klatschen von Peitschen zerrissen die Nacht. Mit immer größerer Härte wurden die Baumaßnahmen vorangetrieben. Der Schwarze Prinz presste das Letzte aus seinen Gefangenen heraus. Keiner wusste, warum. Den Gefährten ging im täglichen Einerlei der 31
Fronarbeit der Gesprächsstoff aus. Stumm saßen sie abends beisammen, und Müdigkeit erstickte ihre Sehnsucht nach Freiheit. Alsfar schimpfte nicht mehr, und Nauru interessierte sich nur noch dafür, seinen Sohn von den Verderben bringenden Stufen fern zu halten, die nach Sklava Märtolon führten. »Ich bringe Ormon um, wenn er Murk etwas antut«, sagte er einmal. »Ich steige auf diese verdammte Felsenburg und erwürge ihn.« »Sei still«, sagte Bolgan. »Du weißt, er kann uns hören.« »Dann soll er mich doch hören«, knurrte Nauru und knetete die gewaltigen Fäuste. Die Tür ging auf, und Fardon kam herein. In den letzten Tagen war er um Jahre gealtert. Sein Gesicht war grau und eingefallen, und seine intelligenten Augen hatten alle Energie verloren. Er ertrug die Blicke der anderen nicht mehr. Von dem Mann, der Ormon kühn die Stirn geboten hatte, war nichts übrig geblieben. »Es ist etwas passiert«, sagte er leise. Bolgan sah auf. »Heute ist ein Trupp Wölfe aus den Nördlichen Königreichen angekommen«, fuhr Fardon fort. »Sie waren zerlumpt und völlig erschöpft. Es geht das Gerücht, der Schwarze Prinz habe seine erste Niederlage eingesteckt.« »Zu schön, um wahr zu sein«, knurrte Nauru. »Der und eine Niederlage einstecken?« »Wer weiß«, erwiderte Bolgan. 32
»Vielleicht beeilt er sich deswegen so, die Sklava fertig zu stellen«, schaltete sich Alsfar ein. »Er fürchtet, man könnte sie zerstören, ehe sie vollendet ist.« »Und es gibt noch mehr Neuigkeiten«, berichtete Fardon weiter. »Es heißt, die Erften, von denen ihr erzählt habt, haben ihre Macht zurückgewonnen und sind auf dem Weg hierher.« Bolgan ahnte, warum der alte Mann so fest an diese Gerüchte glaubte: Sie gaben ihm Hoffnung. Nicht darauf, dass der Schwarze Prinz besiegt würde, denn so weit dachte der Vorarbeiter nicht mehr. Sondern darauf, dass Ormon auf andere Gedanken kam. Hatte Bolgan sechzig, achtzig oder hundert Tage an der Sklava gearbeitet? Er wusste es nicht. Einzig an der Höhe des Bauwerks war zu ermessen, wie viel Zeit vergangen war. Jetzt stand er auf der Plattform und starrte über die Ebene des Verbotenen Landes. Es war Abend, und die Staubschleier über der roten Wüste hatten sich gelegt. Was verbarg sich hinter dem schwarzen Punkt am Horizont? Kein Gefangener durfte die Schwelle überschreiten, und die riesigen Eisentore waren geschlossen. Fardons Trupp von dreißig Mann war mittlerweile auf sechs zusammengeschmolzen. Den Rest hatte man abgezogen, um beim Bau von Sklava Firr zu helfen, der neuen Hauptstadt. Immer mehr Gefangene wurden aus aller Herren Länder gebracht. Wie eine bösartige Krankheit fraß sich die Macht des Schwarzen Prinzen immer weiter in die Lande hinein. Wenigstens waren Alsfar, Nauru und Bolgan bis 33
jetzt zusammengeblieben. ›Sklava Mhor wird bald vollendet sein‹, dachte Bolgan. ›Und dann?‹ Fardons Gerücht kam ihm wieder in den Sinn. Doch nichts deutete darauf hin, dass die Wölfe wirklich einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatten. Und er? Er wollte den Großerft stehlen! Bolgan hätte laut auflachen können. Noch hatte er seinen Gegner nicht einmal von fern gesehen. »Träumst du?«, riss ihn eine Stimme aus den Gedanken. Alsfar stand neben ihm. »Sieh zu, dass du Arbeit in die Hand bekommst. Da oben warten sie bloß darauf, uns wegschicken zu können. In Sklava Firr soll es härter sein.« »Du redest schon wie einer, der sein Leben lang Steine geschleppt hat«, sagte Bolgan. »Ich glaube sowieso nicht, dass wir um Sklava Firr herumkommen.« An diesem Abend geschah es. Als sie vor der Unterkunft saßen und ihr karges Abendessen zu sich nahmen, hob Nauru plötzlich den Kopf und fragte: »Wo ist Murk? Er müsste längst hier sein.« Die drei Gefährten sahen sich erschrocken an. Während der letzten Viertelstunde hatten sie nicht an den Jungen gedacht, und nun war er nirgendwo zu sehen. »Nein«, flüsterte Nauru und sprang auf. Bolgan und Alsfar tauschten einen Blick, dann rannten sie hinter ihm her. Sie fanden den Hünen wie angewurzelt hinterm 34
Haus stehen und auf die Felstreppe starren. Nauru hatte Murk streng verboten, sich aus der Siedlung zu entfernen, doch Ormons Wille war stärker. »Murk!«, rief er verzweifelt. »Komm zurück!« Er wollte ihm nach und seinen Sohn retten, war aber außerstande, sich zu rühren. Auch Alsfar und Bolgan konnten plötzlich keinen Schritt mehr tun. »Murk!«, brüllte Nauru aufs Neue, doch der Kleine drehte sich nicht einmal um. Sein Vater schrie und fuchtelte mit den Armen. Schließlich ging sein Brüllen in Schluchzen über. »Das darf er nicht«, flüsterte er. »Das darf er nicht.« Mittlerweile hatte der Junge die Stufen von Sklava Märtolon fast erreicht. »Hilf ihm«, sagte Nauru zu Fardon. »Du kannst es.« »Wie denn? Niemand kann …« »Doch.« Nauru spie seine Worte förmlich aus. »Du weißt, was Ormon von dir erwartet. Und du wirst es tun. Sonst töte ich dich. Macht hat viele Gesichter, hat der Gifalk zu dir gesagt«, zischte er. »Und dann hat er deine Seele getötet, schon beim ersten Kind, das nach Sklava Märtolon hochgestiegen ist. Ich habe nichts gesagt, obwohl ich es wusste. Aber nun ist es mein Sohn.« Bolgan würde Fardons Blick nie vergessen – seine verweinten Augen, aus denen Angst und Reue das letzte bisschen Leben presste. Dann flüsterte der Vorarbeiter: »Gut.« Er machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg, um die Felsenburg nicht sehen zu müssen, in deren 35
steinernen Löchern ein bösartiges gelbes Feuer glühte. Immer noch konnten sich die Gefährten nicht rühren, doch der kleine Murk war stehen geblieben. Wie aus einem Traum erwacht, wandte er den Kopf. Dann rannte er zum Lager zurück, so schnell es seine kurzen Beine erlaubten. Er eilte an Fardon vorbei, ohne ihn zu beachten. Der erklomm nun die Stufen von Sklava Märtolon, und bald verschlang ihn die Dunkelheit. Niemand sollte je erfahren, wie der Gifalk sich an ihm rächte. Bolgan schluckte. Ein Mensch war verschont geblieben, ein anderer dafür in den Tod gegangen. »Zu Mördern sind wir geworden«, raunte er. »Fluch dem Gifalken, der uns dazu gemacht hat.« Aber Nauru hörte ihn nicht. Murk kam angerannt, mit rotem Gesicht und außer Atem, und sein Vater riss ihn hoch. »Hab ich dich wieder«, flüsterte er. Bolgan konnte Nauru keinen Vorwurf machen, denn schließlich hatte der um das Leben seines Sohnes gekämpft. Trotzdem konnte er nicht vergessen, wie Fardon wie ein Aussätziger die Treppe hinauf geschlichen war – nur weil er sich einmal gewehrt hatte. Bolgans Hass gegen Ormon steigerte sich ins Unendliche – weniger, weil er grausam und heimtückisch war, eher, weil er alle zu Schuldigen gemacht hatte. Eine furchtbare Welt hatte der Gifalk um sie errichtet – ein Netz aus Lüge, Hass und Misstrauen, in dem sie sich immer tiefer verstrickten. Am dritten Tag nach Fardons Weggehen gab es 36
kein Abendessen. »Blinja ist tot«, meldete Alsfar. Die alte Frau hatte sich am Dachbalken einer Hütte erhängt, aus Gram über den Verlust ihres Mannes. Nauru blickte zu Boden und legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes. »Wir tragen den Tod in uns.« »Schön gesagt«, ertönte eine schnarrende Stimme hinter ihnen. Bolgan fuhr herum. Es war Ormon. Sein Gesicht war nicht mehr so schmal und asketisch wie einst. Anscheinend hatte er da oben in Sklava Märtolon ein gutes, vielleicht zu gutes Leben. Nun war er die verhängnisvollen Stufen heruntergestiegen, um sich am Anblick der toten Frau zu weiden. »Ihr werdet immer weniger. Gut so.« Ormon zog ein Messer aus der Tasche. Ein Ruck, und die Leiche fiel mit dumpfem Schlag zu Boden. »Ein elendes Leben«, sagte er gleichgültig. »Nun hat sie es hinter sich.« Da schwollen Bolgan die Zornesadern. »Warum bist du gekommen?«, fragte er. »Wolltest du wissen, wie eine Frau aussieht, die sich aus Kummer über deine Bosheit das Leben genommen hat? Bist du jetzt zufrieden?« »Sei ruhig, Bolgan«, sagte Alsfar erschrocken. »Nein«, fauchte der. »Es reicht!« Er trat hart an den Gifalken heran. »Ohne unsere Angst bist du machtlos. Vergreifst du dich deshalb so gern an Kindern? Ist ihre Angst am größten?« 37
»Du bist ein Heuchler«, sagte Ormon mit seltsamer Ruhe, die ihn gefährlicher wirken ließ als jede Emotion es getan hätte. Er war im Begriff gewesen, sein Messer in die Tasche zu stecken. Nun aber ließ er es erneut aufschnappen. »Ich habe die Frau nicht getötet – ihr seid es gewesen. Oder habt ihr Fardon nicht gedrängt, an die Stelle des Jungen zu treten?« »Das stimmt nicht!«, rief Nauru wütend. »Du hättest mit den Kindern weitergemacht, bis …« »Das kannst du bestenfalls vermuten«, schnitt Ormon ihm das Wort ab. »Die Mörder seid ihr! Einen alten Mann habt ihr geopfert – für ein paar Kinderträume.« »Du machst uns erst zu Mördern!«, brüllte Bolgan, warf sich auf den Gifalken, erwischte ihn am Hals und würgte ihn. Ormon taumelte rückwärts. »Du Schuft!«, schrie Bolgan und hieb blindwütig auf ihn ein. Da sammelte der Gifalk seine Kräfte und warf Bolgan zurück, der stöhnend in die Knie ging. »Das hättest du nicht tun sollen«, erklang die Stimme des Gifalken über ihm. »Nun wirst du sterben.« Bolgan sah gleißenden Stahl über sich aufblitzen, warf sich nach hinten und ließ den Stoß des Gifalken ins Leere gehen. Benommen lag er am Boden – Ormons nächster wutentbrannter Hieb würde sein Ziel erreichen. »Ich habe dir doch verboten, ihn anzufassen.« Wie eine Messerklinge drangen diese Worte in Bolgans Gehirn. Er schlug die Augen auf. 38
Eine schwarze Gestalt stand hinter Ormon und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Der Gifalk zuckte erschrocken zurück. »Fathär«, schnarrte er. »Ihr habt doch gesehen, wie er …« »Du hast dich meinem Befehl widersetzt.« Die Miene des Gifalken blieb unbewegt. »Er ist ein Aufrührer, Fathär. Und er plant etwas gegen Euch; sonst hätte er nicht mehr die Kraft, sich so zu verhalten. Ihr solltet Euren Befehl überdenken und ihn töten lassen – durch mich.« »Ich will diesen jungen Mann lebend haben«, erwiderte der Schwarze Prinz. Seine Stimme ließ Bolgan erschauern. Ormon steckte sein Messer wieder ein. »Wie Ihr wollt, Fathär.« Er streifte Bolgan mit einem giftgelben Blick. »Du wirst noch um Vergebung schreien – das verspreche ich dir.« »Steh auf«, befahl der Schwarze Prinz, und Bolgan gehorchte. Er wusste kaum, wie ihm geschah. Wochen und Monate hatte er sich vorgestellt, dem Schwarzen Prinzen gegenüberzustehen. Nun war es so weit – und er starb beinahe vor Angst. Der unheimliche Anführer der Wölfe mochte gut einen halben Kopf größer sein als Bolgan und überragte selbst Nauru. Er war ganz in eine schwarze Rüstung gekleidet und hatte das Gesicht unter einem schwarzen Tuch verborgen. An die Augen erinnerte nur ein kaltes, kobraähnliches Glitzern hinter dem Tuchspalt. An seiner behandschuhten Rechten steckte ein Ring mit 39
einem Edelstein. ›Der Großerft‹, begriff Bolgan sofort. ›Berngar hatte also Recht.‹ Gebannt starrte er auf das Ziel seiner Reise. Der Schwarze Prinz war nicht allein gekommen, sondern von seiner Leibwache umringt. Ein alter Bekannter war dabei: Ogrok, der brutale Wolfsführer. Warum war der Schwarze Prinz hier? Bloß, um ihn vor dem Gifalken zu schützen? »Ihr kennt mich?« »Du bist Bolgan aus dem Hochhügelland«, erwiderte der Schwarze Prinz. »Ein Begleiter des Alten Niemand, der mein Todfeind war.« »Bis zu seinem letzten Atemzug«, murmelte Bolgan. »Und auch der da sollte sterben, Fathär.« Ormon trat noch einmal vor. »Ich spüre Gefahr von ihm ausgehen. Er war einer der drei Freunde des Alten und weiß zu viel.« »Wer gefährlich ist, entscheide ich«, erwiderte der Schwarze Prinz. »Ich brauche diesen Mann noch.« Ormon biss sich auf die Lippe. Bolgan wusste nicht, wovor er mehr Angst haben sollte – vor dem giftigen Hass des Gifalken oder vor der Undurchdringlichkeit des Schwarzen Prinzen. »Ich wüsste nicht, was der Hochhügelländer uns nutzen könnte«, sagte Ormon. »Aber du weißt, dass König Gebork mit einem Heer über die Nordstraße heranzieht, um mich zur Schlacht zu stellen«, erwiderte der Schwarze Prinz. 40
»Ein Freund des Alten Niemand ist dabei – Hatib.« »Hatib?«, fragte Ormon irritiert. Er begriff offenbar nicht, warum der Schwarze Prinz solche Dinge vor den Gefangenen zur Sprache brachte. »Wir können ihn nicht töten, denn er trägt den Blauen Erft. Nur der, der mir einst diesen Ring gab« – er zeigte auf seine Rechte –, »ist in der Lage, ihn zu vernichten.« ›Hatib hat es also geschafft^ dachte Bolgan. ›Er muss Morgreal besiegt haben.‹ »In zehn Tagen ziehen wir aus, König Gebork das Fürchten zu lehren – an der Spitze eines Heeres, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Den Hochhügelländer nehmen wir mit und das Mädchen auch – als Pfand für den Blauen Erft.« Bolgans Gedanken überschlugen sich. Wie mochte es Hatib gelungen sein, den Edelstein in die Hand zu bekommen? Er erinnerte sich dunkel an die Höhle der glühenden Masken, von der die Felsenstimme gesprochen hatte. Und wer war dieses Mädchen? Bolgan ahnte es, wollte es aber nicht wahrhaben. »Ich habe dich im letzten Moment vor einer Dummheit bewahrt«, sagte der Schwarze Prinz zu Ormon. »Hättest du ihn getötet, wäre meine Rache schrecklich gewesen.« Der Gifalk trat einen Schritt zurück und verneigte sich. In seinen toten Augen stand Trotz. »Gib mir deine Hand, Hochhügelländer«, sagte der Schwarze Prinz. Bolgan zuckte zusammen. »Nein«, stöhnte er. 41
»Bitte nicht.« Doch der Schwarze Prinz streckte seine Rechte aus, und Bolgan schrie auf: Wieder fühlte er Kälte in sich hineinströmen, wie bei der letzten Begegnung mit Aurian. Doch der Schmerz währte nur kurz, dann sagte der Schwarze Prinz: »Nun bist du auf Gedeih und Verderb an mich gebunden. Du wirst mir niemals entkommen.« Bolgan begriff nicht. Taubheit breitete sich in seiner Schulter aus. Der Schwarze Prinz wandte sich an seine Soldaten. »Bringt ihn zu dem Mädchen.« Ogrok trat vor und fesselte seine Hände. »Mitkommen«, knurrte er. Bolgan wandte sich um. Hinter ihm standen Alsfar und Nauru. Der kleine Murk klammerte sich ans Knie seines Vaters, sah zu Bolgan auf und begann zu heulen. Er ahnte, dass sie sich nicht wiedersehen würden. »Los jetzt!«, rief Ogrok und zerrte Bolgan mit sich. »Auf Wiedersehen«, flüsterte Bolgan den Gefährten zu. Wortlos stieg der Wolfsführer mit dem Gefangenen die Treppen von Sklava Märtolon hinauf. Auf halber Höhe angekommen, schob er ihn in einen Gang, an dessen Ende ein Verlies lag, und wandte sich an einen Wächter. »Sperr ihn ein und bewach ihn, bis ich ihn holen komme.« Der Wächter öffnete eine Zellentür und stieß Bol42
gan hinein. Der taumelte und stürzte zu Boden. Er wollte sich mit seinem verletzten Arm aufrichten, aber das gelang ihm nicht. »Bolgan?«, fragte eine vertraute Stimme. »Bist du das?« »Reika!«, stöhnte er. »Was machst du hier?«, fragte Reika verblüfft. Sie schien dem Frieden nicht zu trauen. »Ich hab gedacht, du bist tot.« Vorsichtig trat sie aus dem Schatten. Ein letzter Abendsonnenstrahl fiel durch eine Gesteinsritze auf ihr eben noch ganz bleiches Gesicht. »Du bist ja gefesselt.« Sie kniete nieder, um ihm die Lederriemen von den Handgelenken zu lösen. Ihre Arme waren erschreckend schmal geworden. »Hast du in letzter Zeit gehungert?«, fragte Bolgan, weil ihm nichts anderes einfiel. »Wie wir alle.« Sie blickte auf und sah ihn traurig an. »Du etwa nicht? Dann hast du Glück gehabt.« Sie brachte den Knoten mit den Fingern nicht auf und nahm die Zähne zu Hilfe. »Wie lange bist du schon hier?«, fragte er. »Keine Ahnung.« Endlich hatte Reika den Knoten gelockert. »Zwei Monate? Drei? Am Anfang haben sie mich besser behandelt. Ich konnte mich im Felsenhorst frei bewegen. Aber dann ist ein Aufseher zu freundlich geworden.« Sie wickelte den Lederriemen ab. »Da habe ich ihn erst vors Schienbein getreten und dann ein wenig höher – dorthin, wo es Männern richtig wehtut. Seit43
dem bin ich hier.« »Tapferes Mädchen. Wahrscheinlich ist es sogar meine Schuld, dass sie dich überhaupt nach Sklava Märtolon gebracht haben.« Bolgan berichtete von Aurians Verhör. »Was hat der Schwarze Prinz wohl mit uns vor?«, fragte Reika. »Er braucht uns als Geiseln, um Hatib zu erpressen. Wie es scheint, ist Morgreal, unser hoch geschätzter Heeresvorsteher, im Norden besiegt und getötet worden.« »Das geschieht ihm recht, dem falschen Hund«, sagte Reika mitleidlos. Doch plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. »Gibt es keine Neuigkeiten von Fernd?«, fragte sie leise. »Ich weiß nicht, wo er ist.« Bolgan wechselte rasch das Thema: »Hast du den Schwarzen Prinzen gesehen, als du im Felsenhorst gefangen warst?« »Nur einmal. Sklava Märtolon ist nämlich riesig. Da sind Hunderte von Gängen, und sie führen so tief in den Berg, dass man unter die Wüste kommt; da durfte ich aber nie hin. Der Schwarze Prinz tut dort seltsame Dinge. Man sagt, er spricht mit den Erdgeistern.« Sie schauderte. »Kennst du auch Ormon, den Gifalken?« »Der ist ein Schuft.« Reika begann wieder zu weinen. »Es macht ihm Spaß, einem Angst einzujagen. ›Meine drei Brüder sind unterwegs, um deinen Schatz zu fangen‹, hat er gesagt.« Sie schwiegen. Der letzte Lichtstrahl, der durch 44
die Felsritze fiel, verblasste. Die Sonne war hinter den Roten Bergen untergegangen. In den Tiefen von Sklava Märtolon grollte es. »Legen wir uns hin«, sagte Bolgan schließlich. Bald schliefen sie, eng aneinander gekuschelt. In dieser Welt des Bösen war es gut, einen Menschen zu haben, an dem man sich festhalten konnte, wenn einem alles andere entglitt.
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2 Der Raub des Größeres Bolgan spürte, dass zwischen Ormon und dem Schwarzen Prinzen ein stummer, aber erbitterter Zweikampf stattfand. »Nach deiner Unvorsichtigkeit heute Morgen solltest du nicht unverschämt werden, Ormon«, sagte der Schwarze Prinz dann. Zehn Tage saßen sie in dem Verlies, ohne dass etwas geschah. Der Wärter, der ihnen jeden Morgen altes Brot und angelaufenen Käse brachte, war ihr einziger Kontakt zur Außenwelt. Sie sprachen nicht viel miteinander. Bolgan hatte Reika sehr lieb gewonnen, dachte aber auch oft an Fernd, der allein in den Landen unterwegs war, und an Hatib, der möglicherweise an der Seite des geheimnisvollen Königs der Nordländer marschierte, um Rache zu nehmen. Auch an Alsfar dachte er und an Nauru. Bauten seine Gefährten immer noch an Sklava Mhor? Gern hätte er sie wieder gesehen, gern noch einmal den kleinen Murk auf dem Arm gehalten. Er ahnte, dass es anders kommen würde. Veränderungen kündigten sich an. Nachts erzitterte Sklava Märtolon immer wieder bis in die Grundfesten: Im Erdinneren rang der Schwarze Prinz mit den Urkräften der Lande, und in den tiefsten Stollen der Felsenzwinge wurden Waffen geschmiedet. Manchmal war das Grollen so stark, dass Staub von der Kerkerdecke 46
rieselte; dann klammerte sich Reika im Schlaf an Bolgan, und er starrte wortlos in die Dunkelheit. Sein rechter Arm wollte nicht heilen; die pochende Lähmung hielt an. Auch war ihm, als habe der Schwarze Prinz nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele verwundet. Eines Nachts wachte er von einem Mondstrahl auf, der in die Zelle schien. Vorsichtig, um Reika nicht zu wecken, erhob er sich und sah nach draußen. Hell stand der Vollmond am Himmel und tauchte die Ebene vor den Roten Bergen in silbernes Licht. Es war totenstill; kein Lüftchen regte sich. ›Im Hochhügelland hieß es, man könne auf den Mondstrahlen wandern‹, dachte er. Sein Blick ging nach Norden. Hatte Hatib das Unmögliche wirklich möglich gemacht? Zuzutrauen war es ihm. Plötzlich schämte sich Bolgan, so wenig erreicht zu haben. Hatib war im Besitz eines Erfts – er selbst hingegen diente nur als Druckmittel gegen seinen Freund. Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Nicht weil er schlafen wollte, sondern um den Mond nicht sehen zu müssen, der ihm von der Freiheit erzählte. Am nächsten Morgen wurde die schwere Eisentür aufgeschlossen, und Ogroks massige Gestalt füllte den Rahmen. »Mitkommen!«, dröhnte er. »Es ist so weit.« Reika raffte ihren ramponierten Rock zusammen und stand auf. Ogrok grinste höhnisch. »Wäre es nach mir ge47
gangen, hättet ihr das Sonnenlicht nie wieder gesehen. Aber unser Herr hat anders entschieden. Ihr dürft einen kleinen Ausflug machen – nach Araukaria.« »Wo euch ein mächtiger König das Fell gerben wird«, meinte Reika spöttisch und schlüpfte an Ogrok vorbei nach draußen. Der Wolfsführer lachte schallend. »Das wird sich zeigen. Der Schwarze Prinz hat vorgesorgt, sag ich dir. Wir werden den famosen König Gebork in die Nordlande zurückjagen. Wirst schon sehen!« Draußen blendete sie das lang entbehrte Sonnenlicht, und sie mussten die Augen zusammenkneifen. Dann verschlug es Bolgan die Sprache. Sklava Mhor war fertig. Als gigantischer Klotz erhob sich die Pforte hundertsiebzig Meter hoch über die Ebene, glatt und fugenlos, wie aus einem einzigen Stein gemeißelt. Wieder fröstelte Bolgan. Es war, als schlucke das Bauwerk alles Licht, und er spürte die bösen Mächte, die darin eingeschlossen waren. In den Architrav über dem eisernen Tor war ein Widderkopf aus braunem Tränenstein eingelassen, umgeben von einer strahlenförmigen Monstranz, die wie eine hässliche Spinne auf dem Quader hockte; die besten Schnitzer Holzlands hatten sie in wochenlanger Arbeit gefertigt. Jetzt wartete die Fassung auf ihre Füllung – auf die drei Erfte. Da kehrte Bolgans Mut zurück. Niemals durften die Edelsteine dort eingelassen werden. Er würde es verhindern. 48
»Los!« Ogrok stieß die beiden vorwärts. »Der Schwarze Prinz wartet nicht auf euch.« Die Felsenzwinge war praktisch ausgestorben. Auch als sie die Stufen hinter sich gelassen hatten, sahen sie keinen Menschen. Die Gefangenen waren abgezogen und mit dem Bau von Sklava Firr beschäftigt. Der riesige Platz vor dem Portal war leer. »Wo sind denn die Soldaten?« »Das siehst du gleich«, knurrte Ogrok. Nur das Geräusch des Windes war zu hören, der um die Sklava strich. Bolgan sah an den Wänden der Pforte empor. ›Sie ist wie ein Fluch‹, dachte er bedrückt. Ein Gefühl der Einsamkeit befiel ihn. Selbst die kahlen Berge erweckten den Eindruck, als erwarteten sie etwas. Fanfarenschall ließ Bolgan zusammenzucken. ›Das war doch hinter der Pforte! Sollte etwa …?‹ Die meterhohen Türflügel bewegten sich. Mit hässlichem Quietschen schwangen sie langsam auf und gaben den Blick ins Verbotene Land frei – und auf das Heer des Schwarzen Prinzen. Reika war entsetzt. »Das sind ja …«, begann sie zu murmeln, doch der Satz blieb ihr im Halse stecken. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausend strömten durch das Tor, angeführt vom Schwarzen Prinzen; unter Dröhnen und Waffengeklirr ergossen sie sich auf den Platz. »Als hätte er seine Soldaten über Nacht verdreifacht«, sagte Reika tief erschrocken. »Das ist der Fluch von Sklava Mhor«, flüsterte 49
Bolgan. »Spürst du ihn nicht? Die Pforte gibt ihnen den Segen, während sie hindurchgehen. Und dieser Segen heißt Tod.« Verzweifelt betrachtete er die endlos dahinziehenden Wölfe. Ihre stählernen Rüstungen blitzten und funkelten in der Sonne; der Boden bebte unter ihrem gleichmäßigen Tritt. Der Schwarze Prinz ritt voran, hinter ihm seine Befehlshaber, ein gutes Dutzend an der Zahl – allesamt mit roten Helmbüschen geschmückt. Niemals hätte Bolgan es für möglich gehalten, dass sich eine solche Heeresmacht in Sklava Märtolon verbarg. Wo hatten sie gewohnt? Wie hatte man sie ernährt? Er sollte nie erfahren, wie der Schwarze Prinz sein Heer vergrößert hatte – und welchen Preis er dafür an die Lande zahlte. Ogrok deutete Bolgans Miene richtig. »Das habt ihr nicht erwartet, was?«, höhnte er. »König Gebork hätte sich besser im letzten Winkel seines Königreichs verkrochen, statt sich mit uns anzulegen.« Bolgan schwieg, doch Reika konnte sich eine Antwort nicht verkneifen: »Das hat schon mal jemand gesagt«, bemerkte sie mit Unschuldsmiene. »Ich glaube, sein Name war Morgreal, und er war Heeresvorsteher.« »Werd nicht frech«, raunzte der Wolfsführer. »Was weißt du schon von Morgreal.« »Dass er tot ist«, entgegnete Reika mutig. Da erblickte der Schwarze Prinz die beiden Geiseln, bog ab und lenkte seinen Rappen zu ihnen. 50
»Lass die beiden nicht entwischen, Ogrok«, sagte er. »Du bist mir mit deinem Leben für sie verantwortlich.« Ogrok nahm Haltung an. »Die entkommen mir nicht.« »Und du hüte dich!« Der Schwarze Prinz deutete auf Bolgan, und sein Ring glänzte in der Sonne. »In deinen Augen steht Auflehnung. Versuche nicht, mich herauszufordern, denn du bist mir mit Haut und Haar verfallen.« Er lenkte sein Pferd wieder an die Spitze des Zuges. »Wir reihen uns beim Tross ein«, sagte Ogrok. »Und wehe, ihr tanzt aus der Reihe!« »Warum meint der Schwarze Prinz, du seist ihm verfallen?«, fragte Reika leise. »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Bolgan. »Nach der Auseinandersetzung mit Ormon hat er mich berührt. Seitdem kann ich meinen Arm nicht richtig bewegen.« Reika runzelte die Stirn. »Vielleicht ist das eine Falle.« »Alles ist eine Falle«, brummte Bolgan. »Ein böser Traum; ein Trugbild. Überleg mal, was gerade geschehen ist! Warum hat der Schwarze Prinz uns gerade hier postiert?« »Damit wir sehen, wie sein Heer auszieht«, sagte Reika. »Nur deshalb?« »Und damit wir etwas Falsches tun – aus Angst«, setzte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. 51
»Maul halten«, knurrte Ogrok. Als sie sich beim Tross einreihten, schaute sich Bolgan ein letztes Mal um. Kein Soldat kam mehr durch die Pforte von Sklava Mhor, als hätte das Verbotene Land alles Böse ausgespien. Die eisernen Türflügel würden offen bleiben, bis die Streitmacht siegreich zurückkehrte. Dahinter sah Bolgan die tanzenden Staubfahnen in der Wüste; er suchte den kleinen schwarzen Punkt am Horizont. Er hätte zu gern gewusst, was das war. Das riesige Wolfsheer kam rasch voran. Schon nach wenigen Tagen gelangten sie zum AyakilFelsen; dann begann der lange und anstrengende Marsch durch die endlosen Weiten der antuliolischen Ebenen, bis sie schließlich in der Ferne den AntErmin erblickten. Ein Trupp von zwölf Mann bewachte die Geiseln, denen man die Hände gebunden hatte. Doch wohin hätten sie fliehen sollen? Bolgan, der in den Bergen aufgewachsen war, schmerzte die öde Ebene in den Augen; nirgends ein Baum oder Strauch, wo man sich verstecken konnte. Doch seit Sklava Mhor am Horizont verschwunden war, waren seine Lebensgeister wieder erwacht, und er sehnte den Moment herbei, seine Ketten zu sprengen. Die Gefangenschaft neigte sich dem Ende zu – das spürte er. Irgendwann kommt die Gelegenheit dachte er immer wieder, und sein Blick schraubte sich am Ring des Schwarzen Prinzen fest. Dann suchte er den Ho52
rizont danach ab, ob ein Gewitter aufzog und er endlich prüfen konnte, ob Berngar recht gehabt hatte. Unter den marschierenden Wölfen waren viele finstere Gestalten in furchterregenden Rüstungen, deren Helme an den Schädel eines Ebers erinnerten. Bolgan begriff, wie sehr die Macht des Schwarzen Prinzen in den letzten Monaten gewachsen sein musste. Tatsächlich erstreckte sich sein Herrschaftsgebiet vom Verbotenen Land bis an die große Ostmauer und an die Grenzen der Nördlichen Königreiche. Bolgan wurde bange, wenn er an die ungeheure Streitmacht dachte, die sich wie eine Schlammflut nach Norden wälzte. Würde der rätselhafte König Gebork ihr Einhalt gebieten können? Letzte Nacht hatte er an seinem Schlafplatz eine Tonscherbe gefunden und unbemerkt in die Hosentasche bugsiert. Reika hatte ihn gespannt angeschaut, doch er hatte nichts gesagt. Nach drei Tagen Marsch durch den Ant-Ermin überquerten sie den Isillan. In den verkarsteten Gesteinsspalten des Ermingebirges blühten Gräser und Blumen. Weiße, frische Wolkenfetzen zogen über die Hügel, getrieben von einem frühlingshaften Ostwind; Bolgan tastete immer wieder verstohlen nach der Scherbe in seiner Tasche. Er hoffte insgeheim, ein Zufall werde ihm zu Hilfe kommen, vielleicht sogar die Lande selbst – denn dieses Heer lag wie ein Fluch auf ihnen. Selbst die im Wind schaukelnden Blumen verblassten, wenn das Heer klirrend vorüberzog. 53
Aber noch war es nicht so weit. Sechs Tage später kehrte die Südstraße an den Falun zurück, und sie betraten die einst liebliche Tallandschaft von Araukarien – jetzt verwüstet und unbewohnt. Dann erreichten sie den Hexentanzplatz. Der Frühling hatte die Spuren, die hunderttausend Menschen hier hinterlassen hatten, bisher nicht heilen können, und der Talboden sah immer noch wie ein notdürftig gestopfter Flickenteppich aus. Verwittertes Bauholz lag herum; ein Baum, der gefällt, aber liegen gelassen worden war, streckte die kahlen Äste zum Himmel. Der Schwarze Prinz ließ die Wölfe im Kessel antreten. Sechzigtausend standen im Halbrund und schauten ihn an. »Ihr wisst, weshalb wir hier sind«, donnerte seine Stimme über den Platz. »Ein Feind aus dem Norden will die Fertigstellung von Sklava Mhor verhindern. Wir sind ihm entgegen gezogen, um ihn in seine Berge zurückzutreiben. Hier wollen wir ihn erwarten und besiegen!« »Ich frage mich, warum er ausgerechnet hier sein Lager aufschlägt«, murmelte Bolgan. »Wenn Gebork ihn einkreist, sitzt er in der Falle.« »Er hat genug Späher ausgeschickt, die ihn warnen«, sagte Reika. Bolgan schaute zum Himmel. In den letzten Tagen war es warm geworden, fast schwül. »Was suchst du?« »Eine Gewitterwolke«, antwortete Bolgan düster. 54
Die Wagen wurden entladen, die Mannschaftszelte aufgestellt, und binnen eines Tages war ein riesiges Heerlager aufgeschlagen. Feuer brannten, und Hammerschläge hallten von den Felswänden zurück – die Wölfe schärften ihre Klingen für die große Schlacht. Wider Willen musste Bolgan die unheimliche Präzision bewundern, mit der das Unternehmen des Schwarzen Prinzen vonstatten ging. Die Unterkünfte der einfachen Soldaten, für jeweils etwa vierzig Mann gedacht, befanden sich am Rand des Zeltlagers; in der Mitte des Kessels hatte man einen Pfahl mit Widderkopf in den Boden gerammt, um den die Zelte der Befehlshaber im Kreis angeordnet waren – auch das des Schwarzen Prinzen. Ogrok näherte sich. Er musste sich Wein besorgt haben, denn sein Gesicht war leicht gerötet. In diesem Zustand war mit dem Wolfsführer ganz gut auszukommen. »Na, schon ein passendes Quartier gefunden?«, höhnte er. »Es ist schwer, mit gebundenen Händen ein Zelt aufzustellen«, antwortete Bolgan. »Darum habt ihr ja mich.« Ogrok überprüfte die Fesseln. »Euch wird eine große Ehre zuteil. Ihr werdet neben dem Zelt unseres Herrn schlafen – auf seine persönliche Anordnung.« Er grinste. »Er hat euch einfach gern. Wahrscheinlich werdet ihr eine ruhige Nacht haben – es gibt viel zu planen, also wird euch kein Befehlshaber mit seinem Schnarchen stören!« 55
Er lachte schallend, trat an ein kleines Zelt und hielt ihnen mit spöttischer Dienstfertigkeit die Plane auf. »Husch, husch, ins Körbchen. Und dass ihr mir keine Dummheiten macht!« »Sieh mal«, sagte Reika zu Bolgan und blieb stehen. »Dort drüben ist er ja wirklich. Der Schwarze Prinz.« Bolgan folgte ihrem Blick. Das Zelt des unheimlichen Anführers war geöffnet, um das schwindende Tageslicht einzulassen, und Bolgan sah ihn über eine Karte gebeugt stehen, ohne von den beiden Gefangenen Notiz zu nehmen. Da grollte es von fern. Im Osten hatten sich Gewitterwolken gebildet. »Schneller da drüben!«, schrie Ogrok einigen Wölfen zu, die ein Offizierszelt aufstellten, und entfernte sich, um mit seinen Soldaten zu schimpfen. So gewann Bolgan Zeit. Der Schwarze Prinz hatte beim ersten Donnergrollen den Kopf gehoben, trat nach draußen und sah zum Himmel. ›Endlich‹, dachte Bolgan. Es geschah, wie von Berngar vorausgesagt: Der Schwarze Prinz zog den Ring vom Finger! Dann ging er ins Zelt zurück, öffnete ein kleines Holzkästchen auf dem Tisch und legte den Ring hinein. ›Wahnsinns schoss es Bolgan durch den Kopf. ›So viele Zufälle gibt es doch gar nicht.‹ Hatten etwa die Lande das Gewitter geschickt? Jedenfalls musste er 56
handeln. Er dachte an seine Tonscherbe. Wenn es ihm gelänge, sich zu befreien … ›Ich kann doch nicht einfach ins Zelt gehen und den Ring stehlen‹, dachte er dann. ›Ich werde keine hundert Meter weit kommen.‹ Er warf einen zögernden Blick auf den einzigen Ausgang aus dem Felsenkessel. Bewacht war er nicht. Nachdenklich rieb er seinen schmerzenden Arm. Schon beim Gedanken an sein Vorhaben stieg panische Angst in ihm auf. Da verließ der Schwarze Prinz das Zelt. Bolgans Blick folgte ihm, als er sich aufs Pferd schwang und losritt, dem Talausgang zu. ›Unglaublich‹, dachte Bolgan verblüfft. ›Er hat den Ring einfach liegen lassen.‹ »Genug getrödelt!« Ogrok war zurückgekommen. »Ja«, sagte Bolgan mechanisch. Als er ins Zelt geführt wurde, spürte er, dass seine Angst und seine Müdigkeit wie weggeblasen waren – zum ersten Mal seit langem hatte er wieder einen eigenen, freien Entschluss gefasst. »Was ist?«, fragte Reika, als Ogrok gegangen war. »Du bist ja ganz blass.« Bolgan erzählte ihr, was er vorhatte. Das Mädchen schluckte. »Und das soll funktionieren?« »Wenn es schief geht, sterben wir. Aber das tun wir auch, wenn wir hier bleiben. Der Schwarze Prinz wird uns sowieso töten, sobald wir als Geiseln keinen Wert mehr für ihn haben.« Der Abend verging in nervenzehrendem Warten. 57
Bolgan schreckte immer wieder hoch, weil er meinte, Pferdegetrappel zu hören, doch der Schwarze Prinz kam nicht zurück. Von Zeit zu Zeit grollte es in der Ferne; das Gewitter stand überm Faluntal. »Es zieht vielleicht ab«, meinte Reika. »Nein, es kommt. Es lässt sich nur Zeit.« Als es dunkel geworden war, fingerte Bolgan die Scherbe aus der Hosentasche und begann, den Lederriemen durchzuscheuern. Mehrmals hielt er inne, weil er Schritte zu hören glaubte, doch niemand kümmerte sich um sie. Es war eine mühsame Arbeit, und er wurde immer aufgeregter. Gegen Mitternacht hatte er endlich den ersten Riemen zertrennt. Wenig später war er frei und band Reika los. »Versuchen wir’s«, flüsterte er. Ein Blitz zuckte durch die Dunkelheit; dann ertönte ein Donner in der Ferne. »Jetzt«, sagte Bolgan und hob die hintere Zeltwand an. Draußen duftete es frühsommerlich nach Gräsern. Grillen zirpten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und am Osthimmel standen hoch aufragende Gewitterwolken. Bolgan nahm Reika an der Hand und huschte mit ihr zum Zelt des Schwarzen Prinzen. »Warn mich, wenn jemand kommt«, sagte er. Mit klopfendem Herzen hob er den Vorhang und tastete sich ins stockdunkle Zelt. ›Kein Wächter? Kann man so viel Glück haben?‹ 58
Bolgan ahnte die Antwort, weigerte sich jedoch, sie anzuerkennen. Er zuckte zusammen, als er mit der Hand etwas berührte, was sich rasch als Tisch erwies. Vorsichtig tastete er ihn ab und spürte das Pergament der Karte, über die sich der Schwarze Prinz noch vor einigen Stunden gebeugt hatte. Da war es! Fast hätte Bolgan vor Freude geschrien, als er das Kästchen fühlte. Er öffnete es und griff nach dem Ring; gleich breitete sich Kälte in seiner Hand aus, und er hielt inne. Er hatte etwas Warnendes gespürt – einen kalten Luftzug, als sei noch jemand hier. »Reika?«, flüsterte er. Keine Antwort. ›Das ist bestimmt nur das Gewitters dachte er, schob den Ring in die Tasche und tastete sich zum Ausgang. Erleichtert hob er die Plane und atmete die kühle Nachtluft ein. »Hast du ihn?«, fragte Reika. Bolgan nickte und zwang seine Unruhe nieder. »Am Eingang zum Hexenkessel habe ich Pferde gesehen. Gehen wir.« Leise huschten sie durchs schlafende Heerlager. Einige Feuer brannten noch, aber die meisten Wachen waren eingeschlafen; die Wölfe sammelten Kraft für die große Auseinandersetzung. Vorsichtig schlichen Bolgan und Reika in die Deckung der Felswand und folgten ihr geduckt zum Talausgang. Das Heer des Schwarzen Prinzen mochte an die 59
tausend Pferde haben; die meisten waren außerhalb des Kessels geblieben. Nur etwa fünfzig standen in einer engen Koppel und fürchteten sich vor dem Wetterleuchten in der Ferne. »Kannst du reiten?«, fragte Bolgan. Reika verneinte. »Dann musst du bei mir aufsitzen. Heute Nacht lernst du es nicht mehr.« Bolgan schlich auf die Koppel und nahm ein Pferd am Zügel. »Ruhig«, flüsterte er sanft. »Ich tu dir nichts.« Er hatte eine glückliche Wahl getroffen – das kräftige Tier würde sie willig tragen, mager und leicht, wie sie geworden waren. ›Gleich sind wir endlich wieder frei‹, dachte Bolgan. Im Zelt des Schwarzen Prinzen war es noch immer totenstill. Plötzlich zuckte ein greller Blitz, und eine hochgewachsene Gestalt stand hinter dem Eingang. Keine Regung ging von ihr aus, nur ein böses, kaltes Leuchten der Augen, die halb unter schwarzem Tuch verborgen waren. »Leise.« Bolgan half Reika aufs Pferd und schwang sich hinter ihr in den Sattel. »Wenn wir einem Posten begegnen, gehören wir einfach zum Heer. Ich glaube nicht, dass jeder Soldat hier von zwei Geiseln weiß.« »Sie werden sich über mich wundern«, erwiderte Reika. »Außer ein paar alten Marketenderinnen gibt es hier keine Frauen.« »Wir müssen eben Glück haben.« Bolgan gab 60
dem Pferd einen sanften Druck mit den Schenkeln. Es sah aus, als würden sie sofort scheitern. Gerade wollten sie in die Schlucht reiten, da scholl ihnen ein lautes »Halt!« entgegen. Ums Haar hätte Bolgan dem Tier die Sporen gegeben, um durchzubrechen; im letzten Moment besann er sich. Ein Wolf kam ihnen entgegen. Es gab also doch eine Wache. »Wohin des Weges?«, fragte der Soldat, den Bolgan noch nie gesehen hatte. Er beugte sich zu ihm runter. »Ich habe einen Auftrag.« Er deutete auf Reika. »Die soll ich hinter die feindlichen Linien bringen, damit sie die Nordländer ausspioniert.« »Davon müsste ich wissen«, knurrte der Wolf. »Mir hat keiner gesagt, dass heute Nacht noch ein Spion ausreitet.« »Das Heer der Nordländer kommt früher als erwartet«, entgegnete Bolgan. »Wir müssen uns beeilen.« Doch der Wolf gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Wer hat dir den Auftrag gegeben?« Bolgan beugte sich noch tiefer und sah den Mann böse an. Wie er den Mut dazu fand, wusste er selbst nicht. »Ormon, der Gifalk«, zischte er. Der Soldat nahm Haltung an. »Weißt du, was geschieht, wenn man sich seinem Befehl widersetzt?« Die Wache trat zurück. »Ihr könnt passieren«, 61
murmelte er mürrisch. »Aber ich werde Ormon Meldung machen.« »Tu das.« Bolgan sprengte erleichtert in die Nacht des Faluntals hinaus. Seine Sinne schienen von drückender Last befreit. Das Pferd dampfte. Wie Rauch stieg der Atem aus seinen Nüstern empor. Das Gewitter stand fast über ihnen. »Wir werden sicher bald verfolgt«, riss ihn Reika aus seinen hochfliegenden Gedanken. »Es dauert bestimmt eine halbe Stunde, bis sie begreifen, was los ist«, meinte er. »Diesen Vorsprung müssen wir nutzen.« Wieder langte er in die Hosentasche und spürte die Kälte, die von dem Ring ausging. »Es wird schon gut gehen«, murmelte er. Rechts tauchte der Falun auf; lautlos und träge floss er dahin. Bald kamen sie auf die Nordstraße. Hohl klapperten die Hufe auf dem ausgetretenen Pflaster. »Wo die Nordländer wohl sind?«, murmelte Bolgan. »Vielleicht laufen wir ihnen ja direkt in die Arme.« Deren Heer war tatsächlich nicht weit. Bis auf acht Meilen war es an den Waldbühl herangekommen, und am nächsten Tag würde Hatib zusammen mit König Gebork den Roten Turm betreten. Und Fernd, der dritte im Bunde, legte sich gerade in diesem Moment im Sterbezimmer des Alten Niemand schlafen – mit der Antwort auf die Frage, die der Greis vor siebenhundert Jahren gestellt hatte, die aber im62
mer wieder ungehört im gewaltigen Gefüge der Lande verklungen war. Keiner der Gefährten wusste vom andern. Auch Reika ahnte nicht, dass sie sich in wenigen Stunden an die Seite ihres Liebsten legen sollte. Ein Blitz zuckte und schlug wenige Meter entfernt in einen Wacholderbusch; dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Das Pferd scheute und hätte sie beinahe abgeworfen; nur mit Mühe konnte Bolgan es im Zaum halten. »Das kommt vom Ring«, sagte er, als sie den ersten Schreck überwunden hatten. »Der Erft zieht das Gewitter an.« Er schluckte, als er den brennenden Busch sah. ›Das hat uns gegolten‹, dachte er. Vier Stunden ritten sie durch die Nacht und versuchten Abstand zwischen sich und das Gewitter zu bringen, das ihnen langsam, aber unaufhaltsam folgte. Schon jetzt war dem Pferd die Ermüdung anzumerken. Es begann zu regnen, und Blitze zerrissen die Nacht. Vorhin war der Ring kalt wie Eis gewesen; jetzt hatte Bolgan das Gefühl, er habe zu glühen begonnen. Dann weitete sich das Tal, und sie kamen auf die verbrannte Ebene von Araukaria. Die tote Stadt war geisterhaft anzusehen. Die Nordstraße war übersät mit Trümmern und Steinbrocken, durch die das Pferd sich mühsam arbeiten musste. Gespenstisch lag der Königshügel im Morgennebel. 63
»Gibt es denn keinen anderen Weg?«, flüsterte Reika. Bolgan schüttelte den Kopf. Er fühlte sich wie von einer schleichenden Krankheit befallen. Je näher sie dem Ziel kamen, desto mehr schmerzte sein Arm. Reika presste sich an ihn. Als sie endlich aus der Stadt heraus waren, wurde es hell. Wie eine grüne Krone thronte der Waldbühl über dem Sporn des Nordwesthangs und verhieß Schutz. »Wir haben es gleich geschafft«, sagte Bolgan. »Ich glaube, wir werden verfolgt«, meinte Reika plötzlich. »Hörst du das nicht?« Erschrocken blickte er sich um. Ungefähr eine Meile entfernt sprengten fünf Reiter dicht über den Hals ihres Pferdes gebeugt durch die Ruinen. »Verflucht, so kurz vor dem Ziel!« Bolgan blickte die lange Steigung hinauf, die vor ihnen lag. »Aber vielleicht reicht unser Vorsprung ja.« Er spornte das Tier zu äußerster Eile und holte das Letzte aus ihm heraus. Dem Pferd stand der Schaum vorm Maul, und es keuchte vor Anstrengung, doch als sie oben angekommen waren, lagen die Verfolger keine hundert Meter mehr zurück. »Noch eine halbe Meile bis zum Wald«, rief Bolgan. »Wir müssen es schaffen.« Sein rechter Arm brannte wie Feuer, je näher sie den Bäumen kamen. Standen die Stämme enger beisammen als beim letzten Mal? Die fünf Reiter hatten die Höhe erreicht und setzten ihnen im Galopp nach. 64
»Ormon ist auch unter ihnen!« Reika sah mit wachsender Angst ihren Vorsprung schmelzen. »Er ist schon ganz nah!« »Lebend bekommt der uns nicht.« Noch hundert Meter bis zum Waldbühl. Ein Pfeil pfiff an ihnen vorbei und blieb zitternd im Boden stecken. Da bog Bolgan vom Weg ab und überquerte die Heide, denn die schützenden Tannen waren dort fast zum Greifen nah. Die Reiter versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden. Ormon hielt in gestrecktem Galopp auf sie zu. Ein böses Grinsen stand in seinem Gesicht. »Wir schaffen es!«, brüllte Bolgan. »Wir schaffen es!« Da zuckte ein Blitz vom Himmel, und ein furchtbarer Donner krachte. Das Tier stolperte mit allerletzter Kraft in den Wald, Reika fühlte einen Ruck, ein markerschütternder Schrei ertönte, und die Zügel hingen schlaff am Boden. Das Pferd brach noch einige Meter durchs Unterholz, stürzte dann und riss Reika mit. Sie wusste nicht, wie lange sie ohnmächtig am Boden gelegen hatte, aber es konnten eigentlich nur Augenblicke gewesen sein. Dann kam sie wieder zu sich. »Bolgan, wo bist du?«, fragte sie benommen. »Ich glaube, wir sind in Sicherheit.« Sie setzte sich auf, von Zweigen und Brombeerranken zerkratzt, sonst aber unverletzt. Dann sah sie das Pferd. Es lag auf dem Rücken, streckte röchelnd 65
alle viere von sich und hatte die Augen verdreht. Der Blitz hatte es getroffen. Reika sprang auf und lief zum Waldrand zurück. Bolgan lag draußen auf der Heide. Die Reiter standen bei ihm. Er sah grässlich aus. Es schien, als sei er gegen eine Wand geprallt. Blut strömte aus seiner gebrochenen Nase. Auch ihn hatte der Blitz erwischt – sein Wams war angesengt und zerfetzt. Mit stieren Augen blickte er auf das Mädchen. »Reika? Was ist das?« ›Die Tore des Waldbühls‹, begriff sie. ›Der Schwarze Prinz hat ihn berührt …‹ Bolgan sprang auf, stieß die Verfolger beiseite und taumelte zum Waldrand. »Gib mir deine Hand!« Einen Moment berührten sie sich. Dieser letzte Augenblick gehörte ihnen. »Geh in den Roten Turm«, flüsterte Bolgan noch. »Dort ist er sicher.« Dann wurde er von Ormon zurückgerissen. »Der Ring«, schnarrte der Gifalk und streckte die Hand aus. »Gib mir den Ring.« »Zu spät«, murmelte Bolgan und brach bewusstlos zusammen. Ormon beugte sich über ihn und durchsuchte seine Taschen. »Er hat ihn nicht.« Die anderen Reiter hatten dem Gifalken gerade zur Hand gehen wollen und traten nun betroffen zur Seite. Ormon wandte sich an Reika. »Komm, Mädchen. 66
Im Wald kannst du nicht bleiben. Du gehörst nicht hierher.« »Er muss ihn ihr im letzten Moment gegeben haben«, sagte einer von Ormons Begleitern, doch der brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Erst jetzt bemerkte Reika den Ring. Einen Augenblick war sie so verblüfft, dass sie der Aufforderung beinahe gefolgt wäre. »Die Tore haben Bolgan gerichtet.« Noch immer war das Gesicht des Gifalken eine ausdruckslose Maske. »Wenn er am Leben bleiben soll, musst du uns den Ring geben.« »Du lügst«, sagte Reika. »Du wirst ihn sowieso töten.« Da sprang der Gifalk mit ausgestreckten Händen vor und versuchte, in den Kreis des Waldbühls zu dringen, doch Reika zuckte zurück, und Ormon griff fehl. Er stieß einen Fluch aus und versuchte es erneut. Panisch rannte Reika in den Wald, weg von Ormons gelbem Blick, in dem nur Hass und Tücke lagen. Wie im Traum irrte sie zum Roten Turm, der dunkel und düster zwischen den Tannen des Bühls aufragte. Das Tor war offen, und sie ging hindurch, am Grab des Alten Niemand vorbei. Einer Ahnung folgend, eilte sie die Stufen zum Zimmer hinauf. Dort war Fernd. Er lag im Bett und schlief, müde und abgezehrt. 67
Sein rundes Gesicht war eingefallen, und die Nase ragte blass und spitz daraus hervor. Reika betrachtete ihn lange, dann zog sie leise ihr Kleid aus und schlüpfte unter die Decke. Im Einschlafen spürte sie noch, wie Fernd instinktiv seine mager gewordenen Arme um sie schlang. »Und das Mädchen ist entwischt?«, hörte Bolgan wie aus weiter Ferne. Langsam erwachte er aus tiefer Ohnmacht. Sein Kopf dröhnte, und er blickte wie durch Schleier. Schmerzen jagten durch seinen Körper. »Sie ist im Waldbühl.« Das war Ormons Stimme. »Wir sind einen Augenblick zu spät gekommen. Und sie hat Euren Ring, Fathär. Er muss ihn ihr im letzten Moment gegeben haben.« Eine Welle des Triumphs durchströmte Bolgan. Er hatte es also geschafft. Reika war mit dem Erft in Sicherheit. »Ich weiß.« Die Stimme des Schwarzen Prinzen war ruhig und unbeteiligt. Bolgan hob die Lider. »Ich habe es gespürt, als der Ring die Tore durchbrach. Ihr seid zu spät gekommen.« »Es war nicht unsere Schuld. Sein Vorsprung war zu groß.« Bolgan wusste es besser und lächelte grimmig in sich hinein. Er lag im fackelerleuchteten Zelt des Schwarzen Prinzen und begriff, dass er einen ganzen Tag bewusstlos gewesen sein musste. Der Schwarze Prinz hatte seine eiserne Rüstung angezogen. Die Schlacht schien unmittelbar bevorzustehen. 68
»Er hat zu lange gezögert.« Das Sprechen fiel Bolgan schwer; nur undeutlich kamen die Worte über seine Lippen. »Euer Gifalk ist ein Versager.« Ormon zischte und hob die Hand, doch der Schwarze Prinz brachte ihn mit einer Geste zur Ruhe. »Über deine Strafe sprechen wir später. Geh, ich will mit ihm allein sein.« Der Gifalk zögerte. »Darf ich Euch noch eine Frage stellen? Wie konnte der Hochhügelländer den Ring stehlen? Ihr tragt ihn doch immer am Finger.« »Ich hatte ihn abgelegt. Wegen des Gewitters.« »Ihr habt …?« Ormon verschlug es einen Moment die Sprache. Dann fragte er schneidend und scharf: »Habt Ihr da nicht einen Fehler gemacht, Fathär? Durch den Ring spricht Euer Herr! Jetzt wird er böse sein.« ›Sie reden vom SOG‹, dachte Bolgan. ›Aber das nutzt mir nichts mehr.‹ Er spürte, dass zwischen dem Schwarzen Prinzen und dem Gifalken ein stummer, aber erbitterter Zweikampf stattfand. »Nach deiner Unvorsichtigkeit heute Morgen solltest du nicht unverschämt werden, Ormon«, sagte der Schwarze Prinz dann. »Geh jetzt. Der Hochhügelländer wird seine Strafe von mir persönlich empfangen.« »Aber er ist gefährlich, Fathär«, sagte Ormon schlau. »Ich kann nicht verantworten, Euch mit ihm allein zu lassen. Der Herr würde nicht wollen, dass …« »Verlass das Zelt«, unterbrach ihn der Schwarze Prinz, und seine Stimme klang kalt und drohend. 69
»Du weißt, welche Macht mir gegeben ist. Du würdest ihr unterliegen. Sorg dafür, dass in nächster Zeit niemand reinkommt! Ich will unter keinen Umständen gestört werden – selbst wenn das Heer der Nordländer da wäre, verstanden?« Ormons Miene verzerrte sich, und Bolgan hoffte einen Moment auf einen Kampf zwischen den beiden unheimlichen Geschöpfen. Dann gab der Gifalk überraschend nach. »Wie Ihr befehlt, Fathär. Doch bedenkt: Niemandem passen Eure Kleider.« Mit diesen rätselhaften Worten ging er. Bevor er das Zelt verließ, streifte er Bolgan mit einem merkwürdigen Blick. ›Er hat Angst‹, dachte der und fühlte erneut tiefe Befriedigung. »Warum hast du den Ring gestohlen?«, fragte der Schwarze Prinz, als der Gifalk draußen war. »Du wusstest doch, dass du mir nicht entkommst.« »Ich hab es für den Alten Niemand getan. Und für Brangwen. Für Narvan und für Fardon. Für alle Verbrechen, die Ihr in den Landen begangen habt.« »Deine Tat wird sich nun gegen dich richten. Setz dich!« Bolgan gehorchte. »Tut mir den Gefallen und macht es kurz«, murmelte er. »Ihr habt nichts davon, mich lange zu quälen.« »Ich habe keine Veranlassung, dich zu foltern.« Der Hochhügelländer horchte auf. »Was habt Ihr vor?« Er wusste nicht, worauf der Schwarze Prinz hinauswollte, fürchtete aber das Schlimmste. 70
»Ich werde dich nicht quälen«, bekräftigte der Schwarze Prinz. »Dennoch werde ich dir das Schrecklichste zufügen, was ich einem Menschen antun kann.« Bolgan dachte an Hauptmann Berngars Worte »Er zwang seinen Diener, so zu werden wie er« und begriff. »Ihr wollt mich also zu dem machen, was Ihr seid?« »Du hast es erfasst.« »Er ist nur eine Hülle«, hatte die Felsenstimme gesagt. »Ohne Energie und Seele.« »Wer seid Ihr?«, stöhnte Bolgan. »Zeigt mir Euer Gesicht!« »Du wirst es sehen. Ein erstes und letztes Mal.« Bolgan fing sich wieder. »Das mit dem Ring war eine Falle, oder? Ihr wolltet, dass ich ihn nehme.« »Du bist schlau, hast aber zu spät begriffen. Ich musste wenigstens ein paar Stunden von ihm befreit sein, um mich vorzubereiten. Hast du wirklich geglaubt, ich hätte ihn unabsichtlich liegen lassen, wenn keine zwanzig Schritt entfernt jemand nur danach trachtet, ihn zu stehlen?« Bolgan senkte den Kopf. »Eigentlich nicht.« »Im Roten Turm hast du doch eine Sage gelesen – in dem Buch, das der Alte Niemand ›Die Rechenschaft nannte.« »Seid Ihr etwa Siljan?«, flüsterte Bolgan entsetzt. »Aber der Silbergreis hat Euch den Erft doch abgenommen!« 71
»Und zerteilt. Ein Stück hat er auf den höchsten Gipfel der Karninberge im Fernfeld gelegt; das ist weit im Norden. Es war kein großes Problem, an diesen Splitter zu gelangen.« »Wer den Erft nimmt, der wird zum Diener des SOG«, flüsterte Bolgan. »Und wem der Erft genommen wurde, der kann …« »… diese Welt verlassen – stimmt genau. Seit vielen Jahren habe ich auf einen Nachfolger gewartet. Nun ist er da.« »Aber ich habe den Ring nicht mehr.« Der Schwarze Prinz beugte sich über ihn, und seine Augen leuchteten kalt. »Dann ist es deine erste Aufgabe, ihn zurückzuholen. Du wirst die Macht dazu bekommen – von deinem zukünftigen Herrn.« Noch weigerte sich Bolgan, die furchtbare Wahrheit zu begreifen. »Bald wirst du verstehen«, sagte der Schwarze Prinz. »Du wirst den SOG anflehen, dich sterben zu lassen. Jeder noch so schreckliche Tod wird dir als höchstes Glück erscheinen. Aber er wird dich am Leben erhalten, deine Seele zumindest, und wenn sich dein Körper aufgelöst hat wie meiner, wirst du sehen, wie es ist, ewig zu leben. Du wirst den SOG verfluchen, ihm schöntun, ihm alles versprechen, aber er wird dich benutzen, bis du einen anderen gefunden hast, der deine Rolle übernimmt. Dann erst wirst du Frieden finden.« »Nein, das will ich nicht!« Ein letztes Mal flackerte Wut in Bolgan auf. »Lasst mich sterben!« 72
»Setz dich!«, befahl der Schwarze Prinz, und Bolgan musste gehorchen. »Zieh dich aus!«, kommandierte er, und Bolgan zog sich aus, bis er nackt, bloß und zitternd dastand. »Nun wirst du sehen.« Der Schwarze Prinz trat an den Tisch, nahm den Helm seiner Rüstung in beide Hände und zog ihn langsam vom Kopf. Bolgan stieß einen Schrei aus. Unter dem Helm war: nichts. Dann zog er die Handschuhe aus. Auch darunter: nichts. Bolgan wollte weglaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Das Schauspiel ging weiter, bis die ganze Rüstung auf dem Tisch lag und vom Schwarzen Prinzen nur ein dünner Rauchfaden übrig war. »Nun weißt du es.« Seine Stimme klang jetzt anders, fast menschlich, und schien von nirgendwoher zu kommen. »Einst war ich wie du – und nun ist meine Pflicht erfüllt.« Bolgan schwieg fassungslos. »Wenn Ormon zurückkehrt«, fuhr die Stimme fort, »wird Bolgan verschwunden sein. Und der Gifalk wird die Befehle des Schwarzen Prinzen befolgen, obwohl er die Wahrheit ahnt.« Bolgan schwankte. Dann ergriff ein mächtiger Wille von ihm Besitz. »Nun zieh die Rüstung an.« »Ich will nicht. Ich kann nicht …«, aber schon wurde Bolgans Widerstand schwächer – wie eine Kerzenflamme, der die Luft ausgeht. 73
»Zieh sie an!« Und Bolgan zog sie an, ein Teil nach dem anderen. Zuletzt setzte er den Helm auf. Einen Moment sah er das Hochhügelland vor sich, das seine Heimat gewesen war, dann verschwand es, und das letzte Bild, das er mit seinem eigenen Ich sah, war das Verbotene Land; im Geist schwebte er darüber hin, über die rostrote Wüste und die tanzenden Staubfahnen, auf den kleinen schwarzen Punkt zu. Als er erkannte, was sich dort befand, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. »Nicht Fernd!«, schrie er. »Nein, nicht Fernd!« Dann wurde es dunkel. Der SOG begann zu sprechen. Bolgan dachte noch, dass ihn die Stimme an Fernd erinnere, aber sie war hart und böse. Dann versank sein Geist im Dunkel. »Hörst du mich?«, fragte der SOG. »Ich höre dich.«
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3 In den Ruinen von Thingal »Auch du wirst das Töten noch lernen«, sagte Imril. »Und der Erste, der von deiner Hand fällt, nimmt deine Seele mit ins Grab.« In den Nördlichen Königreichen regieren Nebel und Wolken. Grüne, sanfte Hügel prägen das Land, so dass die Gegend auf den ersten Blick einen fruchtbaren Eindruck macht, aber das täuscht. Weiß gewaschene Kalksteinblöcke durchbrechen die dünne Bodendecke und machen größeren Ackerbau unmöglich. Wenn Nebel über die Hügel zieht, sehen die Blöcke wie stumme Pilger aus, die sich auf eine unbekannte Suche gemacht haben. Durch diese verzauberte Landschaft zieht die Nordstraße als schmales Band. Im kalten Januarnebel, der den Weg nass und glitschig gemacht hatte, wanderte eine Gestalt eilig Richtung Barku. Es war Hatib, der dem Nebelheer hinterherzog, um die Katastrophe, die sich vor der Hauptstadt der Nördlichen Königreiche anbahnte, zu verhindern. Hatibs Gesicht war eingefallen; hervortretende Backenknochen ließen seine Züge hart und verschlossen wirken; die Ereignisse in Araukaria hatten Spuren hinterlassen. Aber seine Augen blickten klar und eisblau unter dichten Brauen hervor, und trotz aller Härte lag kein Hass in ihnen. Nur unbedingte Entschlossenheit. Wo Ackerbau nicht möglich ist, leben die Men75
schen vom Vieh – so auch hier. Milde Traurigkeit lag über den Weidehügeln, eine leise, klagende Melodie. Auch Hatib spürte sie und freute sich daran. Er mochte diese karge Gegend, in der er sich im Kampf mit der harten Natur befand. ›Ein reines Lands dachte er, wenn sein Blick über die Berge schweifte. Gefragt, was er damit meine, hätte er keine Antwort gewusst. Sein Pferd hatte ihn lange brav getragen, obwohl er ihm sehr viel zugemutet hatte. Bis vor das Land der Tanzenden Berge war er gekommen. Seit dem Tod des Alten Niemand standen die Hügel still, als warteten sie auf bessere Zeiten. Und auf einen neuen Herrn. Dann war sein Pferd so erschöpft gewesen, dass er es hatte töten müssen, um es nicht einem ungewissen, wahrscheinlich aber grausamen Schicksal zu überlassen. Seitdem ging es langsamer, und Hatib war beunruhigt. Würde er das Nebelheer noch einholen? Keine Menschenseele war ihm begegnet – die Lande entlang der Nordstraße waren wie leer gefegt. Am späten Nachmittag tauchte an der Straße eine Stele auf. Ein älteres Volk als die Nordländer hatte sie aufgestellt. Sie war nur grob behauen und furchteinflößend wie der mahnende Finger einer längst vergangenen Macht. Der Stein hatte früher die Grenze zwischen Barku und der Nordprovinz des Alten Reichs angezeigt, doch die war seit Jahrzehnten aufgegeben. Hatib sah sich unwillkürlich um, als wittere er Gefahr. 76
»Die Ruinen von Thingal«, murmelte er. »Keine zwanzig Meilen mehr bis Barku.« Der Alte Niemand hatte ihm einmal von der rätselhaften Stadt erzählt. Vor Tausenden von Jahren hatte das Reich von Thingal den gesamten Norden umfasst, bis ins Fernfeld hinein, wo seit Jahrhunderten kein Mensch mehr lebte. Die Targi – so nannten sich die Bewohner – waren ein Bauernvolk, das keine Schrift kannte, aber einen Pflug entwickelt hatte, mit dem man auch den steinigsten Acker fruchtbar machen konnte. Doch auf dem Höhepunkt seiner Macht war das Reich von Thingal vernichtet worden: Die Targi waren zu weit nach Norden vorgedrungen und hatten den Tanzenden Tod geweckt. Aus dem Halbdunkel schälten sich steinerne Überreste – alte Straßenzüge und Fundamente. Hohl hallten Hatibs Schritte durch die Ruinen, und er trat unwillkürlich leiser auf. ›Vorsicht‹, dachte er. ›Wenn die Wölfe in der Nähe sind …‹ Er hielt an, und bedrohliche Stille umgab ihn. ›Es hat keinen Sinn, hier ohne Deckung rumzulaufen.‹ Er würde sich einen Unterschlupf suchen und ein paar Stunden ausruhen. Nach Einbruch der Nacht würde er querfeldein weitermarschieren – so hatte er eine Chance, das Nebelheer zu umgehen. Ein Steinhaufen zur Rechten war von kahlen Büschen und Dornenranken überwachsen – ein besseres Versteck konnte er sich nicht wünschen. Er kroch hinein, wickelte sich in seine Decke und schloss die Augen. 77
Schlafen konnte er nicht. Seine Gedanken kreisten um das Nebelheer. Was, wenn Morgreal ihm zuvorkam? »Ich hätte ihn damals erwürgen sollen«, murmelte er, als er an die Ratsversammlung dachte. Morgreals grausames Lächeln – nie würde er es vergessen. Und auch nicht, wie der Heeresvorsteher kalten Blicks dem Untergang Araukariens beigewohnt hatte – der Stadt, die er hätte schützen müssen. »Es ist alles bereit für den Marsch nach Barku, Herr« – diese Worte klangen ihm noch immer im Ohr. Und auch die rätselhafte Antwort des Schwarzen Prinzen: »Es wird ein Kurier gesandt werden, um den Erft zu holen.« Wer mochte der Kurier sein? Hatibs Gedanken schweiften zu Fernd ab, dem einzigen Menschen, für den er echte Zuneigung empfand. Der Großvater hatte seinen Bruder, nicht ihn zum Erben gemacht, und das wurmte Hatib noch ein wenig. Doch er spürte, dass die Entscheidung des Alten Niemand richtig gewesen war. Er lächelte, als Erinnerungen in ihm aufstiegen. Mit dreizehn – in der Zeit, da jeder Junge sich nach fernen Ländern sehnt – hatte er sich am Falun ein Floß gebaut, um auf große Fahrt zu gehen. Gerade hatte er die letzten Vorbereitungen getroffen, hatte ein Päckchen Proviant und ein Wasserfass aufs Floß geschnallt und sich ein hölzernes Schwert umgebunden, mit dem er sich gegen Feinde zur Wehr setzen wollte, da sah er einen blassen Jungen von sieben, 78
acht Jahren am Ufer sitzen und ihn aus großen braunen Augen beobachten. »Willst du mitkommen?«, fragte er. »Ich gehe auf große Fahrt. Da könnte ich einen Schiffsjungen brauchen.« Der Kleine stand auf und näherte sich vorsichtig. Hatib fuhr fort: »Kannst du kochen? Wir werden lange unterwegs sein und großen Hunger bekommen.« »Ja.« »Aber du hast doch sicher Angst vor wilden Tieren?«, bohrte er weiter, denn allmählich wurde ihm bei dem Gedanken unwohl, einen Achtjährigen mitzunehmen. »Nein.« »Kannst du nichts als Ja und Nein sagen?«, fuhr Hatib ihn an. »Doch«, flüsterte der Junge mit gesenktem Kopf. »Ich heiße Fernd.« »Also, Fernd«, seufzte Hatib. »Ich werde schon einen guten Schiffsjungen aus dir machen.« Sie trieben den Falun hinab, ein paar Stunden vielleicht, doch aus dem Kleinen war kaum etwas herauszubringen. Auf jede Frage sah er sein Gegenüber zwar treuherzig an, antwortete aber fast immer nur mit Ja oder Nein. Das Abenteuer dauerte nicht lange; abends bekamen sie Hunger, zogen das Floß zur Stadt zurück und versteckten es im Gebüsch. Obwohl der Kleine Hatib auf die Nerven ging, wollte er ihn nicht bei Dunkel79
heit durch die Straßen ziehen lassen und fragte ihn, wo er wohne. »Nirgendwo«, sagte der Junge. »Du musst doch Eltern haben«, beharrte Hatib. Dann sah er die Traurigkeit in Fernds Blick. »Sie sind tot«, kam die stockende Antwort. »Seit einer Woche.« Hatib war zu jung, die ganze Tragweite dieses Satzes zu begreifen. Kurz zuvor hatte das gelbe Fieber in der Stadt gewütet und viele Opfer gefordert. Er verstand immerhin, dass er jetzt für den Kleinen verantwortlich war. »Komm«, sagte er seufzend. »Wir werden schon einen Platz für dich finden.« So waren sie Brüder geworden. Als Fernd vierzehn war, änderte sich sein Leben. Bis dahin hatte er sich einsam gefühlt und sich stark zurückgezogen, nun aber lebte er auf, denn er hatte Reika kennen gelernt. ›Aber ein Tollpatsch ist er noch immer‹, überlegte Hatib lächelnd. Warum dachte er nur ständig an ihn? Er setzte sich ruckartig auf. ›Da ist jemand.‹ Er hatte etwas gehört – ein leises Kratzen auf Stein, ein Geräusch, das nicht in die Ruinen von Thingal passte. Hatib war lange genug in der Wildnis gewesen, um zu wissen, dass Gefahr drohte. »Bin ich etwa doch in der Nähe des Nebelheers?«, fragte er sich. »Dann war ich verdammt unvorsichtig.« 80
Auf allen vieren kroch er aus dem Gebüsch. Er spürte kaltes, feuchtes Moos unter den Händen, und der Geruch von Erde stieg ihm in die Nase. Draußen war es stockdunkel, nur manchmal gaben die Wolken ein Stück schwarzen Himmel frei; genau in diesem Moment aber brach der Mond durch, und kaum fünfzig Meter entfernt sah Hatib eine vom Wind zerzauste Baumgruppe. Dort stand jemand. ›Ein Posten des Nebelheers‹, dachte er. ›Morgreal kann keinen unerwünschten Besuch brauchen.‹ Er wartete, bis der Mond hinter den Wolken verschwand, dann pirschte er sich vorsichtig an die Baumgruppe. Hinter einem großen, grasüberwachsenen Runenstein fand er Deckung, ehe der Mond wieder vorkam. Vorsichtig lugte er über den Stein. ›Das ist kein Postens begriff er. ›Das sind – Jäger.‹ Vor sich sah er zwei große, kräftige Gestalten, die zu Pferd unterwegs gewesen waren; er hörte das Schnauben der Tiere in der Nähe. ›Und sie haben einen Gefangenen gemacht.‹ An einem Baum lehnte eine weitere Gestalt. Sie war kleiner als die Wolfsjäger und verschmolz in der Dunkelheit fast mit dem Stamm. Zu sehen waren nur eigentümlich helle Augen, die im Mondlicht silbern glänzten. Da zerriss einer der Wolfsjäger die Stille. »Zum letzten Mal – warum treibst du dich nachts in den Ruinen herum?« Die Gestalt antwortete nicht. 81
»Soll ich’s dir sagen, Farai?«, knurrte der zweite Wolfsjäger. »Schau dir den Mann doch an.« »Ich weiß schon. Er ist ein Waldläufer. Gibt’s hier noch mehr von deiner Sorte? Du wolltest uns auskundschaften, gib’s zu!« Der Gefangene antwortete noch immer nicht; stumm stand er da, und sein Blick richtete sich auf den Runenstein, hinter dem Hatib versteckt lag. Der zuckte zurück. Hatte der Waldläufer ihn entdeckt? Wenn ja, musste er Luchsaugen besitzen. »Dann sag ich es dir«, sagte der andere Jäger. »Ihr Waldläufer seid schließlich nicht dumm. Den Nördlichen Königreichen steht eine Überraschung bevor, und du weißt das.« »Reden wir nicht lange herum«, sagte Farai. »Töten wir ihn.« »Nicht so hastig. Besser, wir zünden ein Feuer an und stellen ihn hinein, bis er auspackt. Wir müssen wissen, ob sich noch andere hier rumtreiben.« »Waldläufer gestehen nichts«, wandte Farai ein. »Die halten alles aus.« »Das werden wir sehen.« Kein Zweifel: Der Gefangene hatte Hatib entdeckt und sandte ihm aus hellen Augen einen durchdringenden Blick und eine stumme Bitte zu. ›Er hat hier keine Gefährten‹, begriff Hatib. ›Sonst wären die Wölfe längst tot.‹ Er tastete mit der Rechten zum Gürtel und zog geräuschlos sein Messer. Noch zögerte er. »Binde ihn fest«, sagte Farai. »Während ich ihn 82
röste, gehst du zum Lager und holst Verstärkung. Sag Morgreal, wir haben einen Waldläufer gefasst, und schlag ihm vor, das Ruinenfeld durchkämmen zu lassen.« Plötzlich kam Bewegung in die schlanke Gestalt des Waldläufers. Sein Körper spannte sich wie der einer Katze; er sprang vor und krallte sich am Hals des Wolfs fest. Der würgte einen Schreckensschrei hervor und schlug um sich. Farai warf sich fluchend auf den Waldläufer, um ihn von seinem Kameraden zu trennen. Ein Dolch blinkte im Mondlicht auf. ›Jetzt oder nie.‹ Hatib sprang auf, stürmte hinter dem Stein vor und stieß den Wolf beiseite. Der stürzte zu Boden, und Hatib warf sich auf ihn. Er hatte erwartet, allein die Überraschung werde genügen, ihn zu überwältigen – eine Fehleinschätzung. Der Jäger rappelte sich fluchend auf. Hatib stolperte rückwärts und fiel direkt neben den Waldläufer, der fest in seinen Gegner verkrallt war. Wieder blitzte ein Messer. Hatib war zu ungeübt, den Angriff sofort zu parieren, doch dann versetzte er dem Wolf einen gezielten Tritt in die Magengrube, so dass er stöhnend zur Seite fiel, sprang auf und verpasste seinem Gegner noch ein paar Tritte, bis der sich nicht mehr wehrte. Zeit zum Nachdenken hatte er nicht, denn die beiden anderen wälzten sich in wildem Kampf auf dem Boden. Der Wolfsjäger schien die Oberhand über den Waldläufer bekommen zu haben. Eben wollte 83
Hatib nach dem Jäger schlagen, da stieß der einen Schrei aus, bäumte sich auf und sackte blutüberströmt hintenüber. Langsam stand der rätselhafte Waldläufer auf und reichte Hatib die Hand. »Ich danke dir.« Der Mond war wieder hinter einer Wolke verschwunden, und Hatib konnte nur noch die hellen Augen seines Gegenübers erkennen, dessen Hand fest und schwielig war und vermutlich einem älteren Mann gehörte. »Ich bin Imril«, sagte die Gestalt. »Und du?« »Hatib. Aus Araukarien.« »Ich bin ein Waldläufer; vielleicht hast du schon von uns gehört.« Natürlich kannte Hatib die Waldläufer – zumindest aus den Erzählungen des Alten Niemand. ›Sie sind kein Volk, sondern haben nur gemeinsam, dass sie draußen in der Wildnis leben‹, hatte er gesagt. ›Sie sind die Zugvögel unter den Menschen, und ihr Leben ist voller Entbehrungen. Die wenigsten von ihnen sterben friedlich in einer geheizten Stube.‹ Dafür waren die Waldläufer frei. Frei wie der Wind. Alle paar Jahre trafen sie sich an einem geheimen Ort im Norden, ernannten neue Mitglieder und tauschten Erfahrungen aus. Waldläufer waren überall geachtet und geschätzt. Trotz ihrer stolzen Art waren sie sich nicht zu schade, ihren sesshaften Landsleuten zur Hand zu gehen, wenn es Not tat. Und manch fah84
render Händler hatte sich nur aus einer gefährlichen Lage befreien können, weil ihm in letzter Sekunde ein Waldläufer zu Hilfe gekommen war. »Wo kommst du her, Hatib?«, riss ihn Imrils Stimme aus den Gedanken. »Dieser Ort ist gefährlich.« »Das habe ich gerade erfahren. Aber …« Der Wolf, den er niedergeschlagen hatte, gab einen leisen Laut von sich. Er war aus der Bewusstlosigkeit erwacht. »Warte.« Imril beugte sich über den Jäger. Etwas knirschte dumpf, dann war es still, und Imril richtete sich auf. »Du hast offenbar viel Glück gehabt«, fuhr er ungerührt fort. Hatib schluckte. Mit solcher Kaltblütigkeit hatte er nicht gerechnet. »Waren das Räuber, die es auf deine Börse abgesehen hatten?«, fragte er vorsichtig. »Nein, auf mein Leben«, antwortete Imril. »Aber das weißt du doch schon. Du hast uns ja ein paar Minuten beobachtet.« »Das hast du rasch gemerkt. Die beiden waren taub und blind.« »Du hast dich geschickt angeschlichen. Selbst ich war mir bis zum Schluss nicht ganz sicher, ob sich wirklich jemand hinter dem Runenstein versteckt.« »Ich war vorsichtig«, sagte Hatib geschmeichelt. »Aber was hast du mit diesen Leuten zu tun? Wolltest du sie wirklich auskundschaften?« »Das haben die Schattenmänner behauptet, nicht ich.« 85
›Die Schattenmänner?‹, dachte Hatib. »Die Ruinen von Thingal sind kein guter Ort.« Imril gab sich sichtlich Mühe, das Thema zu wechseln. »Nachts schon gar nicht. Hast du das nicht gewusst?« »Spukt es hier etwa?«, fragte Hatib spöttisch. »So ähnlich.« Imril war ernst. »Thingal ist vor Jahrtausenden untergegangen, doch seine Bewohner leben bis heute.« »Warum treibst du dich dann hier herum?«, fragte Hatib. So leicht kam ihm dieser Waldläufer nicht davon. »Hast du keine Angst vor Gespenstern?« »Nein.« »Siehst du«, schloss Hatib. »Ich auch nicht.« Einen Moment schwiegen beide. Dann verlor Hatib die Geduld. »Ich habe dich nicht gerettet, damit du mir Märchen erzählst«, sagte er. »Du wolltest wissen, was die Schattenmänner hier tun, nicht? Es sind mehr, als für das Königreich von Barku gut ist.« Imril schwieg immer noch, und Hatib fuhr fort: »Diese Männer sind meine Feinde genau wie deine. Und sie sind mächtig. Deshalb sollten wir einander vertrauen.« »Woher kennst du die Schattenmänner?« Hatibs Worte schienen Eindruck gemacht zu haben. »Ich habe ihre Grausamkeit erfahren. Aber wir nennen sie nicht Schattenmänner, sondern Wölfe.« Imril zuckte zusammen. Es dauerte lange, bis seine Stimme wieder aus dem Dunkel kam. »Ich will dir 86
vertrauen. Natürlich bin ich nicht zufällig hier, sondern um die Wölfe auszukundschaften. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass sie sich in die Ruinen von Thingal trauen.« »Und da bist du ihnen in die Hände gefallen.« »Ich war zu leichtsinnig und habe sie unterschätzt. Nie hätte ich gedacht, dass es schon so viele sind.« »So viele, dass sie ein ganzes Heer bilden?«, fragte Hatib. »Eins, das man nicht hört und nicht sieht? Ein Nebelheer?« Imril schnappte verblüfft nach Luft. »Du kennst es? Und den Schwarzen Prinzen, der es ausgesandt hat?« »Den habe ich sogar mal belauscht«, gab Hatib selbstbewusst zurück. »Morgreal, sein wichtigster Diener, ist unterwegs, um Barku in Schutt und Asche zu legen und die Menschen nach Süden zu verschleppen – an einen Ort namens Sklava Mhor.« Imril fluchte leise. »Allmählich begreife ich. Und was ist mit Araukaria passiert? So viel ich weiß, war das Nebelheer …« »Dort kam jede Hilfe zu spät«, unterbrach Hatib. »Araukaria gibt es nicht mehr. Es wurde vollkommen zerstört.« Es dauerte eine Weile, bis Imril diese Nachricht verkraftet hatte. »Das hatte ich befürchtet«, flüsterte er dann. Er dachte nach. »Dann ist der Alte Niemand mit der Stadt gestorben«, sagte er leise. »Er war meine letzte Hoffnung.« 87
»Du kanntest den Alten Niemand?«, fragte Hatib überrascht. »Du auch?« »Ich habe ihn selbst begraben. Mit meinen Gefährten.« »Dann bist du ein ungewöhnlicher Mensch, Hatib von Araukaria«, sagte der Waldläufer. »Erzähl mir vom Untergang der Stadt.« Imril riss sich mit aller Macht zusammen, um seine Gefühle angesichts der Hiobsbotschaften zu verbergen, die er nun zu hören bekam. Hatib fühlte die Spannung, unter der er stand. Im Mondlicht erkannte er, dass der Waldläufer kurzes, weißes Haar hatte. Gern hätte er sein Gesicht gesehen. Er erzählte die ganze Geschichte von der Reise des Alten Niemand nach Araukaria bis zu ihrem Scheitern vor dem Born und der anschließenden Vertreibung. »Du hast ein hartes, bitteres Los«, sagte Imril schließlich. »Ich glaube, das Reich von Araukaria wird nicht mehr auferstehen. Doch am meisten bedrückt mich der Tod des Alten Niemand. Er war uns Waldläufern immer ein Freund.« »Er starb in der Nacht, als Araukaria brannte«, versetzte Hatib. »Wir haben ihn im Waldbühl begraben, neben Siljans Turm. Dort wird er für immer seinen Frieden haben.« »Ein würdiger Platz. Doch lassen wir die Toten ruhen. Wir müssen handeln, und zwar schnell. Noch ist es nicht zu spät.« 88
»Weißt du, wo das Lager der Wölfe ist?« »Ganz nah.« Hatib hielt den Atem an. »Sie liegen in den Tälern verteilt, keine drei Meilen von hier. An die fünfzehntausend Mann. Bereit zum Angriff.« »Fünfzehntausend?«, murmelte Hatib entsetzt. »Und wie viele Soldaten hat Barku?« »Von Soldaten kann man da nicht reden«, erwiderte Imril. »Insgesamt sind es etwa fünftausend waffenfähige Männer – aber sie sind den Umgang mit Schwert und Schild nicht gewohnt.« Hatibs Gedanken rasten. »Selbst wenn wir die Bevölkerung rechtzeitig warnen, kann Morgreal die Stadt also einnehmen?« »Wahrscheinlich ja«, sagte Imril. »Barku ist kaum befestigt. In den Nördlichen Königreichen hat es seit Jahrhunderten keinen Krieg gegeben.« »Ich verstehe nicht, dass außer uns keiner vom Nebelheer weiß. Es gibt hier Dörfer und Einzelhöfe, die müssten doch …« »Nicht mehr«, antwortete Imril. »Ich habe heute Morgen ein Dorf gesehen – oder was davon noch übrig war. Zehn Meilen um Thingal ist kein Nordländer mehr am Leben.« Hatib hielt den Atem an. Was Imril da sagte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. »Es ist Winter«, erklärte der Waldläufer. »Die Menschen gehen kaum noch aus den Dörfern. Die Wege sind zum Teil schon verschneit, der Kontakt 89
zwischen den Siedlungen ist so gut wie abgebrochen. Kein Mensch hat gemerkt, was in den letzten Tagen vor sich ging.« »Also müssen wir sofort aufbrechen.« »Genau. Das heißt – du wirst es tun.« Hatib sah überrascht auf. »Warum nur ich?« »Weil ich noch mal zum Lager des Nebelheers gehen werde, um Genaueres über den Angriffszeitpunkt zu erfahren.« Die toten Wölfe lagen noch da, wie Imril sie zurückgelassen hatte. Ihre gebrochenen Augen starrten ins Mondlicht. »Verstecken wir sie«, brummte der Waldläufer, packte den einen und zerrte ihn in den Schutz der Bäume. Hatib spürte einen leichten Schauder, als er die kalten Hände ergriff. Er hatte nie um sein Leben gekämpft, nie seinen Gegner umgebracht. »Du bist so einen Anblick nicht gewohnt?«, fragte Imril, als er Hatibs Zögern bemerkte. »Um die beiden war es nicht schade. Sie hätten mich umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Ich weiß. Aber es ist das erste Mal, dass ich einen Menschen getötet habe.« »Hast du doch gar nicht. Das habe ich ja besorgt.« Die beiden Wölfe schienen sein Gewissen nicht sonderlich zu belasten. »Trotzdem.« Imril richtete sich auf. »Auch du wirst das Töten noch 1ernen. Und der Erste, der von deiner Hand fällt, nimmt deine Seele mit ins Grab.« 90
Wo mochte Imril herkommen? Seine Worte klangen so bitter und verloren. Was hatte ihn getrieben, ein Waldläufer zu werden? Die Welt war voll trauriger Geschichten, und Imril schien eine davon in sich zu tragen. Nach getaner Arbeit gingen sie zu den Pferden, die nicht weit entfernt angebunden waren. »Bist du noch immer der Meinung, ich soll allein nach Barku reiten?«, fragte Hatib. »Fürchtest du dich davor?« »Nein. Aber der einzige mir bekannte Weg ist die Nordstraße, und die ist nicht sicher.« »In diesen dunklen Tagen ist kein Weg sicher«, murrte Imril. »Unweit von Thingal führt ein kleiner Pfad nach Norden; er ist nur uns Waldläufern bekannt.« Er wandte sich nach Nordwesten, gerade in die Ruinen hinein. Der Weg war uneben und voller Steine; sie mussten die Pferde am Zügel führen. Nach einer Stunde färbte sich der Osthimmel grau; schließlich war es so hell, dass sie aufsitzen konnten. Schweigend ließen sie die versunkene Stadt hinter sich. Es wurde kälter. Nebelfetzen zogen über die Hügel, dann begann es zu schneien. Bald waren die Lande mit einem weißgrauen Schleier überzogen. »Der Winter ist da«, brummte Imril. »Das wurde auch höchste Zeit.« Hatibs neuer Gefährte war nicht groß, aber kräftig, hatte schwielige Hände und ein kantiges Gesicht. 91
Sein hellgraues Haar war sehr kurz, aber dicht; Imril mochte an die sechzig sein und war sehr rüstig. Seine auffälligen, eisgrauen Augen waren fast so hell wie sein Haar. »Woher kanntest du den Alten Niemand?«, fragte Hatib. »Mir gegenüber hat er die Waldläufer nur einmal erwähnt.« »Wir pflegten gute Kontakte; er kam zu unseren Versammlungen«, erwiderte Imril, aus seinen Gedanken erwachend. »Dann saß er am Feuer und fragte nach unseren Erlebnissen.« Der Waldläufer blickte nachdenklich ins Schneegestöber. »Er suchte nach der Geschichte des Schwarzen Prinzen …« »… und hat sie nie erfahren«, ergänzte Hatib. »Hier trennen sich unsere Wege.« Vor ihnen begann ein schmaler Pfad, eher ein Wildwechsel. »Das ist der Weg nach Barku«, erklärte Imril. »Er führt nach einer halben Meile in ein kleines Tal. Von da an bist du so gut wie unsichtbar. In vier Stunden führt er dich über eine Anhöhe – dann bist du schon am Ziel.« Imril wies mit der Hand nach Osten, und in seinen grauen Augen funkelte es. »Ich hoffe, Morgreal lässt sich noch etwas Zeit. Er weiß nicht, dass er entdeckt ist. Sei trotzdem auf der Hut, mein Freund! Vielleicht kennt auch Morgreal schon diesen Pfad.« Es war das erste Mal, dass Imril Hatib seinen Freund nannte. 92
4 In Barku Plötzlich brach der Mond durch, und für wenige Sekunden zeigte sich Morgreals Nebelheer in all seiner Größe: Reihe um Reihe standen die Wölfe da. Dann schloss sich das Wolkenloch wieder; Dunkelheit schwappte wie eine schwarze Woge über Freund und Feind und verschluckte alles. Morgreal kannte den alten Pfad nach Barku nicht. Wie von Imril vorausgesagt, ritt Hatib nach vier Stunden über den letzten Hügel. ›Beim Verborgenen Gott – ich bin noch rechtzeitig gekommen‹, dachte er tief erleichtert. Unversehrt lag die Stadt im Tal. Barku konnte kaum mehr als dreißigtausend Einwohner haben und war von einer baufälligen Mauer umschlossen, die von zwei Stadttoren und dem Flusslauf des Gorm unterbrochen war. Dahinter erklomm die Nordstraße in zahlreichen Windungen einen Hügel und führte ins Königreich Moloil, von dem Hatib nur den Namen kannte. Barkus Häuser schmiegten sich dicht an dicht, als suchten sie Schutz vor dem Wind, der kalt und durchdringend von Osten heranfegte. »Also dann«, murmelte Hatib. Am Tor stand kein Wächter. Das Pförtnerhaus war verschlossen, und vor der Tür gackerten Hühner. Imril hatte Recht gehabt: In den Nördlichen Königreichen herrschte seit Menschengedenken Frieden. 93
Auch auf den Straßen war kaum jemand zu sehen – ein altes Weib, das ein Bündel Holz trug und sich verwundert nach dem Ankömmling umsah; ein Schmied in der Werkstatt, dessen Hämmern als Einziges die Stille durchbrach. Auf einen Platz gekommen, hielt Hatib an. Der Königspalast war wie die anderen Häuser aus vermörtelten Feldsteinen gebaut. Drei flache Stufen führten zum Eingang, vor dem zwei Wachen standen – nicht in goldener Rüstung wie die Wächter von Hohaus, sondern in dicken Mänteln. Sie sahen aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Hatib stieg vom Pferd. »Ich bringe eine wichtige Nachricht für euren König«, sagte er. Dann stellte er fest, dass er mit zwei Jungen sprach, die nicht älter als fünfzehn sein konnten. Neugierig schauten sie ihn an. »Der ist krank«, erwiderte der eine und setzte eine wichtige Miene auf. »Ich kann dich nicht ohne weiteres zu ihm lassen.« »Was hat er denn?« »Schnupfen«, rief der Junge munter. »Vorgestern ist er auf der Jagd in einen Bach gefallen. Seitdem tropft ihm die Nase.« Hatib begriff. In Barku gab es gar keine Palastwache. Die Jungen hatten nur Spaß daran, vor dem Tor zu stehen und sich wichtig zu machen. »Ich muss trotzdem zu ihm. Ich komme aus Araukaria. Von Süden zieht große Gefahr auf. Wenn Kö94
nig Gebork nicht gewarnt wird, liegt Barku bald in Trümmern.« Das Lächeln des Jungen schwand. »Was wollen die Araukarieruns denn tun?« »Nichts.« Hatib ging allmählich die Geduld aus. »Bringst du mich jetzt zum König oder nicht?« Der Junge warf seinem Kameraden einen fragenden Blick zu. Der nickte: »Wir sollten ihn reinlassen, Feri.« »Na gut.« Er wandte sich an Hatib. »Aber du musst deine Waffen abgeben.« »Ich habe keine.« »Das glaubst du doch selbst nicht. Wer aus Araukaria kommt, muss eine Waffe haben. Sonst traut er sich nicht zu uns.« Hatib unterdrückte ein Lächeln, nahm seinen Dolch aus dem Gürtel und gab ihn ab. Feri zog einen großen, rostigen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Portal. »Komm mit.« Er führte Hatib in eine Vorhalle mit mehreren Türen und öffnete die mittlere. Hatib sah den Thronsaal mit gewölbter Decke und langem Eichentisch, an dessen Ende ein erhöhter Sessel stand. Der Saal war leer. »Hier ist er nicht«, meinte der Junge. »Sehen wir oben nach.« »Gibt es hier denn keine Wachen?«, fragte Hatib verwundert. »Nur wenn Rakan und ich am Tor stehen. Glaubst du, die Leute hier hätten nichts Besseres zu tun? Ra95
kan und ich, wir machen das nur, weil wir Soldaten werden wollen.« »Und nachts?« Der Junge machte große Augen. »Da gehen wir nach Hause. Wer sollte denn nachts was vom König wollen? Außerdem ist das Tor ja zu.« »Das Tor ist ja zu«, wiederholte Hatib geistesabwesend und schüttelte den Kopf. »Als ob Morgreal und sein Heer sich darum scheren würden.« »Ist das der Feind, vor dem du uns warnen willst? Was will er denn hier?« »Das frage ich mich langsam auch.« Sie waren am Ende eines Korridors angelangt. Feri klopfte. »Herein!«, krächzte es, und der Wächter öffnete die Tür. Das Zimmer war hell erleuchtet. Fast in ganzer Breite wurde es von einem großen Bett eingenommen; darin lag ein kleiner Mann mit grauem Bart. Der König von Barku war etwa fünfzig und sah wie ein freundliches Wichtelmännchen aus: Backen wie reife Äpfel, und die Nase leuchtete fast, so rot und geschwollen war sie. Unter der Decke wölbte sich ein Spitzbauch, auf dem ein Buch lag, in dem der König gelesen hatte. Jetzt blickte er verwundert auf Hatib. »Wer bist du?« »Mein Name ist Hatib, Truchtin«, erwiderte dieser und benutzte dabei die alte Königsanrede des Nordens. »Ich komme aus Araukaria und bringe Euch wichtige Nachrichten.« 96
»Na dann schieß los.« Hatib warf Feri einen Blick zu, und der schob trotzig die Unterlippe vor. Doch dann gehorchte er, grüßte und schloss die Tür hinter sich. Hatib vermutete, dass er auf dem Gang stehen bleiben und lauschen würde. »Also?«, fragte König Gebork. »Hat Feri dir nicht gesagt, dass ich krank bin und keinen Besuch empfange?« »Ich habe mich nicht abweisen lassen«, erwiderte Hatib. »Was ich Euch zu sagen habe, ist dringender als Eure Krankheit, Truchtin.« König Gebork runzelte die Stirn. »Wovon sprichst du?« »Araukaria ist abgebrannt. Es wurde angezündet von einem Heer von – Wölfen, wie ich sie nenne. Die Bevölkerung wurde verschleppt; der Born kam ums Leben; auch der Alte Niemand, von dem Ihr sicher gehört habt, starb kurz nach Untergang der Stadt.« Der König machte große Augen. »Der Alte Niemand? Vor einem Jahr erst hat er mich besucht!« »Ach?«, fragte Hatib überrascht. »Er war ein gern gesehener Gast«, fuhr der König fort und musterte Hatib. »Das letzte Mal war er in Eile. Er wollte mich dringend sprechen, denn …« Er unterbrach sich, meinte »Nicht hier«, schlug die Decke zurück und stand auf. »Krank sein kann ich auch ein andermal.« Hatib musste lächeln. Ein König mit Spitzbauch 97
und Tropfnase in weißem Nachthemd – so was sieht man nicht oft. An der Tür wäre Gebork fast mit Feri zusammengeprallt. »Junge, wie oft hab ich dir gesagt, du darfst nicht horchen, wenn ich Gäste empfange!«, sagte der König streng. »Wie soll ich Staatsgeheimnisse bewahren, wenn du bei deinem Mädchen alles ausplauderst?« »Ich habe kein Mädchen.« Feri zog den Kopf ein. »Wird es Krieg geben?« »Kein Wort mehr. Geh ins Wachhaus und bestell Hauptmann Olin und Rafai in den Beratungssaal. Beeil dich!« Feri stürmte davon. »Ihr habt seltsame Wachen, Truchtin«, meinte Hatib, als sie in den Beratungssaal gingen. »Feri ist mein Neffe.« Gebork lächelte. Überhaupt blieb er trotz Hatibs Nachrichten bemerkenswert gefasst. »Und Rakan, der vermutlich draußen mit ihm Wache gestanden hat, ist sein bester Freund.« »Habt Ihr keine Angst?« »Wovor? Niemand hat Interesse daran, den König von Barku zu stehlen. Dies ist ein sehr kleines Reich, Hatib von Araukaria. Ich kenne fast jeden hier mit Namen und segne die neugeborenen Kinder eigenhändig. Du bist aus Araukaria anderes gewohnt, aber Olean herrschte über zwanzigmal mehr Menschen als ich.« Ein Feuer brannte im Kamin des Beratungssaals. Gebork ließ Hatib Platz nehmen. 98
»Woher habt Ihr den Alten Niemand gekannt, König Gebork?« »Er war auf der Suche nach Geschichten. Ein Mensch, der zuhörte. Bei seinem letzten Besuch machte er Andeutungen, dass vielleicht bald ein Sturm aufzieht.« Der König von Barku starrte schweigend ins Feuer, und Hatib musterte ihn nachdenklich. Im ersten Moment hatte er Gebork für einen freundlichharmlosen Tollpatsch gehalten. Inzwischen ahnte er, dass der Mann mit der roten Nase wahrscheinlich viel weitsichtiger war als der verbrauchte Born von Araukaria. Da ging die Tür auf, und zwei Männer betraten den Saal. Ihr energischer Schritt ließ Hatib sofort auf Offiziere tippen. Hauptmann Olin, der Ältere der beiden, war ungefähr sechzig und hatte ein derbes, ehrliches Soldatengesicht. Nur noch wenige weiße Haarbüschel rahmten seinen Kahlkopf; seine Augen waren blau und klar. Hatib hatte das Gefühl, dass die Stadt bei diesem Hauptmann in guten Händen war. Der Jüngere, den der Truchtin Rafai genannt hatte, war äußerlich das genaue Gegenteil. Seine Augen waren dunkelbraun, die Haare dicht und pechschwarz, an den Schläfen etwas gekräuselt. Er war groß und schlank und konnte kaum dreißig sein. Er machte einen wachen und intelligenten Eindruck und betrachtete Hatib skeptisch. »Du hast uns rufen lassen, Truchtin«, sagte 99
Hauptmann Olin mit dröhnendem Bass. »Worum geht’s?« »Das wird uns Hatib von Araukaria gleich erzählen.« Gebork wies die beiden an, Platz zu nehmen. Als Hatib mit seinem Bericht fertig war, herrschte Schweigen. Dann polterte Olin: »Schweinerei! Wo ist dieser Morgreal jetzt? Wir ziehen los, ihm das Fell zu gerben, und dann …« »… wird er uns vernichten«, fiel Rafai ihm ins Wort. »Wenn ich richtig verstanden habe, hat er fünfzehntausend Mann.« Der junge Offizier schien der Besonnenere von beiden. »Ich wüsste nicht, wie wir da einen offenen Kampf bestehen sollten.« »Wenn wir heute Nacht noch losziehen, können wir sie überraschen«, knurrte Olin. »Das würde unsere Unterlegenheit wettmachen.« »Kein Überraschungsangriff macht eine Unterlegenheit von eins zu drei wett, Olin. Ich weiß, du rechnest mit der Tapferkeit der Barkuri. Aber außer der Stadtwache ist keiner im Kampf geschult. Wir wären nicht mal in der Lage, uns auf fünf Meilen unbemerkt zu nähern.« »Aber etwas müssen wir tun!«, rief Olin hitzig. Rafai lächelte. »Langsam. Du würdest Morgreal notfalls allein entgegenziehen – vielleicht muss es nicht so weit kommen. Warten wir ab, welche Nachrichten uns Imril bringt! Vielleicht haben wir Glück, und Morgreal wartet mit dem Angriff. Gewinnen wir zwei Tage, können wir uns vorbereiten, die Wölfe würdig zu empfangen. Aber wir müssen in der Stadt 100
bleiben. Unsere Kräfte reichen vielleicht aus, Barku zu verteidigen – für mehr reichen sie sicher nicht.« »Schon diese Annahme ist mehr als optimistisch«, brummte Gebork. »Aber dann sind ihm alle Dörfer der Gegend ausgeliefert«, protestierte Olin. »Das Nebelheer wird sie überrollen.« Rafais Lächeln verschwand. »Daran hatte ich bis jetzt noch gar nicht gedacht. Was tun? Schützen können wir sie nicht.« »Aber warnen«, sagte Olin. »Sie sollen alles stehen und liegen lassen und herkommen. Nur Barkus Mauern können sie retten.« »Wenn Morgreal das merkt, ist auch er gewarnt«, gab Hatib zu bedenken. »Am besten, wir warten, bis Imril zurückkommt«, meinte Rafai. »Dann entscheiden wir, wie wir vorgehen.« »Und wenn er gefangen ist?«, fragte der Truchtin. »Morgreal könnte misstrauisch werden und sein Heer noch heute Nacht gegen Barku marschieren lassen. Es hilft nichts – wir müssen die Bürger von der Gefahr unterrichten.« »Aber dadurch decken wir unsere Karten auf, Truchtin«, warnte Hatib erneut. »Morgreal hat vielleicht schon Spione hier.« König Gebork dachte nach. »Eine schwierige Entscheidung«, sagte er dann. »Wir können Imrils Nachricht abwarten, aber dabei riskieren wir viel. Und wir können das Volk warnen – und dabei unseren einzi101
gen Vorteil aus der Hand geben.« Er seufzte leise und wandte sich an seine Heeresvorsteher. »Was meint ihr?« »Wer seinen Bürgern misstraut, hat den Krieg schon verloren, Truchtin«, sagte Olin. »Warnen wir sie – noch heute Abend!« Rafai wiegte skeptisch den Kopf, pflichtete dann aber bei: »Wenn Barku Gefahr droht, darf der König vor dem Volk keine Geheimnisse haben.« »Das habe ich auch gedacht«, sagte Gebork erleichtert. »Feri! Komm rein!« Der Junge hatte natürlich wieder gehorcht. Ohne ein Zeichen von Schuldbewusstsein platzte er sofort in den Saal. »Habt Ihr einen Auftrag für mich?«, fragte er und brachte dabei sogar eine Art Kratzfuß zustande. »In einer Stunde rufen wir die Bürger zu den Waffen. Such in der Wachstube jemanden, der das Nötige veranlasst.« Feri verließ den Raum, und Gebork sagte: »Dann senden wir Boten aus, um die Dörfer ringsum zu warnen. Wenn es Verräter unter uns gibt, können wir nichts dagegen tun.« Hatib schwieg. Er bezweifelte insgeheim, dass dieses kleine Volk der Kampfkraft von fünf zehntausend Wölfen widerstehen konnte. Andererseits hatte er berechtigte Hoffnung, dass Morgreal die Wahrheit trotz allem nicht erfuhr. Barku war nicht Araukaria. Es konnte vielleicht eingenommen, würde von der Bevölkerung aber nicht verraten werden. Das wusste 102
er, wenn er in die Gesichter von Olin, Rafai und Gebork sah. Die Stadt glich einem Bienenhaus. Wer hätte gedacht, dass sie ihr Gesicht in wenigen Stunden so wandeln konnte! Während Hatib völlig erschöpft in seiner Kammer eingeschlafen war, hatte der Truchtin zu den Bürgern gesprochen. Noch in der Nacht waren Waffen ausgeteilt worden; die Schmiede hatten gleich begonnen, sie auszubessern und neue Schwerter zu machen. Dann waren Boten losgeritten, um die wichtigsten Siedlungen ringsum zu erreichen, von denen sie bis zu acht Stunden Dunkelheit trennte. Auch an die Königreiche Algabal, Moloil und Ysen wurden Hilferufe gesandt, doch es war unwahrscheinlich, dass rechtzeitig Unterstützung käme. Als Hatib aufwachte, war es hell. Er hatte über zehn Stunden geschlafen und fühlte sich frisch und tatendurstig. Er sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster. Der Tag war kalt und grau; es schien, als wollten die Wolken die kraftlose Sonne, die sich kaum noch über den Horizont wagte, vollends auslöschen. Überall waren Waffenklirren und das Hämmern der Schmiede zu hören. ›Das also ist Barku bei Tag.‹ Hatib lächelte darüber, wie sehr er dieses verschlafene Nest aufgescheucht hatte. Es klopfte, und Hauptmann Olin trat ein. »Schläfst du noch, junger Mann?« Der alte Haudegen lächelte, doch es war ihm anzusehen, dass er 103
in der Nacht nicht zur Ruhe gekommen war. »Dein Freund Imril ist da.« »Hat er etwas erfahren?« »Er hat sich ans Nebelheer angeschlichen, der alte Fuchs. Er ist zäh und gewitzt, das muss man ihm lassen. Aber er will nichts erzählen, solange du nicht dabei bist.« Als Hatib und Olin in den Beratungssaal kamen, war der Truchtin schon da. Ihm gegenüber saßen Rafai und Imril. Der Waldläufer sah aus, als habe er sich in einer Schlammgrube gewälzt. Stirn und Wangen waren verschmiert, nur die Augen blickten klar und ruhig aus dem verwitterten Gesicht. »Deine Nacht war wohl nicht so angenehm wie meine«, sagte Hatib und drückte seinem neu gewonnenen Freund die Hand. »Ich hatte hier ein weiches Bett.« »Ein Bett war das Geringste, was ich vermisst habe«, antwortete Imril ernst. »Ich bin froh, dass ich mit dem Leben davongekommen bin.« Hatib sah die Sorge in den Augen des Waldläufers. »Was hast du gesehen?« »Hatib hat Euch sicher erzählt, dass Ihr mit fünfzehntausend Wölfen rechnen müsst, Truchtin«, wandte sich Imril an den König. »Sie sind unbemerkt in Euer Reich eingedrungen und stehen zwanzig Meilen südlich – in den Tälern um das alte Thingal. Wer in ihre Nähe kommt, den bringen sie um.« Dem Truchtin stieg die Zornesröte ins Gesicht. 104
»Dafür wird Morgreal bezahlen«, rief er mit geballter Faust. Imril lächelte grimmig. »Möglich, dass seine Heimtücke auf ihn zurückfällt. Er sitzt wie die Spinne im Netz und hat alles Leben um sich herum vernichtet, um unentdeckt zu bleiben. Andererseits weiß er nicht, was ringsum vorgeht. Er ist zu selbstsicher und hat keine Kundschafter entsandt. Das kann ihn zu Fall bringen.« »Hast du herausgefunden, wann er angreift?«, fragte Gebork. »Ja, Truchtin – heute Nacht.« »Heute Nacht?« Genau das hatte Hatib befürchtet. Auch Olin und Rafai waren bleich geworden. »Dann reicht die Zeit kaum, die Mauern instand zu setzen«, sagte Olin. »Geschweige denn, viele Waffen herzustellen. Wir haben nur Schwerter für tausend Mann und einige Langbögen. Alles Weitere müssen die Barkuri selbst anfertigen.« »Dann haben sie einen harten Tag vor sich«, meinte Imril ungerührt und strich sich müde über die Augen. »Ich werde mich waschen und etwas hinlegen, wenn Ihr nichts dagegen habt. Die Nacht war anstrengend, selbst für einen Waldläufer.« Seine Miene verdüsterte sich plötzlich. »Morgreal ist nicht dumm«, sagte er. »Es war, als könnte er meine Anwesenheit riechen. Plötzlich wurde er unruhig und ließ das Lager durchsuchen. Sie haben das ganze Gebiet durchkämmt und waren sehr gründlich; zum Glück war in der Nähe ein Moor, in das ich fliehen konnte.« 105
Der Truchtin winkte einem Wachposten. »Bring diesen Mann in ein Gästezimmer«, sagte er. »Und sorg dafür, dass er nicht gestört wird! Wir werden ihn heute Nacht brauchen.« Als Imril gegangen war, wandte der König sich an seine Offiziere. Mit einem Mal wirkte er um Jahre gealtert. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte er leise. »Sonst ist die Stadt morgen ein Trümmerhaufen.« Olin und Rafai schwiegen ratlos. Beklemmung und ruheloses Warten herrschten in der Stadt. In Windeseile hatte sich die Nachricht der drohenden Gefahr verbreitet, und aus allen Richtungen kamen Bauern in die Mauern Barkus. Mit Pferden, Eseln und Kühen, mit allem, was sie in der Eile hatten mitnehmen können, rollte Fuhrwerk für Fuhrwerk heran. Die Gesichter der Ankommenden waren düster. »Krieg! Es gibt Krieg!«, tönte es von den Wagen. Zu Hunderten strömten sie in die schon überfüllte Stadt, und noch immer wussten die Befehlshaber nicht, was sie tun konnten, außer die baufällige Schutzmauer instand zu setzen. »Die Arbeit geht viel zu langsam«, sagte Rafai zu Hatib. »Wir sind zu lange sorglos gewesen.« »Mit dem Nebelheer konntet ihr auch nicht rechnen«, erwiderte Hatib. »Araukaria hatte alle Zeit der Welt, sich gegen die Wölfe zu rüsten – und wollte nichts davon hören.« 106
»Das nutzt uns jetzt auch nicht. Wenn Morgreal nur die kleinste Bresche findet, gibt es ein Blutbad.« Hatib antwortete nicht. Sie standen auf dem Turm oberhalb des Südtors. Von hier war leicht zu sehen, wie schwach Barku geschützt war. Die Stadtmauer war einige hundert Jahre alt und nur dafür gedacht, Plünderer und Räuberbanden abzuwehren. Einem Rammbock und Belagerungsgeschützen würde sie nicht standhalten. Hatib starrte nach unten. »Ich frage mich, was Morgreal plant.« Nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: »Er ist ein Verräter. Und feige. So einer greift eine ummauerte Stadt nicht offen an. Auch wenn seine Übermacht noch so groß ist. Er muss sich was ausgedacht haben, um unbemerkt hier reinzukommen – ohne große Verluste.« »Selbst ohne deine Vorwarnung hätte er die Tore nachts verschlossen gefunden. Wie sollte er in die Stadt gelangen?« »Das frage ich mich ja«, antwortete Hatib. Doch die Tore waren nicht der einzige Eingang. Neben der Hauptstraße floss der Gorm durch Barku und verließ die Stadt durch einen großen Tunnel unter der Mauer. »Das ist der Schwachpunkt«, murmelte Hatib. »So würde Morgreal es sehen.« Nur ein verrostetes Fallgitter versperrte den Tunneleingang, ließ sich aber gewiss leicht aufbrechen. Hauptmann Olin hatte das erkannt. Im Augenblick 107
wurde das Gitter unter seiner Aufsicht mit Eisenstäben verstärkt. »Der Tunnel ist der Schlüssel zum Ganzen«, murmelte Hatib. Plötzlich war ihm alles klar. »Ich weiß, was Morgreal vorhat«, sagte er triumphierend. »Er will heimlich durchs Flussbett in die Stadt dringen.« »Da könntest du Recht haben. Und?« Hatibs Gedanken rasten. »Wenn Morgreal heute Nacht kommt – was passiert dann?« Rafai schaute nach unten. »Er wird den Tunnel versperrt vorfinden und weiß, dass wir gewarnt sind.« »Das soll er aber nicht wissen.« »Willst du den Tunnel etwa offen lassen?« »Vielleicht.« Hatib begann, den Turm runterzusteigen. »Ich muss mir was ansehen.« In der nächsten halben Stunde folgte er dem Lauf des Gorm durch die Stadt. Barku war vermutlich auf Ruinen einer älteren Siedlung erbaut, und das Flussbett war fast zwei Meter in den Boden gegraben. Im Südteil der Stadt durchschnitt der Gorm einen kleinen Platz, der früher als Fischteich gedient haben musste, da ihn ein großes, altes Schleusentor abschloss. Jetzt war der kleine See verschwunden, und der Platz diente zum Gerben. ›Im Augenblick führt der Gorm viel Wasser‹, dachte Hatib. Dann ging es durch einen gut vier Meter tiefen 108
Kanal, dessen Wände fast senkrecht waren. Ab hier kam niemand mehr an den Fluss. Der Kanal mündete an der Stadtmauer in den Tunnel, der etwa zehn Meter lang sein mochte. Dann kam das Fallgitter, an dem Olin und seine Soldaten arbeiteten. »Nun, was hast du rausgefunden?«, fragte Rafai, als Hatib von seinem Erkundungsgang zurückkam. »Nicht viel.« Er spuckte schlecht gelaunt in den Fluss und schaute der Strömung nach. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Natürlich«, murmelte er und musste lachen. Rafai musterte ihn besorgt, doch Hatib rief: »Wenn das klappt, was ich mir gerade ausgedacht habe, wird Morgreal sich an Barku die Zähne ausbeißen!« Zwar stand noch eine Mühle am Gerberplatz, doch die würde es schon überstehen. »Komm«, sagte Hatib. »Wir müssen Olin davon überzeugen, das Fallgitter wieder hochzuziehen.« Er stieg erneut vom Turm und rannte vor die Stadtmauer. Rafai folgte ihm kopfschüttelnd. »Mir ist was eingefallen, Hauptmann«, rief Hatib keuchend, als er den Tunnelausgang erreichte. »Hast du einen Moment Zeit?« »Ich weiß, was du denkst«, erwiderte Olin schmerzlich. »Die ganze Zeit schaust du das Flusstor schon so an. Hier wird das Nebelheer in die Stadt eindringen, oder?« ›Er ist gescheiter als ich dachte‹, überlegte Hatib und sagte: »Genau. Und wenn Morgreal das verstärkte Gitter sieht, weiß er, dass wir gewarnt sind.« 109
»Was bleibt uns übrig?«, fragte Olin. »Ich kann die Wölfe doch nicht einfach in die Stadt spazieren lassen.« »Warum nicht? Ich habe einen Plan!« Leise erklärte Hatib den beiden Befehlshabern seine Idee. »Zu riskant«, meinte Rafai. »Wenn wir den richtigen Zeitpunkt verpassen …« ». ist alles verloren«, gab Hatib zu. »Wir dürfen ihn eben nicht verpassen.« Rafai schien nicht überzeugt, doch Olin hatte angebissen. »Das ist zwar ein verzweifeltes Unternehmen«, sagte er, »aber wenn es klappt …« Seine Augen leuchteten. »Allein Morgreals dummes Gesicht wäre die Sache wert! Ich glaube, dein Plan gefällt mir, Hatib. Es hat mich bereits die ganze Zeit geärgert, dass wir uns einfach nur verschanzen sollen.« Er winkte seinen Helfern. »Aufhören! Sechs von euch entfernen die Eisenstäbe. Alles muss aussehen wie vorher. Der Rest kommt mit zum Gerberplatz.« Er erntete verblüffte Blicke und lächelte. »Ich bin zwar schon ein alter Mann, aber selbst ich kann meine Pläne verwerfen, wenn sie nichts taugen.« Die nächsten Stunden arbeiteten sie hektisch. Immer noch strömten Menschen in die Stadt und behinderten das Fortkommen, doch Olins raue Bassstimme verschaffte ihnen Luft. Seit sie die Aussicht hatten, Morgreal eine Abreibung zu verpassen, entwickelte 110
der Hauptmann eine erfinderische Energie, die ihm Hatib nicht zugetraut hätte. Rafai hatte eingesehen, dass Widerstand zwecklos war. Als es dunkel wurde, war das Schleusentor repariert und wasserdicht. Binnen weniger Stunden würde der Platz meterhoch geflutet sein. »Und ihr meint wirklich, das haut hin?«, fragte Rafai, als er mit Hatib und Olin ihr tollkühnes Tagewerk betrachtete. »Es ist so abwegig, dass es einfach funktionieren muss«, sagte Hatib zufrieden. »Wir haben alles auf eine Karte gesetzt.« Er sah zum wolkenverhangenen Himmel auf. »Bald haben wir Gewissheit. Morgen ist das Nebelheer geschlagen, oder Barku liegt in Schutt und Asche.« »Wir haben dem Truchtin noch nichts gesagt.« »Das tun wir jetzt«, sagte Olin und wandte sich grinsend zum Gehen. »Wahrscheinlich wird er uns für verrückt erklären.« »Das würde ich an seiner Stelle auch«, antwortete Rafai. Tatsächlich war König Gebork aufgebracht. »Ich hätte euch einsperren lassen sollen, statt euch die Arbeit an der Stadtmauer zu übertragen.« »Es ist die einzige Möglichkeit«, erwiderte Olin. »Es reicht nicht, sich gegen Morgreal nur zu verteidigen, Truchtin – er muss geschlagen werden!« Gebork konnte sich nicht beruhigen. »Wir können die Wölfe doch nicht einfach reinlassen«, brummte er. 111
»Ich glaube auch, dass Hatib und Olin Recht haben«, meldete sich Rafai. Endlich funkelte auch in seinen Augen Kampfgeist. Der König seufzte. »Ich verstehe zu wenig vom Krieg. Aber eins verspreche ich euch: Wenn euer Plan schief geht, werdet ihr vor mir mehr zittern müssen als vor Morgreal.« Es war dunkel geworden. Das nicht weit entfernte Fernfeld schickte seinen eiskalten Hauch über die Stadt. Unerträgliche Spannung hatte sich der Nordländer bemächtigt. Eigentlich hätten die Tore längst verschlossen und verrammelt sein müssen, doch immer noch tauchten Flüchtlinge aus der Nacht auf und bettelten verzweifelt um Einlass. Sie kamen von überall, nur nicht aus dem Süden. Die Straße ins Alte Reich war den ganzen Tag leer geblieben, denn die Bewohner dort waren unter der lautlosen Walze erstickt, die sich auf das Herz des kleinen Königreichs zubewegte. Hatib stand auf der Mauerbrüstung und spähte ins Dunkel. Zweifel nagten an ihm. Das Nebelheer hatte das zehnmal größere Araukaria in einer Nacht ausgelöscht. Langsam kam ihm sein Plan mehr als verwegen vor. »Da bist du ja«, erklang Imrils Stimme hinter ihm. »Hast du dich ausgeruht?«, fragte Hatib. »Ich hab den ganzen Nachmittag geschlafen«, sagte Imril leichthin. »Von mir aus kann Morgreal kommen.« 112
Er betrachtete seinen Gefährten. Beide trugen ein Langschwert und leichte Lederbekleidung aus den Beständen des Heeres. »Ich habe gehört, was ihr auf dem Gerberplatz angestellt habt. Die Idee gefällt mir.« »Dem Truchtin hat sie nicht gefallen.« »Das muss man verstehen. Er hat Angst um seine Untertanen.« Von außen würde niemand erkennen, was sich in Barku im Verlauf des Tages getan hatte. Keine Fackel erhellte die Mauern, nur eine Handvoll Beobachter versteckten sich hinter den Zinnen. Die Tore waren endlich geschlossen, doch hinter den hölzernen Riegeln standen die Barkuri dicht an dicht – mit allem bewaffnet, was sie hatten. Es war ein gespenstisches Bild. »Diese Väter, Handwerker und Bauern, die einfach zu Kriegern erklärt worden sind.« Imril schnaubte leise. »Wollen wir nicht zu Morgreal überlaufen? Unsere Überlebenschancen wären ungleich größer.« »Sicher nicht.« Hatib lächelte. »Und wenn ich schon sterben muss, dann in guter Gesellschaft.« »Du hast das Herz eines Waldläufers«, sagte Imril. »Du gibst nicht auf und lachst dem Tod ins Gesicht. Das gefällt mir.« Plötzlich straffte er sich und blickte angestrengt nach draußen. »Sie kommen«, flüsterte er. »Wo? Ich kann nichts erkennen.« »Gleich siehst du sie. Sie sind ganz nah.« 113
Hatib kniff die Augen zusammen. Der Mond war hinter schweren Wolken verschwunden, doch im Süden wurde die Nacht noch schwärzer, ballte sich regelrecht zusammen und glitt wie todbringender Nebel heran. Hatib gab Olin, der unten bei den Männern stand, das Signal, die Wölfe seien in Sichtweite. Der hob den Daumen zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Es herrschte Totenstille. »Ist es soweit?« König Gebork hatte die Mauer erstiegen. »Ja, Truchtin«, erwiderte Imril. Gebork sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Plötzlich brach der Mond durch, und für wenige Sekunden zeigte sich Morgreals Nebelheer in all seiner Größe: Reihe um Reihe standen die Wölfe da. Dann schloss sich das Wolkenloch wieder; Dunkelheit schwappte wie eine schwarze Woge über Freund und Feind und verschluckte alles. »Ich habe sie unterschätzt«, flüsterte Imril Hatib besorgt ins Ohr. »Das sind mehr als fünfzehntausend.« »Zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.« Hatib lugte vorsichtig über die Zinnen. Die Wölfe waren bis unter die Mauer vorgerückt. Dennoch war kein Laut zu hören. »Sie sind unglaublich diszipliniert«, flüsterte König Gebork. Da platschte es leise, als sei ein kleiner Stein ins Wasser gefallen; Morgreals Diener hatten den Tunnel betreten. 114
»Richtig vermutet«, flüsterte Hatib und wandte sich auf die andere Seite der Mauer. »Sie versuchen es durch den Gorm.« Durch die steilen Wände des Kanals arbeiteten sich die Wölfe Richtung Gerberplatz vor. ›Kommt nur‹, dachte Hatib, und seine Finger krallten sich vor Ungeduld ins Mauerwerk. ›Kommt nur herein.‹ Die Minuten dehnten sich wie Stunden. Der Strom der in die Stadt schleichenden Wölfe riss nicht ab. Dann stockte er. Die Ersten waren ans Ende des Kanals gekommen und hatten bemerkt, dass er keinen Ausgang besaß. »Sollen wir fluten?«, flüsterte Gebork. »Noch nicht«, antwortete Hatib. »Erst müssen sie Angst bekommen. Todesangst.« Wie durch Zauberei verschwand die unheimliche Disziplin von Morgreals Nebelheer. Stimmen wurden laut – ein leises Murmeln, das die schwarze Masse teilte und ihr die Konturen von Menschen gab, die mit einem Mal von Blutgier in tiefe Unsicherheit fielen. Vom Schleusentor kam ein unterdrückter Ausruf: Die ersten Barkuri hatten sich erhoben. »Verrat!«, tönte es aus dem Kanal. Dann gellte Hatibs Stimme durch die Nacht: »Fallgitter runter! Schleuse auf!« Die Wölfe schrien entsetzt. Plötzlich wurde es taghell. Wie eine Mauer standen die Barkuri mit Langbögen und spitzen Stöcken auf beiden Seiten des Kanals. Jetzt erst war zu sehen, was sich im 115
Schutz der Dunkelheit ereignet hatte. Weit über viertausend Wölfe mussten sich in der vergangenen Viertelstunde durch den Tunnel geschlichen haben, alle dunkel gekleidet. Nur die weißen, vor Angst gebleckten Zähne und die Augen, die nach den Nordländern sahen, durchbrachen ihre Tarnung. Die Angreifer hatten die Stadt von innen brandschatzen wollen; nun waren sie im Kanal gefangen. Vom Gerberplatz kam ein lautes Knarren. »Dein Plan funktioniert«, rief Imril. »Die Schleuse ist auf!« Schon hörte man das leise Donnern der Flutwelle, die sich einen Ausweg aus der Stadt suchte. Ein zweites Gebrüll erscholl aus der Tiefe, lauter und entsetzlicher als das vorige. Die Wölfe gerieten in Panik. In wilder Angst krallten sie sich an das glatte Mauerwerk des Kanals und versuchten verzweifelt, nach oben zu gelangen. Doch die Barkuri hatten vorgesorgt. Nicht der geringste Halt bot sich den hektisch umherfahrenden Händen, und hilflos fielen die Wölfe in die Tiefe zurück. Einer kletterte über den anderen, und auf einem Berg von Menschenleibern gerieten die obersten an den Rand des Kanals. Dort aber wurden sie von den ergrimmten Nordländern empfangen. Entsetzensschreie gellten durch die Nacht. Einen Augenblick sah es aus, als müsste die geballte Todesangst der Wölfe reichen, ihnen ein Entkommen zu gewährleisten. Doch dann schoss Wasser aus dem Dunkel des Gerberplatzes in den Kanal und verwandelte ihn in einen reißenden Strom, der die schwarzen Leiber 116
todbringend durch den Tunnel zog. Hatib spürte die Stadtmauer vom Druck des Wassers beben. Schon fürchtete er, sie werde bersten, da wurde das Fallgitter aus der Verankerung gerissen. Der Strom beruhigte sich wieder, und das Wasser begann zu fallen. Die Katastrophe, die über das Nebelheer hereingebrochen war, hatte nur wenige Minuten gedauert. Trotzdem hatte der Fluss ganze Arbeit geleistet. Der Kanal war freigespült – bis auf einige Wölfe, die ertrunken auf dem Grund lagen; schwarze Mäntel klebten an den Steinen. Mehr war von den Dienern des Schwarzen Prinzen nicht übrig geblieben. »Geschafft!« Hatib hastete auf die Außenseite der Mauer zu Imril und dem Truchtin zurück. »Ist der Ausfall gelungen?« »Ja«, sagte Imril ruhig. »Da hinten ist Olin. Er führt die Barkuri. Aber ich glaube, sie brauchen nicht zu kämpfen. Das Nebelheer ist fort.« Immer noch strömten Nordländer aus der Stadt, mit Schwertern, Äxten, teilweise nur mit einfachen Hämmern bewaffnet, um sich zu verteidigen; Kriegsgeschrei drang herauf. Doch sie fanden keinen Gegner mehr: Das Nebelheer war geflohen. »Dieser Sieg ist nur dir zu verdanken, Hatib«, sagte Imril. »Morgreal hat schnell reagiert«, meinte Hatib ein wenig enttäuscht. »Er hat Befehl zum Rückzug gegeben.« »Wenn er nicht im Kanal umgekommen ist«, meinte Gebork. 117
»Das glaube ich nicht«, antwortete Imril. »Er ist ein feiger Hund und war bestimmt nicht in vorderster Linie.« »Er könnte wiederkommen«, murmelte Hatib. »Vielleicht sammelt er nur seine Truppen und versucht es erneut, diesmal mit einem offenen Angriff. Zuzutrauen wäre es ihm.« Freudestrahlend kehrten die Barkuri in die Stadt zurück. Winkend und lachend strömten sie durchs Südtor. Allen war die Erleichterung anzumerken. Olin ritt voran zu seinem König. »Sieg auf ganzer Linie, Truchtin«, strahlte er. »Weißt du, wohin Morgreal ist?«, fragte Gebork ernst. »Er könnte es noch mal versuchen.« »Er flieht mit allem, was er hat, nach Süden!«, lachte der Hauptmann. »Ich habe ihm Reiter nachgeschickt – wenn die Wölfe kehrtmachen, erfahren wir das rechtzeitig.« »Hoffen wir’s«, sagte Hatib erleichtert. Allmählich stellte sich auch bei ihm Siegesfreude ein. Nur Imril blieb ernst, wie es seine Art war. »Heute kommt er nicht mehr. Aber eines Tages kehrt er gewiss zurück, mit einem noch größeren Heer. Der Schwarze Prinz duldet keine Gegenwehr.« »Aber dafür wird er Zeit brauchen«, sagte Gebork und nahm den Waldläufer am Arm. »Morgen ist morgen, und heute ist heut. Wenn Morgreal wiederkommt, werden wir uns ihm entgegenstellen, aber jetzt feiern wir unseren Sieg.«
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5 Karun und Kamin »Wer sich auf den Falken setzt«, sagte Imril, »dem werden die Winde zum Grab.« So endete die Auseinandersetzung der Barkuri mit Morgreal, die als Erste Schlacht von Barku in die Geschichte eingehen sollte. Doch war sie nur ein kurzer Sonnenstrahl im tobenden Unwetter dieses Krieges, den der Schwarze Prinz entfesselt hatte, um die Pforte von Sklava Mhor zu vollenden. Die Barkuri feierten den Sieg bis Tagesanbruch. Erst am späten Vormittag trafen die Kampfgefährten wieder im Beratungssaal des Palasts ein. Rafai erstattete Bericht über die Ereignisse der Nacht. »Das Nebelheer marschiert ohne Deckung nach Süden«, sagte er. »Es sieht nicht aus, als wollte es noch mal umkehren.« »Das könnte eine Finte sein«, gab Hatib zu bedenken. »Glaube ich nicht«, erwiderte Rafai. »Das gestrige Erlebnis ist ein Schock für Morgreal gewesen. Für alle Fälle haben wir ihm Beobachter nachgesandt, die uns warnen, falls er es sich doch noch anders überlegt.« »Wie viele Männer hat er verloren?«, fragte Gebork. »Wir haben die Ertrunkenen an den Ufern des Gorm gezählt, Truchtin«, sagte Olin. »Fast dreitausend Mann haben im Kanal ihr Leben gelassen. Lei119
der auch drei von unseren Leuten, die von den Wölfen ins Wasser gezogen wurden, als die Flut kam.« Die Anwesenden senkten die Köpfe. Bis auf Imril. »Es wird noch mehr Tote geben, Truchtin«, sagte er finster. »Denn eines Tages kehrt Morgreal zurück.« »Ich weiß«, antwortete Gebork leise. »Und das nächste Mal wird sein Heer noch mächtiger sein.« Er musterte die Anwesenden. »Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg. Vielleicht ist der Schwarze Prinz jetzt noch zu stark mit der Vollendung der Pforte beschäftigt, doch irgendwann wird er sich an uns erinnern. Und dann stehen wir allein gegen eine riesige Übermacht. Ich habe Boten ausgeschickt – zu Kodo, dem Obermann von Moloil, zu Kait vom Ysen und zu Gerrit von Algabal. Sie werden uns sicher zu Hilfe kommen; schon immer haben sich die Nördlichen Königreiche gemeinsam verteidigt.« »Hoffen wir das Beste«, sagte Hatib. »Wann werden die Männer eintreffen?« »Schwer zu sagen. Kodo von Moloil ist klug und wird sich nicht lange zieren, aber Kait vom Ysen ist misstrauisch und wird viele Fragen stellen, ehe er Kämpfer schickt.« »Wie viele Männer können die drei entbehren?«, fragte Rafai. »Etwa zehntausend«, antwortete der Truchtin. »Der Schwarze Prinz kann bestimmt das Dreifache gegen uns ins Feld führen.« 120
Gebork nickte düster. »Ich weiß.« »Wenn wir deswegen Angst bekommen«, sagte Olin entschlossen, »brauchen wir mit der Beratung gar nicht erst fortzufahren.« »Ich habe nun mal Angst«, gab der König zu. »Das heißt nicht, dass ich mich vor dem Schwarzen Prinzen verkrieche, Olin. Ich stelle mich nur den Fakten. Wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen.« »Unsere Möglichkeiten sind aber noch nicht ausgeschöpft«, sagte Imril. Gebork wandte sich überrascht um. »Wer könnte uns denn noch helfen? Ich weiß niemanden.« »Vergesst die Waldläufer nicht, Truchtin.« Gebork machte große Augen. »Die Waldläufer? Die sind doch über die Lande verstreut.« »Es gibt ein Mittel, sie zu sammeln. Den Großen Ruf – den Ayaddain.« Olin lächelte. »Davon hat mir mein Großvater erzählt, dessen Bruder auch ein Waldläufer war. Das ist über fünfzig Jahre her. Der Ayaddain ist ein Ruf, der einen Zauber in sich trägt. Nur wenige Menschen beherrschen ihn, und noch weniger Orte gibt es, wo man ihn ausführen kann. Bist du ein Herr des Ayaddain, Imril?« Der Waldläufer nickte. »Es gibt nicht mehr viele von uns«, sagte er leise. »Es hat nie über ein Dutzend gegeben«, entgegnete Olin. »Mehr wurden nicht eingeweiht.« »Du weißt viel über mein Volk«, sagte Imril aner121
kennend und wandte sich an den König. »Wenn ich den Ayaddain ausführe, sind alle Waldläufer binnen Stunden zu mir unterwegs.« »Und wo kannst du ihn ausführen?« »Ein für den Ruf geeigneter Ort ist das Verbotene Land, ein anderer die Ostmauer. Aber beides ist zu weit entfernt; es würde Wochen dauern, dorthin zu gelangen. Der einzige Ort, der noch in Frage kommt« – Imril machte eine Pause und schaute in die Runde –, »ist der große Karnin im Fernfeld.« Im Raum herrschte fassungslose Stille. »Das geht nicht«, wandte Gebork schließlich ein. »Du weißt, wer das Fernfeld beherrscht. Außerdem ist der Winter eingebrochen – du wirst erfrieren.« »Ich bin Waldläufer. Ich kenne das Fernfeld und bin schon bis zum Karun gewandert, wo die Wolkenburg Korvo steht. Einer wie ich erfriert nicht so leicht.« Hatib sah Gebork schaudern. »Was hat es damit auf sich?«, fragte er. »Das ist eine lange Geschichte«, wehrte der König ab. Das Thema schien ihm unangenehm. »In Korvo wohnt der Herrscher des Fernfelds«, antwortete Imril an seiner Stelle. »Man nennt ihn …« »Sprich seinen Namen nicht aus!«, rief Gebork. »Du weißt, das bringt Unglück.« »Unglück gibt es nicht«, entgegnete Imril hart. »Nur Laune und Zufall. Den Tanzenden Tod nennt man ihn, und hierher kommt er nicht, mein König, denn in Barku ist es ihm zu warm.« 122
»Zu warm?« Hatib schaute nachdenklich ins Schneegestöber. »Er wird dich töten«, sagte Olin. »Der Tanzende Tod ist schlimmer als alle bösen Mächte im Norden. Sogar der Schwarze Prinz hat Angst vor ihm.« »Ich nicht«, knurrte Imril. »Man muss nur vorsichtig sein.« »Du willst wirklich das Fernfeld überqueren und auf den Großen Karnin steigen, um den Ayaddain auszuführen?«, rief Gebork. »Das ist glatter Selbstmord! Du wirst nie zurückkehren.« »Auch im Fernfeld gibt es Orte, an die der Tanzende Tod nicht gelangt«, sagte Imril. »Unter dem Großen Karnin ist ein geheimer Versammlungsplatz aus der Zeit, als Korvos Augen noch geschlossen waren. Dort kann ich mich verstecken.« Er wandte sich an Hatib. »Ich werde Hilfe brauchen. Bist du bereit, mich zu begleiten?« »Gern«, antwortete der. »Wann brechen wir auf?« »Jetzt. Jeder Tag ist kostbar.« Gebork dachte nach. »Wenn ihr euch schon nicht davon abhalten lasst, eure Haut zu riskieren, wäre es sinnvoll, ihr würdet im Fernfeld nach einem Mann suchen, der uns helfen könnte.« Jetzt war es an Imril, überrascht zu sein. »Im Fernfeld lebt jemand?«, fragte er verblüfft. »Ich habe euch nichts davon erzählt, weil ich es für unwichtig hielt. Vor einem halben Jahr kam ein Mann auf der Flucht durch Barku: Gerk, ein Hohepriester aus dem Tempel der Wahrheit, der sich an 123
den Pforten des Verbotenen Landes befindet.« »Gerk vom Tempel der Wahrheit?« Imril schien den Namen schon gehört zu haben. »Sein Tempel wurde zerstört«, berichtete Gebork. »Er machte nur dunkle Andeutungen, von wem. Jetzt weiß ich, dass es der Schwarze Prinz gewesen sein muss. Der Priester konnte als Einziger entkommen und nahm das Heiligtum des Tempels mit – einen goldenen Ring, der wundertätige Kräfte hat. Durch ihn sieht man die Wahrheit. Gerk wollte sich im Fernfeld verstecken. Dort würde man ihn nicht suchen, sagte er.« »Seltsame Geschichte«, brummte Imril. »Ein Priester der Wahrheit im Fernfeld.« »Ich weiß nicht, ob er uns helfen wird«, meinte Gebork. »Er ist grau und müde. Aber zumindest kann man es versuchen.« »Geht mit meinem Segen!«, sagte der Truchtin und legte Hatib und Imril die Hand auf die Stirn. »Und nehmt euch in Acht vor dem Tanzenden Tod!« »Das werden wir«, versprach Imril. Hatib schüttelte Olin und Rafai die Hand. »Ich hoffe, wir kommen rechtzeitig zurück. Ich würde die Stadt gern so wiedersehen, wie ich sie verlasse.« »Das wirst du nicht«, widersprach Olin grimmig. Er hatte sich in die Idee verliebt, aus Barku eine Festung zu machen. »Bis dahin wird sie Türme und Zinnen wie eine Märchenburg haben – und Pech und Schwefel, um dich würdig zu empfangen.« 124
Hatib lächelte. »Lebt wohl, alle miteinander!« Mit diesen Worten ritten sie durchs Nordtor. Auf den Mauern standen die Barkuri und winkten ihnen nach. Der Winter war über die Nördlichen Königreiche eingebrochen, und die Nordstraße war nur schemenhaft unter der Schneedecke zu erkennen. Vom weichen Trab der Pferde abgesehen herrschte völlige Stille; die beiden genossen es, den Lärm und die Aufregung der letzten Tage in der Stadt zurückzulassen. Sie kamen gut voran und betraten am dritten Tag Moloil, das entlegenste und größte der Nördlichen Königreiche. Zwei Drittel dieses Landes sind fast unbewohnt, denn der Boden ist karg, und der Winter dauert über sieben Monate. Hinter diesem nördlichsten Vorposten der Menschen beginnt das Fernfeld. Ein kalter Wind blies und fegte den pulvrigen Schnee beiseite; in die verwitterten Steinplatten der Nordstraße waren Zeichen eingeritzt, die seit Jahrhunderten sinnlos geworden waren. »Das sind Wegweiser«, erklärte Imril. »Siehst du die Spirale mit nach außen gebogenem Ende? Das ist das Zeichen für eine Stadt, und da sie nach rechts weist, muss sie sich im Osten befunden haben.« »Die gibt es nicht mehr, was?«, murmelte Hatib. Imril grinste. »Siehst du das Menschlein da mit langen Beinen? Das ist das Zeichen für Araukarien Die laufen immer weg, wenn sie Angst haben.« »Von wegen«, knurrte Hatib. »Siehst du den Kreis 125
mit den zwei Ovalen? Das ist das Zeichen für Imril, denn dem zieh ich die Ohren lang, wenn er sich weiter über mich lustig macht.« In den letzten Tagen hatte der alte Waldläufer Hatibs ganze Achtung errungen. Es war, als könne er mit den Landen selber reden, so sicher fand er sich in ihrer lebensfeindlichen Umgebung zurecht. Immer entdeckte er einen geschützten Platz zum Übernachten. Auf die Pferde, die mit jedem Tag schwächer wurden, nahm er kaum Rücksicht. Er war hart und hatte selten Mitleid, doch Hatib vertraute ihm bedingungslos. Eine Woche nach ihrem Aufbruch kamen sie über eine Kuppe und erblickten die Stadt Moloil zu ihren Füßen. »Ein stiller Ort«, sagte Hatib. »Wahrscheinlich könnte man sich hier gut ausruhen.« Nur Rauchsäulen verrieten die beinahe eingeschneite Stadt, deren niedrige Häuser weit vorkragende Holzdächer hatten. Moloil mochte siebentausend Einwohner zählen. »Wir machen lieber einen weiten Bogen«, erwiderte Imril. »Sonst müssen wir zu viele unbequeme Fragen beantworten.« Eigentlich war Moloil gar kein Königreich. Alle sieben Jahre wurde ein Vorsteher gewählt, die mageren Regierungsgeschäfte zu führen. Ein kleines, unbedeutendes Reich – und dennoch nahm es eine Sonderstellung ein. Moloil lag an der Grenze der damals bekannten Welt, in der Grauzone zwischen der Herr126
schaft der Menschen und der des Tanzenden Todes. Die Bewohner waren gastfreundlich, aber nachdenklich. Nirgendwo waren die alten Geschichten und Sagen lebendiger als hier. »Eigentlich schade«, meinte Hatib. »Ich hätte gern erfahren, was man sich hier vom Tanzenden Tod erzählt.« »Frag mich doch.« Imril lächelte. »Ich weiß alles über ihn, aber ich wollte dir keine Angst machen.« »Keine Sorge.« Und während sie um Moloil einen weiten Bogen machten, begann Imril, von ihm zu erzählen. »Hüte dich, wenn der Tod tanzt! So sagt man im Reich von Moloil, und dieser Spruch hat seine Wahrheit.« Imril senkte die Stimme. »Der Tanzende Tod ist alt, älter als wir Menschen, und seine Geschichte beginnt zu einer Zeit, da noch Riesen die Erde bewohnten. Sie lebten an den südlichsten Gestaden des Falun – in den antuliolischen Ebenen. Die Riesen hatten einen König, Karnin. Er war ein guter, wohlwollender Herrscher. Jedes Jahr zählte er sein Volk und trug die Namen der Neugeborenen in ein steinernes Buch ein. Karnin hatte zwei Söhne, Karun und Karenin. An Karenin hatte er Freude, denn er war ein aufrechter Riese wie er selbst, und er hatte ihn schon im Geist zu seinem Nachfolger bestimmt. Karun hingegen war ein schwacher Charakter, maßlos in allen Dingen und unheilbar eifersüchtig. Eines Tages kam es zum Streit zwischen den unglei127
chen Geschwistern, und Karun tötete seinen Bruder. Sofort erfüllten ihn Reue und Scham, und er floh mit seinen Dienern nach Norden, zog durchs Fernfeld und erreichte die Feuersümpfe an der Grenze Drehnlands, die von der Ul-Um, der Stiefmutter allen Lebens, bewacht wurden. Die Feuersümpfe, die Drehnland wie ein Gürtel umgeben, sind lebensfeindlich. Giftige Gase strömen aus Glutspalten und verbreiten Pesthauch über dem Land. Wer den Fuß in diese Sümpfe setzt, versinkt, denn der dünne Boden ist trügerisch. In den Feuersümpfen trieb die Ul-Um, eine böse Hexe, ihr Unwesen. Sie hatte nur eines im Sinn: Verderben über alles Leben zu bringen. Meist erschien sie als hässliches altes Weib, konnte sich jedoch in vielerlei Gestalt verwandeln. ›Was willst du hier?‹, rief sie ärgerlich, als sich der Königssohn näherte. Weil Karun sein Verbrechen nicht zugeben wollte, sagte er: ›Unser Volk ist so zahlreich geworden, dass die Lande es nicht mehr ernähren. Dürfen wir auf deinem Gebiet wohnen?‹ Die Ul-Um durchschaute die Lüge sofort und wurde böse, ließ sich jedoch nichts anmerken. Eigentlich glaube ich nicht, dass ihr in meinem Reich heimisch werdet. Es ist nicht für euresgleichen gemacht. Doch wenn du unbedingt willst, lass dich mit deinen Untergebenen in meinem Schoß nieder.‹ Hoffnungsvoll betrat Karun mit seinen Dienern das Land, doch kaum waren sie in den Sümpfen, 128
schössen Flammenzungen hoch, und sie versanken in der glutflüssigen Erde. Qualvoll gingen sie zugrunde, und von Karuns Gestalt blieb nur ein großer schwarzer Berg. Die Ul-Um schaute zu und freute sich an ihrem Hexenwerk. ›Ich weiß, dass du deinen Bruder erschlagen hast!‹, rief sie. ›Das ist die Strafe dafür, dass du mich belogen hast!‹ Dann verwandelte sie sich in eine große, hässliche Spinne, trank das Blut der Riesen und zog sich tief unter die Erde zu ihren Feueröfen zurück.« »Was hat das mit dem Tanzenden Tod zu tun?«, fragte Hatib. Imril lächelte. »Nicht so ungeduldig. Karnin, der alte König, war in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen. Er hatte herausgefunden, wohin sein Sohn sich gewandt hatte, und brach ebenfalls nach Norden auf. Alle Getreuen folgten ihm – bis auf Ayakil, den Hirten, der draußen bei den Schafen gewesen war. In den Feuersümpfen hielt der König an und rief nach Karun. Da verwandelte sich die Hexe wieder in ein altes Weib, trat vor Karnin und fragte: ›Wer bist du?‹ ›Der König der Riesen. Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn, der seinen Bruder getötet hat und geflohen ist.‹ ›Ich habe ihn gesehen. Der Mord hat ihn hart und grausam gemacht. Er wollte mich umbringen und mir mein Reich nehmen, da habe ich ihn in Stein verwandelt.‹ 129
Der König weinte und sagte: ›Ich weiß, er hat böse gehandelt. Aber ist er auf immer verloren? Ich glaube, etwas Gutes ist doch in ihm.‹ ›Was geschehen ist, ist geschehen‹, erwiderte die Ul-Um, ›und was ich tat, war recht getan. Doch ich kann ihm das Leben zurückgeben – wenn du dich dafür mit deinem Volk in Stein verwandeln lässt.‹ ›Warum das denn?‹, fragte der König erschrocken. ›Weil du Vergebung für einen erbittest, der mir Böses wollte‹, sagte die alte Hexe. ›Mir ist gleich, wer die Strafe bekommt, aber einer muss zahlen.‹ Warum Karnin in diesen Handel einwilligte, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben, doch er nickte. ›Einverstanden.‹ Da tat die Ul-Um einen Spruch, verwandelte den alten König und sein ganzes Heer in die heutigen Karninberge und lachte dann schallend und böse. ›Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen. Doch du sollst keine Freude an deinem Sohn haben, Riese!‹ Sie grub sich durch erstarrte Lava zu Karun hinunter, riss ihm das Herz heraus, besprach es und hauchte ihm Leben ein – kaltes und böses Leben. Karuns Geist erwachte. Er erhob sich und fragte: ›Bist du meine Mutter?‹ ›Nein. Doch du wirst mein Sohn sein.‹ Und aus Karun, dem Riesen, wurde der Tanzende Tod. Er altert nicht und stirbt nicht. Bis heute fegt er als grauer Sturm an den kahlen Hängen der Karninberge entlang, die um seinetwillen ein schlimmes Schicksal auf sich genommen haben. 130
Am Fuß des Karunbergs schuf die Ul-Um ihrem Stiefsohn eine Heimat: Korvo, die Wolkenburg. Manchmal zog er sich Jahrzehnte dorthin zurück, um – versorgt von den Nachtmahren – über bösen Gedanken zu brüten. Zu dieser Zeit kamen die Targi, die Bewohner des Reiches von Thingal, voller Hoffnung, das kalte Land unter den Pflug zu nehmen. Doch vom Lärm ihrer Arbeit wachte er auf und brach mit furchtbarer Gewalt hervor. Wer sich nicht retten konnte, erfror im tödlichen Tanz von Kälte und Eis. Die Targi verschwanden oder suchten Zuflucht in den Karninbergen. Seitdem herrscht der Tanzende Tod unangefochten übers Fernfeld.« »Und dorthin gehen wir?«, brummte Hatib. »Na, danke.« »Ich hatte dich gewarnt!« »Ich bereue meine Entscheidung ja gar nicht. Ich wollte bloß wissen, was mich erwartet.« »Bei uns gibt es ein Sprichwort«, meinte Imril. »Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab. Und du hast einen Waldläufer zum Gefährten gewählt …« »Noch dazu einen, der liebend gern dunkle Geschichten erzählt und seltsame Sprüche aufsagt«, murmelte Hatib. Sie hatten Moloil umrundet und mussten sich fester in ihre Mäntel wickeln. Die Kälte veränderte das Gesicht und nahm die Züge eines fauchenden Tiers an, gegen dessen böse Krallen ihre Kleidung nutzlos schien. 131
»Vor uns liegt der Arin-Gollan«, sagte Imril. »Dahinter kommt das Fernfeld.« Hatib war beklommen, als sie sich an den flachen Anstieg machten. Die Straße versank metertief im angewehten Schnee, und sie mussten absteigen und die Pferde am Zügel führen. Nach einer Stunde sah Hatib in der weißen Fläche einen Pfahl auftauchen. »Ist das die Grenze?« »Ja, das ist der Gollan. Dort endet die Herrschaft der Menschen. Als der Tanzende Tod die Targi aus dem Fernfeld vertrieben hatte, zog er seine Verderben bringende Bahn weit in die Nördlichen Königreiche.« Sie waren vor dem Granitmonolith angekommen, der eine Höhe von gut zweieinhalb Metern hatte. »Der ist ja mit Schriftzeichen bedeckt.« Vorsichtig fuhr Hatib mit der Hand über die schwarzen Runen. »Das ist der Bannfluch der Priester der Wahrheit. Der Tanzende Tod darf diese Grenze nicht überschreiten. Auch im strengsten Winter sind die Nördlichen Königreiche vor ihm sicher. Dafür ist das Fernfeld für Menschen verboten.« Hatib musterte die Runen. »Halt!«, schienen sie zu rufen. »Bis hierher und nicht weiter.« Eigenartig, dass Gerk gerade hier Zuflucht gesucht hat.‹ »Schau«, sagte Imril. »Wir sind da.« Vor ihnen fiel das Gelände leicht ab, und unendlich weit dehnte sich das tote Fernfeld – eine verlassene Ebene aus Steinen und grauem Geröll, im Osten be132
grenzt von den Karninbergen, deren Gipfel sich wie ein gezackter Drachenrücken zum Horizont wanden. Hatib stand wie erstarrt und konnte die Augen nicht abwenden. Unermesslich groß wirkte das Fernfeld; die raue Weite erschütterte ihn. Die Landschaft schien auf eigenartige Weise mit ihm verwandt – als habe er sie schon immer im Herzen getragen. »Schön, nicht wahr?« Imril schien Gedanken lesen zu können. »Viele Waldläufer denken wie du. Bis heute krallen sich sogar noch ein paar Targi in den Karninbergen fest – allen widrigen Umständen zum Trotz.« »Tatsächlich?«, fragte Hatib überrascht. »Sie sind zäh und haben Jahrhunderte überdauert.« »Also gibt es doch Menschen hier.« »Der Tanzende Tod weiß davon und duldet sie. Uns nicht.« »Dann frage ich mich, wo der Priester untergekommen ist.« »Er nimmt ein großes Risiko auf sich. Vielleicht helfen ihm die Targi, doch das Fernfeld ist kein Spielplatz. Erst recht nicht für alte Priester.« Hatib betrachtete schweigend die unwirtliche, windgepeitschte Landschaft. Die Nordstraße schlängelte sich den Arin-Gollan abwärts, bis sie einen sanften Knick nach rechts machte und, eng an die Flanke der von Osten heranbrandenden Bergketten geschmiegt, als schmales Band nach Norden führte – in die hereinbrechende Dunkelheit. Wo sie an den Horizont stieß, überragte ein Berg alle anderen. 133
»Der Große Karnin«, sagte Imril. »Er ist nur dreißig Meilen entfernt, aber das ist das gefährlichste Stück der Wanderung. Hier gibt es keinen Unterschlupf vor dem Tanzenden Tod.« ›Ein wildes Lands dachte Hatib und zog die Kapuze fester. ›Es breitet sich aus wie eine große Geschichte. Man muss nur die Ohren spitzen und zuhören.‹ Sein Pferd schnaubte heiser. »Lange werden die Tiere das nicht überleben«, sagte Imril. »Ich hoffe, sie tragen uns bis zum Karnin.« »Und dann?« »Dann schlachten wir sie. Wir brauchen Fleisch.« Der Ritt durchs Fernfeld kostete Kraft. Eiskalter Ostwind fegte von den Bergen herab und brachte stechenden Nebel und den Geruch von Schnee. Die Sonne war nur selten als kraftloser Ockerball am südlichen Horizont zu sehen, und auch die Grate und Berggipfel verloren sich in den Wolken. Graue Geröllhänge säumten die Straße; manchmal wichen sie zurück und gaben den Blick in ein verhangenes Tal frei. Am Abend des zweiten Tages durchbrach Imril das Schweigen. »Wir sind da«, sagte er dumpf durch seinen wollenen Schal und wies nach Osten. »Der Karnin liegt zur Rechten. Siehst du den Steinhaufen da? Er zeigt den Weg zum Versammlungsplatz.« Sie stiegen ab und führten die schwachen Pferde schräg den Hang hinauf ins Geröll hinein. Imril kannte den Weg genau. Keine halbe Stunde, nach134
dem sie die Nordstraße verlassen hatten, wandte er sich scharf rechts einer Felsgruppe zu. »Die Spalte dort?« Der Waldläufer nickte. »Na endlich. Bin ich froh, aus der Kälte zu kommen!« Vor dem Felsspalt stand wieder ein Pfahl. »Die Priester der Wahrheit haben auch diesen Platz mit einem Schutz versehen.« Imril hatte Hatibs Gedanken wieder erraten. »Der Tanzende Tod kommt hier nicht herein.« »Du magst die Priester der Wahrheit trotzdem nicht besonders, oder?« »Komm.« Sie führten die Pferde in den Spalt. Dumpfe, feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Nach dem tagelangen Heulen des Windes kam es ihnen hier unnatürlich still vor. Nach etwa zehn Metern spürte Hatib, wie der Raum sich weitete. Dann wurde es hell: Imril hatte eine Fackel angezündet. Im Lauf der Jahrhunderte war der Versammlungsplatz erweitert und eine riesige Halle aus dem Felsen gehauen worden, deren Decke sich in flackernden Schatten verlor. Der Ort mochte über fünftausend Menschen Platz bieten. »Seit wann ist hier niemand mehr gewesen?«, fragte Hatib fasziniert. »Seit gut dreißig Jahren. Als der Tanzende Tod erwachte, wurde es hier zu gefährlich. Aber …« Imril schnupperte. 135
»Was ist?« »Ich rieche Rauch. Hier hat ein Feuer gebrannt.« Er wandte sich ab, und Hatib folgte ihm. Nach kurzer Suche stießen sie auf die erkalteten Reste einer Feuerstelle. Imril kniete nieder. »Nicht älter als zwei Wochen.« »Gerk vermutlich«, sagte Hatib. »Dann ist er weitergezogen.« »Oder umgekommen.« Imril hatte die Hand zur Faust geballt. »Wahrscheinlich hat der Tanzende Tod von ihm erfahren, und da hat er sich hier verkrochen, um abzuwarten.« »Warum ist er dann verschwunden?« »Das frag ich mich auch.« Nachdenklich zerkrümelte Imril etwas Asche. »Er muss ein besseres Versteck gefunden haben.« »Glaubst du wirklich, er wagt sich ins offene Gelände, wenn der Tanzende Tod ihn sucht?« »Er besitzt den Ring der Wahrheit, Hatib. Er kann ihn zu jeder Zeit sehen. Nein, Gerk ist nicht tot.« Imril lächelte säuerlich. »Das kommt ungelegen. Der Priester hat den Tanzenden Tod geweckt – und der wird wiederkommen. Ich muss den Ayaddain so schnell wie möglich ausführen.« »Das heißt, wir gehen im Dunklen auf den Karnin?« »Nein. Eine Nacht in den Bergen würden wir nicht überleben. Aber wir marschieren vor Morgengrauen los. Der Tanzende Tod kann uns Wochen festhalten – dann ist es für Barku zu spät.« 136
Hatib wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als Imril ihn wachrüttelte. »Zieh alles an, was du hast.« Er wickelte sich aus seiner Decke und stand hastig auf, denn er hatte die Anspannung seines Gefährten bemerkt. Es war noch dunkel. Erst zwei Stunden später begann es zu dämmern. Der Weg führte geradewegs ins Gebirge. Hatib hatte das Gefühl, angestarrt zu werden. Immer wieder glaubte er, an den nebligen Hängen huschende Schatten zu erkennen. »Siehst du die Targi?«, fragte Imril prompt – und laut, um den Wind zu übertönen. »Sie lassen uns nicht aus den Augen.« »Ahnen sie, was du vorhast?« »Sie werden den Ayaddain mit Sicherheit hören.« Dunkel und steil ragte der Karnin vor ihnen auf. Wie die anderen Berge verbarg er sein Haupt in den Wolken. Bald marschierten sie in einem Nebel aus tausend gefrorenen Nadeln, die ihnen das Gesicht zerstachen. Hatib senkte den Kopf und konzentrierte sich auf den Weg. Ein Schritt, noch einer, und immer auf den Boden geschaut. Immer höher ging es. »Was hat es mit dem Ayaddain eigentlich auf sich?« »Das ist ein Zauber aus der Zeit von Thingal. Nur wir Waldläufer kennen sein Geheimnis.« »Habt ihr denn besondere Fähigkeiten?« Imril ließ sich mit der Antwort Zeit. »Wir verbringen unser Leben draußen in den Lan137
den«, sagte er schließlich. »Ich vermute, damit hängt es zusammen. Weißt du, die Wildnis schärft einem die Sinne. Irgendwann kann man fühlen, was einem das Gras sagen will – und die Bäume, die Flüsse und Steine. Man kann nicht mit ihnen reden, weil sie keine Ohren haben und nur ihre eigenen traurigen Geschichten erzählen. Aber man kann sich ihre Kräfte zunutze machen – sie einen Gedanken aussprechen lassen. Oder eine Warnung, die jeder Waldläufer hören wird.« Plötzlich wurde es hell. Hatib und Imril hatten das Wolkenfeld überwunden. Ein kalter, dunkelblauer Himmel wölbte sich über ihnen, und die Sonne, die weit vor dem Winter in den Süden geflohen war, beschien die Berglandschaft mit kristallklarem Licht. In jungfräulichem Weiß thronte der Karnin über ihnen – ein wild zerklüfteter Felsgipfel, der wie ein verlassener Adlerhorst das Gebirge überragte. »Beeilen wir uns«, sagte Imril. »Wenn wir den Berg nicht bezwingen, wird er uns töten.« Bald waren ihre Hände aufgeschürft vom rauen Stein, doch schon lagen die Schneefelder weit unter ihnen. Dann, die Sonne sank schon, gelangten sie endlich zum Gipfel. »So eine Aussicht hat man nicht alle Tage«, sagte Imril. Ein überwältigender Anblick bot sich ihnen. Die Berggipfel erhoben sich steil über das wilde Wolkenmeer und schauten hochmütig auf die Nebel herab, deren immerwährendes Treiben sie den Niede138
rungen entzog. Wolken bäumten und türmten sich an ihren Flanken auf, um sie zu verschlingen, zerbarsten dann aber in einer Gischt aus aberunzähligen Eiskristallen, die gleißend wieder in die Tiefe sanken. Aus dem schneebedeckten Gipfel des Großen Karnin ragte ein meterhoher Basaltwürfel, dessen Seiten spiegelglatt waren. »Haben die Targi diesen Stein so behauen?«, fragte Hatib und fuhr mit der Hand über die Oberfläche. »Sie sagen, er sei das versteinerte Herz des Karnin. Hier konzentriert sich die Macht der Lande. Auf seiner Oberseite befindet sich eine Vertiefung – die Fassung für einen Edelstein. Wenn man den einsetzt, wird er so hell strahlen, dass er die Kälte für immer aus Drehnland vertreibt. Und den Tanzenden Tod. Dann wird der Karnin wieder zum Leben erwachen, und das Zeitalter der Riesen beginnt von Neuem.« ›Und wieder ist die Rede von einem Stein.‹ Hatib erinnerte sich an die Sage vom Erft, die Bolgan, es schien Jahre her zu sein, aus der Rechenschaft vorgelesen hatte. Imril sah sich um. »Die Sonne geht gleich unter. Doch nicht einmal der Tanzende Tod kann jetzt noch verhindern, dass die Waldläufer gewarnt werden.« Er kletterte auf den Basaltblock und reinigte ihn sorgfältig vom Schnee. Dann zog er die Schuhe aus. »Was tust du denn da?«, fragte Hatib entsetzt. »Ruhe!«, rief Imril. »Der Ayaddain erwacht.« Mit bloßen Füßen stand er auf dem Stein und streckte beide Arme der Sonne entgegen, die eben 139
mit ihren letzten Strahlen die Szene beleuchtete. Weit unter ihnen stand das Gefolge des Großen Karnin im aufgewühlten Wolkenmeer. Am fernen Horizont sah Hatib zum ersten Mal die Ostmauer – die Grenze der Welt. Als dünner Strich zeichnete sie sich über den Wolken ab. Wie weit mochte sie entfernt sein? Er ahnte nicht, dass Fernd nur wenige Wochen später versuchen würde, sie zu überwinden. »Ein Waldläufer ist es, der zu euch spricht!« Imrils Stimme klang wie aus einer anderen Welt. »Den Ayaddain will ich tun, ihr Mächte der Erde, der Sonne und des Windes, denn es ist Gefahr.« Es wurde heller, als hätte die untergehende Sonne neue Kraft gewonnen. Der schmächtige Körper des Waldläufers wuchs und wandelte sich. Imril begann zu singen – drei hohe, fallende Töne, die langsam anund abschwollen. ›Gefahr! Sammelt euch im Fernfeld, dachte Hatib. Überrascht sah er auf. Dieser Gedanke stammte gar nicht von ihm … ›Die Landes begriff er. ›Sie sprechen durch Imrils Willen.‹ Der Waldläufer sang nun lauter und bedrohlicher. ›Gefahr! Kommt, dachte Hatib wieder. Imrils Körper spannte sich, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Durch seinen Körper lief ein Zittern, dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus, der nicht menschlich und nicht tierisch war. Hoch und schrill brach er aus ihm hervor, und eine gewaltige Macht warf Hatib zu Boden. 140
Der Ayaddain drang über die ganze Welt, über die Ebenen, die Gebirge und Meere, und in den Schluchten des Drehn hallte er schauerlich wider. Er brach sich an der Ostmauer und an den Pforten des Verbotenen Landes, wurde zurückgeworfen und vervielfachte sich, bis schließlich die ganze Welt unter seiner Wucht zu erbeben schien wie eine riesige Glocke nach einem Hammerschlag. Die Waldläufer wandten sich zum Fernfeld, und Entsetzen packte sie. Das Geheimnis des Schwarzen Prinzen war offenbar geworden, das dunkle Siegel zerbrochen: Die Welt war bedroht, ja im Untergang begriffen – und man musste sich vereinen, um sie zu retten. Es wurde still. Imril setzte sich und rang nach Luft. Hatib – sonst durch nichts einzuschüchtern – wagte keinen Ton von sich zu geben. Schließlich kletterte Imril vom Stein und zog sich die Schuhe über die blau gefrorenen Füße. »Gehen wir.« Die Sonne verschwand im feuerroten Wolkenmeer. »Ein Wunder, dass wir den Abstieg überlebt haben«, seufzte Hatib dankbar, als er weit nach Mitternacht den Runenpfahl endlich schemenhaft aus dem Dunkel auftauchen sah. »Der Karnin hat uns beschützt«, sagte Imril. »In all den Jahrtausenden hat er seine Güte nicht verloren.« Der Waldläufer sah angeschlagen aus, und die Falten in seinem Gesicht schienen sich vertieft zu ha141
ben. Der heutige Tag war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Auch die Lande hatten sich verändert. Sie waren erwacht. Fragen summten durch die Welt wie ein Bienenschwarm. Die beiden Pferde waren erfroren und starrten mit gebrochenen Augen zum Himmel. »Es waren tapfere Tiere«, meinte Imril, setzte dann aber hinzu: »Morgen kümmere ich mich um ihr Fleisch.« »Sollten wir nicht besser Gerk suchen, bevor der Tanzende Tod uns findet?«, fragte Hatib. »Nicht wir – du.« »Ich allein?« »Ich werde die Versammlung vorbereiten.« Imril wiegte den Kopf. »Auch der Schwarze Prinz hat den Ayaddain gehört. Er weiß, dass tausend Waldläufer zehntausend Wölfe aufwiegen, und wird alles tun, unsere Zusammenkunft zu verhindern.« »Du meinst, er wird Jagd auf euch machen?« »Es gibt knapp siebentausend Waldläufer in den Landen. Ich bin froh, wenn sich die Hälfte hierher durchschlagen kann.« »Was ist mit den Targi? Helfen die uns nicht?« »Vielleicht.« Imril dachte nach. »Auch sie haben den Großen Ruf gehört und wissen, dass sie gebraucht werden. Sie haben die Zeit nicht vergessen, als das Reich von Thingal den gesamten Norden beherrschte.« Er schloss die Augen. »Aber sie haben Angst«, 142
sagte er leise. »Das habe ich gespürt, als ich den Ayaddain über die Lande gesandt habe. Sie fürchten, der Schwarze Prinz könnte dem Tanzenden Tod die Macht geben, die Grenzen zu überschreiten, die die Priester der Wahrheit ihm gesetzt haben. Sie haben Angst, er könnte die Gollani überwinden und in ihre Berge vordringen. Vielleicht gibt das den Ausschlag.« »Dann bleibt uns noch Gerk«, kam Hatib aufs Thema zurück. »Warum soll ich ihn allein suchen?« »Weil er mich kennt.« Hatib machte große Augen. »Es war keine freundliche Zusammenkunft. Vor einigen Jahren bin ich zum Tempel der Wahrheit gewandert und wollte dem Ring eine Frage stellen. Sie betraf den Schwarzen Prinzen.« »Vor einigen Jahren schon?« »Es war eine Vermutung, nichts weiter«, wehrte Imril ab. »Jetzt weiß ich, dass sie richtig war. Aber ich wurde nicht vorgelassen. Gerk ist kalt und überheblich; sein ganzes Trachten gilt der Sicherung des Rings, für den er sich verantwortlich fühlt. Ich bin damals ziemlich grob zu ihm gewesen. Wenn er mich sieht, wird er uns gewiss nicht helfen.«
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6 Gerk, der Priester der Wahrheit »Der Alte Niemand hat uns nicht nach dem Erft gefragt, als er im Tempel der Wahrheit war«, sagte Gerk. »Wir hätten ihm doch Auskunft gegeben.« ›Jetzt lügst du‹, dachte Hatib. ›Immer, wenn das Gespräch auf den Tempel kommt, fängst du an zu lügen.‹ Das Fernfeld ist ein raues Land, und wer es durchqueren will, braucht Mut. Im Sommer ist es durchaus möglich, denn dann sind die Tage lang und die Winde weniger kalt. Ein einsamer Vogel zieht über den Himmel, und vielleicht sieht man einen scheuen Hasen, der – kaum entdeckt – in die Gerölltäler der Karninberge flüchtet. Der Tanzende Tod dagegen, der Schrecken des Fernfelds, hat sich dann in seine Burg am Karun verzogen und schläft. Im tiefsten Winter aber dauern die Nächte im Fernfeld über zwanzig Stunden, und selbst mittags liegt nur ein diffuses Grau überm Land. Das Schlimmste aber ist der eiskalte Wind, der beständig von den Bergen pfeift. Er dringt einem bis ins Mark und hat schon manchem den Tod gebracht. Durch diesen Kältesturm wanderte eine Gestalt zielstrebig nach Norden. Hatib war seit drei Tagen unterwegs, und der Rucksack lastete schwer auf seinen Schultern, doch er verlangsamte seinen Schritt um keinen Deut. 144
Nur hin und wieder knirschten schüttere Grasbüschel unter seinen Füßen. Seit der Trennung von Imril hatte sich die Szenerie nicht verändert. Im Osten versteckten sich die Karninberge in den Wolken. Nur selten waren Felszacken hinter den Schneevorhängen zu erkennen, düster und bedrohlich, als könnten die Riesen jeden Moment zu neuem Leben erwachen. ›Ich fühle schon wie ein Waldläufers dachte Hatib. Im Zwielicht konnte er kaum etwas erkennen und fürchtete, längst an Gerks Unterschlupf vorbeimarschiert zu sein. Sollte der Priester wirklich so weit nördlich Schutz gesucht haben? Und wo? Korvo konnte nicht mehr weit sein … Missmutig vor Hunger und Kälte, begann Hatib nach einem Schlafplatz Ausschau zu halten, nach einer kleinen Höhle vielleicht oder wenigstens nach einem Stein, hinter dem er Schutz vor dem Sturm finden konnte. Dann blieb er überrascht stehen. Vor ihm lag der Umriss eines Gebäudes, das in Dämmerung und Schnee kaum zu erkennen war. »Seltsam«, brummte Hatib und stapfte auf das Gemäuer zu. Es schien eine verlassene Burg aus der Zeit des alten Thingal zu sein. Ein viereckiger, trutziger Turm lehnte sich, von einer verfallenen Einfriedung umgeben, gegen den Wind, der um die Mauern heulte wie ein Chor verlorener Seelen. Vorsichtig umrundete Hatib das finstere Gemäuer. 145
Was hatte die Targi nur dazu getrieben, sich in dieser menschenfeindlichen Gegend anzusiedeln? ›Sinnlos, darüber nachzudenken. Das Ding ist Jahrhunderte alt, aber ein gutes Nachtlager ist es allemal.‹ Dort, wo einmal das Tor gewesen war, gähnte ein großes Loch. Hatib ging hindurch und kam in den Burghof. ›Ein Gollan‹, dachte er. ›Der Platz ist geschützt.‹ Wie ein mahnender Zeigefinger ragte ein runenbeschriebener Pfahl vor dem Turm auf. Der wirkte völlig verlassen, doch Hatibs Instinkt für Gefahr war geweckt. Etwas stimmte hier nicht. »Ich Idiot«, murmelte er dann. »Ich habe Gerk gefunden.« Er trat ein paar Schritte zurück, legte die Hände an den Mund und schrie hinauf: »Hallo! Ist da jemand?« Doch sein Rufen ging im Heulen des Windes unter. Auf der Turmspitze sah er einen grünlichen Lichtschimmer. Hatib lockerte seinen Dolch, trat an die Tür und pochte. Hohl hallte es drinnen wider. »Ich weiß, dass du da bist«, murmelte er. »Hast du Angst vor mir?« Wie von Geisterhand ging die Tür auf, und Hatib trat ein. Vom oberen Ende der Treppe drang Licht; im Wohnraum musste ein Feuer brennen. Hatib ließ sich nicht verleiten, einfach hinaufzugehen. Vorsichtig öffnete er die Tür zur Rechten. Ein 146
Geruch von Erde und Holz schlug ihm entgegen. Dieser Raum wurde offenbar als Vorratslager genutzt. ›Er muss Helfer haben‹, dachte Hatib. ›Jemand hat diesen Schlupfwinkel für ihn vorbereitet.‹ Die Treppe zum Wohnraum war steil und rutschig und endete nach zwölf Stufen an einer weiteren Tür, die angelehnt war. Hatib drückte sie auf. Felle von Schneehasen lagen auf dem Boden, und an den Wänden hingen Teppiche. Diese Stube passte vielleicht in die Nördlichen Königreiche, doch keinesfalls ins Fernfeld. Ein großer Kamin in der Ecke verbreitete angenehme Wärme. Fenster gab es nicht, nur zwei Schlitze in der Mauer. Ansonsten waren ein großer Tisch mit mehreren Stühlen und ein Regal voll schwerer, alter Bücher zu sehen. Am Tisch saß ein Mann in einem strahlend blauen Samtumhang. Über den Kopf hatte er eine Lodenkapuze gezogen, die an den Rändern mit weißem Fell bestickt war. Er las in einem Buch, und Hatib erkannte die rätselhaften Runen, die auch die Gollani bedeckten. Seltsam: Die Seiten waren schwarz, die Schrift weiß. Endlich blickte der Mann auf – und Hatib erschrak. Die Augen des Alten leuchteten grün wie von Smaragdflammen gespeist und sahen Hatib durchdringend an. Lange, schmale Hände mit gepflegten Fingernägeln sahen aus dem Umhang. ›Das ist Absicht^, schoss es Hatib durch den Kopf. 147
›Er will aussehen wie ein Zauberer. In Wirklichkeit ist er nur ein alter Mann mit grünen Augen.‹ »Willkommen in der Burg der Wahrheit!« Gerks Stimme klang heiser, als habe er lange mit keinem Menschen mehr gesprochen. »Du hast Mut, allein durchs Fernfeld zu wandern!« Er wirkte nicht im Geringsten überrascht über den unerwarteten Besuch. »Guten Abend. Bist du Gerk?« Der Priester reichte Hatib die Hand, ohne aufzustehen. »Woher kennst du meinen Namen?« »Von König Gebork. Er hat mir erzählt, du hast im Fernfeld Schutz gesucht.« Der alte Mann musterte ihn prüfend, als erwarte er in Hatibs Augen die Antwort auf eine wichtige Frage. »Er hat mir gesagt, der Tempel der Wahrheit sei vom Schwarzen Prinzen zerstört worden«, fuhr der fort. »Auch ich bin sein Feind, denn er hat Araukaria, meine Heimatstadt, in Schutt und Asche gelegt.« »Ich weiß«, erwiderte Gerk. »Ich habe es im Ring gesehen. Du hast Glück gehabt, dass du nicht gefangen wurdest.« »Was ist mit den Araukariern geschehen?« »Sie wurden verschleppt.« Gerk wies auf einen Stuhl, und Hatib setzte sich. »Nach Süden, um Sklava Mhor zu erbauen.« ›Er ist bestens informiert, dachte Hatib. Behutsam tastete er sich vor: »Ich habe den Schwarzen Prinzen belauscht und so von seinem Plan erfahren, Barku anzugreifen. Wir sind seinem Nebelheer zuvorgekommen und haben ihn zurückgeschlagen.« 148
»Dann hast du wieder großes Glück gehabt.« Gerk legte die Fingerspitzen aneinander, und in sein Gesicht trat ein dünnes Lächeln. »Unverschämt großes Glück sogar. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihm so mitzuspielen. Er wird wiederkehren und Rache nehmen.« »Die Nordländer werden jedenfalls nicht klein beigeben. Doch sie brauchen Hilfe. Deshalb bin ich mit meinem Gefährten auf den Karnin gestiegen, um die Waldläufer zusammenzurufen. Dann habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht, um …« »Du siehst hungrig aus«, unterbrach Gerk. »Es erzählt sich leichter, wenn man satt und durchgewärmt ist.« ›Und du gewinnst Zeit, dir deine Antworten zurechtzulegen‹, dachte Hatib. Doch sein Magen knurrte tatsächlich. Gerk stand auf, ging durch eine fellbespannte Tür in einen Nebenraum und kam bald mit einem Tablett zurück. Hatib traute seinen Augen nicht: Auf seinem Teller lagen Brot, getrocknetes Fleisch in Streifen und – Äpfel. Äpfel! »Wo kommen die denn her?« »Von den Targi. Sie besuchen mich von Zeit zu Zeit und bringen mir was zu essen. Sie sind uns Priestern der Wahrheit einen Gefallen schuldig.« Er brach ab. Hatib verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. Für kurze Zeit vergaß er seinen Auftrag und genoss einfach, endlich wieder etwas Anständiges in den Magen zu bekommen. 149
»Kanntest du den Alten Niemand?«, fragte er, als er satt war. »Flüchtig.« Gerk faltete die spitzen Hände. »Er ist mal mit einem Anliegen zum Tempel der Wahrheit gekommen, aber wir konnten ihm keine Antwort geben; ich glaube, er wusste auch die Frage nicht so recht.« Ein Lächeln umspielte sein Gesicht. »In den letzten Jahren war er wohl ein wenig wirr, oder?« Hatib wollte auffahren, besann sich aber eines Besseren. ›Er will mich prüfen‹, begriff er. ›Wenn ich wütend werde, hat er einen Grund, mich vor die Tür zu setzen.‹ Also verzog er keine Miene und sagte nur: »Trotz seines hohen Alters wusste er bis zuletzt genau, was er tat. Er hat uns den Auftrag gegeben, den Schwarzen Prinzen zu vernichten.« »Das war nicht nett von ihm.« »Warum?« »Weil es unmöglich ist.« »Es ist unmöglich, wenn man es nicht versucht«, antwortete Hatib ruhig. »Und das kommt auf den Einzelnen an. Ich zum Beispiel habe es geschafft, Barku zu warnen, und jetzt haben wir die Waldläufer zusammengerufen. Vielleicht …« »Ich habe den Ayaddain gehört«, erwiderte Gerk. »Doch ich frage mich, was er bewirkt. Viele Waldläufer werden sterben, ehe sie überhaupt das Fernfeld erreichen. Und um den Rest wird sich der Tanzende Tod kümmern.« »Das wird sich weisen«, murrte Hatib. Gerks 150
selbstgefälliger Pessimismus begann, ihm auf die Nerven zu gehen. »Auf jeden Fall ist es besser sich zu wehren, als mit klugen Worten über den Untergang der Welt zu philosophieren.« Sie starrten sich an, und die Luft schien plötzlich mit Funken geladen. Zorn huschte über das Gesicht des Alten, verschwand aber so schnell, wie er gekommen war. Man wurde nicht Hohepriester, wenn man seine Gefühle nicht im Griff hatte. »Du hast diesen gefährlichen Weg sicher nicht zurückgelegt, um mich zu beleidigen«, sagte er. »Was willst du?« »Zunächst brauchen wir deinen Rat. Wir wissen zu wenig vom Schwarzen Prinzen, zu wenig von dem, was er vorhat. Du hingegen bist ihm begegnet, als er deinen Tempel zerstört hat. Was ist da geschehen?« Gerk zögerte. »Das ist eine lange Geschichte.« Hatib hatte etwas in ihm angesprochen, das noch nicht tot, noch nicht unter Hoffnungslosigkeit begraben war. »Bist du mal im Tempel der Wahrheit an den Toren des Verbotenen Landes gewesen?« Hatib verneinte. »Wir waren dort fünfundzwanzig Priester. Der Ring der Wahrheit hat große Kräfte. Er zeigt die Dinge der Welt, denn in ihm ist nichts als die Wahrheit.« ›Er spricht in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit‹, dachte Hatib. ›Also hat er den Ring noch. Und zwar hier.‹ Gerk starrte nachdenklich ins Feuer. »Unser Leben 151
war dem Ring geweiht und völlig auf ihn ausgerichtet, nicht auf das, was um uns geschah. Das war unser Fehler. Denn wir bemerkten nicht, wie das Böse hinter den Roten Bergen aufstieg und Macht gewann. Dann war es zu spät. Die Pforten des Verbotenen Landes öffneten sich, und die Wölfe kamen heraus. Sie drangen in den heiligen Bezirk und töteten alle außer mir. Dass ich überlebt habe, ist ein Wunder.« Gerk sprach diese Worte ruhig, fast teilnahmslos, doch Hatib spürte, dass dieses Ereignis den alten Priester erschüttert hatte. Unter seiner Maske kochten Wut und Verzweiflung. Er fühlte noch etwas: Schuldbewusstsein. Aber weshalb? »Ich hatte Wache auf dem Tempeldach«, fuhr Gerk fort. »Das hat mir das Leben gerettet. Als das letzte Portal zusammenbrach, lief ich mit noch einem Priester ins Allerheiligste und nahm den Ring. Der hat mich später sehen lassen, wie es den anderen ergangen ist. Es war entsetzlich.« Gerk legte die Hände ineinander, um ihr Zittern zu verbergen. Was immer der Alte verheimlichte – seine Gefühle waren echt. »Die Diener des Schwarzen Prinzen waren uns dicht auf den Fersen. Einige zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten aus: die Gifalken, seine grausamsten Mitstreiter. Meinen Gefährten haben sie getötet, nur ich konnte entkommen. Es war wohl die Macht des Rings, die mich schützte. 152
So ging der Tempel der Wahrheit unter. Wohin sollte ich mich wenden? Auf dem Weg nach Araukaria erfuhr ich, dass selbst die Hauptstadt des Alten Reichs schon vom Schwarzen Prinzen unterwandert war. Die Gifalken waren mir hart auf den Fersen. Sie brauchen keinen Schlaf, und jeden Tag zeigte mir der Ring, dass sie näher kamen. Da beschloss ich, ins Fernfeld zu ziehen und mich in den Schutz der Targi zu begeben. Sie sind uns zu Dank verpflichtet, weil wir die Gollani aufgestellt und den Tanzenden Tod in die Schranken gewiesen haben. Sie sorgen dafür, dass es mir an nichts mangelt.« Gerk legte ein Holzscheit in das erlöschende Feuer. »Warum habt ihr so spät vom Schwarzen Prinzen erfahren? Konntest du nicht sehen, was hinter den Toren des Verbotenen Landes geschah?« »Nein. Mancherorts versagt die Kraft des Rings – zum Beispiel jenseits der Roten Berge, wo Lüge und Falschheit herrschen. Auch hinter die große Ostmauer kann man nicht schauen.« »Schade«, murmelte Hatib. Er sah Resignation und Müdigkeit in den Augen des Alten. Die Erzählung hatte den Priester erschüttert, doch er war sichtlich entschlossen, sich im Fernfeld zu verkriechen, bis der Sturm vorüber war. Oder bis sein Turm, den Gerk großspurig »Burg der Wahrheit« nannte, dem Schwarzen Prinzen nicht mehr widerstehen konnte. Der Ring würde mit ihm unterge153
hen – viel zu sehr hing er an seiner Macht und Faszination. »Wo ist der Ring jetzt?« Gerks Miene verschloss sich, doch er sagte zögernd: »In dem zusammengestürzten Gemach über uns.« »Warum das denn? Dort kann man ihn dir wegnehmen!« »Den Ring der Wahrheit kann man nicht einfach stehlen. Der ist da oben vollkommen sicher.« »Seinetwegen bin ich hier. Kann er mir zeigen, welchen Weg das Wolfsheer genommen hat? Und wie viele Soldaten es zählt?« Gerk schwieg. »Das ist wichtig. Du weißt, was in den letzten Wochen passiert ist. Wir werden es schwer haben.« »Ihr werdet untergehen«, sagte Gerk barsch. »Du brauchst nicht in den Ring zu sehen, um zu erkennen, dass der Schwarze Prinz Herr der Welt ist. Es ist sinnlos, sich dagegen aufzulehnen.« »Das kommt auf einen Versuch an.« Gerk schwieg wieder. »Außerdem habe ich einen Bruder«, fuhr Hatib leise fort. »Er ist allein in den Landen unterwegs. Ich wüsste gerne, wie es ihm geht.« Diese Bitte konnte Gerk kaum abschlagen. »Weißt du, worauf du dich einlässt?« Der Priester beugte sich vor und sah Hatib eindringlich in die Augen. »Der Ring kann dir wehtun, denn die Wahrheit ist hart. Vor allem in diesen dunklen Tagen.« 154
»Ich habe meine Heimat verloren«, antwortete Hatib. »Ich kann die Wahrheit verkraften.« Gerk gab nach. »Dann will ich es dir nicht verbieten.« ›Am liebsten tätest du’s‹, dachte Hatib. ›Aber besser, mich in den Ring sehen zu lassen, als ihn mir zu geben.‹ Er folgte dem Alten in ein Nebenzimmer, wo eine Leiter stand. Gerk lehnte sie unter eine schmale Deckenluke. »Bleib nicht zu lange oben. Die Wahrheit nutzt wenig, wenn man erfroren ist.« »Willst du nicht mitkommen? Ich weiß nicht, wie man mit dem Ring der Wahrheit umgeht.« »Dabei kann ich dir nicht helfen«, erwiderte Gerk ernst. »Was immer du siehst, musst du allein sehen. Deine Wahrheit ist nicht die von jedermann.« Hatib stieg die Leiter hoch und öffnete die Luke. Droben heulte der Sturm. Hatibs Ohren hatten sich nur zu gern an die behagliche Stille im Kaminzimmer gewöhnt. In der zerborstenen Turmspitze war es finster. Nur durch ein samtenes Tuch schimmerte grünes Licht und beleuchtete die Plattform, hinter deren Rändern die Nacht begann. Es hatte wieder zu schneien angefangen, und große Flocken wirbelten herum. Hatib schloss die Luke hinter sich. Vor dem bitterkalten Wind gab es kaum Schutz. Er zog den Mantel fester um sich, hockte sich im Schneidersitz vor das samtene Tuch und hob es ab. Zuerst war der Ring so hell, dass er Hatib blende155
te. Er lag auf einem Block aus schwarzem Marmor, war nicht groß und würde höchstens auf den Ringfinger einer sehr schmalen Hand passen. Behutsam streifte Hatib das Orakel auf den kleinen Finger. »Wo ist Fernd?«, fragte er und hatte Angst vor der Antwort. »Zeig mir meinen Bruder.« Vor Hatibs Augen entstand ein Bild, anfangs verschwommen, als habe die Wahrheit so ihre Mühe. Zu seiner Erleichterung verdichtete sich das Bild dann zu Fernds Umriss. Er saß mit einer warmen Decke in einer dunklen Kammer und starrte nach draußen. Es schien, als habe er in einem Dorf Zuflucht gefunden. Auf der Straße stand eine silbrig glänzende Gestalt, die ganz aus Eis bestand. Jetzt wandte sie den Kopf, und Fernd schrie, als er ihrem Blick begegnete. Dann zerfiel das Bild, und Hatib konnte nichts mehr erkennen. »Was war das? Was ist mit Fernd geschehen?«, fragte er. Doch der Ring blieb stumm. Immerhin ist er noch am Leben. Und frei.‹ Hatibs Hände zitterten vor Kälte, doch er riss sich zusammen. Er musste mehr herausfinden. »Wo ist Bolgan? Zeig ihn mir!« Eine undurchdringliche Wand aus grünem Nebel stieg auf. Dann sah Hatib viele Menschen in einer trübseligen Kammer schlafen. Einer von ihnen war Bolgan. Im fahlen Mondlicht sah er bleich und abgezehrt aus. Eine schwarze Gestalt stand neben ihm und starrte reglos auf ihn hinunter. 156
›Der Schwarze Prinz! Bolgan ist in der Höhle des Löwen!‹ Da drehte sich die schwarze Figur zu Hatib um und fixierte ihn aus grell leuchtenden Augenschlitzen. Sie trug einen Ring am Finger, in den ein Stein eingelassen war. Hatib spürte die Kraft, die vom Ring des Schwarzen Prinzen ausging, beugte sich über den Ring der Wahrheit und fragte: »Was will er?« Da riss es ihn nach oben. Hoch schwebte er über der Ebene, und in der Ferne erkannte er die Fundamente eines riesigen Pylons, den die gefangenen Araukarier errichteten. ›Das also ist Sklava Mhor.‹ Er sah den gewaltigen Widderkopf über dem Architrav. »Zu diesem Bauwerk fehlt uns noch der Schlussstein, der den Torbogen krönt und weit über die Lande leuchten wird. Wenn ich den habe, kann ich das Tor vollenden« – diese Worte des Schwarzen Prinzen hatten sich in Hatibs Gedächtnis gebrannt. ›Die Pforte ist der Schlüssel zum Ganzen‹, dachte er. ›Und dieser Stein. Ich muss Gerk danach fragen.‹ Das Bild änderte sich. Hatib schwebte längs des Gebirgskamms und sah auf einmal die Reste des Tempels der Wahrheit, halb mit Sand zugeweht und nur noch im Grundriss erkennbar. ›Dort also hat Gerk gewohnt.‹ Ihm kam eine Idee. »Warum wurde der Tempel wirklich zerstört?«, fragte er den Ring. »Zeig mir die Wahrheit.« 157
Da sah er den heiligen Ort vor der Vernichtung, eine prächtige Anlage. Menschen gingen ein und aus; einige kannte er. ›Das ist ja …‹ Hatib pfiff durch die Zähne. Der Ring sah alles. Auch Verrat. ›Sie waren selbst schuld‹, dachte er. Dann spürte er die Präsenz einer fremden Macht, die auf das Orakel Einfluss nahm. Wieder riss es ihn hoch, über den Kamm der Roten Berge hinweg. Eine große Staubwolke verdunkelte die Sonne, ein riesenhafter, gedrungener Pilz, der bleigrau und furchteinflößend die Umgebung überschattete. ›Der SOG!‹ »Sklava Mhor ist das Tor, durch das mein Herr einst schreiten wird, wenn die Zeit gekommen ist, sein Ebenbild zu finden.« Heere zogen zum roten Horizont, Tausende, Zehntausende von Menschen, Nachtmahren und Waldschraten – alles, was die Lande an dunklen Kreaturen aufzubieten vermochten. Hatib sah große Schlachten, fliehende Menschen und standhafte Helden, Paläste und Tempel in Flammen, Mord und Verwüstung. Sein Herz krampfte sich zusammen. »Nein! Das darf nicht sein!« Das Licht des Rings zuckte noch einmal auf und erstarb dann zu einem grünlichen Glimmen. Hatib schrak hoch und merkte, dass er steif vor Kälte auf der Plattform saß. Der Wind heulte noch stärker, und sein Mantel war mit Schnee bedeckt. Er musste über eine Stunde im Sturm gesessen haben. Er zog das 158
Orakel vom tauben Finger und breitete das Tuch darüber. Dann öffnete er die Luke und stieg – vor Kälte, Angst und Wut am ganzen Körper zitternd – die Leiter hinab. Gerk hockte vor dem Kamin und schürte das Feuer. Bei Hatibs Eintreten wandte er sich um. »Du bist lange draußen gewesen.« »Ich wäre beinahe erfroren. Aber es hat sich gelohnt.« Hatib setzte sich an den Kamin und streckte die tauben Hände zum Feuer. »Der Ring hat mir gezeigt, wie weit es schon gekommen ist. Außer den Nördlichen Königreichen gibt es niemanden mehr, der dem Schwarzen Prinzen Widerstand leistet.« »Das hätte ich dir vorher sagen können.« ›Er freut sich‹, dachte Hatib und hätte den Priester gern geohrfeigt. ›Er glaubt, ich hätte nichts bemerkt.‹ »Wie geht es deinem Bruder?« »Ich hab ihn nur ganz kurz gesehen. Er hat auf ein seltsames Wesen aus Eis gestarrt. Dann wurde der Ring dunkel.« Bei dem Gedanken, dass Fernd nicht mehr am Leben sein könnte, zerriss es Hatib fast. »Es muss nicht zum Schlimmsten gekommen sein.« Mit einem Mal verlor Gerk seine Arroganz. »Das Zauberwesen hat vielleicht die Präsenz des Rings gespürt und ihn aus seinem Gesichtskreis verbannt. Und die Lande stehen schon zu einem gewissen Teil unter der Macht des Schwarzen Prinzen – und damit auch der Ring. Da ist es möglich, dass er die Wahrheit verfälscht und dir das Bild deines Bruders vorenthält.« 159
»Da war noch etwas«, sagte Hatib. »Ich habe Sklava Mhor gesehen, und mir ist wieder eingefallen, was ich dem Schwarzen Prinzen abgelauscht hatte. Er hat von einem Stein gesprochen, der ihm unsagbare Macht verleiht, wenn er die Pforte vollendet. Dabei besitzt er selbst einen Ring mit einem Stein, der Macht zu haben scheint.« »Du hast über die wichtigen Dinge in den Landen nicht allzu viel erfahren«, bemerkte Gerk spöttisch. »Hat der Alte Niemand dir etwa nie von den drei Erften erzählt?« »Vielleicht war er nicht so schlau wie du.« Gerk überhörte diese Bemerkung. »Es gab einmal einen Stein namens Erft«, begann er. »Wer ihn besaß, hatte große Macht.« Hatib musste an die Sage von Siljan denken, schwieg aber. »Wegen dieses Steins«, fuhr Gerk fort, »kam es zu schlimmen Kriegen, bis der Silbergreis erschaffen wurde, das Gesetz der Lande. Er nahm ihn den Menschen weg, zerteilte ihn in drei Teile und versteckte sie an unzugänglichen Orten. Bis heute halten sie die Welt im Gleichgewicht. Der Rote Erft fand in der Ostmauer seinen Platz. Ein anderes Stück des Steins kam auf den Großen Karnin, doch die Gifalken haben ihn gestohlen und ihrem Herrn gebracht.« Hatib hielt den Atem an. »Der Stein am Ring des Schwarzen Prinzen?« »Genau. Seit er in seinem Besitz ist, nennt man 160
ihn den Großerft, den Stein der Träume – der dunklen Träume.« »Das hat mir der Alte Niemand tatsächlich nie erzählt«, murmelte Hatib überrascht. »Dann hat er von den wichtigsten Dingen der Lande keine Ahnung gehabt«, meinte Gerk nur. »Warum habt ihr ihn nie aufgeklärt? Immerhin war er doch mal im Tempel der Wahrheit.« Gerks Lächeln verschwand. »Er hätte doch von der Teilung des Erfts erfahren müssen«, bohrte Hatib weiter. »Der Alte Niemand hat uns nicht nach dem Erft gefragt, als er im Tempel der Wahrheit war«, sagte Gerk. »Wir hätten ihm doch Auskunft gegeben.« ›Jetzt lügst du‹, dachte Hatib. Immer, wenn das Gespräch auf den Tempel kommt, fängst du an zu lügen.‹ »Der letzte und wichtigste Stein«, fuhr Gerk fort, »ist der Blaue Erft. Der Silbergreis hat ihn in einer Höhle in Drehnland versteckt, in der Höhle der Glühenden Masken. Die beschützen ihn. Außerdem gibt es nur einen Zugang nach Drehnland – am Karun vorbei, wo Korvo steht, die Burg des Tanzenden Todes. Ich vermute, der Schwarze Prinz hat den Blauen Erft gemeint. Mit ihm wäre er unbesiegbar.« »Kann er an ihn rankommen?« »Niemals. Der Tanzende Tod tötet jeden.« »Er hat einen Kurier schicken wollen, der den Stein für ihn holt«, wandte Hatib ein. »Das wundert mich«, gab Gerk zu. »Bist du dir da sicher?« 161
»Absolut. Hat er nicht vielleicht den Roten Erft gemeint?« »Der würde ihm nicht viel nutzen.« Hatib überlegte. Wer mochte dieser Kurier sein? Und wo mochte er sich jetzt befinden? »Das ergibt einfach keinen Sinn«, murmelte er. Bis jetzt hatte er geglaubt, viel über die Geschichte der Lande zu wissen; aber je weiter er kam, desto mehr musste er einsehen, wie gering seine Kenntnisse waren. Ein Alptraum schüttelte Hatib: Der Schwarze Prinz hatte einen Fluch über die Lande gesandt, und Fernd war getötet; Hatib hatte ihn nicht beschützen können, stand am offenen Grab und weinte. Davon wachte er auf. Er war auf seinem Sitz vor dem Kamin eingeschlafen, und Gerk hatte keine Anstalten unternommen, ihn zu wecken. Aus einem Nebenraum drang das Schnarchen des alten Priesters. Beklommen blickte Hatib ins verglimmende Feuer. Er hasste es, zerschlagen und müde zu erwachen, denn dann waren sein Wille und seine beinahe unerschöpfliche Energie wie gelähmt, und all seine Hoffnung schien zu sterben. ›Zeit zu gehen‹, dachte er. Der alte Priester war ihm zu nichts nutze und würde ihm den Ring niemals geben. Jedenfalls nicht freiwillig. Eigentlich hat er kein Recht mehr auf ihn‹, überlegte Hatib. ›Nicht nach dem, was er getan hat.‹ 162
Vorsichtig erhob er sich, legte den Rucksack griffbereit und schlich nach nebenan. Die Leiter stand noch immer unter der Luke; Hatib stieg hinauf. Heulender Wind und Kälte schlugen ihm entgegen. Er langte nach dem Tuch, in das er den Ring gewickelt hatte – und merkte, dass es leer war. ›Er hat’s geahnt.‹ Hatib hätte schreien können vor Wut. Er schloss die Luke und stieg runter. Im Kaminzimmer merkte er, was sich verändert hatte: Gerks Schnarchen war verstummt. ›Natürlich. Diesen Triumph möchte er auskosten.‹ »Hab ich’s mir doch gedacht.« Der alte Priester hatte ein Scheit ins Feuer geworfen, in dessen Flackern seine grünen Augen leuchteten. Er saß am Tisch, vor sich ein Kästchen. »Ich wusste ja, dass du nicht widerstehen könntest.« »Du hättest mich warnen können«, erwiderte Hatib barsch. »Das hätte mir die Mühe erspart.« Er setzte sich dem Priester gegenüber. »Sag schon, dass ich ein Dieb bin. Darauf hast du’s doch angelegt!« »Gesagt hätte ich es nicht. Aber nur aus Höflichkeit.« »Du weißt, dass die Nordländer den Ring brauchen.« »Aber er gehört mir. Ich bin der letzte Priester der Wahrheit, und er wird bei mir bleiben.« »Bis du verfault bist«, grollte Hatib. »Du hast kein Recht auf ihn, und das weißt du. Ihr Priester habt es 163
verwirkt, als ihr euch beim Schwarzen Prinzen angebiedert habt.« »Was willst du damit sagen?« »Ihr habt genau gewusst, was er im Verbotenen Land getan hat und dass seine Macht immer größer wurde. Aber ihr seid feige gewesen und habt versucht, einen Pakt mit ihm zu schließen. Ich hab gesehen, wie seine Diener im Tempel spaziert sind.« Gerk senkte schweigend den Kopf. »Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könntet euch weiter in aller Ruhe mit dem Ring unterhalten?«, fragte Hatib. »Jedenfalls müsst ihr geahnt haben, dass Schmeicheleien eines Tages nichts mehr nutzen. Da habt ihr Kontakt zu den Targi aufgenommen. Der Turm wurde nicht erst vor ein paar Wochen eingerichtet. Ich habe die Vorräte gesehen – ihr brauchtet einen Unterschlupf, falls eure Heuchelei auf euch zurückfiele. Dann ging alles zu schnell, und ihr habt die Kontrolle verloren. Deshalb sitzt du jetzt hier. War es nicht so? Lüg mich nicht an, Priester der Wahrheit!« Wut flackerte in Gerks Augen, doch er antwortete ruhig: »Es ist nie gut, die Wahrheit zu verheimlichen. Wir haben uns schuldig gemacht. Und wir haben dafür bezahlt.« »Warum habt ihr nichts unternommen, als noch Zeit war?« »Sinnlos! Was hätten wir denn tun sollen?« »Die Völker warnen, zum Beispiel. Ihr Priester wart berühmt – auf euch hätten sie vielleicht gehört.« 164
»Haben sie auf den Alten Niemand gehört?« Hatib schwieg. Gerk sah vor sich hin. »Ich kannte viele, die gegen den Schwarzen Prinzen gekämpft haben«, sagte er leise. »Menschen wie dein Großvater. Immerhin wurde er mit Ehren begraben. Die Gebeine vieler anderer aber liegen irgendwo in den Bergen. Wie hätten wir uns der Macht entgegenstellen können, an der sogar deine Vaterstadt zerbrochen ist?« Hatib blickte dem alten Priester ins Gesicht. »Natürlich wäre es möglich gewesen. Mit dem Ring hätten wir tausende Leben retten können, wenn wir rechtzeitig begonnen hätten. Ihr aber hattet von Anfang an keine Hoffnung. Und keinen Mut.« Gerk senkte den Kopf. Hatib fuhr fort: »Wir haben die ganze Zeit um den heißen Brei herumgeredet. Die Ereignisse in Barku waren dir schon vor meiner Ankunft bekannt; auch den Ayaddain musst du gehört haben. Die Völker des Nordens kämpfen gegen den Schwarzen Prinzen, und die Waldläufer eilen ihnen zu Hilfe. Gebork, König von Barku, bittet dich um Unterstützung und darum, uns den Ring der Wahrheit zur Verfügung zu stellen. Wenn du hier bleibst, wirst du sterben, und dieser Turm wird dein Grab.« Gerks Züge verhärteten sich. »Ich weiß, was der Truchtin von mir erwartet. Doch ich werde weder nach Barku gehen noch dir den Ring überlassen. Er ist Eigentum des Tempels der Wahrheit.« 165
»Der Tempel ist zerstört! Schon deswegen hast du die Pflicht, gegen den Schwarzen Prinzen zu kämpfen.« »Falsch.« Gerks Stirnadern schwollen. »Der letzte Wille meiner Brüder bindet mich. Du dagegen willst den Ring in einen Krieg mitnehmen, den du nicht gewinnen kannst.« »Willst du wirklich in diesem Turm sitzen, bis du vermoderst? Die Burg der Wahrheit – dass ich nicht lache! Du bist gefangen – nicht vom Schwarzen Prinzen. Von deiner Engstirnigkeit!« »Dir soll ich meinen Ring geben? Nachdem du versucht hast, ihn mir zu stehlen?« »Merkst du nicht, dass du dich belügst? Schau dich doch um – wie wird die Welt aussehen, wenn du nichts unternimmst? Hast du gar keinen Mumm mehr in den Knochen?« Gerk sah ihn an; es arbeitete in ihm. »Gut.« Der Priester fixierte Hatib kalt. »Du hast ein großes Mundwerk, doch ich will dir eine Chance geben.« Er öffnete das Kästchen. Grünes Licht erstrahlte. Gerks Gesicht war steinern und ausdruckslos. »Nimm ihn! Wenn dir das gelingt, soll er dir gehören. Und ich mit ihm.« Hatib begriff zu spät. Verwundert über Gerks Sinneswandel streckte er die Hand aus. Zumindest versuchte er es. Mit einem Mal konnte er keinen Finger mehr bewegen. Der alte Priester hatte die Hände auf dem 166
Tisch gespreizt und duckte sich wie ein ergrautes Raubtier zum Sprung. »Versuch es, Junge. Du willst ihn doch haben.« Hatib spannte all seine Kräfte an, und es gelang ihm, die Rechte zu heben. Ein übermenschlicher Wille stellte sich ihm entgegen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. »Du schaffst es nicht«, zischte Gerk. »Das werden wir ja sehen.« Hatib bot seine letzten Kräfte auf. Nur noch eine Handbreit trennte ihn vom Ziel; verzweifelt streckte er die Finger aus, um es mit letzter Anstrengung zu erreichen. Doch da versagte sein Wille. Er stieß einen Schrei aus und zuckte zurück, als hätte er glühendes Eisen berührt. »Du musst noch viel lernen, Hatib von Araukaria.« Gerk legte den Ring auf den Tisch. »Mut und Selbstvertrauen sind gute Voraussetzungen, einen Krieg zu beginnen, Selbstüberschätzung nicht.« »Du bist ein Feigling, Gerk. Wenn du solche Fähigkeiten hast, warum setzt du sie nicht gegen den Schwarzen Prinzen ein?« Ein Lächeln umspielte die Züge des Priesters. Er hatte seine Überheblichkeit zurückgewonnen. »Lass dir das eine Lehre sein«, sagte er, ohne auf die Frage einzugehen. »Einen Priester der Wahrheit überlistet man nicht so leicht. Aber vielleicht gebe ich dir den Ring freiwillig.« Er fixierte Hatib mit spöttischem Blick. Wieder so eine überraschende Wendung! Hatib begriff, dass er Gerk unterschätzt hatte. Der Priester 167
spielte mit ihm Katz und Maus, und er musste mitmachen. Also unterdrückte er seinen Zorn und sagte: »Du wirst ihn mir ja sowieso nicht geben.« »Vielleicht doch. Wir haben nicht die Kraft, den Schwarzen Prinzen in die Knie zu zwingen. Der Ring würde bald in seine Hände fallen. Doch wenn es dir gelingt, ein anderes wichtiges Faustpfand zu beschaffen, das großen Machtzuwachs bedeutet, dann folge ich dir. Das ist die Bedingung.« »Was soll ich tun? Die Sterne vom Himmel holen?« Hatib sah die Gier in Gerks Augen und ahnte, was kam. »Fast«, sagte der und lächelte süffisant. »Um den Schwarzen Prinzen zu besiegen, braucht man die Macht der Erften. Geh also nach Drehnland und hol mir den Blauen Erft. Den Stein der Macht. Dann darfst du über mich und den Ring gebieten.« »Du willst mich ins Verderben reiten. Du hast selbst gesagt, dass es unmöglich ist, den Stein aus der Höhle der Glühenden Masken zu holen.« »Und ich habe dir gesagt, dass man den Schwarzen Prinzen unmöglich besiegen kann, aber das glaubst du mir auch nicht. Also: Bring mir den Blauen Erft, und der Ring gehört dir.«
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7 Die Wolkenburg und der Tanzende Tod Wolkenfetzen zogen vorbei und verdeckten die Sicht auf die Burg des Tanzenden Todes. Hatib war froh darüber, denn er hätte liebend gern umkehren mögen, solche Angst flößte ihm das windumtoste Gemäuer ein. »Nimm genug Vorräte mit«, riet Gerk. »Und hüte dich vor dem Tanzenden Tod!« »Halt die Klappe«, brummte Hatib und füllte seinen Rucksack mit allem, was in der Eishölle Kraft geben konnte. Der alte Priester hatte Vorräte genug, Jahre auszuharren. Danach verließ Hatib ohne Abschied den Turm. Draußen fuhren ihm Kälte und Wind entgegen. Hastig schlug er den Mantelkragen hoch. »Na, wie war’s?«, drang eine wohl bekannte Stimme durch das Heulen des Windes. Hatib fuhr herum. An der verfallenen Mauer stand Imril. Im Schneegestöber war er kaum zu erkennen. »Du?«, fragte Hatib verblüfft. »Wer sonst?« Imril zog die Kapuze hoch. Hatib schüttelte dem Freund die Hand. »Gut, dass du da bist. Es war eine harte Auseinandersetzung.« »Hat der Priester dich nicht anhören wollen?« »Doch. Aber dann hat er mir gezeigt, wer der Stärkere ist. Einen Versuch war’s wert.« »Du wolltest ihm den Ring wegnehmen? Da wird der alte Gauner böse gewesen sein.« Der Waldläufer 169
grinste. »Dass er dich nicht bei lebendigem Leibe gehäutet hat …« »Am liebsten hätte er’s getan. Aber er braucht mich noch.« Hatib stampfte mit den Füßen, um sich warm zu machen. »Was treibst du hier? Hattest du das Warten satt?« »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.« Imrils Miene verdüsterte sich. »In der Nacht nach deinem Abmarsch war der Tanzende Tod am Versammlungsplatz.« Hatib schluckte. »Auf der Suche nach uns?« »Er hat den Ayaddain gehört und im Gebirge gewütet, besonders gegen seinen Vater, den Großen Karnin. Ich hab selten solche Angst gehabt. Die Felsen dröhnten, als wollten sie einstürzen. Als er weg war, bin ich dich suchen gegangen.« »Hier war er nicht, denn da vorn steht ein Gollan. Gerk ist gegen den Tanzenden Tod geschützt. Und das ist nicht alles.« In kurzen Worten erzählte Hatib, wie es ihm ergangen war. »Ich hab’s ja gesagt – der Ring der Wahrheit hat die Priester eigensüchtig und überheblich gemacht«, rief Imril. »Vermutlich hat der Schwarze Prinz ihnen anfänglich angeboten, sie in Ruhe zu lassen, und das hat ihnen geschmeichelt.« Er lachte leise. »Aber sie haben die verdiente Strafe bekommen. Jedenfalls gönn ich es Gerk von Herzen, dass er in dieser Kältehölle ausharren muss, um den Ring zu bewachen.« Hatib zögerte. »Er hat mir ein Angebot gemacht.« 170
Imril sah überrascht auf. »Aber nicht ohne Gegenleistung?« Hatib berichtete von Gerks Offerte. »Und darauf bist du eingegangen?«, fragte der Waldläufer entsetzt. »Du willst allen Ernstes den Blauen Erft aus der Höhle der Glühenden Masken holen?« »Ich will’s zumindest versuchen.« »Das ist doch Wahnsinn! Weißt du, worauf du dich da einlässt? Wir haben riesiges Glück, dass uns der Tanzende Tod nicht längst überrascht und getötet hat. Gerade sucht er das ganze Fernfeld nach uns ab! Wie willst du denn an Korvo vorbeikommen? Und dann diese Höhle in Drehnland …« »Ich weiß«, erwiderte Hatib. »Aber es gibt keine andere Möglichkeit.« Er senkte den Kopf. »Ich habe durch den Ring der Wahrheit geschaut, Imril. Ohne den Erft haben wir keine Chance. Vor dem Verbotenen Land rauchen die Waffenschmieden. Der Schwarze Prinz kann zigtausend Soldaten ausrüsten. Die Nordländer und Waldläufer mögen so tapfer sein, wie sie wollen: Wir kommen nicht gegen ihn an. Das ist die bittere Wahrheit.« »Nach Drehnland?« Imril konnte es noch immer nicht fassen. »Seit vierzig Jahren bin ich in den Landen unterwegs, aber vor eine so schwere Aufgabe bin ich noch nie gestellt worden. Es gibt nur eine Möglichkeit, an Korvo vorbeizukommen.« »Du kennst einen Weg?« »Vielleicht«, wehrte Imril voll Unmut ab. »Ich ha171
be Korvo nur einmal von fern gesehen, vor über dreißig Jahren. Damals hab ich mir was überlegt.« »Es ist vermutlich nicht ungefährlich.« »Allerdings nicht«, meinte Imril bitter. »Aber wenn es gelingt und wir mit dem Erft zurückkommen, werde ich den verdammten Priester persönlich zum Versammlungsplatz schleifen.« So wanderten die Gefährten nach Norden, durchs immer düsterere Fernfeld. Die Nordstraße führte sie getreulich an den Bergen entlang, doch immer stärker saß ihnen die Angst vor dem Tanzenden Tod im Nacken. Die Kälte war fürchterlich und ließ nur noch Flechten auf den Steinen wachsen. Der Wind blies mit solcher Macht, dass die beiden sich gegen ihn anstemmen mussten. Es heulte und tobte und pfiff in der dämmrigen, eisgrauen Felswüste, und doch schien eine lauernde Stille über dem Land zu liegen. Hatib drehte sich häufig um, ob ihnen jemand folgte. »Suchst du den Tanzenden Tod?«, fragte Imril. »Glaub mir: Wenn du ihn siehst, ist es zu spät.« »Ich frage mich vor allem, wo der Kurier bleibt, von dem der Schwarze Prinz gesprochen hat.« »Richtig, davon hast du mir erzählt. Bis jetzt haben wir nichts von ihm gesehen.« »Genau das wundert mich.« »Aber wer außer uns sollte so verrückt sein, durchs Reich des Tanzenden Todes zu marschieren?« »Auch wieder wahr.« Hatib ließ seinen Blick über die Lande schweifen. »Ich frage mich sowieso, wie 172
der Tanzende Tod uns oder ihn erkennen soll. Es ist so dunkel.« »Sehen kann er uns ohnehin nicht selbst, denn er ist blind«, sagte Imril. »Doch die Nachtmahre begleiten ihn. Wir haben riesiges Glück, dass wir ihnen nicht begegnet sind.« »Warum gibt es hier eigentlich Nachtmahre?« »Auch das ist ein Werk der Priester der Wahrheit. Erinnerst du dich an die Sage? Gerks Vorgänger haben die Gollani errichtet und mit magischen Runen beschriftet, damit der Tanzende Tod sie nicht überschreiten kann. Aber man kann kein Zauberwesen ohne Gegenleistung einsperren; so will es das Gesetz der Lande. Also brachten die Priester dem Tanzenden Tod die Nachtmahre mit, als Diener.« Hatibs Gedanken schweiften ab. Seit dem Abend auf dem Großen Karnin waren seine Sinne geschärft, und er erfasste die Seele der Lande. Ein Hauch aus traurigen, lang vergangenen Tagen lag überm Fernfeld, und er hätte gern Zeit gehabt, zuzuhören. Fragmente von Geschichten durchraunten die Lande. In ihnen marschierten Heere die Nordstraße hinauf, einem Ziel entgegen, das sich Hatibs Verstand entzog: einer Welt jenseits des Drehn. Dann wieder sah er besiegte Soldaten, und Nachtmahre töteten jeden, dessen sie habhaft werden konnten. Der Tanzende Tod selbst war ausgezogen und wütete furchtbar unter den Kriegern. Hatib spürte ihr Grauen, ihr Entsetzen, ihre Verbitterung. Mit stumpfen Gesichtern zogen sie nach Süden. 173
Auch andere Bilder gaukelten vor seinen Augen, Bilder aus Zeiten, als das Fernfeld nicht öde und leer war, das Reich von Thingal noch Bestand hatte und der Tanzende Tod zu schlafen schien. Mühsam hatten die Targi dem kargen Land Früchte abgerungen. Sie liebten den rauen Wind und den Blick auf die Karninberge. Dann war der Tanzende Tod neu zum Leben erwacht. Noch vieles mehr hatte das Fernfeld gesehen: Unholde von klobiger Gestalt, die in den Bergen wohnten, aber auch feine, leichte Wesen aus Eis und Licht. Wann hatten sie gelebt? Gestern? Vor tausend, vor hunderttausend Jahren? Keiner wusste es – für die Berge war ein Menschenalter weniger als nichts. »Was ist?«, fragte Hatib. Imril war stehen geblieben und sog prüfend Luft ein, als wittere er Gefahr. »Etwas stimmt nicht.« Sein Blick wanderte an den grauen Hängen entlang. Jetzt spürte es auch Hatib. Das Heulen des Windes ließ nach, als warte die Wildnis auf etwas. »Da!« Imril deutete entsetzt nach vorn. An den Hängen schwebte eine Wolke aus Eis und kleinen Steinen, so grau und kalt, dass es wehtat, hinzusehen. Hoch wirbelte sie in den bleiernen Himmel und drehte sich rasant um ihre Achse. Hatib spürte, dass seine Beine wegsacken wollten. Ein grausiger Sog zog ihn an: der Tanzende Tod. Er blieb einfach stehen und starrte auf die Erscheinung wie das Kaninchen auf die Schlange. Fast wäre 174
damit ihrer beider Schicksal besiegelt gewesen. Doch Imril packte ihn und drückte ihn in den Schutz eines Felsblocks. »Hat er uns gesehen?«, flüsterte Hatib. »Nein. Sonst wären wir schon tot.« Vorsichtig spähte Hatib hinter dem Stein hervor. Der Tanzende Tod war sicher fünf Meilen entfernt, doch fast glaubte er sein Brüllen und Toben zu hören. Die Berge stöhnten unter seiner Last. Ein Schauer lief Hatib über den Rücken bei dem Gedanken, dass ein Wesen in der Lage war, selbst Berge zu ängstigen, die doch nur einen Feind hatten: die Ewigkeit. Endlich verschwand die Wolke am Horizont. Hatib atmete tief durch. »Glück gehabt.« Imril blickte nachdenklich. »Noch nie hat ein Mensch den Tanzenden Tod aus solcher Nähe gesehen und überlebt. Er hätte uns bemerken müssen«, meinte er dann. »Hat er aber nicht. Du hast selbst gesagt, er sei blind.« Imrils Augen suchten misstrauisch den Horizont ab. »Eigentlich müssten ihn Nachtmahre begleiten.« Er bückte sich, schulterte den Rucksack und sagte schließlich: »Wir haben zu viel Glück gehabt, als dass es noch mit rechten Dingen zugehen könnte.« Drei weitere Tage zogen sie über die Nordstraße. Mittlerweile war sie mehr geworden als ein Weg: ein Freund, auf den man sich verlassen konnte – und das letzte Zeichen menschlichen Wirkens, das sie mit 175
den Siedlungen der Nördlichen Königreiche verband. Nur wenig graues Licht drang aus dem Süden in die Wildnis, und der Frühling, der schon an die Pforten Araukariens klopfte und die Stätten des Entsetzens mit jungem Grün überzog, würde niemals bis hierher dringen. Dann begann die Landschaft, ihr Gesicht zu wandeln. Die Karninberge wurden niedriger und versanken im Geröll. Zu beiden Seiten erstreckten sich nun die unwegsamen Feuersümpfe. Manchmal trieb der Wind beißenden Rauch in dichten Schwaden herüber. Hatib und Imril sprachen kaum ein Wort. Ihre Gesichter waren grau, ihre Lippen aufgesprungen von der Kälte, die Hände blau gefroren und rissig. Manchmal zitterte die Erde leise unter ihren Füßen; die Ul-Um war tot, doch ihre Feuer in der Tiefe waren noch lange nicht erloschen. Am zehnten Tag nach ihrem Aufbruch deutete Imril nach vorn. »Wir haben es tatsächlich geschafft.« Gut zwei Meilen entfernt sah Hatib den Karun wie einen drohenden Schatten stehen. »Das ist er also«, murmelte er. »Wir sind weit gekommen.« »Weiter als jeder Waldläufer vor uns – und das im Winter.« Der Karun erhob sich als Einzelberg über die Ebene. Er stieg langsam in einer Hangschleppe an, die immer steiler wurde, bis sie fast senkrecht in den Wolken verschwand. »Niemand hat den Gipfel je gesehen«, sagte Imril. 176
»Es heißt, er stütze den Himmel. Sein Krater dagegen stürzt in die Tiefen der Erde, zu den Überresten der Ul-Um und den finsteren Geschöpfen der Unterwelt.« »Gut vorstellbar«, murmelte Hatib. Vor diesem schlafenden Ungeheuer sank ihm der Mut. »Sieh genau hin – an der Westseite, oberhalb der Straße …« Korvo, die Wolkenburg. Sie bestand aus einem mächtigen Turm mit Kegeldach, an den sich ein runder, von einer Kuppel gekrönter Bau anschloss. Die Mauern waren schwarz wie der Basalt des Karun, kahl und so fest mit ihm verwachsen, als seien sie aus seinem Schoß geboren worden. Fenster schien Korvo nicht zu besitzen; nur aus einigen Schlitzen im Turm leuchtete giftgelbes Licht wie gehässige Raubtieraugen zu ihnen herüber. »Kein Wunder, dass man den Weg nach Drehnland für unpassierbar hält«, murmelte er. Wolkenfetzen zogen vorbei und verdeckten die Sicht auf die Burg des Tanzenden Todes. Hatib war froh darüber, denn er hätte liebend gern umkehren mögen, solche Angst flößte ihm das windumtoste Gemäuer ein. »Was sollen wir tun?«, fragte er. »Auf der Nordstraße können wir nicht bleiben.« »Wir umrunden den Karun auf der Ostseite«, meinte Imril. »Dort haben die Nachtmahre ihre Unterkunft.« »Und ihren Proviant. Das ist doch das Wichtigste.« 177
Über Imrils zerschundenes Gesicht zog ein Lächeln. »Wie hast du das erraten? Ich wollte es dir nicht sagen, um dir keine Angst zu machen.« Jetzt lächelte auch Hatib. »Mit einem Freund wie dir braucht man keine Angst zu haben. Ich kann rechnen, Imril. In unseren Rucksäcken haben wir noch Vorräte für vier Tage. Damit kommen wir nicht mal zu Gerks Turm zurück, geschweige denn durch Drehnland. Also hast du gewusst, wie wir an Nahrung kommen.« Er deutete auf den Karun. »Das ist die einzige Möglichkeit.« »Richtig. Wir müssen nicht nur am Tanzenden Tod vorbei, wir müssen ihn obendrein bestehlen. Und das nicht nur einmal. Wenn wir vom Drehn zurückkommen, brauchen wir wieder Proviant.« Hatib fröstelte. Er fühlte, dass sie schleunigst aus der Sicht der Wolkenburg kommen mussten, deren todbringende Botschaft er spüren konnte wie das ängstliche Schweigen der Lande. »Da entlang«, sagte Imril. »Damals habe ich mich bis kurz vor die Behausungen der Nachtmahre geschlichen und …« Ein hohler, klagender Ton drang aus einer Felsspalte. Die beiden zuckten zusammen. »Was war das?«, fragte Hatib. »Die Seufzer der Ul-Um. Sie kommen aus den Tiefen der Erde.« »Ist das die einzige Erklärung? Hoffentlich nicht.« »Das gesamte Gebiet um den Karun«, erwiderte Imril, »ist von Spalten und Gängen durchzogen, die 178
das flüssige Feuer geschaffen hat – und durch die pfeift der Wind. Trotzdem hält man sich von den Höhlen besser fern.« Die seltsamen Laute begleiteten sie, als sie einen Bogen nach Nordosten schlugen. Außer Sicht der Wolkenburg ließ ihre Anspannung etwas nach. Bald standen sie am Fuß des erloschenen Vulkans. Der Boden war schwarz, teilweise blasig und wunderlich geformt. Manchmal glaubte Hatib, die Gestalt eines Ungeheuers auszumachen, das sich zwischen den Steinen versteckte, doch immer stellte er aufatmend fest, dass es sich nur um eine Ausgeburt seiner Phantasie gehandelt hatte. Geduckt schlichen die beiden weiter. »Da ist es«, flüsterte Imril schließlich. Hatib hielt inne und spähte ins Zwielicht. Gut zweihundert Meter weiter gähnten große Löcher im Gestein und waren kaum von der Umgebung zu unterscheiden. In langen Reihen zogen sie sich den Hang hinauf und verloren sich im grauen Dunst. Was sich hinter den Eingängen befand, war nicht zu erkennen, doch es sah aus, als führten die Höhlen in den Berg – tiefer, als den Gefährten lieb war. »Warum befinden sich die Behausungen der Nachtmahre eigentlich auf der Rückseite des Berges?« »Sie fürchten ihren Herrn.« »Und wovon leben sie?« Imril verzog das Gesicht. »Willst du das wirklich wissen? Es heißt, sie steigen ins Erdinnere, um zu jagen – Geschöpfe der Dunkelheit.« 179
»Appetitlich. Und wie kommen wir an diese Köstlichkeiten? Freiwillig werden sie uns nichts geben.« »Ich vermute, die Höhlen sind im Augenblick leer. Die Nachtmahre sind unterwegs, um uns zu suchen. Sie können sich nicht vorstellen, dass wir ausgerechnet hierher kommen.« Hatib schaute misstrauisch hinauf. Etwas an der Erklärung seines Freundes stimmte nicht. Allzu offen waren sie durchs Fernfeld gezogen, als dass die Nachtmahre sie nicht hätten aufstöbern sollen. Ob die Höhlen tatsächlich unbewacht waren? Imril musste seine Unglaubwürdigkeit klar sein. ›Bisher hat er doch immer Vertrauen zu mir gehabt‹, dachte Hatib. ›Warum nun diese Geheimniskrämerei?‹ Sie warteten ein paar Minuten hinter einem Stein, doch nur der Wind heulte durch die verlassenen Eingänge: Einige Behausungen mussten Zugang zu den Spalten der Unterwelt haben. »Das könnte eine Falle sein«, sagte Hatib schließlich. »Nicht ausgeschlossen. Finden wir’s heraus.« Bevor Hatib ihn zurückhalten konnte, gab Imril seine Deckung auf und huschte geduckt übers Geröllfeld; am nächstliegenden Eingang angekommen, lugte er vorsichtig hinein. Dann verschwand er zu Hatibs Entsetzen in der Höhle. Wenig später kam er heraus, grinste und hob den Daumen. »Der hat vielleicht Nerven«, brummte Hatib und marschierte los. 180
»Wie ich gesagt habe – verlassen«, meinte Imril. »Schon seltsam, dass kein Posten die Höhlen bewacht.« Imril ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Suchen wir gleich hier. Ich glaube nicht, dass die Nachtmahre ihre Nahrung allzu tief aufbewahren. Sie haben vermutlich Angst, sie könnte ihnen sonst wieder weggeholt werden.« Hatib schauderte. Wirklich fanden sie das Vorratslager rasch: eine finstere, klobig in den Fels gehauene Kammer. »Wie still es ist«, flüsterte Hatib beim Hineintasten. »Fast unheimlich.« Große gefrorene Fleischstücke hingen an Eisenhaken von der Decke. Sie waren pechschwarz und stanken nach Verwesung. Hatib schluckte; einige waren so groß, dass man noch die Umrisse des Opfers erkennen konnte. Er versuchte, seiner Phantasie nicht allzu freien Lauf zu lassen. Imril nahm ein Stück vom Haken. »Zerschneiden wir’s. Dann sieht es nicht mehr so scheußlich aus.« »Aber es riecht scheußlich.« »Wir müssen es essen, wenn wir überleben wollen«, sagte Imril trocken. Nochmals verwünschte Hatib den Priester der Wahrheit, der ihn zu dieser Wanderung angestiftet hatte. Sie verbrachten eine gute Stunde damit, das eklige Fleisch zu zerhacken und in den Rucksäcken zu verstauen. Dann setzten sie sich müde auf den Boden. 181
»Ich könnte etwas Schlaf vertragen«, sagte Hatib. »Meinst du, wir können es riskieren?« »Wahrscheinlich ist das der letzte windgeschützte Ort. Legen wir uns hin.« »Wir haben unwahrscheinliches Glück, was?«, fragte Hatib und sah seinen Freund ernst an, doch der wich seinem Blick aus. Hatib träumte, er habe sich unter die Nachtmahre mischen und in die Wolkenburg eindringen können. Eine Treppe führte zum Thronsaal und mündete auf eine Balustrade. Was Hatib dort sah, verschlug ihm den Atem. Er stand unter der steinernen Kuppel der Burg, und unter ihm dehnte sich der gewaltigste Saal, den er je gesehen hatte. Er schimmerte in grauem Licht, doch es herrschte Totenstille. Gegenüber im Halbdunkel verbarg sich ein hoch aufragendes Tor, das bis zur Decke reichte. Plötzlich schwangen seine Türflügel wie von Geisterhand auf, und von draußen erscholl ein Gebrüll wie von tausend Stimmen, als der Tanzende Tod hereinglitt. ›Er hat den Kurier nicht gefunden‹, dachte Hatib. Nebel brodelte durchs Tor, und ein Kälteschwall schlug über Hatib zusammen. Die Wände zitterten wie bei einem Erdbeben, als sich die Wolke zu einem riesigen Mann verdichtete. Hatte so Karun ausgesehen, der einst nach Norden geflohen war? Hatib konnte es sich kaum vorstellen. Das Gesicht war faltig und dunkelgrau; auf dem fast kahlen Kopf standen nur ein paar weiße Haarbüschel. 182
Auch die Augen waren weiß und strahlten in blindem Licht. Die Gestalt ging auf einen großen steinernen Thron zu und setzte sich. Dann begann sie zu sprechen – ein hässliches Krächzen, das Hatib Schauer über den Rücken jagte. Der Tanzende Tod rief nach den Nachtmahren, doch sie waren geflohen. Da wurde er zornig und brüllte, dass es von den Wänden widerhallte. Hatib schüttelte es am ganzen Körper vor Kälte. Ein Stein löste sich von der Brüstung und fiel krachend zu Boden. Der Riese verstummte und sah auf. ›Er hat mich entdeckt‹, schoss es Hatib durch den Kopf, als er in die blinden Augen sah. Da rüttelte Imril ihn wach. »Was ist los? Du hast im Schlaf geschrien.« »Ich hab ihn gesehen«, brachte Hatib hervor. »Den Tanzenden Tod?« »Er kam in die Wolkenburg und war zornig.« »Dann hat sich dein Traum mit der Wirklichkeit vermischt. Du hast fast sechs Stunden geschlafen. Inzwischen ist der Herr von Korvo in seine Burg zurückgekehrt. Etwas muss ihm misslungen sein; er brüllte, dass der Karun bebte.« Hatib schüttelte nachdenklich den Kopf. »Gut, dass du mich geweckt hast. Auge in Auge mit dem Tanzenden Tod – das war wirklich ein Alptraum.« »Wieso Auge in Auge?« »Weil er mich auch gesehen hat. Glaube ich.« »Er hat dich im Traum bemerkt?« Hatib nickte. 183
»Dann müssen wir hier weg. So schnell wie möglich.« »Aber er weiß doch nicht …« »Im Traum kann er dich sehen – trotz seiner Blindheit.« Schon schulterte Imril seinen Rucksack, und Hatib verzichtete auf weitere Diskussionen. ›Sechs Stunden Schlaf‹, dachte er nur. ›In diesem Land bezahlt man für jede Annehmlichkeit.‹ Draußen herrschte noch immer dämmriges Grau, und der Wind heulte über die verlassenen Höhlen der Nachtmahre. Imril blickte sich einen Moment suchend um. »Wohin?«, fragte Hatib. »Nach Norden.« Sie huschten los, den Osthang hinauf. Von den Feuersümpfen zur Rechten flackerte ab und an schwefelgelbes Licht herüber. »Wirklich eine angenehme Gegend«, brummte Hatib. »Im Süden das Fernfeld, wo kein anständiger Mensch leben kann, nur der verrückte Priester der Wahrheit. Im Osten die Feuersümpfe, im Norden Drehnland – und im Westen der Tanzende Tod.« »Sprich seinen Namen nicht aus«, warnte Imril. »Du machst es nur schlimmer.« »Entweder hat er uns bemerkt, oder er hat es nicht getan«, gab Hatib zurück. »Warum laufen wir an den Höhlen entlang?« »Sie sind vielleicht bald unser einziger Schutz.« »Da drin würden wir uns doch verirren«, knurrte Hatib. »Was ist? Warum hältst du an?« 184
»Da ist der Gollan.« Imril schien den Tanzenden Tod vergessen zu haben. »Die Grenze zwischen Drehnland und dem Fernfeld. Seit Menschengedenken ist kein Waldläufer so weit vorgedrungen.« Ungefähr eine Meile entfernt verschwand das schwarze Geröll des Karun unter Eis und Schnee. Hinter dem Grenzpfeiler erblickte Hatib, was vor ihm nur eine Handvoll Menschen gesehen hatte – und der Silbergreis, als er den Blauen Erft in die Höhle der Glühenden Masken brachte. Er spürte die lastende Stille, die jenseits des Fernfeldes wartete. »Wie weit ist es bis zum Drehn?«, fragte er leise. »Das weiß niemand mehr. Alle Berichte darüber sind Hunderte von Jahren alt. Beim Verborgenen Gott! Es ist so schön.« ›Aber ein Land des Todes‹, dachte Hatib. Im Geiste flog er schon an die Gestade des Drehn. Eine tiefe Schlucht … Hatib tauchte hinunter, um die Höhle der glühenden Masken zu suchen. Da ließ ein Dröhnen ihn aufhorchen. Der Boden erzitterte, als erwarte der Karun einen neuen Ausbruch. Im Westen wuchs eine graue Wolke in den Himmel. »Er kommt genau auf uns zu!«, rief Imril. »Schnell, in den Schutz der Höhle!« »Aber wir müssen doch …«, rief Hatib ins Getöse, doch der Satz blieb ihm im Halse stecken. Schon erhob sich die Sturmwolke brüllend über ihnen. Imril packte seinen Gefährten und zerrte ihn ins nächste Felsenloch. 185
Ein markerschütternder Schrei kam von draußen. Imril stolperte und fluchte. Jetzt war es sein Gefährte, der ihn weiterzog. »Kann er uns hierher folgen?«, keuchte Hatib. »Ich weiß nicht. Schnell weiter.« Mit zunehmender Entfernung wurde das Gebrüll leiser. Dann übersahen die Gefährten ein Hindernis und fanden sich verdutzt am Boden wieder. »Das wird eine hübsche Beule geben«, meinte Hatib und rieb sich den Kopf. »Zünd deine Fackel an.« Als es hell wurde, erkannten die Gefährten eine Gabelung. Ein Weg ging links, der andere stieg halbrechts an. Keiner war ihnen geheuer. »Wir müssen versuchen, unter dem Gollan nach Drehnland durchzustoßen«, sagte Imril. »Nur dann sind wir vor dem Tanzenden Tod sicher.« »Nichts leichter als das«, brummte Hatib. Imril hob die Fackel und überlegte. »Schau – die rechte Seite brennt stärker.« »Das heißt?« »Von dort kommt ein Luftzug. Im Fernfeld herrscht Ostwind.« Er grübelte. »Nehmen wir den rechten Gang. Der linke führt wohl zu den Schloten des Karun und wäre unser Verderben.« Als hätte Imril damit ein Stichwort gegeben, ertönte das pfeifende Klagen, und zwar so laut, dass es in den Ohren schmerzte. Die Gefährten starrten sich an. »Weg hier«, flüsterte Imril. »So schnell wie möglich.« Sie hasteten weiter. Zunächst schien es, als hätten 186
sie den richtigen Gang gewählt, denn er führte leicht bergauf und nach einer Biegung immer geradeaus. Andere Gänge zweigten ab, und jedes Mal wählte Imril den mittleren. Hatib schöpfte schon Hoffnung, doch plötzlich ging es steil abwärts, ins Herz des Karun. Nach einigen Minuten blieben sie stehen. »Wir sollten nicht weitergehen«, flüsterte Hatib. »Es ist unheimlich hier.« »Es ist zu still«, flüsterte Imril zurück. Sie warteten und horchten. Aus der Tiefe drang ein leises Tapsen zu ihnen herauf. »Zurück«, raunte Imril, und Hatib hörte Entsetzen in seiner Stimme. »Wir haben Fleisch von ihresgleichen in den Rucksäcken – das riechen sie.« »Aber wohin? Die Fackel ist fast abgebrannt, und hier gibt es Dutzende von Gängen.« »Richten wir uns nach dem Luftzug. Wo Wind ist, muss es einen Ausgang geben.« Sie rannten zurück, bis sie in eine Kammer kamen, von der mehrere Gänge abzweigten. Hatib horchte einen Moment, dann wechselte er einen Blick mit Imril. Der nickte. »Da lang.« Das Tapsen kam näher. Die Fackel glimmte nur noch, doch die Gefährten rannten, was die Lungen hergaben. Hinter ihnen vervielfältigte sich das Trippeln, schwoll zu einem Brausen an und holte sie ein. »Lauf!«, brüllte Hatib, als er sah, wie sein Gefährte außer Atem kam und langsamer wurde. »Da ist der Ausgang!« 187
Er packte Imril an der Hand. Der ließ die Fackel fallen und rannte mit letzter Kraft. Dann waren sie draußen – unter einer sternklaren Nacht. Aus dem Loch ertönte das Gebrüll von tausend hungrigen Geschöpfen, die sich um ihre Beute betrogen sahen. Die Gefährten taumelten vorwärts, um aus der Reichweite der lichtscheuen Wesen zu kommen. Dann ließen sie sich erschöpft auf den Boden fallen und rangen nach Luft. »Drehnland«, keuchte Imril. »Wir haben es geschafft.« Hatib wandte sich besorgt zurück, doch das Brüllen hatte aufgehört. Sie waren wirklich unter dem Gollan durchgewandert. Hinter ihnen erhob sich der Karun, dann unendlich weit das Fernfeld mit den Karninbergen zur Linken. Am Horizont ragte der Große Karnin auf. Die Sonne schien schon auf seine weißen Schneeflächen; der Frühling wanderte langsam nach Norden. Doch am Karun würde er niemals Einzug halten. Wie ein Leuchtfeuer grüßte der König zu seinem verlorenen Sohn hinüber. »Ob wir ihn noch mal sehen werden?«, murmelte Hatib. Imril hatte sich erholt und stand auf. »Das liegt in unserer Hand.«
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8 Drehnland »Viel Glück«, murmelte Hatib. Trotz der Dunkelheit. merkte er, dass Imril hinkte. »Und alles Gute.« Dann war er allein. Drehnland ist vielleicht die seltsamste Gegend, die uns bisher begegnet ist. Im Winter ist es eine gewaltige Eiswüste, wo der Wind den Schnee zu bizarren Figuren türmt, denen die Targi vor langer Zeit den Namen Akaruna gegeben haben, was so viel heißt wie: Kinder des Karun. Imril kannte den Namen, doch auch er sah sie zum ersten Mal. Im Gegensatz zum beißenden Wind des Fernfelds war es in Drehnland völlig still. Vom Tanzenden Tod, dessen Burg samt Karun am Horizont verschwunden war, drohte keine Gefahr mehr, doch Angst und Anspannung gruben sich Hatib und Imril immer tiefer ins Gesicht. Ihre Wanderung gehörte zum Gefährlichsten, was in den Landen je unternommen worden war. Seit Unzeiten war niemand so weit nach Norden vorgedrungen; keine Karte zeigte den Drehn, den sagenumwobenen Fluss, der die Welt begrenzt. Ihre Nahrung war karg. Sie kämpften mit Übelkeit, wenn sie die getrockneten Fleischstreifen aus den Höhlen herunterwürgten, die süßlich schmeckten wie Aas. Doch es hielt sie am Leben. »Wie die Nachtmahre das bloß aushalten?«, knurrte Hatib. »Die müssen das Zeug die ganze Zeit essen.« 189
»Sie haben eben keinen so empfindlichen Magen.« »Macht dir der Fraß etwa nichts aus?« »Doch«, gab Imril zu. Die Akaruna standen sehr dicht. Die Wanderer hatten das Gefühl, durch eine versteinerte Menschenmenge zu gehen, die sie misstrauisch beobachtete. »Ist Drehnland wirklich ganz unbewohnt?«, fragte Hatib. »Nicht mal Nachtmahre können hier überleben. Nur Geister.« »Schöne Aussichten.« Hatib bückte sich. »Was ist?« »Ich hab gedacht, da war ein Fußabdruck.« »Glaub mir – hier ist niemand außer uns«, sagte Imril. »Mir geht der Kurier nicht aus dem Kopf. Vielleicht ist er uns doch voraus.« »Es gibt keinen Kurier«, meinte Imril ungeduldig. Das Thema schien ihm auf die Nerven zu gehen. »Aber der Schwarze Prinz hat doch von ihm gesprochen!« Imril schwieg. ›Natürlich ist jemand hier‹, dachte Hatib, sagte aber nichts. Er wusste, dass sein Freund sich Sorgen machte. Seit der Ankunft in Drehnland war Imril immer einsilbiger geworden und sah sich ständig verstohlen um. Wer mochte ihnen folgen? Wenn sie sich im Schutz eines Akaruns schlafen gelegt hatten, wachte Hatib manchmal vor Kälte auf 190
und sah Imril mit offenen Augen daliegen. Der Waldläufer schlief nicht mehr. Er hatte nicht geschlafen, seit sie die Höhlen verlassen hatten. irgendwann muss ich ihn fragen‹, dachte Hatib. »Er darf mir nichts verheimlichen. Nicht hier, wo die Lande so stark sind und wir Menschen so schwach.« Sie zählten weder Meilen noch Tage, doch endlich kamen sie ans Ziel. Schon Stunden zuvor spürten sie die Nähe des Drehn. Rauschen kündigte ihn an. Schließlich sagte Imril: »Da ist er!« Ein Abgrund teilte das Land in zwei Hälften. »Wer hätte gedacht, dass ich einmal bis hierher gelangen würde.« »Darum hast du ja mich kennen gelernt«, meinte Hatib. »Um Abenteuer zu erleben!« Sein Lächeln schmerzte ihn, denn die Mundwinkel waren verschorft, die Lippen aufgeplatzt. »Noch sind wir nicht am Ziel«, murmelte Imril skeptisch. »Wir finden die Höhle bestimmt. Wir haben schließlich schon so vieles überstanden.« »Das sagst du so.« Vorsichtig trat Imril an die Schlucht und spähte hinunter. »Wie tief die ist …« Gewaltige Eiszapfen hingen senkrecht in den Spalt. Der Drehn war kaum zu sehen; nur dann und wann glitzerte sein Wasser im Sternenlicht zu ihnen herauf. »Man nennt ihn auch den Teiler der Lande«, sagte Imril. »Niemand weiß, was sich auf der anderen Seite verbirgt. Hier endet die Nordstraße – und mit ihr enden die Erzählungen.« 191
Hatib schaute fasziniert runter. Der Teiler der Lande. Wohin mochte er fließen? »Nach Osten«, sagte Imril, der Hatibs Gedanken wieder mal erraten hatte. »Er durchquert die Feuersümpfe und verschwindet an der Ostmauer in einer großen Höhle.« »Hier kommen wir nicht runter«, meinte Hatib. »Unglaublich, diese Eiszapfen.« »Der Legende nach entstehen sie jeden Winter neu. Wenn die Sonne im Frühjahr aufgeht, schmelzen sie und brechen ab. Weißt du, wie die Targi den Frühlingsanfang nennen? ›Daogh Ruh – Tag des Rollens. Wenn die Eiszapfen abstürzen, spürt man das bis in die Karninberge. In glücklicheren Zeiten hat sich der Tanzende Tod dann in seine Burg zurückgezogen.« »Also müssen wir uns beeilen. Bis zum Aufgang der Frühlingssonne ist es nicht mehr lang.« Der Südhimmel hatte sich schwach gerötet. Hatib schauderte bei dem Gedanken, dass die Sonne bald das Drehntal bescheinen und in eine Hölle abstürzender Eiszapfen verwandeln würde. Sie wandten sich nach Osten – und hatten Glück. Nach gut einer Meile stießen sie auf ein tief eingeschnittenes Bachbett. Über Felsvorsprünge ging es mühsam in die Schlucht hinab. Das Bewusstsein, endlich am Ziel zu sein, verdoppelte ihre Kräfte. Nach zwei Stunden waren sie unten. »Wir sind am Drehn«, sagte Imril. Ein Zittern in seiner Stimme verriet, wie viel Ehrfurcht der alte 192
Waldläufer vor dieser Landschaft hatte – und wie viel Angst. Im schäumenden Wasser spiegelte sich kaltes Sternenlicht, und die Eiszapfen ließen die Schlucht wie einen gewaltigen Saal wirken, dessen Boden ein zerklüftetes Gewirr herabgestürzter und geborstener Felsen und Eisblöcke mit Sandbänken dazwischen war. Im Sommer musste die ganze Talsohle unter Wasser stehen, denn die Felswände waren ausgewaschen. Imril schaute sich um. »Wo könnte die Höhle der Glühenden Masken sein? Ich vermute sie flussaufwärts.« Hatib kniff die Augen zusammen, verkündete triumphierend: »Ich sehe sie schon«, und deutete flussaufwärts. Aus einem Loch in der Wand schimmerte blaurotes Licht. »Wir sind fast drüber gestolpert«, murmelte Imril verblüfft. Der Weg war beschwerlich, doch bald standen sie unterhalb der Höhle. »Sie strahlt wie ein Signalfeuer.« Hatib untersuchte das Gestein, das rau und scharfkantig, aber griffig war. »Sei vorsichtig. Wer weiß, was uns oben erwartet.« Die Höhle befand sich gut fünf Meter überm Boden. Nach kurzer Zeit war Hatib oben und wälzte sich über den Rand. »Geschafft«, schnaufte er und half Imril hoch. 193
Dann mussten sie eine Pause machen, um sich zu erholen. »Merkst du’s?«, fragte der Waldläufer. »Wir sind am Ende unserer Kräfte.« »Das liegt an dem verdammten Fleisch«, stöhnte Hatib, raffte sich dann aber auf. »Los, weiter.« Ein knapp mannshoher Gang führte in den Fels, knickte aber nach wenigen Metern nach links ab. Von dort strahlte ein Licht wie von flüssiger Lava. »Hat Gerk was von Gefahren in der Höhle gesagt?« »Nur, dass man den Erft nicht ohne weiteres nehmen kann. Die Masken bewachen ihn«, antwortete Hatib. »Inwiefern?« »Das wusste er nicht.« »Famos, dieser Priester«, brummte Imril. Behutsam tasteten sie sich vor. Der Boden war schlüpfrig, doch warme Luft wehte ihnen entgegen. An die Biegung gekommen, lugten sie um die Ecke – und prallten entsetzt zurück. »Hast du das auch gesehen?«, flüsterte Imril. Hatib nickte nur. »Aber sie können uns nichts tun. Noch nicht.« Sie nahmen allen Mut zusammen und betraten die Felskammer. Die Wände flammten in dunklem Rot, als befänden sie sich auf dem Grund eines Vulkans. Das Schrecklichste jedoch waren die glühenden Fratzen an den Wänden. Die Gesichter waren verzerrt und grausig entstellt, als seien sie in höchstem 194
Schreck in Stein gebannt worden. Ihr Mund war zu einem Angstschrei geöffnet, der, obwohl längst erstorben, noch immer in der Luft lag. Ein inneres Feuer, das die verdrehten Augen bösartig flackern ließ, verhalf ihnen zu gespenstischem Leben. Inmitten der Kammer stand ein schwarzer Steinblock, der aussah wie der auf dem Karnin. Ein Werk des Silbergreises. Auf ihm ruhte – der Blaue Erft. »Ein würdiger Ort für einen Edelstein«, murmelte Hatib. »Mir graut davor, ihn zu berühren.« Dennoch trat er vorsichtig an den Block und streckte die Hand aus. »Achtung.« Imril schaute sich um, als könnten die Masken sie anspringen. »Ich werde ihn nicht nehmen. Noch nicht.« Trotz der Hitze war der Stein eiskalt. Hatib rieb seine Hand, als habe er sich befleckt. »Der Silbergreis hat bestimmt gegen Diebstahl vorgesorgt.« Imril blickte suchend im Raum umher. »Hier herrscht ein Gleichgewicht der Kräfte«, sagte er dann. »Die Kälte des Erfts gegen die Hitze der Masken. Blau gegen Rot. Wenn wir den Stein von seinem Platz nehmen, zerstören wir die Balance.« »Vermutlich.« Hatibs Hand tat weh. Unaufhaltsam breitete sich Beklemmung in ihm aus. »Aber wir haben keine andere Wahl.« Imril warf einen vorsichtigen Blick auf die Masken, die böse von den Wänden sahen. »Sie werden ihn verteidigen. Pass gut auf!«, sagte er heiser vor Aufregung. 195
Hatib zögerte einen Moment. Dann öffnete er seinen Lederbeutel und stülpte ihn behutsam über den Karfunkel. »Das hätten wir«, flüsterte er, doch da krachte es schon, als würde Marmor von Zyklopenhänden entzweigerissen. Das rote Licht begann zu flackern und wurde heller. »Raus hier«, rief Imril. Leben erfasste die Masken. Als sei das Gestein plötzlich weich geworden, veränderte sich ihre Miene, und es erscholl ein Gebrüll, das den davonhastenden Gefährten fast das Trommelfell zerriss. Unverständliche Worte – vielleicht ein Fluch? – heulten ihnen nach, und Staub rieselte von der Decke. »Die Höhle stürzt ein!«, rief Hatib am Ausgang. Da ihnen zum Klettern keine Zeit blieb, nahm er seinen Mut zusammen und sprang. Unsanft, aber wohlbehalten landete er im Halbdunkel der Schlucht. Imril stand oben und zögerte. »Spring! Sonst bist du verloren!« Imril landete nicht so glücklich. Sein linker Fuß knickte um, und er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Hatib packte seinen Freund und zerrte ihn vom brüllenden Felsenloch weg. Die Schlucht bebte, als werde ein gigantischer Hammer geschlagen. Flüssiges Gestein tropfte aus der Höhle und landete zischend im Wasser. Dann brach sie donnernd zusammen. Schließlich trat Stille ein. »Ist es schlimm?«, fragte Hatib, als sein Freund sich fluchend den Fuß massierte. 196
»Geht schon.« Imril blickte auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin nicht mehr so jung wie du. Da springt man nicht einfach aus fünf Metern in einen Geröllhaufen.« »Wir haben es geschafft, Imril!« Hatib wollte seinem Freund beim Aufstehen helfen. »Wir haben den Blauen Erft. Jetzt müssen wir nur noch zurück ins Fernfeld und …« »So einfach wird das nicht. Setz dich – wir haben Zeit. Du weißt, dass ich dir etwas verschwiegen habe?« Hatibs Optimismus verflog. »Ich hab’s zumindest vermutet.« »Sieh nach oben.« Hatib folgte dem Blick seines Freundes – und erschrak. Fast zweihundert Meter stieg die Schlucht steil an. Und von ganz oben, wo ein schmaler Himmelsspalt zu sehen war, leuchteten rote Punkte paarweise reglos auf sie hinunter. Sie schienen direkt am Schluchtrand zu schweben – das lag daran, dass die schwarzen Schädel, aus denen sie schauten, mit der Dunkelheit verschmolzen. »Nachtmahre! Sind sie uns schon länger gefolgt?« »Seit du Gerks Turm verlassen hast.« »Und jetzt wissen sie, dass wir den Blauen Erft haben.« Hatib erholte sich nur langsam von seinem Schreck. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Weil ich zunächst nur so eine Ahnung hatte. Es ging alles zu leicht. Auf den Karnin zu gehen und den Ayaddain auszuführen – schon beim Eintritt ins 197
Fernfeld hätten die Nachtmahre uns aufspüren müssen. Doch das Land war wie leer gefegt. Erst nach dem Großen Ruf wurde der Tanzende Tod auf uns aufmerksam und kam zum Versammlungsplatz, doch sein Toben war blind und ziellos. Dann waren wir sogar in seinem Blickfeld, dreißig Meilen vom Karun entfernt – und er bemerkte uns nicht. Da wusste ich, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Letzte Sicherheit bekam ich vor den Höhlen. Die Nachtmahre hätten ihre Schlupfwinkel nie unbewacht gelassen. Es gibt nur eine Erklärung: Sie gehorchen ihrem Herrn nicht mehr und fürchten nun seinen Zorn.« Einen Moment war Hatib sprachlos. »Sie sind dem Tanzenden Tod davongelaufen?«, fragte er dann verblüfft. »Warum?« »Das Gesetz der Lande ist gebrochen«, sagte Imril finster. »Sie haben sich einem Mächtigeren unterworfen.« Hatib begriff. »Dem Schwarzen Prinzen.« »Sein Einfluss muss mittlerweile gewaltig sein. Vermutlich hat er ihnen den Befehl gegeben, uns ungeschoren durchs Fernfeld zu lassen …« »… damit wir den Erft holen«, vollendete Hatib Imrils Satz. Er zitterte vor Aufregung und Wut. »Jetzt verstehe ich, warum wir den Kurier nie zu Gesicht bekommen haben.« »Der Schwarze Prinz hat ihn nie ausgesandt. Der Kurier sind wir. Nur Waldläufer sind zu so einem Unternehmen imstande.« 198
Es dauerte, bis Hatib diese Neuigkeiten verarbeitet hatte. »Aber warum glaubt der Schwarze Prinz, dass wir den Erft ausgerechnet ihm bringen?« »Wir doch nicht! Sobald wir aus der Schlucht kommen, lauern uns die Nachtmahre auf.« »Auflauern?«, knirschte Hatib. »Sobald wir die Nase über die Kante stecken, töten sie uns. Warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Hättest du sonst kehrtgemacht?« »Nein. Aber ich hätte verhindert, dass du mich begleitest. Es reicht, wenn einer an dieser Tollkühnheit zugrunde geht.« »Deswegen habe ich ja geschwiegen.« Imril schmunzelte, und auch Hatib musste lachen. »Ein schöner Freund bist du. Treu bis ins Verderben, in das du einen rennen lässt. Was machen wir jetzt?« »Wir müssen uns trennen.« Hatib schluckte. »Ist das dein Ernst?« »Die Nachtmahre wissen mit Sicherheit, wo wir in die Schlucht gestiegen sind, und warten oben am Bachbett auf uns. Aber wir werden ihnen ein Schnippchen schlagen. Ich lenke sie ab, und du verlässt die Schlucht woanders. Während die Nachtmahre Jagd auf mich machen, ziehst du mit dem Blauen Erft nach Süden.« »Wie willst du den Nachtmahren entkommen? Früher oder später holen sie dich ein.« »Ich fliehe in die Feuersümpfe«, erwiderte Imril ruhig. »Die hat doch kein Mensch je betreten!« 199
»Deswegen sind sie die einzige Hoffnung. Wenn die Nachtmahre mich dort suchen, vergessen sie dich vielleicht.« »Und ich schlage mich ins Fernfeld durch«, murmelte Hatib nachdenklich. »Wo mich der Tanzende Tod erwartet.« »Solange die Nachtmahre ihm nicht beistehen, ist er blind. Du hast eine Chance, durchzukommen.« Hatib wurde wütend. »Das glaubst du doch selbst nicht! Wir werden beide verrecken, du in den Sümpfen, ich in Drehnland.« »Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab! Hast du einen besseren Plan?« Hatib überlegte lange und schüttelte dann den Kopf. »Also?«, fragte Imril. »Versuchen wir’s. Wer weiß, vielleicht hat der Schwarze Prinz sich diesmal verschätzt. Und dann werden wir ihn mit dem Erft in die Knie zwingen. So wahr ich Hatib heiße.« »Das ist ein Wort«, nickte Imril, versuchte aufzutreten und verzog das Gesicht. »Tut ganz schön weh.« »Sollen wir noch warten? Hier sind wir sicher und …« »Es geht schon«, unterbrach ihn Imril barsch. »Ich hab Angst um dich«, gestand Hatib. Imril gab ihm die Hand. »Ich hab auch Angst. Um uns beide.« Hatib unterdrückte seine Tränen. »Diese Nacht200
mahre! Als hätte sich alles Böse gegen uns verschworen.« »Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.« Damit schulterte Imril seinen Rucksack und machte sich auf den Rückweg, ohne sich noch mal umzudrehen. »Viel Glück«, murmelte Hatib. Trotz der Dunkelheit merkte er, dass Imril hinkte. »Und alles Gute.« Dann war er allein. ›Wir werden uns nicht Wiedersehens dachte er mutlos. Von der eingestürzten Höhle her rauchte und staubte es noch immer. Hatib ging wie im Traum an den Trümmern vorbei. Eine Stunde schlug er sich durch die Schlucht, sprang über kleine Bäche und kletterte über Felsen. Zwei Meilen stromaufwärts zweigte schließlich ein kleines Seitental ab. Hatib folgte dem zugefrorenen Wasserlauf, froh, die Schlucht mit den gewaltigen Eiszapfen zu verlassen. Je höher er stieg, desto vorsichtiger wurde er. Oben angekommen, schaute er sich um. ›Niemand zu sehen. Mit diesem Manöver haben sie nicht gerechnet.‹ Der Horizont war violett verfärbt, und die Akaruna sahen im Gegenlicht so fremdartig aus, dass Hatib einen Moment gedacht hatte, es handle sich um Nachtmahre. ›Es wird wärmer. Bald werden die Eiszapfen schmelzen.‹ Er trat aus der Deckung und machte sich auf den 201
Weg. Obwohl er den Erft dick eingewickelt hatte, spürte er seine Verderben bringende Kälte am ganzen Leib. ›Der Priester soll mir zeigen, wie man ihn gebraucht‹, dachte er. ›Und wie man sich vor ihm schützt.‹ Ein Schrei zerriss von fern die Stille. Die Nachtmahre hatten Imril bemerkt. »Viel Glück«, murmelte Hatib noch mal. »Du wirst es brauchen.« Die Akaruna machten das Fernfeld unübersichtlich – das sollte Imrils Leben retten. Die Nachtmahre hatten darauf vertraut, die Gefährten würden ihnen ahnungslos in die Arme laufen. Doch Imril konnte sich an ihnen vorbeischleichen, was sie erst spät bemerkten. Zwanzig grauenvolle Stunden jagten sie ihn. Dann erreichte er die Feuersümpfe und brach dort zu Tode erschöpft zusammen. Da hatten die Nachtmahre die Verfolgung schon aufgegeben und begriffen, dass sie genarrt worden waren. So hatte Imril Hatib gut fünfzig Stunden Vorsprung verschafft. Drei Tage vergingen, da wurde es hell. Und wärmer. Imril humpelte etwas, doch er war zäh. Vorsichtig und ohne Hast suchte er einen Pfad durch die Sümpfe. Aus Felsspalten drang beißender Rauch, und in tiefen Gruben leuchtete rote Lava – der trügerische Grund, auf dem das von der Ul-Um verfluchte Land ruhte. Imril wusste, dass er nicht willkommen war. Wenn er auf die Lavaberge schaute, spürte er Feindseligkeit. 202
›Die Riesen sind dennoch gerecht‹, dachte er. ›Ihre Seelen sind noch nicht erloschen. Sie werden mir eine Chance geben, durchzukommen.‹ Am vierten Tag kroch die Sonne als riesiger roter Ball über den Horizont und erfüllte das Land mit lang entbehrter Wärme. In der Drehnschlucht spiegelten sich ihre Strahlen in den Eiszapfen. Bald tropften sie, und erste Sprünge zeigten sich. Der vom Schmelzwasser geschwollene Drehn tobte schmutzbraun unter ihnen her. Sechs weitere Tage vergingen. Stille lag über dem Land, nur unterbrochen vom leisen Grollen der schwarzen Berge oder vom Wind, der sacht über das tauende Eis strich. Noch war Hatib frei, doch jeder wäre bei seinem Anblick erschrocken, so rasch verfiel er. Zwei Monate Marsch durch die lebensfeindliche Landschaft hatten ihn sehr geschwächt. Hager und eingefallen war sein Gesicht, und die einst kräftigen Hände hatten nun Spinnenfinger. Vermutlich hatte sein Zustand mit dem Dörrfleisch zu tun, das von schrecklichen Wesen stammte. Nur eine kleine Ration war noch übrig, die er für die letzten, schlimmsten Tage im Fernfeld aufsparte. Auch der Erft zehrte an seinen Kräften. Noch hatte Hatib Lebensenergie, auch wenn ihm das Aufstehen nach jeder Pause schwerer fiel. Seine Füße waren wund – eher eine Folge der schlechten Ernährung als der vielen Meilen, die er zurückgelegt hatte. 203
An diesem Tag sah er den Karun aus der Ferne. Deutlich zeigte sich sein dunkler Umriss im Süden. Auf Hatib wirkte dieser Anblick fast lähmend: Diesmal war der Tanzende Tod gewarnt. Sollte er versuchen, durch eine der Höhlen am Karnin an ihm vorbeizukommen? Nein! Lieber vom Tanzenden Tod getötet werden als von den dunklen Wesen, deren Fleisch er gegessen hatte. Sie würden ihren fauligen Geruch an ihm wittern. Von einer dunklen Ahnung gepackt, wandte Hatib sich um: Nachtmahre! Sie waren nur noch zwei Meilen entfernt und stürmten heran, so schnell sie konnten. Wie weit war es zum Karun, wo der Herrschaftsbereich ihres früheren Herrn begann? Acht Meilen? Vielleicht etwas mehr? Würde sein Vorsprung reichen? ›Einer wird mich besiegen‹, dachte Hatib, ›die Nachtmahre oder der Tanzende Tod. Aber ich werde meine Haut teuer verkaufen.‹ Dann warf er den Rucksack auf die Schultern und rannte los. ›Er ist in Gefahr‹, überlegte Imril. ›Ich spüre es.‹ Suchend schaute er sich um. Die Nachricht war so klar, als hätten die schwarzen Berge sie ihm zugerufen. Seine Nerven hatten gelitten in diesem unheimlichen Land; immer wieder schrak er zusammen, weil er eine wunderliche Gesteinsformation für den Schatten eines lauernden Ungeheuers hielt. Doch anders als sein Freund hatte er das schwerste Stück der 204
Reise hinter sich und noch genug Nahrung, um bis zum Versammlungsort der Waldläufer zu kommen. In den letzten Tagen hatte er viel über den Erft nachgedacht. Wie groß war seine Macht? Imril war Realist. Er hielt es für unmöglich, dass der Kampf gegen den Schwarzen Prinzen durch einen Stein entschieden werden konnte. Das entsprach nicht den Gesetzen der Lande – es war zu einfach. Was konnte ein Stein gegen diese Gesetze ausrichten? Diese Frage stellte Imril sich immer wieder. Nachtmahre sind zäh und ausdauernd; kein Mensch kann ihnen auf lange Sicht entkommen. Hatib wusste das. Doch der Karun kam näher. Mittlerweile war auch Korvo an seiner Westflanke zu erkennen. Und der Tanzende Tod? Panik ergriff Hatib bei dem Gedanken, dass er genau auf seine Wohnstätte zulief. ›Besser er als die Nachtmahre. Bei ihm geht’s schnellere Ein Brüllen riss ihn aus seinen Gedanken, und er sah sich entsetzt um. Seine Verfolger waren bis auf dreihundert Meter an ihn herangekommen. Einer hätte es sogar beinahe geschafft, ihm den Weg abzuschneiden, und brach nun kaum dreißig Meter hinter ihm durch die Akaruna. Hatib rannte, was das Zeug hielt, doch er war zu langsam. Da zog er sein Messer. »Na komm!«, brüllte er. Schon hob der Nachtmahr die Klauen und fletschte die Zähne. Blitzschnell stach Hatib zu. Er traf das Vieh in die Leiste, ließ das Messer los 205
und wollte dem gefährlichen Gebiss ausweichen. Zu spät – die Zähne des Nachtmahrs fuhren in seine Schulter. Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, da ging das Maul des Angreifers auf und gab einen langen, heiseren Schmerzensschrei von sich. Hatib riss sich los und rannte, was seine Beine hergaben. Aus der Schulter sickerte Blut, und sein Rücken tat höllisch weh. ›Wenn Imril doch hier wäre‹, schoss es ihm durch den Kopf. ›Der wüsste einen Ausweg.‹ Da sah er fünfhundert Meter weiter den Gollan stehen. Das gab ihm neue Kraft, doch die Nachtmahre holten unaufhaltsam auf. Schon drang ihr Keuchen an sein Ohr. ›Nicht lebend‹, hämmerte es in seinem Kopf. ›Nicht lebend.‹ Dann war er am Gollan! Der Schnee verlor sich im Basalt – Hatib hatte das Fernfeld erreicht. Wie durch einen Schleier sah er die Wolkenburg in den Himmel ragen. In diesem Moment erschien sie ihm wie eine rettende Insel. Dann merkte er, dass die Nachtmahre ihm aufs Fernfeld gefolgt waren. »Sie haben sich jemandem unterworfen, der mächtiger ist als der Tanzende Tod.« Imrils Worte klangen ihm im Ohr, und er wusste, dass die Jagd vorüber war. Scharfe Klauen streckten sich gierig nach ihm aus und zuckten wild durch die Luft. ›Du bist zu weit gegangen,‹ sagte eine innere Stimme. Jetzt bezahlst du den Preis.‹ »Nein!«, schnaubte Hatib wutentbrannt. 206
Dann war es vorbei. Er stolperte, und in einem gellenden Schrei zersplitterte die Macht seines Willens an der Realität. Er stürzte und brach zusammen; dann wurde es still und dunkel. ›Es gibt Gesetzen Immer wieder kehrte Imril zu diesem Gedanken zurück. ›Wenn der Silbergreis den Schwarzen Prinzen nicht daran hindern kann, sie zu brechen – warum sollte der Erft es können? Und wenn doch: Warum hat der Silbergreis den Stein nicht schon längst eingesetzt? Immerhin hat er als Einziger Zugang zu ihm.‹ Da flüsterte es böse in ihm: ›Und wenn er den Schwarzen Prinzen nicht bekämpfen will? Wenn er mit ihm im Bunde ist?‹ »Das kann nicht sein«, murmelte Imril. »Der Schwarze Prinz will uns Böses, nicht der Silbergreis.« »Weißt du, was Gut und Böse ist?«, flüsterte die Stimme. »Und wie die Gesetze lauten? Weißt du, wer der SOG ist?« »Woher denn?«, wehrte Imril ab. »Ich kann nur tun, was ich für richtig halte.« Doch damit brachte er die Stimme nicht zum Schweigen. Manchmal durchzuckte ihn die Idee, der Silbergreis könnte die Lande mit Hilfe des Schwarzen Prinzen gegen die Menschen aufgehetzt haben. Dann aber wäre ausgerechnet er der SOG! Imril wehrte sich gegen diese Idee, so gut er konnte. Hatib erhob sich mühsam. Sein Mantel war schweißnass vor Angst und Anstrengung, seine Schulterwunde blutverkrustet. 207
»Was ist passiert?«, murmelte er. Beim Aufstehen schwankte die Welt vor seinen Augen. »Die Nachtmahre.« Mühsam hielt er sich an diesem Zipfel Wirklichkeit fest. »Ich bin gerannt …« Er sah sich um – und war hellwach. Keine drei Meter entfernt standen sie, im Lauf erstarrt, und schauten ihn aus blinden Augen an. ›Er hat sie versteinert.‹ Mühsam nahm er den Rucksack auf. Die Schulter schmerzte, und er zitterte am ganzen Körper. Doch er lebte. Warum hatte ihn der Tanzende Tod verschont? ›Er hat noch was mit mir vor. Sicher nichts Gutes.‹ Stolpernd nahm er den Marsch wieder auf, doch sein Mut war gebrochen. Noch war Korvos Steinportal geschlossen. Wollte der Tanzende Tod sehen, wie weit er kam, um ihn kurz vor dem Ziel zu töten? Doch der Herr der Wolkenburg durfte den Blauen Erft so wenig bekommen wie die Nachtmahre. Langsam und unsicher stieg Hatib die steinige Flanke des Karun hinauf. Droben lag Korvo düster im Schatten des Berges. Nie wärmte die Sonne die dunklen Mauern. Der Turm mit den giftgelben Schlitzen erhob sich drohend über ihm, und Hatib senkte den Blick. Die Rechnung des Tanzenden Todes mit den Nachtmahren war beglichen. Die mit Hatib stand noch aus. ›Er spielt mit mir‹, dachte er. ›Er wartet wie die Spinne im Netz, doch irgendwann holt er mich. Aber 208
vielleicht verschätzt er sich – die Spalten sind nicht weit.‹ Dieses Denken war für Hatib typisch. Es hatte ihn die ganze Zeit am Leben erhalten und allen Gefahren glücklich entrinnen lassen. Natürlich war ihm das Ziel, den Schwarzen Prinzen zu besiegen, stets bewusst. War aber sein Leben aufs Höchste bedroht, konnte er seine Pläne – statt an ihnen zu ersticken – einfach wie eine Karte zusammenfalten und im hintersten Winkel seines Gehirns verstauen, wo sie nicht mehr störten. Kleinere, widerstandsfähigere Illusionen traten dann an ihre Stelle. Barku, die Waldläufer, Gerks Turm – all das lag außerhalb seiner Möglichkeiten. Doch die Höhlen und unergründlichen Felsspalten waren erreichbar. Noch eine Meile, dann würde er ausruhen können. Für ein paar Stunden? Für immer? Das scherte Hatib nicht, und darin lag seine größte Stärke. Ein Grollen ließ ihn zusammenfahren. Korvos Tor hatte sich geöffnet, und eine graue Wolke drang heraus, die die Burg ums Doppelte überragte. Jetzt setzte sie sich in Bewegung. ›Töte mich – aber den Erft bekommst du nicht!‹ Das Ziel war fast erreicht: ein meterbreiter Abgrund, dessen Sohle sich den Blicken entzog. Das Heulen der Ul-Um scholl daraus hervor. Hatib erschien es wie ein Heimruf. Er hoffte inständig, er wäre tot oder wenigstens nicht mehr bei Bewusstsein, wenn die dunklen Wesen, deren Fleisch er gegessen hatte, ihn am Grund der Spalte fanden. 209
›Nur ein Schritts dachte er, wandte sich dem anheulenden Eissturm zu und spürte die grausige Kälte. Sein Mund öffnete sich zu einem irren Lachen. Dann nahm er den Rucksack ab und hielt ihn über den Riss. Ein Brüllen antwortete ihm aus den Wolken. Hatib ließ los und tat den entscheidenden Schritt. Es war ganz leicht. ›Aus!‹, dachte er. Er fiel nicht tief. Ein Aufprall, ein Schrei – dann saß er am Boden der Spalte, vier Meter unter der Kante, sein Rucksack neben ihm. »Mist!« Er hatte sich von der Dunkelheit täuschen lassen. Mit letzter Kraft arbeitete er sich in einen kleinen Querspalt, der ihn in den schützenden Schoß der Erde gelangen ließ. Dort kauerte er sich zusammen wie ein Kind. Dann war der Tanzende Tod über ihm, tobte, heulte und leckte mit tödlichen Kältezungen nach ihm. Zitternd und von Krämpfen geschüttelt lag Hatib da. Um ihn herum schrillte es, als hätte der Fels selbst zu brüllen und zu pfeifen begonnen. Steine fielen in den Spalt, und ein schwarzer Schatten schoss über ihn hinweg. Dann war es vorbei – die Kälte ließ nach. Hatib war eine Zeit lang unfähig, sich zu rühren. Dann kroch er aus seinem Versteck. Wie er die vier Meter aus der Schlucht geschafft hatte, wusste er nicht. Irgendwann jedenfalls lag er völlig ausge210
pumpt hinter einem Stein und sah der Wolke nach, die wieder ihrer Heimstatt zustrebte. Lange blieb er so. Dann nahm er den Rucksack, rappelte sich auf und schwankte weiter nach Süden. Er hatte den Tanzenden Tod überlebt. Während Hatib dem Zusammenbruch entgegentaumelte, kam Imril gut voran. Die Feuersümpfe hatte er hinter sich gelassen und war in weitem Bogen durch die graue Einöde des äußersten Nordens gewandert, um den Karun zu umgehen. Wenige Stunden nachdem sein Gefährte beinahe Opfer des Tanzenden Todes geworden wäre, erreichte er die Ostausläufer der Karninberge. Drei Tage wanderte er durch das menschenleere, ihm unbekannte Gebiet. Als er in der Ferne den Großen Karnin erblickte, wandte er sich nach Westen und stieg zu den Passhöhen auf. ›Ich hätte Hatib nicht allein lassen sollen‹, dachte er immer wieder, denn er spürte, dass seinem Freund etwas zugestoßen war. Wie wahrscheinlich war es denn, den Nachtmahren und dem Tanzenden Tod zu entkommen? Sie hatten das Unmögliche versucht und um das Risiko gewusst. »Besser, ich hätte den Erft genommen«, brummte er. »Ich habe mehr Erfahrung als er.« Doch er wusste, dass diese Überlegung müßig war. Dann hielt er überrascht an: Auf dem Grat stand ein Mensch! Misstrauisch musterte Imril die Gestalt. Für einen 211
Targi war sie zu groß. Ein Waldläufer, der sich verirrt hatte? Ein Diener des Schwarzen Prinzen? Die Gestalt hob die Hand und winkte. Imril winkte zurück und stutzte dann. »Das ist doch …« Jetzt wusste er, wen er vor sich hatte. ›Gorgor! Und er hat mich auf den ersten Blick erkannt. Ich wollte, meine Augen wären noch so scharf wie seine.‹ Erleichtert stieg er dem alten Freund entgegen. ›So lange habe ich keinen Menschen gesehen und treffe ausgerechnet ihn.‹ Auf dem windgepeitschten Grat schüttelten sie sich die Hände – und umarmten sich dann tief bewegt. »Sei gegrüßt, Imril«, sagte Gorgor mit tiefer Stimme. Seine Augen funkelten vor Wiedersehensfreude. »Sei mir gegrüßt. Was hat dich in diese Einöde getrieben?« Gorgor überragte Imril fast um Haupteslänge, und sein Gesicht war von Bart und Haaren so verwildert, dass nur die Augen zu erkennen waren, die scharf, aber gütig unter buschigen Brauen hervorblitzten. Er trug einen groben Mantel aus verblichenem Schaffell. In der Hand hatte er einen Wanderstab. »Du hast uns doch gerufen, Imril – schon vergessen? Der Ayaddain ist nicht ungehört verklungen.« »Das freut mich«, sagte Imril erleichtert. »Aber du bist weit nördlich des Versammlungsplatzes.« »Deinetwegen. Als ich am Karnin eintraf und du 212
nicht da warst, hab ich mir Sorgen gemacht. Mittlerweile suchen mehr als ein Dutzend Waldläufer nach dir.« »Das ist gut, denn im Fernfeld ist jemand, der vielleicht Hilfe braucht. Sind schon viele Waldläufer am Karnin?« Gorgors Lächeln verschwand. »Auch der Schwarze Prinz hat deinen Ruf gehört, und die Wölfe töten jeden, den sie finden können. Wirst du verfolgt?« »Nicht mehr.« Imril berichtete, was sich zugetragen hatte. »Das hätte selbst ich dir nicht zugetraut«, meinte Gorgor, als Imril fertig war. »Du bist nicht mehr der Jüngste.« »Für so was ist man eigentlich immer zu alt.« »Glaubst du, Hatib ist etwas zugestoßen?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Imril ernst. »Wir werden sehen. Ich habe übrigens eine gute Nachricht für dich: Gestern bin ich den Targi begegnet.« Imril machte große Augen. »Sie haben mit dir gesprochen?« »Einige beherrschen unsere Sprache noch. Sie haben deinen Ruf gehört und kämpfen vielleicht mit.« »Das ist erfreulich. Immerhin …« »Es ist eine ungewöhnliche Situation eingetreten«, unterbrach Gorgor. »Im Süden geschieht Beängstigendes. Der Schwarze Prinz hat in seinem Machthunger fast die gesamten Lande unterworfen. Nur die Nördlichen Königreiche widerstehen ihm noch. Den 213
Targi ist klar, dass der Sturm über sie hereinbricht, wenn sie sich nicht wehren. Weißt du, was man sich unter den Waldläufern erzählt? Angeblich versucht der Schwarze Prinz, sich auch den Tanzenden Tod Untertan zu machen.« »Schöne Aussichten«, murmelte Imril mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe viel nachgedacht. Es gab immer Gesetze in den Landen, oder? Im Moment sieht es aus, als würden sie gebrochen, eins nach dem anderen. Nichts stimmt mehr.« »Noch ist nicht aller Tage Abend«, erwiderte der Hüne. »Erst wenn wir Waldläufer den Mut verlieren, ist alles verloren.« Endlich hatte die Sonne ihr Werk vollendet. An den gesprungenen Eiszapfen der Drehnschlucht strömte Schmelzwasser in den reißenden Fluss. Dann löste sich der erste gewaltige Zapfen von der Steilwand und stürzte mit ohrenbetäubendem Krachen hundertachtzig Meter tief in sich zusammen. Eisstaub wirbelte durch die Luft, und der Drehn schäumte. Andere Zapfen folgten. Der Frühling hatte begonnen. Durchs Fernfeld dagegen fegte noch immer ein eisiger Wind, und die Nordstraße lag im Schatten der Karninberge. Hatib saß zusammengesackt auf einem Stein und war kaum wiederzuerkennen. Seine Vorräte waren verbraucht. Die letzten Mahlzeiten hatte er nicht bei sich behalten können. Am ersten Tag war er noch zwanzig Meilen gewandert, immer in Angst vor dem Tanzenden Tod. Am zweiten Tag waren es 214
fünfzehn Meilen und gestern nur mehr fünf, die er dem Fernfeld abgerungen hatte. Jetzt ging es nicht mehr. Er war am Ende und der letzte Teil des Wegs nicht mehr zu meistern. Die Nordlande hatten sich als stärker erwiesen. Hatib war so erschöpft, dass er seine Niederlage gleichmütig hinnahm. Nur Frieden wollte er haben, endlich Frieden. Den Kopf auf die Brust gesenkt, den Mantel umgewickelt, erwartete er den Tod. Am Anfang hatte er noch gespürt, wie die Kälte hochkroch und sich in ihm ausbreitete. Jetzt durchzuckte ihn nur noch dann und wann ein schmerzliches Pochen und ließ seinen Kopf schlaff hin und her pendeln, als bewege er sich im Traum. Hatte er es nicht so gewollt? War es nicht sein Wunsch gewesen zu wandern, bis der Körper hinter seinem Willen zurückblieb? Mochte er auch sterben – vergessen war er nicht! Durch diese Phantastereien hindurch hörte er Schritte kommen. »Hoffentlich überlebt er den Rückweg«, sagte einer. »Sieht nicht so aus«, antwortete ein anderer. Dann verlor Hatib das Bewusstsein.
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9 Die Versammlung der Waldläufer Gerks Augen blitzten. »Sterben müssen wir alle. Aber warum sollte der Tanzende Tod stärker sein als ich?« Ganz allmählich kam Hatib wieder zu sich. Wie nach langem Winterschlaf kehrte er aus der schemenhaften Welt des Vergessens zurück und öffnete die Augen. Nacht umgab ihn. Dann hörte er Gemurmel und das Geräusch von Schritten – er war wieder unter Menschen. Auf Stroh gebettet lag er da, in warme Decken gehüllt. ›Was ist passiert?‹ Er hatte geträumt, taub durch dunkles Wasser zu treiben. Einmal war er aufgetaucht und unter einem dunklen Himmel dahin geglitten. In der Ferne hatte ein Licht geleuchtet und Erleichterung und Ruhe verheißen. Dann aber hatte ihn eine Strömung erfasst und in eine andere Richtung getrieben. Der weiche Druck auf seinen Körper hatte nachgelassen, und das Licht war immer heißer und greller geworden. Davon war er aufgewacht. Mühsam sammelte sich Hatib. Wo war er? Er schien nicht gefesselt zu sein und fühlte sich warm und geborgen. »Ich glaube, er hat es geschafft«, sagte eine Stimme. ›Das ist Imril.‹ Verschwommene Erinnerungen stiegen in Hatib auf: Sie waren zusammen durchs 216
Fernfeld gezogen. Durch Drehnland. Der Tanzende Tod … Er zuckte zusammen. Eine Hand strich ihm übers Gesicht. »Es wird dauern, bis er aufstehen kann.« ›Ich bin am Großen Karnin‹, dachte Hatib. Jemand hob seinen Kopf und flößte ihm Suppe ein. Dann fiel Hatib in tiefen Schlaf. Als er zum zweiten Mal erwachte, konnte er wieder sehen. Er war tatsächlich in der großen Halle. Die Waldläufer hatten ihm ein Lager an einer Säule bereitet, und ein Feuer wärmte ihn. Ein bärtiger Mann fragte leise: »Kannst du sprechen?« Hatib wollte antworten, brachte aber nur ein Krächzen zustande. Der Hüne wandte den Kopf und rief: »Imril! Er ist bei Bewusstsein.« »Höchste Zeit.« Hatib erkannte das Gesicht seines Gefährten. »Sprich jetzt nicht«, sagte Imril und goss ihm einen Becher Suppe ein. »Iss. Du warst lange ohnmächtig. Um ein Haar wärst du uns unter den Händen verhungert.« »Wie lange?«, hauchte Hatib. »Wie lange du krank warst? Zwei Wochen. Als Tikail und Thornegin dich brachten, warst du so gut wie tot. Aber du bist zäh.« Nach der Suppe spürte Hatib neues Leben in den Adern. Er versuchte seine Erinnerungen zu ordnen. Noch einmal sah er sich vom Tanzenden Tod gejagt 217
halb erfroren durch die Wüste des Fernfelds taumeln, ohne Nahrung, in zerfetzten Schuhen. Die Kälte … Der Erft. Hatib sah seinen Freund an und flüsterte: »Der Stein?« Imrils Gesicht verdüsterte sich. »Der ist in Sicherheit. Doch kein Waldläufer fühlt sich in seiner Nähe wohl. Willst du ihn wirklich sehen?« Hatib nickte nur. Imril stand auf. Als er zurückkam, hatte er Stofffetzen um die Hände gewickelt. »Berühre ihn nicht. Du bist so schwach, dass er dich töten kann. Schau ihn dir nur an.« Der Erft strahlte blendend hell. Seine Macht hatte zugenommen. »Gut«, flüsterte Hatib. »Kannst du dich aufsetzen?« »Wenn du mir hilfst.« Überall in der Höhle brannten kleine Feuer, und die Luft war rauchgeschwängert. Inzwischen mussten Hunderte von Waldläufern eingetroffen sein, wilde Gesellen, denen man ihr hartes und entbehrungsreiches Leben ansah. Alle hatten sie Imrils wachen Blick, der durch das Leben in der Wildnis geschärft war. »Es sind fast tausend«, sagte er und kam damit Hatibs Frage wieder mal zuvor. »Und es werden immer mehr.« Vom Eingang schimmerte graues Tageslicht. Eben 218
trat ein riesenhafter Neuankömmling mit großem Rucksack herein, ging an ein Feuer und setzte sich zu den anderen. Die Waldläufer hatten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Hatib, den Einzelgänger, überkam Sehnsucht nach Geborgenheit. »Gib mir noch Suppe, Imril. Ich muss zu Kräften kommen.« »Und du musst erzählen. Wie bist du den Nachtmahren und dem Tanzenden Tod entwischt?« »Sie sind uneins gewesen. Die List des Schwarzen Prinzen ist auf ihn zurückgefallen. Außerdem hab ich enormes Glück gehabt.« Hatib berichtete seine Erlebnisse. Dann erzählte Imril und endete damit, wie er Gorgor getroffen hatte und Tikail und Thornegin drei Tage später mit dem zu Tode erschöpften Hatib zum Versammlungsplatz gekommen waren. Die erwähnten Waldläufer saßen jetzt bei ihnen. Gorgor war ein Hüne, aber sehr gutmütig und Imrils bester Freund. Die Brüder Tikail und Thornegin waren schon alt; nach den vielen Jahren in der Wildnis waren ihre Gesichter dunkel und fleckig. Unterscheiden konnte man sie nur daran, dass Thornegin den längeren und weißeren Bart hatte. Die beiden schienen raue Gesellen zu sein, waren aber grundehrlich. »Was ist außerhalb des Fernfelds passiert?«, fragte Hatib. »Habt ihr Nachricht aus Barku?« Die Gesichter der Waldläufer verdüsterten sich. »Aus Barku noch nicht«, antwortete Thornegin. »Doch aus allen anderen Teilen der Welt. Und sie sind nicht gut. Die Wölfe durchkämmen das ganze 219
Land nach uns. Tikail und ich waren schon mitten im Gebirge, da sahen wir sie morgens über die Passhöhe schleichen, genau auf unseren Lagerplatz zu. Wir flohen rechtzeitig und wanderten an jenem Tag vierzig Meilen; der erfahrenste Waldläufer hätte unsere Fährte nicht gefunden. Aber es war, als könnten sie uns riechen. Erst jenseits der Grenze der Nördlichen Königreiche kehrten sie um.« »Die Vögel sind mit ihnen im Bunde«, meinte Rimau, ein Gefährte von Imril. »Auch wir waren zu zweit – Tharan und ich. Als die Wölfe aufholten, flohen wir auf getrennten Wegen ins Gebirge. Tharan verfolgten sie, mich ließen sie laufen. Er müsste längst hier sein …« Rimau senkte den Kopf. »Wie viele Waldläufer werden denn kommen?«, fragte Hatib. »Das weiß niemand«, sagte Imril leise. »Es gab über sechstausend in den Landen – bis ich den Ruf getan habe.« Hatib begriff, wie sehr sein Freund darunter litt, dass erst so wenige eingetroffen waren und die Wölfe vermutlich viele Freunde und Kameraden gestellt hatten. »Ein Großteil wird gefangen sein«, meinte Gorgor. »Oder tot. Das ist die traurige Lage.« »Hätten wir den Ring der Wahrheit, wüssten wir Bescheid«, knurrte Hatib. »Wo bleibt dieser Priester? Ich habe meinen Teil der Vereinbarung erfüllt.« »Als Tikail und Thornegin dich durchs Fernfeld getragen haben, sind sie auch an seinem Turm vor220
beigekommen und haben geklopft, doch er hat nicht aufgemacht.« »Das hätte ich mir denken können. Aber wir schaffen es auch ohne ihn. Immerhin haben wir den Blauen Erft.« »Und wissen nichts damit anzufangen«, sagte Imril. Hatib schwieg und grollte dem Priester. »Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben«, fuhr Imril fort. »Üben wir uns in Geduld – zumindest ein paar Tage.« Imrils Entscheidung kam Hatibs Gesundheit zugute, und er erholte sich rasch. Am sechsten Morgen wurde er von einem Raunen geweckt. Kleine Füße in Lederschuhen trippelten um ihn her: Die Targi waren gekommen. Er setzte sich auf und sah sich um. Zu Hunderten bevölkerten sie die Höhle – kleine Leutchen mit Kapuze, rundem Gesicht und platter Nase, unter der ein dünner Schnauzbart wucherte. Einige umringten Gorgor und Imril und redeten in eigenartig schnatternder Sprache auf sie ein. Die beiden hörten ihnen ernst und verschlossen zu. Mitunter stellte Imril eine Frage, und Gorgor übersetzte. Die Targi antworteten, und die Gesichter der beiden Waldläufer wurden starr vor Sorge. Hatib wollte aufstehen, doch da kamen sie schon. Ein Targi war bei ihnen und schien eine Art Anführer zu sein. »Sie wollen uns begleiten«, rief Imril. »Beim Ver221
borgenen Gott! Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt.« »Sie wollen die Karninberge wirklich verlassen?« »Es war eine schwere Entscheidung für sie. Aber im Fernfeld gehen Dinge vor, die sie dazu gezwungen haben. Sie haben alle kampffähigen Männer aufgeboten, etwa zweitausend. Ihre Frauen und Kinder halten sich in sicheren Höhlen versteckt.« Er deutete auf den Targi. »Das ist Orch. Er spricht unsere Sprache und scheint der Häuptling zu sein.« »Kein Häuptling«, sagte Orch in gutturalem Araukarisch. »Bei uns gibt es nur Targi.« Er musterte Hatib und lächelte. »Du bist tapfer. Wir haben dich gesehen.« »Die ganze Zeit?« »Fast. Du bist durch Aur-Anea gezogen, das ihr Fernfeld nennt, in Drehnland verschwunden und mit dem Schatz zurückgekommen, den der Herr haben will.« »Welcher Herr? Der Priester der Wahrheit?« Orch nickte. »Ihr kennt ihn gut, nicht wahr? Ihr habt dafür gesorgt, dass er in seiner Burg nicht verhungert.« »Die Priester der Wahrheit sind unsere Freunde – sie haben den Tanzenden Tod in die Schranken gewiesen.« »Wo ist Gerk jetzt?« »Noch im Turm. Er hat Angst – und er mag dich nicht. Aber er will den Schatz sehen. Vielleicht kommt er bald.« 222
»Die Targi haben mir vorhin etwas Wichtiges erzählt«, warf Gorgor ein. »Ich glaube, es ging um den SOG.« »Wie das?« »Sie bezeichnen den Schwarzen Prinzen immer als Gesandten – es muss also einer da sein, der ihn sendet.« Hatibs einziges Ziel während der letzten Monate war die Vernichtung des Schwarzen Prinzen gewesen, und er hatte über den SOG nicht mehr nachgedacht. Nun wandte er sich an Orch. »Wer sendet den Schwarzen Prinzen denn?« Orch senkte den Kopf. »Jemand von hinter der Ostmauer.« »Der Silbergreis?«, fragte Imril entsetzt. »Nein.« In Orchs Gesicht trat Verwunderung. »Der ist En-Kudu, das Gesetz der Lande. Der Herr des Schwarzen Prinzen ist Krono-Nain, der dunkle Bruder der Lande. Es gibt einen bei uns, der ist sein Ebenbild. Er sucht ihn.« In diesem Moment trat Tikail zu ihnen. »Gerade sind zwei Gefährten eingetroffen, Rul und Dulaman. Sie haben dir etwas zu sagen, Imril.« Die beiden Neuankömmlinge waren etwa in Hatibs Alter. Auch ihnen waren die Strapazen der Reise deutlich anzusehen. »Willkommen am Versammlungsplatz der Waldläufer. Was bringt ihr für Neuigkeiten?« »Wir kommen aus Barku.« »Wie steht es bei den Nordländern?«, rief Imril erfreut. 223
»Die Stadt ist unversehrt und starrt vor Waffen und Kriegern. Doch das ist nicht alles. Über fünfhundert Waldläufer, die du vielleicht verloren geglaubt hast, erwarten dich dort. König Gebork hat uns ausgeschickt, dir eine Botschaft zu bringen: Morgreal hat ein neues Heer aufgestellt und marschiert gegen Barku. Die große Schlacht steht bevor.« Imrils Gesicht blieb unbewegt. »Ich bin froh, dass es so weit ist. Und fünfhundert Waldläufer sind mehr als ich noch erwartet habe.« »Dann sollten wir möglichst rasch aufbrechen«, sagte Hatib, spürte aber, dass Imril noch nicht losziehen wollte. Prompt verdüsterte sich das Gesicht seines Freundes. »Das wird nicht so einfach sein«, sagte er und wechselte einen Blick mit dem Targi. Dann stand er auf. »Ich muss dir was zeigen. Heute Nacht ist etwas Seltsames passiert. Die Targi haben mir gerade erst die Erklärung dafür gegeben.« Er ging Richtung Ausgang; Hatib, Gorgor und Orch folgten ihm. Hatib fiel auf, dass sein Freund ein wenig hinkte. »Ist das noch vom Sprung aus der Höhle der glühenden Masken?« »Da hat es angefangen«, seufzte Imril. »Es war fast verheilt, doch in den Feuersümpfen bin ich gestolpert und wieder mit dem Knöchel aufgekommen. Seitdem wird es nicht besser.« Der Eingangsspalt war so schmal, dass sie sich hindurchzwängen mussten. Draußen sog Hatib gierig die frische Luft ein. 224
Mittlerweile war der Frühling sogar dem grauen Fernfeld anzusehen. Rötliches Licht brach durch die Wolken, und Schmelzwasser kam in Rinnsalen von den Bergen. »Also?«, wandte sich Hatib an Imril. »Warum können wir nicht aufbrechen?« »Weil uns der Tanzende Tod dann vernichten würde.« »Er ist blind, und die Nachtmahre helfen ihm nicht mehr. Waldläufern muss es doch möglich sein, ihm zu entgehen.« »Das war einmal. Orch, sag es ihm.« »Der Tanzende Tod hat den Bann über die Nachtmahre aufgehoben.« Orch deutete nach Norden. »Er ist mit ihnen auf dem Weg hierher.« »Aber er hat sie doch vor meinen Augen in Stein verwandelt!«, rief Hatib. Dann begriff er. »Das ist das Werk des Schwarzen Prinzen, oder?« »Nicht mal der kann dem Tanzenden Tod seinen Willen aufzwingen«, knurrte Gorgor. »Krono-Nain selbst muss es gewesen sein – der, den du den SOG nennst.« »Die List des Schwarzen Prinzen ist nicht aufgegangen«, erklärte Imril. »Der Erft ist bei uns; die Nachtmahre sind ausgeschaltet. Also hat er Kontakt mit seinem Meister aufgenommen, und der hat sich an den Tanzenden Tod gewandt.« »Und ein Abkommen mit ihm geschlossen«, vollendete Hatib den Gedankengang. »Er soll uns mithilfe der Nachtmahre den Erft abnehmen.« 225
»Genau. Daraufhin hat der Tanzende Tod den Bannfluch über seine Diener rückgängig gemacht.« Hatib war entsetzt. »Was hat ihm Krono-Nain dafür wohl geboten? Der Tanzende Tod lässt sich nicht umsonst vor seinen Karren spannen.« »Die Freiheit hat er ihm versprochen«, sagte Imril finster. »Schau dich um – fällt dir nichts auf?« Hatib brauchte einige Zeit, bis er begriffen hatte. Der Gollan. Sein Fundament war geplatzt, und der schützende Pfeiler stand schräg, als habe eine gewaltige Macht an ihm gerüttelt. Hatib ging hin, um ihn näher zu betrachten. Der Gollan war über zweieinhalb Meter hoch, tonnenschwer und hatte jahrhundertelang vor der Höhle gestanden. Jetzt war der Zauberstein geschändet. Sprünge durchzogen ihn, und die heiligen Runen waren mit Ruß überzogen. Selbst wenn man den Pfeiler wieder aufstellte, würde er kaum noch Schutz bieten. »Letzte Nacht wurde er von einem Blitz getroffen«, sagte Imril. »Den anderen Gollani an den Grenzen des Fernfelds muss es ebenso ergangen sein. Krono-Nain reißt die Grenzen ein.« Hatib blieb die Luft weg. Als er die Sprache endlich wiedergefunden hatte, fragte er: »Du sagtest doch immer, es gebe Gesetze in den Landen. Gelten sie denn nicht mehr?« »Krono-Nain setzt sie außer Kraft. Eins nach dem anderen.« »Umso schneller müssen wir hier weg! Der Tan226
zende Tod braucht Zeit, um die Nachtmahre herzubringen.« »Versteh doch: Genau das dürfen wir nicht«, erwiderte Imril. »Solange wir den Erft haben, folgt uns der Tanzende Tod überallhin und zerstört, was sich ihm in den Weg stellt.« »Also müssen wir hier bleiben oder den Erft zurücklassen.« »Für uns kommt nur die erste Möglichkeit in Frage.« Imril legte Hatib die Hand auf die Schulter. »Auch aus einem anderen Grund: Die Lande erwarten etwas von uns. Das Fernfeld ist ungastlich, hat uns aber bisher Schutz geboten und mehrfach vor dem Tod bewahrt. Dafür fordert es jetzt den Preis.« »Nämlich?« »Dass wir den Fluch von ihm nehmen«, erwiderte Imril ruhig. »Wir sollen den Tanzenden Tod vernichten.« »Wie das denn?« Hatib war entrüstet. »Sollen wir vielleicht nach Korvo ziehen und Fackeln in die Burg werfen? Oder ihn mit unseren Schwertern kitzeln? Man kann ihn nicht töten!« »Die Lande erwarten genau das von uns. Also muss es einen Weg geben – wir müssen ihn nur finden.« Hatib verzog ärgerlich das Gesicht. »Da bin ich aber gespannt«, murrte er und stapfte zornig in die Höhle zurück. »Ich kann ihn verstehen«, sagte Gorgor. »Er glaubt, alles sei umsonst gewesen.« 227
Imril antwortete nicht. Er schaute in die dunkler werdende Welt. Weit im Süden glaubte er eine Gestalt auszumachen, einen verspäteten Wanderer, war sich aber nicht sicher. Seit dem Ayaddain überkam ihn immer wieder ein Gefühl der Schuld. Wie viele Gefährten würden noch kommen? Wie viele dem Schwarzen Prinzen zum Opfer fallen? »Hatib hat zu wenig Vertrauen in die Lande«, sagte Imril schließlich. »Sie sind eben arm an Erklärungen.« »Wird er je eine bekommen?« »Erst, wenn er die Lande ganz verstanden hat. Hatib wäre es am liebsten, sie würden tun, was er will, sie hingegen erwarten, dass man ihnen fraglos dient. So wie wir Waldläufer. Das ist es, was ihn von uns unterscheidet.« Sie brauchten nicht lange zu warten. Schon am nächsten Morgen – Hatib saß mit den Gefährten am Feuer – ertönte der Schrei »Der Tanzende Tod!« in der Höhle. »Jetzt zahlen wir den Preis«, murmelte Hatib und folgte Imril zum Höhleneingang. Obwohl die hochragende Wolke noch über zehn Meilen entfernt war, sah sie so bedrohlich aus, dass Hatib fast das Blut in den Adern gefror. ›Einmal hab ich ihn überlebt. Aber noch mal?‹ Schon glaubte er, das Brüllen und Toben zu hören. »Er lässt sich Zeit«, stellte er fest und musterte den Horizont. »Es wird zwei Stunden dauern, bis er hier ist. Was sollen wir tun?« 228
»Abwarten. Viel hängt davon ab, ob die Höhle noch geschützt ist.« Aller Augen richteten sich auf den Gollan. Gestern hatten sie ihn mühsam wieder aufgerichtet, doch jeder wusste, dass seine Macht gebrochen war. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Zugang für den Tanzenden Tod frei war. Imril deutete nach Norden. »Schaut! Da kommt noch jemand.« Etwa drei Meilen entfernt war eine Gestalt auf der Nordstraße aufgetaucht. Noch war sie kaum zu erkennen. Hatib schätzte die Entfernung. »Das wird knapp …« »… aber er könnte es schaffen«, versetzte Imril. »Vielleicht ist das Gerk – der wüsste, was wir tun sollen.« »Das ist Gerk.« Orch, der Targi, war neben sie getreten. »Er kommt, um mit uns gegen Korvaus-Nain zu kämpfen, den ihr den Tanzenden Tod nennt.« »Bis jetzt ist er vor ihm eher davongerannt«, brummte Hatib. »Er kann den Tanzenden Tod besiegen«, beharrte Orch. »Zu schön, um wahr zu sein«, stöhnte Hatib. »Dann wäre er zum ersten Mal zu etwas nütze.« Gorgor kniff die Augen zusammen. »Jetzt weiß ich, warum der Herr von Korvo so langsam ist. Seht mal genau hin.« Hatib folgte seinem Blick. Vor der Wolke waren 229
schwarze Schatten aufgetaucht und gewannen langsam Kontur. »Die Nachtmahre«, sagte er. »Er treibt sie vor sich her.« »Wie viele sind es?«, fragte Imril. »Schwer zu sagen. Sie sind noch zu weit weg.« Zwei Stunden krochen quälend dahin. Es wurde still am Versammlungsplatz der Waldläufer. Gerk, der Priester der Wahrheit, erreichte als letzter Vorbote des Tanzenden Todes die Höhle. Obwohl ein Marsch von mehreren Tagen hinter ihm lag, war ihm die Anstrengung kaum anzusehen. Sein Bart sah ein wenig länger und ungepflegter aus, als Hatib ihn in Erinnerung hatte; auch der dunkle Mantel war am Saum mit Erde beschmutzt. Doch Gerks Blick war scharf und überheblich wie ehedem. »Willkommen!«, begrüßte ihn Hatib nicht gerade freundlich. »Hat es dir im Turm nicht mehr gefallen? Sehr erfreut, dass ich deine Gastfreundschaft erwidern darf.« »Kann ich mir denken. Du brauchst mich auch dringend«, gab ihm Gerk mit gleicher Münze zurück. Der alte Priester hatte sichtlich keine Lust, sich Vorwürfe anzuhören. »Ich werde deine Gastfreundschaft nicht allzu lang in Anspruch nehmen.« Seine grünen Augen funkelten angriffslustig. Was auch immer Gerk seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte – höflicher war er nicht geworden. »Magst du etwas essen?«, fragte Imril, um die Wogen zu glätten. 230
»Danke«, erwiderte Gerk lächelnd. »Doch es gibt Wichtigeres zu tun. In zwei Stunden sind die Nachtmahre und der Tanzende Tod hier. Da werdet ihr schwere Verluste erleiden.« »Du wirst uns doch nicht etwa helfen wollen?«, knurrte Hatib unversöhnlich. »Wir haben eine Abmachung«, sagte Gerk kalt. »Du holst den Blauen Erft, und ich stehe euch bei, wenn dir das gelingt.« »Hier ist er.« Hatib zog den Lederbeutel hervor, doch der Alte wehrte ab. »Lass gut sein. Mein Ring hat mir gezeigt, dass du ihn hast.« »Schau ihn dir trotzdem an.« Hatib öffnete den Beutel. Blaues Licht erfüllte die Höhle. »Unangenehm, was? Kannst du mir sagen, wie man ihn gebraucht?« »Auf jeden Fall nicht, indem man ihn rumzeigt. Niemals darf er in die Hand des Schwarzen Prinzen fallen!« »Der ist im Augenblick nicht das Problem«, knurrte Gorgor. »Sondern die Nachtmahre und der Tanzende Tod.« »Das eine hängt mit dem anderen zusammen.« Gerk ordnete ungerührt die Falten seines Mantels – eine seltsame Geste in der verrußten Höhle. »Du, Hatib, hast die Pläne des Schwarzen Prinzen durchkreuzt. Deshalb ist jetzt das furchtbarste Bündnis in der Geschichte der Lande zustande gekommen: Der SOG und der Tanzende Tod haben zusammengefunden.« 231
»Und seitdem werden die Gollani zerstört«, sagte Imril. »Genau.« Ein schmerzlicher Zug lief über Gerks Gesicht. »Die Burg der Wahrheit ist nur noch ein Trümmerhaufen. Ich hoffe, der Versammlungsplatz kann länger widerstehen.« »Hast du unseren Gollan nicht gesehen?«, fragte Imril. »Auch er ist beschädigt.« »Noch schützt er uns. Sieben Pfeiler stehen an den Grenzen des Fernfelds. Und fünf im Inneren, um Plätze wie diesen zu schützen. Unser Gollan ist der mächtigste der fünf. Irgendwann wird er fallen, doch selbst Krono-Nain kann ihn nicht einfach so zerstören. Deswegen hat der Tanzende Tod die Nachtmahre dabei: Sie sollen für ihn an den Blauen Erft gelangen.« »Schöne Aussichten. Was tun wir jetzt?« »Es sind ungefähr tausend Nachtmahre«, sagte Gerk. »Ihr seid zwölfhundert Waldläufer und zweitausend Targi – da wird es euch doch nicht schwer fallen, sie zusammenzuhauen, was?« »Das allein reicht eben nicht, du Schlauberger«, knurrte Hatib wütend. »Du sagst selbst, dass der Gollan irgendwann fällt. Dann wird der Tanzende Tod uns besuchen kommen.« Gerk lächelte immer noch. »Das kann er nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich bei euch bin.« »Und?« »Vergiss nicht, wer ihm einst die Grenzen gesetzt 232
hat. Ich werde nicht zulassen, dass er die Regeln verletzt.« »Nimm den Mund nicht zu voll«, erwiderte Hatib, der dem alten Priester mit Unwillen, aber auch mit wachsendem Erstaunen zugehört hatte. »Auch du bist nur ein Mensch. Wenn du dich ihm entgegenstellst, bedeutet das deinen Tod.« Gerks Augen blitzten. »Sterben müssen wir alle. Aber warum sollte der Tanzende Tod stärker sein als ich?« Er sagte das, als wäre es das Normalste von der Welt. Hatib fragte sich, ob der Priester ein Prahlhans war. Oder ein Lügner, der sie ins Verderben führen würde. Aber aus Gerks Miene war alle Selbstgefälligkeit verschwunden und hatte finsterer Entschlossenheit Platz gemacht. ›Er wird es tun‹, dachte Hatib. ›Wie sehr muss er den Tanzenden Tod hassen.‹ Da überwand er seine Abneigung. Sie hatten ohnehin keine andere Möglichkeit – sie mussten Gerk vertrauen. In diesem Moment trat Tikail wieder ans Feuer. »Er ist nur noch eine halbe Meile entfernt«, meldete er. »Also – sehen wir ihn uns an«, sagte Gerk. Vor der Höhle war es bitterkalt geworden. Nur noch zwei Posten standen Wache, denen die Anspannung deutlich anzusehen war. »Geht rein«, befahl Imril leise. Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. 233
Hoch wirbelte die bleigraue Wolke über ihnen auf, und Hagelkörner pfiffen durch die Luft. Die Nachtmahre kämpften sich den Hang hoch und kamen näher. »Ihr müsst sie vernichten.« Gerk sprach laut, um das Tosen zu übertönen. »Nur dann kann das Unternehmen gelingen.« »Wie denn? Draußen geht es nicht.« »Lasst sie in die Höhle und haut sie dann zusammen.« Die Waldläufer schauten sich fragend an. »Das ist sehr riskant«, meinte Imril schließlich. »Wir könnten uns im Eingang postieren; dann haben wir den Rücken frei und können die Nachtmahre abwehren …« »Das reicht nicht«, fiel Gerk ihm ins Wort. »Sie müssen sterben, heute noch. Die Zeit wird knapp. Der nächste Blitz, der den Gollan trifft, wird ihn vernichten.« »Wenn wir die Nachtmahre in die Höhle lassen, gibt es ein Blutvergießen«, murrte Imril. Hatib blickte schaudernd zu den brüllenden Wolkenfetzen auf. Er glaubte, aus Nebel geformte Hände zu sehen, die nach ihnen griffen. Der Tanzende Tod hatte seine Gegner erkannt. »Wir müssen zurück«, rief er in den Sturm hinein. »Hast du nicht zufällig auch einen Zauber gegen Nachtmahre, Gerk? Das würde vielen das Leben retten.« »Wie gesagt – die sind eure Sache.« Der Priester verschwand im Eingang. Die anderen tauschten einen Blick. 234
»Überheblicher Schweinehund«, knurrte Hatib. »Er ist unsere einzige Chance«, sagte Imril. »Und das weiß er. Tun wir, was er will, und hauen wir die Nachtmahre zusammen.« In der Höhle war es totenstill. Die Luft roch dumpf und feucht. Waldläufer und Targi erwarteten dicht gedrängt das Kommende und blickten kalt entschlossen. ›Sie sind ganz anders als die Nordländer^ dachte Hatib, der am Eingang stand. ›Die Barkuri waren tapfer, aber ungeübt – die hier sind harte Krieger. Mit den Waldläufern könnten wir den Schwarzen Prinzen das Fürchten lehren. Wenn dieser Versammlungsplatz nicht unser Grab wird.‹ »Wo ist der Erft?«, fragte Hatib leise. »Im hintersten Teil der Höhle vergraben«, raunte Gorgor. »Dort finden ihn die Nachtmahre nie.« »Zumindest ein paar von uns müssen überleben«, flüsterte Tikail. »Und berichten, was geschehen ist.« Minutenlang herrschte unerträgliche Stille. Dann erreichte der Tanzende Tod sein Ziel. Der Boden erzitterte. Ein kalter Windstoß fegte Schnee in die Höhle. »Lasst erst ein paar Nachtmahre reinkommen«, flüsterte Hatib. »Klar«, flüsterte Gorgor grimmig. »Es muss sich ja lohnen, wenn wir zuschlagen.« Draußen begann es zu fauchen, dann hörte man Schritte. Und wieder Schritte. Das Fauchen verstummte. Im Eingang wurde es dunkel, und ein großer Nachtmahr schob sich herein. 235
Er zuckte zurück, als er die Reihen der Waldläufer sah, trat vorsichtig an die Wand und gab den Eingang frei, durch den nun ein Nachtmahr nach dem anderen kam. Mehrere Minuten verstrichen. Als ein Großteil der Untiere in die Höhle gedrungen war, rief Imril: »Los!« Waldläufer und Targi griffen an. Die Nachtmahre drängten sich zunächst am Eingang zusammen, um dem Gegner möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten; dann brachen sie wie auf ein Zeichen fauchend los. Steine flogen von der Decke. Die Targi waren wie Spinnen die Wände hochgeklettert und nahmen die Nachtmahre von dort aus gezielt unter Beschuss. Mancher brach erschlagen zusammen, doch auch Waldläufer wurden getroffen. »Drauf!«, schrie Hatib und versuchte, mit einigen Kämpfern zum Eingang vorzustoßen, um die Eindringlinge zu teilen. Doch das sollte sich als unmöglich erweisen. Mit solcher Schnelligkeit drang ein Nachtmahr nach dem anderen aus dem Spalt, dass der Vorstoß scheiterte. Meter um Meter mussten Hatib und seine Leute zurückweichen. Schreie und Stöhnen mischten sich unter den Kampflärm. Oft lagen ganze Gruppen ineinander verkeilt und bearbeiteten sich mit Dolchen und Zähnen. »An der Wand entlang zum Eingang!« Hatib hatte seine Waffe erhoben und sammelte die Waldläufer um sich. 236
»Gute Idee«, knirschte Gorgor, der gerade einen Nachtmahr niedergetreten hatte, der fast einen Kopf größer war als er. Die Kraft des Hünen schien unerschöpflich. »Wir schneiden den Biestern den Rückzug ab und hauen sie nieder.« Meter für Meter arbeiteten sie sich vor. Endlich hatte Hatib sein Ziel erreicht. Zusammen mit Gorgor stand er vorn. Wie wahnsinnig bearbeiteten sie die von draußen hereindrängenden Nachtmahre. Dann tat sich eine Lücke auf, und die Waldläufer stießen zum Eingang vor, um kein Untier mehr einzulassen. Plötzlich stand Hatib neben Imril, der sich ebenfalls nach vorn gearbeitet hatte. »Wir haben es fast geschafft!«, brüllte er. »Freu dich nicht zu früh!« Wild rannten die Nachtmahre gegen die überlegenen Gegner an. »Verstehst du, warum sie sich nicht zurückziehen?«, rief Hatib. »Lieber lassen sie sich abstechen.« »Auf diese Weise sterben auch unsere Leute«, kam zur Antwort. »Wir haben schon über hundert Mann verloren, und dabei wird es nicht bleiben.« Wieder drängten die Nachtmahre herein. Ihre Klauen zuckten gefährlich durch die Luft, und sie rannten gegen die geschlossenen Reihen der Waldläufer an. »Sieh mal!«, rief Imril und deutete entsetzt auf den Eingang, doch Hatib kam nicht dazu, seinem Blick zu folgen. Ein großer Nachtmahr hatte sich durchgearbeitet und tauchte unmittelbar vor ihm auf, brüllend, 237
hochaufgerichtet, die Augen weiß verdreht. Noch nie war Hatib so bestialischer Wut ausgesetzt gewesen. Er sprang zurück, prallte gegen einen anderen Kämpfer und fiel zu Boden. Dann war das Vieh über ihm. »Imril!«, brüllte Hatib, doch sein Freund hörte ihn nicht, sondern starrte wie versteinert zum Eingang. Der Nachtmahr hob den Fuß, um Hatib zu erdrücken, doch der zog blitzschnell seinen Dolch, und der Angreifer trat hinein. Das Tier schrie auf. Einen Moment begegnete Hatib seinem Blick, nutzte seine Chance, rappelte sich auf und rammte den Nachtmahr mit der Schulter; der verlor das Gleichgewicht und stürzte. Wenige Augenblicke später war er tot. Imril stand immer noch da wie angewurzelt. Jetzt sah Hatib, worauf ihn sein Gefährte hatte hinweisen wollen. »Der Gollan ist zersplittert.« Kein Licht schimmerte mehr von draußen herein; der Spalt war voll Nebel, durch den ein heiseres Brüllen drang. Dann tauchte – kaum sichtbar – eine Hand auf, klammerte sich schmal, dünn und krallenartig ans Gestein und tastete sich langsam vor. Hatib wurde bleich. Im Traum hatte er diese Hand und ihren Herrn schon gesehen. »Der Tanzende Tod!«, flüsterte er. Die Nachtmahre am Eingang waren fast alle niedergerungen. »Wir müssen ihn aufhalten«, sagte Imril zu Hatib. Der antwortete nicht, sondern starrte gebannt auf die Hand, die über die Wand kroch. 238
»Das können wir nicht«, murmelte er schließlich. »Aber wir müssen es versuchen!« Imril wollte sich mit erhobenem Dolch auf den Gegner stürzen, da nagelte ihn eine Stimme an Ort und Stelle fest: »Lass das!« Gerk, der Priester der Wahrheit, trat aus dem Gedränge der Waldläufer und schaute Hatib herausfordernd an. Dann war er vorbei und verdeckte mit seiner großen, hageren Gestalt die Sicht auf den Tanzenden Tod. Hatib wollte ihm nach, doch der Nebel verdichtete sich und entzog Gerk seinen Blicken. Es wurde still. Plötzlich zuckten Blitze, und ein Krachen hallte durch die Höhle. Dann ertönte ein gellender Schrei. »Er hat es tatsächlich getan.« Eiskalter Rauch quoll durch den Spalt und über den Boden. Das Toben und Brüllen hatte aufgehört. Endlich tauchten die Konturen einer Gestalt auf. »Wenn das der Tanzende Tod ist …«, flüsterte Imril, hob den Dolch und wartete auf das Kommende. Doch es war der alte Priester. Mit gesenktem Kopf wankte er herbei. Seine Arme baumelten herab, als gehörten sie nicht zu ihm. Er warf einen stumpfen Blick auf die Waldläufer, neigte sich vornüber und wäre umgefallen, hätte Hatib ihn nicht gestützt. Erschöpft sank Gerk in seine Arme. »Was hast du getan?«, fragte Hatib. »Nie hätte ich gedacht, dass der Tanzende Tod so stark ist«, murmelte Gerk und sackte zusammen. Der Kampf war vorüber. Zu hören war nur noch 239
das Ächzen der Verwundeten und manchmal ein Schluchzen, wenn ein Waldläufer einen Freund unter den Toten entdeckte. Über zwölfhundert Nachtmahre waren gefallen, fast hundertdreißig Waldläufer, dazu etwa fünfzig Targi. Die toten Nachtmahre wurden gesammelt und im hintersten Winkel der Höhle gestapelt. Die gefallenen Waldläufer lagen an anderer Stelle aufgebahrt. Aus dem Versammlungsort war eine Leichenhalle geworden, doch ein Entkommen war nicht möglich, denn die Nacht war eingebrochen, und keiner wusste, wo sich der Tanzende Tod befand. Weit war er jedenfalls nicht. Der Priester der Wahrheit lag noch immer bewusstlos am Feuer. Niemand hatte gesehen, was sich zwischen ihm und seinem unheimlichen Gegner abgespielt hatte. »Glaubst du, er stirbt?«, fragte Hatib und betrachtete den Alten nachdenklich. »Ich weiß nicht mal, was ihm fehlt.« Imril hatte eine Schnittwunde an der Stirn, war ansonsten aber unversehrt. »Er hat Flecken im Gesicht, als wäre seine Haut verbrannt.« »Oder erfroren.« Zwei Stunden saßen die Gefährten stumm an seinem Lager. Dann kam Gerk wieder zu Bewusstsein. Er röchelte leise, und ein Zittern durchlief seinen Körper. Schließlich öffnete er die bläulich verfärbten Lider. »Ich hab es kaum mehr zu hoffen gewagt.« Imril, der seinen Patienten keine Sekunde aus den Augen 240
gelassen hatte, beugte sich über ihn. »Hörst du mich, Priester?« Mühsam hob der Alte den Kopf. »Ist die Schlacht gewonnen? Sind die Nachtmahre besiegt?« »Vollkommen«, antwortete Hatib an Imrils Stelle. Auch die hundert, die draußen geblieben waren, hatten die Niederlage des Tanzenden Todes nicht überlebt. Steif gefroren lagen sie an den kahlen Hängen, getötet vom Zorn ihres Herrn. »Gut.« Der Priester richtete sich ächzend auf. »Jetzt haben wir nur noch einen Feind – den Herrn von Korvo.« »Was hat er mit dir angestellt?« »Frag lieber, was ich mit ihm angestellt habe. Ohne mich wärt ihr jetzt tot.« »Trotzdem können wir nicht raus«, meinte Imril. »Macht euch bereit zum Aufbruch«, beharrte der alte Priester. »Wenn es hell wird, müsst ihr losziehen, sonst ist es für Barku zu spät. Den Tanzenden Tod überlasst nur mir.« »Willst du ihn etwa aufhalten?«, rief Hatib aus. »Bevor du nicht zu Kräften kommst, brauchen wir gar nicht …« »Ich werde nie mehr zu Kräften kommen«, schnitt Gerk ihm das Wort ab und hob die Hände. »Sieh her.« Hatib schluckte. Die Finger waren blauschwarz verfärbt wie nach langer Entzündung. Ohne Heilkräuter und im unwirtlichen Klima des Fernfelds konnte sich Gerks Zustand nur verschlechtern. 241
Der Priester lächelte schwach. »Niemand berührt ungestraft den Tanzenden Tod«, sagte er leise. »Nicht einmal ich.« Traurig betrachtete er seine unbrauchbaren Hände. »Die Gelegenheit war günstig. Er wollte den Schutzzauber des Gollan überwinden. Eines Tages werden die Lande dafür Rechenschaft verlangen. Von ihm und von Krono-Nain. Er hatte seine ganze Energie auf den Pfahl gerichtet, als ich dazukam. Ich bin schwer verletzt, aber er hat auch was abgekriegt. Und das nicht zu knapp.« Die Kräfte verließen Gerk, und er sank aufs Lager zurück. »Lasst mich nun schlafen, diese letzte Nacht. Im Morgengrauen werden wir sehen, wer den längeren Atem hat – er oder ich.« Die letzten Worte murmelte er nur noch und schlief dann ein. »Wochenlang hab ich ihn verflucht«, meinte Hatib nachdenklich. »Weil er mich auf diese unselige Reise geschickt hat. Jetzt rettet er vielleicht unser Leben.« »Hoffentlich behält er Recht«, sagte Imril. »Den Tanzenden Tod aufhalten! Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie er in den Spalt ging, hätte ich ihn jetzt ausgelacht.« Wortlos wachten Hatib und Imril bei dem alten Priester, der seinem letzten Lebenstag entgegenschlief. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Nur manchmal stöhnte er leise. Imril hatte ihm die Hände notdürftig verbunden, doch das konnte seinen raschen Verfall nicht aufhalten. 242
Endlich dämmerte der Morgen durch den Spalt und weckte die abgekämpften Waldläufer, die in der Nacht wenig Schlaf gefunden hatten. Die Rucksäcke waren gepackt, die Stiefel für den langen Marsch gefettet, doch jeder wusste, was auf sie wartete. Immer wieder wanderten Blicke zu Gerks Lager. Als der alte Priester eine Stunde nach Tagesanbruch die Augen aufschlug, war sein Blick wieder fest und klar. Er setzte sich auf und fragte: »Wo ist der Tanzende Tod?« »Gorgor hat vorhin nachgesehen«, erwiderte Imril und gab Gerk einen Teller Suppe. »Er wartet etwa zwei Meilen nördlich.« »So was dachte ich mir. Der muss auch seine Wunden lecken.« Er sah Hatib und Imril an. »Zeit zum Aufbruch. Marschiert so schnell wie möglich nach Barku. In kaum zwei Wochen trifft Morgreals Heer dort ein.« »Wird uns der Tanzende Tod nicht angreifen, wenn wir uns aus der Höhle wagen?«, wandte Hatib ein. »Das muss er sogar«, erwiderte Gerk. Imril hatte den Verband gelöst, und der Priester warf einen Blick auf seine schwarz gewordenen Hände. »Er wird versuchen, die Vereinbarung mit Krono-Nain einzuhalten. Doch jetzt, wo er schwach ist, habe ich eine Chance gegen ihn.« »Aber er wird dich töten.« »Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab. Ich bin ein Priester der Wahrheit 243
und habe einen Auftrag – du selbst hast mich daran erinnert.« Gerk deutete auf seine Brusttasche. »Da ist noch etwas – der zweite Teil meines Versprechens.« Hatib verstand. Wortlos nahm er den Ring der Wahrheit raus. »Bewahre ihn gut«, sagte Gerk feierlich. »Du weißt, wie man ihn gebraucht. Früher war es üblich, ihn kurz vor dem Tod in die Hände eines jungen Priesters zu geben, doch die Zeiten haben sich geändert, und von meinen Brüdern ist keiner mehr am Leben.« Er richtete sich auf. »Sieh dich vor, wenn du durch ihn hindurchblickst! Die Wahrheit hat viele Gesichter.« Gerk holte tief Luft, um aufzustehen; Hatib half ihm auf die Beine. »Bald werdet ihr sehen, ob ich Wort halten konnte.« »Aufbruch!«, rief Imril über den Versammlungsplatz. »Wir führen den Zug«, sagte Thornegin. Seit dem gestrigen Kampf schien sein Bart noch weißer geworden. »Ihr bleibt bei Gerk. Wenn er gegen den Tanzenden Tod unterliegt, geben wir ein Zeichen und verstreuen uns in alle Winde. Ein paar werden schon überleben.« Dann verließen die Waldläufer in langer Reihe die Höhle. Auf der Nordstraße sammelten sie sich, um den Marsch nach Süden anzutreten. Hatib und Imril waren unter den Letzten; Gerk war bei ihnen. Die 244
drohende Wolke des Tanzenden Todes stand im Norden und bewegte sich nicht. »Sollen wir auf dich warten?«, fragte Hatib und kannte die Antwort. »Auf keinen Fall«, sagte Gerk. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Wir Alten müssen den Jungen weichen – so ist das nun mal. Ich will nicht klagen. Nicht jeder stirbt Hand in Hand mit dem Tanzenden Tod.« »Du bist anders, als ich dich anfangs eingeschätzt habe«, sagte Hatib bewegt. »Es muss schwer sein, die Dinge so zu sehen.« »Wenn man jung ist, schon. Später wird es leichter. Aber jetzt zieht los. Und dreht euch nicht um!« »Wir danken dir«, sagte Imril. »Auch wenn es vielleicht wie Hohn klingt.« »Ich weiß, wie es gemeint ist.« Endlich war Gerks Hochmut verschwunden. »Leb wohl«, sagte auch Hatib, und sie wandten sich zum Gehen. Auf der Nordstraße angekommen, gaben sie Tikail ein Zeichen, und der Marsch begann. Ein entferntes Donnern ließ sie aufhorchen. Der Tanzende Tod hatte sich in Bewegung gesetzt. Die Waldläufer beschleunigten den Schritt. Trotz Gerks Warnung sah Hatib sich behutsam um. Der Priester stand noch immer am Höhleneingang, lächelte und winkte mit der verbundenen Hand. Der Wind verwehte den letzten Gruß, den er den Waldläufern nachsandte. 245
Dann straffte er sich und ging quer übers Geröllfeld auf die nahende Wolke zu. Ein Windstoß fegte von den Bergen. Hatib wandte sich ab, ein namenloses Grauen im Nacken. Obwohl helllichter Tag war, wurde es dunkel, als wollten die Wolken die Sonne auslöschen, um nicht zu sehen, was geschah. Ein letztes Mal drehte Hatib sich um. Gerk war schon weit weg, ein Strich in der Landschaft, kaum noch zu erkennen in der Dunkelheit. Dann verschlang ihn die Wolke. Das war das Letzte, was man von ihm sah. »Schau nicht zurück«, mahnte Imril. Eine halbe Stunde später zuckten Blitze. Hatib und Imril marschierten weiter und versuchten, nicht an den Kampf zu denken, dessen Größenordnung ihre Vorstellung überstieg. Ein letzter Blitz zerriss die Nacht. Einen Augenblick hoben sich die Gipfel der Karninberge gegen den kalt erglühenden Himmel ab. Dann kamen ein Krachen und ein markerschütternder Todesschrei, der an den Hängen widerhallte. Ein eisiger Luftzug wehte über das Heer der Waldläufer. Das war das Ende Gerks, des Priesters der Wahrheit vom Verbotenen Land. Und das Ende des Tanzenden Todes. »Es ist vorbei«, sagte eine Stimme neben Hatib. Orch, der Targi, marschierte bei ihm. »Korvaus-Nain ist tot.« »Und Karuns Schuld ist abgegolten«, meinte Imril 246
bewegt. »Nach so vielen Jahren ist der Wunsch der Lande endlich erfüllt.« Über vierhundert Meilen entfernt erwachte der Karun zum Leben. Erst war es nur ein dumpfes Grollen, doch es schwoll immer mehr an, als zürne die Ul-Um über den Tod ihres Stiefsohns. Die Flanken des Vulkans bebten, und Korvo erzitterte bis in die Grundfesten. Dann spie der Krater Lava und Gestein aus. Felsbrocken regneten auf Korvo nieder, durchschlugen das Kuppeldach der verwaisten Burg und brachten es zum Einsturz. Spalten öffneten sich unter den Fundamenten. Heißes Gas strömte empor und hüllte das Bauwerk in eine giftige Wolke. Noch ein gewaltiger Erdstoß, und die Mauern stürzten in sich zusammen. Korvo, das schrecklichste Bauwerk nördlich des Alten Reichs, nur zusammengehalten von der Bosheit seines Herrn, war nicht mehr.
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10 Die Schlacht um Barku Dann standen die Wölfe vor der Stadt! So zogen zwölfhundert Waldläufer und zweitausend Targi unter Führung von Hatib, Imril und Gorgor über die Nordstraße. Gerks unheimliches Ende war bald vergessen, und alle waren froh, aus dem unwirtlichen Fernfeld zu kommen. Trotz des ungewissen Ausgangs waren die Waldläufer zum Kampf entschlossen, denn alle hatten Freunde verloren, entweder im Gefecht mit den Nachtmahren oder an die Häscher des Schwarzen Prinzen; alle waren sie verfolgt worden und oft nur knapp Gefangenschaft und Tod entronnen; auf abenteuerlichen Wegen waren sie zum Versammlungsplatz gelangt. Dennoch hatte der Schwarze Prinz ihre Zusammenkunft nicht verhindern können. Jetzt wollten sie es ihm heimzahlen. Noch zögerte der Frühling und war im steinernen Grau der Berge kaum zu erkennen, doch da und dort spross frisches Gras zwischen den Steinen hervor. Es roch nach Frühling. Am dritten Tag schließlich zog ein einsamer Vogel über den Himmel. Ein Vogel! Wie lange hatte Hatib kein Tier mehr gesehen, keine Pflanze außer Flechten und erfrorenen Grasbüscheln! ›Früher war der Herbst meine liebste Jahreszeit‹, überlegte er. ›Dann zog es mich immer aus Araukaria. Nie hätte ich gedacht, dass der Frühling so schön sein kann.‹ Trotzdem spürte er, dass er einen Teil seiner selbst 248
im Fernfeld zurückließ, wo man sich unweigerlich bewusst wurde, nur ein Staubkorn im Gefüge der Lande zu sein. Die raue Schönheit des Nordens hatte in Hatibs Seele Wurzeln geschlagen. Unter der Rastlosigkeit der letzten Tage schwelte Sehnsucht – nach Einsamkeit. Mitte April kamen sie an den Resten des Gollan vorbei, der das Reich des Tanzenden Todes nach Süden begrenzt hatte. Einen halben Tagesmarsch darauf waren sie in Moloil. Die Stadt war fast ausgestorben. Die waffenfähigen Männer waren unter ihrem Obermann Kodo nach Barku gezogen, um König Gebork zu helfen – wie die Männer aus Ysen und Algabal. Mehrmals hatte Hatib den Ring der Wahrheit befragt, Gerks Vermächtnis, und was er sah, machte ihn schaudern. Das neue Wolfsheer war riesig, und Morgreal schien zu wissen, dass er beobachtet wurde: Viele Wagen in seinem Tross blieben verhüllt. Sie waren so schwer, dass zehn Ochsen sie zogen. Was mochte unter den Planen stecken? Zehn Tage nach ihrem Abmarsch machten sie endlich Halt vor Barku. Der Frühling war eingekehrt. Verglichen mit Araukaria mochte er schüchtern und spärlich scheinen, doch in den Augen der Waldläufer, die wochenlang nur Steine und tief hängende Wolken gesehen hatten, war das Übermaß der Farben fast unerträglich. Im Gorm, der sich durchs grüne Tal schlängelte, spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne; die Bäu249
me waren noch kahl, die Hügel aber mit Blumen bedeckt. Auch Barku hatte sich verwandelt. Die Mauern waren höher geworden und durch hölzerne Türme verstärkt. In den großen Zeltlagern vor den Toren waren Truppen aus den anderen Königreichen untergebracht. »Wie schön das alles aussieht«, sagte Imril. »Doch der Friede wird nur noch kurze Zeit dauern.« »Sieh dir die Zelte an!«, rief Hatib. »Wir haben viele tausend Krieger hinzugewonnen.« »Und sind trotzdem in der Unterzahl.« »Das macht nichts«, mischte sich Gorgor ins Gespräch. »Die Nordländer wissen, wofür sie kämpfen.« Auf den Mauern stand eine dichte Menschenmenge. Die Barkuri jubelten von den neu errichteten Brüstungen, denn sie hatten Hatib und Imril, die vorneweg marschierten, erkannt. Imril lächelte grimmig. »Sie haben anscheinend noch nicht verstanden, dass es jedes Mal Krieg gibt, wenn wir kommen.« »Das ist ja nicht unsere Schuld«, meinte Hatib. »Sondern die von Morgreal, der seine Unfähigkeit nicht einsehen will.« Imrils Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Diesmal wird er sich vorsehen.« Das Nordtor war geöffnet worden, und ein Reiter sprengte heraus. Er war jung und trug leichte Lederkleidung; im Galopp näherte er sich dem Zug. 250
»Das ist Feri! Der naseweiseste Wachposten, den ich je gesehen habe. Sicher wird er uns Löcher in den Bauch fragen.« Der Junge grinste übers ganze Gesicht, als er sein Pferd vor Hatib zum Stehen brachte. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr noch lebt«, sagte er, sprang ab und schüttelte den beiden die Hand. »Nach allem, was man von euch gehört hat.« »Was hat man denn gehört?«, fragte Hatib neugierig. »Na – eben nichts«, erwiderte Feri, und sie mussten lachen. »Besser keine Neuigkeiten als schlechte. Und bei euch? Wie es aussieht, hat Hauptmann Olin ganze Arbeit geleistet.« »Der hat uns Tag und Nacht schuften lassen. Es ging ihm nie schnell genug. Ich glaube, er hat seit zwanzig Jahren nicht mehr solchen Spaß gehabt.« »Jedenfalls kann das Resultat sich sehen lassen.« Imril betrachtete die Befestigungsanlagen. »Morgreal wird sich was einfallen lassen müssen.« »Außerdem sind mittlerweile alle Männer aus Moloil, Ysen und Algabal hier. Elftausend, glaube ich. Aber ich kann mir Zahlen nicht merken.« »Das sind zu wenige«, murmelte Imril in sich hinein. »Olin hat mit Rafai Truppenübungen abgehalten. Ein richtiges Heer will er haben. Ich weiß nicht, wo er lauter gebrüllt hat, beim Bauen oder beim Üben. Rafai brüllt nie.« 251
»Die beiden ergänzen sich ganz gut«, versetzte Hatib. »Sie sind vermutlich gerade bei Gebork im Palast. Geht nur rein und schaut nach ihnen.« Wenig später betraten sie zu viert den Palast: Hatib, Imril, Gorgor und Orch. »Und schaut nach ihnen?«, murmelte Hatib grinsend. »Wo werden wir den Truchtin finden? Auf dem Thron über einem Schlachtplan oder in der Küche beim Kartoffelschälen? In diesem Reich ist alles möglich.« Sie fanden König Gebork im Beratungssaal. »Seid gegrüßt!«, sagte Hatib, als sie eintraten. »Ich hoffe, wir stören nicht.« »Tapfere Männer stören nie.« Der Truchtin richtete sich auf und lächelte. Dann umarmte er die Kampfgefährten herzlich. »Ich bin froh, dass ihr da seid. Wir haben sehr auf eure Hilfe gehofft. Morgreals Heer ist kaum fünfzehn Meilen entfernt.« Auch er hatte sich verändert. Der Spitzbauch war verschwunden, der Bart dafür ein wenig länger geworden. Und weiß. König Gebork schien um Jahre gealtert. Doch seine funkelnden Augen waren die gleichen geblieben. »Setzt euch und erzählt«, sagte er. »Ich vermute, ihr habt viele Abenteuer hinter euch.« »Das kann man wohl sagen. Imril kennt Ihr bereits, und das ist Gorgor, ein Waldläufer und Freund. Außerdem haben wir es geschafft, die Targi, die Bewohner des Fernfelds, auf unsere Seite zu bringen. 252
Das hier ist Orch, der für sie …« Hatib konnte nicht weiterreden: Olin war eingetreten und schloss ihn in die Arme. »Dass ihr noch lebt!«, rief er. »Ihr verrückten Kerle!« Hatib erwiderte die Umarmung von Herzen. Dann war auch Rafai zur Stelle. »Willkommen in Barku«, sagte er zu Orch und Gorgor. »Ich hätte nie gedacht, mal einen Targi leibhaftig zu Gesicht zu bekommen.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Trotzdem sind wir so wenige.« »Ein Nordländer wiegt zehn Wölfe auf«, erwiderte Olin. »Wirst schon sehen.« »Hoffentlich«, meinte Rafai skeptisch. Hatib wollte mit seinen Abenteuern beginnen, kam aber wieder nicht zum Erzählen. Die Tür öffnete sich, und Feri steckte den Kopf herein. »Sie kommen«, verkündete er. »Wer?«, fragte Gebork. »Morgreal?« Feri grinste. »Der natürlich auch. Aber ich meine Kait, Gerrit und Kodo. Sie haben gehört, dass die Waldläufer da sind. Jetzt wollen sie die Anführer sehen.« Kurze Zeit später betraten drei Männer den Beratungssaal. »Seid willkommen!«, begrüßte sie der Truchtin. »Setzt Euch zu uns. Wie Ihr seht, haben wir Gäste.« Hatib musterte die drei und versuchte sie einzuschätzen. König Gerrit von Algabal war groß und hager, hat253
te eine Glatze und musterte Hatib aus grauen Augen. Dann reichte er ihm die mächtige Pranke. »Warst du das, der Barku vor den Wölfen bewahrt hat?« »Ja. Und ich bin nicht allein gekommen. Neben mir stehen Imril und Gorgor, zwei Waldläufer. Sie haben zwölfhundert Gefährten aus dem Fernfeld hergeführt. Daneben seht Ihr Orch, den Anführer der Targi.« »Die Targi«, murmelte Kodo von Moloil, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Dass ich das noch erleben darf.« Kodo mochte an die siebzig sein, doch sein Blick war so frisch und offen, als sei das Alter bei ihm nur die Summe aus Kraft und Lebensfreude der Jugend. Ein weißer Bart umrahmte sein faltiges und gütiges Gesicht, und er war so groß, dass selbst Hatib zu ihm aufschauen musste. »Ich freue mich, euch kennen zu lernen«, sagte er und reichte den vieren die Hand. »Der Truchtin hat mir von eurem Marsch ins Fernfeld erzählt. Ihr müsst sehr mutig sein.« Dann wandte Kodo sich an Orch. »Jahrhundertelang haben die Targi einzig zu den Bewohnern von Moloil Kontakt gehabt. Da freut es mich umso mehr, dass sie sich dem Kampf gegen den Schwarzen Prinzen anschließen.« »Wer ihn unterstützt, ist unser Feind«, kam zur Antwort. »Und wer gegen ihn kämpft, dem helfen wir, denn der Schwarze Prinz ist der Fluch der Lande.« 254
»Dann sind wir jetzt etwa fünfundzwanzigtausend«, meldete sich Kait zu Wort. »Die größte Streitmacht, die je in den Nördlichen Königreichen zusammengekommen ist. Wenn Morgreal kämpfen will, soll er nur kommen!« Kait vom Ysen war das genaue Gegenteil von König Gerrit: klein, breitschultrig und mit krummen Beinen, die aus einem kurzen Rock aus grober Baumwolle herausstanden. Ein Schnauzbart zierte sein breites Gesicht, passte aber nicht zu dem vollen, lockigen Haupthaar, das ihm wie eine Mähne über die Schultern hing. Wenn Gerrit wie ein Grobschmied aussah, so ähnelte der König vom Ysen einem zähen, kauzigen Raufbold. Endlich konnte Hatib erzählen – vom Marsch ins Fernfeld und davon, was sie auf dem Karnin erlebt hatten, von der Begegnung mit dem Priester Gerk und der Wanderung durchs dunkle Drehnland, vom Ring der Wahrheit und vom Tanzenden Tod. Hatib fasste sich kurz, doch die Andeutung ihrer Abenteuer genügte, den Truchtin die Hände überm Kopf zusammenschlagen zu lassen. »In Barku wagt man kaum, den Namen des Tanzenden Todes auszusprechen. Und ihr habt ihn getötet!« »Das war Gerk«, erwiderte Imril bescheiden. »Doch wenden wir uns der Zukunft zu. Der Norden ist vereint – vielleicht können wir Morgreal ja ein zweites Mal besiegen.« »Habt ihr tatsächlich den Erft und den Zauberring?«, unterbrach Kait. »Was kann man damit anfangen?« 255
»Der Ring der Wahrheit zeigt, was in den Landen vorgeht.« Hatib öffnete den Beutel und legte den Ring auf den Tisch. Der König vom Ysen betrachtete ihn mit unverhohlener Gier. »Darf ich ihn ausprobieren?« »Das ist schwierig.« Kait versuchte es trotzdem, starrte lange auf den Ring und gab ihn Hatib dann enttäuscht zurück: »Ich kann nichts erkennen.« »Man muss lange üben«, erwiderte Hatib und steckte den Ring wieder ein, bevor die anderen auf ähnliche Gedanken kamen. »Und der Erft?«, bohrte Kait weiter. »Hast du den auch hier?« »Ja, aber sein Anblick ist schwer zu ertragen. Ich möchte nicht, dass wir durch ihn zu Schaden kommen.« Der König vom Ysen nickte sichtlich enttäuscht. Der Truchtin ergriff das Wort: »Spätestens übermorgen ist Morgreal hier. Ich frage mich, was er sich diesmal einfallen lassen wird, um in die Stadt zu kommen.« »Durchs Flusstor wird er es jedenfalls nicht mehr versuchen«, sagte Olin grinsend. »Sind wirklich alle Vorbereitungen getroffen?«, fragte Hatib. »Ich habe mit Rafai einen Plan ausgedacht«, knurrte Olin und beugte sich vor. »Wir haben Morgreal ausspioniert und wissen, dass er uns anderthalbfach überlegen ist, vielleicht sogar um das Dop256
pelte. Er hat Vorräte, uns Monate zu belagern, wir dagegen können uns nicht lange verschanzen, denn wir müssen fünfundsiebzigtausend Menschen versorgen, und die Stadt ist überfüllt. Also muss es schnell gehen.« Imril nickte zustimmend. »Und worauf willst du hinaus? Auf einen offenen Kampf?« »Darauf, Morgreal eine Falle zu stellen«, antwortete Olin. Hatib und Imril spitzten die Ohren. »Zwei Meilen südöstlich liegt das Wäldchen von Hamlin«, fuhr Olin fort und zeigte es auf der Karte. »Ich habe dort in den letzten zwei Monaten Verstecke für etwa dreitausend Mann bauen lassen. Wenn die Wölfe kommen, lassen sie sich überrollen und stehen dann in ihrem Rücken. Morgreal ist auf Belagerung eingestellt, nicht auf offenen Kampf. Er rechnet nicht mit Feinden außerhalb der Mauern. Zu einem verabredeten Zeitpunkt kommen unsere Männer aus dem Wald und greifen aus dem Hinterhalt an. Gleichzeitig machen wir einen Ausfall und nehmen die Wölfe in die Zange.« Hatib pfiff durch die Zähne. »Das ist ein verzweifelter Plan. Wenn Morgreal davon Wind bekommt oder sich zu schnell von der Überraschung erholt, gibt es eine Katastrophe.« »Rafai war anfangs dagegen«, räumte Olin ein und warf seinem jungen Offizier einen Seitenblick zu. »Das Risiko ist hoch, aber was sollen wir sonst tun?« 257
Es wurde still. Schließlich ergriff Imril das Wort. »Der Plan kann funktionieren, hat aber einen Schwachpunkt: Die dreitausend Mann im Wald tragen die Hauptlast. Wenn sie entdeckt werden oder versagen, ist alles verloren. Also müssen es die besten Kämpfer sein.« »Richtig«, bestätigte Olin finster. »Die Nordländer sind alle tapfer. Aber um so einen Angriff durchzuführen …« »Lass mich das machen. Mich, die Waldläufer und die Targi.« Schweigen herrschte im Saal. Imril hatte Recht: Nur die Waldläufer konnten den Plan ausführen. Aber dass er freiwillig die Gefahr auf sich nahm, damit hatte niemand gerechnet. »Es ist gefährlich«, wandte Hatib ein. »Ihr werdet die höchsten Verluste haben.« »So sind die Karten eben verteilt«, meinte Imril gleichmütig. »Es ist die einzige Möglichkeit, mit Morgreal fertig zu werden.« »Ich danke dir«, sagte Olin rau. »Dann werde ich die Waldläufer begleiten«, erklärte Hatib. »Bitte nicht«, wandte der Hauptmann ein. »Wir brauchen dich bei der Verteidigung der Stadt.« Hatib wiegte den Kopf. Olins Plan schwebte wie ein Todesurteil über seinem Gefährten, und er wollte ihn in der Stunde der Gefahr nicht allein lassen. Imril reichte ihm die Hand. »Dein Mut ehrt dich, aber Olin hat Recht – dein Platz ist hier auf den Mauern.« 258
Hatib schwieg, und Imril wandte sich an den Hauptmann. »Heute Abend ziehen wir in den Wald von Hamlin. Und übermorgen um Mitternacht greifen wir an!« Es war ein schöner Aprilabend. Rötliche Wolken zogen über Barku, als die untergehende Sonne einen letzten Hoffnungsgruß sandte. Morgreals Heer war kaum acht Meilen entfernt, und Waldläufer und Targi sammelten sich vor dem Südtor. »Alles Gute!«, sagte der Truchtin. »Und seht euch vor! Wenn etwas schief geht, kann nichts und niemand euch helfen!« »Es wird nichts schief gehen«, sagte Gorgor. »Übermorgen um Mitternacht spalten wir Morgreal den Schädel!« Auch Hatib und Imril nahmen Abschied. Im Gegensatz zu Gorgor, für den alles nur ein großes Spiel schien, war Imril ernst. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst«, sagte er mit gequältem Lächeln. »Wir sind dem Tod so oft entkommen – warum sollte er gerade jetzt die Rechnung fordern?« »Meine Nerven sind wohl nicht mehr die besten«, meinte Hatib. »Mit der Hoffnung auf den Sieg wächst die Angst vor der Niederlage«, gab Imril zu. »Wenn du keine Angst haben willst, darf dir am Überleben nichts gelegen sein.« Hatib umarmte ihn. »Es wird schon nichts passieren«, sagte er tief bewegt. »Übermorgen um Mitter259
nacht!« »Leb wohl!« Gorgor, der schon an der Spitze des Zuges stand, winkte, und Hatib winkte zurück. Dann begann der Marsch. ›Imril hinkt noch immer‹, dachte er und sah ihm schweren Herzens nach. »Unsere Angst steigt mit der Hoffnung auf den Sieg«, murmelte er dann. »Wie wahr.« Hatib begriff, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Am Beginn der Reise war ihm das Leben nichts wert gewesen, denn er hatte nichts zu verlieren gehabt. Gerade das hatte ihm noch in auswegloser Situation Kraft gegeben. Sie hatten dem Tanzenden Tod ins Auge geschaut, waren durch das unheimliche Drehnland gezogen und immer mit dem Leben davongekommen. Sie hatten so tollkühn und ziellos gehandelt, dass dem Schicksal nichts übrig blieb, als ihnen ihren Willen zu lassen. Jetzt war es anders. Das Ende aller Mühen schien greifbar nah; bald würde er den Untergang der Heimat rächen. Hatib hatte ein Ziel – und deswegen Angst, es nicht zu erreichen. Nachdenklich sah er seinem Freund nach. Imril dachte wie die Lande nur an das, was war, nicht an das, was sein würde. Deshalb hatte er kein Interesse, sich für später zu schonen. Plötzlich kam Hatib sich gegenüber seinem Freund schäbig vor. Dann standen die Wölfe vor der Stadt! Schon im Morgengrauen hatten sich die letzten Späher in die Mauern zurückgezogen, denn es gab nichts mehr zu 260
erkunden. Als die Sonne wenig später über den Landen aufging und die Stadt in ein bleiches Licht tauchte, sahen sich die Barkuri ihren lang erwarteten Gegnern gegenüber. In Reih und Glied stand Morgreals Heer im Tal – fünfundvierzigtausend Krieger. Den Verteidigern auf den Mauern sank das Herz bei dieser Streitmacht, die ihre Stärke um fast das Doppelte übertraf. Die Anführer waren zu Pferd und in schwarze Mäntel gekleidet. Auf ihren eisernen Helmen prangten bunte Federbüsche. In ihrer Mitte musste Morgreal sein. »Siehst du die Planwagen?«, fragte Gebork, der mit Hatib auf dem neu erbauten linken Verteidigungsturm stand. »Was sie wohl da drin verstaut haben?« »Der Ring der Wahrheit konnte es mir nicht zeigen«, sagte Hatib. »Morgreal ließ sich nicht in die Karten schauen.« Das Heer teilte sich und gab den Blick auf die Befehlshaber frei. Ein Reiter löste sich und sprengte heran. »Will Morgreal etwa verhandeln?«, fragte Hatib verwundert. »Möglich«, entgegnete Gebork. »Vielleicht versucht er, die Stadt diesmal ohne Verluste in die Hand zu bekommen.« »Friedliche Übergabe?«, murmelte Olin ungläubig. »Wir sollten den Unterhändler gar nicht erst empfangen«, sagte Kait finster. 261
»Vielleicht können wir ihn aushorchen«, wandte Hatib ein. »Wölfen öffnet man nicht die Tür«, beharrte Kait. »Was meint Ihr, Truchtin?«, fragte Olin. Der schaute nachdenklich auf den in prächtiger Rüstung herangaloppierenden Unterhändler. Hatib ahnte, dass er hoffte, die Schlacht doch noch zu verhindern. Mittlerweile war der Reiter vor dem Tor und pochte mit dem Griff seines Schwertes an. Schicksalsschwer hallte es zu ihnen hinauf. Da straffte sich Gebork und presste die Lippen zusammen. Der König von Barku hatte sich entschieden. »Wir werden ihn empfangen«, sagte er. »Öffnet das Tor!« Während Olin auf der Mauer blieb, stiegen Gebork, Kait und Hatib vom Turm. Es war ein prächtiger Krieger. Sein Pferd war schwarz wie die Nacht, seine Rüstung funkelte in der Morgensonne. Er nahm den Helm ab, schob ihn unter den Arm, salutierte und sah hochmütig auf die drei einfach gekleideten Männer hinab. Die umstehenden Barkuri schauten gespannt auf die befremdliche Szene, auf den stolzen Reiter und den bescheiden wirkenden Truchtin. »Seid Ihr der König von Barku?« Der Gesandte schien es nicht nötig zu haben abzusitzen. Unter dem Helm war flachsblondes Haar zum Vorschein gekommen, eine stumpfe Nase und fleischige Lippen. Die Augen blickten stahlblau auf die drei hinunter. 262
»Der bin ich.« »Mich schickt Morgreal, der oberste Feldherr des Schwarzen Prinzen.« Das Pferd des Boten fing an zu tänzeln, und Gebork musste einen Schritt zurückweichen. Die Umstehenden begannen zu murren. »Wie Ihr gesehen habt, steht ein Heer von fast fünfzigtausend Kriegern vor der Stadt – bereit, die Mauern zu stürmen und Euch mit Mann und Maus zu vernichten. Noch bietet Euch mein Herr das Leben an.« »Das wird er nicht umsonst tun«, sagte Gebork. »Ihr besitzt etwas, das ihm gehört«, erklärte der Bote. »Morgreal will, dass Ihr ihm den Blauen Erft überlasst, Euch ergebt, die Waffen abliefert und die Tore öffnet.« »Und welche Sicherheit haben wir, dass dein Herr uns schont und nicht über die Klinge springen lässt?« »Sein Wort muss Euch genügen.« Gebork hatte das wissende Lächeln aufgesetzt, das Hatib schon kannte. »Morgreals Wort!«, rief er. »Das Wort des Mannes, der Heeresvorsteher von Araukaria war und die Stadt verraten hat – eine schöne Sicherheit!« Der Unterhändler und der Truchtin maßen einander schweigend. Schließlich fragte Gebork: »Findest du nicht, Hatib, dass Morgreals Bote ein schönes Pferd hat?« »Doch, Truchtin, ein sehr schönes Pferd hat er. Eher für einen König geeignet als für einen Abgesandten.« »Achtet man in Barku die Sitte nicht mehr, Unter263
händler frei abziehen zu lassen?«, fragte der Bote lauernd. »Doch, doch«, erklärte Gebork ruhig. »Aber die gilt nicht für Pferde. Sei froh, dass wir wenigstens den Eseln freien Abzug lassen – sonst würden wir dich auch dabehalten.« Der Gesandte musste vom Pferd steigen und verließ die Stadt unter allgemeinem Gelächter. »Richte deinem Herrn aus«, sagte Gebork noch, »dass Barku sich keiner Macht unterwirft. Niemandem.« Der Bote machte eine giftige Bemerkung und eilte davon. »Jetzt müssen wir die Schlacht wirklich gewinnen«, sagte Gebork leise. »Ob es gut war, Morgreal so zu reizen?« »Der würde uns doch sowieso töten«, antwortete Hatib. Zurück auf dem Turm meinte Olin: »Das hat den Leuten gut getan. Ich wünschte, ich könnte Morgreals Gesicht sehen.« »Besser nicht«, meinte Gebork. Vor der Stadt erscholl ein Gebrüll, das den Nordländern das Blut in den Adern gefrieren ließ. Morgreal schien eine Entscheidung getroffen zu haben. »Er setzt zum Sturm an«, sagte Olin. Da fasste ihn jemand an der Schulter. Es war Rafai. Neben ihm stand – Orch, der Targi. »Was machst du denn hier?«, fragte der Hauptmann verdutzt. »Ich hab gedacht, du bist draußen im Wald!« 264
»Er stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor dem Nordtor und bringt eine wichtige Nachricht«, sagte Rafai mit ernster, sorgenvoller Miene. »Von Imril?« Orch nickte. »Wir sind so gut wie entdeckt.« »Was?« Orch war etwas durcheinander, und es dauerte, bis Olin sich zusammenreimen konnte, dass Waldläufer und Targi schon vor der Schlacht in eine gefährliche Situation geraten waren. Offenbar hatte sich einer von Morgreals Männern ins Wäldchen von Hamlin verirrt, und sie hatten ihn erschlagen, bevor er zu viel herausfand. Seitdem waren dort immer wieder Wölfe gesehen worden, wohl, um den Vermissten zu suchen. Es konnte nur noch Stunden dauern, bis das Versteck entdeckt war. »Ich soll dir ausrichten, dass Imril nicht erst morgen, sondern schon um Mitternacht angreift«, sagte Orch. »Ihr müsst euren Ausfall auch früher machen – sonst sind wir alle tot.« Olins Gesicht hatte sich verfinstert. »Das wird eine böse Nacht. Fünfundzwanzigtausend Nordländer gegen fast doppelt so viele Wölfe.« »Wir hatten unsere Wahl ohnehin getroffen«, wandte Hatib ein. »Orch, kannst du ungesehen in dein Versteck zurückkehren?« Der nickte. »Dann sag Imril, er soll um Mitternacht losschlagen. Unser Ausfall findet gleichzeitig statt. Hast du verstanden?« 265
»Zu spät«, sagte Rafai, der Ausschau hielt. Hatib drehte sich verwirrt um. »Wieso?« »Sie greifen an.« Jetzt sah auch Hatib, was sich abspielte. Morgreals Heer war in Bewegung gekommen und nur noch hundert Meter entfernt. »Ab jetzt kommt keiner mehr raus, höchstens rein.« Rafai lächelte säuerlich. »Und das müssen wir vermeiden.« »Aber Imril weiß nicht mal, ob Orch angekommen ist!« »Er muss eben auf uns vertrauen – genau wie wir auf ihn.« Schon waren die Wölfe in Schussweite. Wieder erhob sich ein schauriges Brüllen aus zigtausend Kehlen, und ein Pfeilregen ging auf die Stadt nieder. Morgreal hatte seine Aufstellung klug getroffen; seine Bogenschützen bestrichen die Zinnen, so dass sich kaum ein Verteidiger hervorwagte; unter der Mauer wogte das Heer der Wölfe; einzelne Trupps legten Leitern an; ringsum tobte Kriegsgeschrei. Hatib lugte hinter der Brüstung hervor und betrachtete die Szene. »Spürst du ihren Hass?«, fragte er Rafai. Der nickte. »Sie haben ihre Schlappe nicht vergessen.« Nach wenigen Minuten trafen die Pfeile der Verteidiger. Die Wölfe zogen sich ein wenig zurück, doch immer wieder stürmten einzelne Abteilungen vor, und viel zu oft fanden ihre Geschosse ein Ziel. 266
»Das sind nur Scheinangriffe«, knurrte Olin. »Da!«, rief Rafai und packte Hatib am Arm. Ein Rammbock auf einem gewaltigen Wagen mit mehr als mannshohen Rädern kroch heran. Wölfe in schwerer Rüstung schoben das Gerät. Wahrscheinlich war er in Einzelteile zerlegt, und sie haben ihn erst hier zusammengebaut‹, dachte Hatib. Die riesige schwarze Walze war von einem klobigen Widderkopf gekrönt, in den seltsame Zeichen gegraben waren. Dieser Anblick ließ Hatib schaudern. Kein Tor der Welt schien diesem Ungeheuer aus schwarzem Stahl widerstehen zu können. Es war, als werde es dunkler um Barku. ›Warum hat mir der Ring den Rammbock bloß nicht gezeigt?‹ Hatib sah hilflos zu, wie er sich dem Tor näherte. »Wenn das Ding zum Einsatz kommt, ist unser Tor Kleinholz«, meinte Rafai. Olin traf eine Entscheidung. »Wir erobern den Rammbock und schaffen ihn in die Stadt. Das ist unsere einzige Chance.« Der junge Offizier runzelte die Stirn. »Bei einem Ausfall würde das Tor so lange offen bleiben, dass Morgreal die Stadt stürmen könnte.« »Stimmt«, sagte Olin. »Aber was sollen wir sonst tun?« »Ich hab eine Idee«, rief Rafai nach kurzem Nachdenken. »Wir lassen sechzig Männer mit Äxten auf den Wagen los und geben ihnen von der Stadtmauer 267
durch Bogenschützen Feuerschutz. Die sechzig müssen nur die Ketten des Rammbocks durchhauen – dann fällt er zu Boden, und niemand bewegt ihn mehr.« Olin nickte und rief den Bogenschützen zu: »Hört auf zu schießen! Hebt die Munition für später auf!« Dreißig Meter war der Bock noch entfernt, und sein entstelltes Widdergesicht schielte böse auf die Stadt. Bald danach war die Ramme in Stellung gebracht, und das Südtor erzitterte unter dem ersten Stoß. Auch hier hatte Olin ganze Arbeit geleistet: Das Portal war mit Eisennieten verstärkt und konnte einiges aushalten. Aber nicht allzu lange. »Los!« Der Hauptmann gab ein Zeichen, und das Tor wurde geöffnet. Mit Geschrei strömten die Barkuri heraus. »Das habt ihr nicht erwartet, was!« Vor Aufregung umklammerte Olin den Schwertknauf so fest, dass die Knöchel weiß wurden. In Morgreals Heer hatte man die Absicht der Eingeschlossenen durchschaut, und um den Rammbock entbrannte ein heftiger Kampf. Doch die Überraschung wirkte. Mit wilden Schlägen trieben die Nordländer die Wölfe zurück und hieben gegen die Eisenringe, an denen die Ramme aufgehängt war. Doch die Ketten hielten. Der Schwarze Prinz selbst hatte sie in den tiefsten Stollen von Sklava Märtolon schmieden lassen. Keine Axt würde sie sprengen. »Schau!«, rief Rafai. Eine Meute gepanzerter Wöl268
fe hatte sich aus dem abgedrängten Heer gelöst und preschte vor. Morgreal hatte seine Chance erkannt: Sollte es den Kämpfern gelingen, das Tor zu besetzen, war Barku verloren. »Wir müssen was tun!«, rief Hatib. »Aber was? Wenn wir das Portal schließen, sind unsere Männer abgeschnitten. Und eine Stunde später ist es endgültig auf.« Hatib rannte zum Rammbock. »Rein mit dem Ding!«, brüllte er. »Schiebt die Stahlwalze durchs Tor!« Er stellte sich ans linke Vorderrad des Wagens und drückte mit aller Kraft. Natürlich vermochte er nichts auszurichten, doch sein Beispiel wirkte. Immer mehr Barkuri erkannten seine Absicht und drückten gegen die Räder, bis sie zu rollen begannen. Da erreichte Morgreals Verstärkung den Kampfplatz. Nun folgten für Hatib und die Nordländer schlimme Minuten. Hieb um Hieb prasselte auf sie nieder, doch mit dem Mut der Verzweiflung kämpften sie gegen die wachsende Übermacht. Dreimal sausten Schwertstreiche knapp an Hatib vorbei, doch er ließ nicht nach. Wie besessen schlug er nach den Wölfen und drückte die Ramme, deren Widderkopf schon die Schwelle überquert hatte, dabei vorwärts. Da stürmte eine Abordnung von dreihundert Barkuri herbei. Olin selbst führte sie mit erhobenem Schwert an. »Haltet durch!«, schrie der alte Hauptmann, bildete mit seinen Männern einen Ring um 269
seine Kampfgenossen und ließ keinen Feind mehr an den Wagen. So bekamen sie den Rammbock endlich durchs Tor. »Geschafft.« Hatib lehnte sich erschöpft an das gleich hinter ihnen geschlossene Portal. Olin steuerte auf ihn zu. »Danke«, sagte der Hauptmann. »Deine Idee hat wahrscheinlich die Stadt gerettet.« Geschrei auf der Mauer ließ sie aufschauen. Hatib ahnte, was geschehen war: Gut dreißig Nordländer standen noch draußen. Sie hatten sich zu spät zurückgezogen und pochten nun verzweifelt ans Tor. »Macht wieder auf!«, brüllte Hatib und rannte zu dem baumstarken Riegel. »Zu spät.« Plötzlich stand der Truchtin vor ihm, der ebenfalls das Schwert genommen hatte, um die Stadt in vorderster Linie zu verteidigen. Er deutete auf ein Guckloch. »Sieh selbst.« Entsetzt sah Hatib, dass eine von Morgreals Reiterscharen den Pfeilwall der Barkuri durchbrochen hatte und wütend auf die ausgesperrten Nordländer hieb. Nach einem letzten Handgemenge waren die hilflosen Verteidiger restlos aufgerieben. Der Truchtin war mit Hatib und Olin wieder die Brüstung hochgestiegen und starrte in die Dämmerung. »Selbst wenn wir Morgreal abwehren – was wird übrig bleiben?«, fragte er resigniert und deutete auf das Schlachtfeld. Der Hauptmann wusste, dass seine Soldaten ähnlich empfanden. Trotz der Eroberung des Ramm270
bocks stand Mutlosigkeit in ihren Gesichtern. Das Wolfsheer war einfach zu groß. »Morgreal wird untergehen«, sagte er fest. »Seine Soldaten treibt nur die Gier nach Gold. Die Nordländer dagegen kämpfen um ihre Freiheit.« Er deutete auf die Belagerer. »Seht sie euch an. Sie sind furchtbar grausam – und warum? Weil sie Angst haben. Sie ahnen schon, dass sie dasselbe Schicksal erwartet wie die, die wir vor drei Monaten im Gorm ersäuft haben.« Auf den Mauern war es still geworden. Die Nordländer hörten ihrem Hauptmann zu. »Was hat Morgreal seinen Soldaten versprochen?«, fuhr er fort. »Leichte Beute und eine reiche Stadt zum Plündern? Ein gefahrloses Abenteuer? Unsere Frauen und Töchter? Oder Ruhm und Ehre, leicht zu erringen bei doppelter Übermacht? Jedenfalls hat er vergessen, sie zu warnen! Diese Stadt ist von Mauern umgeben. Und auf der Brüstung stehen Nordländer! Die kämpfen nicht für Gold und billiges Vergnügen, sondern um ihre Freiheit. Hat Morgreal seinen Soldaten etwa gesagt, dass wir uns nicht verkriechen, sondern unter sie fahren, noch diese Nacht? Sie werden für jeden getöteten Nordländer blutig bezahlen!« Der kämpferische Jubel auf den Mauern war so laut, dass er bis zum Wolfsheer drang. »Wir unterwerfen uns nie!«, rief Olin. »Nie werden wir …« Die Antwort kam prompt. Etwas sauste durch die Luft, dann krachte es. Hatib drehte sich um. 271
Ein dicker Stein war in hohem Bogen über sie weggeflogen und hatte eine Wand zum Einsturz gebracht. Schreiend rannten Frauen und Kinder aus dem Haus, und von draußen erklang das höhnische Gebrüll der Wölfe. Ungefähr hundert Meter entfernt hatten sie Geräte in Stellung gebracht, die wie gigantische Holzlöffel aussahen. Auf einen Wagen gebunden, konnten sie weit genug gebogen werden, einen zentnerschweren Stein über die Mauer zu schleudern. Die Wucht eines solchen Einschlags hatten sie gerade erlebt. Wieder ein Krachen, diesmal direkt am Südtor. Das Geschoss hatte die Mauerkrone getroffen, die Brüstung weggeschlagen und sechs Soldaten mitgerissen. Schreie und Stöhnen erklangen aus der Tiefe. »Sehen wir, ob wir Verwundete bergen können«, sagte Olin leise. Mit äußerster Selbstdisziplin unterdrückte er seinen Schreck. »Sie reißen die Stadt ein«, sagte Rafai. »Und bis Mitternacht sind es noch fast sechs Stunden.« Die Wucht von Olins Rede war verflogen, und die bedrückende Realität legte sich wie Nebel auf die Nordländer. Hatib spürte ihre Blicke auf dem Hauptmann, ihre Hoffnung, er könne Mittel finden, die neue Bedrohung abzuwenden. Doch seine Energie war plötzlich erschöpft – und Morgreal war Herr der Lage. »Was sollen wir tun?« Gebork war Olins Unschlüssigkeit nicht entgangen. »Noch einen Ausfall machen?« 272
Der Hauptmann war nahe daran, dieser Versuchung nachzugeben. Im letzten Moment besann er sich. »Das hat keinen Sinn mehr. Seht Ihr, mit wie vielen Soldaten sie die Maschinen beschützen? Sie haben aus ihrem Fehler gelernt – und ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« »Das ist traurig«, erwiderte Gebork. »Dann kann niemand mehr etwas ausrichten.« »Warten wir bis Mitternacht«, sagte Hatib. Bald hatten sich die Wölfe auf das Südtor eingeschossen, und die Nordländer mussten ihren Posten räumen. Wenig später fiel der rechte Verteidigungsturm in sich zusammen. Triumphgeheul drang von Morgreals Heer herüber. »Einen ganzen Monat haben wir daran gebaut«, knurrte Olin. »Und der reißt ihn mit seinen Maschinen einfach ein!« »Er schießt uns sturmreif«, meinte Rafai. »Wenn er genug Breschen in der Mauer hat, wird er uns überrennen. Ich frage mich, wie sie all das Kriegsgerät hergeschafft haben. Nicht mal Hatib konnte es im Ring der Wahrheit sehen.« Wieder kam ein Stein aus der Nacht geflogen, und die vier zogen den Kopf ein. »Wir werden sie lehren, sich mit uns anzulegen«, knirschte Olin hilflos und mit Tränen im Gesicht. Die Nordländer wurden unruhig. Lieber Morgreal auf offenem Feld entgegenziehen, als der Zerstörung der Stadt ohnmächtig zusehen. Doch Olin rührte sich 273
nicht. Trotzig stand er auf der Mauer, während sich um ihn Verwüstung ausbreitete. Kein Laut kam über seine Lippen, und seine Miene schien erstarrt. Wer ihn kannte, wusste, welcher Zorn in ihm wütete. So wurden die Verteidigungsanlagen immer weiter zerstört, und den Nordländern sank das Herz. Es wurde still in der Stadt. Nur der Jubel der Wölfe war zu hören, wenn wieder ein Stein sein Werk getan hatte. Ein Geschoss traf das Südtor. Holz splitterte, und mit gespenstischem Quietschen schwang ein Flügel auf. »Der muss geschlossen werden. Und repariert das Tor!«, befahl Olin leise. »Aber verwendet nicht viel Mühe darauf – es muss seinen Dienst nicht mehr lange tun.« Gegen zehn Uhr abends fiel auch der linke Verteidigungsturm in sich zusammen; die Stadt war damit sturmreif geschossen. »Sie haben schon mehr Breschen in die Mauer geschlagen, als sie brauchen«, sagte Rafai erbittert. »Die haben Zeit«, antwortete Olin. »Vor Tagesanbruch greifen sie nicht mehr an.« »Wo ist der Hauptmann?«, rief jemand, und Olin drehte sich um. Kait vom Ysen war auf die Mauer gestiegen. Man musste ihm zugute halten, dass er sich getreu der Abmachung bis jetzt kaum in die Entscheidungen des Hauptmanns eingemischt und unter seiner Führung sogar am ersten Ausfall teilgenommen hatte, an 274
der Seite einfacher Soldaten. Doch nun hatte ihn die Unruhe auf die Mauer getrieben. »Warum unternimmst du nichts?«, wollte er wissen. »Ich habe es satt, wie die Maus in der Falle zu sitzen.« »Es ist noch nicht Mitternacht.« »Aber die Mauer ist fast zerstört! Und wenn noch ein fliegender Stein das Tor trifft …« »Um Mitternacht, habe ich gesagt – keine Minute früher.« Der Hauptmann verlor die Geduld. »Gestern erst habt Ihr mir die Befehlsgewalt übertragen. Wollt Ihr sie zurückhaben und die Verantwortung für die Stadt übernehmen? Sagt es nur, wenn Ihr Euch dem gewachsen fühlt.« »Du bringst uns Unglück, Hauptmann«, zischte Kait heiser. »Und das weißt du.« Mit diesen Worten stürzte er davon. Die Geduld der Nordländer sollte auf eine noch härtere Probe gestellt werden, denn als die Verteidigungsanlagen genügend verwüstet waren, suchten sich Morgreals Schützen ein neues Ziel. Von nun an flogen die Steine in die Stadt, und ein Haus nach dem anderen wurde dem Erdboden gleichgemacht. Gegen elf kam die Meldung, die Geschosse hätten den Palast schwer beschädigt. Endlich reagierte Olin. »Die Fackeln sollen gelöscht werden«, sagte er. »Die Stadt muss ganz im Dunkeln liegen. Dann gehst du, Rafai, zum Nordtor und führst die Hauptmacht um die Stadt herum – auch die Abteilungen unter Gerrit, Kait und Kodo. Hatib bleibt bei mir. Wartet 275
außerhalb der Sichtweite der Wölfe, bis wir mit dem Rest über das Südtor kommen. Dann greifen wir an.« »Und ich komme mit«, ertönte eine Stimme. Es war König Gebork. Er hatte seine Rüstung angelegt, und in der Hand hielt er ein großes Schwert. Eine Stunde stand Hatib noch zitternd vor Ungeduld auf der Mauer, Minute für Minute rückwärts zählend, indes sich eine immer größere Menge von Soldaten sammelte. »Diese Nacht wird er bezahlen«, murmelte Olin, als ein großes Haus mit lautem Krachen einstürzte. Schreie drangen aus der Stadt. »So eine große Leibwache kann Morgreal gar nicht haben, dass ich mich nicht zu ihm durchschlagen könnte.« »Schau!«, flüsterte Hatib. Die Schatten von Rafais Männern hoben sich von der Südmauer ab. »Kommt«, sagte Olin zu den Nordländern ringsum. Das Südtor konnte nicht mehr geöffnet werden. Schief hingen die zerschossenen Flügel in den Angeln. Doch Morgreals Geschütze hatten genug Breschen geschlagen, um leicht ins Freie zu gelangen. Vor der Mauer spürte Hatib, dass sich etwas verändert hatte. Das Triumphgeheul der Wölfe war verstummt. Stattdessen hörte man Waffengeklirr. »Das ist Imril! Vorwärts!«, rief er. Sie rannten mit gezogenem Schwert los. Obwohl Olin nichts dergleichen befohlen hatte, unterdrückten die Barkuri jedes Kriegsgeschrei, um lautlos über die Wölfe herzufallen. Wie ein stummer Schatten fuhren 276
sie in die feindlichen Stellungen. Ihr ganzer Zorn über die Zerstörung ihrer Stadt brach über die Wölfe herein. Trotz der Übermacht war der Schreck unter Morgreals Dienern so groß, dass zunächst kaum Gegenwehr erfolgte. Einige Minuten verstrichen, bis sie sich zur Verteidigung stellten, dann aber waren sie den Barkuri fast doppelt überlegen. Doch Olin hatte mit etwa dreihundert Mann einen Keil gebildet, um zu Imril durchzustoßen, und teilte damit das feindliche Heer. Wild um sich schlagend, schufen sich seine Leute eine Gasse, die wie ein Dolch immer weiter in Morgreals Heer drang. »Die Waldläufer sind nicht weit!«, schrie Hatib. »Ich höre sie schon.« Doch da verdichteten sich die Reihen der Feinde, und es gab ein böses Scharmützel. Der Vorstoß kam einen Moment ins Stocken, dann fochten die Barkuri sich durch. Eher hätte man eine Lawine aufhalten können als Hatib, Rafai und Olin. »Weiter!«, brüllte der Hauptmann. »Gleich sind wir da!« Der erste Ansturm, der Morgreals Heer an den Rand des Abgrunds gedrängt hatte, war vorbei. Verbittert kämpfte nun Mann gegen Mann, ein Nordländer gegen zwei Wölfe. Die Feinde waren breitschultrig, fast nackt und kämpften mit roher Kraft. Sie waren so wendig, dass die ungeübten Schwertschläge der Barkuri fehlgingen, indes sie selbst getroffen zusammensackten. Mancher warf die Waffen weg, mit 277
denen er doch nichts anzufangen wusste, und ging mit bloßen Händen auf die Wölfe los. Trotzdem bewahrheitete sich, was Olin am Nachmittag gerufen hatte: Die Nordländer kämpften für ihre Freiheit. »Vorsicht!«, brüllte Hatib Rafai zu, als er sah, dass ein feindlicher Krieger ausholte. Doch der junge Offizier hatte ihn schon bemerkt und parierte geschickt mit dem Schwert. Kurz darauf war der Mann tot. Weiter stießen sie ihren Stachel ins feindliche Heer – und endlich tauchte ein Waldläufer auf. Der Durchbruch war gelungen! »Wo sind die anderen?«, rief Hatib freudig und rannte auf ihn zu. Da stieß der Waldläufer einen Klagelaut aus und brach zusammen, getroffen von einem tödlichen Schwertschlag aus der Dunkelheit. »Dies ist ein böser Ort«, murmelte Rafai. Bald hatten sie genug Nordländer gesammelt, um den Platz für sich zu behaupten. Mancher Feind floh allein beim Anblick der blutverschmierten Kämpfer. Doch als sie Überblick über die Lage gewonnen hatten, erkannten sie, dass sie beinahe zu spät gekommen wären: Der Kampfplatz war von toten Waldläufern übersät. Sie schienen in einen Hinterhalt geraten und niedergemacht worden zu sein. »Ich glaube, da liegt Gorgor!«, rief Rafai entsetzt. Der hünenhafte Waldläufer lebte noch. Er hatte wohl einen Schlag mit dem Schwertknauf bekommen und das Bewusstsein verloren; Blut floss ihm aus dem Schädel, doch wahrscheinlich hatte ihn seine Ohnmacht gerettet. Die Wölfe hatten ihn für tot 278
gehalten und waren weitergezogen. Eben kam er zu Bewusstsein und schlug die Augen auf. »Was ist passiert?«, rief Hatib und rüttelte ihn. »Ich weiß nicht.« Der Hüne war noch nicht ganz bei sich. »Es ist so dunkel …« »Wo ist Imril?« Da schien Gorgor zu begreifen, wo er war. Bei seinem verschleierten Blick lief es Hatib kalt über den Rücken. »Imril«, murmelte der Waldläufer. »Imril ist tot.« Hatib wollte weiterfragen, ob Gorgor das mit eigenen Augen gesehen hatte. Er war versucht, ihn anzubrüllen, um die grausige Wahrheit aus der Welt zu schreien. Doch Gorgor sank wieder ohnmächtig zusammen. Minutenlang saß Hatib einfach da, die Hände auf Gorgors Brust gelegt, die sich mühsam hob und senkte. Schließlich sagte er tonlos zu den Nordländern: »Tragt ihn in die Stadt zurück.« Dann traf ihn die ganze Wucht des Schmerzes. Ein glühender Dolch schien in seine Seele gefahren, um sie verdampfen zu lassen. Morgreal hatte ihm wieder einen Freund genommen! Hatib stand auf, hob das Schwert und schrie den Schmerz über den Tod seines Gefährten hinaus. Die Schlacht hatte ihren Höhepunkt erreicht. Im Schein weniger Fackeln sah man Nordländer und Wölfe ringen. Schreie und Stöhnen gellten über den Kampfplatz. Und irres Gelächter, wenn die Nerven all dem Furchtbaren nicht mehr standhielten. 279
Hatib schritt wie ein böser Geist über die Walstatt, das blutige Schwert in der Faust. Einige versprengte Waldläufer hatten sich ihm angeschlossen und hieben ihm den Weg frei – auf eine Gruppe gepanzerter Soldaten zu, die sie als Morgreals Schildwache ausgemacht hatten. Keine Waffe erhob sich mehr gegen Hatib. Die meisten Wölfe flohen schon bei seinem Anblick. Fast unangefochten gelangte er zu Morgreal. Der Heeresvorsteher hatte sich seit ihrer letzten Begegnung verändert. Alle Schönheit war aus seinen Zügen verschwunden und hatte der Niedrigkeit Platz gemacht, die sich auf der Ratsversammlung schon angedeutet hatte. Bleiche Augen blickten zu seinem Gegner auf, und am Kinn wucherte ein ungepflegter Bart, als habe er sich unkenntlich machen wollen. Er schrie einen Befehl, doch keine Wache reagierte. Der Krieg selbst schien den Atem anzuhalten. Nordländer und Wölfe standen wie gelähmt und blickten auf die beiden Männer. Der Verräter Araukarias zog sein Schwert, kam aber nicht mehr zum Angriff. Hatib hatte schon ausgeholt und zerbrach mit einem furchtbaren Hieb die Klinge seines Gegners. Morgreal versuchte, mit dem Schwertstumpf zu parieren, doch vergeblich: Ein dumpfer Schlag, und auch der Knauf fiel zu Boden, umschlossen von seiner rechten Hand. Der Heeresvorsteher starrte auf seinen Armstumpf und wankte. Dann verstand er und straffte sich. 280
»Bist du der Tod?«, fragte er. Hatib ließ das Schwert fallen, legte die Hände um den Hals seines Gegners und würgte ihn, bis der krampfhaft zuckte, die Augen verdrehte und gurgelnd zusammensackte. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der tote Verräter Araukarias auf den Boden. Niemand hielt Hatib auf, als er in die Nacht hinausging. Erst am Morgen sollte man ihn wiedersehen. Noch war die Schlacht nicht gewonnen, doch die Nachricht von Morgreals Tod verdoppelte die Kraft der Verteidiger der Nördlichen Königreiche. »Rache! Rache!«, gellte es durch die Nacht. Die Wölfe aber schienen jeden Mut verloren zu haben. Welle auf Welle schlug über ihnen zusammen und verschlang Mann um Mann. »Rache! Rache!«, riefen die Nordländer, und unter ihrem Druck zerbarst die Verteidigungslinie der Gegner endgültig. Einzelne Trupps hielten noch stand und wehrten sich verzweifelt gegen den Untergang, doch immer mehr Barkuri drangen in die zerfallende Abwehr und nahmen Rache an denen, die ihre Heimat verwüstet hatten.
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11 Der Weg nach Süden »Ich habe mir am Grab von fünftausend Nordländern geschworen, dass der Schwarze Prinz uns so etwas nie wieder antun wird. Nie wieder«, sagte Gebork. Bei Sonnenaufgang war der bittere, teuer erkaufte Sieg endlich errungen. Morgreals letzte Soldatenhaufen hatten im Morgengrauen das Weite gesucht. Nach ersten Schätzungen hatte kaum ein Viertel seiner Krieger das Gemetzel überlebt. Auch bei den siegreichen Nordländern kam keine Freude auf, denn die Zahl der Opfer war zu hoch. Imril war als einer der Ersten gefallen. Getreu der Abmachung hatte er die Wölfe um Mitternacht attackiert, um vom Ausfall der Nordländer abzulenken. Doch die Barkuri waren etwas zu spät gekommen: Nach dem ersten Schreck hatten die Wölfe gemerkt, dass die Angreifer nur ein kleines Häuflein waren, und sie mit fünfzehnfacher Übermacht erdrückt. Um nicht völlig aufgerieben zu werden, hatten sich Waldläufer und Targi in den Schutz der Dunkelheit zurückziehen müssen. Dabei war Imril sein lahmes Bein zum Verhängnis geworden, denn die rasch nachsetzenden Wölfe holten ihn ein, verwickelten ihn in ein Handgemenge und machten ihn nieder. Mit offenen Augen lag Imril da, als betrachte er die Verluste ringsum. Er hatte eine klaffende Wunde an der Schulter und eine über der Stirn, die wohl tödlich gewesen war. 282
Hatib saß bei ihm. Von fern sah es aus, als würden sie ausruhen oder sich von ihren Erlebnissen erzählen. Manchmal durchzuckte Hatib die widersinnige Hoffnung, sein Freund schlafe nur. Doch aus diesem Schlaf gab es kein Erwachen. »Ein schöner Freund bist du«, murmelte er und berührte die kalte Hand seines Gefährten. »Mich so im Stich zu lassen.« Müde schloss er die Augen und dachte an die vielen Menschen, mit denen er gegen den Schwarzen Prinzen gekämpft und die er verloren hatte. Wer sich auf den Falken setzt, dem werden die Winde zum Grab! – jetzt verstand Hatib dieses Sprichwort. Dann stellte er sich vor, eines Tages leer und ausgebrannt aufzuwachen und nur noch quälende Gedanken zu haben. Von diesem Tag an wäre er alt. »Aber so weit sind wir noch nicht.« Er schob die dunklen Gedanken beiseite und stand auf. Im Grunde war es unglaublich, was die Nordländer in der Nacht vollbracht hatten. Gut fünfundzwanzigtausend Mann hatte Olin in die Schlacht geführt und mit neunzehntausend war er wieder aus dem Mahlstrom getaucht. Dazwischen hatten seine Krieger weit über dreißigtausend Wölfe erschlagen. Ob neunzehntausend Mann für den großen Feldzug reichen würden? Sie mussten einfach reichen, denn mehr gab es nicht. »Aber Gebork muss seine Zustimmung geben«, murmelte Hatib, während er ziellos übers Schlacht283
feld streifte. »Und Kait und Gerrit auch. Das wird das Schwierigste.« Kurz darauf stieß er auf Olin, der wissen wollte, wie der Mann aussah, der so viele Menschen ins Verderben gestürzt hatte. Sie fanden den Leichnam nach einigem Suchen. Morgreal hatte den unverletzten linken Arm gestreckt, als wolle er greifen. Sein Kopf war zur Seite gedreht, sein Mund stand weit offen, ebenso die Augen, die über die Verwüstung schauten, die er angerichtet hatte. Bei der letzten Beratung waren sie zu neunt gewesen. Jetzt traf Hatib nur noch sechs Personen an – den Truchtin, Gorgor, Orch, Rafai, Kait vom Ysen und Gerrit von Algabal. Kodo hatte die Nacht nicht überlebt. Der alte Obermann von Moloil war trotz seines Alters aufs Pferd gestiegen und hatte an der Schlacht teilgenommen. Gegen Morgen war er, geschwächt und verwundet, von versprengten Wölfen erschlagen worden. »Heute ist ein trauriger Tag in der Geschichte der Nördlichen Königreiche«, begann Gebork. »Doch wir haben überlebt und sind frei geblieben – freie Königreiche in einem freien Norden. Zu verdanken haben wir das denen, die in dieser Nacht für uns gestorben sind, aber auch der klugen Strategie von Olin und Rafai. Sie haben uns zwar nicht vor Schmerz und Tod bewahrt, aber vor dem Untergang. Dafür zollen wir ihnen Respekt.« Kait und Gerrit neigten gehorsam den Kopf, doch 284
Hatib konnte ihre Anspannung mit Händen greifen. Die beiden ahnten, was kommen würde. »Ich danke Euch, Truchtin«, sagte Rafai. »Aber richten wir unser Augenmerk auf die Zukunft. Wie lange wird es dauern, bis die schlimmsten Schäden in Barku beseitigt sind?« »Bei so vielen Helfern ist in ein, zwei Wochen das Dringendste instand gesetzt«, antwortete Olin. »Jedenfalls so, dass die Stadt wieder wehrfähig ist und die Leute ein Dach überm Kopf haben.« »Die Toten müssen auch begraben werden«, warf Gorgor ein. »Fast dreißigtausend liegen vor der Stadt, unsere Gefallenen nicht mitgerechnet; wir müssen sie unter die Erde bringen, bevor die Pest schafft, was Morgreal nicht geschafft hat.« »Was ist mit den Resten seines Heeres?«, fragte Kait. »Die meisten haben sich auf der Nordstraße gesammelt und marschieren nach Süden. Oder sie schlafen erschöpft am Wegesrand. Die Bedrohung ist gebannt.« »Also haben wir auf ganzer Linie gesiegt«, erklärte Kait zufrieden. »Wir werden euch noch ein paar Tage bei den dringendsten Arbeiten helfen. Dann ziehen wir nach Hause.« ›Das hatte ich befürchtet‹, dachte Hatib. Gebork zögerte. »Da gibt’s noch was zu besprechen«, meinte er dann und warf Hatib einen Blick zu. Einmal mehr hatte der Truchtin die Gefährlichkeit der Lage erkannt. 285
»Ich weiß, wie viel wir Euch bereits verdanken, aber wir haben nur eine Schlacht gewonnen, nicht den Krieg. Unser Feind wird sich nicht geschlagen geben, ehe wir unterworfen sind – es sei denn, wir packen das Übel an der Wurzel.« »Was soll das heißen?«, fragte Gerrit. ›Das weißt du doch genau!‹, dachte Hatib, erhob sich und sagte: »Wir dürfen jetzt nicht die Hände in den Schoß legen. Die Zeit arbeitet für den Schwarzen Prinzen, weil er die größeren Reserven hat. Wir müssen nach Süden ziehen und dafür sorgen, dass er nie wieder andere Länder angreifen kann.« Im Saal breitete sich Stille aus. »Das ist gefährlich, Hatib von Araukaria«, sagte Gerrit endlich. »Wir haben kaum noch zwanzigtausend Mann. Wie viele hat der Schwarze Prinz? Fünfzigtausend? Hunderttausend?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Hatib leise. »Kann der Ring der Wahrheit es dir nicht sagen?« »Seit der Schlacht nicht mehr. Auf die Lande ist Nacht gefallen, und das Böse schließt sich um uns.« »Das Risiko ist zu hoch«, murrte Kait. »Wäre es nicht besser, unsere gute Position auszunutzen und Frieden anzubieten?« »Ihr belügt Euch, König vom Ysen!«, rief Hatib. »Der Schwarze Prinz wird erst Frieden mit uns schließen, wenn unsere Köpfe über die Pforte von Sklava Mhor genagelt sind. Wenn wir ihm entgegenziehen, finden wir vielleicht Mitstreiter und …« 286
»Jetzt belügst du dich, Hatib!«, unterbrach ihn Kait. »Wir sind allein.« »Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben.« »Glück kann man nicht pachten«, sagte Gerrit. »Wir haben mit fünfundzwanzigtausend Soldaten ein fast doppelt so starkes Heer aufgerieben. Das mag das Verdienst der beiden Hauptleute gewesen sein – vor allem aber war es unwahrscheinliches Glück. Du, Hatib, spekulierst auf dein Glück und beziehst es in deine Überlegungen ein, als wäre es dein engster Freund. Das kann nicht gut gehen.« »Wer nichts wagt, hat auch kein Glück«, sagte Hatib unwillig. »Der Schwarze Prinz ist angeschlagen. Wir dürfen nicht warten, bis er sich erholt hat. Der Krieg muss weitergehen!« »Mit zwanzigtausend Mann? Das ist doch Wahnsinn!« »Es war auch Wahnsinn, den Ringstein von Gerk zu fordern!«, rief Hatib. »Es war Wahnsinn, nach Drehnland zu gehen und den Blauen Erft zu beschaffen. Dem Zorn des Tanzenden Todes haben wir uns ausgesetzt und uns mitten im Fernfeld eine Schlacht mit den Nachtmahren geliefert – alles Wahnsinn. Aber wo wärt ihr jetzt ohne das alles?« Die Könige sahen vor sich hin. »Hatib hat Recht«, brummte Olin. »Uns bleibt nichts anderes übrig.« »Deshalb werden die Barkuri unter meiner Führung nach Süden ziehen«, sagte Gebork fest. 287
Hatib glaubte schon, gewonnenes Spiel zu haben, doch er hatte sich getäuscht. Der König vom Ysen schaute trotzig auf: »Meine Männer bleiben hier.« »Meine auch«, sagte Gerrit von Algabal. »Ich marschiere nicht sehenden Auges in den Untergang. Wenn der Schwarze Prinz uns bekriegen will, soll er kommen – wir sind bereit.« »Das bedeutet euren Untergang! Unser aller Untergang!«, rief Hatib und sprang auf. »Als Narren werdet ihr in die Geschichte eingehen …«, fuhr er fort, brach dann ab und stürmte wütend nach draußen. »Er ist zu hitzig.« Gerrit lehnte sich zurück. »Und besessen von seinem Hass auf den Schwarzen Prinzen. Wenn er könnte, würde er uns mit der Peitsche auf ihn hetzen.« Er lächelte, doch der Truchtin blieb ernst und sagte: »Vielleicht wird er genau das tun.« Dann stand auch er auf und verließ den Raum. Eine Woche sollte vergehen, ohne dass Kait und Gerrit den Befehl zum Rückmarsch gaben. Sie schienen Skrupel zu haben. Unter den Nordländern hatte sich das Ergebnis der Unterredung herumgesprochen – dafür hatte Hatib gesorgt –, und die Krieger aus Ysen und Algabal wussten nicht, was sie tun sollten: ihren Königen folgen oder den Barkuri zur Seite stehen. In kurzer Zeit tilgten ihre fleißigen Hände die Spuren des Krieges. Am langsamsten ging die Arbeit am Südtor voran. Olin selbst hatte den Wiederaufbau 288
übernommen, als sei die Schmach der Belagerung erst gelöscht, wenn alles fertig war. »Ich lasse die Mauer komplett einreißen«, erklärte er Hatib. »Sie ist so beschädigt, dass wir sie neu hochziehen müssen.« Kindlicher Stolz leuchtete in seinen Augen. »Dann wird sie so stark sein, dass niemand sie mehr beschädigen kann. Auch nicht mit Wurfgeschossen.« Hatib musste über den Enthusiasmus des Hauptmanns lächeln. Olin warf einer Gruppe pausierender Nordländer einen giftigen Blick zu. »Essen könnt ihr bei euren Familien!« Die Gescholtenen lachten und erhoben sich wieder. »Die kommen aus Algabal.« Er schmunzelte. »Das sind die Faulsten von allen.« Dann raunte er Hatib ins Ohr: »Trotzdem wollen sie mit uns nach Süden ziehen. Sie sind auf ihre Könige nicht gut zu sprechen, glaub mir.« »Ob das reicht? Ob sie sich wirklich für uns entscheiden? Gegen Kait und Gerrit?« »Mach dir da keine Sorgen«, erwiderte Olin optimistisch. »Ich kenne die Nordländer aus Ysen und Algabal. Die sind wie wir. Keiner von denen wird in Ruhe seine Felder bestellen, wenn Kameraden in den Krieg ziehen.« Im Grunde sah Hatib das ähnlich. Er war lange genug in den Nördlichen Königreichen gewesen, um die Menschen dort zu kennen. Es waren ruhige Gesellen, bäurisch und friedlich gesinnt. Hatten sie sich 289
aber zu einer Entscheidung durchgerungen, waren sie konsequent. Nicht zuletzt deshalb war innerhalb weniger Wochen aus einem Haufen von Bauern und Hirten ein Kriegsheer geworden, das selbst der Schwarze Prinz zu fürchten hatte. Zunächst jedoch kehrte Ruhe ein. Während der ersten Tage war aus vielen Häusern noch Weinen und das Stöhnen Verwundeter zu hören. Am Morgen des dritten Tages wurde es leiser. Der größte Schmerz war abgeklungen, und die Verletzten befanden sich auf dem Weg der Besserung – oder waren erlöst. Nur nach und nach wurden die Toten bestattet. Zum Grab des letzten Kampfes, das gerade mal drei Monate alt war, kamen drei neue hinzu: eine große Grube hinter den Hügeln, wo die Feinde verscharrt wurden; ein Friedhof vor der westlichen Stadtmauer, auf dem die gefallenen Nordländer, Waldläufer und Targi ruhten; ein Ehrengrab für Kodo und Imril. Die Einwohner Barkus säumten die Straßen, als die beiden Leichname feierlich durch die Stadt getragen und vor dem Südtor beigesetzt wurden. Hatib und Gorgor betteten unter den Augen der Waldläufer den tapferen Freund zur letzten Ruhe. Der Rammbock wurde vom Fahrgestell montiert und auf den Vorplatz des Palasts geschafft. Selbst nach Jahrhunderten sollte die Säule mit ihrem grausamen Widderkopf noch aufrecht stehen und an die Schlacht von Barku erinnern. Noch zögerte Gebork. Er verfügte über die Waldläufer und über die Targi – das machte fünfzehnhun290
dert Krieger; hinzu kamen die Barkuri – achttausend Mann und damit die Hauptmasse des Heeres; und die fünfzehnhundert Mann des gefallenen Kodo von Moloil, die ihre Kameraden nicht im Stich lassen wollten. Insgesamt also elftausend Kämpfer, eine stattliche Zahl. Doch würde das reichen? Hatib zweifelte daran. Eine unübersehbare Spannung hatte sich in der Stadt aufgebaut. Überall sah man Männer beisammenstehen und diskutieren. Viele Nordländer schwankten zwischen Kaits und Gerrits Befehl, in die Heimat zurückzukehren, und der Sorge um ihre Kameraden, die einen gefahrvollen Weg einschlagen würden. Niemand mochte vorhersagen, auf welche Seite sie sich stellten. Als das nach vierzehn Tagen noch immer unklar war, beschloss der Truchtin, die Entscheidung zu erzwingen, indem er das Signal zum Aufbruch gab. Am nächsten Morgen war der Vorplatz schwarz von Menschen, doch Kait und Gerrit gaben nicht klein bei. Mit einigen Getreuen standen sie vor ihren Männern, um sie von den anderen zu trennen. Die Waffengefährten waren stumm und wagten nicht, einander in die Augen zu schauen. »Ich frage mich, was in den Männern vorgeht«, brummte Gebork, als er aus dem Palast auf die Menge schaute. »Die letzten Tage waren nicht leicht für sie. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.« »Sie müssen sich doch bloß für uns entscheiden«, meinte Hatib unbekümmert. 291
»Du machst es dir zu einfach. Schließlich haben sie ihren Königen Treue geschworen.« Geborks Mischung aus Toleranz und Entschlusskraft hatte Hatib in den letzten Tagen immer wieder erstaunt. Der Truchtin brachte Verständnis für seine Amtskollegen auf und trug ihnen ihre Entscheidung nicht nach, war aber entschlossen, dem Treiben des Schwarzen Prinzen ein Ende zu setzen. Er war persönlich ins Lager der abtrünnigen Könige gegangen, um bei den Nordländern für den Feldzug zu werben – nüchtern und bescheiden, wie es seine Art war. Seitdem wachten Kait und Gerrit eifersüchtig über jeden seiner Schritte. Dass ihre Männer dem Auszug der Kameraden beiwohnten, hatten sie dennoch nicht verhindern können. »Versuchen wir unser Glück«, sagte Gebork und trat auf den Balkon. »Vielleicht können wir sie doch noch umstimmen.« »Nordländer!«, begann er. »Lange haben wir auf diesen Augenblick gewartet.« Auf dem Platz hätte man eine Stecknadel fallen hören können. »Ich gebe jetzt das Signal zum Aufbruch. Wir sind weniger als wir sein könnten, und das wisst ihr. Vielleicht wird uns der Feind mit seiner Übermacht erdrücken – doch uns bleibt keine Wahl. Als freie Menschen sind wir geboren, und für unsere Freiheit kämpfen wir. Mehr noch – wir kämpfen auch für die Freiheit derer, die zum Kampf nicht den Mut haben.« Er warf einen Blick auf Kait und Gerrit. 292
›Wenn sie könnten‹, dachte Hatib, ›würden sie ihn töten.‹ »Es ist Zeit!«, rief der Truchtin. »Bis jetzt hat keiner die Gefahr gefürchtet. So soll es bleiben. Südwärts!« Jubel brandete auf, und die Zurückbleibenden hatten betretene Mienen. Die Könige sahen Gebork mit unverhohlenem Hass an. ›Wenn das nicht hilft, hilft nichts‹, dachte der Truchtin, verließ den Balkon und ging zum Vorplatz hinunter, wo Rafai und Olin ihn erwarteten. »Gut gesprochen«, sagte der Hauptmann. »Ich bin gespannt, was die Nordländer jetzt tun werden.« Gebork stieg aufs Pferd und gab Gorgor und dessen Kameraden ein Zeichen. Der nickte und hob die Hand. Die Waldläufer setzten sich in Marsch, gefolgt von Orch, der den kläglichen Rest der Targi anführte. Dann kam das Heer der Barkuri. Hatib musterte die übrigen Nordländer. Fast alle hatten ihr Marschgepäck dabei und warfen ihren Kameraden zögernde Blicke zu, wer den ersten Schritt tun würde. Endlich traten die Beherztesten vor, um sich Geborks Streitmacht anzuschließen. ›Es klappt‹, dachte Hatib, doch da täuschte er sich. Kait und Gerrit vertraten ihren Männern den Weg. Sie mussten sich abgesprochen haben und meinten es ernst. »Vorher müsst ihr an uns vorbei«, hallte Kaits Stimme über den Platz. »Überlegt es euch.« Seine Entschlossenheit wirkte. Die Nordländer 293
warfen sich verlegene Blicke zu – und verharrten in Reih und Glied. »In einer Stunde brechen wir nach Hause auf«, sagte Gerrit. »Mist«, murmelte Olin zornig. »Ich war so sicher …« »Beruhige dich«, sagte Gebork leise. »Das müssen sie für sich allein entscheiden.« »Aber was richten wir ohne sie denn aus?«, ereiferte sich der alte Soldat und starrte zu den Nordländern rüber, die seinem Blick nicht standhalten konnten. Nur Kait sah auf. Der Triumph stand ihm ins Gesicht geschrieben. »So ein kleinkarierter Stammeshäuptling«, knurrte Olin, hob die Faust und wandte sein Pferd. Frauen und Kinder standen am Straßenrand, doch keiner jubelte. Der Schock über den Abfall der Nordländer saß tief. »Elftausend Mann.« Olin konnte sich kaum beruhigen. »Ich hätte schwören können, dass sie uns nicht im Stich lassen.« Tränen der Enttäuschung standen in seinen Augen. »Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf«, sagte Gebork. Olin und Hatib wechselten einen ungläubigen Blick. Aber der Truchtin sollte Recht behalten! Die Nachhut war gerade aus dem Tor, da ertönte in der Stadt Geschrei. Dann kamen die Nordländer angestürmt, rannten den Marschierenden nach und veran294
stalteten dabei einen Heidenlärm. Auch die Barkuri jauchzten, dass es weithin zu hören war. »Die Nordländer lassen sich nicht gegeneinander ausspielen«, sagte der Truchtin zufrieden. »Auch nicht von ihren Anführern.« In seinem Gesicht stand große Erleichterung. Die Männer fielen sich in die Arme und waren überglücklich, dass Spaltung und Misstrauen ein Ende hatten. »Nun komme, was will«, sagte Olin stolz. »Mit diesen Soldaten werden wir den Schwarzen Prinzen das Fürchten lehren.« Unter dem Stadttor standen Kait und Gerrit und starrten dem Zug entgeistert nach. Olin hob die Hand und winkte. »Wolltet ihr nicht nach Hause? Geht nur! Von mir aus für immer!« Später erfuhr Hatib, was sich in der Stadt zugetragen hatte: Die Barkuri waren schon aus dem Tor, da standen die Nordländer noch immer wie angewurzelt da. Kait und Gerrit hatten sich vor ihnen aufgepflanzt und ließen sie nicht aus den Augen. Plötzlich atmete einer der Männer tief durch, trat vor und sagte: »Ich will gehen. Ihr seid mein König, und ich habe Euch Treue geschworen. Wenn Ihr mit meiner Entscheidung nicht einverstanden seid, schlagt mir den Kopf ab.« Dann ging er an Kait vorbei, der das Schwert nicht zu heben wagte. Damit war der Bann gebrochen. Nach wenigen Minuten war der Platz leer. Nur die Könige blieben mit ein paar Getreuen zurück. So zog das Heer des Nordens frohgemut los. Die 295
Männer redeten und lachten, als gebe es keine Gefahr auf der Welt. Als es dunkel wurde, ließ der Truchtin ein Lager aufschlagen. »Das tut gut!«, sagte Hatib, als er sich mit den Anführern ans Lagerfeuer setzte und die vom Reiten steifen Beine streckte. »Es ist schon besser, im Frühling zu reisen, als sich im Fernfeld die Knochen durchzufrieren.« »Zum Glück bin ich dort nicht gewesen«, meinte Rafai. »Der Winter in Barku hat mir gereicht.« Er nahm ein Stück Dörrfleisch aus dem Rucksack und reichte es herum. »Was Kait und Gerrit jetzt wohl unternehmen?« »Keine Ahnung«, sagte Gebork nachdenklich. »Im Grunde ist es für sie unmöglich, nur mit ein paar Getreuen nach Hause zu kommen. Die Schande wäre zu groß.« Dann lächelte er. »Aber eigentlich ist mir das herzlich egal.« Die anderen lachten, doch Rafai hatte unbewusst das Stichwort gegeben: Schritte nahten, dann trat Gorgor in den Schein des Feuers, gefolgt von zwei Gestalten. »Wir haben Besuch«, sagte er. »Ratet mal, vom wem.« Natürlich von den beiden Abtrünnigen. Nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hatten, waren sie aufs Pferd gestiegen und dem Heer nachgeritten. »Wolltet ihr nicht den Frieden genießen?«, fragte Olin barsch. »Wir wollen unsere Soldaten wiederhaben«, 296
knurrte Kait. »Ihr habt sie gegen uns aufgehetzt. Das war nicht recht.« »Ich weiß.« Gebork setzte sein freundlichstes Lächeln auf. »Deshalb erhaltet ihr sie nach dem Feldzug auch zurück.« Die Könige begriffen, dass sie ihre Männer kaum wieder unter Kontrolle bekommen würden. »Ihr habt zwei Möglichkeiten«, fuhr Gebork fort. »Entweder ihr schwört mir morgen Treue, dann könnt ihr als einfache Offiziere mitkommen und einen kleinen Teil eurer Truppen befehligen. Oder ihr geht nach Hause.« »Aber das ist ungerecht!«, rief Gerrit erbittert. »Wir sind die Befehlshaber unserer Truppen, nicht du.« »Dann ist es eben ungerecht«, erklärte der Truchtin und wandte sich an Rafai: »Sie sollen im Lager übernachten, aber nicht bei ihren Soldaten, sonst hetzen sie weiter gegen uns. Wenn sie sich morgen nicht entschieden haben, jag sie davon.« Damit war die Unterredung beendet. »Von dieser Seite kenne ich Euch gar nicht, Truchtin«, bemerkte Olin anerkennend, als die beiden abgezogen waren. Da sagte Gebork: »Ich habe mir am Grab von fünftausend Nordländern geschworen, dass der Schwarze Prinz uns so etwas nie wieder antun wird. Nie wieder.«
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Versionsinfo: V1.0 Scan zu pdf: by Schlaflos V1.5 Seitenzahlen entfernt, Korrekturhilfen durchgeführt, formatiert, Cover verbessert: 02/2008 by Brrazo
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