Ernst Vlcek & Neal Davenport & Earl Warren
Die Maske des Dr. Faustus Dorian Hunter Klassiker Band 6
ZAUBERMOND VERLAG...
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Ernst Vlcek & Neal Davenport & Earl Warren
Die Maske des Dr. Faustus Dorian Hunter Klassiker Band 6
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Während einer Schwarzen Messe Anfang des 16. Jahrhunderts gebiert eine junge Frau die schrecklichen Dämonen-Drillinge Athasar, Bethiar und Calira. Juan Garcia de Tabera, der Schüler des großen Alchemisten Albertus Villanovanus, macht es sich zur Aufgabe, die Drillinge zur Strecke zu bringen. Die Waffe, die er dafür von seinem Lehrer erhält, ist ein goldener Drudenfuß, dem große magische Kräfte innewohnen. Aber noch bevor Villanovanus den Gebrauch des Drudenfußes erläutern kann, wird er selbst Opfer eines Anschlags. De Tabera begreift, daß ihm die Dämonen-Drillinge bereits auf der Spur sind. Er nimmt den Kampf auf – doch all seine Bemühungen sind vergeblich. Er selbst ist ein Gezeichneter, seine Niederlage gegen die Drillinge vorherbestimmt … Als sich der Dämonenjäger Dorian Hunter in der Gegenwart der damaligen Geschehnisse erinnert, erwachen die Schatten der Vergangenheit zum Leben. Hunter erkennt, daß die Drillinge nach wie vor existieren. Nicht einmal die Masken des Dr. Faustus haben sie vor fast vierhundert Jahren vernichten können …
Vorwort Der vorliegende sechste Band der Dorian-Hunter-Reihe markiert erneut einen Wendepunkt in der Serie. Man könnte sagen, der Dämonenkiller streift endgültig seine Kinderschuhe ab, denn er trifft auf seinen bisher stärksten Gegner: die Dämonen-Drillinge. In seinem zweiten Leben als Juan Garcia de Tabera wird Hunter Anfang des sechzehnten Jahrhunderts Zeuge ihrer Geburt. Beherzt nimmt er den Kampf auf. Aber es ist seiner Inkarnation de Tabera nicht vergönnt, die Drillinge zu besiegen. Als Georg Rudolf Speyer folgt er im nächsten Leben weiter ihrer Spur – bis in das London der Gegenwart … Das besondere Flair erhält der Zyklus ohne Zweifel durch die Vergangenheitsabenteuer. Der Leser wird Zeuge einer dunklen Welt, die sich – obschon an der Grenze zu Renaissance und Neuzeit – noch nicht vollständig aus den Klauen des Mittelalters lösen kann. Sie wird bestimmt von finsteren Riten und obskuren alchemistischen Experimenten. Der aus einem solchen Versuch hervorgegangene goldene Drudenfuß allein besitzt die Macht, die Dämonen-Drillinge zu vernichten. Aber wie soll Speyer ihn in seinen Besitz bekommen, da die Drillinge längst um seine magische Kraft wissen und deshalb alles daran setzen, ihn zu vernichten …? Speyer bleibt eine letzte Möglichkeit. Er muß selbst die Macht des Bösen nutzen, um die Drillinge zu stellen. Sein Verbündeter ist ein Mann, dessen Name durch seine Verbindung zu den Dämonen schon zu Lebzeiten zum Mythos wurde. Niemand weiß, auf welcher Seite Dr. Faustus wirklich steht. Er ist undurchschaubar, und sein Wissen über die Drillinge ist beängstigend groß. Sind seine magischen Masken nur ein Mittel, Speyer in die vorbereitete Falle zu locken? Wird die Inkarnation Hunters »die Geister, die sie rief« nun nicht mehr los …? Viel Lesespaß und angenehmes Gruseln wünscht Dario Vandis
Erstes Buch
Jagt die Satansbrut von Neal Davenport
Vergangenheit Die Flanken des Fuchshengstes waren schweißnaß. Ich klopfte ihm beruhigend auf den Hals, und er schnaubte. Mit einem sanften Schenkeldruck dirigierte ich das Pferd zwischen eine Baumgruppe. Der Mond stand hoch am Himmel. Im Hintergrund erhoben sich die Montes de Toledo. Ich sprang aus dem Sattel und band den Hengst an einer Steineiche fest. Hinter den Sattel hatte ich einen Ziegenfellbeutel geschnallt, den ich jetzt öffnete und dem ich einen schwarzen Umhang mit Kapuze entnahm. Der Hengst stampfte mit der rechten Hinterhand auf und schnaubte wieder. Ich schlang mir den Umhang um die Schultern. Er reichte bis auf den Boden. Auf dem Rücken war ein roter Teufelskopf eingestickt, und die Kapuze war mit seltsamen Mustern bedeckt. Ich durchquerte den Eichenwald und betrat eine Lichtung. Nach wenigen Schritten hatte ich einen steinigen Pfad erreicht, der zu einem halbverfallenen Gebäude führte. Ich blieb stehen und schloß den Umhang, dann zog ich die Kapuze über den Kopf. Ich konnte gut durch die schmalen Augenschlitze sehen. Das Gebäude war dunkel. Der Vollmond spendete genügend Licht, so daß ich rasch vorwärts kam. Nach einigen Schritten sprangen plötzlich zwei dunkle Gestalten hinter einigen umgestürzten Bäumen hervor. In ihren Fäusten blitzten Degen, die sie drohend auf mich richteten. Unwillkürlich wollte ich nach meiner Waffe greifen, beherrschte mich aber im letzten Augenblick. »Das Losungswort!« sagte eine der Gestalten. Die Stimme klang seltsam hohl. Jetzt würde sich herausstellen, ob Albertus Villanovanus' Informationen richtig gewesen waren. »Casa Santa.« Die Degen senkten sich. »Ihr kommt spät, Herr. Die Zeremonie hat schon begonnen.« Ich nickte und schritt zwischen den beiden Männern hindurch.
Das Losungswort war eine Verhöhnung der Inquisition. Casa Santa bedeutete Heiliges Haus; so wurden die Häuser genannt, in denen die Folterwerkzeuge untergebracht waren und die Folterungen vorgenommen wurden. Vor dem Haus mußte ich nochmals das Losungswort sagen, dann wurde eine Holztür geöffnet, und ich durfte eintreten. Ein feuchter Korridor führte in die Tiefe. Alle zwanzig Schritte steckte eine Fackel in der Wand. Ich erreichte Stufen, die steil tiefer führten. Einige Sekunden lang blieb ich stehen. Ein seltsam eindringlicher Gesang war zu hören. Der Text war eine einzige Verspottung der katholischen Kirche. Ich ging weiter. Meine Schritte hallten von den Wänden. Dann lag das große Gewölbe vor mir. Mehr als fünfzig Gestalten waren versammelt, die alle Umhänge wie ich trugen. Ich mischte mich unauffällig unter die Gruppe, hielt mich einstweilen im Hintergrund und stimmte in den Gesang mit ein. Irgendwie fühlte ich mich unbehaglich. Albertus Villanovanus, mein Lehrer, hatte mich aus Toledo in dieses einsame Haus in der Nähe von Orgaz gesandt. Er wollte, daß ich die Ereignisse dieser Nacht mit eigenen Augen sehen sollte. Ich war sicher, daß sich unter den Anwesenden einige der einflußreichsten Edelleute und Bürger von Toledo und Umgebung befanden. Und angeblich sollten sich auch Mitglieder des Inquisitionsrates der Geheimgesellschaft der Teufelsanbeter angeschlossen haben. Ich mußte vorsichtig sein. Auf keinen Fall durfte ich auffallen. Villanovanus hatte einige seiner Leute vor einiger Zeit unter die Teufelsanbeter geschmuggelt. Manche waren entdeckt worden und eines fürchterlichen Todes gestorben. Angeblich sollte der Anführer der Teufelsanbeter ein echter Dämon sein, dessen wirklichen Namen niemand kannte. Er wurde nur Asmodi genannt und sollte über unheimliche magische Kräfte verfügen und ein führendes Mitglied einer Gruppe von Dämonen sein, die sich die Schwarze Familie nannte. Die Luft im Gewölbe war stickig, und die unzähligen Fackeln wärmten. Ich schwitzte unter meinem Umhang.
Nach einigen Minuten knieten alle nieder, und ich folgte ihrem Beispiel. Dabei gelang es mir, einen Blick auf das Kopfende des gewaltigen Gewölbes zu werfen. Ich sah einen schwarzen Marmorblock, auf dem ein Kupfergefäß mit glühenden Kohlen stand. Hinter dem Block, der sicherlich der Opferstein war, stand eine seltsame Gestalt auf einem Sockel. Sie stellte den Teufel dar. Die häßliche Fratze mit den gebogenen Hörnern und der heraushängenden gespaltenen Zunge war deutlich zu erkennen. Die Gestalt hatte auch gut ausgeprägte weibliche Brüste; sie war als Zwitter dargestellt. Rasch senkte ich den Blick und fiel in die seltsamen Beschwörungen mit ein. Dann brachen die Worte plötzlich ab. Ein kühler Lufthauch durchraste das Gewölbe, und die Fackeln loderten höher. Eine rotgekleidete Gestalt trat aus einer Tür, die sich links neben der Teufelsgestalt befand. Der Rotgekleidete war groß und breitschultrig und hielt eine Kette in der rechten Hand. Überrascht weiteten sich meine Pupillen. Der Mann ging nicht auf der Erde, sondern er schwebte in der Luft, mindestens zehn Zentimeter über dem Boden. Hinter ihm betrat eine nackte Frau das Gewölbe. Um den Hals trug sie einen eisernen Ring, der mit der Kette, die der Unheimliche in der Hand trug, verbunden war. Das Gesicht der Frau war mit einer dichten Schicht Ruß bedeckt. Ihr Haar war pechschwarz und verhüllte ihre üppigen Brüste. Sie hatte den typisch schwerfälligen Gang einer Schwangeren. Der Rotgekleidete band die Kette um die Teufelsfigur, und die Schwangere kroch auf die schwarze Marmorplatte. Sie legte beide Hände auf ihren geschwollenen Bauch. Der Rotgekleidete stellte die Kupferschale mit den brennenden Holzkohlen zwischen die Beine der Frau und warf einige Kräuter ins Feuer: Ein braungrüner Rauch stieg auf und durchdrang das Gewölbe. Dann fing der Rotgekleidete zu sprechen an. Es war eine Mischung aus Rede und Gesang. Seine Stimme klang tief und wirkte betäubend. »Vor zweihundertsiebzig Tagen haben wir uns hier versammelt, um zu beginnen, was heute vollendet werden soll.« Die Schwangere wälzte sich auf dem Opfertisch hin und her. Sie
stieß winselnde Laute aus, dann einen lauten Schrei. »Diese Frau wurde dazu bestimmt, die Braut des Satans zu sein. Ihr Körper wurde dazu ausersehen, die Frucht des Satans auszutragen. Es ist soweit. Die Geburt des Dämons mit den drei Körpern wird erfolgen. Laßt uns um die Gnade Luzifers flehen, damit seine Geschöpfe zu einem Wegbereiter unserer Idee werden.« Die vermummten Gestalten begannen zu singen. Sie faßten sich an den Händen und tanzten um die Schwangere und den Rotgekleideten herum. Ich wurde von den anderen mitgerissen. Der Gesang wurde immer schriller und lauter, und die Bewegungen der Tanzenden wurden rascher, die Masse geriet in Ekstase. Der Gesang ging in wüste Beschimpfungen über, die sich alle gegen den katholischen Glauben richteten. Der Rotgekleidete hob schließlich die Arme, und die Tanzenden blieben stehen. Ich rang nach Atem. Er senkte die Arme, und wir drehten uns alle um. Und wieder begann der Tanz. »Satan, erhöre uns!« brüllten sie – und ich mit. Das Schreien der jungen Frau wurde unmenschlich. Wir tanzten im Kreis. Ich wagte nicht, den Kopf zu wenden. Dann gingen die Schreie der Frau in ein leises Winseln über. Villanovanus hatte mich informiert, daß heute etwas Schreckliches geschehen sollte. Vor genau zweihundertsiebzig Tagen hatten sich die Teufelsanbeter unter Asmodis Führung – niemand anders konnte sich unter der roten Kutte verbergen – versammelt und eine Jungfrau geschwängert, beschimpft und besudelt. Es war die Zeugung eines Super-Dämons geplant worden, der heute geboren werden sollte. Die Schwangere war nun still, doch wir tanzten weiter. Der Boden schien zu beben; ein lauter Knall war zu hören, und der Raum wurde in blendendweißes Licht getaucht. Risse zeigten sich im Gewölbe, und einige Steine fielen zu Boden. Schwefelgeruch hing in der Luft. Die Vermummten warfen sich auf den Boden. Sie drückten die Stirn gegen die harten Steine und schwiegen. Lautes Donnern erfüllte das Gewölbe. Der Boden wellte sich. Blasen bildeten sich, und Sandfontänen wurden hochgeschleudert. Die Welt schien unterzu-
gehen. Das Gewölbe wankte, und ich fürchtete, daß es jeden Augenblick einstürzen würde. Dann war ein lauter klagender Schrei zu hören. Ich zuckte zusammen, und mein Herz schlug rascher. Ich wollte mich aufrichten, doch eine unsichtbare Kraft drückte mich stärker zu Boden. Schmatzende Geräusche drangen an mein Ohr. Das Splittern von Knochen vermischte sich mit gierigen Schlucklauten – es klang, als würde ein Löwe die Leiche seines Opfers verschlingen. Wieder versuchte ich den Kopf zu heben – vergebens. Die unsichtbare Kraft war stärker. Mein Kopf dröhnte, als befänden sich hundert Glocken in meinem Hirn. Mir wurde übel. Grauenhafte Gedankenfetzen strömten auf mich ein. Ich zitterte am ganzen Leib. Dann war es plötzlich ruhig, und ich konnte mich wieder bewegen. »Steht auf!« hörte ich die Stimme des Rotgekleideten. »Es ist getan.« Schwankend richtete ich mich auf. Ich drehte den Kopf herum und erstarrte. Drei Säuglinge lagen auf dem Opfertisch. Die junge Frau war verschwunden. Die Säuglinge lagen auf dem Bauch, und ihre Gliedmaßen zuckten. Das Feuer im Kupferkessel war erloschen. Lange schwarze Haare lagen auf dem Opfertisch, und ich sah einige Blutflecken. Meine Augen weiteten sich entsetzt. Der Gedanke war so absurd, doch er drängte sich förmlich auf. Die langen schwarzen Haare und die Blutflecken sagten genug, nur mein Verstand weigerte sich, das Unfaßbare zu glauben. Aber die schmatzenden Geräusche, das Krachen der Knochen waren ein Beweis mehr. Die vermummten Gestalten bildeten eine lange Reihe, und ich ordnete mich ein. Sie gingen am Opfertisch vorbei und hoben die Kapuzen hoch, dann beugten sie sich nieder und küßten die rosigen Hinterteile der Säuglinge. Jeder nahm eines der schwarzen Haare an sich, die auf der Platte verstreut lagen, und tauchte sie in einen der Blutflecken, dann gingen sie weiter, knieten vor der Teufelsgestalt nieder, küßten sie ebenfalls auf das Hinterteil und klebten die blutigen Haare auf die Figur. Danach verließen sie das Gewölbe.
Eine kleine Gestalt hob die Kapuze hoch. Mit Mühe unterdrückte ich einen Aufschrei. Es gab keinen Zweifel, der Mann war Lucero, den ich das letztemal 1506 gesehen hatte, vor fast zwei Jahren. Das schmale, asketische Gesicht mit dem gepflegten Spitzbart war nicht zu verkennen. Nach ihm kam ein Mann, den ich nicht kannte. Ich brachte schaudernd das unheimliche Ritual hinter mich und klebte eines der Frauenhaare auf die Teufelsfigur. Dann drehte ich mich rasch um und sah, wie Lucero das Gewölbe verließ. Ich beschleunigte meinen Schritt und hielt einen Abstand von zwanzig Metern ein. Villanovanus hatte wieder einmal recht behalten. Er hatte behauptet, daß Lucero, der ehemalige Inquisitor, der zuletzt spurlos verschwunden war, zum Bund der Teufelsbeschwörer gehörte. Der Bluthund Lucero hatte sich 1506 in Cordoba mit letzter Mühe vor der aufgebrachten Menge retten können, die die Kerker der Inquisition stürmten und die Gefangenen befreiten. Seither war er nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Ich hatte mir geschworen, daß ich Lucero töten würde. Aber alle meine Nachforschungen nach ihm und Esmeralda, die ich einmal geliebt hatte, waren vergebens gewesen. Doch jetzt war das Glück auf meiner Seite. Ich hatte ihn entdeckt, und er würde mir nicht mehr entkommen. Lucero verließ mit einigen anderen vermummten Gestalten das halbverfallene Gebäude. Ich blieb stehen und ließ ihn nicht aus den Augen. Er sprach mit einer der Gestalten, dann wandte er sich nach rechts. Ich folgte ihm. Die Wächter waren verschwunden. Dunkle Wolken zogen über den Himmel und schoben sich vor den Mond. Ich öffnete meinen Umhang und griff nach meinen Waffen – einem Degen und einem kleinen Dolch mit gebogener Klinge. Lucero sollte mir nicht entkommen. Ich dachte daran, daß er Esmeralda auf dem Gewissen hatte, und der Zorn wollte mich schier übermannen. Ich beschleunigte meinen Schritt und war nur noch wenige Meter von meinem Gegner entfernt. Dieser blieb stehen und sah mir entgegen. »Was wollt Ihr von mir? Glaubt Ihr etwa, daß ich nicht bemerkt habe, wie Ihr mir folgt?«
»Ich muß mit Euch sprechen«, sagte ich mit verstellter Stimme. »Es ist dringend.« »Wißt Ihr, wen Ihr vor Euch habt?« Ich nickte. »Ihr seid …« »Keinen Namen!« zischte er. »Kommt mit!« Ich paßte mich seinen Schritten an. »Weshalb wollt Ihr mich sprechen?« fragte er nach einigen Minuten. »Sagt Euch der Name Esmeralda etwas?« fragte ich lauernd. Er blieb überrascht stehen. »Esmeralda wurde in das Schloß des Grafen de Godoy gebracht«, sprach ich weiter. »Wer seid Ihr?« fragte Lucero heiser. »Ihr habt das Schloß rechtzeitig verlassen, Lucero. Godoy und seine schaurigen Gefährten aber wurden von mir gepfählt. Ich habe die Vampirbrut gnadenlos ausgerottet. Leider mußte ich auch Fuenseca und seine Tochter Isabell töten. Nur Esmeralda entkam mir. Ich hatte sie geliebt und schwor Rache. Fast zwei Jahre mußte ich warten, aber jetzt ist der Tag der Abrechnung gekommen. Es wird mir eine Genugtuung sein, Euch zu dem zu schicken, den Ihr noch vor wenigen Minuten angebetet habt!« Der Mond trat hinter den Wolken hervor, und ich riß mir mit einem Ruck die Kapuze vom Kopf und schleuderte den störenden Umhang zu Boden. Das Mondlicht fiel genau auf mein Gesicht. Ich verbeugte mich. »Juan Garcia de Tabera«, sagte ich und riß den Degen aus der Scheide. In der linken Hand hielt ich den Dolch. Lucero wich einen Schritt zurück. Er schlüpfte aus dem Umhang, zog seine Waffe, küßte die blanke Klinge, und ich folgte seinem Beispiel. »Ich werde Euch aufspießen, de Tabera«, sagte er grinsend. Ich wußte, daß er ein guter Fechter war. »Ich habe noch niemanden mit so viel Vergnügen getötet«, erwiderte ich. Wir senkten die Degen. Er stieß blitzschnell zu, und ich sprang einen Schritt zur Seite. Sein Stich ging ins Leere.
Ich mußte meinen Haß zügeln und einen ruhigen Kopf bewahren, sonst stand ich von Beginn an auf verlorenem Posten. Lucero zog seinen Dolch, und nun schlugen vier Klingen aus bestem Toledostahl zusammen. Der Kampf wurde immer heftiger. Luceros Gesicht war verzerrt. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er war ein ausgezeichneter Kämpfer und kannte einige schmutzige Tricks, aber ich war ebenfalls nicht unbeschlagen. Dreimal hintereinander ging sein Stich ins Leere. Meine Jugend und Kraft waren ein gewaltiger Vorteil. Ich überlegte, wie ich Lucero am besten beikommen konnte, und fand endlich Gelegenheit dazu. Ich ging in die Knie. Mein Dolch stieß in seinen linken Unterarm, und der Degen bohrte sich in seine rechte Schulter. Er stieß einen Schmerzensschrei aus und taumelte zurück. Ich setzte augenblicklich nach. »Gnade!« keuchte er. »Hast du je Gnade mit den unschuldigen Opfern gehabt?« schrie ich ihm entgegen. »Du hast dich an ihren Qualen geweidet!« Er stolperte zurück und prallte gegen einen Baum. Die Klinge des Degens funkelte wie Silber im Mondlicht. Sie bohrte sich durch sein Herz und blieb im Baum stecken. Ein Zittern durchlief seinen Körper; er spuckte Blut, dann sackte er tot zusammen. Ich riß den Degen aus seiner Brust, wischte das Blut an seinen Kleidern ab und steckte die Waffe ein. »Ich habe dich gerächt, Esmeralda«, sagte ich leise und wandte mich ab. Gedankenverloren kehrte ich zu meinem Hengst zurück, der mich mit einem zufriedenen Schnauben empfing und die weichen Nüstern an meinem Arm rieb. Ich schwang mich in den Sattel und ritt nach Toledo.
Gegenwart Im Zimmer war es dunkel. Die Jalousien waren zugezogen. Coco Zamis setzte sich auf. Das lange, schwarze Haar fiel in weichen Wel-
len auf ihre schmalen Schultern. Sie war nackt – alles in allem eine ungewöhnlich attraktive Frau. Sie blickte besorgt auf den Mann neben sich, der das dünne Bettlaken abgeschüttelt hatte und sich wie in Krämpfen auf dem Bett hin und her wand. Er trug einen Schnurrbart, dessen Enden über die Mundwinkel herabhingen, und nackenlanges dunkles Haar. Sein Gesicht war nicht unbedingt schön, aber ausdrucksstark. Etwas darin zog den Betrachter unwillkürlich in seinen Bann. Coco knipste die Nachttischlampe an. Dorian hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Er schlug wild um sich. Sein Gesicht und der Körper waren schweißbedeckt. Es schien, als würde er gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfen. Die Hände waren eigentümlich verkrampft, so als würde er etwas festhalten; und immer wieder stieß er mit einem unsichtbaren Gegenstand zu, während sein Körper seltsame Drehungen vollführte. Dann endeten seine Bewegungen abrupt, und er sagte leise: »Ich habe dich gerächt, Esmeralda.« Coco erinnerte sich an das Gespräch, das sie am Abend geführt hatten. Dorian hatte ihr von seiner Reise nach Spanien erzählt, wo er eine junge Frau namens Tina Nelson gepfählt hatte, die durch einen unglücklichen Zufall in das finsterste Mittelalter gelangt war und dort als Esmeralda gelebt hatte. Sie war zu einem Vampir geworden, hatte die Jahrhunderte überlebt und war nur von einem Gedanken beherrscht gewesen, Rache an ihrem Mann Lester Nelson zu nehmen, was Dorian verhindern konnte. Coco warf dem Schlafenden wieder einen Blick zu. Sein Körper war nun entspannt. Er schlief friedlich. Coco stand auf. Sie ahnte, daß Dorian während des Schlafs von einem seiner früheren Leben geträumt hatte. Sie zündete sich eine Zigarette an und überlegte, ob sie Dorian aufwecken sollte. Er wälzte seinen großen sportlichen Körper auf die Seite. Sein dichter Schnurrbart schimmerte feucht. Ein Stoppelbart sproß auf seinen Wangen. Sie waren vor zwei Tagen aus Irland gekommen. Nach langen Monaten der Trennung hatte Coco sich entschlossen, an Dorians Seite zurückzukehren. Sie lächelte, als sie an die stürmische Begrüßung
von Phillip, dem Hermaphroditen, und Don Chapman dachte. Sogar die verschrobene Martha Pickford, die sich nicht nur als Haushälterin der Jugendstilvilla sah, sondern außerdem noch liebevoll um Phillip kümmerte, hatte Freude gezeigt. Aber Cocos Verhältnis zu Dorian war noch immer nicht ungetrübt. Sie hatte sich über ihre Gefühle ihm gegenüber klarwerden wollen, doch es war ihr nicht gelungen. Sie war kreuz und quer durch Europa gefahren, aber die Trennung hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Coco drückte die Zigarette aus und ging ins Badezimmer. Sie trank ein Glas Wasser und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Dorian lag auf dem Rücken; die Hände hatte er im Nacken verschränkt, und seine Augen waren weit offen; er atmete schwer. Coco blieb in der Tür stehen. Dorian wandte langsam den Kopf in ihre Richtung. Seine grünen Augen waren glasig; sie schienen durch sie hindurchzusehen. Dann allmählich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er leckte sich über die trockenen Lippen, kniff die Augen halb zu und schüttelte langsam den Kopf. Es schien, als sei er gerade erst erwacht. »Ich habe geträumt.« Seine Stimme klang seltsam spröde. »Nein, nicht geträumt. Ich war in der Vergangenheit. 1508. Ich habe dir doch von Lucero erzählt. Nun, ich habe ihn getötet – nach einer Schwarzen Messe. Ich bin ihm gefolgt und konnte ihm meinen Degen ins Herz stoßen.« Coco kam näher und setzte sich auf die Bettkante. »Was geschah bei der Messe?« »Das war alles sehr eigenartig. Ich erlebte die Geburt eines angeblichen Superdämons. Es war schaurig. Drei Kinder wurden geboren. Und es gibt für mich keinen Zweifel – obwohl ich es nicht sehen konnte –, daß die Babys anschließend die Frau auffraßen, die sie geboren hatte.« »Der Superdämon«, sagte Coco heiser. »Von ihm habe ich schon gehört.« »Wann?« fragte Dorian rasch. Sie hob die Schultern. »Als ich noch ein Mitglied der Schwarzen
Familie war, wurde gelegentlich von einem außergewöhnlichen Dämon gesprochen, der aus drei Körpern bestehen sollte. Er soll vor langer Zeit gezeugt worden sein und über unheimliche Kräfte verfügen. Aber es existieren keine genauen Aufzeichnungen. Nur Gerüchte.« Dorian nickte langsam. »Ich war im Auftrag meines damaligen Lehrers Albertus Villanovanus bei der Schwarzen Messe. Er wußte, daß die Geburt dieses Dämons bevorstand, und schickte mich als Beobachter hin. Soweit ich mich erinnern kann, wollte er zu diesem Zeitpunkt ein Experiment vornehmen.« »Villanovanus?« fragte Coco. »Dieser Name kommt mir bekannt vor. Das war doch einer der bedeutendsten Ärzte des Mittelalters. Aber er lebte im 13. Jahrhundert.« »Das war Arnaldus Villanovanus. Ein Vorfahre des Albertus. Arnaldus war Lehrer der Heilkunde und unterrichtete in Montpellier. Er starb 1311. Als Alchimist hatte er zeitlebens nach dem Stein der Weisen gesucht. Sein Nachfahre, mein Lehrer, sammelte seine Schriften und ließ sie 1504 veröffentlichen. Arnaldus' Hauptwerk erschien erst 1504. Es ist das bekannte Breviarium practicae.« Coco runzelte die Stirn. »Irgendwann habe ich in letzter Zeit den Namen Villanovanus in einem anderen Zusammenhang gehört. Es war auf meiner Reise.« Dorian setzte sich auf und sah Coco aufmerksam an. »Ja, jetzt kann ich mich erinnern. Es war nur eine flüchtig hingeworfene Bemerkung, vor ein paar Wochen. Ich war in der Schweiz und fuhr dann nach Vorarlberg. Ich besuchte in Bregenz eine alte Freundin und traf Thören Rosqvana, der mich in sein Haus nach Vaduz einlud.« »Wer ist dieser Rosqvana?« erkundigte sich Dorian. »Er ist stinkreich«, sagte Coco. »Ich kenne ihn von früher her. Er handelt mit Antiquitäten und war öfter in Wien. Mindestens einmal jährlich besuchte er meinen Vater, aber ich weiß nicht, ob er Mitglied der Schwarzen Familie ist. Ich glaube eher, daß er nur mit meinem Vater in Geschäftsverbindung stand. Ich nahm seine Einladung an und fuhr mit ihm nach Vaduz. Seine Villa ist einfach pompös.
Ziemlich geschmacklos und überladen eingerichtet. Er zeigte mir voller Stolz seine kostbare Sammlung. Es waren einige außergewöhnlich schöne Stücke dabei, darunter auch ein goldener Drudenfuß, der …« Dorian sprang erregt auf. »Ein goldener Drudenfuß?« stieß er hervor. »Beschreibe mir, wie er ausgesehen hat!« Coco verstand Dorians Aufregung nicht. »Wie soll ich ihn beschreiben? Das ist gar nicht so einfach. Die fünf gekreuzten Stäbe ergaben einen fünfeckigen Stern. An den fünf Stäben hingen verschiedene fremdartige Figuren, das heißt, die Stäbe waren mit Zeichen aus der Kabbala und Symbolen verziert. Die Figuren kann man verschieben. Rosqvana machte mich besonders auf sie aufmerksam. Es sind genau achtundsiebzig. Genauso viele wie beim magischen Tarock. Die Seitenlänge des Drudenfußes betrug etwa fünfzehn Zentimeter.« »Er ist es!« sagte Dorian mit vor Erregung schriller Stimme. »Und in diesem Zusammenhang erwähnte Rosqvana den Namen Villanovanus«, sagte Coco. »Er behauptete, daß der Drudenfuß von Villanovanus gestaltet worden sei.« »Endlich habe ich wieder eine Spur«, sagte Dorian zufrieden. »Ich besaß den Drudenfuß einmal für kurze Zeit und verlor ihn später. Seitdem ist er verschollen.« »Wann hast du den Drudenfuß besessen?« »Damals im Jahr 1508. Ich weiß über ihn ganz genau Bescheid. Er hat keine bestimmte Größe. Er ist manchmal winzig klein, dann wieder riesengroß. Er dehnt sich aus und schrumpft zusammen. Das hängt davon ab, wie die magischen Figuren an den Stäben angeordnet sind. Er ändert auch die Farbe. Er ist nicht immer goldfarben. Außerdem ändert sich auch das Gewicht.« »Davon sagte Rosqvana nichts.« »Das kann ich mir denken. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht.« »Und weshalb ist dieser Drudenfuß so interessant?« »Er ist eine Waffe. Und er wurde zu einem bestimmten Zweck geschaffen.« »Und der ist?«
»Das erzähle ich dir morgen, Coco«, sagte Dorian und stand auf. »Du hast mich neugierig gemacht. Erzähl es mir!« Dorian lächelte ihr zu. »Frauen sind liebenswerte Geschöpfe – aber sie wären noch liebenswerter, wenn sie ihre Neugierde unterdrücken würden.« »Spar dir deine Belehrungen, Dorian!« fauchte sie. »Ich will jetzt wissen, welche Bewandtnis es mit dem Drudenfuß auf sich hat.« Der Dämonenkiller seufzte. Er wußte aus Erfahrung, daß ihm Coco keine Ruhe lassen würde, ehe er ihr nicht alles erzählt hatte. »Gut. Ich erzähle es dir, aber nur unter einer Bedingung.« »Und die ist?« »Ein paar belegte Brote und eine Flasche Bier«, sagte er grinsend. »Glatte Erpressung«, maulte Coco, schlüpfte in ihren Morgenrock und ging aus dem Zimmer. Dorian blickte auf die Uhr. Es war kurz nach halb zwei. Er war froh, daß Coco wieder bei ihm war, doch das Zusammensein war nicht so wie früher. Etwas stand zwischen ihnen. Sie hatten sich vor dem Schlafengehen geliebt. Es war wie ein Rausch gewesen, aber danach hatte er sich leer gefühlt wie ein ausgedrückter Schwamm. Die Entspannung und das Glücksgefühl früherer Tage war ausgeblieben. Er schüttelte unwillig den Kopf; es würde sich schon alles wieder einrenken, dachte er mißmutig. Nach einigen Minuten kam Coco zurück. Sie stellte einen Teller mit Broten auf den Tisch und zwei Flaschen Bier. Aus einem Schrank holte sie zwei Gläser, dann setzte sie sich an den Tisch. »Es ist angerichtet, Herr und Meister«, sagte sie und deutete auf die Brote. Dorian setzte sich, schenkte die Gläser voll, aß zwei Brote und trank das Glas leer. Genüßlich zündete er sich eine Zigarette an und sah dem Rauch nach. Dann schloß er die Augen und entspannte sich. In letzter Zeit war es ihm öfter möglich gewesen, sich deutlich an Ereignisse zu erinnern, die in der Vergangenheit lagen. Er konzentrierte sich. 1508. Toledo. Inquisition. Sein Name war Juan Garcia de Tabera. Seine Eltern waren vor einem Jahr gestorben. Er hatte das Haus und die Ländereien geerbt und lebte in der stän-
digen Furcht, daß ihn die Inquisition anklagen würde, um sich in den Besitz der Ländereien zu bringen. Er war einundzwanzig Jahre alt; ein gutaussehender Junge, der von Columbus' Entdeckungsreisen fasziniert war. 1508. Ferdinand V. der Katholische, regierte, seit Phillip der Schöne 1506 gestorben war. Ferdinand V. König von Aragonien, von Sizilien, von Kastilien-Leon und Neapel. Er trat die Regentschaft für seine regierungsunfähige Tochter Johanna an, die später als die Wahnsinnige in die Geschichte einging. »Ich kann mich nicht richtig erinnern«, murmelte Dorian. Seine Gedanken irrten ab. Die Motive der Inquisition waren klar. Anfangs ging es dem König überhaupt nicht um die Verteidigung des katholischen Glaubens, sondern nur um das Vermögen der Juden, Marranen und Conversas. Die Staatstruhen waren leer. Geld wurde für den Kampf gegen die Mauren benötigt. Die Schnellgerichte. König Ferdinand hatte immer wieder Schwierigkeiten mit der Inquisition wegen der Aufteilung des Vermögens der Verurteilten. Ganz Europa sprach davon, daß er die Glaubensgerichte nur eingeführt hätte, um sich am Vermögen der hilflosen Opfer zu bereichern. Dorian konzentrierte sich auf Toledo. Vor 1492 waren mehr als die Hälfte der Einwohner Juden gewesen, die mit einem Dekret der Allerkatholischsten Könige am 2.8.1492 Spanien verlassen mußten. Seither standen viele Häuser leer, und die Bedeutung der Stadt war verblaßt. Die Plaza de Zocdover. Das Zentrum der Stadt. Ein blauer Himmel spannt sich über die Häuser. Hitze und Gestank. Verkaufsbuden. Das weiße Haus in der Calle San Salvador. Toledo. 1508. Albertus Villanovanus.
Vergangenheit Ich hatte ein Glas Wein getrunken, verließ die Schenke und trat auf die Plaza de Zocdover. Es war später Nachmittag. Die Kraft der Sonne hatte nachgelassen. Ich wollte zu Albertus Villanovanus. Ich mußte ihm von der Schwarzen Messe und der Geburt des Dämons
berichten. Ich ging am Alcazar vorbei, der im 11. Jahrhundert anstelle eines römischen Lastrums errichteten Festung, und bog in eine der schmalen Gassen ein. Überall lag Unrat herum, und braungebrannte Kinder spielten im Schmutz. Aus den Häusern drangen scheltende Frauenstimmen. Villanovanus' kleines Haus lag unweit der Puente Nuevo, die über den Rio Tajo führt. Vor dem Haus blieb ich stehen. Eine Klappe wurde hochgezogen, und zwei dunkle Augen funkelten mich an. Sekunden später schwang die Tür auf, und Sebastion, einer von Villanovanus' Dienern, öffnete. »Ihr werdet bereits erwartet, Herr«, sagte er und verbeugte sich. Ich ging an ihm vorbei ins Haus. Angenehme Kühle empfing mich. Im vergangenen Jahr war ich fast täglich hierher gekommen. Villanovanus unterrichtete mich seit vielen Jahren, was meinen Eltern stets ein Dorn im Auge gewesen war. Sebastion ging voraus. Er war klein und sein Kopf für den schmächtigen Körper viel zu groß. Ich wußte, daß er seinem Herrn treu ergeben war. Er öffnete eine schwere Tür, und ich ging an ihm vorbei, stieg die Stufen hinab, klopfte an eine Tür und mußte mehr als fünf Minuten warten, bis sie endlich geöffnet wurde. Ernst blickte ich in Villanovanus' hageres Gesicht. Ich hatte ihn einmal nach seinem Alter gefragt, doch er hatte meine Frage nicht beantwortet. Meiner Schätzung nach mußte er weit über achtzig Jahre sein. Sein Schädel war kahl; er trug eine bestickte Kappe. Die Nase war gekrümmt, das Gesicht voll unzähliger Falten und Runzeln. Die tiefliegenden, dunklen Augen glänzten fiebrig. Seine hagere Gestalt wurde von einem bodenlangen blauen Umhang verhüllt. Auf der linken Seite war ein Mercurius – das Symbol der Alchimisten – eingestickt, dessen Leib eine Kreuzung zwischen einer Schlange und einem Drachen darstellte und aus dem tentakelartige Arme wuchsen, die von den Planeten Mond, Sonne und Merkur gekrönt waren.
Er nickte mir zu und legte einen Arm um meine Schultern. »Tritt ein, mein junger wißbegieriger Freund!« Ein schwaches Lächeln lag um seinen Mund. Er schloß die Tür, und ich blickte mich um. Immer wieder faszinierte mich die Alchimistenküche. Die Wände waren vom Rauch geschwärzt. Der Raum wurde von einem gut drei Meter langen Backsteinofen beherrscht, auf dem einige Destillierkessel mit Abzugshauben standen. Die Kessel waren durch verschieden starke Rohre miteinander verbunden. Auf einem Regal lagen unzählige Bücher, dazwischen stand ein Totenschädel. Von der Decke hingen allerlei getrocknete Tiere, ein kleines Krokodil, Kröten, Ratten und Spinnen. Der große Keller wurde von einigen Kerzen erhellt, die auf einem Pult standen. Villanovanus hatte mir die Grundbegriffe der Alchimie und Astrologie beigebracht. Es würde noch Jahre dauern, bis ich in diesen beiden Künsten so bewandert war, daß er mir auch die Grundlagen der weißen Magie beibringen konnte. »Setz dich, Juan!« sagte er und zeigte auf einen niedrigen Schemel. Er blieb vor mir stehen und steckte seine Hände in die Ärmel seines Umhangs. »Du willst mir Bericht erstatten über die Schwarze Messe.« Beim Sprechen bewegte sich sein langer schneeweißer Bart. »Das ist nicht notwendig, Juan. Ich weiß bereits Bescheid. Der Dämon wurde geboren. Und der Welt steht Schreckliches bevor. Aber vielleicht kann ich es verhindern.« Ich sah ihn neugierig an. »Wie du weißt, habe ich seit meiner frühesten Jugend alte Dokumente gesammelt, die sich mit der Alchimie beschäftigen. Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, eine der ältesten Aufzeichnungen überhaupt zu erhalten – die tabula smaragdina. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, bis ich sie übersetzt und die Bedeutung der Aufzeichnungen verstanden hatte. Ich weiß nun, wie man das Magisterium, den Stein der Weisen, herstellen kann.« Er blickte mich triumphierend an, und ich konnte seine Begeisterung verstehen. Mit dem Magisterium, das auch die Rote Tinktur genannt wurde, sollte man geschmolzene unedle Metalle in Gold ver-
wandeln können. »Vor mir ist es schon anderen bedeutenderen Männern gelungen, das Magisterium herzustellen, aber sie wußten es nicht anzuwenden. Sie experimentierten und erzielten nur Teilerfolge, so wie mein Urahn Arnaldus. Sie konnten auch keinen Erfolg haben, denn das Magisterium wirkt nur unter einer bestimmten Voraussetzung.« Ich starrte den Alten gespannt an. Er schloß die Augen. »Man muß Blei, Quecksilber und Kupfer mischen, und die Sterne müssen günstig stehen. Außerdem muß zu einer ganz bestimmten Stunde ein Dämon geboren werden. Alle diese Voraussetzungen waren vergangene Nacht erfüllt. Ich hatte alles für das Experiment vorbereitet. Der Ofen glühte vor Hitze. Die Dämpfe zogen durch die Rohre und sammelten sich, verbanden sich. Ich stellte ein magisches Pendel auf den Tisch, und als es ausschlug, wußte ich, daß die Geburt des Dämons bevorstand. Ich schüttete die Rote Tinktur in den Kessel, in dem sie wallte und zischte. Gelbbraune Dämpfe stiegen hoch und raubten mir fast den Atem. Es dauerte Minuten. Ich brach fast zusammen, so intensiv war der Geruch. Dann zogen die Rauchwolken wieder ab, und ich erholte mich. Als ich in den Kessel blickte, schrie ich vor Freude auf. Ich hatte es geschafft. Im Kessel schwamm geschmolzenes Gold.« Ich war nicht fähig, etwas zu sagen. Seine Begeisterung sprang auf mich über. »Das ist ja unglaublich, Meister!« »Niemand kann ermessen, wie glücklich ich war. Endlich ist gelungen, was ich nicht mehr zu erhoffen gewagt hatte. Ich machte mich sofort an die Arbeit. Ich mußte eine Waffe schaffen, mit der ich die Dämonen-Drillinge vernichten kann. Ich mußte einen Drudenfuß aus dem gewonnenen Gold herstellen. So holte ich die Formen und goß fünf Stäbe, die ich miteinander verband. Es entstand das magische Pentagramm, der goldene Drudenfuß. Die Waffe, mit der die Dämonen-Drillinge getötet werden können.« »Darf ich den Drudenfuß sehen, Meister?« Villanovanus nickte. »Ja, aber höre mir erst weiter zu. Der Drudenfuß allein genügt nicht. In einer uralten Schrift fand ich den richtigen Hinweis. Ich mußte Symbole herstellen, geometrische Figuren,
magische Zeichen aus der Kabbala. Und dazu eignet sich vorzüglich das magische Tarockspiel, das von allen Wahrsagern verwendet wird. Jede Karte hat eine bestimmte Bedeutung. Ich fertigte die achtundsiebzig Symbole an und befestigte sie nach einem bestimmten System an den Stäben.« Ich wußte über das Tarock genau Bescheid. Villanovanus hatte mir die Bedeutung und Herkunft des Spieles erklärt. Die Karten konnte man in zwei Gruppen einteilen: die zweiundzwanzig großen Arcandakarten und die sechsundfünfzig kleinen Arcandakarten. Über die Entstehung der zweiundzwanzig großen Arcandakarten gab es widersprüchliche Meinungen: Die einen behaupteten, daß sie aus dem ägyptischen Thoth-Hieroglyphenbuch stammten, andere sagten, daß die zweiundzwanzig Karten mit den zweiundzwanzig Schritten aus der Kabbala zu vergleichen seien. Die restlichen sechsundfünfzig Karten wurden in vier Gruppen unterteilt: die Münzen, Stäbe, Schwerter und Kelche. Die Karten wurden gemischt und in Form eines Hexagramms aufgeschlagen. Geübte Wahrsager konnten einem aus der Anordnung der Karten die Zukunft deuten. »Komm mit, Juan!« sagte der Alchimist, und ich folgte ihm. Er blieb vor einem kleinen Tischchen stehen. »Unter diesem Tuch liegt der Drudenfuß«, sagte er leise. Vorsichtig zog er das Tuch zur Seite, und ich trat einen Schritt näher. Der Drudenfuß war ein kleines Kunstwerk. Die achtundsiebzig Symbole waren meisterhaft gefertigt. Das Gold glänzte matt und hatte einen rötlichen Stich. Die Länge der Stäbe betrug etwa zwanzig Zentimeter. »Der Drudenfuß ist gefährlich! Er kann sich auch gegen den Besitzer wenden. Man darf die Symbole nur vorsichtig bewegen. Jede Unachtsamkeit kann den Tod bedeuten. Ich habe einige Zeit mit ihm experimentiert. Er verändert die Größe, je nach der Konstellation der Symbole. Er kann größer werden oder einschrumpfen. Die Farbe ändert sich ebenfalls. Manchmal strahlt er so stark, daß man die Augen schließen muß, dann wieder ist er fast farblos, und das Gold wird dunkelbraun, fast schwarz.« »Aber wie kann man den Drudenfuß als Waffe gegen die Dämonen-Drillinge einsetzen, Meister?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Das werde ich dir später erklären, Juan.« Ich beugte mich vor. Einige der Symbole erkannte ich: die Liebenden, das Rad des Lebens, der Erhängte, der Mond, der Magier, der Teufel, die Sonne, der Tod. Wie unter einem fremden Zwang streckte ich eine Hand aus. »Faß ihn nicht an!«, zischte Villanovanus. »Es könnte dein Tod sein, Juan.« Ich zog die Hand zurück. »Manchmal bewegen sich die Symbole von selbst.« Er legte seine rechte Hand auf die Spitze, und ich wartete atemlos, ob etwas geschehen würde. Nach einigen Minuten bewegte sich eines der Symbole. Es war der Kelch-König. Er wanderte langsam den Stab hinunter und berührte ein anderes Symbol. Es war der Mond. Der Drudenfuß weitete sich und schimmerte. Er schien zu leuchten. Villanovanus zog entsetzt die Hand zurück. Das Symbol für die Gerechtigkeit bewegte sich langsam. Dann kam Bewegung in die anderen Symbole. Der Alchimist packte den Drudenfuß und versuchte verzweifelt, das Kreisen der Symbole zu stoppen, doch er hatte keinen Einfluß mehr darauf. Meine Augen weiteten sich. Eines der Symbole leuchtete nun blutrot. Der Tod. »Ich bin verloren, Juan«, sagte Villanovanus. »Es muß für Euch eine Rettung geben, Meister!« rief ich. Er schüttelte den Kopf. Fast unhörbar sagte er: »Ich habe es geahnt. Der Drudenfuß wendet sich gegen mich. Nimm ihn an dich, Juan! Aber vermeide es, ihn mit den bloßen Händen zu berühren!« Ein zweites Symbol glühte nun. Es war der Kelch-König. Der Tod wanderte den Stab hoch. Schließlich lagen sich die beiden leuchtenden Symbole genau gegenüber. Villanovanus hob beide Hände und schloß die Augen. Seine Lippen bewegten sich leicht. Ich wollte nach ihm greifen, zuckte jedoch zurück. Aus dem Drudenfuß schoß ein blendendweißer Strahl, der den Alchimisten einhüllte. Er bäumte sich auf und brach zusammen.
Ich kniete neben ihm nieder und wälzte ihn auf den Rücken. Sein Gesicht war entspannt, die Augen waren geschlossen, und ein friedliches Lächeln lag um seinen Mund. Ich griff nach seinen verkrampften Händen, sie waren eiskalt. Sanft strich ich dem Toten über die Stirn. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Tränen hingen in meinen Augen. Ich konnte und wollte es nicht wahrhaben, daß mein Lehrer tot war. Ich hielt seine eisige Hand, und meine Tränen tropften auf sein Gesicht. Die Kerzen brannten herunter, eine nach der anderen erlosch. Stunden mußten vergangen sein. Schließlich stand ich auf und blickte zum Drudenfuß. Er war geschrumpft und hatte in meiner Faust Platz. Mein Lehrer hatte geahnt, daß ihn der Tod erwarten würde. Es war sein Wunsch gewesen, daß ich den Drudenfuß an mich nahm, doch ich wußte nicht, wie ich ihn gegen die Dämonen-Drillinge anwenden konnte. Ich suchte nach einem Tuch, fand eines, wickelte den Drudenfuß darin ein und steckte ihn in eine Tasche. Dann warf ich dem Toten einen letzten Blick zu und verließ mit hängenden Schultern den Keller. Langsam stieg ich die Stufen hoch. Sebastion kam mir entgegen. Er blickte in mein Gesicht. »Was ist passiert?« fragte er ängstlich. »Dein Herr ist tot«, sagte ich tonlos. »Er starb während eines Experiments.« Sebastions Gesicht wurde kreidebleich. Er drückte sich die Hände gegen die Brust und schloß die Augen. »Er war voller Todesahnungen«, sagte er mit bebender Stimme. »Er wußte, daß er bald sterben würde.« »Seit wann sprach er davon?« »Seit einer Woche, Herr. Er las es in den Karten. Er gab mir genaue Anweisungen, was nach seinem Tod zu geschehen habe. Und die werde ich jetzt erfüllen.« Mein Herz war schwer. Ich ging an Sebastion vorbei und trat auf die Gasse hinaus. Es war dunkel geworden. Der Vollmond stand hoch am Himmel. Ohne zu denken, lief ich durch die nächtlichen
Straßen. Meine Schritte führten mich zum Fluß. Dort setzte ich mich nieder. Ich blickte über das Wasser, und meine Gedanken waren voll Bitterkeit. Villanovanus war viel mehr als ein Lehrer für mich gewesen. Er war ein Freund. Ich hatte für ihn mehr als für meinen Vater empfunden. Im Moment konnte ich mir ein Leben ohne ihn noch gar nicht vorstellen. Ich wollte in seinem Sinn weiterarbeiten. Irgendwie mußte es mir gelingen, hinter das Geheimnis des goldenen Drudenfußes zu kommen. Außerdem mußte ich den Aufenthaltsort der Dämonen-Drillinge in Erfahrung bringen. Es wurde schon hell, als ich aufstand. Ich fühlte mich wie gerädert. Mein Hirn war leer und die Augen brannten. Ich erreichte das weiße Haus in der Calle San Salvador im Morgengrauen. Müde schleppte ich mich in die Schlafkammer, setzte mich auf das Bett, trank eine Karaffe Rotwein und kleidete mich aus. Dann kroch ich ins Bett und versuchte zu schlafen, was mir nicht gelingen wollte. Ruhelos wälzte ich mich hin und her.
Gegenwart Dorian Hunter schlug die Augen auf. »Und was geschah danach?« fragte Coco. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er erschöpft. »Ich weiß nur eines, daß die Dämonen-Drillinge noch am Leben sind.« »Weshalb?« Er runzelte die Stirn. »Ich habe eine ganz undeutliche Erinnerung. Sie hängt mit dem Drudenfuß zusammen. Angeblich wird mit dem Tod der Dämonen-Drillinge auch der Drudenfuß vernichtet. Er soll sich in Luft auflösen. Aber ob das tatsächlich stimmt, kann ich nicht beweisen.« »Und wie ich dich kenne, wirst du alles daransetzen, diesen goldenen Drudenfuß in deinen Besitz zu bekommen.« »Erraten«, meinte er und schloß die Augen. »Ich vermute, daß
mich der Drudenfuß auf die Spur der Dämonen-Drillinge bringen kann. Wenn sie tatsächlich noch am Leben sind, dann will ich sie vernichten. Und das kann ich nur mit Hilfe des Drudenfußes.« »Also werden wir nach Vaduz fahren«, stellte Coco fest. »Ja. Aber ich werde erst mal Helnwein in Wien anrufen und ihn bitten, sich mit Thören Rosqvana in Verbindung zu setzen. Möglicherweise ist dieser Rosqvana doch ein Mitglied der Schwarzen Familie. Er könnte Verdacht schöpfen, wenn ich mich direkt an ihn wende.« Dorian stand auf, holte sein Notizbuch aus der Tasche und griff nach dem Telefon. »Du willst ihn doch nicht etwa jetzt anrufen? Es ist drei Uhr.« »Das spielt keine Rolle«, sagte Dorian und wählte Helnweins Nummer. Er hatte Glück. Nach dem fünften Läuten wurde der Hörer abgehoben, und Helnwein meldete sich. Seine Stimme klang verschlafen. »Morgen, Herr Helnwein«, sagte Hunter auf Deutsch. »Hier spricht Dorian Hunter.« Helnwein brummte: »Sie haben vielleicht Nerven, Dorian. Mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen! Ich bin ein alter Mann und brauche meinen Schlaf.« »Entschuldigen Sie, aber ich brauche Ihre Hilfe.« Helnwein schnaubte: »Schießen Sie los!« »Sagt Ihnen der Name Thören Rosqvana etwas?« »Allerdings. Rosqvana handelt mit Antiquitäten. Gelegentlich kaufe ich ihm etwas ab. Aber er hat nur selten ein brauchbares Stück. Was ist mit ihm?« »Er besitzt einen goldenen Drudenfuß, den ich erwerben möchte. Sie sollen als mein Mittelsmann auftreten. Sagen Sie aber auf keinen Fall, daß ich der Käufer bin. Ich möchte, daß Sie sich erkundigen, ob er den Drudenfuß überhaupt verkauft. Wenn nicht, dann …« »Sie brauchen nicht weiterzusprechen«, unterbrach ihn Helnwein kichernd. »Ich traue Ihnen zu, daß Sie den Drudenfuß stehlen würden, wenn Sie ihn nicht legal erwerben können. Weshalb sind Sie so an diesem Drudenfuß interessiert, Dorian?«
»Das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen später erzählen werde. Was ist, nehmen Sie meinen Auftrag an?« »Ich werde Rosqvana anrufen.« »Mir wäre es lieber, wenn Sie direkt nach Vaduz fahren würden.« »Ich soll mit ihm persönlich sprechen? Gut, das läßt sich machen. Eine kleine Reise wird mir ganz guttun. Auf dem Rückweg kann ich gleich einen Bekannten in Innsbruck besuchen. Ich fahre heute noch los, Dorian.« »Der Preis spielt keine Rolle. Rufen Sie mich an oder schicken Sie mir anderweitig eine Nachricht. Ich werde in zwei Tagen in Vaduz eintreffen. Wenn Rosqvana Sie fragen sollte, für wen Sie den Drudenfuß kaufen wollen, dann geben Sie einen Fantasienamen an.« »Ich werde mich daran halten«, versprach Helnwein. »Und ich melde mich bei Ihnen.« »Herzlichen Dank!« Dorian lächelte. »Schlafen Sie gut!« »Das wird jetzt kaum noch möglich sein. Bis später, Dorian!« Der Dämonenkiller legte den Hörer auf. »Ich glaube nicht, daß Rosqvana den Drudenfuß verkaufen wird«, meinte Coco. »Du denkst doch nicht wirklich daran, ihn möglicherweise zu stehlen.« Dorian lachte. »Das wird sich alles weisen. Jetzt gehen wir erst mal schlafen. Ich habe für den Nachmittag noch einiges vor.«
Es war ein trüber Herbsttag. Dorian Hunter parkte den Rover vor seinem Reihenhaus in der Abraham Road. Hier hatte er mit seiner Frau Lilian gewohnt. Seit ihrer Einlieferung in die O'Hara-Stiftung stand das Haus leer. Die Inquisitionsabteilung befand sich in der alten Jugendstilvilla in der Baring Road. Wenn Dorian in London war, wohnte er dort. Im Reihenhaus in der Abraham Road befand sich aber ein Großteil seiner umfangreichen Sammlung okkulter Gegenstände. Er selbst bezeichnete das Haus scherzhaft als »Gruselkabinett«. Dorian öffnete die Wagentür und stieg aus. Coco folgte ihm. Er stellte den Kragen des Trenchcoats auf und vergrub die Hände in
den Manteltaschen. Routinemäßig blickte er sich um, doch ihm fiel nichts Verdächtiges auf. Er warf Coco einen Blick zu, die langsam den Kopf hob und die Nasenflügel blähte. »Ist was?« fragte Dorian. Coco kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Wir sollten vorsichtig sein.« Dorian nickte. Er gab viel auf Cocos Ahnungen. Sie besaß noch immer einige magische Fähigkeiten, die schon oft eine große Hilfe gewesen waren. »Was suchst du eigentlich hier?« fragte sie, als sie das Haus betraten. »Als Tabera hatte ich es mit einem Mann zu tun, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere«, sagte er. »Aber ich weiß genau, daß ich irgendwo ein Bild von ihm habe.« Es roch muffig in der Diele. Dorian schlüpfte aus seinem Trenchcoat. »Wir sind nicht allein«, sagte Coco plötzlich. Er reagierte augenblicklich und zog die kleine Pistole, mit der er winzige Holzpflöcke verschießen konnte. Eine gute Waffe gegen Dämonen, die aber auch normalen Menschen gegenüber ihre Wirkung nicht verfehlte. Gleich darauf war die Stimme zu hören. Sie schien aus dem Nichts zu kommen: »Herzlich willkommen, Miß Zamis und Mr. Hunter!« »Das ist Olivaro«, sagte Dorian. »Ganz recht, Dorian.« »Wo stecken Sie?« »Im Wohnzimmer.« Dorian ging voraus, Coco folgte ihm. Er öffnete die Tür, die ins Wohnzimmer führte und blieb stehen. Olivaro kam ihnen entgegen. »Stecken Sie die Waffe ein, Dorian. Damit richten Sie bei mir ohnehin nichts aus.« Dorian musterte den Dämon. Olivaro reichte ihm knapp bis ans Kinn. Das schmale Gesicht wurde von den weit auseinanderstehen-
den dunkelbraunen Augen beherrscht. Der Mund war zu groß und die Nase zu klein für das hagere Gesicht. Das dunkelbraune Haar war an den Schläfen leicht angegraut. Er trug einen einfachen dunkelbraunen Anzug. An seinem rechten Ringfinger funkelte ein kunstvoll verzierter Siegelring. »Setzen Sie sich!« sagte Olivaro. »Nett von Ihnen, daß Sie mir gestatten, in meinem eigenen Haus Platz zu nehmen«, sagte Dorian spöttisch. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Hunter.« Dorian setzte sich, und Coco folgte seinem Beispiel. »Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen«, sagte Dorian, »und wenn, dann ging es nicht gerade rühmlich für Sie aus. Es sollte mich wundern, wenn Sie die Schwarze Familie inzwischen überzeugt hätten, Sie als Oberhaupt zu akzeptieren.« Olivaro antwortete nicht. Er setzte sich und überkreuzte die Beine. Sein Gesicht war ausdruckslos. Die Augen musterten Dorian kühl. Dorian beugte sich vor. »Sie wollten doch als Magus VII. Asmodis Nachfolge antreten. Haben Sie inzwischen von Ihrem verrückten Plan Abstand genommen?« Olivaro schwieg weiter. »Sind Sie plötzlich stumm geworden?« knurrte Dorian. »Oder hat Sie Cocos Schönheit geblendet?« »Wollen Sie noch lange solchen Blödsinn reden, Hunter? Ich habe Zeit. Viel Zeit. Oder wollen wir uns vernünftig wie normale Menschen unterhalten?« »Die Fronten zwischen uns sind geklärt. Wir haben nichts mit Ihnen zu besprechen. Ihren Vorschlag, daß wir den Kampf gegen die Schwarze Familie aufgeben sollen, habe ich schon in Haiti abgelehnt. Wir sind Feinde, Olivaro. Und wenn Sie glauben, daß Sie uns heute umstimmen können, dann irren Sie sich.« »Sie haben noch immer nichts dazugelernt, Hunter«, sagte Olivaro kopfschüttelnd. »Es müßte Ihnen doch klar sein, daß ich Sie innerhalb weniger Augenblicke töten könnte.« Der Dämonenkiller grinste. »Sie unterschätzen mich. Ich kenne Ihren richtigen Namen und habe einige hübsche Dinge vorbereitet. Sie
können mich nicht töten, denn mit meinem Tod würde auch Ihr Leben erlöschen.« »Sie bluffen, Hunter! Aber ich habe im Augenblick gar nicht die Absicht, Sie zu töten. Ganz im Gegenteil. Ich biete Ihnen meine Hilfe an.« Das Mißtrauen des Dämonenkillers erwachte. »Wobei wollen Sie uns helfen?« »Vor langer Zeit war Ihr Name einmal Juan Garcia de Tabera.« Olivaro lächelte spöttisch. »Sie waren bei der Geburt eines SuperDämons dabei.« »Woher wissen Sie das?« »Es sollte Ihnen langsam klargeworden sein, daß ich über gewaltige Fähigkeiten verfüge. Ich kann Ihnen Hinweise geben, die Ihnen weiterhelfen werden.« »Ich traue Ihnen nicht. Sie spielen immer mit gezinkten Karten. Ich kann auf Ihre Hinweise verzichten.« »So nehmen Sie doch endlich Vernunft an, Sie Narr!« zischte Olivaro. »Die Dämonen-Drillinge sind um eine Nummer zu groß für Sie. Allein können Sie nichts gegen sie ausrichten.« »Dieser Super-Dämon existiert also noch?« »Ja. Ich bin sehr am Tod dieser Drillinge interessiert. Aber selbst darf ich nichts unternehmen. Die Drillinge sind für mich tabu. Aber ich könnte Sie unterstützen, Hunter.« »Ich verzichte auf Ihre Hilfe«, sagte der Dämonenkiller. »Hör ihn doch an, Dorian!« schaltete sich Coco ein. »Ich lasse mich nicht nochmals von ihm hereinlegen!« »Sie glauben, daß Sie den Super-Dämon mit Hilfe des Drudenfußes ausschalten können. Aber so einfach ist es nicht. Die Drillinge haben sich geschützt. Und Sie irren sich gewaltig, wenn Sie glauben, daß Sie den Drudenfuß leicht bekommen werden. Und sollte es Ihnen doch gelingen, dann wissen Sie noch immer nicht, wo sich die Drillinge aufhalten. Und der Besitz des Drudenfußes kann Ihren Tod bedeuten. Sie ahnen nicht, in welche Schwierigkeiten Sie ohne meine Hilfe geraten werden, Hunter.« »Mir sind die Schwierigkeiten durchaus bewußt.«
»Diesen Eindruck habe ich nicht. Sie sind größenwahnsinnig geworden. Sie glauben, weil Sie bis jetzt Glück gehabt haben, daß es weiter so sein wird. Mit Hilfe der Hinweise, die ich Ihnen geben kann, erleichtern Sie sich Ihre Aufgabe. Und mir erweisen Sie einen großen Dienst, wenn Sie den Super-Dämon ausschalten.« Der Dämonenkiller schüttelte beharrlich den Kopf. Er wollte auf keinen Fall mit Olivaro zusammenarbeiten, er wollte nicht noch einmal in seiner Schuld stehen. Ganz im Gegenteil, wenn sich die Gelegenheit bieten würde, dann hätte er keine Skrupel, den Dämon zu töten. »Sie sind und bleiben ein Dummkopf, Hunter.« Olivaro stand auf. »Sollte es Ihnen doch gelingen, die Drillinge zu finden, was ich noch immer bezweifle, dann seien Sie besonders vorsichtig! Überlegen Sie sich alles zweimal, bevor Sie handeln!« Er verbeugte sich leicht vor Coco, dann sah er Hunter kopfschüttelnd an. Die Luft flimmerte, und der Körper des Dämons löste sich langsam auf. »Du hättest seine Hilfe annehmen sollen«, sagte Coco vorwurfsvoll. »Nicht jeder hat deine Mentalität«, erwiderte Dorian bösartig. Coco stand langsam auf. Ihre Augen funkelten wütend. »Was willst du damit sagen?« »Du hast ja auch nichts dabei gefunden, daß dich Olivaro auf die Teufelsburg einlud. Und ohne Creepers Hilfe wärst du heute tot.« »Dafür konnte Olivaro nichts«, zischte sie. »Er hatte keinerlei Ahnung davon, daß Creeper alle Dämonen töten wollte.« »Soweit ich mich erinnern kann, wollte dich diese feine Gesellschaft hypnotisieren und zwingen, mich zu töten. Und Olivaro war einverstanden damit. Und ihm soll ich jetzt noch trauen? Er ist ein Lügner und nur auf seinen Vorteil bedacht. Ich gehe kein Risiko ein. Ich traue niemandem mehr.« »Auch mir nicht?« fragte Coco und blieb mit wogendem Busen vor Dorian stehen. Der Dämonenkiller schwieg. »So weit ist es also schon gekommen«, sagte sie leise.
»Das habe ich nicht gesagt«, fauchte Dorian. »Aber gedacht«, entgegnete Coco wütend. Dorian griff nach ihr, doch sie wich ihm aus. »Rühr mich nicht an!« zischte sie. »Olivaro hat recht. Du bist ein Narr.« »Dieser Streit ist völlig sinnlos«, lenkte Dorian ein. »Ich traue dir selbstverständlich.« »Darüber sprechen wir ein anderes Mal«, sagte Coco hart. Ihre Wut hatte sich etwas gelegt. Sie wandte sich ab, und ihre Gedanken wanderten im Kreis. Ihr Verhältnis war gestört, und sie fürchtete, daß es nie mehr wie früher werden würde. Dorian verzog verärgert den Mund und ging in die Bibliothek. Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Seit seinem letzten Besuch war nichts verändert worden. Sein Blick wanderte über die Folterwerkzeuge und blieb an den unzähligen Büchern und gebündelten Dokumenten hängen. Irgendwann hatte er ein Bild gesehen oder die Beschreibung eines Mannes gelesen, die er jetzt benötigte. Dieser Mann war 1508 sehr wichtig für Tabera gewesen. Er suchte einige Bücher heraus und legte sie auf den Tisch. Dann setzte er sich und blätterte in den Büchern herum, doch er fand kein Bild des Mannes. Schließlich sah er die vergilbten Dokumente durch, und plötzlich stutzte er. Vidal Campillo. Der Name weckte eine undeutliche Erinnerung. Dorian las rasch weiter. Er hatte keine Schwierigkeit, das altertümliche Spanisch zu lesen. Einige Absätze weiter folgte eine Beschreibung Campillos. Ein blaßhäutiger Mann, unglaublich dürr, fast zwei Meter groß, knöcherne, feingliedrige Hände, die fast durchscheinend sind, helles Haar und ein stechender Blick. Dorian konzentrierte sich, doch seine Erinnerung kehrte nicht zurück. Er las weiter, fand aber nur noch eine Bemerkung über Vidal Campillo, die behauptete, daß er ein Magier sei. Das half ihm im Augenblick nicht weiter. Er legte die Dokumente zurück in den Bücherschrank und verließ die Bibliothek. Coco blickte auf, als er ins Wohnzimmer trat. »Hast du gefunden,
wonach du gesucht hast?« »Ich glaube schon. Der Mann heißt Vidal Campillo. Ich kann mich aber nicht an ihn erinnern. Vielleicht gelingt es mir später. Aber eines ist sicher: Dieser Vidal Campillo ist der Schlüssel. Er spielte eine wichtige Rolle in der Vergangenheit. Sagt dir der Name etwas?« Coco schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nichts.« Sie verließen das Haus. Der Regen war stärker geworden und der Verkehr zähflüssig. Sie kamen nur langsam vorwärts. Dorian stellte die Heizung an, und es wurde rasch warm. »Wann willst du nach Vaduz fahren?« fragte Coco und riß ihn aus seinen Gedanken. »Sobald sich Helnwein meldet«, antwortete er. »Wir fliegen nach Zürich, dort werde ich Geld von der Bank holen, dann fahren wir weiter nach Vaduz.« Sie schwiegen wieder. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie endlich die Jugendstilvilla in der Baring Road erreichten. Dorian stieg aus und sperrte das Tor auf. Sein Blick fiel auf die schmiedeeisernen Dämonenbanner. Er fuhr den Wagen in die Garage, die im Kellergeschoß lag. Gemeinsam betraten sie das Haus. Martha Pickfords Stimme war zu hören. Sie schimpfte mit Cohen, der sie wütend anschrie. »Dieser Cohen wird zur Landplage«, seufzte Dorian. »Wenn er nicht so nützlich wäre, hätte ich ihn schon längst zum Teufel gejagt.« »Das wäre keine schlechte Idee«, sagte Coco, die Marvin Cohen nicht ausstehen konnte. Dorian öffnete die Tür ins Wohnzimmer und blieb stehen. Martha Pickford, die Haushälterin, und Marvin Cohen, einer der Exekutor Inquisitoren, standen sich gegenüber. Cohens brutales Gesicht war verzerrt. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt. »Sie haben mir nichts zu sagen, Pickford«, knurrte Cohen. »Und was ich tue, geht Sie einen feuchten Staub an, haben wir uns verstanden?« Dorian kam näher, und Cohen wandte den Kopf. Er sah den Dämonenkiller flüchtig an, dann musterte er Coco unverschämt. Ihr
schien es, als würde sie Cohen mit den Augen ausziehen. Sein Blick wanderte ungeniert über ihren Körper. Sie versuchte möglichst unbefangen zu wirken, was ihr aber nur teilweise gelang. Cohen stellte ihr ständig nach und versuchte bei jeder Gelegenheit ihren Körper zu betasten. Sie hatte ihm schon einige Male eine Ohrfeige gegeben, doch er hatte nur höhnisch gelacht. »Was ist los?« fragte Hunter und blieb vor Cohen stehen. »Die Alte spinnt! Sie führt sich auf, als würde ihr das Haus gehören.« Miß Pickford schnaubte wütend. Sie liebte es nicht, wenn man sie verächtlich als Alte bezeichnete. »Ich halte es mit diesem Kerl nicht mehr aus«, keifte sie. »Er hat keine Manieren. Er streut die Asche auf den Boden, und wenn ich ihn zurechtweise, beschimpft er mich. Er verhöhnt ständig Phillip und bezeichnet Chapman als einen widerlichen Gartenzwerg. Ich habe genug davon, Mr. Hunter. Rufen Sie ihn zur Ordnung!« Miß Pickford rauschte wütend aus dem Zimmer. »Kannst du dich nicht normal benehmen, Marvin?« fragte der Dämonenkiller. »Die Alte macht mich nervös«, sagte Cohen. »Außerdem habe ich nichts zu tun. Mir ist langweilig.« »Das wird sich wahrscheinlich bald ändern. Du bist ein tüchtiger Mitarbeiter, aber wenn du dich nicht zusammenreißt, werden sich unsere Wege trennen.« »Willst du mir vielleicht drohen?« fragte Cohen und trat einen Schritt näher. »Ich drohe dir nicht«, sagte Dorian mit überraschend sanfter Stimme, »aber ich würde es bedauern, wenn ich dich feuern müßte. Doch wenn du dich nicht anpaßt, bleibt mir keine andere Wahl. Laß Miß Pickford in Ruhe! Halte deine Zunge im Zaum! Und sei froh, daß es dir nicht so wie Chapman ergangen ist.« Cohen knurrte unwillig und sah Coco nach, die das Zimmer verließ. »Und laß Coco in Ruhe!« fügte Dorian hinzu. Cohen grinste. »Sie hat sich wohl beschwert, was?«
Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe Augen im Kopf. Und mir paßt die Art nicht, wie du sie ansiehst.« »Soll ich vielleicht Scheuklappen tragen, damit ich sie nicht sehe?« Cohen streckte aggressiv das Kinn vor. »Spar dir deine dummen Bemerkungen.« »Du kannst mich nicht leiden, Dorian. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Dein Anblick verursacht mir Magendrücken. Aber du brauchst mich. Und das ist der springende Punkt.« »Du bist wohl sehr von dir überzeugt, was?« Cohen steckte sich eine Zigarette an und hob die Schultern. »Ich weiß, was ich wert bin. Und du weißt es auch. Warum soll ich mein Licht unter den Scheffel stellen?« »Du bist ein brutaler Kerl«, sagte der Dämonenkiller. »Kein Wunder, daß sie dich beim Secret Service nicht mehr haben wollten. Bis jetzt hast du dich bewährt – aber glaube ja nicht, daß du unersetzlich bist.« »Niemand ist das«, sagte Cohen verächtlich. Er drückte die Zigarette aus, vergrub die Hände in den Hosentaschen und schlenderte pfeifend aus dem Zimmer. Hunter sah ein, daß es sinnlos war, Cohen mit vernünftigen Argumenten zu kommen. Wenn dieser sich weiterhin so aufführte und nur Unfrieden stiftete, dann würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als sich von ihm zu trennen. Hunter mixte sich einen Drink und setzte sich. Don Chapman schlenderte ins Zimmer. Er war nur dreißig Zentimeter groß. Trotz seiner kleinen Gestalt hatte er nichts von seiner Ausstrahlung verloren. Er war dreiundfünfzig Jahre alt. Sein dunkles Haar war mit Silberfäden durchzogen, was früher sehr anziehend auf einige Frauen gewirkt hatte. Es hatte lange gedauert, bis sich Chapman an die veränderten Verhältnisse gewöhnte. Er hatte Frauen immer gemocht – und sie ihn. Doch damit war es wohl für immer zu Ende, seit er von einem Dämon in einen Zwerg verwandelt worden war. Chapman kroch zu Hunter auf die Couch. Er grinste den Dämonenkiller vergnügt an. »Coco hat mir erzählt, daß ihr wahrscheinlich bald fortfahren werdet.«
Der Dämonenkiller nickte. »Voraussichtlich morgen.« »Worum geht es?« Hunter informierte den Puppenmann in kurzen Worten. Er hatte seinen Bericht eben beendet, als das Telefon läutete. Er hob den Hörer ab und meldete sich. »Hier spricht Helnwein. Ich will es kurz machen, Hunter. Ich habe mit Rosqvana gesprochen.« Helnweins Stimme klang seltsam hohl. »Reden Sie schon!« drängte Hunter. »Na ja – er ist nicht abgeneigt, den Drudenfuß zu verkaufen, aber er will mit Ihnen verhandeln. Sie sollen nach Vaduz kommen.« »Welchen Preis verlangt er?« fragte Dorian mit erregter Stimme. »Darüber hat er nichts gesagt. Ich habe ihn einige Male nach dem Preis gefragt, aber er ist mir immer ausgewichen. Das will er mit Ihnen besprechen. Aber eines steht fest, billig wird er ihn nicht abgeben.« »Haben Sie ihm meinen Namen genannt?« »Natürlich nicht.« Helnwein tat beleidigt. »Kommen Sie nach Liechtenstein?« »Ich komme. Morgen bin ich in Vaduz. Richten Sie Rosqvana aus, daß ich ihn gegen Abend besuchen werde.« »Bis morgen also!« Helnwein unterbrach die Verbindung, und Hunter legte den Hörer zufrieden auf die Gabel. Das ging ja einfacher, als er gedacht hatte. Viel zu einfach. Er erinnerte sich an Olivaros Worte. Der Dämon hätte ihn gewarnt, es würde nicht leicht sein, den Drudenfuß zu bekommen. Aber im Augenblick sah es so aus, als würde er ihn bereits morgen besitzen. »Ich muß den O. I. verständigen«, sagte Hunter. Offiziell war Trevor Sullivan, der Observator Inquisitor, kurz O. I. genannt, Hunters Vorgesetzter, aber der Dämonenkiller konnte mehr oder minder unabhängig operieren. Es dauerte einige Zeit, bis er endlich den O. I. am Apparat hatte. Er informierte ihn. Sullivan hatte nichts gegen seine Reise einzuwenden. Deshalb bestellte er zwei Flugtickets nach Zürich und suchte danach Coco, die sich in Phillips Zimmer aufhielt.
Der Hermaphrodit kroch auf dem Boden herum und stieß vergnügte Laute aus, verstummte aber, als Dorian ins Zimmer trat. Phillip setzte sich auf. Seine Haut war blaß – fast durchscheinend. Sein Gesicht war glatt. Er hatte volle, sinnliche Lippen und golden schimmernde Augen, die von innen zu leuchten schienen. Unter dem weißen Hemd zeichneten sich deutlich straffe Brüste ab. Der Hermaphrodit schob das blondgelockte Haar aus der Stirn und ließ Dorian nicht aus den Augen. Phillip verfügte über unglaubliche Kräfte, die er aber nicht bewußt einsetzen konnte. Sie schlummerten ungenutzt in seinem schmalen Körper; nur gelegentlich machten sie sich bemerkbar. Auf dem Boden lagen Plättchen, auf denen Buchstaben und Zahlen geschrieben waren. Phillip bückte sich und wischte mit dem rechten Hemdsärmel über den Boden. Einige Plättchen wurden durch die Luft geschleudert und blieben vor Dorian liegen. Der Dämonenkiller blickte die vier Plättchen an. Sie lagen nebeneinander und ergaben eine Zahl: 1508. Phillip kicherte und kroch wieder auf dem Boden herum. Er wühlte in den Buchstaben und Ziffern und warf sie ebenfalls in die Luft. Dann richtete er sich wieder auf und sah Dorian mit seinen glühenden Augen an. Dorian kam näher. Die zu Boden gefallenen Buchstaben bildeten einen Namen. VIDAL CAMPILLO. Dorian leckte sich über die Lippen. Phillips Augen glühten stärker. Dorian glaubte, in einen Schacht zu fallen. Phillips Augen waren groß wie Wagenräder. Der Dämonenkiller setzte sich kraftlos nieder, und das Rad der Zeit drehte sich. Dorians Erinnerung setzte ein.
Vergangenheit Einige Fliegen summten im Zimmer. Ich schlug die Augen auf. Ein
gebündelter Sonnenstrahl traf mein Gesicht. Die dicken Vorhänge waren schlecht vorgezogen. Ich setzte mich schlaftrunken auf und erinnerte mich. Albertus Villanovanus war tot. Der goldene Drudenfuß. Ich sprang aus dem Bett, wühlte in meinen Kleidern, holte den Drudenfuß aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und zog das Tuch zur Seite. Er glänzte nicht mehr golden. Seine Farbe hatte sich geändert. Er war schwarz und unscheinbar geworden. Ich mußte unbedingt herausbekommen, wohin die Dämonen-Drillinge gebracht worden waren. Nachdenklich setzte ich mich. Nach einigen Sekunden wurde die Tür geräuschlos geöffnet, und Esteban Marotos weißer Haarschopf war zu sehen. »Komm herein, Esteban!« Maroto wohnte mit seiner Frau und seinem halben Dutzend Kindern seit vielen Jahren im Haus. Er war ein treuer Diener meiner Eltern gewesen, und ich kannte ihn seit meiner Jugend. Er war ein kleiner schmächtiger Mann mit herabhängenden Schultern. In seinem schmalen asketischen Gesicht schien sich alle Traurigkeit der Welt zu spiegeln. »Guten Morgen, Herr! Ihr habt Besuch. Alfonso de Villar. Ich sagte ihm, daß Ihr noch schlaft, doch er ließ sich nicht abschütteln. Er bestand darauf, daß ich …« »Ist schon gut, Esteban«, sagte ich und stand auf. »Ich habe warmes Wasser gebracht, Herr. Ihr könnt Euch waschen.« Ich nickte und trat in den Nebenraum. In einem Bottich dampfte heißes Wasser. Ich wusch und kleidete mich mit Estebans Hilfe an. Alfonso de Villar war ein alter Freund von mir. Er hatte mich vor einigen Jahren mit Albertus Villanovanus bekannt gemacht. Alfonso war so wie ich ein Schüler Villanovanus' gewesen. Er war drei Jahre älter als ich und seit zwei Jahren verheiratet. Seit seiner Hochzeit war er nur noch gelegentlich bei Villanovanus aufgetaucht. Ich stieg die Stufen hinunter und betrat eines der Zimmer im Erdgeschoß. Alfonso de Villar stand bei meinem Eintritt auf und kam auf mich zu. Er war so groß wie ich, breitschultrig, und ein schwar-
zer Bart umrahmte sein volles Gesicht. Die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen und hatten einen fiebrigen Glanz. Er legte mir die rechte Hand auf die Schulter, und gemeinsam gingen wir zum Tisch und setzten uns. »Ich erfuhr vor einer Stunde, daß Villanovanus tot ist«, sagte er. »Sebastion, sein Diener, hat mich verständigt. Ich bin sofort hierher gekommen. Du warst dabei, als er starb?« Ich nickte. Esteban erschien mit einer Karaffe Wein und Gläsern, die er zusammen mit einer silbernen Platte abstellte, auf der kaltes Huhn und Bratenstücke lagen. Ich wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte, dann schenkte ich die Gläser voll und deutete auf das Essen, doch Alfonso schüttelte den Kopf. Ich trank einen Schluck, griff nach einem Hühnerbein und riß Fleischstücke ab. Alfonso bewahrte nur mühsam seine Beherrschung, doch er war zu gut erzogen, um mir während des Essens Fragen zu stellen. Als ich meinen ersten Hunger gestillt hatte, wusch ich mir die Hände in einer Wasserschüssel und trocknete sie mit einem schneeweißen Tuch ab. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte ich schließlich und musterte meinen Freund aufmerksam. »Stimmt – und ich bedauere es sehr, aber …« »Du hast Angst, Alfonso«, sagte ich sanft. »Du hast Angst, daß du ins Gerede kommst. Ich bin der Inquisition ein Dorn im Auge. Ich stehe auf der Abschußliste. Sie wollen mir an den Kragen, und da ist es besser, wenn man nicht mit mir zusammen gesehen wird.« Er kniff den Mund zusammen und senkte den Blick. Ich lachte bitter. »Du mußt mich verstehen, Juan«, sagte er drängend. »Mir blieb keine andere Wahl. Ich …« »Ich verstehe dich«, unterbrach ich ihn. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber ich kann dir nicht mehr trauen, Alfonso.« Er hob sein Glas und lachte. »Du kannst mir trauen, Juan. Ich weiß über alles Bescheid, was Villanovanus vorhatte. Ich habe ihn unterstützt. Durch mich bekam er unzählige Informationen, die ihm weiterhalfen. Du mußt den Eindruck gewonnen haben, daß ich ein Verräter bin, dabei handelte ich nur auf Villanovanus' Wunsch. Ich wur-
de ein Mitglied der Teufelsbeschwörer. Von mir hatte er die Information über die Geburt der Dämonen-Drillinge. Du glaubst mir nicht, Juan. Ich sehe es dir an. Aber ich kann beweisen, daß ich Villanovanus' Vertrauen besaß.« Er holte ein zusammengerolltes Pergament hervor und reichte es mir. Ich strich es glatt und begann zu lesen. Die Schrift kannte ich gut; sie stammte von Villanovanus. Und mein Lehrer bestätigte, daß Alfonso de Villar sein Vertrauen besaß. Ich gab Alfonso das Pergament zurück. »Erzähle mir bitte, wie unser Lehrer starb«, ersuchte er mich. »Ist es ihm gelungen, Gold zu schaffen? Hat er den Drudenfuß herstellen können?« »Du weißt davon?« fragte ich überrascht. Alfonso nickte langsam. »Ich weiß über viele Dinge Bescheid, von denen du keine Ahnung hast, Juan.« Ich erzählte ihm alles. Er hörte mit geschlossenen Augen zu und nickte nur manchmal. Als ich meine Erzählung beendet hatte, schwiegen wir eine Zeitlang. »Villanovanus liebte dich, als wärst du sein Sohn gewesen«, sagte Alfonso leise. »Er hielt viel von dir, Juan. Sehr viel. Er wußte, daß er bald sterben würde, doch er wollte es dir nicht sagen. Er wußte genau, welch gewaltiges Risiko er einging, als er den Kampf gegen den Super-Dämon aufnahm. An uns liegt es nun, seine begonnene Aufgabe zu erfüllen. Bist du dazu bereit?« »Welche Frage!« rief ich heftig. »Natürlich!« »Der Drudenfuß ist in deinem Besitz?« »Willst du ihn sehen?« »Nein, das ist nicht notwendig. Du mußt den Drudenfuß in Sicherheit bringen. Er darf auf keinen Fall in die Hände der Teufelsanbeter gelangen. Hast du verstanden? Auf keinen Fall!« »Wo soll ich ihn verstecken?« »Eine Kirche wäre wohl das beste. Wie wäre es mit Santa Maria la Bianca?« Diese Kirche war bis vor einem Jahr die erste Synagoge Toledos gewesen. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien wurde sie in
eine christliche Kirche umgewandelt. »Verbirg den Drudenfuß hinter einem der Nebenaltäre«, schlug Alfonso vor. »Und laß dir bis dahin auf keinen Fall einfallen, mit ihm zu experimentieren!« »Ich lasse die Hände von ihm«, versprach ich. »Aber wir müssen herausbekommen, wie wir ihn als Waffe gegen die Dämonen-Drillinge einsetzen können.« »Dazu haben wir noch genügend Zeit. Sebastion hat mir eine Reihe Papiere und Dokumente übergeben, die Villanovanus für mich vorbereitet hatte. Ich bin sicher, daß ich darin nähere Informationen erhalten werde, wie wir die Drillinge vernichten können. Aber vorerst muß ich in Erfahrung bringen, wohin sie gebracht wurden. Das wird einigermaßen schwierig sein. Gottlob habe ich überallhin Verbindungen. Ich darf nur nicht zu auffällig Fragen stellen, sonst verrate ich mich noch. Wir werden uns auch in Zukunft selten sehen, Juan. Es ist zu riskant. Ich habe jedoch einen Vertrauten, durch den ich dir Botschaften überbringen lassen kann. Du kennst ihn. Es ist Rafael Aura.« Alfonso stand auf. Ich folgte seinem Beispiel. Er umarmte mich und klopfte mir auf die Schultern. Dann ging er. Ich setzte mich und stierte die Tischplatte an. Langsam trank ich noch ein Glas Wein und holte den Drudenfuß aus der Tasche. Ich wickelte ihn aus dem Tuch. Er hatte die Form beibehalten, doch die Farbe geändert. Er strahlte nun purpurrot. Ich starrte ihn einige Sekunden an, wickelte ihn dann wieder in das Tuch, stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Nach wenigen Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ich trat auf die Straße. Die Luft flimmerte. Kaum jemand kam mir entgegen. Die Straßen waren menschenleer. Die Bewohner der Stadt hatten sich in die Häuser geflüchtet, um der drückenden Hitze zu entfliehen. Innerhalb weniger Augenblicke war mein Körper schweißgebadet. Ich ging an der Kathedrale vorbei zum ehemaligen Judenviertel und überquerte die Plaza de la Juderia, die seit einiger Zeit Plaza del Barrio Nuevo hieß. Die meisten Häuser standen leer. Überall auf den Straßen lag Unrat, und es stank fürchterlich. Streunende Hunde
kamen mir entgegen, die schwanzwedelnd vor mir stehenblieben. Ich beitrat die Kirche Santa Maria la Bianca. Angenehme Kühle und Düsternis empfing mich. Der Geruch nach Weihrauch und brennenden Kerzen hing in der Luft. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Vor einem der Seitenaltäre knieten zwei alte Frauen, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet. Ihre Lippen bewegten sich, und gelegentlich bekreuzigten sie sich. Meine Schritte hallten überlaut, als ich zwischen den Bankreihen auf den Hauptaltar zuging. Ich blieb stehen und wandte den Kopf. Außer den beiden Frauen war die Kirche menschenleer. Mein Blick fiel auf einen kleinen Altar. Ich betrat die Nische, blieb vor dem schmiedeisernen Gitter stehen, öffnete dann die Tür und huschte die Altarstufen hoch. Neben dem Altar bückte ich mich und holte den eingewickelten Drudenfuß heraus. Blitzschnell versteckte ich ihn unter dem Altar und verließ die Nische wieder. Niemand hatte mich gesehen. Vor dem Hauptaltar kniete ich nieder und bekreuzigte mich, ehe ich die Kirche verließ und zu meinem Haus zurückkehrte. »Ihr habt Besuch, Herr«, sagte Esteban, als ich das Haus betrat. »Wer ist es?« »Ein unheimlicher Mann.« Er senkte die Stimme. »Ich wollte ihn nicht einlassen, doch er schob mich einfach zur Seite, und ich war wie gelähmt, Herr. Ich bitte Euch, daß …« Ich winkte ungeduldig ab und kniff die Augen zusammen. »Wie ist sein Name?« »Vidal Campillo«, sagte Esteban mit bebender Stimme. Er blickte mir demutsvoll ins Gesicht und hatte sichtlich Angst, daß ich ihn ausschelten würde. »Campillo?« Diesen Namen hatte ich nie zuvor gehört. »Hat er gesagt, was er von mir will?« Esteban schüttelte den Kopf. Brummend ging ich an ihm vorbei und öffnete eine Tür. Als ich in den Raum trat, erhob sich eine dürre Gestalt. Nie zuvor hatte ich einen so hochgewachsenen Mann gesehen. Seine Haut war unge-
wöhnlich blaß, seine Kleidung dunkel. Sein Haar war lang und unwahrscheinlich hell. Die Hände waren knöchern und feingliedrig. Er verbeugte sich leicht. »Gestatten, daß ich mich vorstelle? Vidal Campillo.« Ich kam näher und blieb vor ihm stehen. Sein Gesicht war ein bleiches Oval, in dem die schmalen Augen wie dunkle Steine glühten. Sein Blick war stechend und schien durch mich hindurchzugehen. Unwillkürlich schauderte ich. Von Campillo ging eine unglaubliche Kälte aus. Ich reichte ihm nicht die Hand, sondern deutete auf einen Stuhl. »Setzt Euch!« Er wartete, bis ich mich niedergelassen hatte, dann folgte er meinem Beispiel, legte die Hände auf die Tischplatte und schob sie ineinander. »Was kann ich für Euch tun, Señor Campillo?« Die Nähe des Mannes war mir unheimlich. »Ich bedauere es aufrichtig, daß ich Euch ohne vorherige Verständigung besuche. Es handelt sich um Villanovanus' Tod.« Mein Mißtrauen erwachte. Das Auftauchen des Fremden kam mir sonderbar vor. »Hm, ich weiß, daß Villanovanus tot ist, aber weshalb kommt Ihr zu mir?« »Ihr wart sein Schüler«, stellte er einfach fest. »Ihr irrt Euch. Ich war mit ihm flüchtig bekannt, mehr nicht.« Ich mußte vorsichtig sein. Dieser Campillo konnte von der Inquisition geschickt worden sein, die ja nur darauf lauerte, daß sie mich anklagen konnte. »Ich war ein alter Freund von ihm. Ich kannte ihn schon, als er noch in Italien lebte. Ich weiß über seine Schüler Bescheid, und Ihr wart einer seiner begabtesten. Ich bin mit den Künsten der Weißen Magie bewandert. Ihr benötigt Hilfe, die ich Euch anbieten will.« Ich blickte ihn aufmerksam an. Mein Mißtrauen hatte sich nur verstärkt. Ich wußte über die Freunde meines toten Lehrers Bescheid. Er hatte oft von ihnen gesprochen, aber nie einen Mann namens Vidal Campillo erwähnt. »Ihr müßt Euch täuschen, Señor«, sagte ich eisig. »Ich war kein
Schüler Villanovanus'. Wenn Ihr weiter so redet, Señor, wird mir nichts anderes übrigbleiben, als Euch zu melden. Ihr wißt ganz genau, daß es verboten ist, sich mit Geheimwissenschaften zu beschäftigen.« »Ist das alles, war Ihr mir zu sagen habt?« »Ja«, sagte ich kalt. »Und was ist mit dem Drudenfuß?« fragte er lauernd. »Ihr habt wohl noch nie davon gehört?« Seine Stimme war ätzend geworden. »Und von den Dämonen-Drillingen hört Ihr heute auch das erste Mal, wie? Und die Teufelsanbeter sind Euch ebenfalls unbekannt?« Ich stand auf. »Ihr verlaßt besser mein Haus, Señor Campillo.« Ich wies mit der rechten Hand zur Tür. Er stand auf. »Solltet Ihr es Euch anders überlegen, Señor, dann könnt Ihr mich in der Herberge Cruz del Campo erreichen. Ich bleibe noch einige Tage in Toledo. Gebt mir Bescheid, wenn Ihr meine Hilfe braucht.« Er verbeugte sich leicht und verließ mit großen Schritten das Zimmer. Ich sah ihm mit gerunzelter Stirn nach, entschlossen, Erkundigungen über ihn einzuholen; vor allem wollte ich meinem Freund Alfonso de Villar von Campillos Besuch berichten. Nachdenklich setzte ich mich. Möglicherweise hatte Campillo die Wahrheit gesprochen und war tatsächlich ein Freund meines Lehrers gewesen. Aber ich durfte kein Risiko eingehen. Ich durfte keinem Fremden vertrauen. Woher wußte Campillo vom Drudenfuß und den Dämonen-Drillingen? Ich stützte meinen Kopf in die Hände und schloß die Augen. So sehr ich auch grübelte, ich fand keine Antwort auf die Fragen. Meine Gedanken irrten ab. Vor mir tauchte Esmeralda auf, die ich vergeblich gesucht hatte. Einst hatte ich sie geliebt. Zwei lange Jahre war das her, und ich hatte sie nicht vergessen können. In den Armen von Dirnen und mit Unmengen von Wein hatte ich die Erinnerung an sie auslöschen wollen, doch es war mir nicht gelungen. Immer wieder mußte ich an sie denken. Mein Gehirn wurde leer wie ein ausgedrückter Schwamm. Jeder
Gedanke fiel mir schwer.
Die Tage gingen gleichförmig dahin. Meine Erkundigungen über Vidal Campillo hatten nichts ergeben. Er war in Toledo völlig unbekannt. Auch Alfonso de Villar hatte nichts über ihn gewußt. Und bis jetzt war es ihm auch nicht gelungen zu erfahren, wohin die Dämonen-Drillinge gebracht worden waren. Das Warten machte mich rasend. Ich haßte es, untätig herumzusitzen und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Mein Leben ging indessen weiter, als wäre nichts geschehen. Tagsüber verließ ich das Haus selten, des Nachts strolchte ich durch die Straßen Toledos und besuchte ein Lokal nach dem anderen; und es waren nicht unbedingt die besten, die ich besuchte. Aber das gehörte zu meiner Tarnung. Ich spielte den Betrunkenen, sprach mit schwerer Zunge und pries lautstark die Vorzüge unseres Allerkatholischsten Königs, den ich insgeheim für einen ausgemachten Halunken hielt. Noch immer brannten die Scheiterhaufen, und die Kerker waren überfüllt. Niemand war seines Lebens sicher. Jeden Augenblick konnten die Schergen der Inquisition an der Tür klopfen. Niemand war dagegen gefeit, außer er hatte einflußreiche Freunde. Nur zu gern hätte ich meine echte Neigung lauthals herausgeschrieen, doch das wäre mein sicherer Tod gewesen. Ich saß mit einigen Bekannten im Hinterzimmer einer Schenke, spießte mit dem Dolch Käsebrocken auf und aß sie, dazu trank ich glutroten Wein, der meinen Körper wärmte. Eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Schönheit schmiegte sich an mich. Aus ihrem Mieder hingen üppige Brüste mit daumengroßen Warzen. Sie knabberte gurrend an meinem Ohr und brachte ihre Reize deutlich zur Geltung. Ich schob das Mädchen zur Seite, und es spitzte verärgert die Lippen, doch hatte es sich bald getröstet. Ramon Oliveres zog die glutäugige Schönheit an sich. Mein Sinn stand nicht nach geilen Dirnen. Ich hatte anderes vor. Ich leerte ein Glas. Der Wein rann über meine Wangen und das Kinn und netzte meine Kleider. Anschließend ließ ich das Glas fal-
len und verlangte brüllend nach mehr Wein. Ich bekam ihn und versuchte, möglichst betrunken zu wirken, was mir mit Leichtigkeit gelang. Stumpfsinnig stierte ich vor mich hin und achtete nicht auf das Treiben um mich herum. Alles mögliche hatte die Inquisition erreicht, doch die Moral hatte sie nicht heben können. In den Hinterzimmern der Herbergen und Schenken ging es wie eh und je zu. Leichte Mädchen waren nur zu gern bereit, sich mit jedem zu vergnügen, der einige Geldstücke springen ließ. Ich schüttete noch zwei Gläser Wein in mich hinein, stand lallend auf, wankte wie ein Seemann bei Windstärke zehn, stieß einen Tisch um, gab einem Mädchen einen heftigen Klaps auf das entblößte Hinterteil und wankte ins Freie, von einer Straßenseite auf die andere taumelnd. Schließlich bog ich in eine dunkle Gasse ein und änderte sofort mein Benehmen. Nach einigen Häusern wandte ich mich nach links. Ich hatte am Nachmittag Nachricht von Alfonso de Villar bekommen. Es war ihm gelungen, den Aufenthaltsort der Dämonen-Drillinge zu erfahren. Die Drillinge waren in ein Schloß namens Guadilerzas gebracht worden. Es lag zwischen Orgaz und Ciudad Real, ganz in der Nähe der Wasserscheide zwischen Tajo und Guadiana. Ich verschwand in der Dunkelheit und stieg zum Fluß hinunter. Unweit der Puente de San Martin wartete ein Boot auf mich. Ich drückte mich in ein Haustor, als sich Schritte näherten. Ein Mann mit einer brennenden Fackel kam mir entgegen. Er bemerkte mich nicht. Ich wartete, bis er verschwunden war, dann hastete ich weiter. Nach wenigen Minuten hatte ich den Fluß erreicht. Der Mond stand hoch am Himmel, und der Fluß sah wie schwarze Tinte aus. Ich hatte das Boot bald entdeckt. Geräuschlos näherte ich mich. Ich stieg in das schwankende Boot und setzte mich Alfonso de Villar gegenüber. Wir legten augenblicklich ab. Außer uns befanden sich noch zwei Männer im Boot, die ich kannte. Einer war Rafael Aura, der zweite Jose Clemente. Sie hatten die Ruder mit Tüchern umwickelt. Wir warteten, bis Toledo außer Sicht war, dann beugte ich mich
vor und unterhielt mich flüsternd mit Alfonso. »Alle glauben, daß ich betrunken bin«, raunte ich ihm zu. »Esteban habe ich informiert. Er wird bestätigen, daß ich völlig trunken nach Hause gekommen bin und er mich zu Bett bringen mußte.« »Gut. Hör zu, Juan! Ich habe die Papiere, die mir Villanovanus hinterlassen hat, studiert und einige Dämonenbanner angefertigt, die ihr drei um den Hals tragen müßt. Es wird äußerst schwierig sein, ins Schloß zu gelangen, doch es muß euch gelingen. Du mußt die Dämonen-Drillinge mit geweihten Sargsplittern töten. Stoße sie ihnen ins Herz! Gleichzeitig umfaßt du den Dämonenbanner an deinem Hals und konzentrierst dich auf den Drudenfuß, der sich in der Kirche befindet. Du hast den Drudenfuß gesehen und ihn durch ein Tuch hindurch berührt. Das genügt. Die Macht des Drudenfußes ist auch über räumliche Entfernungen hin spürbar. Seine Kraft wird dir helfen. Sollte es dir gelingen, den Dämonen-Drillingen die Sargstücke in den Leib zu bohren, dann wird die Kraft des Drudenfußes den Super-Dämon vernichten. Er wird zu Staub zerfallen.« »Verstanden«, sagte ich. »Was aber, wenn sich Villanovanus geirrt hat, Alfonso?« Mein Freund schwieg. »Antworte!« sagte ich nach einiger Zeit. Alfonso seufzte. »Daran dachte ich auch bereits. Wir können nur hoffen, daß es nicht so ist. Wenn doch, dann …« »… sind wir verloren!« »Es hätte wenig Sinn zu lügen, Juan. Du gehst ein gewaltiges Risiko ein. Es kann dein Tod sein. Willst du es trotzdem versuchen?« »Ja«, sagte ich fast unhörbar. Ich hatte in meinem kurzen Leben schon einige Gefahren auf mich genommen. Anfangs war ich einer Gefahr unbekümmert entgegengetreten. Damals waren mir die Konsequenzen oft nicht klar gewesen. Jetzt war ich nicht mehr so tollkühn, sondern versuchte eine Situation nach allen Richtungen zu durchdenken. Doch in diesem Fall fiel mir die Entscheidung nicht schwer. Ich hatte es mir zur Aufgabe gestellt, das Vermächtnis meines greisen Lehrers zu erfüllen. Ich wollte und mußte die Dämonen-Drillinge töten.
Nur das Rauschen des Flusses war zu hören. Ich schloß die Augen. Es war kühl geworden, und ich konnte nicht beurteilen, ob deshalb mein Körper zitterte oder ob ich einfach Angst hatte. Aura und Clemente ruderten das Boot ans linke Ufer, und wir legten an. Ich folgte Alfonso. Ein schmaler Weg führte zu einer Baumgruppe. Ich hörte das Schnauben und ungeduldige Aufstampfen von Pferden. Im Schatten der Bäume blieben wir stehen. Ich schlüpfte aus meinen Kleidern. Alfonso reichte mir eine hautenge schwarze Strumpfhose und ein enganliegendes dunkles Wams. Ich zog mich rasch an und schlüpfte in weiche Ziegenlederschuhe. Dann hängte ich mir zwei Dämonenbanner um den Hals, befestigte ein geweihtes Kreuz an dem breiten Gürtel und gurtete ein schweres Breitschwert und zwei Dolche um. Alfonso öffnete einen Sack, und ich rieb mir Gesicht und Hände mit Ruß ein. »Rafael und Joe werden dich begleiten. Ich warte hier auf euch. Rafael kennt den Weg.« »Wie gelangen wir ins Schloß?« fragte ich. »Ihr müßt über die Mauer klettern. Ich weiß nicht, in welchem Trakt des Schlosses die Drillinge untergebracht sind, aber sie werden gut bewacht. Ihr müßt vorsichtig sein.« »Wieviel Leute befinden sich im Schloß?« »Das kann ich dir leider nicht sagen, Juan.« Ich brummte unwillig. Je länger ich nachdachte, um so wahnwitziger kam mir unser Vorhaben vor. Ich sollte mit zwei Männern in das Schloß eindringen und Drillinge töten und hatte keinerlei Ahnung, welche Gefahren mich erwarten würden. »Ich kann verstehen, daß du Bedenken hegst, Juan, aber wir müssen rasch handeln. Angeblich sollen die Drillinge in wenigen Tagen nach Frankreich gebracht werden. Dann ist es für uns fast unmöglich zu erfahren, wo sie sich aufhalten.« Ich nickte. Alfonso reichte mir das Säckchen, in dem sich die Sargsplitter befanden. Rafael Aura und Jose Clemente schwangen sich auf die Pferde. Ich folgte ihrem Beispiel, sprang auf den schwarzen Hengst, beugte mich herab und drückte Alfonsos Hand. Dann
klopfte ich dem Hengst auf den Hals und dirigierte ihn mit sanftem Schenkeldruck zwischen den Bäumen hindurch. Es war eine klare Nacht. Der Mond stand hoch am Himmel, und wir kamen rasch vorwärts. Wir kamen an einigen dunklen Häusern vorbei. Hunde kläfften in der Ferne, und irgendwo schrie ein Nachtvogel. Plötzlich hob Rafael Aura die rechte Hand, und wir zügelten die Pferde, deren Flanken schweißbedeckt waren. Rafael wies nach rechts. Auf einem Hügel erblickte ich die Umrisse des Schlosses. Es war ein eindrucksvoller Bau. Hohe Wehrmauern, durch Flankentürme verstärkt, wuchsen in den nachtblauen Himmel. Ich hatte das Schloß einmal bei Tageslicht gesehen, und es hatte mich sehr beeindruckt. Wir ritten langsam weiter. In fünfhundert Meter Entfernung vom Schloß hielten wir die Pferde an und sprangen ab. Wir banden sie zwischen den Ginstersträuchern fest und schlichen über eine mondbeschienene Wiese zum Schloß. Ich ließ es nicht aus den Augen. Zwischen den behelmten Zinnen ließ sich jedoch niemand blicken. Es dauerte ziemlich lange, bis wir es endlich erreicht hatten. Ich wickelte mir Tücher um die Hand, und die anderen folgten meinem Beispiel. Rafael löste von seinem Gürtel eine lange Schnur, an deren Ende ein ankerartiger Haken befestigt war. Einige Minuten blieben wir lauschend stehen, doch kein Geräusch störte die nächtliche Stille. Rafael trat einige Schritte zurück, dann flog der Haken durch die Luft. Der Wurf war zu kurz gewesen. Der Haken flog zu Boden. Rafael wartete kurze Zeit, dann versuchte er es nochmals. Gebannt sah ich dem Haken nach, der über die Mauer flog. Rafael bewegte die Leine, und der Haken fiel zwischen zwei Zinnen. Er hatte sich verfangen. Ich zog einen Dolch aus der Scheide, steckte den Griff zwischen die Zähne, packte die Leine, stemmte die Beine gegen die Mauer und hangelte mich mit beiden Händen hoch. Ich schwitzte vor Anstrengung, und meine Muskeln fingen zu schmerzen an. Endlich hatte ich die Zinnen erreicht. Ich sprang in den Wehrgang und blieb stehen. Noch immer rührte sich nichts. Rafael und Jose trafen nacheinan-
der ein. Wir ließen das Seil hängen; möglicherweise war es unser einziger Fluchtweg. Ich blickte in den inneren Burghof. Links vor der Burgkapelle lag eine Zisterne, daneben der Palast, an den sich das Zeughaus mit der Rüstkammer anschloß. Ich studierte die mächtigen Wehrtürme und langgestreckten Wohngebäude und versuchte zu erraten, in welchem der Trakte sich die Dämonen-Drillinge wohl befanden. Es wunderte mich, daß keinerlei Wachen zu sehen waren. Hoffentlich war Alfonsos Information nicht falsch gewesen. Doch ich hatte es mit unheimlichen Mächten zu tun, die über Abwehrmaßnahmen verfügten, von denen sich ein normaler Sterblicher keine Vorstellung machte. Möglicherweise war unser Eindringen schon lange bemerkt worden. Ich wandte mich nach rechts. Nach wenigen Schritten entdeckte ich eine breite Stiege, die in den Schloßhof führte. Ich ging die Treppe hinunter und blieb im Hof stehen. Die linke Seite lag im Schatten. Wir umschritten einen der Wehrtürme und wandten uns dem Palast zu, in dem ich die Drillinge vermutete. Stufen führten zu einer hohen, kunstvoll verzierten Kupfertür. Meine Handflächen wurden feucht. Für meinen Geschmack ging alles viel zu glatt. Langsam öffnete ich die Tür und trat ein. Ein breiter Gang, an dessen Wänden Gobelins hingen, führte in die Tiefen des Gebäudes. Ein eisiger Hauch schlug mir entgegen. Es roch nach faulendem Fleisch. Immer deutlicher wurde mir die Schwierigkeit meiner Aufgabe bewußt. Zögernd ging ich weiter. Ich zog das schwere Schwert aus der Scheide und umklammerte es mit der rechten Hand, während ich in der linken einen Dolch hielt. Der Verwesungsgeruch verstärkte sich. Links entdeckte ich Türen. Ich nahm allen Mut zusammen und öffnete die erste. Der Mond schien durch ein Fenster und tauchte den Raum in milchiges Licht. Entsetzt prallte ich zurück. Auf einem gewaltigen Tisch lagen zwei zerstückelte Mädchenleichen. Rasch schloß ich die Tür. Mein Puls hämmerte stärker, und Schweiß stand auf meiner Stirn und vermischte sich mit dem Ruß.
Die nächsten drei Räume waren leer. Am Ende des Korridors befand sich eine hohe Tür. Ich konnte kaum noch etwas sehen; es war zu dunkel. Durch den Türschlitz fiel ein matter Lichtschimmer. Ich spannte die Muskeln an, als ich die Tür öffnete, duckte mich und hechtete in den Raum. Nach einigen Augenblicken richtete ich mich auf. Auf einem kleinen Tisch, unweit der Fenster, stand eine brennende Kerze. Durch den Luftzug flackerte sie jetzt stärker. Die Wände waren weiß gekalkt und schmucklos. Den Boden bedeckten kostbare orientalische Teppiche, in die seltsame Muster eingewebt waren, und in der Mitte des Raumes standen drei kunstvoll verzierte Kinderwiegen. Vorsichtig schlich ich näher. Einige Schritte von den Wiegen entfernt blieb ich stehen. Ich konnte einfach nicht glauben, daß ich ein solches Glück hatte und die Drillinge sofort gefunden haben sollte. War es tatsächlich Glück, oder hatte mich eine unheimliche Macht hierhergeführt? Eine Frage, auf die ich keine Antwort wußte. Die Drillinge lagen auf dem Rücken und sahen wie ganz normale Säuglinge aus. Die Gesichter waren rund und voll. Alle hatten die Hände zu Fäusten geballt und auf der Brust liegen. Ich zögerte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß Kinder unheimliche Dämonen sein sollten. Etwas hielt mich zurück, sie zu töten. Rafael und Jose blieben neben mir stehen. Ich schob den Dolch in die Scheide und öffnete das Säckchen mit den Sargsplittern. »Beeilt Euch, Herr!« flüsterte Rafael. Er ahnte nichts von den widerstreitenden Gefühlen, die in mir tobten. Ich holte einen Holzspan aus dem Säckchen und beugte mich über die erste Wiege. Noch immer hielt ich das Schwert in der Hand. Ich ließ es auch nicht los, als ich nach dem Amulett an meiner Brust griff. Der Säugling schlief, nur die Lider zuckten leicht. Langsam zog ich die Decke zurück, die seinen Körper bedeckte. Das Kind war nackt. Ich hob den Sargsplitter. Meine Hand zitterte. Ich umspannte den Holzspan und zielte genau auf das Herz des Dämonenkindes. Der Säugling schlug die Augen auf, und ich zuckte zurück. Das
waren nicht die normalen Augen eines Kleinkindes. Sie blickten mich tückisch, lauernd und bösartig an. Nie zuvor hatte ich so unheimlich glühende Augen gesehen. Sie wechselten die Farbe. Zuerst waren sie schwarz, dann glühten sie rosa und schließlich feuerrot. Das Gesicht des Kindes verzerrte sich, die Augen weiteten sich, und die Nasenflügel bebten. Der Mund schien zu wachsen – wurde zu einem Raubtiermaul. Scharfe spitze Zähne wuchsen aus den Kiefern. Und dann war der Teufel los. Die zwei anderen Kinder erwachten ebenfalls. Ein durchdringender Heulton war zu hören. Ein eisiger Hauch fuhr mir ins Gesicht. Der Sargsplitter fiel mir aus der Hand. Mein Kopf wurde zur Seite gerissen, und eine unsichtbare Kraft zwang mich in die Knie. Mein Blick fiel auf Rafael, der sich wie in Krämpfen wand. Das Schwert war ihm entfallen. Sein Mund stand weit offen, und seine Zunge hing heraus. Seine Augen wollten aus den Höhlen quellen. Er preßte beide Hände gegen seine Brust und stand schwankend auf. Ich schleuderte das Schwert zu Boden, umklammerte mit beiden Händen den Drudenfuß an meinem Hals und versuchte die Augen zu schließen, was mir aber nicht gelang. Mit letzter Kraft konzentrierte ich mich auf den Drudenfuß, den ich in der Kirche versteckt hatte, und langsam spürte ich, wie die unsichtbare Macht mich losließ. Doch Rafael konnte sich nicht gegen sie wehren. Unsichtbare Hände hoben ihn hoch und drehten seinen Kopf nach hinten. Ich hörte das Krachen der splitternden Knochen. Sein Kopf war um hundertachtzig Grad gedreht worden. Dann wurde er zum Fenster gezogen. Der Vorhang glitt zur Seite, und Rafael flog aus dem Fenster. Es kostete mich übermenschliche Anstrengung, den Kopf herumzuwenden. Die Drillinge hatten sich in ihren Wiegen aufgesetzt. Sie reichten sich gegenseitig die Hände und starrten Jose und mich an. Ich versuchte, ihren glühenden Blicken auszuweichen, was mir nach einiger Zeit auch gelang. Da hörte ich Jose schreien. Ich stemmte mich gegen die unglaubliche Kraft, die meinen Körper zum Fenster treiben wollte, und krach-
te rücklings auf den Boden, ließ dabei das Amulett aber nicht los. Und dann sah ich Jose. Er kniete vor den Wiegen. In beiden Händen hielt er Dolche, die er sich abwechselnd in den Körper rammte. Er blutete aus unzähligen Wunden. Jose zerfleischte sich selbst. Plötzlich richtete er sich auf und schlitzte sich die Kehle durch. Er hatte die Halsschlagader erwischt, und das Blut schoß in einem breiten Strahl hervor. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als einer der Säuglinge den Kopf vorstreckte. Der Blutstrahl schoß genau in den weitgeöffneten Mund des Säuglings. Nach einigen Sekunden drehte die unsichtbare Macht Joses Körper etwas zur Seite, und der zweite Säugling riß den Mund auf. Ich kam hoch, schloß langsam die Augen und spürte förmlich die Kraft des Drudenfußes. Er war tatsächlich über viele Meilen wirksam. Immer mehr bekam ich Kontrolle über meinen Körper. Ich tastete mit geschlossenen Augen über den Teppich und fand den Sargspan. Dann fühlte ich eine Wiege. Ich setzte mich auf, streckte die linke Hand aus und betastete den warmen Körper eines der Kinder. Der Sargspan ritzte die Haut des Kleinkindes. Ich spürte das Klopfen des Herzens und wollte zustoßen. »Halt!« hörte ich hinter mir eine harte Stimme. Eine geballte Faust traf mich im Nacken. Finger umklammerten meinen Arm und rissen ihn zurück. Füße traten gegen meinen Körper. Ich fiel auf den Bauch. Brutale Hände rissen mich wieder hoch. Schläge bearbeiteten mein Gesicht. Mein Nasenbein zersplitterte. Eine Faust traf meinen Mund und schlug mir die Vorderzähne aus. Ein Fußtritt genau zwischen die Beine ließ mich nach Luft japsen. Kreise drehten sich vor meinen Augen; dann brach ich ohnmächtig zusammen.
Als ich erwachte, stieß ich einen Schmerzensschrei aus. Mein Körper war eine einzige Wunde. Das rechte Auge konnte ich nicht öffnen. Ich schlug das linke Auge auf; es tränte, und es dauerte einige Se-
kunden, bis ich meine Umgebung wahrnehmen konnte. Anfangs sah ich alles wie durch einen Schleier. Ich blinzelte und starrte in eine Fackel. Unter unsäglichen Schmerzen wandte ich den Kopf herum. Neben mir standen zwei dunkelgekleidete Gestalten. Ich wollte mich bewegen, doch es war mir nicht möglich. Hände und Füße waren mir mit Eisenketten auf den Rücken gebunden. Neben der Fackel stand ein Mann. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn erkannte. »Vidal Campillo!« Meine Stimme zischte seltsam. Ich fuhr mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und tastete über die Zahnlücken. Alle meine Vorderzähne waren ausgeschlagen. »Ganz recht, mein lieber Tabera«, sagte Campillo höhnisch. Er kam einen Schritt näher. Ich sah, daß er einen schwarzen Umhang trug, der das unnatürliche Weiß seiner Haut noch betonte. Die Hände hatte er in den Ärmeln des Umhanges versteckt. Er lachte. Noch nie zuvor hatte ich so ein grausames Lachen gehört. »Ihr wolltet die Drillinge töten«, höhnte er, »doch Euer Eindringen war bemerkt worden. Was seid Ihr doch für ein Narr! Ich brauchte nicht einmal einzugreifen. Die Drillinge können sich selbst schützen. Sie sind mächtig, und sie werden noch mächtiger werden. Einmal werden sie die Herrscher der Welt sein. Und alle werden vor ihnen zittern. Ich werde darüber wachen, daß ihnen nichts geschieht.« Campillo kam noch näher. »Nun zu Euch, Tabera. Ihr habt zwei Möglichkeiten: Leben oder Tod. Ich biete Euch das Leben. Ihr braucht nur zu sagen, wo Ihr den goldenen Drudenfuß versteckt habt, dann lasse ich Euch frei.« »Nie!« keuchte ich. »Nie werdet Ihr erfahren, wo ich ihn verborgen habe.« Campillo sah mich schweigend an. »Die zweite Möglichkeit ist der Tod. Ich übergebe Euch der Inquisition. Es gibt genügend Zeugen dafür, daß Ihr drei unschuldige Kinder töten wolltet. Außerdem wart Ihr ein Schüler von Villanovanus. Der Tod ist Euch sicher. Überlegt es Euch gut!« Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur eines stand für mich fest: Ich würde auf keinen Fall verraten, wo ich den Drudenfuß versteckt hatte.
»Nun?« fragte Campillo. »Wie habt Ihr Euch entschieden?« »Ich verrate nicht, wo der Drudenfuß ist«, zischte ich. Campillo hob die Schultern. »Tabera«, sagte er kalt, »ich akzeptiere Eure Entscheidung. Aber Ihr werdet sie bald bereuen. Sehr bald. Und letztlich werdet Ihr doch verraten, wo der Drudenfuß liegt. Die Folterwerkzeuge bringen auch den hartnäckigsten Schweiger zum Sprechen. Schafft ihn hinaus!« Starke Hände hoben mich hoch. Ich wurde feuchte Gänge entlanggetragen. Modergeruch hing in der Luft. Dann blendete mich grelles Sonnenlicht, und ich schloß meine Augen. Ich wurde auf einen Wagen geworfen und festgebunden. »Ihr werdet nach Toledo gebracht«, sagte Campillo gleichgültig, »und vor das Inquisitionsgericht gestellt. Ich wünsche Euch angenehme Tage in den finsteren Kerkern des Heiligen Hauses. Ratten, Unrat und unglaubliche Torturen erwarten Euch. Und den Abschluß bildet der Scheiterhaufen. Ich wünsche einen vergnüglichen Tod!« »Geht zum Teufel!« schrie ich. Ich sah noch lange sein hageres, grinsendes Gesicht vor mir, als der Karren das Schloß verließ. Ich hatte entsetzlichen Durst und Hunger und schloß die geschwollenen Lippen und das Auge. Der Karren rumpelte über die Straße; jeder Stoß verursachte mir Schmerzen. Ich hustete und brach Blut; dann schwanden mir wieder die Sinne.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich wieder erwachte. »Wasser!« krächzte ich. Doch die beiden bewaffneten Reiter, die neben dem Wagen ritten, achteten nicht auf meine Worte. Ich dachte an Alfonso de Villar und hoffte, daß er sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatte. Dann verwirrten sich meine Gedanken. Mein Kopf drohte zu zerspringen, und nach einiger Zeit nahm ich die Umgebung nicht mehr wahr. Ich lallte sinnlos vor mich hin. Als wir Toledo erreichten, wachte ich für einige Zeit aus meiner Lethargie auf. Ich hörte das Kreischen der Räder, Stimmengewirr,
das Klappern von Hufen und hob den Kopf. Neben dem Wagen liefen einige sensationslüsterne Kerle. Ihre Gesichter waren für mich schemenhafte braune Flecke. Nur undeutlich bekam ich mit, daß der Karren hielt und ich heruntergestoßen wurde. Ich wurde durch modrige Gewölbe geschleppt, die völlig fensterlos waren. Gänge und Treppen wechselten sich ab. Mein Kopf schlug gegen Mauern. Man brachte mich in einen winzigen Raum und schleuderte mich auf eine Lagerstatt. Der Boden war mit Heu bedeckt. In einer Ecke stand ein Kübel, der voll Unrat war. Der Geruch des faulenden Strohs vermischte sich mit dem Gestank des Kots und Urins. Ich übergab mich. Meine Fesseln wurden gelöst, und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Ich konnte nicht lange schlafen. Zwei dunkel gekleidete Folterknechte rissen mich hoch und stießen mich einen langen Gang entlang. Immer wieder brach ich zusammen, doch mit Fußtritten und Faustschlägen trieben sie mich weiter. Ich torkelte in ein hohes Gewölbe. Hinter einem Tisch saß ein Inquisitor mit seinen Gehilfen. Ich erkannte ihn. Es war Usero Abellan, der wegen seiner Grausamkeit gefürchtet war. »Name?« fragte er und beugte sich vor. Sein aufgedunsenes Gesicht mit den tiefliegenden Schweinsäuglein blickte mich zufrieden an. Ich krächzte. Abellan hob eine Hand, und einer der Folterknechte ließ die Peitsche auf meinen Rücken klatschen. Die Wucht des Schlages war so groß, daß ich in die Knie ging. Ich krächzte wieder und wurde abermals geschlagen. »Juan … Garcia … de Tabera«, würgte ich endlich hervor. »Ihr habt versucht, drei unschuldige Kinder zu töten«, sagte Abellan. »Weiter wird Euch vorgeworfen, daß Ihr einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen habt. Ihr seid ein Mitglied der Teufelsanbeter und in Eurem Besitz wurden heidnische Amulette gefunden. Gesteht Ihr Eure Untaten?« Ich schüttelte den Kopf.
Auf einen Wink des Inquisitors packten mich die Folterknechte und rissen mir die Kleider herunter. Jede Gegenwehr war zwecklos. Sie scherten meinen Kopf kahl, dann kam mein Körper an die Reihe: überall wurden mir die Haare abrasiert. Anschließend wurde ich auf eine Holzpritsche geschleudert, und Abellan kam mit einer spitzen Nadel auf mich zu. Er suchte meinen Körper nach Leberflecken ab. Als er einige entdeckt hatte, beugte er sich vor. Die Nadel war in seiner hohlen Hand verborgen. Ich kannte die Tricks der Inquisitoren. Er drehte die Nadel in der Hand herum und drückte mit dem stumpfen Ende gegen einen meiner Flecke. Es galt als weit verbreitet, daß jemand, der mit dem Teufel im Bunde stand, unempfindlich gegen Nadelstiche war. Ich spürte nur einen sanften Druck der Nadel, doch ich schrie wild auf. Abellans Gesicht verzerrte sich vor Überraschung. Er stach wieder zu, und ich brüllte weiter. Schließlich ließ er unwillig von mir ab. Die Folterknechte hoben mich hoch und trieben mich in meine Zelle zurück. Ich ahnte, welche Grausamkeiten mich noch erwarten würden.
Gegenwart Es dauerte einige Zeit, bis Dorian Hunter bewußt wurde, daß er sich wieder in der Gegenwart befand. Phillip warf die Buchstaben durcheinander und krabbelte wie ein kleines Kind über den Boden; dabei stieß er zufriedene Laute aus. Der Dämonenkiller griff sich an die Schläfen. Sein Kopf dröhnte. Jetzt wußte er, welche Rolle Vidal Campillo in der Vergangenheit gespielt hatte. Er war der Erzieher der Dämonen-Drillinge gewesen. Dorians Hände griffen unsicher nach den Zigaretten. Coco sah ihn aufmerksam an. »Du warst wieder in Trance«, sagte sie. »Wie lange?«
»Vielleicht eine Stunde. Ist deine Erinnerung zurückgekehrt?« Dorian nickte. Er erzählte Coco alles, woran er sich hatte erinnern können. »Und was geschah weiter?« Er hob die Schultern. »Ich weiß nur, daß es mir nicht gelungen ist, die Dämonen-Drillinge zu töten.« Coco stand langsam auf. »Wenn sie schon als Kleinkinder so mächtig gewesen sind, wie stark sind sie dann erst heute?« Sie blinzelte ihn an. »Weshalb hat man von den Drillingen bis heute nichts gehört? Olivaro behauptet, daß sie noch am Leben sind. Wo verstecken sie sich? Weshalb haben sie in den vergangenen Jahrhunderten nicht auf sich aufmerksam gemacht?« »Du stellst Fragen, auf die ich keine Antwort weiß«, sagte Dorian ungehalten und stand ebenfalls auf. »Wir fliegen morgen los. Helnwein hat angerufen. Er behauptet, daß Rosqvana den Drudenfuß verkaufen will.« Coco warf die Lippen auf, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich rieche förmlich Unheil. Ich glaube nicht, daß Rosqvana sich so einfach von dem Drudenfuß trennen wird. Wir müssen vorsichtig sein.« »Das sind wir immer«, sagte Dorian und verließ mit Coco Phillips Zimmer. »Ich wüßte nur gern, wie die Geschichte in der Vergangenheit weitergegangen ist. Es würde mich brennend interessieren, wie der Drudenfuß in Rosqvanas Hände gelangen konnte.« »Vielleicht hat irgend jemand das Geheimnis des Drudenfußes ergründet und auf diese Weise die Dämonen-Drillinge im Zaum gehalten.« »Das wäre eine plausible Theorie.« Dorians Kopfschmerzen waren verschwunden. Er trat in sein Zimmer, und Coco folgte ihm. Er fühlte sich noch immer ungewöhnlich stark von ihr angezogen. Er hatte in den letzten Monaten Verhältnisse mit anderen Frauen gehabt, die aber alle nur kurz und oberflächlich gewesen waren. Bei Coco war es anders; sie hatte eine intensive Beziehung mit einem Iren namens Sheldon Bloom gehabt, der vor kurzem durch einen Dämon sein Leben verloren hatte. Coco hatte seinen Tod noch immer nicht überwunden, auch wenn sie es sich
kaum anmerken ließ. Dorian hätte Coco gern aus eigener Kraft zurückgewonnen. Aber Sheldons Tod hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Zwischen ihnen klaffte ein Graben, und seine dumme Bemerkung nachmittags hatte ihr Verhältnis noch gespannter werden lassen. »Weshalb siehst du mich so an?« fragte sie. »Mir tut leid, was ich heute zu dir …« »Lassen wir das lieber«, sagte sie kühl. »Ich habe keinerlei Lust, mit dir zu streiten.« »Wir müssen endlich klare Fronten schaffen«, sagte er heftig und griff nach ihr. Sie wich seinem Griff aus und sagte eisig: »Ich glaube, die sind schon aufgerichtet.« Sie drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Die Tür fiel ins Schloß, und Dorian ballte wütend die Fäuste. Verdammt noch mal! dachte er. Das ist vielleicht ein miserabler Tag. Wütend lief er im Zimmer auf und ab.
Die Stimmung zwischen Dorian und Coco hatte sich um nichts gebessert, als das Flugzeug in Zürich landete. Mit einem Taxi fuhren sie in die Gerechtigkeitsstraße. Dorian hob einen größeren Geldbetrag ab, während Coco in einem Restaurant auf ihn wartete. Dorian hatte miserabel geschlafen. Zu viele Gedanken hatten ihn beschäftigt. Er hatte schließlich eine Schlaftablette geschluckt und fühlte sich jetzt noch immer müde. Mißmutig verließ er die Bank und trat auf die Straße. Sonst mochte er Zürich recht gern, doch der graue Herbsttag ließ es so trostlos wie London erscheinen. Das ausgezeichnete Essen hob seine Stimmung etwas. Dorian war nur in wenigen Dingen ein Brite; beim Essen zog er eindeutig den Kontinent vor. Als sie das Restaurant verließen, lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor, und seine Laune besserte sich. Er kaufte auf dem Bahnhof einige Zeitungen, dann bestiegen sie den Zug. Außer ihnen war niemand im Abteil. Nach Zürich fing es zu regnen an. Die Welt schien in Regenschauern zu versinken.
Weder Coco noch Dorian hatten Lust auf eine Unterhaltung. Coco versenkte sich in die österreichischen Zeitungen, die Dorian gekauft hatte. Doch ihre Gedanken irrten immer wieder ab. Sie dachte an ihre Jugend, an ihre Eltern, an das Leben in der Schwarzen Familie. Irgendwie vermißte sie ihre Heimatstadt. Als sie in Wien gelebt hatte, war ihr die Stadt wie ein Dorf vorgekommen, doch jetzt sehnte sie sich gelegentlich sehr zurück. London war eine fremde Welt für sie. Sie mochte die Briten nicht besonders und sie vermißte den Wiener Dialekt. Unwillkürlich mußte sie lächeln, und Dorian sah sie prüfend an. »Was ist los?« fragte er. »Nichts Besonderes. Du würdest es nicht verstehen.« »Raus damit!« »Ich habe gerade in der Kronen-Zeitung das Heitere Bezirksgericht gelesen. Das ist im Dialekt geschrieben. Und da habe ich mich plötzlich nach Wien zurückgesehnt. Ich will die Kärtnerstraße mal wieder entlanggehen und einen Heurigen trinken.« Dorian lächelte. »Ich kann dich sehr gut verstehen. So geht es den meisten Menschen. Alle sehnen sich zurück nach dem Ort, wo sie aufgewachsen sind. Mir geht es nicht anders. London hängt mir zum Hals heraus, aber jedesmal, wenn ich zurückkomme, freue ich mich. Das unverständliche Englisch der Taxifahrer, die vertrauten Straßen. Ich sauge alles förmlich in mich hinein. Doch nach ein paar Stunden ist der Zauber verflogen, und ich sehe London wieder mit anderen Augen. Ich verspreche dir, wir fahren demnächst nach Wien. Willst du?« Coco nickte. Und plötzlich war wieder das alte Gefühl da. Das Eis war gebrochen. Sie lächelten sich vergnügt an. Coco las ihm Ausschnitte aus dem Heiteren Bezirksgericht vor. Dorian bekam nur Bruchteile mit, obwohl er recht gut Deutsch verstand. Die Zeit verflog, und sie waren überrascht, als der Zug in Buchs stehenblieb. Es dämmerte, als sie den Bahnhof verließen. Von Buchs nach Vaduz waren es nur wenige Kilometer. Sie nahmen ein Taxi, und es wurde rasch dunkel. Die Scheinwerfer des Wagens fraßen sich
durch die Nacht. Von der Umgebung war nichts zu sehen. Der Taxifahrer kannte sich ausgezeichnet in Vaduz aus. Ohne Mühe fand er Rosqvanas Villa, die etwas außerhalb lag. Es handelte sich um ein altes, erst vor kurzer Zeit renoviertes zweistöckiges Haus, das inmitten eines großen eingezäunten Gartens lag. Der Fahrer holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum, und Dorian bezahlte ihn. Er wartete, bis das Taxi gewendet hatte, dann trat er an den Zaun und stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nicht über den Zaun blicken. Nach kurzer Suche fand er den Klingelknopf und drückte drauf. Einige Sekunden geschah nichts, dann schnappte die Tür auf. Coco ging voraus. Dorian nahm die Koffer auf und folgte ihr. Ein schnurgerader Weg, der mit winzigen Lampen erhellt wurde, führte zum Haus. Links und rechts standen hohe Bäume und Sträucher. In einigen Fenstern des Hauses brannte Licht. Der Weg war mit Natursteinen ausgelegt. Ihre Schritte hallten ungewöhnlich laut. Die Luft roch würzig, und es war kühl geworden. Die Eingangstür stand halb offen, und Coco stieß sie weiter auf. Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen. Sie traten ein, und Dorian stellte die Koffer ab und sah sich um. Die Diele war mit alten Barockmöbeln eingerichtet. Eine dreiflammige Lampe neben einem hohen Spiegel verbreitete mattes Licht. Aus einer breiten Tür trat eine junge, ungewöhnlich hübsche Frau. Sie war klein und vollbusig. Blondes Haar fiel auf ihre schmalen Schultern. Ihr Gesicht war bleich und nicht geschminkt. »Guten Abend!« sagte sie und kam langsam näher. »Wir werden von Herrn Rosqvana erwartet«, sagte Dorian. Sie nickte. »Herr Rosqvana wird sie in einer Stunde empfangen. Ich zeige Ihnen in der Zwischenzeit Ihre Zimmer.« »Ist Herr Helnwein hier, Ilse?« fragte Coco, die das Mädchen von ihrem letzten Besuch her kannte. »Ja. Er ruht sich aus.« Dorian runzelte die Stirn. Das alles kam ihm sehr seltsam vor. Er hob die Koffer wieder auf und folgte der Frau. Sie öffnete eine Tür. Ein kunstvoll verzierter Stiegenaufgang führte ins erste Stockwerk.
Im Haus war es unnatürlich still. Nur das Knirschen ihrer Schuhe war zu hören. Ilse zeigte Coco ihr Zimmer, dann Dorian das seine. »Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn Herr Rosqvana Sie empfangen wird«, sagte Ilse und stieg die Stufen hinunter. Dorian sah ihr mit zusammengekniffenen Augen nach. Irgend etwas stimmte mit dem Mädchen nicht. Als es verschwunden war, packte er Cocos Arm und zog sie in sein Zimmer. Er holte die Zigarettenschachtel heraus und steckte zwei Zigaretten an. Eine gab er Coco. »Was ist mit dieser Ilse?« fragte Dorian. Coco setzte sich aufs Bett und inhalierte den Rauch tief. »Sie ist verändert«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe den Eindruck, als würde sie unter dem Einfluß eines Dämons stehen.« Coco nickte. »Genau. Hier hat sich einiges seit meinem letzten Besuch geändert. Spürst du nicht auch die Ausstrahlung des Bösen?« Dorian schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Aber ich fühlte mich unbehaglich hier.« Coco stand auf. »Ich glaube, daß uns Gefahr droht. Ich fürchte, daß wir in eine Falle gelaufen sind.« »Wo befindet sich der Drudenfuß?« »Im Keller.« »Hm«, meinte Dorian nachdenklich. »Wenn wir wirklich in Gefahr sind, dann sollten wir möglichst rasch verschwinden. Aber ich will den Drudenfuß erst an mich nehmen.« »Gehen wir lieber.« »Führ mich in den Keller, Coco!« Sie hob resigniert die Hände; sie wußte nur zu gut, wie stur Dorian sein konnte. Der Dämonenkiller öffnete die Tür und horchte. Noch immer war alles ruhig im Haus. Er trat in den Korridor hinaus, und Coco folgte ihm. Geräuschlos huschten sie die Treppe hinunter. In der Diele blieben sie stehen. Coco wandte sich um und ging auf eine Tür zu. Sie drückte die Klinke nieder, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Dorian schob Coco zur Seite und holte sein Spezialbesteck aus der Tasche. Das Schloß war ziemlich einfach zu öffnen. Er brauchte
kaum eine halbe Minute, dann schwang die Tür auf. Eine dunkle Wendeltreppe führte in die Tiefe. Der Dämonenkiller suchte nach einem Lichtschalter, fand ihn und drückte ihn nieder. »Komm schon, Coco!« sagte er ungeduldig. Sie stand noch immer in der Diele. Sie hatte die Augen halb geschlossen und schien einer unsichtbaren Stimme zu lauschen. Ihre Nasenflügel blähten sich. Zögernd trat sie neben Dorian, der die Tür schloß. »Was ist?« »Ich spüre ganz deutlich die Ausstrahlung eines starken Dämons, und das bedeutet Gefahr für uns. Wir sollten …« »Ich will den Drudenfuß«, sagte Dorian grimmig und lief die Wendeltreppe hinunter. Am Fußende lag ein kleiner leerer Raum. Eine schmale Tür stand halb offen. Der Dämonenkiller öffnete sie ganz und blieb überrascht stehen. Der Raum war mit alten kostbaren Möbeln angefüllt. In Vitrinen lagen alte Waffen, Schmuckstücke und kleine Statuen. Die Wände waren mit Bildern und Gobelins bedeckt. »Da muß es noch einen zweiten Eingang geben. Diese Möbel können unmöglich über die Wendeltreppe heruntergebracht worden sein.« Coco nickte. »Aber den zweiten Eingang kenne ich nicht. Rosqvana hat mich immer über die Wendeltreppe heruntergeführt.« »Und wo ist der Drudenfuß?« »Im nächsten Raum.« Dorian ging rasch zwischen den Kästen und Truhen hindurch. Im Vorbeigehen sah er sich die ausgestellten Waffen an. Es befanden sich einige prachtvolle Stücke darunter. Ritterschwerter aus dem 13. Jahrhundert lagen neben Hellebarden aus dem 16. Jahrhundert. Er trat in den Nebenraum und blickte sich um. Das Zimmer war quadratisch. Ein riesiger, wundervoller Teppich bedeckte den Parkettboden. An den Wänden hingen Faustfeuerwaffen, Dorian hatte selten zuvor eine so umfangreiche Sammlung von Pistolen und Revolvern gesehen. In der Mitte des Zimmers stand ein kleines Tischchen mit einer Glasvitrine darauf.
Dorian kam rasch näher. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. In der Vitrine lag der goldene Drudenfuß, den er als Juan de Tabera einmal besessen hatte. »Ist er es?« fragte Coco. Dorian nickte und atmete rascher. Langsam streckte er die rechte Hand aus und beruhte die Vitrine. Er suchte nach dem Verschluß und fand ihn. »Es kommt jemand!« rief Coco unterdrückt. Dorian drehte sich blitzschnell um. Seine Hand umklammerte die Pistole. Er ließ die Pistole los, als er Helnwein erkannte, der ins Zimmer trat. Seit ihrem letzten Zusammentreffen hatte sich der Alte verändert. Sein Haar war noch immer voll und dicht, doch die Falten und Runzeln in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Seine Haut war fahl, fast durchscheinend. Der graue, unansehnliche Anzug schlotterte um seine schmalen Schultern. »Dachte ich mir doch, daß ich Sie hier finden würde.« Helnweins Stimme klang hohl. »Wo ist Rosqvana?« fragte der Dämonenkiller. Helnwein hob die Schultern und ließ sie langsam sinken. »Ich weiß es nicht.« Dann wandte er sich Coco zu. »Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen.« »Sehr lange nicht«, sagte Coco, der ebenfalls Helnweins verändertes Aussehen aufgefallen war. »Sie wollen sich wohl den Drudenfuß so aneignen, Dorian?« Der Dämonenkiller gab keine Antwort. Er musterte noch immer den Alten. Schließlich drehte er sich halb um und sah den Drudenfuß an. Dabei fiel sein Blick auf den Rokokospiegel dahinter. Deutlich sah er sich und Coco. Doch Helnwein war nicht im Spiegel zu sehen. Der Dämonenkiller schloß einen Augenblick die Augen, dann riß er sie weit auf und wandte den Kopf herum. Helnwein stand vor ihm, da war jeder Zweifel ausgeschlossen. Er trat einen Schritt auf Helnwein zu und blickte auf den Boden. Cocos und sein Schatten waren auf dem Teppich zu sehen, doch Helnweins Körper warf keinen Schatten.
Helnwein war das Opfer eines Vampirs geworden. Im Unterschied zu den echten Vampiren waren die Opfer empfindlich gegen Tageslicht, und ihre Körper warfen keine Schatten und waren nicht in Spiegeln zu sehen. Der Dämonenkiller machte sich Vorwürfe, daß er Helnwein hergeschickt hatte; aber möglicherweise war der alte Mann schon vorher das Opfer eines Vampirs geworden. Coco und Dorian wechselten einen Blick. Dorian las in Cocos Augen das Entsetzen. Auch ihr war nicht verborgen geblieben, daß der Alte zu einem Blutsauger geworden war. »Rosqvana will den Drudenfuß verkaufen«, sagte Helnwein. »Über den Preis konnten wir uns noch nicht einigen. Aber er wird hoch sein.« »Wie hoch?« fragte Dorian. »Fünfzigtausend Franken etwa.« »Das ist zu viel.« Dorian ließ sich nicht anmerken, daß ihm Helnweins Zustand aufgefallen war. »Ich werde mir den Drudenfuß einmal näher ansehen.« Er öffnete die Klappe. Sicherheitshalber holte er sein Taschentuch heraus und band es sich um die linke Hand. Langsam streckte er die Hand aus. Sie erreichte den Drudenfuß – und fuhr durch ihn hindurch. Von der Tür her ertönte höhnisches Gelächter. Dorian wandte den Kopf herum. In der Tür stand ein hochgewachsener Mann. Er trug einen schwarzen Anzug. Sein Haar war lang und ungewöhnlich hell. Die Hände waren knöchern und feingliedrig. Sein Gesicht war ein fahles Oval, in dem die Augen wie Kohlenstücke glühten. Der Mann verbeugte sich leicht. »Herzlich willkommen! Mein Name ist Thören Rosqvana.« Dorian öffnete den Mund überrascht, hob die rechte Hand und ließ sie wieder sinken. Er hatte Rosqvana sofort erkannt; er war ihm schon früher begegnet, doch damals hatte er einen anderen Namen geführt. Vidal Campillo. 1508. Rosqvana alias Campillo kam näher. Er blickte den Dämonenkiller an, dann lachte er wieder. Und sein Blick wurde starr und durch-
dringend. Vor Dorian begann sich alles zu drehen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er glaubte, in einen unendlichen Abgrund zu fallen, und seine Erinnerung an eines seiner früheren Leben kehrte zurück.
Vergangenheit Ich warf mich hin und her. Fieberschauer schüttelten meinen Körper. Gedankenfetzen. Erinnerungen. Bruchstückhaft und verschwommen. Einmal war mein Name nicht Juan de Tabera gewesen, sondern ich hatte in Frankreich unter dem Namen Nicolas de Conde gelebt. Ich hatte das ewige Leben gewollt und es bekommen. Ich war unsterblich geworden. Ich war einer der Mitbegründer der Inquisition gewesen. Ich hatte den Tod meiner Frau und meiner Kinder verschuldet. Die Erinnerung an mein vergangenes Leben quälte mich. Ich konnte keine Ruhe finden. Mein Körper schmerzte, und ich hatte unerträglichen Durst. Mühsam rappelte ich mich hoch und blieb mit zittrigen Knien stehen. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es konnte Tage oder Wochen her sein, seit ich mich in dieser stinkenden Zelle aufhielt. Nach dem ersten kurzen Verhör durch Usero Abellan war ich nicht mehr aus der Zelle gekommen. Anfangs hatte ich gebrüllt, doch das hatte ich bald aufgegeben. Ich durfte keinen Laut von mir geben, andernfalls waren sofort zwei Folterknechte da, die mich die Peitsche spüren ließen. Mein Rücken war eine einzige Wunde. Ich fiel auf die erhöhte Lagerstatt zurück und barg mein Gesicht zwischen den Händen. Da wurde die Tür geöffnet, und ich hob den Kopf. Zwei Männer traten ein. Sie stellten einen Becher und eine Schüssel ab. Dann verließen sie die Zelle wieder. Die Tür wurde zugeschlagen und der Riegel vorgelegt. Ich stand auf und ließ mich auf die Knie fallen. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Becher griff, in dem sich kaum ein Viertelliter
brackiges Wasser befand. Ich hob den Becher an meine aufgesprungenen Lippen und trank einen kleinen Schluck, dann noch einen. Ich spülte mir damit den Mund aus und schluckte ihn erst nach einiger Zeit hinunter. In der Schüssel befand sich ein undefinierbarer Gemüsebrei, der abscheulich roch und genauso schmeckte. Ich schlürfte den Brei und leckte die Schüssel aus. Dann genehmigte ich mir noch einen Schluck Wasser und wankte zurück auf die Liegestatt. Ich legte mich auf die Seite und schloß die Augen. An den bestialischen Geruch hatte ich mich schon gewöhnt, doch nicht an das Gefühl der grenzenlosen Einsamkeit. Ich ahnte, daß ich nicht lebend aus dem Kerker kommen würde, außer es geschah ein Wunder. Vor dem Tod hatte ich keine Angst; ich wußte, daß ich wiedergeboren werden würde; aber ich konnte die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, nicht erfüllen. Ich fiel in einen unruhigen Schlummer. Erst das Kreischen der Kerkertür ließ mich hochfahren. Zwei Folterknechte traten ein. »Aufstehen!« Der Sprecher war schwarz gekleidet, und sein Gesicht war verhüllt. Als ich nicht sofort gehorchte, bekam ich einen Fußtritt zwischen die Rippen. Stöhnend stand ich auf und wurde den langen Gang entlanggeführt. Sie stießen mich durch eine Tür, und ich fiel in ein hohes Gewölbe. Mühsam stand ich auf und blickte mich um. Die Wände und die Decke waren schwarz, rechts neben der Tür loderte ein Feuer, das von einem Folterknecht geschürt wurde. Der Tür gegenüber stand ein langer Tisch mit einem hohen Holzkreuz. Hinter dem Tisch hatten einige Männer Platz genommen. Von der Decke hing die Fahne der Spanischen Inquisition. Ich kam langsam näher. Auf dem Tisch standen einige brennende Kerzen, und ich konnte deutlich die unbewegten Gesichter des Tribunals erkennen. Usero Abellan trug einen violetten Umhang, auf dessen Vorderseite ein weißes, achteckiges Kreuz aufgestickt war. Die zwei Notare, der Fiskaladvokat und der Qualifikator waren mir ebenfalls bekannt. Doch dann kam die Überraschung. Vidal Campillo befand sich auch unter den Männern des Tribunals. Er trug einen violetten Um-
hang, der ihn als Inquisitor auswies. Seine Augen funkelten mich an. Nur mit Mühe konnte ich mich aufrecht halten. Das Tribunal erhob sich. Ich sah alles wie durch einen Schleier hindurch. Usero Abellan entrollte ein Schriftstück und begann mit der Verlesung der Anklageschrift. Ich bekam nur Bruchstücke der Anklagepunkte mit. Alles drehte sich vor meinen Augen. Einmal brach ich zusammen und wurde grob wieder hochgerissen. Sie warfen mir vor, daß ich drei Säuglinge hatte töten wollen. Weiter sollte ich mit dem Teufel im Bunde stehen. Abellan gab noch einige solcher unsinnigen Dinge von sich. »Bekennt Ihr Euch schuldig, Juan Garcia de Tabera?« fragte er abschließend. Es dauerte einige Zeit, bis ich den Sinn seiner letzten Worte begriff. Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, krächzte ich. Wie war es möglich, daß Vidal Campillo ein Mitglied der Inquisition war? Abellan hatte während seiner Anklage auch den goldenen Drudenfuß erwähnt. »Wo habt Ihr den Drudenfuß versteckt, Tabera?« fragte er jetzt, während das Tribunal Platz nahm. »Es gibt keinen Drudenfuß!« zischte ich. Usero Abellan kam hinter dem Tisch hervor und blieb vor mir stehen. Er war ein kleiner Mann, der mir kaum bis ans Kinn reichte. »Gesteht Eure Untaten! Jedes Leugnen ist zwecklos. Wir haben genügend Zeugen, die alle Anklagepunkte bestätigen.« Wieder schüttelte ich den Kopf. Abellan winkte zwei Folterknechte heran. Ich versuchte mich zu wehren, doch ich war zu schwach, um ernstlich Gegenwehr zu leisten. Sie drehten mir die Arme auf den Rücken und schnürten sie zusammen. Dann hoben sie mich hoch, führten mich in eine Ecke des Gewölbes und befestigten ein Seil, das von der Decke hing und über ein kleines Rad lief, an meinen Fesseln. Ich bekam einen Stoß in den Rücken und taumelte. In diesem Augenblick wurde das Seil hochgezogen. Innerhalb weniger Augenblicke schwebte ich einen Meter über dem Boden. Und immer höher wurde ich gezogen, bis fast an die Decke. Der Fußboden lag mehr als fünf Meter unter mir. Tränen traten in meine Augen. Ich schloß sie und preßte die Lip-
pen zusammen. Einige Sekunden blieb ich so hängen, dann wurde das Seil losgelassen, und ich fiel in die Tiefe. Ich schrie vor Schmerzen. Mein rechter Arm mußte gebrochen sein. Meine linke Schulter war ausgekugelt, und unzählige Muskeln mußten gerissen sein. Die Schmerzen waren so groß, daß ich ohnmächtig wurde. Als ich erwachte, blickte ich in Abellans unbewegtes Gesicht. »Wo ist der Drudenfuß?« Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Drudenfuß«, wiederholte ich. »Nochmals hochziehen!« Diesmal brach mein linker Arm. Ich brüllte. Die Schnüre schnitten immer tiefer in mein Fleisch ein. Blut spritzte hervor. Wieder und wieder zogen sie mich hoch und ließen mich fallen. Doch ich gestand nicht; ich schwieg verbissen und klammerte mich an die Hoffnung, daß mein Freund den Häschern der Inquisition entkommen war und den Drudenfuß in Sicherheit gebracht hatte. Als Abellan merkte, daß er mit dieser Methode nicht weiterkommen würde, ließ er mich losbinden. Ich brach zusammen und blieb reglos auf dem Boden liegen. Undeutlich nahm ich wahr, daß mich ein Arzt flüchtig untersuchte, dann wurde ich hochgezogen. Ich öffnete die Augen, als ich auf eine hohe Holzbank gelegt wurde. Mein Kopf lag niedriger als die Füße. Gegen mein Rückgrat preßte sich ein dicker Stab. Die Folterknechte banden Schnüre um meine Hand- und Fußgelenke und legten sie auf Rollen. Sie stopften mir Leinwand in die Nasenlöcher und den Mund und ließen Wasser darauf tropfen. Ich bekam keine Luft. Die Stränge spannten sich, und ich glaubte, daß mein Körper entzweireißen würde. Ich wollte schreien, doch der Knebel in meinem Mund hinderte mich daran. Der Stab bohrte sich tief in mein Rückgrat. Wieder wurde ich ohnmächtig. »Gesteht Ihr jetzt Eure Untaten?« fragte Abellan, als ich erneut erwachte. Ich spuckte Blut, unfähig zu sprechen. Die Schmerzen waren zu stark. Ich wimmerte nur vor mich hin.
»Wo befindet sich der Drudenfuß, Tabera?« Ich schloß die Augen und hatte nur einen Wunsch: zu sterben, damit die unmenschlichen Qualen ein Ende hatten. Die Folterknechte zerrten an den Strängen, und ich brüllte. »Gesteht Eure Verbrechen!« schrie Abellan. Ich stellte mich ohnmächtig, doch er gab noch immer nicht auf. Man warf mich auf ein Streckbrett, band mich fest und schmierte meine Fußsohlen mit Öl ein. Einer der Folterknechte holte mit einer großen Eisenzange ein glühendes Stück Kohle aus einem Kessel und drückte es gegen meine rechte Fußsohle. Der Geruch verbrannten Fleisches hing in der Luft. »Gesteht endlich!« brüllte Abellan wütend. Sie nahmen sich gleichzeitig beide Fußsohlen vor. Diesmal brauchte ich keine Ohnmacht vorzutäuschen; ich fiel in tiefe Bewußtlosigkeit. Als ich wieder erwachte, fand ich mich in meiner Zelle wieder. Ich blieb ruhig liegen. Mein Mund war trocken, und meine Augen brannten. Meine Arme waren gebrochen, mein Rückgrat war verletzt. Ich versuchte mich zur Seite zu wälzen, doch es gelang mir nicht. Ich wußte, daß dies erst der Anfang meiner Qualen gewesen war. Die Inquisition war in ihren Foltermethoden erfindungsreich. Trotz meiner Schmerzen versuchte ich nachzudenken. Ich war verloren, daran gab es keinen Zweifel. Sie würden mich so lange foltern, bis ich gestand oder starb; und sollte ich nicht sterben, dann wartete der Scheiterhaufen auf mich. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Campillo zu verraten, wo sich der Drudenfuß befand. Aber es war müßig, jetzt darüber nachzudenken; ich konnte es nicht mehr ändern. Ich setzte noch immer meine ganze Hoffnung auf Alfonso de Villar. Er wußte, wo ich den Drudenfuß versteckt hatte. Vielleicht hatte er ihn an sich genommen und bekämpfte Campillo und die Dämonen-Drillinge. Ich fiel im einen unruhigen Schlummer, aus dem ich erwachte, als die Tür aufgestoßen wurde. Ich hob den Kopf, und meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Zwei Folterknechte warfen Alfonso de
Villar zu mir in die Zelle. Er war völlig nackt und sein Haar abrasiert. Sein Körper war über und über mit Wunden bedeckt. Er mußte genauso grausam gefoltert worden sein wie ich. Alfonso kroch über den Boden zu mir. Die Folterknechte warfen die Tür zu, und Dunkelheit umfing uns. »Alfonso!« rief ich mit versagender Stimme. »Juan«, krächzte er und kroch neben mich. Sein Körper zitterte. Er preßte seinen Kopf gegen meine Schulter, und ich spürte seine Tränen. »Jetzt ist alles verloren«, sagte ich leise. »Ja«, flüsterte er. Er legte seine Lippen ganz nahe an mein Ohr. »Wir dürfen nur ganz leise sprechen. Ich bin sicher, daß vor der Tür jemand steht und unser Gespräch mit anhören will. Deshalb haben sie mich überhaupt nur mit dir zusammengebracht.« »Wann haben sie dich gefangengenommen, Alfonso?« fragte ich fast unhörbar. »Ich habe auf dich gewartet. Aber du kamst nicht. Als es hell wurde, wußte ich, daß du deine Aufgabe nicht erfüllen konntest. Ich erfuhr, daß du gefangengenommen wurdest und der Inquisition ausgeliefert werden solltest. Ich bereitete blitzartig alles zur Flucht vor, doch es war zu spät. Ich wurde geschnappt.« »Was werfen sie dir vor?« »Ich soll dein Komplize sein und außerdem mit dem Teufel im Bunde stehen. Und ähnlichen Unsinn. Aber sie sind ja nie verlegen, wenn es um eine Anklage geht.« »Haben sie dich auch nach dem Drudenfuß gefragt?« »Ja, aber ich habe behauptet, nie etwas von einem Drudenfuß gehört zu haben.« »Gut«, sagte ich. Ich berichtete Alfonso in kurzen Worten von meinem Erlebnis mit den Dämonen-Drillingen. Dann schwiegen wir einige Zeit. Das Sprechen hatte uns mehr angestrengt, als wir erwartet hatten. »Wir haben keine Chance mehr«, sagte Alfonso. »Ich werde Selbstmord begehen.« »Aber das bringt doch auch nichts ein!«
»Wir sind hoffnungslos verloren, und ich will auf keinen Fall verraten, wo sich der Drudenfuß befindet. Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Folter standhalten kann. Ich fühle mich einfach nicht stark genug, all diese Grausamkeiten zu ertragen. Ich werde …« Mehr konnte er nicht sagen, da wieder die Tür aufgerissen wurde. Usero Abellan trat in die Zelle. Hinter ihm standen vier Folterknechte. Abellans Gesicht war wütend verzerrt. Sicherlich hatte er etwas von unserer Unterhaltung aufschnappen wollen, was ihm aber nicht gelungen war. »Aufstehen!« schrie er. Alfonso folgte augenblicklich. Ich versuchte aufzustehen, doch es gelang mir nicht. Meine Wirbelsäule mußte gebrochen sein, da ich auch meine Beine nicht bewegen konnte. Einer der Folterknechte schlug auf mich ein. »Ich kann nicht aufstehen«, keuchte ich. »Ich kann mich nicht bewegen.« Abellan warf mir einen mißtrauischen Blick zu, dann befahl er den Folterknechten, daß sie mich tragen sollten. Alfonso brach immer wieder zusammen. Wir wurden in das Gewölbe gebracht, in dem sich die unzähligen Folterwerkzeuge befanden. Hinter dem großen Tisch saßen diesmal nur zwei Schreiber und ein Arzt. Ich wurde auf ein Streckbrett geschnallt. Alfonso ließ sich zu Boden fallen. Ein Folterknecht riß ihn hoch. Alfonso klammerte sich an den Folterknecht. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Er war nicht so schwach, wie er vorgab. Der Folterknecht gab Alfonso einen Stoß, und in diesem Augenblick griff mein Freund nach dem Dolch des Folterknechtes, riß ihn aus der Scheide und warf sich zur Seite. Aus der Drehung heraus zuckte der Dolch auf Usero Abellans Kehle zu. Abellans Kehle wurde bis zum Halswirbel durchschnitten. Der Inquisitor brach zusammen. Bevor sich die Folterknechte noch von ihrer Überraschung erholt hatten, machte Alfonso seinen Vorsatz wahr. Er war auf den Rücken gefallen und rammte sich den blutbesudelten Dolch in die Brust. Sein Körper zuckte noch einmal, dann blieb er ruhig liegen.
Die Folterknechte schrien erregt durcheinander, die Schreiber und der Arzt sprangen auf. Der Arzt beugte sich über Usero Abellan, doch da kam jede Hilfe zu spät. Der Inquisitor lag auf der Seite, und um seinen Kopf bildete sich eine große Blutlache. »Er ist tot«, sagte der Arzt mit bebender Stimme. Ich schloß die Augen und beneidete Alfonso. Er war tot, während auf mich noch unendliche Qualen warteten. Trotzdem konnte ich nur mühsam ein Grinsen unterdrücken. Er hatte Abellan getötet. Einer der Bluthunde der Inquisition war von ihm ausgelöscht worden. Ich wurde in die Zelle zurückgebracht. Eines war jetzt klar. Die Inquisitoren würden über Abellans Tod vor Wut schäumen und noch grausamer sein – falls das überhaupt möglich war.
Ich konnte mich noch immer nicht bewegen. Meine Wunden eiterten, und ich war sicher, daß ich nicht mehr lange zu leben hatte. Ich wurde von Stunde zu Stunde schwächer und war nicht mehr fähig, den Wasserbecher an meine Lippen zu führen. Meine Gedanken waren wirr und sinnlos. Zweimal wurde ich noch in die Folterkammer getragen, doch die grausamen Torturen, denen mein Körper unterworfen wurde, konnten mir nichts mehr anhaben. Ab einem gewissen Punkt gibt es keine Steigerung der Schmerzen mehr. Ich sehnte meinen Tod herbei, doch er ließ auf sich warten. Meine Umgebung nahm ich nur noch undeutlich wahr. Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter und schlug die Augen auf. Vidal Campillo beugte sich über mich. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er spöttisch. »Du bist hartnäckig, Juan. Zu hartnäckig. Aber ich werde deinen Widerstand brechen und dich zu meinem treuen Diener machen.« »Nie! Nie wird Euch das gelingen.« »Du hast nur noch wenige Stunden zu leben. Ich habe nicht mit deinem Widerstand gerechnet. Jetzt habe ich keine Zeit mehr zu ver-
lieren. Ich muß den Drudenfuß haben. Morgen fahre ich mit den Drillingen nach Frankreich.« Sein bleiches Gesicht näherte sich dem meinen, sein heißer Atem strich über meine Wangen. »Ich werde dich unsterblich machen, Juan«, flüsterte er und öffnete langsam den Mund. Große kräftige Zähne kamen zum Vorschein. Die Eckzähne wurden länger. Campillos Gesicht veränderte sich. Es war jetzt eine unmenschliche Fratze. Die Augen waren blutunterlaufen und funkelten bösartig. Ich drehte den Kopf zur Seite, doch er packte mich am Kinn und drückte meinen Kopf zurück. Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Benommen schloß ich die Augen, als sich die scharfen Zähne in meinen Hals bohrten. Ich hörte sein Schmatzen, als er mein Blut saugte. Alles Blut schien aus meinem Körper zu weichen. Aber es war nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Meine Schmerzen ließen nach. Ich fühlte mich entspannt. Campillo sprach zu mir, doch die Worte schienen durch eine Wand zu mir zu kommen. Aber sie beruhigten mich. Sie klangen wie Liebkosungen in meinen Ohren. Ich seufzte zufrieden und schlief ein.
Ich hatte keine Schmerzen mehr, als ich erwachte, und konnte mich zu meiner Überraschung bewegen. Langsam setzte ich mich auf und bewegte die Arme. Sie waren nicht mehr gebrochen. Die unzähligen Wunden waren verheilt. Aber da war etwas anderes in mir, etwas, das ich mir nicht erklären konnte, eine Gier, die mich fast zittern ließ. Ich stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. Meine Augen brannten. Ich griff nach dem Wasserbecher und trank einen Schluck. Angewidert spuckte ich das brackige Wasser aus. Und langsam kehrte meine Erinnerung zurück. Vidal Campillo war bei mir gewesen. Er hatte mein Blut gesaugt, und dadurch war ich zu einem Vampir geworden. Aber wie war es möglich, daß meine Wunden verheilt waren?
Ich schüttelte den Kopf. Dafür fand ich keine Erklärung. Ruhelos ging ich in der Zelle auf und ab. Campillo hatte zu mir gesprochen, erinnerte ich mich. Ich mußte ausbrechen und den Drudenfuß holen und ihm bringen. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Der Drudenfuß war in einer Kirche, und Kirchen sind nicht der ideale Aufenthaltsort für einen Vampir. Ich kämpfte gegen den Befehl an. Alles in mir weigerte sich, diesem Befehl zu gehorchen. Doch es half nichts; ich mußte den Wünschen meines Herrn folgen; und Campillo war mein Herr geworden. Schritte näherten sich der Zelle. Rasch legte ich mich hin. Die Tür wurde geöffnet, und zwei Folterknechte traten in die Zelle. Sie waren ziemlich sorglos, sie glaubten ja, daß von mir keine Gefahr mehr drohte. Einer beugte sich über mich. Auf diesen Augenblick hatte ich nur gewartet. Ich riß dem Folterknecht die Kapuze übers Gesicht, sprang auf und griff den zweiten an. Plötzlich entwickelte ich Kräfte, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich packte den hünenhaften Mann und schleuderte ihn gegen die Wand. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen die Mauer und brach ohnmächtig zusammen. Der andere hatte inzwischen seine Kapuze gerichtet und ging auf mich los. Ich sprang ihn wie ein Raubtier an. Wir fielen zu Boden. Und da war wieder die Gier. Sie durchraste meinen Körper und ließ mein Herz rascher schlagen. Ich packte die Arme des Folterknechtes und drückte sie auf den Boden. Er stieß mit den Beinen nach mir. Die Kapuze verschob sich, und ich sah ein Stück des Halses. Ich riß den Mund weit auf, biß mit den gefletschten Zähnen zu und zerfetzte dem Unglücklichen die Kehle. Das Blut spritzte in mein Gesicht, rann über mein Kinn. Ich schloß die Augen, und wohlige Schauer durchrieselten meinen Körper. So etwas hatte ich noch nie zuvor verspürt. Das warme Blut weckte meine Lebensgeister. Mein Opfer bewegte sich nicht mehr. Ich ließ von dem Toten ab und wandte mich dem ohnmächtigen Folterknecht zu. Mein Hirn arbeitete klar und vernünftig wie nie zuvor. Ich mußte aus dem Gefängnis entkommen, und dazu eignete sich die Kleidung eines Folterknechts vorzüglich.
Ich riß dem Ohnmächtigen die Kapuze vom Kopf und kleidete ihn rasch aus. Er bewegte sich etwas. Meine Blutgier war noch lange nicht gestillt. Ich kniete neben ihm nieder, biß zu und verging fast vor Lust. Nach einigen Minuten ließ ich von ihm ab, schlüpfte in das schwarze Zwillichgewand und stülpte die Kapuze über den Kopf. Rasch verließ ich die Zelle. Niemand war zu sehen. Ich schloß die Tür, legte den Riegel vor und ging den muffigen Gang entlang. Vor der Tür zur Folterkammer blieb ich stehen. Ich hörte die Schreie einer Frau. Die Schreie waren Musik in meinen Ohren. Mit Mühe unterdrückte ich das Verlangen, die Tür zu öffnen, um mich an den Qualen der Frau zu weiden. Gedanken spukten in meinem Hirn herum, die mir früher niemals in den Sinn gekommen wären. Ich war zu einem Monster geworden, zu einem Schattenwesen. Nichts Menschliches war mehr an mir. Wieder schrie die Frau, doch ich durfte nicht länger stehenbleiben; ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Vorsichtig ging ich weiter. Endlose Gänge zogen sich durch das riesige Gebäude. Einmal kamen mir zwei Folterknechte entgegen, die eine junge nackte Frau vor sich herstießen und dabei lachten. Das Mädchen weinte und versuchte ihre Blößen zu bedecken, was ihr aber nicht gelang. Nach einigen Minuten erreichte ich einen Stiegenaufgang. Hinter mir hörte ich lautes Geschrei. Ich sprang die Stufen hinauf. Meine Flucht war entdeckt worden. Sicherlich war die Wache bereits informiert. Ich drückte mich in eine Nische und überlegte. Das Gebäude mit seinen unzähligen Gängen und Stufen war für mich ein verwirrendes Labyrinth. Meine Verkleidung half mir jetzt auch nicht mehr viel, da bestimmt bekannt war, daß ich mir die Kleider eines meiner Opfer angeeignet hatte. Ich sprang aus der Mauernische und öffnete der Reihe nach die Kerkertüren im Gang. »Ihr seid frei!« schrie ich. Männer und Frauen strömten aus den Zellen. Einige konnten nur noch humpeln, die meisten aber waren noch nicht gefoltert worden. Zwei Wächter mit gezogenen Schwertern kamen mir entgegen, und ich verlangsamte meinen Schritt. »Runter mit der Kapuze!« sagte der eine und richtete das Schwert auf mich.
»Was soll dieser Unsinn?« brummte ich und trat einen Schritt näher. Der Wächter hob das Schwert. Ich packte es mit beiden Händen und riß es in meine Richtung. Vor Überraschung ließ er das Schwert fallen. Der zweite holte mit seiner Waffe aus und bohrte sie in meinen Bauch. Ich wankte einige Schritte zurück, spürte einen stechenden Schmerz in meinem Bauch, doch nach wenigen Augenblicken hatte ich keine Schmerzen mehr. Ich packte den Griff des Schwertes, und wieder staunte ich über meine Kräfte. Geschickt parierte ich den Hieb des Wächters und spaltete seinen Schädel. Der zweite ergriff schreiend die Flucht, und ich setzte ihm nach. Mit einigen gewaltigen Sprüngen hatte ich ihn erreicht. Ich packte ihn an der Schulter, riß ihn herum und versetzte ihm einen Schlag, dann richtete ich das bluttriefende Schwert auf seine Brust. »Hör mir zu!« sagte ich heiser. »Du führst mich jetzt zum Ausgang. Wenn du einen Fluchtversuch unternimmst, spalte ich dir den Schädel. Haben wir uns verstanden?« Er nickte. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Ich senkte das Schwert und ließ ihn vorgehen. Mit der Zunge strich ich über meine Lippen. Mir fehlten noch immer die Vorderzähne, doch die Eckzähne waren mir zum Glück nicht ausgeschlagen worden. Ich gierte nach mehr Blut, aber erst mußte ich endlich einmal aus dem Kerker herauskommen. Hinter uns hörte ich wieder laute Schreie. »Rascher!« schrie ich. »Geh rascher!« Wir rannten einen steil nach oben führenden Gang entlang, dann kamen schmale Stufen. »Ist es noch weit?« »Nein«, keuchte er. »Wir sind gleich da.« Er öffnete eine Tür, und ein mit Gras bewachsener Hof lag vor uns. Es war Nacht. Der Mond war hinter Wolkenfetzen verborgen. Im Hof standen ein Dutzend Männer, die Fackeln in den Händen hielten. »Gegenüber ist der Ausgang«, sagte der Wärter. Eine der Gestalten hatte uns bemerkt und zeigte auf uns. Zwei Männer kamen uns entgegen. Ich schlug dem Wärter die rechte
Faust ins Genick, und er brach zusammen. In die Männer kam Bewegung. Einige waren mit Streitkolben bewaffnet, doch die meisten trugen Schwerter oder Degen. Ich mußte den Hof überqueren. Die Kapuze war mir jetzt nur hinderlich. Ich riß sie vom Kopf und schleuderte sie zu Boden. Dann sprintete ich los. Ich schlug einen Haken, und einige Männer folgten mir. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß etliche vor dem Tor Aufstellung genommen hatten. Ich erreichte die etwa fünf Meter hohe Mauer. Hinter mir hörte ich das schwere Atmen der Verfolger. Ich warf das Schwert zur Seite und sprang auf eine Leiter, die zu den Wehrgängen führte. Ich hatte die Hälfte der Sprossen erklommen, als ich einen stechenden Schmerz im Rücken verspürte. Zwei Bogenschützen standen im Hof und schossen mit Pfeilen auf mich. Ich griff nach hinten und zog den Pfeil heraus. Neben mir klatschte ein weiterer Pfeil gegen die Wand. Zwei Männer wollten die Leiter umlegen. Ich hastete höher. Die Leiter bewegte sich und drohte umzustürzen, doch da erreichte ich schon den Wehrgang. Ich klammerte mich an einer Zinne fest und hechtete in den Gang. Ein Pfeil bohrte sich schmerzhaft in meinen rechten Oberschenkel. Für einen Augenblick blieb ich ruhig liegen, dann riß ich den Pfeil aus dem Schenkel. Die Wunde schloß sich augenblicklich, und der Schmerz ließ nach. Ich richtete mich auf und rannte nach links. Schwere Schritte kamen mir entgegen. Zwei Männer stellten sich mir in den Weg. Ich ging augenblicklich auf sie los. Den ersten schleuderte ich in den Hof, während ich den zweiten an mich riß und seine Kehle zerfetzte. Das Blut spendete mir neue Kräfte. Ich saugte einige Sekunden, dann ließ ich den Toten fallen, blickte mich um und lugte zwischen zwei Zinnen hindurch auf die Straße. Mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte hinunterspringen. Instinktiv wußte ich, daß ich mich nicht verletzen konnte. Nach kurzem Zögern breitete ich die Arme aus und stürzte in die Tiefe. Wie ein Blatt im Wind segelte ich zu Boden. Durch das geöffnete Tor liefen einige Wächter auf die Straße, sie waren aber mindestens hundert
Meter entfernt. Ich duckte mich und rannte los. Nach wenigen Augenblicken verschwand ich in den kleinen Gäßchen Toledos. Eine Zeitlang hörte ich noch die Schritte und Stimmen meiner Verfolger, dann war alles still; die Stadt schlief. Ich lenkte meine Schritte in die Richtung der Kirche Santa Maria la Bianca. Je näher ich der Kirche kam, um so langsamer wurde ich. Meine Brust krampfte sich zusammen. Das Atmen fiel mir schwer, als ich die Plaza del Barrio Nuevo überquerte. Dann sah ich die Kirche und blieb stehen. Kein Mensch war auf dem Platz. Die Fenster der umliegenden Häuser waren dunkel. Nicht einmal eine Katze war zu sehen. Die Wolkenfetzen hatten sich verzogen. Der Mond stand tief am Himmel. Zögernd trat ich aus den Schatten der Häuser. Beim Anblick der Kirche brach mir der Schweiß aus. Meine Hände zitterten. Ich schloß die Augen und ging mutig weiter. Mein Körper schien in Flammen zu stehen. Alles in mir lehnte sich auf, dem Wunsch meines Meisters zu folgen. Voll Grauen dachte ich an den Weihrauchgeruch, der mich empfangen würde, an die Kreuze, das Weihwasser. Aber der Wille Campillos war stärker. Nur wenige Schritte trennten mich noch von der Kirche. Mein Herz schien zu zerspringen. Mein Gesicht verzerrte sich. Ich riß die Augen weit auf. Tränen rannen über meine Wangen. Ich berührte das Eingangstor und zuckte zurück. Es dauerte einige Sekunden, bis ich es wieder zu berühren wagte. Das Tor war versperrt. Ich riß an der Klinke, doch das Tor ging nicht auf. Verzweifelt sah ich mich nach einem Gegenstand um, mit dem ich es aufbrechen konnte, fand aber nichts. Wie eine Katze schlich ich um die Kirche herum. Mir blieb nur eine Möglichkeit: Ich mußte hochklettern und eines der Fenster einschlagen; anders konnte ich nicht in die Kirche gelangen. Ich suchte die geeignetste Stelle und sprang hoch. Meine Hände klammerten sich an einen Mauervorsprung, und ich zog mich höher. Schwer atmend blieb ich liegen. Das Blut rauschte in meinen
Ohren. Langsam kroch ich weiter. Vor mir lag ein Fenster. Ich hob die rechte Hand, schloß die Augen und schlug zu. Das zersplitterte Glas fiel klirrend zu Boden. Ich kroch durch das Fenster. Der Weihrauchgeruch war überwältigend. Ich hustete gequält. Das Brennen in meiner Brust wurde stärker. In der Kirche war es dunkel. Nur vor einem der Nebenaltäre brannte eine große Kerze. Alles drehte sich vor meinen Augen. Die Kerze schien riesengroß zu werden. Ich krallte mich am Fensterrahmen fest, dann wurden meine Knie weich, und ich fiel in die Kirche. Diesmal schwebte ich aber nicht sanft zu Boden, sondern ich knallte ziemlich unsanft zwischen zwei Bankreihen und rappelte mich nur mühsam wieder hoch. Unwillkürlich hob ich den Blick. Die Kerze spiegelte sich in einem hohen Silberkreuz. Ich schrie vor Schmerz und Grauen auf. Mit beiden Händen bedeckte ich die Augen. Eine unsichtbare Flamme schien meinen Körper zu verbrennen. Wieder brüllte ich durchdringend, dabei torkelte ich zwischen den Bankreihen hindurch auf den Nebenaltar zu, hinter dem ich den goldenen Drudenfuß verborgen hatte. Dann hörte ich ein Geräusch und blieb stehen. Ich preßte die Lippen zusammen und wandte den Kopf herum. Eine Tür schwang auf, und drei Geistliche traten in die Kirche. Einer hielt eine brennende Fackel in der Hand. Sie kamen langsam näher. Alle drei trugen Kreuze um den Hals. Der Anblick war zuviel für mich. Ich taumelte gegen ein Gitter, fiel zu Boden. Die drei Priester umringten mich. »Das ist Juan Garcia de Tabera«, sagte einer der Geistlichen. »Er ist mit dem Teufel im Bunde. Er muß entflohen sein, denn …« Ich zischte, krümmte mich, und wand mich wie in Krämpfen. Einer der Priester kniete neben mir nieder und packte meinen Kopf. Die Berührung seiner Hand ließ mich aufheulen. Er drehte meinen Kopf zur Seite und zuckte erschrocken zusammen. Ich mußte fürchterlich aussehen. »Ein Vampir!« schrie einer. »Er ist ein Vampir!« Sie hielten mir ein Kreuz vors Gesicht, und ich schloß die Augen,
schlug wild um mich, riß den Mund auf, und meine blutverschmierten Zähne kamen zum Vorschein. Dann spritzte geweihtes Wasser in mein Gesicht. Ich wollte schreien, doch kein Laut kam über meine Lippen. Immer mehr Wasser sprühten die drei auf mein Gesicht und den Körper. Einer fing zu beten an. Seine Stimme hallte überlaut durch die Kirche. »Wir müssen ihn töten«, vernahm ich eine andere Stimme. »Das ist nicht unsere Aufgabe«, sagte eine dritte Stimme. »Hol einen Holzpfahl! Wir werden ihn pfählen.« Ich wälzte mich auf die Seite. Da drückte einer ein Kreuz gegen meine Stirn. Rauch stieg auf, und meine Sinne schwanden. Als ich erwachte, lag ich auf dem Rücken. Vor meinem Gesicht baumelten ein Kreuz und ein Rosenkranz. Einer der Priester hielt meinen Oberkörper fest. Sie hatten meine Brust entblößt. Ich sah den gewaltigen Holzpfahl, den einer in der rechten Hand hielt. Er drückte die Spitze gegen meine Brust. Die Spitze ritzte meine Haut. Ich wollte mich bewegen, wollte um Gnade winseln, doch ich konnte nichts tun; ich war wie gelähmt. Deutlich spürte ich den brennenden Schmerz, als sich der Pfahl tief in meine Brust fraß und mein Herz erreichte. Irgendwann starb ich. Und mein unsterblicher Geist wechselte aus meinem Körper über in den Körper eines Neugeborenen.
Gegenwart Dorian Hunter wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Mr. Hunter«, sagte Rosqvana spöttisch. »Ich glaube, wir haben schon früher einmal das Vergnügen gehabt.« Der Dämonenkiller nickte. »Vidal Campillo«, sagte er leise. Rosqvana hob die rechte Braue. Coco blickte Dorian überrascht an. »Er ist es«, sagte der Dämonenkiller. »Thören Rosqvana ist Vidal Campillo, der Erzieher und Beschützer der Dämonen-Drillinge.«
»Ganz recht«, sagte Rosqvana und nickte leicht. »Sie sind ein dummer Narr, Hunter. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß ich einen so kostbaren Schatz wie den goldenen Drudenfuß herumliegen lasse?« Der Dämonenkiller antwortete nicht. Olivaro hatte wieder einmal recht gehabt, dachte er, ich habe es mir zu einfach vorgestellt, an den Drudenfuß heranzukommen. »Miß Zamis kenne ich ja schon lange«, sagte Rosqvana. »Ich wußte nicht, daß sie aus der Schwarzen Familie verstoßen und zu Ihrer Geliebten wurde, Hunter. Sie sind ein Feind der Schwarzen Familie, und es wird mir ein großes Vergnügen bereiten, Sie zu töten. Sie haben keine Hilfe zu erwarten. Helnwein ist mir zu einem treuen Diener geworden. Er hat mir alles erzählt. Es war ziemlich leicht, Sie herzulocken, Hunter. Fast zu leicht. Sie sind ahnungslos wie ein kleines Kind in meine Falle getaumelt. Sehen Sie sich um! Fast alles, was Sie hier sehen, ist nichts als Trug.« Rosqvana hob beide Hände, und der Drudenfuß löste sich in Luft auf. »Sie werde ich töten, Hunter. Aber mit Coco Zamis habe ich anderes vor.« »Wir haben aber auch noch etwas mitzureden«, sagte Coco. Rosqvana lachte. »Sie haben keine Chance. Früher vielleicht, mit Ihren Fähigkeiten als Hexe, aber jetzt …« »Mit uns haben Sie nicht so leichtes Spiel wie mit Helnwein«, sagte sie und ging auf Rosqvana zu. Helnwein trat neben seinen Herrn und fletschte die Zähne. »Ich habe Sie schon einmal zu einem Vampir gemacht, Hunter.« Rosqvana grinste böse. »Sie wissen, wie man sich als Schattengeschöpf fühlt. Ich könnte Sie wieder zu einem Sklaven machen, doch ich will Ihren Tod. Das wird mein Ansehen innerhalb der Schwarzen Familie enorm heben.« Ein Knirschen war zu hören, und der Dämonenkiller hob den Blick. Aus der Decke löste sich ein Steinquader. Dorian sprang zur Seite, und der Steinbrocken krachte neben ihm zu Boden, zersplitterte und löste sich dann in Luft auf. »Alles nur Trug, Hunter«, sagte Rosqvana. »Aber auch die fiktiven
Gegenstände können Sie töten. Für Sie sind sie real.« Aus dem Nebenraum flog eine Lanze, und der Dämonenkiller duckte sich. Die Lanze krachte gegen den Spiegel, der in tausend Splitter zerbarst. Rosqvana lachte schallend. Der Dämonenkiller riß seine Pistole heraus und hob sie, doch er konnte nicht abdrücken. Rosqvanas Augen flackerten, und Dorian stieß einen Schmerzensschrei aus. Er ließ die Pistole fallen und sah seine Handfläche an, die mit Brandblasen übersät war. Rosqvana zog sich langsam zurück. Er klatschte in die Hände, und dann war der Teufel los. Die Gegenstände im Keller erwachten der Reihe nach zu gespenstischem Leben. Schwerter, Morgensterne und Hellebarden segelten durch den Raum; und alle rasten auf den Dämonenkiller zu. Dorian duckte sich verzweifelt. Er hatte Mühe, den Geschossen auszuweichen, und wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis ihn eines tödlich verwundete. Rosqvana wollte anscheinend mit ihm spielen. Der Dämonenkiller packte einen Morgenstern, der zu Boden gefallen war, und rannte auf Rosqvana zu. Ein Schrank kippte um, den Hunter zur Seite stieß. Ein Kästchen flog gegen seine Beine, und er kam ins Taumeln. Ein weiterer Schrank fiel um und traf Hunter an der Schulter. Er fiel zu Boden, und der Morgenstern schlitterte in eine Ecke. Auf diesen Augenblick hatte Helnwein gelauert. Der Alte setzte sich auf einen Wink Rosqvanas in Bewegung. Der Dämonenkiller packte einen schweren Kerzenleuchter und richtete sich halb auf. Helnwein kam mit gefletschten Zähnen und weit vorgestreckten Händen auf ihn zu. »Tut mir leid, Helnwein«, sagte Hunter und stieß mit dem Kerzenleuchter zu. Er wollte Helnwein nicht töten, doch es blieb ihm keine andere Wahl; er mußte dem Alten den spitzen Dorn des Kerzenleuchters ins Herz rammen. Doch der Kerzenleuchter löste sich in Luft auf. Fluchend warf sich der Dämonenkiller zur Seite. Helnweins rechte Hand krallte sich in seiner Schulter fest. Dorian
wußte nur zu gut, welch gewaltige Kräfte die Opfer von Vampiren entwickeln konnten. Helnwein warf sich auf Hunter und drückte ihn zu Boden. Der Dämonenkiller versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien, doch der Alte entwickelte übermenschliche Kräfte. Seine Zähne schnappten nach Dorians Kehle. Warum kommt mir Coco nicht zu Hilfe? dachte Dorian. Er stieß mit den Beinen nach Helnwein, doch der ließ sich von seinen Anstrengungen nicht beeindrucken. Immer näher kamen die blutleeren Lippen des Alten. Seine Augen schimmerten dunkelrot.
Coco nahm alles wie in Trance war. Sie stand wie eine Statue da und blickte Rosqvana an, der ihr genau gegenüberstand. Ein leichtes Zittern durchlief ihren Körper. Sie öffnete die Augen weit. Ihre grünen Augen schimmerten immer stärker. Rosqvana trat einen Schritt zur Seite, bewegte die Hände, spannte das Gesicht an, und das Bombardement der realen und magischen Gegenstände setzte aufs neue ein. Eine Lanze raste auf Coco zu. Sie sah die Lanze an, die sich wenige Zentimeter vor ihrem Körper in Nichts auflöste. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung. Rosqvana vollführte mit den Händen verzweifelte Bewegungen und schrie etwas. Eine Tür wurde aufgerissen, und Ilse, das Dienstmädchen, stürmte mit zwei weiteren Mädchen in den Keller. Sie stürzten augenblicklich auf Coco zu. Der Dämonenkiller versuchte sich noch immer aus Helnweins Umklammerung zu befreien; von den Ereignissen um sich herum nahm er nichts wahr. Als er einen Augenblick entspannte, schnappte Helnwein gierig nach Hunters Kehle und lockerte dabei den Griff seiner Hände. Dorian schlug Helnwein auf die Kehle und warf sich zur Seite. Ein silberner Dolch schwebte auf den Dämonenkiller zu, und er wälzte sich herum. Plötzlich änderte der Dolch die Richtung, raste auf Helnwein zu und bohrte sich in die Brust des Alten. Helnwein stieß einen klagenden Laut aus, dann brach er tot zusammen.
Der Dämonenkiller stand schwankend auf. Wie war das möglich, daß sich Rosqvanas Spuk gegen seine eigenen Leute wandte? Seine Augen weiteten sich, als er erkannte, was los war. Coco und Rosqvana bekämpften sich mit magischen Kräften. Irgendwie mußte es Coco gelungen sein, einige ihrer alten Fähigkeiten zu wecken. Zu ihren Füßen lagen drei Mädchen, darunter auch Ilse. Sie rührten sich nicht. Im Rücken eines der Mädchen steckte eine Hellebarde. Noch immer flogen Gegenstände durch den Keller. Mauerbrocken aus der Decke krachten zu Boden. Es war ein gespenstischer Kampf, den Coco und Rosqvana führten, mit Mitteln, die ein normaler Mensch nicht verstehen konnte. Dorian preßte sich gegen eine Wand. Weder Coco noch Rosqvana hatten Augen für ihn; sie waren damit beschäftigt, sich gegenseitig zu erledigen. Alle Gegenstände, die auf Coco zuflogen, drehten sich in der Luft um und rasten auf Rosqvana zu, der sie seinerseits wieder abwehrte. Dorian wollte gern in den Kampf eingreifen, doch er wagte es nicht. Mit seinen bescheidenen Kräften hätte er gegen Rosqvana ohnehin nichts ausrichten können; möglicherweise hätte er nur Coco irritiert. Er duckte sich und schloß die Augen halb. Ein Steinquader donnerte zu Boden, und eine Staubwolke nahm ihm die Sicht. Er mußte husten. Coco hatte fast alle ihre magischen Fähigkeiten verloren, als sie sich in ihn verliebte, und jetzt hatte sie sie zurückgewonnen. Dafür gab es nur eine Erklärung. Sie hatte sich endgültig von ihm abgewandt. Der lautlose Kampf ging weiter. Coco und Rosqvana erzielten keine Fortschritte. Vielleicht hilft es doch etwas, wenn ich Rosqvana für einen Augenblick ablenke, dachte der Dämonenkiller. Er sah sich rasch um. Sein Blick fiel auf die mittelalterlichen Waffen, doch er konnte nicht beurteilen, welche Trugbilder und welche echt waren. Er packte ein Schwert und richtete sich auf. »Rosqvana!« brüllte er und warf das Schwert dem Dämon entgegen.
Für einen Augenblick wandte Rosqvana den Blick ab, und das genügte Coco. Ein Teil der Decke stürzte ein. Rosqvanas Schrei hallte durch den Keller. Der Dämonenkiller konnte einige Sekunden lang nichts erkennen. Der Keller war in eine dichte Staubwolke gehüllt. Leises Wimmern war zu hören. Coco kam näher und blieb neben Dorian stehen. Rosqvanas Körper war unter den Gesteinsbrocken begraben. Nur sein Kopf ragte heraus. »Er kann uns nichts mehr anhaben«, sagte sie leise. »Ist er tot?« Sie schüttelte den Kopf. »Er lebt noch, aber er kann sich nicht befreien. Seine magischen Kräfte sind neutralisiert. Es war gut, daß du ihn für einen Augenblick abgelenkt hast.« Dorian kniff die Augen zusammen und zog Coco an sich. »Du hast deine magischen Kräfte zurückgewonnen. Wie ist das möglich?« »Ich weiß es nicht.« Rosqvana öffnete die Augen. »Befreien Sie mich, Coco!« winselte er. »Ich denke nicht daran.« »Verflucht sollst du sein, verdammtes Weib!« schrie Rosqvana. »Ich dachte, daß du deine magischen Fähigkeiten verloren hast. Du mußt mich befreien, Coco. Ich brauche einen neuen Körper.« Sie antwortete nicht. »Ihr braucht mich«, sagte Rosqvana. »Ich weiß, wo sich der Drudenfuß befindet. Ohne meine Hilfe könnt ihr ihn nicht finden.« Coco und Dorian wechselten einen raschen Blick. »Und wer soll den neuen Körper liefern?« fragte Coco. »Ich kenne jemanden, der mir einen Körper besorgen kann. Ich schließe mit euch einen Handel ab. Coco, du befreist mich, dafür verrate ich euch das Versteck des Drudenfußes und wo sich die Dämonen-Drillinge befinden.« »Wir werden uns das noch überlegen«, sagte Dorian und nahm Cocos rechten Arm. »Laßt mich nicht allein, ihr verdammten Scheusale!« brüllte Rosqvana ihnen nach. »Kommt zurück! Verflucht sollt ihr sein! Ich wer-
de euch …« Dorian und Coco achteten nicht auf die Worte des hilflosen Dämons. Sie stiegen die Treppe empor, die in die Diele führte. »Sieh mich an, Coco«, sagte Dorian leise. Sie gehorchte. »Du hast deine Fähigkeiten verloren, als du dich in mich verliebt hast. Jetzt hast du sie zurückgewonnen. Dafür gibt es nur eine Erklärung …« »Nein«, sagte Coco fest, »so ist es nicht. Aber ich will jetzt nicht darüber sprechen. Was soll mit Rosqvana geschehen?« Dorian steckte sich eine Zigarette an. »Wir brauchen seine Hilfe«, sagte er schließlich. »Wir haben keine Ahnung, wo der Drudenfuß ist. Nur er kann uns zu ihm führen. Aber seine Bitte, ihm einen neuen Körper zu beschaffen, ist leider nicht zu erfüllen. Wir können ihn nie unter den Steinen herausholen. Das ist völlig …« »Das ist kein Problem«, sagte Coco. Dorian sah sie fragend an. »Gehen wir zu Rosqvana«, sagte sie. »Wir akzeptieren seinen Vorschlag.« Sie betraten den Keller, und der Dämon beschimpfte sie wieder wüst. »Halt den Mund!« brüllte ihn der Dämonenkiller an. Der Dämon schwieg. »Wir gehen auf deinen Vorschlag ein.« »Gut«, sagte der Vampir. »Coco soll mich befreien. Und ich werde euch dann sagen, wo wir hinfahren müssen, damit ich einen neuen Körper bekomme.« Coco kniete neben dem Dämon nieder, dann blickte sie Dorian an. »Dreh dich um! Du darfst mir jetzt nicht zusehen.« Der Dämonenkiller gehorchte. »Mach schon!« hörte er Rosqvanas Stimme. Coco murmelte leise Beschwörungen in einer Sprache, die Dorian noch nie gehört hatte. Rosqvana gurgelte, dann war es einige Sekunden lang still. »Du darfst dich wieder umdrehen«, sagte Coco zu Dorian.
Der Dämonenkiller wandte den Kopf herum. Coco stand vor ihm. In der rechten Hand hielt sie Rosqvanas Kopf. Aus dem Hals quoll nicht ein Tropfen Blut. Der Dämonenkiller wandte sich schaudernd ab. »Sieh mich nur an, Hunter!« knurrte Rosqvanas Kopf, der auf geheimnisvolle Weise weiterlebte. »Du wirst dich an meinen Anblick gewöhnen müssen.« Dorian blickte in das spöttisch verzerrte Gesicht des Dämons. »Und wie sollen wir diesen Schädel transportieren?« »Eine Hutschachtel wird bestens dazu geeignet sein«, sagte Coco. Dorian wußte, daß es einige Zeit dauern würde, bis er sich an den unheimlichen Anblick des lebenden Schädels gewöhnen würde. »Eine Hutschachtel!« schnaubte Rosqvana wütend. »Das kommt nicht in Frage.« »Zum Teufel!« knurrte Dorian wütend. »Du kannst froh sein, daß wir dich überhaupt befreit haben. Wohin soll die Reise gehen, Rosqvana?« »Nach Amsterdam«, sagte der Dämonenkopf.
Zweites Buch
Der Kopf des Vampirs von Earl Warren
Professor Hendrik Vermeeren sah in den sauber geöffneten Leib des Patienten. Der Magen lag für den Eingriff frei. Jetzt kam die entscheidende Phase der Operation. Durch Serosa und Muscularis mußte Vermeeren ins Mageninnere zur Schleimhaut vordringen. Dann erst konnte er mit Bestimmtheit sagen, ob Pieter van der Terk, ein hoher Ministerialbeamter des holländischen Königshofes, Magenkrebs hatte oder ob es nur Geschwüre waren. Die OP-Schwester tupfte dem Professor den Schweiß von der hohen Stirn. Er hielt, ohne den Kopf zu wenden, die geöffnete Hand nach hinten, wo Dr. Kierkemann, einer der beiden ihm bei dieser Magenoperation assistierenden Ärzte, an dem fahrbaren Tischchen mit den chirurgischen Bestecken stand. »Skalpell!« sagte der Professor unter dem grünen Mundschutz. »Halten Sie gleich die Bestecke für die Extension bereit und leisten Sie mir dabei Hilfestellung!« Fettschichten und Muskelgewebe der Bauchdecke, die Vermeeren geöffnet hatte, wurden mit blitzenden Bestecken von Dr. Saiten, der auf der anderen Seite des Operationstisches stand, auseinandergehalten. Die Umgebung der Operationswunde war mit sterilen Tüchern abgedeckt. Grelle Lampen strahlten von den Stativen auf die offene Operationswunde herab. Der Narkosearzt im Hintergrund kontrollierte die Anzeigen für Atmung, Herz und Kreislauf des Patienten und sorgte dafür, daß er die angemessene und richtige Dosis Evipan in die Vene bekam. »Wo bleibt das Skalpell?« fragte Vermeeren scharf. Trödelei und Unaufmerksamkeit seiner Assistenten während der Operation haßte er. »Schlafen Sie, Kierkemann?« Ein harter Gegenstand stieß gegen die Wirbelsäule des Professors, und eine Stimme, die er für die Dr. Kierkemanns hielt, sagte drohend: »Keine Bewegung, Vermeeren! Sie und alle anderen hier tun genau das, was ich sage. Sonst könnt ihr euch selber auf den OPTisch legen, um euch die Kugeln rausoperieren zu lassen. Klar?« »Was soll das, Kierkemann? Sind Sie wahnsinnig geworden? Wenn das ein Scherz sein soll, habe ich keinerlei Verständnis dafür.
Ich operiere, Sie Narr!« Höhnisches Gelächter! Kierkemann schritt an der erstarrten OPSchwester vorbei und ging um das Fußende des OP-Tisches herum auf die andere Seite. Dr. Saiten starrte den Kollegen mit aufgerissenen Augen an. Auch Professor Vermeerens Augen weiteten sich vor Schreck. Dr. Kierkemann hielt eine großkalibrige Schalldämpferpistole in der Hand. Er riß sich den Mundschutz ab, warf die grüne Operationsmütze in die Ecke und grinste verzerrt. Professor Vermeeren blinzelte. Etwas stimmte nicht mit Kierkemann. Seine Gestalt – was war damit los? Die Konturen schienen zu verschwimmen, zu zerfließen und wieder zu erstarren. Vermeeren schloß für eine halbe Sekunde die nach seiner Meinung vom grellen Licht des Operationssaals überreizten Augen. Als er sie wieder öffnete, stand ihm auf der anderen Seite des OP-Tischs nicht mehr der schlanke, grazile Dr. Kierkemann gegenüber, sondern ein herkulisch gebauter Farbiger von zwei Metern Größe. Die Operationsschwester stieß einen halberstickten Schrei aus. Der Narkosearzt schüttelte mehrmals den Kopf, als wollte er damit das unglaubliche Bild zum Verschwinden bringen, doch seine Augen betrogen ihn nicht. »Starrt mich nicht so an!« sagte der dunkelhäutige Mann. Er hatte einen ausgebildeten Baßbariton. »Ein einfacher magischer Trick, mehr nicht. Der echte Dr. Kierkemann liegt betäubt und gefesselt im Kofferraum seines Autos.« »Was soll das?« fragte Vermeeren hart. »Was bezwecken Sie damit? Ist Ihnen überhaupt klar, daß Sie das Leben des Mannes auf dem Operationstisch gefährden?« »Halten Sie den Mund und tun Sie, was ich Ihnen sage, Vermeeren! Schneiden Sie dem Patienten das Herz, die Leber, die Milz und die Blase heraus. Jetzt auf der Stelle! Ich spreche in vollem Ernst. Wenn Sie nicht gehorchen, schieße ich!« »Sie – Sie sind ja wahnsinnig, Mann! Sie gehören in eine geschlossene Anstalt. Was erlauben Sie sich? Scheren Sie sich aus meinem Operationssaal! Hinaus! Hinaus!« Die Augen des Professors funkelten vor Zorn; seine Schläfenadern
traten hervor. Seine Stimme war immer lauter geworden, zuletzt brüllte er. Er vergaß völlig die Gefahr, in der er sich befand. Er war der Chefarzt der exklusiven Privatklinik, das war sein Operationssaal. Widersprüche waren rar gesät im Leben einer Kapazität wie Hendrik Vermeeren, der wie ein Halbgott in Weiß autoritär, souverän und unangefochten in seiner Klinik zu bestimmen pflegte. Und da kam solch ein hergelaufener Schwarzer mit dieser wahnsinnigen Forderung zu ihm, platzte mitten in eine wichtige Operation hinein! Das war ein Skandal. Das hatte es noch nie gegeben. Doch hier stand kein Assistenzarzt vor ihm, den er scheuchen konnte. Der Mann hob die Schalldämpferpistole und drückte ab. Es machte Plopp, und Professor Hendrik Vermeeren, Facharzt für innere Krankheiten und Chirurgie, hatte ein kleines rotes Loch dreieinhalb Zentimeter unter dem Rand der grünen Operationsmütze. Der Professor hatte zornbebend den Arm ausgestreckt und auf die Tür gezeigt. In dieser Haltung, ein Sinnbild erzürnter, arroganter Autorität, starb er. Schwer fiel er zu Boden und stürzte gegen den Operationswagen, der ein Stück wegrollte. Die OP-Schwester wollte schreien, aber als die dunkle Mündung des Schalldämpfers abrupt zu ihr herumruckte, schlug sie nur die Hände vor den Mund und begann zu schluchzen. »Sie!« sagte der Fremde zum Narkosearzt. »Schneiden Sie dem Patienten die Organe heraus! Oder legen Sie Wert darauf, neben Vermeeren zu liegen?« »Glauben Sie, daß Sie damit durchkommen?« »Warum nicht? Niemand wird den Operationssaal betreten, während draußen die Warnlampe leuchtet. Wenn ich habe, was ich will, verschwinde ich. Niemand wird daran denken, mich aufzuhalten. Herz, Leber, Milz und Blase van der Terks werde ich auf jeden Fall bekommen, und wenn ich euch alle erschießen und sie mir selber herausschneiden muß. Genug geredet jetzt. Fangen Sie an, oder ich erschieße Sie!« Der Narkosearzt machte noch einen letzten Versuch. »Was wollen Sie mit den Organen? Das ist doch blanker Wahnsinn!« »Mein Meister braucht sie für seine Experimente. Ich muß ihm ge-
horchen. Sein Wille muß erfüllt werden. Fangen Sie nun an oder nicht? Ich zähle bis drei. Eins …« Der Narkosearzt ächzte, kehrte in einer verzweifelten Geste die Handflächen nach oben und ließ die Arme dann herunterfallen. »Zwei!« Es schien, als würde der Narkosearzt ein Stück kleiner. Seine Schultern sanken nach vorn. Schleppenden Schrittes trat er an den Operationstisch, um den schlimmsten Eingriff seines Lebens zu beginnen. Die drohende Pistolenmündung hielt alle in Schach. Dr. Saiten dankte seinem Schöpfer dafür, daß nicht er gezwungen war, das Furchtbare zu tun. Von dem Schwarzen angetrieben, schnitt der Narkosearzt zuerst das Herz heraus. Er wollte, daß der Patient gleich tot war. Die Milz, die Leber und die Blase folgten. Fein und säuberlich legte der Narkosearzt die warmen, noch konvulsivisch zuckenden Organe neben den Leichnam des Ministerialbeamten auf den Operationstisch. Die Tücher, mit denen der Körper van der Terks abgedeckt gewesen war, lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden. Der Operationstisch schwamm in Blut, das eine Lache auf dem Boden bildete. Der Mund des Toten stand halb offen. Der Farbige zog nun unter dem grünen Operationskittel, den er noch immer trug, ein Gummisäckchen hervor, dessen Inneres von einer gelatineartigen, farblosen Schicht bedeckt war. Er steckte die blutigen Organe des Ministerialbeamten hinein. Dann zog er den OP-Kittel aus und warf ihn in das Blut auf dem Boden. Unter dem Kittel trug er eine großkarierte Jacke und eine schwarze Stoffhose. Er hatte Turnschuhe an, die sicher die Größe 48 hatten. Rückwärts ging er zur Tür, die Parabellum mit dem Schalldämpfer in der Rechten, das Gummisäckchen mit den Organen in der Linken. Der Narkosearzt und Dr. Saiten standen mit hängenden Armen da und sahen ihn fassungslos an. Der Narkosearzt war ebenso bleich wie der tote Patient auf dem Operationstisch. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« sagte der Fremde an der Tür. »Und machen Sie keinen Lärm! Ich bleibe eine Weile draußen
stehen. Wenn Sie nur mucksen, erschieße ich Sie alle!« Die schwere, schallgedämpfte Tür des OP-Saals schloß sich hinter ihm. Die beiden Ärzte und die Operationsschwester standen fast zwei Minuten wie Salzsäulen auf der Stelle. Dann hielten sie die Anspannung nicht mehr aus. Als sei der Bann auch von ihnen abgefallen, rannten die beiden Ärzte zur Tür und rissen sie auf. Im Vorraum war niemand, und auch der lange Korridor dahinter war leer. Ratlos und entsetzt sahen sich die beiden Ärzte an. »Polizei!« schrie der Narkosearzt unvermittelt. »Alarm! Alarm! Ein Wahnsinniger! Laßt Ihn nicht entkommen!«
Ndoyo ging eilig, aber ohne zu rennen, durch die Klinikgänge. Die Pistole mit dem Schalldämpfer hatte er unter der Jacke im Hosenbund verborgen. Das Gummisäckchen hielt er in der Hand. Er begegnete ein paar Krankenschwestern und einigen Rekonvaleszenten; sie grüßten ihn freundlich. »Guten Tag, Dr. Kierkemann!« »Guten Tag!« Er wußte, daß sie – durch magischen Zauber verblendet – den jungen Arzt Dr. Kierkemann an seiner Stelle durch die Klinikgänge gehen sahen. Er hatte gleich nach dem Verlassen des OP-Saals die Beschwörungsformel gesprochen, die ihn sein Meister gelehrt hatte, und damit für jeden Beobachter das Trugbild des jungen Klinikarztes erzeugt. Niemand hielt ihn auf, als er das Hauptgebäude der Klinik verließ, zum Parkplatz ging und mit einem schwarzen Citroën davonraste. Als der Alarm ausgelöst wurde, war er schon weg. Die Klinik gehörte zum Amsterdamer Stadtteil Amstelveen und befand sich im Wäldchen am Nieuwe Meer. In einem Waldweg wechselte Ndoyo den Wagen. Mit einem alten Opel fuhr er über die Autobahn in die Stadt, wo er eine alte halbzerfallene Villa aufsuchte, deren Grundstück von einer hohen Mauer umgeben war. Ndoyo betrat das düstere Gebäude mit der grauen Stuckfassade.
Im Erdgeschoß war niemand, und oben im ersten Stock fand er nur eine schwarze Katze. Es war keine normale Katze; sie hatte einen zweiten Kopf, der hinter dem ersten saß und nach hinten schaute. Als Ndoyo ins Zimmer sah, wandte sich ihm zuerst der erste und dann der zweite Kopf zu. Der Farbige ging hinab in den Keller. Im Wald hatte er die magische Formel geflüstert, die ihn wieder in seiner wirklichen Gestalt erscheinen ließ. In dem geräumigen Keller mit den Weinfässern, dem vielen alten Plunder und den unzähligen Spinnweben trat Ndoyo an eine Mauernische heran, an der auch bei genauerer Betrachtung nichts ungewöhnlich zu sein schien. Er drückte gegen einen Stein in halber Höhe der Nische, und die mit Spinnweben verhangene Mauer öffnete sich lautlos wie eine schwere Tür auf gut funktionierenden Scharnieren. Ndoyo betrat einen kahlen, von Neonröhren erhellten Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Das Mauerwerk hier unten war sehr alt, viel älter als die Villa, die aus dem letzten oder vorletzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts stammte. Hinter den dicken Türen hörte er Jammern und Klagen. Er wollte gerade einen der unterirdischen Räume betreten, da öffnete sich eine Tür, und ein älterer, fetter Mann von widerlichem Aussehen trat heraus. Er trug einen schmuddeligen Anzug, dessen Krawatte die Sauce- und Speiseflecke von Wochen aufwies, und er schnaufte asthmatisch, denn er wog bei mittlerer Größe sicherlich zweihundertfünfzig Pfund. Sein breites Mondgesicht mit dem dreifachen Kinn zerfloß förmlich. Links hatte der Mann – er mochte Mitte fünfzig oder auch schon sechzig sein – ein Glasauge. Die Gesichtshälfte mit dem Glasauge nahm an der lebhaften Mimik der anderen Gesichtshälfte nicht Anteil; sie blieb starr und zu einer dämonischen Grimasse verzogen. Der abstoßende Mann war kahl bis auf einen ungepflegten Kranz grauer Haare, die ihm über die Ohren und bis in den Nacken fielen. Als er Ndoyo sah, grinste er mit seiner rechten Gesichtshälfte und sagte mit einer einschmeichelnden, jovialen Stimme: »Meine Kinderchen sind unruhig geworden und haben dein Kommen angemeldet,
mein guter Ndoyo. Hat alles geklappt, oder gab es Schwierigkeiten?« Ndoyo gab eine kurze Schilderung der Ereignisse. Er fürchtete den abstoßenden fetten Mann, das war ihm deutlich anzumerken. Er redete ihn unterwürfig und betont respektvoll mit Mijnheer oder mit Professor Zaander an. Johan Zaander nickte zufrieden, als Ndoyo seine knappe Erzählung beendet hatte. Er nahm ihm den Gummisack aus der Hand und öffnete ihn. Die blutfrischen Organe waren von der durchsichtigen Gelatinemasse umhüllt worden; sie zuckten und pulsierten, als hätten sie ein eigenes Leben. Professor Zaander war hochzufrieden. »Sehr gut, Ndoyo. Das hast du fein gemacht. Jetzt habe ich einen weiteren Auftrag für dich, mein Guter. Ich habe schlechte Nachrichten erhalten. Es gibt Schwierigkeiten. Ein gewisser Dorian Hunter, der sich hochtrabend als Dämonenkiller bezeichnet, ist auf dem Weg hierher. Der Kopf Thören Rosqvanas, dieses Narren, schickt ihn zu mir.« Zaander schien daran viel Lustiges zu finden, denn er schlug sich vor Vergnügen auf die unförmigen Schenkel. »Andere verlieren den Kopf, Ndoyo, aber dieser eingebildete Vampir, den ich nie habe ausstehen können, war damit nicht zufrieden: Er verlor gleich seinen Körper. Doch da er ein Vampir ist und nur durch Pfählen sterben kann, lebt sein Kopf weiter. Rosqvana – oder vielmehr sein Kopf – hat eine höllische Angst vor diesem Hunter, in dessen Gewalt er sich befindet. Und natürlich will er auch einen neuen Körper für seinen Kopf haben. Deshalb kommt er zu mir, zum altem Johan Zaander, mit dem er jahrhundertelang Spinnefeind gewesen ist. Er hat mir auf magische Weise eine Traumbotschaft geschickt. Angefleht hat er mich, ihm zu helfen und ihn aus der Gewalt Dorian Hunters zu befreien.« Der Schwarze sagte kein Wort. Er wußte, daß er seinen Herrn und Meister jetzt nicht unterbrechen durfte. Johan Zaander, Professor von eigenen Gnaden, war kein Mediziner, sondern ein Dämon. Ndoyo fürchtete ihn mehr als den Teufel selbst.
»Was soll ich tun, Mijnheer?« »Du fährst sofort mit einem Wagen nach Bonn. Von dort rufst du mich an, damit ich dir sagen kann, mit welchem Zug Dorian Hunter nach Amsterdam unterwegs ist. In diesen Zug steigst du zu. Dorian Hunter hat eine Frau bei sich, vor der du dich in acht nehmen mußt. Sie ist eine Hexe. Nun paß genau auf! Du wirst den Kopf Thören Rosqvanas stehlen und Hunter und möglichst auch die Frau umbringen.« »Ja, Professor Zaander. Ich habe verstanden. Ich werde ihre Befehle bis ins Detail ausführen.« »Mach dich gleich auf den Weg, damit du rechtzeitig nach Bonn kommst! Ich will sehen, daß ich mit diesem Versager Rosqvana Kontakt bekomme. Und noch etwas, Ndoyo: Wenn du Dorian Hunter getötet hast, nimm das Gehirn aus seinem Schädel! Es soll das Prunkstück meiner Sammlung werden.« Professor Zaander kicherte heiser. »Herrliche Experimente werde ich damit anstellen können, und wenn ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe, werde ich Hunters Gehirn vielleicht an Olivaro schicken, um mein Image aufzupolieren. Vielleicht werde ich das Gehirn des Dämonenkillers auch in den Körper eines Schweines transplantieren und dieses schlachten lassen.« Über die letzte Möglichkeit wollte Zaander sich ausschütten vor Lachen. Seine Fettmassen bebten und wabbelten. Ndoyos Gesichtsfarbe wechselte zu einem schmutzigen Grau. Er kannte die Grausamkeit seines Herrn und Meisters. Ihm selbst hatte der Dämon, der sich in Amsterdam Johan Zaander nannte, schon wiederholt angedroht, er würde seinen Körper in einen Scheintodzustand versetzen, in dem er nach wie vor seine Umgebung empfinden konnte. Als Scheintoter würde er dann den Studenten der medizinischen Fakultät zu Versuchszwecken zur Verfügung gestellt. »Geh jetzt, Ndoyo! Und mache deine Arbeit gut, sonst kommst du in die Pathologie! Dort werden sie sich freuen, einen so frischen Leichnam zu bekommen.« Ndoyo verneigte sich. Er verließ den unterirdischen geheimen Gebäudetrakt und packte oben in der Villa in aller Eile die Sachen ein, die er für die Reise benötigte.
Johan Zaander ging zurück in sein medizinisches Laboratorium. Schreie, Klagen und Stöhnlaute aus menschlichen und tierischen Kehlen und von den Kreaturen, die weder Mensch noch Tier waren, schallten ihm entgegen, als er eintrat. Zaander verzog seine rechte Gesichtshälfte zu einem dämonischen Grinsen. Er fühlte sich wohl in seinem unterirdischen Reich. Hier hielt er sich am liebsten auf. Hier konnte er ungestört seine scheußlichen Experimente betreiben, konnte seinen makabren, widernatürlichen Forschungen nachgehen und seinen widerlichen Neigungen und Lastern frönen. Er hatte sich eine Privathölle geschaffen, in der er unbeschränkter Herr war.
Dorian Hunter und Coco Zamis waren um sieben Uhr einundfünfzig in Vaduz in den Zug gestiegen. Sie wollten über Buchs und Zürich nach Basel, von wo aus es direkt nach Amsterdam ging. Dorian stellte eine Hutschachtel vorsichtig auf dem Gepäckgitter ab. Sie enthielt den Kopf des Vampirs. Dorian und Coco waren allein im Abteil. Es handelte sich um einen Personenzug, der nur schwach besetzt war. Vaduz mit seinen dreitausend Einwohnern war nicht gerade eine Weltstadt; der Reiseverkehr war entsprechend. Dorian und Coco reisten mit leichtem Gepäck, worunter Coco einen kleinen Koffer, eine umfangreiche Reisetasche und die Hutschachtel verstand, Dorian ein Diplomatenköfferchen mit einem frischen Oberhemd, Unterwäsche, Socken und ein paar Toilettenartikeln. »Hoffentlich geht alles gut«, ertönte eine dumpfe Stimme aus der Hutschachtel. »Ich erinnere euch noch einmal daran, daß ihr ohne meine Hilfe den goldenen Drudenfuß nie bekommen werdet und die Dämonen-Drillinge weder entdecken noch vernichten könnt. Wir sind aufeinander angewiesen.« »Leider«, knurrte Dorian düster. »Sonst hätte ich dich schon längst getötet.« »Sei unbesorgt, Rosqvana. Wir sorgen dafür, daß niemand den Inhalt der Schachtel zu sehen bekommt.«
Thören Rosqvana schwieg. Er wußte wie Dorian, daß die Entscheidung zwischen ihnen noch längst nicht gefallen war. Sie hatten ein Bündnis schließen müssen, doch später würden sie nicht einfach auseinandergehen. Nur einer von ihnen konnte übrigbleiben. Dorian Hunter schlug die Times auf, die er in Vaduz gekauft hatte, und las darin, während er auf die Zöllner wartete. Coco steckte sich nervös eine Zigarette an. Sie trug ein elegantes blaues Reisekostüm, das ihre kurvenreiche Figur betonte. »Hör mal, was hier steht«, sagte Dorian. »In Amsterdam wurde ein berühmter Chirurg am Operationstisch erschossen. Der Täter, der eine Schalldämpferpistole benutzte, zwang den Narkosearzt, dem Patienten das Herz und andere wichtige innere Organe herauszuschneiden. Die Polizei nimmt an, daß es sich um einen Wahnsinnigen handelt. Über seine Personenbeschreibung herrscht völlige Verwirrung. Einmal wird er als Doppelgänger eines Klinikarztes beschrieben, dessen Unschuld sich mittlerweile herausgestellt hat, dann wieder als zwei Meter großer Schwarzer.« »Was es nicht alles gibt. Unfaßlich! Stell dir vor, du willst dir den Blinddarm herausnehmen lassen, und dann kommt so ein Wahnsinniger daher und zwingt den operierenden Arzt, dir alles mögliche herauszuschneiden.« »Daran dachte ich im Moment gar nicht. Mir kam ein anderer Gedanke. Organdiebstahl, eine völlig konfuse Personenbeschreibung – das hört sich stark nach Schwarzer Magie an. Vielleicht hat der Mörder auf magische Art und Weise die Gestalt des Klinikarztes angenommen. Dafür spricht auch, was sonst noch in dem Artikel steht. Der Patient, der an den Organentnahmen starb, war übrigens ein hoher Ministerialbeamter des holländischen Königshofes.« »Rian, ich bitte dich! Haben wir nicht schon genug Probleme? Wir müssen unser Hauptaugenmerk auf den Drudenfuß richten.« »Immerhin ist die Geschichte in Amsterdam passiert«, verteidigte sich Dorian. »Wer weiß, vielleicht werden wir in die Ereignisse mit hineinverwickelt.« »Deine Phantasie geht mit dir durch, Rian.« Dorian antwortete nicht. Es war unsinnig, eine Diskussion zu be-
ginnen. Der Hermaphrodit Phillip hätte ihnen mit seinen hellseherischen Fähigkeiten vielleicht einen Hinweis geben können. Aber Phillip befand sich zur Zeit in London. Dorian hörte Stimmen im Nachbarabteil. Durch den Türspalt sah er die Gestalt einer fülligen Frau, die mit zwei Koffern in der Hand Einlaß in das Abteil begehrte. Es schien sich ein Streit zu entspinnen. Die dicke Frau mit den Koffern erschien im Rahmen. »Ist hier wohl noch ein Platz frei?« Noch ehe sie antworten konnten, drängte sich die Frau herein und stellte ihre Koffer auf dem Sitz ab. »Ob sie mir wohl helfen könnten, das Gepäck auf das Gitter zu stellen, junger Mann?« Dorian nickte höflich, stand auf und griff nach dem größeren der beiden Koffer. »Warten Sie, ich nehme solange die Hutschachtel, die dort liegt.« Dorian wollte ihr zuvorkommen, aber da hatte sie die Schachtel bereits in der Hand. »Lassen Sie nur junger Mann. Bei mir ist sie sicher. Der Hut darin gehört sicher Ihnen«, sagte sie und blickte Coco an. »Er hat aber ein ganz schönes Gewicht!« Die junge Hexe nickte. Dorian schob die beiden Koffer auf das Gitter und setzte sich wieder. Die Frau wollte die Hutschachtel zwischen die Koffer stellen, aber sie rutschte ihr aus den Fingern und fiel auf den Boden. Der Deckel klappte auf, und der Kopf des Vampirs rollte heraus. Thören Rosqvana hatte das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. Er bleckte die spitzen Eckzähne, seine Augen waren blutunterlaufen, sein dünnes blondes Haar lag dicht an dem schmalen Schädel an. Coco reagierte blitzschnell. Die Dame griff nach dem Kopf und hielt ihn sich vor das Gesicht. »Oh, was für ein schöner Hut, gnädige Frau! Ist das jetzt die letzte Mode?« Dorian holte tief Luft. Aber die Frau sprach arglos weiter. »Sagen Sie mir, wo sie ihn gekauft haben? Einen solchen Hut habe ich mir schon immer gewünscht!« Dorian standen fast die Haare zu Berge, als er den Vampirkopf in der Hand der Matrone fauchen sah. Der Vampir gierte nach fri-
schem Blut. Er konnte sich kaum noch beherrschen. »Setzen Sie den Hut doch einmal auf, gnädige Frau. Ich möchte gern sehen, wie er Ihnen steht.« Mit bebender Hand ergriff Coco den Vampirkopf. Das ging nun wirklich zu weit, fand Dorian. »Es tut mir leid, der Hut ist ein Geschenk. Wir sollten ihn lieber wieder verpacken …« In diesem Augenblick entschwebte der Vampirkopf Cocos Hand. Thören Rosqvana, von seiner dämonischen Blutgier überwältigt, raste auf den Hals der Frau zu. Seine überlangen spitzen Eckzähne glichen Dolchen. Das Gesicht des Vampirkopfes war verzerrt. Dorian sprang auf und erwischte den Vampirkopf gerade noch an den Haaren. Er riß Rosqvana vom Hals der Frau. »Komm zur Vernunft, du Narr!« herrschte er Rosqvana im Spanisch des frühen 16. Jahrhunderts an. Diese Sprache beherrschte er durch seine Erinnerungen an das junge, kurze Leben als Juan Garcia de Tabera, und auch Rosqvana alias Vidal Campillo wußte sich in ihr zu verständigen. »Willst du alles zunichte machen? Ich pfähle dich auf der Stelle!« Dorian schüttelte den Vampirkopf ein paarmal. Das rötliche Funkeln in den Augen Rosqvanas erlosch; seine Gesichtszüge glätteten sich. Die Matrone blickte Dorian überrascht an. An ihrem Hals befand sich eine winzige Wunde, die sie jedoch überhaupt nicht bemerkte. »Mir war, als hätte ich einen Luftzug gespürt«, sagte sie. »Wir sollten wohl besser das Fenster schließen.« Dorian gab Coco den Vampirkopf. »Hier hast du deinen Hut«, sagte er auf englisch. »Pack ihn lieber wieder ein, bevor er Schaden nimmt.« Coco stopfte Rosqvanas Kopf schnell in die Hutschachtel und stülpte den Deckel drauf.
Der Rest der Fahrt bis nach Buchs verlief ohne Zwischenfall. Dorian und Coco verabschiedeten sich von der älteren Dame und stiegen aus. Sie hatten Aufenthalt bis acht Uhr neunundvierzig; dann fuhr ein Eilzug nach Zürich, wo sie um elf Uhr neunzehn in den Zug
nach Basel einsteigen konnten. Um neunzehn Uhr einunddreißig erreichten sie fahrplanmäßig den Kölner Hauptbahnhof. Eine Lautsprecherstimme hallte durch die Bahnhofshalle, doch Dorian hörte nicht hin. Im Hauptbahnhof brannten bereits die Lichter. Er verließ das Abteil und trat hinaus auf den Gang, wo er das Fenster öffnete und auf das Gewimmel auf dem Bahnsteig hinaussah. Der Zug war nicht voll besetzt; Dorian hatte dem Schaffner dreißig Mark gegeben und damit erreicht, daß er ein dreisprachiges Schild Reserviert an die Tür des luxuriösen Abteils hängte. Dorian erblickte eine ihm wohlbekannte Gestalt, die neben einem Gepäckträger herging. Es war Marvin Cohen, ein kräftiger, etwas grobschlächtig wirkender Mann mit breitem, kantigem Gesicht. Er trug einen hellen Mantel und einen hellen Hut. Die Hände hatte er in die Manteltaschen geschoben. Er war Exekutor-Inquisitor bei der Inquisitionsabteilung. Cohen erblickte Dorian. Er nickte ihm zu und wies den Gepäckträger an, seinen schweren Koffer und die Reisetasche in den Zug zu bringen. Der Gepäckträger, ein älterer Mann, mühte sich damit ab, den schweren Koffer durch die Waggontür zu zwängen. »Na los doch!« fuhr ihn Cohen in recht gutem Deutsch an. »Wenn Sie so klapprig sind, daß Sie keinen Koffer mehr heben können, müssen Sie ins Altersheim gehen. Sind Sie Gepäckträger oder Rentner?« Dorian half dem Gepäckträger. Der stellte Koffer und Reisetasche ins Abteil, in dem Coco saß und wartete. Cohen kam herein, die Hände in den Manteltaschen, und begrüßte sie kurz. Dann wandte er sich wieder dem Gepäckträger zu: »Was ist, wollen Sie den Koffer nicht ins Gepäcknetz hochheben?« Dorian, dem es zuwider war, wie Cohen mit den Leuten umzuspringen pflegte, die sich nicht wehren konnten, gab dem Kofferträger ein gutes Trinkgeld und schickte ihn weg. »Was ist jetzt mit meinen Koffer?« fragte Cohen. »Heb ihn rauf oder laß ihn stehen«, sagte Dorian. »Wo ist Don Chapman?«
Cohen schnitt eine Grimasse, schloß die Abteiltür und legte Hut und Mantel ab. Er trug einen eleganten taubenblauen Anzug. »Der Dämonenkiller als Menschenfreund«, sagte er spöttisch. »Dafür, daß auch schwarzes Blut in deinen Adern fließt, bist du verdammt zartbesaitet. Es hat dir wohl nicht gefallen, wie ich den Gepäckträger angeschnauzt habe, was? Den Kerlen muß man Beine machen, sonst bilden sie sich gleich was ein. Schönen Dank übrigens, daß du den Mann fürs Koffertragen bezahlt hast.« »Ich wollte nur nicht, daß er glaubt, ich sei genauso ein Typ wie du. Das war mir das Geld wert.« Coco lächelte. Marvin Cohen knurrte etwas Unverständliches und öffnete die Reisetasche. Er tat ein paar Hemden zur Seite, und unter diesen tauchte Donald Chapman auf. Der ehemalige Topagent des Secret Service war von einem Dämon auf Zwergengröße geschrumpft worden. Seitdem hatten sie einiges ausprobiert, Chapman seine ursprüngliche Größe zurückzugeben, aber vergeblich. Selbst Coco konnte ihm nicht helfen. Chapman wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnappte nach Luft. »Puh! Ich bin fast erstickt.« Er sah an Cohen hoch, der wie ein Berg über ihm aufragte. »Hättest du mich nicht ein bißchen besser verstauen können?« »Sei froh, daß ich dich überhaupt mitgenommen habe, Gartenzwerg.« Cohen hatte eine hundsmiserable Laune, die er an jedem ausließ. Wäre nur er an Powells Stelle in Cruelymoe von den Monstren umgebracht worden, dachte Dorian. Doch im nächsten Augenblick bereute er diesen Gedanken schon wieder. Er mochte Marvin Cohen nicht leiden, aber ein so schreckliches und gräßliches Ende wünschte er selbst ihm nicht und überhaupt keinem Menschen. Dorian hatte von Vaduz aus den Observator Inquisitor Trevor Sullivan angerufen und Marvin Cohen und Don Chapman als Verstärkung angefordert. »Ich gehe schnell und besorge mir eine Schachtel Zigaretten«, sagte Dorian. »Wir reden später.«
Er verließ das Abteil. Auf dem Gang kam ihm ein zwei Meter großer, kräftig gebauter Schwarzer entgegen. Er trat höflich zur Seite und ließ Dorian vorbei. Suchend sah er in die Abteile. Der Dämonenkiller stieg aus dem Zug und lief im Eilschritt zur Sperre. Der riesige Schwarze öffnete die Tür des Abteils, aus dem Dorian gekommen war, ohne sich um das Schild Reserviert oder die zugezogenen Vorhänge zu kümmern.
Ndoyo hatte Dorian Hunter erkannt, denn sein Herr und Meister hatte ihm eine genaue Beschreibung des Dämonenkillers und Coco Zamis' gegeben, als er ihn vom Bahnhof in Köln anrief. Zaander hatte, während Ndoyo bereits unterwegs gewesen war, noch einmal Kontakt mit Thören Rosqvana aufnehmen können und von diesem wertvolle Hinweise erhalten. Nun wollte Ndoyo im Abteil des Dämonenkillers die Lage sondieren. Er trat ein, seine blaue TWA-Reisetasche unter dem Arm, nickte den Anwesenden zu und machte Anstalten, sich niederzulassen. Chapman war gerade noch unter die Sitze gehuscht und verbarg sich dort im Schatten. »Haben Sie keine Augen im Kopf, oder können Sie nicht lesen?« herrschte Cohen Ndoyo an. »Das Abteil ist reserviert. Raus, oder ich rufe den Schaffner!« Ndoyos Augen blitzten gefährlich. Der Ton, den Cohen anschlug, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er hätte nicht übel Lust gehabt, ihm den großen Mund zu stopfen, doch er durfte keine Komplikationen heraufbeschwören. Er stelle sich dumm und grinste breit, während er sich unauffällig im Abteil umsah. Die schwarzhaarige Frau mit den grünen Augen mußte jene Hexe sein, vor der Johan Zaander ihn gewarnt hatte. »Ich nix verstehen«, sagte er in gebrochenem Englisch, denn auch Cohen hatte sich dieser Sprache bedient. »Was los?« »Das Abteil ist reserviert, klar? Sie haben hier nichts verloren, verstanden? Go out!« »Warum nix hier frei? Viel Platz.«
»Nicht für Sie. Das ist unser Abteil.« Cohen holte das Schild herein, auf dem in Italienisch, Deutsch und Holländisch Reserviert stand. »Reserved!« schnauzte er Ndoyo an. Ndoyo sagte ein Wort im Dialekt der Antilleninsel Curacao, von der er stammte. Es war die Bezeichnung für einen Körperteil, dem die Ausscheidung zukam. Cohen verstand natürlich nicht, was Ndoyo zu ihm sagte, und der Farbige gab sich gleich wieder unbedarft und ein wenig beschränkt. »Ah, reserviert. Ich nix gesehen. Gehen weiter, nix für ungut.« »Ja, ja. Aber verschwinden Sie jetzt!« Die Abteiltür schloß sich hinter der riesigen Gestalt. »So ein blöder Kerl!« erregte sich Marvin Cohen. »Na, dem habe ich beigebracht, wo es langgeht. Der kommt nicht wieder.« »Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Coco in Gedanken versunken. »Was?« fragte Marvin Cohen verblüfft. Doch Coco antwortete ihm nicht. Ihr war aufgefallen, daß mit dem schwarzen Hünen irgend etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte Verdacht geschöpft. Er war nicht so dumm und tölpelhaft ins Abteil gestolpert, wie er den Anschein zu erwecken versucht hatte. Ihm war nicht die geringste Kleinigkeit im Abteil entgangen. Er war mit der Absicht hereingekommen, etwas auszukundschaften. Ihr magisch geschulter Instinkt verriet Coco, daß Gefahr drohte. Nachdem der Zug Arnheim passiert hatte, gingen Dorian und Coco in den Speisewagen. Cohen blieb im Abteil zurück, um den Vampirkopf zu bewachen; er hatte bereits früher gegessen. Dorian hatte ihn und Don Chapman ausführlich informiert. Chapman lag in der offenen Reisetasche, die auf dem Boden stand, auf ein paar weiche Handtücher gebettet und schlief. Cohen streckte sich gemütlich auf den Sitzen aus. Er schloß halb die Augen und döste vor sich hin. Das monotone Geräusch des dahinrasenden Zuges schläferte ihn ein. Zudem war es völlig still im Abteil – von den leisen und regelmäßigen Atemzügen Donald Chapmans abgesehen. Armes Schwein, dachte Cohen. Ich an seiner Stelle hätte mir längst eine Kugel aus dem Spielzeugpistölchen, das er da
mit sich herumschleppt, in den Kopf gejagt. Er versuchte sich vorzustellen, wie man sich wohl fühlte, wenn man nur dreißig Zentimeter groß war, aber dazu reichte seine Phantasie nicht aus; er empfand nur Spott und Verachtung für den Puppenmann. Marvin Cohen betrachtete Sentenzen wie »Fressen und Gefressenwerden« und »der Starke kämpft, der Schwache geht unter« als einzig gültige Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens. Es störte ihn nicht, daß er sich ständig Feinde schuf und überall aneckte. Lähmende Müdigkeit überkam ihn, und er nahm alles um sich her nur noch wie im Traum wahr. Er wußte, daß er in einem Zug saß und in Richtung Amsterdam fuhr, doch er hatte vergessen, weshalb er dorthin unterwegs war; er konnte kein Glied mehr rühren. Er kam nicht auf den Gedanken, seinen Zustand einem magischen Bann zuzuschreiben; dazu war er zu benommen. Über ihm öffnete sich die Hutschachtel, in der Thören Rosqvanas Kopf versteckt war. Marvin Cohen sah den Vampirkopf durchs Abteil zur Tür schweben. Dumpf regte sich in ihm irgendwo ein Gedanke, daß hier etwas nicht stimmte, daß etwas geschah, was nicht sein sollte, doch er konnte den Gedanken nicht weiterverfolgen. Der Vampirkopf ging im Zug auf Jagd, von unersättlichem Blutdurst getrieben. Thören Rosqvana konnte sein Verlangen nicht länger bezähmen; er hatte sich den günstigsten Augenblick ausgesucht; durch magischen Zauber hatte er Cohen ausgeschaltet. Die rotglühenden Augen starrten Cohen an, und der Kopf murmelte einen Bannspruch, der Cohen für die nächste halbe Stunde aktionsunfähig machte. Dann schwebte er durch die geschlossene Abteiltür hinaus in den Gang. Niemand war in der Nähe. Er schwebte den Gang entlang und schlug die Richtung zum Zugende hin ein. Beim Durchgang zum nächsten Waggon stand ein hünenhafter Schwarzer, den er sofort angriff. Doch Ndoyo riß sich blitzschnell das rote Baumwollhemd auf. Ein kleines goldenes Kreuz mit einem Herzchen in der Mitte baumelte auf seiner breiten Brust. Rosqvana erblickte das Kreuz und schrak zurück. Ndoyo wollte nach ihm greifen, aber der Vampirkopf entwischte ihm und schweb-
te schnell in den nächsten Waggon. Der Schwarze fluchte, lief hinter dem Vampirkopf her, verlor ihn aber aus den Augen. Ndoyo suchte die Abteile ab, ohne auf die Proteste der Reisenden zu achten, wenn er seinen schwarzen Kopf zur Tür hereinsteckte und sich sorgfältig umschaute. Rosqvanas Kopf schwebte indessen in den letzten Waggon. Er sah in einem Abteil, das nur durch das vom Gang hereinfallende Licht erhellt wurde, eine Frau mittleren Alters sitzen und schlafen. Rosqvana bemerkte in seiner Gier nicht, daß ein Schaffner ihm vom Ende des Gangs aus beobachtete. Der Mann stand wie vom Schlag gerührt da. Der Vampirkopf verschwand im Abteil. Statt dort nach dem Rechten zu sehen, stürzte der Schaffner schreckensbleich zu seinen Kollegen ins Dienstabteil hinten im letzten Waggon. »Ich habe einen Kopf draußen den Gang entlangschweben sehen«, schrie er völlig aufgelöst. »Oh, es war gräßlich! Mich überläuft es jetzt noch kalt, wenn ich nur daran denke.« Der dienstälteste Schaffner, der die Verantwortung für die reibungslose Abwicklung des Dienstbetriebes im Zug hatte, sah den jungen Mann streng an. »Du hast wohl Halluzinationen gehabt, was?« »Ich schwöre, daß es so war! Der Kopf ist über den Gang geschwebt.« »Erzähl mir nichts! Du solltest dich ausruhen, damit du wieder einen klaren Kopf bekommst.« »Aber ich habe diesen Kopf wirklich gesehen, so wie ich euch beide jetzt sehe.« »Leg dich dort auf das untere Bett und sieh zu, daß du deine fünf Sinne wieder zusammenbekommst! Du bist am Zug, Pieter.« Die beiden Schaffner im Dienstabteil spielten Schach, denn im Moment war wenig zu tun. Der junge Mann setzte sich auf das untere der beiden übereinander angeordneten Betten und stützte den Kopf in die Hände. »Himmel!« seufzte er ein paarmal, dann streckte er sich auf dem
Bett aus. Allmählich kam er selbst zu der Überzeugung, einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein. Ein entfernter Verwandter von ihm war in der Irrenanstalt gestorben. Er machte sich schreckliche Sorgen um seinen geistigen Zustand. Auf den Gedanken, in dem Abteil nachzusehen, in dem der schwebende Kopf verschwunden war, kam er nicht. Seine beiden Kollegen dachten auch nicht daran. Vor Amsterdam mußten sie ohnehin noch eine Kontrollrunde machen. Da würde man dann ja sehen, ob irgendwo Köpfe herumschwebten oder nicht.
Die ältere Frau schlummerte friedlich. Thören Rosqvanas Augen funkelten vor Gier. Wie lange war es schon her, seit er zum letzten Mal die Vampirzähne in eine Halsschlagader geschlagen hatte, daß er den warmen, erquickenden Lebenssaft geschlürft hatte? Zu lange, viel zu lange. Rosqvana ließ durch magische Kraft die Vorhänge zum Gang hin zugleiten, so daß man von außen nicht in das Abteil sehen konnte. Er spürte, wie seine Gesichtszüge sich verkrampften, wie das Verlangen immer größer wurde. Er öffnete den Mund. Die langen Zähne näherten sich der Kehle der schlafenden Frau. Einige köstliche Augenblicke genoß Rosqvana noch die Vorfreude, dann biß er zu. Seine Vampirzähne zerbissen die Halsschlagader der Schlafenden, und Rosqvana trank ihr Blut. Die Frau riß die Augen auf, schloß sie aber gleich wieder halb. Sie leistete keine Gegenwehr. Der Biß des Vampirs lähmte ihren Körper und ihren Verstand. Gierig trank Rosqvana, doch dann merkte er, daß das herrliche Gefühl der Sättigung ausblieb, dieses herrliche Hochgefühl, das ihn sonst immer überkommen hatte. Er verdrehte die rotglühenden Augen. Zum Teufel, das Blut strömte aus seinem Halsstumpf! Er hatte keinen Körper mehr, der es aufnehmen und verarbeiten konnte; so genoß er zwar den süßlichen Geschmack, der nagende Hunger jedoch blieb. Thören Rosqvana war wie ein Faß ohne Boden. Er fluchte zu allen Unheiligen. In wütender Gier trank er das Blut
seines Opfers, bis die unglückliche Frau keinen Tropfen mehr im Körper hatte. Am Boden des Abteils bildete sich eine große Blutlache. Rasend vor Zorn und Gier ließ Rosqvana schließlich von seinem Opfer ab. Da wurde die Tür aufgerissen. Ndoyo stürmte herein. Der Vampirkopf schoß fauchend auf ihn los, doch das kleine goldene Kreuz am Hals ließ ihn zurückfahren. Thören Rosqvana schwebte etwas zurück und murmelte eine magische Beschwörung, die Ndoyo zu einem wehrlosen Opfer machen sollte. Rosqvana wollte ihn in seinen Bann schlagen, ihn dazu bringen, sein Kreuzchen abzulegen und sich ihm zu ergeben. Doch Ndoyo war gegen die Magie Rosqvanas gefeit, weil ihn sein dämonischer Herr und Meister gegen jede andere Zauberkraft immun gemacht hatte. Ndoyo schloß die Abteiltür. Er hatte mit Schwierigkeiten seitens des Vampirkopfes gerechnet und trug in den Taschen bei sich, was er brauchte. Thören Rosqvana wußte nicht, daß Ndoyo der Gehilfe Johan Zaanders war; er hatte zwar mit diesem eine telepathische Traumverbindung gehabt, doch Zaander war nur Empfänger gewesen und hatte nichts übermitteln können. Rosqvana murmelte uralte Beschwörungsformeln. Silben und Worte waren es, die keiner menschlichen Sprache entstammten. Ndoyo trat näher an den Vampirkopf heran und zog ein kleines Netz aus der Jackentasche, an dem einige Knoblauchzehen und – blüten befestigt waren. Blitzschnell warf er das Netz über den Vampirkopf. Rosqvana stieß einen Schrei aus. Ndoyo zog das Netz zusammen und verknotete die Enden miteinander. »Ruhig!« sagte er zu Rosqvana. »Ich will Ihnen nichts Böses. Ich bin im Auftrag Johan Zaanders hier und soll Sie zu ihm bringen.« »Mach mich los!« Ndoyo schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Instruktionen.« Zaander wollte Rosqvana wegen der jahrhundertelangen Feindschaft etwas leiden lassen. »Öffnen Sie den Mund! Ja, so. Schon geschehen.« Ndoyo drückte den großen Daumen auf eine Stelle am Halsansatz
des Vampirkopfes. Rosqvana riß den Mund auf, und er stopfte ihm ein paar Knoblauchzehen hinein. Der Vampir würgte vor Ekel; er war halb betäubt, bekam rasende Kopfschmerzen und konnte seine Umgebung nur noch verschwommen wahrnehmen. Er vermochte weder etwas zu unternehmen noch eine Abwehrformel aufzusagen; er war völlig hilflos und starb tausend Tode vor Abscheu, Ekel und Schmerz. Ndoyo verbarg den Vampirkopf unter seinem Jackett, das er lose über dem Arm hängte. Er war guter Laune. Der erste Teil seines Auftrages war erfüllt. Der Vampirkopf war in seiner Gewalt. Nun mußte er noch für seinen Herrn und Meister das Gehirn des Dämonenkillers beschaffen, und vielleicht ergab sich dabei die Gelegenheit, nebenbei noch Coco Zamis umzubringen. Ndoyos Schuhe waren voller Blut, wie er jetzt bemerkte. Er nahm sein Taschentuch und reinigte sie. Dann lehnte er den breiten Rücken gegen die Tür und überlegte. Er sah die Blutlache am Boden und starrte die reglose Frau an. Wenn sie entdeckt wurde, gab es Schwierigkeiten. Niemand würde den Zug verlassen dürfen, die Reisenden würden von der Polizei kontrolliert, ihr Gepäck durchsucht werden. Das war aber gar nicht in Ndoyos Sinn. Die Tote und das Blut mußten verschwinden, und zwar sofort. Die Leiche ließ sich leicht aus dem Fenster werfen, doch wie sollte er fünf oder sechs Liter Blut beseitigen? Er holte den Vampirkopf wieder unter dem Jackett hervor, nahm sein goldenes Kreuz vom Hals und zog Rosqvana die Knoblauchzehen aus dem Mund. Der Vampirkopf spuckte und fauchte und stieß einen Schwall von Flüchen und Verwünschungen aus. Ndoyo hielt ihm das Kreuz vor die Augen. Gepeinigt kniff Rosqvana die Augen zu. »Bringen Sie das Blut zum Verschwinden!« sagte Ndoyo. »Ich möchte Sie nur ungern dazu zwingen, indem ich Ihnen das Kreuz mitten auf die Stirn drücke. Also tun Sie es freiwillig!« »Du wagst es, Thören Rosqvana, den Vampir-Dämon und Ziehvater der Dämonen-Drillinge, zu bedrohen? Das wirst du bitter büßen, du Hund. Wenn du nicht sofort meinen Befehlen gehorchst …«
»Ich gehorche den Befehlen von Mijnheer Johan Zaander, meinem Herrn und Meister. Ich tue nur, was in seinem Sinne ist, Herr. Tut mir leid. Wollen Sie nun das Blut zum Verschwinden bringen, oder muß ich Gewalt anwenden?« Rosqvana fluchte und schimpfte in allen Sprachen, die er kannte. Dann aber mußte er einsehen, daß er keine Wahl hatte. »Öffne das Fenster!« Ndoyo gehorchte, und Thören Rosqvana sprach eine Beschwörung. Das Blut auf dem Boden warf Blasen und wurde zu einem dichten, rötlichen Dunst, der aus dem Fenster zog und sich verflüchtigte. Der kalte Fahrtwind pfiff ins Abteil und zerrte an den Gardinen. Lichter und Häuser rasten draußen vorbei, Autostraßen und Felder. Ndoyo legte den Vampirkopf, der im Netz mit den Knoblauchzehen und – blüten gefangen nicht schweben konnte, auf einen Sitz und wandte sich der toten Frau zu. Er wollte den Leichnam aus dem Fenster werfen. Das Opfer Thören Rosqvanas war totenbleich und kalt. Kein Tropfen Blut war mehr in den Adern der Frau. Als Ndoyo sie anhob, öffnete sie die Augen, die rötlich funkelten. Die Frau öffnete den Mund und zeigte fauchend lange, spitze Vampirzähne. Die Hände der Frau fuhren Ndoyo wie Krallen an die Kehle. Das verzerrte Gesicht mit den Vampirzähnen näherte sich seiner Halsschlagader. Ndoyo hatte das Kreuzchen eingesteckt, nachdem er Rosqvana damit bedroht hatte; es konnte ihm jetzt nicht helfen. Er wehrte sich wie ein Berserker. Die Frau hatte jedoch übernatürliche Kräfte und spürte keinen Schmerz. Ihre Fingernägel malten blutige Kratzer auf seine Brust, und sie kreischte. Schließlich gelang es Ndoyo, das entfesselte Ungeheuer abzuschütteln. Er griff in das Jackett, das auf einem Sitz lag, und riß den kurzen, spitzen Holzpflock heraus, den er für alle Fälle in der Tasche stecken hatte. Die Vampirfrau sprang ihn wie eine Raubkatze an. Sie packte ihn am Hals und stieß ihn zu Boden. Er setzte den Pflock an und schlug mit aller Kraft zu. Das Monster, das über ihm lag, erlahmte. Der Vampirkörper rollte von Ndoyo herunter, blieb auf dem Rücken lie-
gen und zerbröckelte zu Staub. Schwer atmend richtete Ndoyo sich auf. Der Zug raste durch die Nacht seinem Ziel entgegen.
Donald Chapman erwachte und erkannte sofort, daß Marvin Cohen durch dämonischen Zauber ausgeschaltet und der Vampirkopf verschwunden war. Der Puppenmann stieg aus der Reisetasche und kletterte an Cohens Hosenbein hoch. Er schlug vor seinem Gesicht die Hände zusammen, kniff ihn in den Arm, pfiff und schrie. »He, Cohen, aufgewacht!« Cohen erwachte aus seiner Erstarrung. Er schüttelte sich wie ein Mann, der unverhofft eine kalte Dusche erhalten hat. Seine glasigen Augen wurden wieder klar. »Was ist? Oh, verdammt!« Er begriff, was geschehen war. Chapman sprang von seinem Knie herunter auf den Boden. Cohen fuhr in die Höhe. Er wirkte konsterniert und völlig ratlos, doch dann verzerrte der Zorn seine Züge. »Dieser elende Vampirschädel! Wenn ich ihn kriege, werde ich einen Pfahl quer durch ihn hindurchtreiben.« »Das wird Dorian nicht zulassen. Wir müssen ihn sofort verständigen. Geh du in den Speisewagen und sag Bescheid! Ich warte solange hier.« Es war kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Eine Dreiviertelstunde noch, dann hatte der Zug Amsterdam erreicht. Draußen war es längst finster. Wütend stampfte Cohen in den Speisewagen, wo Dorian Hunter und Coco Zamis bei einem exquisiten Dinner saßen. Dorian war gerade mit seiner Forelle blau mit brauner Butter, Spargelspitzen und Petersilienkartoffeln fertig und griff nach der Nachspeise – Eisbombe mit Gebäck –, als er Marvin Cohen zwischen den Tischreihen des luxuriösen Speisewagens hindurchgehen sah. Er machte Coco auf Cohen aufmerksam. »Seiner Miene nach zu urteilen, gibt es Verdruß.« Coco antwortete leise: »Wann gibt es den nicht, wenn Cohen in
der Nähe ist?« Cohen trat an den Tisch, neigte sich zu Dorian herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dorian legte den Eßlöffel weg. »Wir müssen sofort gehen, Coco. Es ist etwas geschehen.« Sie stellte keine Fragen, sondern ließ ihren Pfirsich Melba stehen und folgte den beiden Männern. Im Gang vor dem Speisewagen berichtete Cohen kurz, daß Thören Rosqvanas Kopf entwichen war. Dorian war bestürzt. »Seine Blutgier muß übermächtig geworden sein. Wir müssen den Vampirkopf finden, bevor ein Unglück geschieht. Wie lange ist es her, daß er aus dem Abteil verschwunden ist?« »Ich kann es nicht genau sagen, aber seit dem Halt in Arnheim fahren wir erst fünfundzwanzig Minuten. Ich schätze, der Vampirkopf ist fünf Minuten, nachdem ihr in den Speisewagen gegangen seid, ausgebrochen.« Dorian, Cohen und Coco kehrten ins Abteil zurück. Hier erwartete sie ein geknickter Donald Chapman, der sich Vorwürfe machte, weil er geschlafen hatte. Auch Cohen war wesentlich schweigsamer und zurückhaltender als sonst. »Vielleicht hat der Fremde, der in Köln in unser Abteil gestolpert ist, etwas mit dem Verschwinden des Vampirkopfs zu tun«, sagte Coco. »Der Kerl war mir nicht geheuer.« »Ich glaube eher, Rosqvana wurde vom Blutdurst übermannt«, meinte Dorian. »Wir müssen ihn finden, ehe ein Unglück geschieht, wenn es nicht schon geschehen ist.« Sie durchsuchten den Zug. Don Chapman blieb im Abteil zurück. Die beiden Männer und Coco Zamis trugen jeder ein silbernes Kreuz bei sich, ferner ein kleines Mundspraydöschen, das in Wirklichkeit Weihwasser enthielt; damit wollten sie Thören Rosqvana zur Vernunft bringen. Dorian machte sich Vorwürfe, daß er keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatte, nachdem der Vampirkopf schon am Schweizer Grenzübergang Buchs den Zöllner zu beißen versucht hatte. Sie fanden keine Spur von Rosqvana. Auch Ndoyo, den Coco Zamis verdächtigt hatte, sahen sie nicht.
Der Schwarze hatte Marvin Cohen aus dem Abteil stürzen und zum Speisesaal gehen sehen. Er verbarg sich in dem Waschraum, der dem Abteil des Dämonenkillers am nächsten war, und beobachtete durch den Türspalt die Vorgänge auf dem Gang. Als Dorian, Coco und Marvin sich zur Suchaktion verteilten und in die Abteile sahen, wußte Ndoyo Bescheid. Dorian blickte auch in den Waschraum, aber Ndoyo hatte sich inzwischen in einer der Toiletten eingeschlossen. Sobald der Dämonenkiller außer Sichtweite war, ging er zum Abteil Dorian Hunters und seiner Begleiter. Chapman huschte unter die Sitze, als die Tür geöffnet wurde. Er sah die großen Füße Ndoyos ins Abteil treten. Als er vorsichtig unter dem Sitz hervorspähte, erblickte er den riesigen Schwarzen, der schon einmal zufällig ins Abteil gekommen war. Chapman regte sich nicht; er wollte herausfinden, was der ungebetene Besucher vorhatte. Nach einem flüchtigen Rundblick durchsuchte Ndoyo die Gepäckstücke, deren Schlösser er mit einem kurzen Messer einfach aufbrach. Thören Rosqvana hatte sich bei dem telepathischen Traumkontakt mit Johan Zaander recht kurz gefaßt und verraten, was der Dämonenkiller plante. Da Zaander Rosqvana nicht über den Weg traute und äußerst mißtrauisch war, hatte er Ndoyo am Telefon empfohlen, sich einmal das Gepäck Hunters und seiner Mitreisenden vorzunehmen. Ndoyo hatte seine Chance erkannt und nutzte sie. Er fand in den Gepäckstücken Dämonenbanner, Kreuze, Weihwasser, Knoblauchblüten, Magazine mit Silberkugeln und silberne Dolche. In Dorians Diplomatenkoffer entdeckte er in einer Mappe alte Dokumente in verschiedenen Sprachen, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen. Er wußte nichts damit anzufangen, aber er steckte die Mappe ein, um sie seinem Herrn und Meister zu bringen. Daß er es mit mehreren Dämonenbekämpfern zu tun hatte, überraschte ihn; bisher war den finsteren Mächten allenfalls von Einzelgängern und Außenseitern Widerstand entgegengesetzt worden. So etwas wie Hoffnung keimte im Gehirn des Schwarzen. Er haßte und verabscheute eigentlich die Handlungen, zu denen sein dämonischer Meister ihn zwang. Ndoyo war ein gutmütiger Charakter,
der niemandem etwas Böses tun wollte. Doch der dämonische Bann Johan Zaanders und die Furcht vor dem Dämon zwangen ihn zu Greueltaten. Ndoyo litt darunter. Er hatte friedlich und glücklich auf Curacao gelebt, auf einer Plantage gearbeitet und nicht mehr begehrt, als sein einfaches Leben ihm bescherte. Bis Johan Zaander gekommen war und ihn zu seinem Sklaven gemacht hatte. Er hatte Nicolas Ndoyo ausgebildet und zu seinem Werkzeug gemacht. Ndoyo dachte für einen Augenblick daran, mit den Dämonengegnern gemeinsame Sache zu machen, doch schon der Gedanke daran jagte ihm einen fürchterlichen Schmerz durch den Körper. Johan Zaander hatte vorgesorgt, daß eine solche Entwicklung nicht eintreten konnte; Ndoyo durfte nicht einmal an Verrat an seinem dämonischen Herrn und Meister denken. Er fand die Brieftasche Marvin Cohens mit Dienstausweis und Plakette des Secret Service. Mit der Bezeichnung Sonderdezernat, Inquisitionsabteilung vermochte er nichts anzufangen. Er schloß die Gepäckstücke schließlich wieder und legte sie ins Gepäcknetz. Er hatte genug gesehen. Er steckte Cohens Brieftasche und ein paar von den Dämonenbannern ein, wandte sich um und wollte das Abteil verlassen. Da sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er wandte den Kopf, aber da war nichts. Trotzdem war er sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Er beugte sich herunter, schaute unter die Sitze und erblickte Donald Chapman. Überrascht betrachtete er den dreißig Zentimeter großen Puppenmann. Chapman war im ersten Augenblick erschrocken, als er sich entdeckt sah, aber er faßte sich schnell und griff nach seiner Minipistole. Er richtete sie auf Ndoyos rechtes Auge. »Ich warne dich!« rief er. »Ich schieße dir ein Auge aus!« »Tu das lieber nicht, kleiner Mann«, sagte Ndoyo, »sonst mach ich dir einen Knoten in den Bauch. Was bist denn du für einer?« »Verschwinde aus diesem Abteil! Dorian Hunter und die beiden andern werden gleich zurückkommen.« Ndoyo begriff sofort, daß der Kleine eine wertvolle Geisel und ein gutes Druckmittel sein mußte, wie er es sich besser nicht wünschen
konnte. »Ich gehe ja schon«, sagte er anscheinend friedfertig. »Du kannst dein Knallpistölchen ruhig wegstecken.« Er hob den Kopf, daß der unter den Sitzen steckende Chapman ihn nicht mehr treffen konnte, und griff zu. Chapmans kleine Pistole, die er hauptsächlich trug, um sich gegen Ratten, Katzen und Hunde zur Wehr setzen zu können, krachte zweimal los. Ndoyo spürte einen brennenden Schmerz in der Hand. Eines der kleinen Projektile hatte seine Hand durchschlagen, das andere blieb darin stecken. Aber Ndoyo packte trotzdem zu. Er klemmte Chapmans Pistolenarm zwischen zwei Finger und quetschte ihn so fest, bis Chapman aufschrie und die Pistole fallen ließ. Ndoyo richtete sich auf und hielt den Puppenmann vor sein Gesicht. Von seiner Hand tropfte Blut, doch er war eher verwundert als böse. »Für einen so kleinen Kerl bist du mächtig bissig. Aber jetzt habe ich dich in meiner Gewalt. Mach keine Dummheiten, hörst du? Ich mit meinen Bärenkräften möchte nicht gern einem so kleinen Krümel wie dir weh tun.« »Weshalb läßt du mich dann nicht laufen?« Ndoyo antwortete nicht. Er verbarg Don Chapman unter der Jacke, verließ mit ihm das Abteil und ging in den Waschraum, wo er den Vampirkopf, der in der schäbigen TWA-Tasche steckte, im Papierkorb unter Abfall versteckt hatte. Er holte die Tasche mit dem Vampirkopf und setzte sich in ein leeres Abteil. Der Zug raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die neblige Novembernacht. Ndoyo sah draußen ein Signal vorbeihuschen. Er verstaute Cohens Brieftasche und die Dämonenbanner, die er entwendet hatte, in der blauen Tasche, zog einen seiner Schnürsenkel aus dem Schuh, zerbiß ihn in der Mitte und fesselte Donald Chapman damit an Armen und Beinen. Dann lutschte er das Blut von seiner Hand, verzog das Gesicht, drohte Chapman mit dem Finger und umwickelte die schmerzende Hand mit einem Taschentuch. »Ich habe einen mächtigen Hunger«, sagte er zu Chapman. »Wollen mal sehen, was sie im Speisewagen Gutes haben. Du bist schön ruhig in deiner Tasche, ja? Vor dem Vampirkopf da brauchst du kei-
ne Angst zu haben. Der hat genug mit sich selbst zu tun. Der Knoblauch bekommt ihm nicht.« »Was hast du mit mir vor?« »Wenn du vernünftig bist, passiert dir nichts. Ich fasse dich nicht an, wenn ich nicht muß, trotzdem du mir in die Hand geschossen hast. Sag mal, weshalb bist du denn eigentlich so klein?« »Ich bin eben so. Ich frage dich ja auch nicht, weshalb du so groß bist.« Ndoyo lachte. Er nahm Chapman seine Keßheit nicht übel. Der Puppenmann gefiel ihm. Trotzdem würde er nicht zögern, ihn zu zerquetschen, wenn sein Meister es ihm befahl. Er steckte Donald Chapman in die blaue Kunststofftasche und nahm ihn und den Vampirkopf mit in den Speisewagen. Wenn Hunter und die anderen das Verschwinden ihres kleinen Partners bemerkten, würden sie im Zug nach ihm suchen. Ndoyo hatte bereits einen Plan, wie er den zweiten Teil seiner Aufgabe ausführen und Dorian Hunter um sein Gehirn erleichtern konnte. Es sollte mit einer Konferenz im Speisewagen beginnen. Bei dieser Gelegenheit konnte Ndoyo auch einen Happen essen.
Dorian Hunter, Coco Zamis und Marvin Cohen trafen sich nach Beendigung ihrer erfolglosen Suche wieder in ihrem Abteil. Dorian rief nach Donald Chapman. Nichts regte sich. »Vielleicht ist er in den Aschenbecher gerutscht«, sagte Cohen abfällig. »Oder ein Hund hat ihn gefressen.« »Schade, daß du keine dreißig Zentimeter groß bist«, sagte Coco. »Dir würde das sicher eine Zeitlang nichts schaden. Vielleicht würde dann aus dir ein passabler und umgänglicher Mensch.« »Was hast du denn eigentlich an mir auszusetzen, Süße? Wetten, daß du deine Meinung über mich ändern würdest, wenn du mich näher kennenlernst?« »Ich kenne dich bereits gut genug, und auf eine noch engere Bekanntschaft kann ich recht gut verzichten.« Dorian hatte sich unterdessen nach Donald Chapman umgesehen.
Er sah die Blutstropfen auf dem Boden, dann entdeckte er Chapmans Minipistole, die unter einem Sitz lag. Er hob sie auf. »Don muß etwas zugestoßen sein.« Er deutete auf das Blut am Boden. »Man hat ihn überwältigt. Vielleicht ist er sogar tot.« »Vielleicht ist dieser Schwarze wieder ins Abteil gekommen«, sagte Coco. »Wir haben ihn im Zug nirgends zu Gesicht bekommen. Wenn er sich nun versteckt hatte und ins Abteil eingedrungen ist, als wir alle unterwegs waren?« Cohen hatte seine Reisetasche aus dem Gepäcknetz gehoben. Sie war offen. Er hob auch den Koffer herunter. »Tatsächlich – hier war jemand und hat unsere Sachen durchsucht. Wenn es dieser Kerl war, kann er sich auf etwas gefaßt machen.« »Wenn es tatsächlich der Schwarze war«, sagte Dorian. »Wenn er sich versteckt und abgewartet hat, bis wir überall im Zug den Vampirkopf gesucht haben, dann heißt das, daß er auch mit dessen Verschwinden zu tun hat. Kommt, wir müssen ihn finden. Ein Mensch wie er dürfte nicht so leicht zu übersehen sein.«
Ndoyo hatte gerade die beiden Steaks bekommen, die er bestellt hatte, als er Dorian und Coco zwischen den Tischreihen auf sich zukommen sah. Marvin Cohen beobachtete den Schwarzen durch die gläserne Türscheibe; er sah Ndoyo seitlich von hinten. Im Speisewagen befanden sich nur wenige Reisende; die meisten saßen vorn an der Theke oder im vorderen Teil des Wagens, so daß der hintere ziemlich leer war. In Ndoyos Nähe saß niemand. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« fragte Dorian. Ndoyo nickte. Dorian und Coco nahmen Platz. Dorian hatte wohl gesehen, daß der Schwarze die Hand in der Kunststofftasche hatte. »Sie haben unser Gepäck durchwühlt?« »Allerdings. Und wenn Sie Ihren kleinen Freund suchen, der liegt in der Tasche da. Ich warne Sie! Wenn Sie irgend etwas gegen mich unternehmen, was mir nicht gefällt, zerquetsche ich ihn.« Wie zuvor mit Donald Chapman sprach Ndoyo auch mit Dorian
Hunter Englisch. Er beherrschte diese Sprache fast akzentfrei. »Wissen Sie etwas vom Verbleib von Thören Rosqvanas Kopf?« Ndoyo grinste. Die Situation bereitete ihm Vergnügen. »Allerdings, er liegt gleichfalls in meiner Tasche. Sie sehen also, Mr. Hunter, ich habe alle Trümpfe in der Hand. Und nun lassen Sie mich in Ruhe meine Steaks essen. Wir unterhalten uns dann weiter. Nehmen Sie mit Ihrer reizenden Begleiterin bitte ein paar Tische weiter Platz.« Dorian und Coco blieb nichts anderes übrig, als der höflich vorgebrachten Aufforderung Folge zu leisten. Ndoyo aß schnell, aber mit Genuß, und trank eine Flasche Kronenbourg zum Essen. Dann wischte er sich mit der Serviette den Mund ab, zahlte beim Kellner und winkte Dorian und Coco wieder zu sich. Coco hatte inzwischen für ein paar Minuten den Speisewagen verlassen und draußen Marvin Cohen über den Stand der Dinge informiert. »Wer sind Sie und in wessen Auftrag arbeiten Sie?« fragte Dorian. Er hatte sich eine Player's angesteckt und beobachtete den Gegner genau. Doch Ndoyo war auf der Hut. Er hatte wieder seine Hand um Donald Chapmans Kopf und Oberkörper gelegt. Dorian durfte einen Blick in die Tasche werfen. Er sah Donald Chapman und den Kopf Thören Rosqvanas im Netz. »Ich heiße Ndoyo. Für wen ich arbeite, brauchen Sie nicht zu wissen. Hören Sie zu, Mr. Hunter, ich habe eine Menge Fragen an Sie. Hier sind mir zu viele Zuschauer. Wir beide werden jetzt in mein Abteil gehen und uns dort unter vier Augen in Ruhe unterhalten. Ihre reizende Begleiterin und dieser Grobian, der sicher irgendwo in der Nähe ist, haben bei diesem Gespräch nichts verloren. Es geht um sehr wichtige Dinge.« Dorian war mißtrauisch. Ndoyo führte etwas im Schilde, das spürte er. »Also gut«, stimmte Dorian zu. »Gehen wir. Aber versuchen Sie keinen faulen Trick. Es könnte sonst leicht Ihr letzter sein.« Sie verließen den Speisewagen. Marvin Cohen schloß sich ihnen draußen auf dem Gang an. Er sagte kein Wort, aber der Blick, mit
dem er Ndoyo musterte, sprach Bände. Ndoyo ging zu dem Abteil, wo er den Vampirkopf gefangengenommen hatte. Den Staub, der von der Vampirdienerin übriggeblieben war, hatte er im Abteil verteilt. »Sagen Sie Ihren Freunden, sie sollen uns in der nächsten halben Stunde nicht stören, Mr. Hunter! Oder soll ich Ihrem Mini-Freund erst einen Arm oder ein Bein abreißen, um meinen Forderungen Nachdruck zu verleihen? Ich will nur ein paar Informationen von Ihnen – und natürlich will ich den Vampirkopf behalten – das ist alles. Wenn ich den Zug verlasse, nehme ich den kleinen Mann als Geisel mit. Ich lasse ihn laufen, sobald ich sicher bin, daß ich nicht verfolgt werde.« Dorian glaubte Ndoyo nicht. Coco murmelte Beschwörungsformeln und beschrieb mit den Fingern magische Zeichen in der Luft. Sie wollte Ndoyo behexen, doch ihr Zauber verfing bei ihm nicht. »Lassen Sie das!« sagte Ndoyo. Er quetschte Donald Chapman, bis dieser einen gequälten Schrei ausstieß. »Noch so ein Versuch, und ich reiße dem Kleinen ein Bein aus!« »Geht!« sagte Dorian zu Coco und Cohen. »Laßt mich für eine halbe Stunde allein mit ihm! Geht in unser Abteil!« »Wozu die Umstände?« knurrte Cohen, die Hand unter der Jacke. »Ich schieße ihm eine 38er Kugel in den Kopf, und damit hat es sich.« »Nimm die Finger von der Waffe, geh ins Abteil und rühr dich eine halbe Stunde nicht von der Stelle, Marvin! Das ist ein Befehl! Ist das klar?« Dorian kannte Cohens brutale Eigenmächtigkeiten. Er wollte Don Chapmans Leben nicht gefährden. Cohen sah ein paar lange Augenblicke Dorian und Ndoyo an, drehte sich dann abrupt um und ging davon. Coco folgte ihm nach einem letzten beschwörenden Blick auf Dorian. Ndoyo und der Dämonenkiller traten ins Abteil. Ndoyo zog die Vorhänge zu. Er forderte Dorian auf, Platz zu nehmen. Er selbst warf noch einen Blick auf den Gang hinaus, sah draußen aber nie-
mand und schloß die Tür. Er stellte die Tasche ab und zog mit der Rechten, deren Finger aus dem weißen Taschentuch mit den Blutflecken herausragten, eine Parabellum mit Schalldämpfer hervor. Die Waffe wirkte in seiner großen Hand zierlich. Während Ndoyo Dorian mit der Pistole bedrohte, schob er mit der Linken Donald Chapman und den Vampirkopf in der blauen Tasche zur Seite, holte ein paar Wäschestücke, die nur als Dekoration dienten, heraus und warf sie unter die Sitze. Dann förderte er ein paar chirurgische Instrumente zutage und einen kleinen Gummisack, der innen mit einer gelatineartigen Schicht bedeckt war. Dorian musterte die chirurgischen Instrumente. Es waren Bestecke, wie man sie zum Öffnen der Schädeldecke verwendete: ein Skalpell, ein Spatel, ein Löffel und eine Knochensäge. »Was haben Sie damit vor?« »Ich werde Ihnen das Gehirn herausnehmen, Hunter.« »Hier? Im fahrenden Zug?« »Es wird wohl nicht sehr fachmännisch und sauber vor sich gehen, aber es muß gehen. Die Schäden, die ich Ihrem Gehirn dabei zufüge, wird Mijnheer Zaander sicher wieder beheben können. Er hat schon weit schwierigere Sachen vollbracht.« »Johan Zaander schickt Sie? Der Mann, zu dem wir mit Thören Rosqvanas Kopf wollten?« »Allerdings. Professor Zaander hat andere Pläne, Mr. Hunter.« Ndoyo sprach nach wie vor freundlich im Konversationston. Gerade das machte die Szene noch schauriger. Der Zug raste mit hundertsiebzig Stundenkilometern durch die Nacht. »Was ich nun tun muß, mache ich nicht gern, Mr. Hunter, aber ich muß den Befehlen meines Herrn gehorchen. Mir bleibt keine andere Wahl, wenn ich nicht gräßlich enden und auf ewig furchtbare Qualen erleiden will.« »Sie können mich töten«, sagte Dorian Hunter, »doch Sie werden nicht aus dem Zug kommen, das versichere ich Ihnen.« »Irrtum, Mr. Hunter. Ich ziehe die Notbremse, sobald ich Ihr Gehirn habe, und fliehe durchs Fenster.« Den Plan, auch Coco zu töten, hatte er vorläufig fallenlassen. Er
hob die Pistole, um Dorian eine Kugel durchs Herz zu schießen. Der Dämonenkiller hatte keine Chance. In Ndoyos Augen sah er, daß dieser abdrücken würde. In diesem Augenblick kreischten die Bremsen. Abrupt verlangsamte sich das Tempo. Ndoyo verlor das Gleichgewicht. Dorian bog den Oberkörper zur Seite. Die Kugel verfehlte ihn knapp. Ndoyo konnte sich nicht auf den Beinen halten und fiel hin. Die blaue Tasche polterte zu Boden, die chirurgischen Instrumente klapperten durchs Abteil. Jemand hatte die Notbremse gezogen. Das Gerüttel und Geschüttel des bremsenden Zuges warf Reisende und Gepäck durcheinander. Der Vampirkopf kollerte aus der offenen TWA-Tasche unter die Sitze, und der gefesselte Donald Chapman rollte ebenfalls aus der Tasche. Dorian hielt sich an der Sitzlehne fest. Ndoyo zielte auf ihn, aber der Dämonenkiller trat ihm gegen die Hand. Ein kleines Loch mit sternförmig angeordneten Sprüngen erschien in der Scheibe zum Gang hin. Dorian warf sich nach vorn und packte Ndoyos Pistolenhand. Die beiden Männer rangen erbittert miteinander. Vom Gepäcknetz fiel Dorian ein Koffer ins Genick. Dorian, sicher kein Schwächling, hatte alle Mühe, die Pistolenmündung von sich wegzudrehen. Ndoyo packte ihn an der Kehle und würgte ihn, daß Dorian die Augen hervortraten. Es gelang ihm, den Dämonenkiller abzuschütteln. Sie lagen nun nebeneinander. Da wurde die Tür aufgerissen. Marvin Cohen stand im Rahmen, den 38er in der Hand. Endlich kam der Zug zum Stehen. Ein letzter harter Ruck warf Cohen gegen den Türrahmen. Sein Schuß ging ins Leere. Ndoyo entwand sich Dorians Umklammerung und schoß auf Cohen. Die Kugel schrammte glühendheiß über Marvins Handgelenk. Mit einem Aufschrei ließ er den Revolver fallen. Dorian bekam die Hand des Gegners zu fassen und riß sie herum. Ndoyo schrie laut. Er mußte die Parabellum loslassen. Coco drängte an dem fluchenden Marvin Cohen vorbei, eine kleine Astra-Pistole in der Hand.
Ndoyo packte den gefesselten Donald Chapman und hielt ihn sich mit der Linken schützend vors Gesicht. »Keine Bewegung! Sonst zerquetsche ich ihm den Schädel wie eine Nuß. Aus dem Weg!« herrschte er Dorian an. Coco wagte nicht zu schießen. Die Astra war eine kleinkalibrige Waffe. Wenn sie Ndoyo nicht mit dem ersten Schuß tötete, war Chapman verloren. Vor Schmerzen stöhnend, riß Ndoyo mit der rechten Hand, deren Daumen und Zeigefinger ausgerenkt oder angebrochen waren, das Abteilfenster auf. Mit einer Geste bedeutete er Dorian zurückzutreten. Marvin Cohen hob seinen Revolver auf und wollte schießen, aber der Dämonenkiller entriß ihm die Waffe. Ndoyo kletterte aus dem Zugfenster, sprang und lief davon. Er stolperte und stürzte, wobei er sich auf dem Schotter die Knie blutig schlug und die Hose zerriß. Aber er ließ Donald Chapman nicht los. Der Zug war mitten in einem Wald zum Stehen gekommen. Ndoyo verschwand zwischen den Bäumen. Dorian rannte aus dem Abteil, riß die nächste Tür auf und stieg aus. Von Ndoyo sah er keine Spur mehr. Wohl hörte er ihn in der Ferne noch durch den dichten Wald brechen, aber die Geräusche entfernten sich rasch. Unbelebt lag der Wald im Mondlicht. In der Ferne schrie ein Käuzchen. Es klang unheimlich. Manche Menschen sagten, das Käuzchen rufe einen Menschen in den Tod. Dorian rief nach Don Chapman. »Don – he, Don, bist du hier?« Keine Antwort. Dorian rief und pfiff noch ein paar Minuten. Ndoyo im dunklen Wald weiterzuverfolgen, hatte keinen Zweck, und Donald Chapman meldete sich nicht. Dorian mußte sich damit abfinden, das sich sein tapferer kleiner Freund als Geisel in der Gewalt Ndoyos befand.
Coco und Marvin Cohen hatten rasch aufgeräumt und den Vampirkopf verborgen, ehe Zugpersonal und Fahrgäste angelaufen kamen. Cohens Brieftasche und die gestohlenen Dämonenbanner lagen jetzt
auch in der Kunststofftasche. Es gelang ihm, Schaffner und Zugführer mit den weniger unglaubwürdigen Details der Geschichte abzuspeisen. Coco half mit einer leichten Hypnose nach. Sie sagte aus, sie habe die Notbremse gezogen, um Dorian, der von einem Fremden bedroht worden war, zu Hilfe zu kommen. Der unbekannte Mann sei in den Wald entflohen. Der Zug fuhr wieder weiter. Bei einem Sonderaufenthalt in Utrecht stieg die Bahnpolizei zu, die übers Zugtelefon verständigt worden war. Auf der Fahrt von Utrecht nach Amsterdam und während des Halts dort nahmen holländische Bahnpolizisten ein Protokoll auf. Es sollte an das Auswärtige Amt weitergeleitet werden, das sich dann mit dem Secret Service in Verbindung setzen mußte. Es lag hauptsächlich an Cocos Hypnosekünsten, daß der Fall keine weiteren Kreise zog. Dorian, Coco und Marvin Cohen stiegen in Amsterdam aus. Der Zug war mit dreiundzwanzig Minuten Verspätung angekommen. Die Tasche mit dem Vampirkopf und den chirurgischen Bestecken hatten sie bei sich; die Bahnpolizei hatte sich nicht dafür interessiert. Daß eine Reisende dem Vampir Thören Rosqvana zum Opfer gefallen und gleich anschließend den Pfahltod gestorben und zu Staub zerfallen war, wußte niemand außer Rosqvana und Ndoyo. Von der unglücklichen Frau waren lediglich ein herrenloser Koffer und ein wenig Staub zurückgeblieben. Dorian konnte nur Vermutungen darüber anstellen, ob Thören Rosqvana im Zug ein Opfer gefunden hatte, ehe Ndoyo ihn gefangennahm. Der Dämonenkiller und seine beiden Begleiter fuhren mit einem Taxi zum Hotel Bloemendaal, wo sie ein Doppelzimmer und ein Einzelzimmer nahmen. Zwei gähnende Pagen halfen ihnen beim Koffertragen. Im Doppelzimmer hielten sie Kriegsrat. Dorian verschloß die Tür, nahm den Vampirkopf aus der blauen Kunststofftasche und befreite ihn von den Knoblauchzehen und dem Knoblauchnetz. Thören Rosqvanas Kopf hustete und prustete. Er schwebte zehn Zentimeter über dem Tisch frei in der Luft. »Puh, war das furchtbar!« jammerte der Vampirkopf. »Ich bin fast
krepiert an diesem Knoblauch.« Marvin Cohen zog wutentbrannt ein silbernes Kreuz aus der Tasche. »Du hast uns eine Menge Ärger eingebrockt, Dämon. Dafür werde ich dich jetzt mit dem Silberkreuz zeichnen.« »Lassen Sie das, Cohen!« sagte Dorian scharf. »Racheakte bringen uns nicht weiter. Weshalb bist du nicht in der Schachtel geblieben, Rosqvana? Welcher Teufel hat dich geritten, im Zug auf Jagd nach einem Opfer zu gehen?« »Der Blutdurst hat mich überwältigt«, antwortete der Vampirkopf. »Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Dieser furchtbare Hunger – ich konnte einfach nicht anders.« »Hast du ein Opfer gefunden?« »Nein. Dieses schwarze Ungeheuer nahm mich gefangen, noch ehe ich meine Zähne in eine Menschenkehle schlagen konnte.« »Er lügt«, sagte Coco. »Ich spüre es. Er hat jemandem das Blut ausgesaugt, aber irgendwie war es anders als sonst.« »Ich schwöre bei allen Höllen und Dämonen …«, begann der Vampirkopf. Dorian hob ein silbernes Kreuz hoch. »Sag die Wahrheit, Rosqvana! Du hast mich damals von der Inquisition grausam foltern lassen. 1508 war es, aber ich erinnere mich an die Schmerzen, die ich als Juan Garcia de Tabera erlitt, als sei es erst gestern gewesen. So etwas vergißt man nicht. Ich habe nicht übel Lust, dir ein wenig in gleicher Münze zurückzuzahlen. Also rede, bevor ich die Geduld verliere, und versuche nicht zu lügen! Coco merkt es.« Rosqvana erzählte nun, was sich wirklich zugetragen hatte; daß er telepathisch mit Johan Zaander in Verbindung gestanden hatte, verschwieg er jedoch. »Es gibt viele Möglichkeiten, wie Johan Zaander von unserem Kommen erfahren haben kann«, sagte Dorian. »Das spielt jetzt keine große Rolle mehr. Wir müssen nun alles daran setzen, Don Chapman zu retten.« »Ich treibe diesem Monster einen Pfahl durch den Kopf«, rief Cohen. »Schon wieder hat er einen Menschen auf dem Gewissen, diese
blutgierige Bestie. Solche Ungeheuer müssen ausgerottet werden.« »Ihr braucht mich!« rief Rosqvana erschrocken aus. »Was habt ihr davon, wenn ihr mich tötet?« »Ich weiß, daß wir dich brauchen«, sagte Dorian bitter. »Unsere Abmachung gilt. Ich bringe dich zu Zaander, wo du einen neuen Körper bekommst, und dafür erhalte ich von dir die Informationen über die Dämonen-Drillinge. Danach kannst du gehen. Du bekommst einen Vorsprung. Aber glaub nicht, daß ich dich davonkommen lasse. Ich jage dich bis ans Ende der Welt und wieder zurück, quer durch das Zwischenreich der Geister und die schaurigen Dimensionen, wenn es sein muß. Das schwöre ich dir.« »Wir werden sehen«, zischte Rosqvana, und mörderischer Haß funkelte in seinen Augen. »Laß mich nur erst wieder einen Körper haben.« Dorian überlegte kurz. »Kannst du Zaander mit Sicherheit bewegen, dir zu helfen, Rosqvana? Wird er auf dich hören?« »Er wird mir einen neuen Körper geben«, beeilte sich der Vampirkopf zu versichern. »Oh, diese Qualen! Ich werde noch wahnsinnig! Ich brauche Blut. Doch selbst wenn ich es trinke, nützt es mir nichts, solange ich keinen Körper habe.« »Ich werde Zaander sofort anrufen und ein Treffen für morgen nachmittag vereinbaren. Du sagst ihm, daß Donald Chapman kein Haar gekrümmt werden darf. Wenn Don etwas zustößt, wird meine Vergeltung die Schuldigen treffen …« Dorian ließ sich von der Auskunft Zaanders Nummer geben und rief an. Nachdem er mehrmals aufgelegt und von neuem gewählt hatte, meldete sich endlich der Professor. Es war kurz nach Mitternacht. »Hier spricht Dorian Hunter. Ihrem Helfer ist es nicht gelungen, Rosqvanas Kopf an sich zu bringen. Aber er hat einen meiner Mitarbeiter in seiner Gewalt. Ich gebe Ihnen jetzt Rosqvana.« Rosqvana bestätigte Dorians Worte. »Ich bitte dich, von weiteren eigenmächtigen Aktionen abzusehen. Laß Hunters Mitarbeiter frei! Ihm darf kein Haar gekrümmt werden, sonst muß ich es büßen.« Dorian nahm wieder den Hörer. »Sie wissen jetzt Bescheid, Zaan-
der. Vielleicht ist Ihnen nicht unbekannt, daß ich Verbindungen zu Olivaro habe. Erzürnen Sie mich also nicht!« Johan Zaander kicherte. »Ich bin bereits informiert, Hunter. Regen Sie sich nicht künstlich auf. Kommen Sie heute um siebzehn Uhr mit Rosqvanas Kopf zu mir, dann soll er einen neuen Körper erhalten. Was Ihren Mitarbeiter angeht, so kann ich Ihnen nicht helfen. Wie Ndoyo mir vor einer Stunde meldete, ist ihm der kleine Wicht im dunklen Wald entkommen. Wenn ihn kein Fuchs gefressen hat, wird er sich wohl wieder bei Ihnen melden.« Er kicherte. »Siebzehn Uhr, Zaander. Ich werde pünktlich sein. Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen.« »Wie könnte ich es wagen, den furchtbaren Dämonenkiller hintergehen zu wollen?« fragte Zaander spöttisch. »Ich zittere doch schon, wenn ich nur Ihre Stimme höre, Hunter.« Er legte auf. Dorian rieb sich die Augen. Nach der langen Zugfahrt war er sehr müde. »Wir treffen uns spätestens um zwölf Uhr zum Mittagessen«, sagte er zu Marvin Cohen. »Geh jetzt auf dein Zimmer!« »Viel Vergnügen noch!« bemerkte Cohen mit einem Seitenblick auf Coco. Dorian ignorierte die Bemerkung. Er war zu müde, um sich mit Cohen herumzustreiten. Während Coco noch einmal ins Bad ging, nahm Dorian den Vampirkopf Thören Rosqvanas und streifte ihm das Netz mit Knoblauchblüten über. Rosqvana protestierte. Ungerührt schob Dorian ihm auch noch die Knoblauchzehen in den Mund. »Ich bin zu müde, um auf dich aufzupassen, und ich möchte nicht, daß du das Hotel unsicher machst.« Er stopfte den Vampirkopf in die Hutschachtel und stellte diese in den Schrank. Dann brachte er an der Tür und am Fenster Dämonenbanner an, damit Johan Zaander ihm keinen unheimlichen Besuch schicken konnte. Vielleicht hatte der Dämon bereits herausgefunden, in welchem Hotel der Dämonenkiller abgestiegen war. Dorian sicherte das Hotelzimmer zusätzlich noch durch eine Beschwörung der weißen Magie. Als Coco aus dem Bad kam, duschte der Dämonenkiller. Coco sah
Dorian entgegen, als er wieder ins Zimmer kam. Er trug nur eine Pyjamahose. Seine Beziehung zu Coco dauerte nun schon fast zwei Jahre, und es war nicht immer eitel Glück und Sonnenschein gewesen. Die beiden stritten sich, verkrachten sich und versöhnten sich wieder. Einmal hatte Coco ihn sogar für mehrere Monate verlassen, war dann aber nach den blutigen Ereignissen in Cruelymoe zu ihm zurückgekehrt. Seitdem war ihr Verhältnis nicht mehr wie früher. Ein Bruch hatte stattgefunden. Eine abermalige Trennung stand des öfteren im Raum, aber niemand wagte es, den Gedanken auszusprechen. Im Moment waren beide entschlossen, den Augenblick zu genießen. Dorian zog Coco an sich und bedeckte ihr Gesicht mit heißen Küssen. Ihre Hände glitten über seinen Körper. »Du Hexe«, flüsterte Dorian in einer Atempause. »Ich weiß nie, woran ich mit dir bin. Als du dich damals in mich verliebt hast, hast du deine Hexenfähigkeiten verloren. Nun hast du sie wiedergewonnen. Heißt das, daß du mich nicht mehr liebst?« Sie schüttelte den Kopf. »Frag nicht nach Dingen, die sich in Zukunft erweisen werden! Denk an den Augenblick!«
Ndoyo hatte Donald Chapman keineswegs im Wald verloren; er war mit dem Puppenmann auf dem Weg nach Amsterdam. Ndoyo hatte, als er den Wald verließ, einen Lastwagen angehalten, der ihn nach Utrecht mitnahm. Von dort aus rief er von einer Telefonzelle aus seinen Herrn und Meister an. Der nannte ihm die Adresse eines Mannes, der ihm verpflichtet war. Von ihm sollte Ndoyo sich ein Auto leihen und damit auf dem schnellsten Weg nach Amsterdam zu Zaander kommen. Er klingelte den Mann aus dem Bett. Ein verschlafenes, verquollenes Gesicht starrte ihn durch den halbgeöffneten Spalt der Wohnungstür entgegen. Ndoyo brauchte nur den Namen seines Herrn zu nennen, schon wurde sein Gegenüber hellwach. Der Mann stank nach billigem Fusel, und seine Wohnung war so dreckig, daß sogar ein Schwein sich ihrer geschämt hätte.
Der Mann gab Ndoyo die Wagenschlüssel und führte ihn höchstpersönlich zu seinem Auto, einem uralten Ford, dessen Karosserie von Beulen und Rostflecken übersät war. Zweifelnd betrachtete Ndoyo das Gefährt. Donald Chapman verbarg er unter der Jacke. »Ich werde mir den Wagen beim Professor morgen abholen«, sagte der Mann. »Wollen Sie das Vehikel wirklich wiederhaben?« fragte Ndoyo. »Hoffentlich fällt die Karre nicht auseinander.« Er schloß auf und rutschte hinters Steuer. Wegen seiner langer Beine mußte er den Sitz zurückschieben; und dabei legte er Donald Chapman auf den Beifahrersitz. Der Säufer sah den Kleinen im Licht einer Straßenlaterne, die in diesem düsteren Stadtviertel wenig Konkurrenz hatte. »He, was ist denn das?« fragte er überrascht. »Ein neues Experiment des Professors?« »Ein Sprichwort in meiner Heimat sagt, daß der allzu Neugierige früh stirbt.« Ndoyo startete. Die Karre ächzte in allen Fugen, und der Motor würde wahrscheinlich, nach den Geräuschen zu urteilen, keine zehntausend Kilometer mehr überstehen. Doch Ndoyos Sorge war das nicht. Er fuhr aus Utrecht heraus und bog auf die Autobahn nach Amsterdam ein. Donald Chapman regte sich auf dem Beifahrersitz. Ndoyo fuhr rechts heran. »Wenn du mir versprichst, während der Fahrt keine Dummheiten zu machen, binde ich dich los«, sagte er. »Wenn ich eine Chance sehe zu entwischen, hast du mich gesehen«, antwortete Chapman. »Glaub nur nicht, weil ich so klein bin, hätte ich Angst vor dir.« »Du willst wohl ins Handschuhfach?« fragte Ndoyo, machte aber keine Anstalten, Chapman wirklich dort einzuschließen. Er band sogar seine Füße los, die Hände aber ließ er gefesselt. »Mach keine Dummheiten, Kleiner!« Ndoyo fuhr wieder los. Donald Chapman machte es sich so gut es ging bequem. Amsterdam war knappe fünfzig Kilometer entfernt, die Autobahn wenig belebt.
»Weshalb dienst du Johan Zaander?« fragte er nach einer Weile. »Du scheinst mir kein so übler Bursche zu sein.« »Du kennst Zaander nicht«, sagte Ndoyo leise. »Ich muß seine Befehle ausführen. Ich bin in seiner Gewalt. Er ist ein Dämon, eine bösartige Kreatur, die Horror und Schrecken zeugt. Seine hervorstechendsten Eigenschaften sind neben seinem wahnsinnigen perversen Forschungsdrang Grausamkeit, Bosheit und Gemeinheit. Wenn ich Zaander nicht gehorche, steht mir ein gräßliches Schicksal bevor.« »Ist dir eigentlich klar, was du alles in seinem Auftrag tust? Heute wolltest du Dorian Hunter das Gehirn herausnehmen. Es ist mißlungen, aber bei anderen Gelegenheiten ist es sicher nicht beim Versuch geblieben.« Ndoyo schwieg. »Du mußt dich von dem Dämon lossagen«, sagte Chapman eindringlich. »Ich gehöre zu einer Organisation, die die Dämonen und dunklen Mächte bekämpft. Wir können dir sicher helfen, Ndoyo. Vielleicht kannst du sogar für uns arbeiten. Du bist doch kein Dummkopf. Männer wie dich, die zudem noch Erfahrungen mit dämonischen Machenschaften gesammelt haben und nicht erst mühsam überzeugt werden müssen, brauchen wir.« »Gib dir keine Mühe, Kleiner! Für mich ist es zu spät. Ich gehöre Johan Zaander mit Haut und Haaren. Er besitzt eine Puppe aus Ton, deren Masse Blut und Haare von mir enthält. Wenn ich ihm entfliehen oder gegen ihn angehen will, braucht er sich nur die Puppe vorzunehmen. Und ihn selber angreifen kann ich nicht. Daran hindert mich – wie auch seine anderen Geschöpfe – ein magischer Bann.« Ndoyos Stimme klang traurig. »Und da ist noch etwas«, fuhr er fort. »Meine kleine Tochter. Ich mußte sie damals auf Zaanders Befehl aus Willemstaad, der Hauptstadt Curacaos, mitnehmen, als er mich in seine Knechtschaft zwang. Noe'mi war ein munteres, aufgewecktes kleines Mädchen von drei Jahren, schwarz wie Ebenholz, mit weißen Zähnchen und Knotenzöpfchen. Sie hatte braune Augen und ein allerliebstes Plappermäulchen.« Seine Stimme bebte. Tränen standen in seinen Augen. Es dauerte eine Weile, bis er weiterspre-
chen konnte. »Zaander hat ihr Gehirn in den Körper einer Ratte transplantiert. Er hat es auf magische Weise vorher verkleinert. Ich bin fast wahnsinnig geworden, als er sie mir zum ersten Mal zeigte. Sie war eine weiße Ratte und sprang am Käfiggitter hoch, als sie mich sah. Sie piepste und gestikulierte mit den Vorderpfötchen. Und ich war machtlos. Ich konnte sie nicht retten, sie, die einmal meine kleine Noe'mi gewesen war. Ich konnte nicht einmal dieses Ungeheuer töten, das sich grinsend an unseren Qualen weidete.« Er konnte nicht weiterreden. Er hielt am Straßenrand und barg das Gesicht in den Händen. »Ständig droht er mir, Noe'mi müßte es büßen, wenn ich mich nicht genügend anstrenge, wenn ich versage oder ihn sonstwie verärgere. Er sagte, er wolle sie von anderen Ratten schwängern lassen, damit sie Rattenjunge bekommt, oder sie vivisezieren. Weißt du jetzt, weshalb ich nichts gegen Zaander unternehmen kann und seine Befehle ausführen muß?« Donald Chapman schauderte. Dem dreißig Zentimeter großen Puppenmann tat der riesige Ndoyo leid. Nach einer Weile wischte Ndoyo sich die Augen, putzte sich die Nase und fuhr weiter. »Ich kann nicht davon reden, ohne daß es mich packt«, gestand Ndoyo. »Wenn es einen Gott gibt, dann wird Johan Zaander für seine Schandtaten büßen und in der Hölle brennen. Ich aber muß ihm dienen. Mir bleibt keine andere Wahl.« Die beiden äußerlich so verschiedenen Männer fuhren durch die Nacht, Amsterdam entgegen. Das Schicksal Ndoyos und das Donald Chapmans wies Parallelen auf. Beide waren Opfer von Dämonen, wenn es Ndoyo auch weit schlimmer getroffen hatte als Donald Chapman. Chapman erzählte Ndoyo nun, wie er zu seiner jetzigen Größe gekommen war. Er sprach sachlich; er hatte sich mit seinem Los abfinden müssen. Jammern und Wehklagen halfen nichts. Ndoyo hörte interessiert zu. »Dorian Hunter hat also diesen Roberto Coppello erledigt? Oh, wenn er doch nur auch Johan Zaander zur Strecke brächte! Aber daran glaube ich nicht.« »Er hat jedenfalls bessere Aussichten, wenn du mich laufenläßt«, sagte Donald Chapman beschwörend. »Du brauchst nichts direkt
gegen Zaander zu unternehmen. Du brauchst mir nur die Hände losbinden, rechts ranzufahren und die Autotür aufzumachen.« Ndoyo schüttelte den Kopf. »Zaander würde durch Hypnose und magische Beschwörungen die Wahrheit aus mir herausholen, und dann müßte Noe'mi es büßen.« Er zuckte gequält zusammen. »Nicht einmal daran denken darf ich, dich laufenzulassen, ohne daß mir ein Schmerz durch Mark und Bein fährt. Hassen kann ich Zaander, solange ich will, ihm Böses wünschen und alles mögliche, aber sobald ich an praktische Erwägungen denke, durchzuckt es mich. Er hat in meinem Gehirn eine magische Blockade errichtet. Nein, mein armer kleiner Freund, ich muß dich dem Dämon ausliefern. Mir bleibt keine andere Wahl.« Chapman redete auf Ndoyo noch weiter ein, aber er konnte ihn nicht umstimmen. Sie erreichten Amsterdam, fuhren durch die Stadt und hielten vor der alten halbzerfallenen Villa Johan Zaanders. Ndoyo stieg aus, holte hinter der Mauer den Schlüssel hervor und schloß das eiserne Gittertor auf. Er öffnete es und fuhr den Wagen vor die Villa. Johan Zaander hatte den Wagen kommen hören. Die Außenbeleuchtung ging an. Ndoyo packte Donald Chapman, stieg mit ihm die Stufen zum Eingang empor und trug ihn ins Haus. Johan Zaander erwartete sie in dem modrig riechenden Flur. Der unförmig fette Mann mit dem struppigen, grauen Haarkranz um die leuchtende Glatze grinste teuflisch. Er riß Ndoyo die Geisel aus den Händen. Ndoyo stöhnte, denn Zaander hatte seine verletzte rechte Hand berührt. Zaander fletschte seine gelben Hauer und drehte Donald Chapman hin und her, um ihn von allen Seiten zu betrachten. »Ein schönes Spielzeug hast du mir da mitgebracht, mein guter Ndoyo. Mit dem Kerlchen werde ich feine Experimente anstellen. Doch auch mit dir werde ich mich befassen, mein lieber Freund. Du hast versagt. Du hast Thören Rosqvanas Kopf nicht, Dorian Hunter lebt und diese Coco Zamis gleichfalls. Mir als Ersatz für Rosqvanas Kopf und Hunters Gehirn diesen Zwerg zu präsentieren, ist ein biß-
chen zu wenig, findest du nicht auch?« Ndoyo bebte. Er kannte Zaanders Grausamkeit und Perversität. »Erbarmen, Herr! Ich tat mein Bestes. Die Umstände waren gegen mich.« »Du wirst deiner Strafe nicht entgehen, Ndoyo. Ich habe mir schon etwas für dich ausgedacht.«
Um siebzehn Uhr fuhren Dorian und Marvin Cohen bei der Villa Johan Zaanders vor. Coco Zamis wartete in einem geliehenen Wagen um die Ecke, um im Notfall Hilfe herbeiholen oder eingreifen zu können. Sie konnte über Sprechfunk mit Dorian und Cohen in Verbindung treten. Dorian, dem reichliche Spesengelder zur Verfügung standen, hatte in Amsterdam drei kleine Sprechfunkgeräte gekauft, die man in der Tasche tragen konnte. Er und Marvin Cohen waren mit Pistolen bewaffnet. Sie trugen außerdem silberne Kreuze, Dämonenbanner, Spraydosen mit Weihwasser und geweihte Dolche bei sich. Dorian war äußerst mißtrauisch, was Johan Zaander anging. Er trug die Hutschachtel mit dem Vampirkopf. Thören Rosqvanas Kopf war noch immer in das Knoblauchnetz eingewickelt. Ein verwachsener Buckliger mit langen Affenarmen und Reißzähnen öffnete die Tür der Villa, als Dorian klopfte. »Mijnheer Zaander erwartet Sie«, sagte er mit Grabesstimme. In einem prunkvoll eingerichteten Empfangssaal, der mit kostbaren Stücken aus aller Herren Länder überladen war, trat der Dämon Dorian und Marvin Cohen entgegen. Er gab sich sehr jovial, was seine Abscheulichkeit nicht minderte. Es gab Dämonen, die in ausgesprochen ansprechender und schöner Erscheinung auftraten, aber Johan Zaander war durch und durch widerwärtig. Eine Aura von Grausamkeit verpestete die Atmosphäre dieses Hauses. Selbst der alles andere als sensible Marvin Cohen schauderte. Dorian nahm sein Sprechfunkgerät aus der Tasche und zog die Teleskopantenne aus. »Coco, bitte kommen!« Ein leises Krachen und Knacken, dann meldete sich Coco.
»Wir sind in der Villa Johan Zaanders und haben gerade den Hausherrn begrüßt. Bisher alles in Ordnung. Ich melde mich in spätestens einer Viertelstunde wieder. Ende.« »Verstanden. Ende.« Zaander lachte laut und klatschte sich auf die Schenkel. »Immer vorsichtig. So ist es recht. Darf ich jetzt auch meinen alten Freund Thören Rosqvana begrüßen, meine Herren? Gönnen Sie einem alten Mann die Freude, ein wenig mit einem guten Bekannten zu plaudern.« Dorian öffnete die Hutschachtel und legte den Vampirkopf auf den Tisch. Rosqvana hatte keine Knoblauchzehen im Mund, konnte frei und ungehindert sprechen. Das bucklige Monster, das zuvor die Haustür geöffnet hatte, kam herbeigeschlurft und brachte Wein. Dorian lehnte dankend ab. Er hütete sich davor, bei Zaander etwas zu essen oder zu trinken. Marvin Cohen folgte seinem Beispiel. »Alter Freund Thören!« rief Zaander aus. »Was haben sie mit dir gemacht? Mir scheint, du hast völlig den Kopf verloren, und deinem Körper ist das nicht bekommen. Was für eine schlimme Zeit. Das hätte früher keiner einem Dämon anzutun gewagt.« »Ich brauche einen neuen Körper, Johan. Nur du kannst mir helfen. Ich bin halb wahnsinnig vor Blutdurst. Ich weiß, wir waren in der Vergangenheit nicht immer ein Herz und eine Seele, aber ich bitte dich, vergessen wir unsere Differenzen. Ich will mich in hohem Grade erkenntlich zeigen.« »Thören, ich bitte dich! Wie könnte ich dir jetzt, wo du dich in Not befindest, denn nachtragen, daß du mich der Schwarzen Familie immer als perversen und dekadenten Widerling, der nur an sich und seine Experimente denkt und zu einem Freak gemacht werden sollte, beschrieben hast? Nein, das liegt mir völlig fern. Es wird mir ein Vergnügen sein, dir zu einem neuen Körper, wie du dir keinen besseren wünschen könntest, zu verhelfen. Jung, bärenstark, kerngesund wirst du sein. Na, das läßt sich doch hören, oder?« Rosqvana kannte Zaanders tückische Art. Daß dieser ihn auf ihre Feindschaft hinwies, machte ihm Sorgen. »Wenn du mir hilfst, will
ich dir auch helfen. Du weißt, ich habe einigen Einfluß. Schließlich bin ich der Ziehvater und Lehrmeister der Dämonen-Drillinge. Mein Wort hat Gewicht in der Schwarzen Familie.« Er trug mit Absicht dick auf. »Deswegen geht es dir auch so prächtig«, sagte Zaander bissig. »Verlieren wir nicht noch mehr Zeit mit Reden, alter Freund. Komm, dein neuer Körper wartet.« Er wandte sich an Dorian und Marvin Cohen. »Die Herren haben sicher Interesse daran, meine bescheidenen Forschungsstätten zu besichtigen. Ich transplantiere gern ein wenig und ich habe ein paar recht interessante Kreaturen geschaffen. Kommen Sie! Sie werden Dinge erblicken, die Sie vielleicht nie mehr zu sehen bekommen.« Plaudernd führte Zaander seine Besucher in den Keller. Der Vampirkopf, vom Netz mit den Knoblauchblüten befreit, schwebte neben dem unförmigen Dämon her. Zaander ließ die Wandnische aufgleiten. Dorian gab eine Meldung an Coco durch. »Dringen in unterirdische Räume vor. Falls du bis in spätestens einer Stunde keine Meldung von mir hast, weißt du, was du tun mußt. Alles klar?« »Klar. Verstanden. Ende.« Dorian, Marvin Cohen und der Vampirkopf folgten Johan Zaander in sein unterirdisches Schreckenskabinett. Dorian hatte, seit er sein Leben der Bekämpfung der Dämonen und bösen, übernatürlichen Mächte gewidmet hatte, schon allerlei erlebt und gesehen, doch so etwas wie die unterirdischen Räumlichkeiten des Professor Zaander noch nicht. Hier nisteten Grauen, Verzweiflung; hier regierten dämonische Bosheit, Horror und Blasphemie. In der Mitte des saalartigen Raumes standen zwei Operationstische und Labortische mit allerlei medizinischen und chemischen Apparaten und Geräten. Grelle Neonröhren beleuchteten die Szenerie. Es gab Instrumentenschränke, Regale mit allerlei Flaschen, Kolben und Schautafeln der menschlichen und tierischen Anatomie und Tafeln mit magischen Zeichen und skizzierten Beschwörungsformeln. Johan Zaander war bestens eingerichtet. Dorian sah eine Herz-
Lungen-Maschine, ein Sauerstoffzelt und einen Röntgenapparat. Doch was mit Hilfe dieser modernen technischen Einrichtung geschaffen worden war, entsetzte Dorian. Johan Zaander deutete mit grober Geste auf die vergitterten Zellen und Käfige an der Wand. »Meine Kinder«, sagte er. »Sind sie nicht prächtig gediehen?« Die »Kinder« klagten, jammerten und schrien, als die drei Männer und der Vampirkopf hereinkamen. In den Käfigen saßen scheußliche Monstren, aus mehreren Arten zusammengefügte Tiere mit zwei, drei und sogar vier verschiedenen Köpfen. Ein nackter Mann ohne Kopf rüttelte an den Gitterstäben seiner Zelle. In der Zelle neben ihm saß ein Geschöpf am Boden, das den Körper eines bildhübschen jungen Mädchens und den Kopf eines männlichen Greises hatte. Bei einem anderen Mann waren Haut und Fleisch entfernt worden, so daß die Innereien zwischen den Knochen freilagen; eine dünne sphärische Schicht umgab sie und hielt sie offensichtlich zusammen. Andere unglückliche Menschen hatte Zaander mit Tieren gekreuzt. So stand ein Mann mit einem Stierkopf in einer der Zellen, und eine Ziege hatte den Kopf einer Frau mit langen blonden Haaren auf dem Hals sitzen. An ein Lebenserhaltungssystem waren verschiedene Männer- und Frauenköpfe angeschlossen. Sie verfluchten Zaander, der nur grinste. In einem kleinen Käfig, der von der Decke herabbaumelte, saß eine weiße weibliche Ratte. Sie quiekte aufgeregt. Und nahe der Tür war ein Verschlag, in dem ein auf den ersten Blick völlig normales Schwein untergebracht war. »Was ist mit diesem Schwein?« fragte Dorian, als er den ersten Schock überwunden hatte. »Haben Sie mit ihm auch ein Experiment vorgenommen, Professor?« Das Schwein begann zu reden. Es hatte eine Frauenstimme. »Ich bin Johanna Almaar, die berühmte Sängerin. Dieses Ungeheuer, das sich Johan Zaander nennt, hat mein Gehirn in den Körper dieses Schweines transplantiert, weil ich mich nicht mit ihm einlassen wollte. Ich verfluche dich, Johan Zaander, alle Tage des schrecklichen Daseins, das du mir beschert hast, verfluche und verdamme ich dich!«
»Aber schönste Johanna«, höhnte der Dämon, »wer wird denn so nachtragend sein? Du hast hier doch alles, was du brauchst. Oder war dir die Kleie heute wieder zu fett?« Er wandte sich Dorian Hunter und Marvin Cohen zu. »Die Gehirntransplantation war nicht so schwierig, aber dem Schwein die menschliche Sprache zu ermöglichen, das war ein Meisterwerk.« Dorian wäre am liebsten mit Silberkugeln, Kreuz und Weihwasser auf Zaander losgegangen und Cohen ging es genauso; nur der Vampirkopf war völlig unbeeindruckt von all den Greueln und Schrecken. Als hätte Zaander Dorians Gedanken erraten, rief er einen knappen Befehl. Sofort quollen aus mehreren verborgenen Türen in der Wand unheimliche Geschöpfe. Es waren größtenteils halbdämonische Wesen. Auch bei ihnen hatte Johan Zaander das Experimentieren nicht lassen können. Es gab Monstren mit grünen, schwarzen und grauen Schuppenkörpern, die Raubtier-, Schlangen- und Alligatorenköpfe hatten. Ein Monstrum hatte zwei Wolfsköpfe, und allesamt hatten sie Klauen an Händen und Füßen und lange Reißzähne. Ein Wolfsdämon knurrte Dorian böse an. Er sah schrecklich aus mit seinem schwarzbehaarten Körper und seinem bösartigen Wolfskopf. Mit diesen dämonischen Monstren waren abscheuliche, schleimige, stinkende Wesen hereingekommen, die ihre Form veränderten und grünlich leuchteten oder phosphoreszierten. Sie hatten Papageienschnäbel – übergroß und scharfkantig – und konnten Glieder und Krallen bilden. Außerdem hatte Johan Zaander sie mit menschlichen Körperteilen und Extremitäten versehen. Da war ein Gallertklumpen, aus dem oben blonde Frauenhaare wuchsen und der weibliche Brüste und Arme hatte, zudem einen übergroßen, gefährlich aussehenden Hackschnabel und unten Polypenarme. Ein spinnenartiges Monster hatte über seinen Freßwerkzeugen den Kopf eines ernst dreinschauenden grauhaarigen, bärtigen Mannes sitzen. Der Spinnenmann sagte mit volltönender Stimme: »Brauchen Sie Hilfe, Professor? Ihre Garde steht für Sie bereit.« Zaander schüttelte den Kopf. An den Vampirkopf gewandt sagte
er: »Ich dürfte der einzige sein, dem es gelungen ist, Transplantationen an Dämonen und Monstern vorzunehmen. Leider mußte ich mich bisher mit Dämonen niederer Herkunft begnügen, aber jetzt bist ja du da, lieber Thören.« Rosqvana sah die gräßlichen Erscheinungen an und fragte mißtrauisch: »Welchen Körper hast du mir denn zugedacht, Johan? Ich bin sehr beeindruckt von dem, was du erreicht hast. Du bist ein hervorragender Meister deines Metiers, mehr noch, ein Genius bist du.« »Mach dir nur keine Sorgen, alter Freund. Ndoyo, wo steckst du?« Eine Tür im Hintergrund öffnete sich. Ndoyo war nackt bis auf einen Lendenschurz. Seine Augen starrten glasig drein. Er war in Trance. Langsam kam er näher und schritt durch den Ring der etwa dreißig Dämonen und Monstren. Die weiße Ratte in dem von der Decke herabbaumelnden Käfig raste wie verrückt umher, als sie Ndoyo sah. Mit einem herrischen Befehl brachte Johan Zaander alles rundum zum Verstummen. »Das ist ein Spenderkörper, Thören. Er hat versagt, und deshalb soll er zur Strafe dir seinen Körper zur Verfügung stellen. Komm jetzt mit nach nebenan, damit ich die Transplantation vornehmen kann. Es ist alles vorbereitet.« »Einen Augenblick!« sagte Dorian. »Sie glauben doch nicht etwa, wir lassen Sie beide gehen und bleiben allein hier mit diesen Ungeheuern zurück? Ich bin doch nicht verrückt.« Zaander grinste mit der rechten Gesichtshälfte. »Es gibt noch mehr Räumlichkeiten hier, Mr. Hunter. Machen Sie es sich nebenan bequem. Dort habe ich mir einen netten Aufenthaltsraum eingerichtet.« »Wir ziehen es vor, oben in der Villa zu warten, wenn Sie nichts dagegen haben.« Dorian umklammerte Dolch- und Pistolengriff, bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Zaander führte eine Teufelei im Schilde, davon war Dorian überzeugt. »Ihre Katakomben sind nichts für schwache Nerven, Professor.« »Aber mein lieber Mr. Hunter, Sie werden doch vor meinen Kinderchen keine Angst haben? Sie sind alle völlig harmlos, das versi-
chere ich Ihnen. Nie würden sie es wagen, einem meiner Gäste auch nur ein Haar zu krümmen.« »Hier bleibe ich keine Minute länger«, rief Cohen, dem der Schweiß auf der Stirn stand. »Wenn mir eines von diesen Ungeheuern zu nahe auf den Pelz rückt, schieße ich sofort.« Mit zitternder Hand tastete Cohen nach dem silbernen Kreuz in der Tasche. Ein grüner Schleimball, der auf vier menschlichen Beinen stand und ein klaffendes, schwärzliches Loch in der Körpermitte hatte, lachte so gellend und höhnisch, daß Cohen zusammenzuckte. »Nun gut. Warten Sie oben«, sagte Zaander amüsiert. »Die anderen Räumlichkeiten rundum werden Sie kaum interessieren. Ich benutze sie als Lagerräume und Unterkünfte für Versuchsobjekte. Skriilack wird Sie nach oben bringen. Ich muß Sie bitten, den Raum nicht zu verlassen, in den er Sie führen wird, und keinerlei Schwierigkeiten zu machen. Sie werden überwacht, wofür Sie sicher Verständnis haben werden. Also tun Sie nichts, was ich als Affront auslegen müßte. In anderthalb Stunden etwa wird mein alter Freund Thören mit einem neuen Körper aufwarten können.« Die widerliche schleimige Spinne mit dem moosgrünen Leib und dem Menschenkopf huschte vor Dorian und Marvin Cohen her zur Tür. Dorian warf über die Schulter einen letzten Blick zurück auf die Dämonen, Monstren und Schreckensgeschöpfe, ehe er den großen unterirdischen Raum verließ. Ndoyo stand inmitten der Ungeheuer. Die weiße Ratte über seinem Kopf streckte durch die Gitterstäbe des Käfigs die Vorderpfoten nach ihm aus. Zaander gab dem Käfig einen Stoß, daß er hin und her schwang. »Wenn dein Vater an der Reihe war, bereite ich für dich auch etwas vor, Noe'mie«, versprach er höhnisch lachend. »Etwas ganz Besonderes. Du wirst deine Freude daran haben.« Dorian konnte den Sinn dieser Worte nicht verstehen. Er war froh, als er die unterirdischen Räume verlassen und durch den verrotteten Weinkeller nach oben in die Villa zurückkehren konnte. Der Spinnenmann führte sie in eine altertümlich eingerichtete, muffige Kammer. Als erstes machte Dorian eine Meldung an Coco und teilte
ihr mit, Zaander habe mit der Transplantation des Vampirkopfes auf einen Spenderkörper begonnen. Dorian wollte sich zu jeder vollen Stunde wieder melden. Marvin Cohen saß wie erschlagen in einem Plüschsessel und steckte sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Sein Gesicht war so bleich wie ein faulender Schafskäse. Vor der Tür warteten stumm und reglos der Spinnenmann und der Bucklige mit den Reißzähnen. »Wünschen Sie irgend etwas?« fragte der Bucklige. »Zu essen, zu trinken, zu rauchen oder Unterhaltung?« Dorian schüttelte den Kopf. Endlos langsam verging die Zeit. Dorian lauerte und lauschte nach allen Richtungen. Er war in erster Linie hinter dem goldenen Drudenfuß und den Dämonen-Drillingen her. Um an beides heranzukommen, mußte er kurzfristig eine Art Pakt mit Dämonen wie Johan Zaander und Thören Rosqvana eingehen; er mußte kleinere Übel in Kauf nehmen, um die großen Übel beseitigen zu können. Doch der Dämonenkiller würde die Pestbeule nicht vergessen, die sich um den Dämon Johan Zaander gebildet hatte. Er nahm sich vor, das Grauen im Schreckenskabinett des Professor Zaander zu beenden, sobald sich eine Möglichkeit dazu ergab. Seine Gedanken schweiften ab zu dem, was jetzt in den Räumen des unterirdischen Schreckenslabors geschah. Aus Ndoyos Körper und Thören Rosqvanas Kopf entstand ein neues Ungeheuer, ein Vampir. Dorian hörte Schritte draußen auf dem Flur. Johan Zaander trat ein. Sein eines Auge funkelte triumphierend und boshaft. »Die Transplantation ist gelungen. Thören Rosqvana hat einen neuen Körper – wie ich es ihm versprochen habe. Sehen Sie selbst! Was halten Sie von meinem Werk?« Eine Bahre wurde von zwei Schreckensgestalten hereingetragen. Eine verhüllte Gestalt lag darauf. Ihr Kopf war merkwürdig breit und äußerst formlos. Auf ein Zeichen Professor Zaanders hin wurden die Decken weggezogen. Dorian glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Johan Zaander hatte tatsächlich Thören Rosqvanas Vampirkopf auf den Rumpf Ndoyos
verpflanzt. Aber er hatte Ndoyos Kopf nicht entfernt. Es befanden sich jetzt zwei Schädel auf dem Hals des Mannes. Rosqvanas Kopf saß auf der linken Seite neben dem Ndoyos. Die Augen beider Köpfe waren geschlossen, die Brust des Schwarzen hob und senkte sich regelmäßig. Johan Zaander hatte eine medizinische und magische Meisterleistung vollbracht. Er hatte Ndoyos Kopf etwas nach rechts versetzt und so für den Vampirkopf Thören Rosqvanas Platz geschaffen. Auf magische Weise hatte er die Operationswunden schon verheilen lassen. Der Dämon schnalzte mit den Fingern, rief ein Wort in einer fremden Sprache und fügte mit donnernder Stimme hinzu: »Aufwachen!« Der Doppelkopf-Vampir öffnete seine vier Augen und setzte sich auf. Alle vier Augen sahen Johan Zaander an. Die beiden Köpfe hatten noch nicht mitbekommen, was geschehen war. Zaander lachte teuflisch. »Thören Rosqvana, alter Freund, wie bist du mit deinem neuen Körper zufrieden? Und du, mein guter Ndoyo, bist du mir nicht unbeschreiblich dankbar, daß ich dich doch am Leben gelassen habe?« Die beiden Köpfe sahen sich an. Deutlich war das Erschrecken im Gesicht des Menschen und des Vampirs zu erkennen, der Schock und das fassungslose Grauen. »Nein!« heulte Ndoyo, und »Nein!« schrie auch Thören Rosqvana. Der Doppelkopf-Vampir sprang auf. »Mach das sofort wieder rückgängig!« schrie Rosqvana. »Ich will einen anderen Körper haben, einen für mich allein, ohne zweiten Kopf!« »Ich will nicht meinen Körper mit diesem Ungeheuer teilen!« brüllte Ndoyo. »Tötet mich, Herr, aber mutet mir nicht dieses Schicksal zu!« Johan Zaander brüllte vor Lachen. »Was wollt ihr denn eigentlich, ihr beiden? Du hast einen neuen Körper, Thören, und dir sollte es eine Ehre sein, einen Dämonenkopf mit dir herumtragen zu dürfen, Ndoyo. Denk doch nur, was du alles von ihm lernen kannst!« Die beiden Köpfe auf dem herkulischen Rumpf des Schwarzen sa-
hen sich in die Augen. Einer verabscheute den anderen, das war klar zu erkennen. Sie rangen um die Vorherrschaft über den Körper. Er konnte nur einem Willen gehorchen, das hatte Johan Zaander so eingerichtet. Rosqvana war ein Dämon und hatte übernatürliche Kräfte, aber Ndoyo besaß den Körper schon seit fast dreißig Jahren und hatte ihn mehr und besser in der Gewalt als Rosqvana, der sich zuerst einmal an ihn gewöhnen mußte. Ein mörderisches Duell entbrannte, gleich furchtbar für Zuschauer und Akteure. Zaander lachte nicht mehr laut, er kicherte vergnügt angesichts der Qualen des von ihm geschaffenen Monstrums. Ndoyo hob eine Hand, und Rosqvana ließ sie wieder sinken. Der Doppelkopf-Vampir torkelte wie betrunken umher, die beiden Köpfe stöhnten und ächzten. »Na, wie sind Sie mit meinem Werk zufrieden, meine Herren?« fragte Zaander Dorian Hunter und Marvin Cohen. »So habe ich mir das nicht vorgestellt«, rief Hunter. »Sie müssen den Verstand verloren haben, Zaander. Sehen Sie zu, daß Sie diese Teufelei wieder rückgängig machen!« Ndoyo war der sklavische Diener und Gehilfe des Dämonen. Doch mit einem solch satanischen Experiment hatte Dorian nicht gerechnet. Er billigte ganz und gar nicht, was Zaander gemacht hatte. »Ich habe getan, was von mir verlangt wurde«, sagte Zaander und rieb sich die Hände. »Die Machart müssen Sie schon mir überlassen, Mr. Hunter. Empfehle mich bestens. Wenn Sie einmal einen anderen Körper brauchen oder sonst etwas an sich verändert haben wollen, kommen Sie jederzeit zu mir. Johan Zaander steht Ihnen immer zur Verfügung.« Dorian hätte dem fetten Ungeheuer am liebsten ins Gesicht geschlagen, doch wie sollte er es anstellen, Zaander dazu zu bringen, die teuflische Transplantation rückgängig zu machen? Der Doppelkopf-Vampir begann zu rasen. Ndoyo hatte im Moment die Oberhand über den Körper gewonnen. Er versuchte Rosqvanas Kopf zu würgen. Aber so viel Gewalt hatte Rosqvana immerhin über den Körper, daß er das verhindern konnte. Ndoyo drehte nun völlig durch. Brüllend zerschlug er die Möbel, warf
schwere Sessel aus dem Fenster und fegte Marvin Cohen, der ihm im Weg stand, mit einem kräftigen Faustschlag zur Seite. Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich auf Johan Zaander. Der wich erschrocken zurück. Die Transplantation hatte einige Veränderungen herbeigeführt; der hypnotisch-magische Bann hielt Ndoyo nicht mehr zurück, seinen Herrn anzugreifen. »Garde!« schrie Zaander. »Zu Hilfe!« Der Spinnenmann und der Bucklige stürzten ins Zimmer. Die beiden Monstren, die den Doppelkopf-Vampir hereingetragen hatten, griffen ihn an. Ndoyos Arme wirbelten wie Dreschflegel durch die Luft. Er packte das grünliche Monstrum mit zischendem Schlangenkopf und warf es gegen die Wand. Ein herbeigeeiltes Ungeheuer mit Alligatorenkopf verbiß sich in Ndoyos rechtem Arm, die Freßwerkzeuge des Spinnenmannes bohrten sich in sein Bein, die Giftzangen des Spinnenmonsters sonderten ihr Sekret ab. Dorian Hunter griff ein. Er brauchte Thören Rosqvanas Kopf noch; er mußte ihm wohl über übel beistehen. Er zog den 38er Smith & Wesson aus der Schulterhalfter und feuerte dem Spinnenmonster drei Silberkugeln in den Leib. Das Ungeheuer zuckte zusammen. Marvin Cohen riß den geweihten Dolch aus der Scheide unter dem Jackett und stieß ihn bis zum Heft in den graubärtigen Männerkopf, der auf dem schleimigen, moosgrünen Spinnenkörper saß. Das Monstrum ließ von Ndoyo ab und fiel in sich zusammen. Ndoyo drosch dem Monstrum mit dem Alligatorenschädel die linke Faust zwischen die Augen, daß es niederstürzte. Das Schlangenmonstrum und der Bucklige mit den Reißzähnen drangen auf den Doppelkopf-Vampir ein. Dorian schoß dem verwachsenen Buckligen eine Kugel zwischen die Augen; er stürzte nieder und blieb reglos liegen. Aber da kamen die übrigen Monstren des Professor Zaander ihrem Herrn und Meister zu Hilfe. Sie quollen förmlich den Gang entlang und drängten ins Zimmer. Manche brüllten, andere pfiffen und quiekten hoch und schrill, wieder andere gaben gurgelnde, blubbernde Geräusche von sich.
»Flieh, du Narr!« schrie der Vampirkopf Ndoyo ins Ohr. Dieser löste den Blick von den herandrängenden Schreckensgebilden. Sein Kopf ruckte herum zum geschlossenen Fenster. Er versetzte dem Schlangenmonster, das mit seinen Klauen das Fleisch auf seiner Brust zerfetzte, einen Fußtritt, der es durch die Tür zwischen die Horrorkreaturen warf. Der Doppelkopf-Vampir rannte zum Fenster und sprang durch die geschlossene Scheibe. In einem Regen von Glasscherben landete er draußen im verwahrlosten Garten. Er rannte davon und verschwand in der Dunkelheit. Es war schon nach neunzehn Uhr dreißig und November. Nebelschwaden hingen zwischen den Büschen und Sträuchern des Gartens. Einen Augenblick lang sah man noch die Gestalt des Doppelkopf-Vampirs wie einen Scherenschnitt, als er die Mauer überkletterte, dann war er weg. »Packt diese beiden!« schrie Johan Zaander und hetzte seine Schreckenskreaturen auf Hunter und Cohen. »Los, Cohen, aus dem Fenster!« schrie Dorian. Er schoß seinen Revolver auf die angreifenden Monstren ab, schleuderte Zaander sein Silberkreuz ins Gesicht und schlug mit dem scharfen Krummdolch um sich. Die ins Zimmer drängenden Monstren behinderten sich gegenseitig. Cohen sprang aus dem Fenster und Dorian hinterher; er machte eine Hechtrolle auf dem Boden und schoß gleich wieder in die Höhe. Ein Monster mit einem Jaguarkopf landete geschmeidig neben ihm. Dorian riß den Vampirpflock aus der Tasche und bohrte ihn dem Ungeheuer ins linke Auge. Cohen rannte zum Wagen, warf sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Dorian konnte gerade noch den Türschlag aufreißen und in den Wagen springen, denn Cohen wäre auch ohne ihn losgebraust. Der silbergraue Bentley fegte mit aufheulendem Motor zum Tor. Eine gelbgrüne Gallertmasse stellte sich ihm entgegen, bildete ein Maul und streckte Tentakel mit Hornhaken aus. Der Kühler des Bentley fegte das Ungeheuer seitlich in die Büsche. Das eiserne Gittertor war geschlossen, doch Cohen kümmerte sich nicht darum. Er
trat das Gaspedal durch. Es gab einen Krach und die Torflügel flogen auf. Der Bentley schoß auf die Straße hinaus, wo er mit quietschenden Reifen wendete und davonraste. Zwei Seitenstraßen weiter stoppte Marvin Cohen den Bentley neben dem roten VW, in dem Coco Zamis saß. Dorian stieg aus, und Coco kurbelte die Scheibe herunter. »Was ist los? Ihr seht aus, als sei der Teufel hinter euch her.« »Die ganze Brut eines Teufels wollte uns an den Kragen.« Er schilderte ihr mit knappen Worten, was geschehen war. »Wir müssen das doppelköpfige Monstrum finden, das Zaander geschaffen hat. Rosqvana muß mir verraten, wo ich den goldenen Drudenfuß finden kann und wo die Dämonen-Drillinge sind.« »Ob er jetzt noch dazu bereit ist?« zweifelte Coco. »Er sollte einen neuen Körper erhalten, aber nicht auf diese Weise. Er wird sich an die Abmachung nicht mehr gebunden fühlen.« »Irgendwie werde ich ihn zum Reden bringen«, sagte Dorian entschlossen. »Aber dazu muß er erst einmal her. Wir suchen die Gegend hier ab. Er kann nicht weit sein. Ein zwei Meter großer Farbiger mit zwei Köpfen, zudem nur mit einem Lendenschurz bekleidet, dürfte nicht zu übersehen sein.« Dorian, Marvin Cohen und Coco Zamis fuhren durch die Gegend, doch der Doppelkopf-Vampir war wie vom Erdboden verschluckt.
Die alte Villa Professor Zaanders lag in einem stillen Vorort. Hier standen hauptsächlich ältere Häuser mit großen Gärten in engen, winkligen Straßen. In einer Gartenhütte hatte sich der DoppelkopfVampir verkrochen. Ndoyo lag stöhnend auf einer alten Liege. Er hatte furchtbare Schmerzen. Eine halbe Stunde war vergangen, seit er aus der Villa des Professors entflohen war. Johan Zaander hatte sich offensichtlich die magische Puppe vorgenommen, die Blut und Haare Ndoyos enthielt, und folterte sie, um ihn zu quälen. Er legte auf die Rückkehr und die weiteren Dienste Ndoyos keinen Wert mehr; er wollte ihn martern und mit ihm auch Thören Rosqvana, der wie Ndoyo
alle Schmerzen und Qualen spürte. »Laß mich gewähren!« sagte er mit gequälter Stimme zu Ndoyo. »Ich kann den magischen Bann abschütteln.« »Von dir Ungeheuer will ich keine Hilfe«, stieß Ndoyo hervor. »Laß mich in Ruhe!« Auch die Wunden vom Kampf mit den Monstren Professor Zaanders schmerzten. Das Spinnengift raste feurig durch die Adern. Die Qualen wurden immer schlimmer. Die beiden Köpfe bissen vor Schmerzen ins Polster der Liege. »Also gut«, ächzte Ndoyo schließlich, als er es nicht mehr länger aushielt. »Sieh zu, was du ausrichten kannst. Aber verschone mich mit dämonischem Zauber!« Er überließ Rosqvana die Gewalt über den Körper. Der Vampir begann eine Beschwörung. Er sagte Zauberformeln und magische Beschwörungen auf, beschrieb mit den Händen und Fingern magische Zeichen und machte Gesten und Gebärden, die äußerst kompliziert waren. Schweiß strömte über die Gesichter Rosqvanas und Ndoyos. Der Vampirkopf wollte in den rechten Arm beißen. »Untersteh dich!« drohte Ndoyo. Er ließ den Arm wieder sinken und drückte ihn aus der Reichweite Rosqvanas. »Dummkopf! Ich muß dreimal Blut ausspucken, um die magischen Riten zu Ende zu führen.« Ein gutes Stück entfernt bearbeitete Jahan Zaander die magische Puppe mit einem Bunsenbrenner. Die furchtbaren Schmerzen ließen Ndoyo jegliche Zurückhaltung vergessen. Rosqvana biß in den linken Unterarm, spuckte dreimal Blut über die linke Schulter und schrie das erlösende Wort. »Absarka!« Die Schmerzen hörten abrupt auf. Schweißüberströmt sahen sich die beiden Köpfe an. Während der Herzschlag ihres Körpers sich beruhigte, während sie allmählich wieder zu Atem kamen, begriffen sie, daß sie unauflöslich zusammengehörten, daß sie aneinandergekettet waren. Johan Zaanders teuflische Kunst hatte sie so eng und intim miteinander verbunden, wie es überhaupt nur möglich war.
»Wir können hier nicht ewig bleiben«, sagte Rosqvana. »Das weiß ich«, antwortete Ndoyo. »Aber wohin sollen wir gehen? Eine Erscheinung wie die unsere kann sich nirgends sehen lassen. Du bist doch ein Dämon, Rosqvana. Kannst du nicht deinen Kopf von diesem Körper durch Magie oder Zauber entfernen und dir jemand suchen, der dir einen neuen Körper verschafft?« »Wenn ich einen Kopf von diesem Körper wegzaubern könnte, dann wäre es deiner«, knurrte Rosqvana. »Aber es steht nicht in meiner Macht.« Es paßte ihm nicht, daß der Schwarze so vertraulich mit ihm redete. Er hätte Ndoyo lieber als seinen Diener und Sklaven gesehen. Doch das mußte er sich aus dem Kopf schlagen; da er und Ndoyo einen Körper hatten, konnte er ihn nicht in einen magischen Bann schlagen oder behexen. Es war eine vertrackte Situation. Ndoyo und Thören Rosqvana unterhielten sich eine Weile. Ndoyo erfuhr, daß Zaander ihm fortan nichts mehr anhaben konnte; er war durch die Beschwörung gegen seinen Zauber und seine Magie immun geworden. Rosqvana wiederum erfuhr, daß Ndoyo eine Menge über seinen früheren Herrn und Meister wußte, mehr, als Zaander lieb sein konnte. Plötzlich röchelten beide Köpfe nach Luft. Ihr Herz pochte wie rasend. Rosqvanas Beschwörungen hatten den Körper von den Schmerzen erlöst, aber das Spinnengift wirkte weiter; es griff den Kreislauf an. »Das Gift!« röchelte Ndoyo. »Hilf uns, Rosqvana!« »Wie dumm, daß ich das nicht gleich getan habe«, sagte der Vampir. »Ich bin eben völlig durcheinander.« Wieder begann er mit seinen Beschwörungsriten. Das Herzklopfen verschwand, der Körper und mit ihm die beiden Köpfe fühlten sich wieder wohl. Die Wunden am Bein und am Arm, die der Schwarze im Kampf mit den Monstren davongetragen hatte, schlossen sich, und kurze Zeit später waren die Haut und das Fleisch wieder glatt, als hätte es nie eine Verletzung gegeben; nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben. Plötzlich klangen draußen Geräusche auf. »Ich sage dir, ich habe im Gartenhäuschen Geräusche gehört«, sag-
te eine tiefe Männerstimme. »Vielleicht sind es Einbrecher.« »Oder ein Liebespärchen«, sagte eine zweite Stimme. »Na, wollen mal nachsehen.« Eine dritte Stimme, offenbar die eines noch recht jungen Mannes, meinte kichernd: »Hoffentlich stören wir sie nicht in voller Aktion. Wenn das Mutter erfährt, daß unser Gartenhäuschen als Absteige mißbraucht worden ist, bekommt sie einen Anfall.« »Rede nicht so über deine Mutter, Klaas!« Eine Taschenlampe leuchtete auf. »Was sage ich euch, das Vorhängeschloß ist aufgebrochen.« Der Doppelkopf-Vampir erhob sich von der Liege. Nur ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch das Fenster herein. Der Vampir ging zu dem kleinen Verschlag, in dem die Gartengeräte aufbewahrt wurden. Er öffnete die Tür des kleinen Nebenraumes und trat ein. Dabei stieß er an einen Rechen, der auf dem Boden lag. Der Rechen schnellte hoch und schlug Rosqvana ins Gesicht. »Pest und Hölle!« fluchte der Vampir. In der Dunkelheit warf der Doppelkopf-Vampir polternd ein paar Gartengeräte um. Damit war sein Vorhaben, sich in dem Verschlag zu verstecken, um den drei Männern draußen zu entgehen, gründlich vereitelt. »Es ist jemand drin!« rief man draußen. »Ich habe es euch gleich gesagt. Ich war ganz sicher, Stimmen gehört zu haben.« Die drei Männer betraten das Gartenhäuschen. Einer entzündete die Öllampe, die von der Decke hing. Es waren ein etwa fünfzigjähriger kräftiger Mann, sein sechzigjähriger Onkel und sein siebzehnjähriger Sohn. Der Vater und der Onkel trugen Holzschuhe. Der Junge hielt die Taschenlampe, die beiden älteren Männer hatten einen Axtstiel und einen derben Knotenstock in den Händen. Der Junge riß die Tür des Verschlages auf und leuchtete hinein. Mit einem Aufschrei fuhr er zurück. »Da drinnen ist ein Ungeheuer, Vater. Es hat zwei Köpfe.« »Du spinnst wohl, was? Gib mir mal die Taschenlampe!« Der kräftige Mann leuchtete in den Verschlag. Der Sechzigjährige stellte sich neben ihn. Der Lichtkegel der Taschenlampe entriß den
Doppelkopf-Vampir der Dunkelheit. »Das gibt es doch nicht!« sagte der grauhaarige Onkel. »Siehst du, was ich sehe, Pieter? Ich habe beim Fernsehen doch nur zwei Flaschen Bier getrunken.« »Tatsächlich«, sagte der kräftige Pieter erschüttert. »He, du da, was machst du hier?« Der Körper mit den zwei Köpfen reagierte auf Ndoyos Geheiß. Er wollte sich an den beiden Männern vorbeidrängen und das Weite suchen. Als er auf die Männer zukam, legten sie es als Angriff aus. Der Knotenstock und der Axtstiel sausten nieder. Doch so leicht war der Doppelkopf-Vampir nicht kleinzukriegen. Die muskulösen schwarzen Arme sausten durch die Luft. Dem bärenstarken Körper waren die beiden Männer nicht gewachsen. Der Doppelkopf-Vampir mußte ein paar Schläge hinnehmen, aber dann hatte er beide Männer niedergestreckt. Der Junge floh schreiend. Thören Rosqvanas Augen glühten vor Gier. Der Vampir sah auf die beiden Männer nieder, bewußtlos der eine, halb bewußtlos der andere. Er spürte das warme, pulsierende Blut in ihrem Körper, den köstlichen Lebenssaft, den er so dringend brauchte. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn von seinem furchtbaren Hunger abgelenkt, doch nun war die Gier wieder da, stärker als zuvor. Ndoyo paßte nicht genau auf, und der Vampir brachte den Körper dazu, sich über den bewußtlosen Pieter zu beugen. Die Vampirzähne näherten sich der Halsschlagader des kräftigen Mannes. Als Rosqvana bebend vor Gier zubeißen wollte, merkte Ndoyo, was vorging. Er richtete den Körper auf. Rosqvana fauchte ihn an. »Ich brauche Blut! Ich werde wahnsinnig vor Hunger! Ich will Blut, Blut, Blut!« »Das ist immer noch mein Körper, auch wenn er jetzt zwei Köpfe hat«, sagte Ndoyo. »Solange ich es verhindern kann, wird er nicht zum Blutsaugen mißbraucht.« Rosqvana tobte, fauchte und spuckte, schrie Beschwörungen und Zauberformeln gegen Ndoyo, die diesem aber nichts anhaben konnten. Im Garten bei den Häusern wurden unterdessen Stimmen laut. Ein
Hund bellte, andere schlossen sich ihm an. Männer kamen mit Lampen und Knüppeln herbeigerannt. Der Doppelkopf-Vampir vergaß seinen Streit. Er flüchtete aus der Gartenhütte zum hinteren Gartenzaun. »Dort läuft er!« schrie der junge Klaas. »Er hat Vater und Onkel Willem überfallen!« Eine Schrotflinte krachte los. Der Doppelkopf-Vampir spürte die Schrotkugeln im Rücken und in der Hinterbacke. Zwei Schäferhunde hetzten kläffend hinter ihm her. Einer verbiß sich im Bein des Doppelkopf-Vampirs, als dieser gerade über den Zaun stieg. Rosqvana schrie eine Beschwörung, und aufjaulend flohen die Hunde. Schreiend kamen die Männer näher. Der Doppelkopf-Vampir stieg über ein paar Zäune, lief dunkle Wege entlang und erreichte schließlich keuchend einen Neubau. Die Verfolger hatte er abgeschüttelt. In einem der leeren Neubauräume setzte er sich auf einen Zementsack nieder. Rosqvana heilte die Wunden mit Beschwörungen und magischer Kraft. »Wir holen uns den Tod, wenn wir bei dieser Kälte herumlaufen«, sagte Ndoyo. Er klapperte mit den Zähnen. »Das sind ein paar Grad unter Null. Wo ich herkomme, ist es das ganze Jahr warm.« »Laß mich nur machen«, sagte Rosqvana. Er sprach ein paar weitere Beschwörungen, malte Zeichen und Linien auf den Körper, und ihnen wurde warm. »Das lasse ich mir gefallen«, sagte Ndoyo, »aber mit dem Blutsaugen wird es nichts. Nicht, solange du auf meinem Körper sitzt.« »Was heißt hier dein Körper? Es ist genausogut mein Körper.« Die beiden schrien sich an und beschimpften sich wieder. Sie konnten einander nichts anhaben, aber sie mußten ihren Haß abreagieren. »Du Blutsäufer!« schrie Ndoyo. »Du elender Dämon! Du untote Höllenbrut!« »Sterblicher Wurm!« hallte es zurück. Nachdem die beiden eine Weile gestritten hatten, verstummten sie. Der Doppelkopf-Vampir saß da. Die beiden Köpfe sahen sich nicht an. Eine halbe Stunde fiel kein Wort.
»Ewig können wir auch hier nicht bleiben«, sagte Ndoyo endlich mürrisch. »Hier in der Nähe hat ein Spediteur seine Wohnung, der manchmal für Zaander geheime Transporte durchführt. Er ist alleinstehend. In seiner Wohnung könnten wir Zuflucht finden. Kannst du ihn mit deiner Magie dazu bringen, daß er uns nicht verrät und nichts gegen uns unternimmt?« »Das ist leicht«, antwortete Rosqvana. »Machen wir uns auf den Weg.« Der Doppelkopf-Vampir verließ den Neubau. Er befand sich in einem Vorort, in dem es viele Firmen und nur wenige Wohnhäuser gab. Als aus einem plötzlich und unverhofft ein Mann trat und den Doppelkopf-Vampir sah, schlug dieser ihn nieder, nahm dem Mann den Mantel ab und zog ihn sich über. So brauchte er nicht mehr nur mit dem Lendenschurz bekleidet herumzulaufen. Und wenn ein Passant kam oder ein Auto vorbeifuhr, konnte der DoppelkopfVampir sich in eine Einfahrt oder eine dunkle Ecke stellen, damit man nur einen Kopf zu sehen bekam. Als erstes brauchte der Doppelkopf-Vampir jetzt einen Zufluchtsort, dann würde man weitersehen. Rosqvana hatte für die nähere und fernere Zukunft ganz andere Pläne und Absichten als Ndoyo.
Zaander befand sich in seinem unterirdischen Labor. Seine Monstren sicherten die Villa und das Grundstück ab. Der höllische Lärm, der bei der Flucht des Doppelkopf-Vampirs entstanden war, hatte sich auf Zaanders Befehl schnell wieder gelegt. Zwar hatten aufgeschreckte Anwohner eine Polizeistreife alarmiert, aber die hatte nichts entdeckt und war wieder abgefahren. Zaander hatte durch einen seiner Diener, der äußerlich einem Menschen glich, das Tor an der Einfahrt wieder schließen lassen. Alles hatte sich beruhigt. Zaander konnte ungestört weiter seinen schaurigen Experimenten nachgehen. Er hatte sich Donald Chapman vorgenommen. Den Puppenmann hatte er zusammen mit der weißen Ratte Noe'mie in einen Käfig gesperrt. Chapman, der sonst von Ratten, die in ihm eine willkommene Be-
reicherung ihres Speisezettels sahen, immer angegriffen wurde, war in eine Käfigecke zurückgewichen; doch diese Ratte machte keine Anstalten, ihn zu attackieren. Johan Zaander saß auf einem Stuhl vor dem Käfig, der auf dem Tisch stand. Sein abstoßendes Mondgesicht strahlte Bosheit aus. Er führte etwas ganz Teuflisches ihm Schilde, da war Donald Chapman sicher. »Na, habt ihr euch schon angefreundet?« fragte der Dämon. »Das ist keine gewöhnliche Ratte bei dir da im Käfig, Zwerg. Sie hat das Gehirn eines Menschen, eines kleinen Mädchens. Deshalb ist sie wohl ein wenig kindlich. Was ich mit deinem Vater gemacht habe, hast du ja gesehen, Noe'mie.« Zaander klopfte mit einer Hand auf die Käfigstangen. Die weiße Ratte fauchte. Sie wich bis in die letzte Ecke zurück; ihr Pelz sträubte sich. Zaander nahm eine Stricknadel und stocherte im Käfig herum. Er trieb die Ratte in die Enge, stieß die Nadel gegen ihren Körper, fügte ihr Schmerzen zu und lachte. Chapman schauderte. Für Johan Zaander war das Feuer der Hölle noch zu schade; für ihn hätte sich der Teufel eine besondere Strafe ausdenken müssen. »Zuerst wollte ich Noe'mi ja junge Ratten kriegen lassen«, fuhr Zaander im Plauderton fort. »Aber jetzt weiß ich etwas Besseres. Ich werde dein Gehirn in den Schädel einer männlichen Ratte transplantieren, Zwerg, und dich mit Noe'mi kreuzen. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Vielleicht kann ich sogar eine Rattenrasse mit menschlicher Intelligenz züchten, wer weiß.« Die weiße Ratte quiekte entsetzt. Sie bedeckte die Äuglein mit den Vorderpfoten. Dicke Tränen sickerten zwischen den Pfoten hindurch. Der Dämon wollte sich ausschütten vor Lachen. Donald Chapman ballte die Fäuste. »Der Dämonenkiller wird dir das Handwerk legen, du Schwein. Er wird dich töten!« »Danke für das Kompliment, mein lieber Zwerg«, sagte Zaander. »Es zeigt mir, daß du mich genau richtig einschätzt und meine Arbeiten zu würdigen weißt. Was den Dämonenkiller angeht, den haben meine Monster oben in der Villa zerrissen. Nur ein paar blutige
Fleischfetzen sind noch von ihm übriggeblieben.« Donald Chapman erbleichte, doch er faßte sich gleich wieder. »Das glaube ich erst, wenn ich Dorians Leichnam gesehen habe.« »Das kannst du gern.« Johan Zaander ging hinaus und blieb eine ganze Weile weg. Chapman ging unterdessen zu der weinenden Ratte und strich ihr übers weiße, seidige Fell. Die unglückliche Kreatur schaute den Puppenmann an; der ganze Jammer, den eine kindliche Seele empfinden konnte, stand in ihren Augen. »Ruhig, Noe'mi, ruhig«, flüsterte Chapman. Das zitternde Tier drängte sich an ihn. Donald Chapman versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, als Mensch in Rattengestalt zu existieren, und schauderte. Nach einer halben Stunde und ein paar Minuten kam Johan Zaander zurück. Ihm folgten zwei Monstren, die einen flachen Pritschenwagen zogen, auf dem von Decken verhüllt drei Gestalten lagen. Die beiden Monstren – eins hatte einen Echsen-, das andere einen riesigen Ameisenkopf – stoppten den breiten Wagen direkt vor dem Käfig, so daß Donald Chapman auf ihn heruntersehen konnte. »Zuerst konnten sie mir entkommen, der Dämonenkiller und dieser Cohen«, erzählte Johan Zaander, »aber dann kamen sie noch einmal zurück, zusammen mit dieser Hexe Coco Zamis. Sie vertrauten wohl auf deren Zauberkräfte und ihre Waffen. Sie meinten, sie könnten mit Johan Zaander fertig werden, diese Narren.« Der Dämon lachte schrill und mißtönend und zog die Plastikdecken zurück. Donald Chapman konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Er sah auf die blutigen, zerfetzten Leichen von Dorian Hunter, Coco Zamis und Marvin Cohen.
Es war Morgen. Der Spediteur hatte die Wohnung verlassen. Sein Fehlen in der Firma hätte zu Nachforschungen geführt, die der Doppelkopf-Vampir vermeiden wollte. Der Spediteur befand sich im Hypnosebann Rosqvanas; von ihm war keine Gefahr zu befürchten.
Ndoyo hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Nun machte er sich ein kräftiges Frühstück, denn er war als Mensch auf menschliche Nahrungsmittel angewiesen und hatte einen Bärenhunger. Rosqvana, der vor Gier nach Blut bald verging, sah angewidert zu, wie Ndoyo eine Riesenportion Eier mit Schinken verspeiste. Er verspürte nicht das mindeste Gefühl der Sättigung; nur Blut konnte seinen Hunger stillen. Als Ndoyo gegessen hatte, döste er müde vor sich hin. Nach einer Weile stand er auf und ging zum Kühlschrank, wo er sich eine Flasche Schnaps holte, die er zuvor schon entdeckt hatte. Ndoyo hatte die Gewalt über den Körper des Doppelkopf-Vampirs. Er schenkte sich ein Wasserglas voll Schnaps ein. Rosqvana wehrte entsetzt ab. »Laß das! Ich verabscheue Alkohol! Er verursacht mir wahnsinnige Kopfschmerzen.« »Du machst mir ja auch Kopfschmerzen«, antwortete Ndoyo. »Habe ich darum gebeten, dich im wahrsten Sinne des Wortes aufgehalst zubekommen? Ich trinke diesen Schnaps, und wenn du zerplatzt, du verdammter Vampirkopf!« Rosqvana und Ndoyo waren zu gemeinsamen Aktionen verurteilt, aber das machte das Verhältnis zwischen ihnen nicht besser. Ndoyo trank das Glas auf einen Zug leer. Rosqvana schwieg wütend. Der Schnaps wärmte den Körper des Doppelkopf-Vampirs. Ndoyo seufzte wohlig, Rosqvana schüttelte sich vor Ekel. Ndoyo trank noch zwei weitere Gläser; der Schnaps benebelte ihn angenehm. Der Vampirkopf hingegen bekam solche Kopfschmerzen, daß er am liebsten laut gebrüllt hätte. Es mußte mit seinen unnatürlichen Zellen zusammenhängen, daß er auf Alkohol so stark allergisch reagierte. Ndoyo fielen die Augen zu. Er taumelte ins Schlafzimmer, fiel ins ungemachte Bett des Spediteurs und begann zu schnarchen wie eine Holzfällerkolonne. Rosqvana betrachtete mit glühenden Augen den im Betäubungsschlaf befindlichen Kopf des Schwarzen. Die eigenen Kopfschmerzen brachten den Dämon fast zum Wahnsinn. Diesmal halfen auch seine Beschwörungen nicht. Er hätte nun die Herrschaft über den
Körper übernehmen und sehen können, ob er in dem Wohnblock ein Opfer fand, um seinen wahnwitzigen Blutdurst zu stillen; doch damit war ihm nur vorübergehend gedient. Es gab nur eine Möglichkeit: Ndoyo mußte ebenfalls zum Vampir gemacht werden. Rosqvana würde ihn dann beherrschen. Rosqvana verdrehte den Kopf und grub die Vampirzähne in Ndoyos Halsschlagader. Ndoyo wachte nicht einmal auf, so betäubt war er vom Alkohol. Gierig trank der Vampir. Nach der langen Enthaltsamkeit geriet er geradezu in Ekstase. Rosqvana trank und trank. Er war wie ein Faß ohne Boden. Jeder Tropfen Blut aus dem gemeinsamen Körper floß über seine Lippen. Ndoyo schlief tief und fest weiter. Und allmählich überkam Rosqvana die große Ernüchterung. Das Gefühl der Ekstase verflog. Es war sein eigenes Blut, das Rosqvana da trank, das Blut seines Körpers. Es konnte ihn nicht sättigen und sein Verlangen nicht stillen. Ermattet ließ er von Ndoyos Hals ab. Rosqvanas Kopfschmerzen waren verflogen, aber die mörderische Gier nach Blut quälte ihn schlimmer denn je; er glaubte, er müßte wahnsinnig werden. Dann hörte er lautes Stöhnen, und erst nach einiger Zeit wurde ihm bewußt, daß er selber es war, der da stöhnte. Ndoyo schlug neben ihm die Augen auf. Der Doppelkopf-Vampir setzte sich auf. Die beiden Köpfe starrten sich an. Entsetzen stand in Ndoyos Augen. »Ich – ich fühle mich so seltsam«, sagte er heiser. »Meine Müdigkeit ist völlig verflogen.« Ndoyo tastete nach seinem Hals. Er fand die beiden kleinen Wundmale und erstarrte. »D-du hast mich zum Vampir gemacht, Rosqvana!« »Die Metamorphose ist vollzogen«, sagte Rosqvana kalt. »Ich bin dein Meister, und du bist mein Geschöpf. Du mußt meinem Willen gehorchen. Ich werde jetzt die Herrschaft über diesen Körper übernehmen. Deinen Kopf werde ich mir so bald wie möglich entfernen lassen.« »Einen Dreck wirst du«, sagte Ndoyo grob. »Das ist mein Körper, und das bleibt er auch. Wenn hier ein Kopf entfernt wird, dann ist es
deiner.« Rosqvana glaubte nicht recht zu hören. Nach allen Gesetzen und Grundregeln der Magie mußte Ndoyo von ihm abhängig sein, denn er hatte ihn gebissen. Er versuchte, sich des Körpers zu bemächtigen, aber es gelang ihm nicht. Der Vampir fluchte. Ndoyo war zwar jetzt ein Vampir, hatte aber nach wie vor seinen eigenen Willen. Rosqvana hätte vor Wut platzen können und bedauerte, Ndoyos Kopf, kurz nachdem er aus seiner Halsschlagader das Blut gesaugt hatte, nicht mit einem Messer amputiert zu haben. Rosqvana war ein Vampir; er konnte nur durch Pfählen sterben und hätte eine solche Prozedur überlebt. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, sagte er sich jedoch, daß er den äußerst schmerzhaften Eingriff kaum hätte selbst vornehmen können; und den Kopf auf magische Art und Weise abtrennen – wie es Coco Zamis mit Rosqvanas Kopf in der Villa in Vaduz gemacht hatte – konnte er auch nicht, da er mit Ndoyo einen Körper hatte. Es war ein Verhängnis. Johan. Zaander hatte alles mit teuflischer Raffinesse durchkalkuliert. Rosqvana glaubte sein höhnisches Lachen zu hören. Ndoyos Gedanken verliefen in denselben Bahnen wie die Rosqvanas. »Das hat sich Zaander gut ausgerechnet, dieser elende Höllenteufel! Alles hat er mir genommen, und nun trägt er sogar noch die Schuld daran, daß ich zum Vampir geworden bin. Aber das soll er büßen. Ich werde mich rächen. Zaander soll unter Qualen enden.« »Für den Kampf mit Zaander und seinen Monstren brauchen wir viel Kraft. Dieser Körper muß stark und in bester Verfassung sein. Wir brauchen Nahrung. Blut.« Nun spürte auch Ndoyo die Gier, die sein Inneres wie eine Flamme verzehrte. Nicht nur physisch, auch psychisch hatte er eine Metamorphose durchgemacht. Seine Skrupel, sein Abscheu und Widerwille gegen das Blutsaugen waren verschwunden. Ndoyo wußte, daß er Blut brauchte, so schnell wie möglich. Wenigstens insofern war Rosqvanas Rechnung aufgegangen. »Wir holen uns ein Opfer«, sagte Rosqvana. »Hier in diesem
Wohnblock sind Menschen, das spüre ich. Komm, suchen wir uns eine Wohnung aus.« Die furchtbaren Qualen des Hungers ließen Ndoyo an nichts anderes mehr denken. Der Doppelkopf-Vampir verließ die Wohnung des Spediteurs. Auf der gleichen Etage befanden sich drei weitere Wohnungen. Vor einer von ihnen blieb der Doppelkopf-Vampir stehen. Rosqvana witterte angespannt. »Es sind Menschen drin«, sagte er schließlich leise. »Zwei Menschen. Nahrung für uns beide.« Der Doppelkopf-Vampir schritt durch die geschlossene Tür, als sei sie nicht vorhanden. Küche, Bad und Wohnzimmer der gutgeschnittenen Drei-Zimmer-Wohnung waren leer. Vor der Schlafzimmertür blieb der Doppelkopf-Vampir stehen. Diesmal öffnete er die Tür leise einen Spalt. Ein junges Paar lag im Bett. Ein blonder Mann hatte seinen Arm um eine rothaarige, vollbusige junge Frau gelegt und rauchte eine Zigarette. Die Gesichter der beiden waren entspannt und glücklich. Da stürzte der Doppelkopf-Vampir ins Zimmer, mit rotfunkelnden Augen, die Vampirzähne gebleckt. Die beiden Menschen schrien erschrocken auf. Über dem Bett hing ein einfaches goldenes Kreuz. Der zweiköpfige Vampirkopf zuckte zurück, aber nur einen Augenblick; dann ergriff er ein Kopfkissen und fegte das Kreuz mit einem Schlag von der Wand; es fiel auf der anderen Seite neben das Bett, wo der Vampir es nicht sehen konnte. Der junge Mann sprang auf. Er hatte einen sportlich durchtrainierten, muskulösen Körper, aber das half ihm nichts. Der Vampir rang ihn nieder. Die Rothaarige schrie wie am Spieß. Der Vampir packte mit der Linken den jungen Mann an der Kehle, mit der Rechten das rothaarige Mädchen. Beide waren nackt, die Bettlaken zerwühlt; die Zigarette des jungen Mannes verglimmte auf der Bettdecke. Der Doppelkopf-Vampir hielt die beiden eisern umklammert. Sie schlugen und traten um sich, aber es nützte ihnen nichts; das Ungeheuer war stärker. Rosqvanas Kopf näherte sich dem Hals des jun-
gen Mannes, Ndoyos Kopf dem des Mädchens. Die beiden Köpfe schlugen ihre Zähne in die Hälse ihrer Opfer. Ihr Widerstand erlosch. Gierig schlürften sie das Blut ihrer Opfer. Sie tranken und tranken; der Körper des Monstrums sog sich voll mit Blut wie ein Schwamm, bis die beiden unglücklichen Opfer keinen Tropfen von dem roten Lebenssaft mehr in den Adern hatten. Dann richtete sich das Ungeheuer auf, wohlig ächzend, mit blutverschmierten Mündern. Der Kopf Ndoyos und der Kopf Rosqvanas sahen sich an. »Guuuut«, röchelte Rosqvana. »So lange entbehrt.« Ndoyo stöhnte nur. Der Doppelkopf-Vampir taumelte und fiel gegen die Wand. In seiner Gier hatte Rosqvana nach der langen Enthaltsamkeit viel zu viel Blut getrunken, und Ndoyo war als Novize seinem Beispiel gefolgt. Der Doppelkopf-Vampir befand sich in einem Zustand, der beim Menschen dem letzten Stadium der Trunkenheit gleichkam. Seiner Sinne nicht mehr mächtig und völlig benommen, taumelte er aus dem Schlafzimmer, wo die beiden blutleeren, bleichen Toten auf dem Bett lagen, reglos, die Gesichter zu einer schrecklichen Grimasse des Entsetzens verzerrt. Das Ungeheuer, das sie auf dem Gewissen hatte, torkelte aus der Wohnung. Der Doppelkopf-Vampir tastete sich an den Wänden entlang zu der Wohnung des Spediteurs, wo er schwer übers Bett fiel und liegenblieb. Ein paar Blutstropfen rannen aus seinen Mündern. Das Ungeheuer schlief nicht, aber es war in einem Trancezustand, der dem der Bewußtlosigkeit ähnelte und so lange anhielt, bis der überschüssige Teil des genossenen Blutes verarbeitet war. In der Wohnung nebenan aber machte das junge Paar die Metamorphose zu Vampiren durch. Die beiden jungen Leere erhoben sich, bleich die Gesichter, glühend die Augen. Lange Vampirzähne waren ihnen gewachsen. Die ungeheuerlichen Kreaturen begannen zu schreien und zu wimmern. Anders als der Doppelkopf-Vampir, der ein echter Dämon war, hatten sie dem Sonnenlicht nichts entgegenzusetzen. Es zerstörte das magische Gewebe ihrer Körper. Sie lösten sich auf; nur
ein wenig Staub blieb zurück.
Die Suche Dorians, Cocos und Cohens nach dem Doppelkopf-Vampir war erfolglos verlaufen. Er ließ sich nirgends finden. Nach dem Frühstück hielten die drei von der Inquisitionsabteilung im Doppelzimmer Dorians und Cocos Kriegsrat. Sie hatten alle drei wenig geschlafen, aber starker Kaffee und ein gutes Frühstück hatten sie aufgemöbelt. »Zaander hat uns und noch mehr Rosqvana hereingelegt«, sagte Dorian. Er saß am Fenster, eine Zigarette in der Hand. »Ich glaube auch, daß er Donald Chapman in seiner Gewalt hat. Wäre der Puppenmann Ndoyo entkommen, hätte er sich längst gemeldet.« Cohen schlug die geballte rechte Faust in die offene Handfläche der Linken. »Wo dieses zweiköpfige Monstrum bloß steckt, dieser Doppelkopf-Vampir.« »Amsterdam ist groß. Wir sind hier fremd. Selbst wenn wir übers Auswärtige Amt und den Secret Service die holländische Polizei einschalten, sind unsere Aussichten, das Versteck des DoppelkopfVampirs zu finden, denkbar schlecht. Zudem widerstrebt es mir, die Polizei in die Sache hineinzuziehen. Es gäbe zuviel Aufsehen und Komplikationen. Ich weiß etwas Besseres.« »Und was?« fragte Coco. »Ich kenne Rosqvana oder Vidal Campillo, wie er einmal hieß, recht gut. Er wird nicht einfach hinnehmen, was Johan Zaander ihm angetan hat. Er wird sich rächen wollen. Wir müssen die Villa des dämonischen Professors beobachten. Irgendwann wird der Doppelkopf-Vampir auftauchen. Da bin ich sicher.« »Und wenn er nun schon dort war oder gerade auf dem Weg dorthin ist?« fragte Cohen. Dorian runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht. Wir haben fast die ganze Nacht die Gegend dort abgesucht und sind ein paarmal an der Villa vorbeigefahren. Nach dem großen Tumult hat sich nichts mehr geregt. Rosqvana wird einige Zeit brauchen, den Schock zu überwinden. Ich nehme an, er wird heute nacht in die Villa eindrin-
gen.« »Das sind alles Vermutungen«, sagte Cohen. »Ein bißchen wenig, findest du nicht auch?« »Ich werde mit Zaander verhandeln, so sehr es mir auch widerstrebt«, knurrte Dorian. »Ich werde ihm ein Geschäft vorschlagen und ihn bei dieser Gelegenheit aushorchen.« Er ging zu dem Tischchen mit dem Telefon, setzte sich in den Sessel und wählte. Ein Diener Zaanders meldet sich mit merkwürdig gepreßter, gurgelnd klingender Stimme. Dorian verlangte Professor Zaander und hatte ihn wenig später am Apparat. »Mein lieber Mr. Hunter«, flötete der Dämon voller Spott und Hohn. »Was kann ich für Sie tun? Sie haben sich ein wenig schnell empfohlen gestern abend.« »Ich möchte ungern als Fütterungsmittel für Ihre Monstren dienen«, antwortete Dorian trocken. »Haben Sie schon etwas von Ihrer neuesten Kreation gehört, dem Doppelkopf-Vampir?« Zaander kicherte. Er schien guter Laune. »Doppelkopf-Vampir! Der Name gefällt mir. Weshalb wollen Sie das wissen?« »Ich brauche Thören Rosqvana nach wie vor. Von seinem Kopf möchte ich ein paar Informationen haben, mit dem Körper und dem anderen Kopf mögen Sie machen, was Ihnen beliebt, Professor. Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor.« Es war fast elf Uhr vormittags. Durch die schallschluckenden Vakuum-Doppelfenster hörte man gedämpft den Straßenlärm. »Wenn Sie Rosqvana haben, liefern Sie ihn mir aus! Mit Körper oder nur als Kopf, das spielt keine Rolle. Als Gegenleistung erhalten Sie von mir das berüchtigte 13. Kapitel des furchtbaren Daemonicon.« Dorian hörte, wie Zaander scharf die Luft einsog. »Sie besitzen das Daemonicon?« »Nur eine Abschrift des 13. Kapitels«, antwortete Dorian, »aber das ist ja bekanntlich das schlimmste von allen 37. Ich habe die Abschrift auf Haiti gefunden, als ich Asmodi zur Strecke brachte. Nun, wie ist es? Was halten Sie von meinem Angebot?« »Woher soll ich wissen, daß Sie nicht lügen?« »Was hätte ich davon? Ich will Rosqvana, das 13. Kapitel des Dae-
monicon ist für mich wertlos. Ich werde mich hüten, den darin aufgezeichneten Dingen auf den Grund zu gehen oder die magischen Formeln und gräßlichen Riten zu erproben, die darin beschrieben sind. Sie sind da sicher aus anderem Holz geschnitzt. Haben Sie Rosqvana etwa schon in Ihrer Gewalt?« »Nein, ich habe von diesem Doppelkopf-Vampir, wie Sie ihn nannten, seit seiner Flucht nichts mehr gesehen. Auch ich nehme an, daß er hier auftauchen wird, und ich habe meine Maßnahmen getroffen. Für das 13. Kapitel des Daemonicon können Sie Rosqvana haben, Mr. Hunter. Ich setze mich wieder mit Ihnen in Verbindung, sobald er ergriffen ist.« Zaander wollte auflegen, aber Dorian war noch nicht fertig. »Einen Augenblick noch! Don Chapman hat sich noch nicht bei mir gemeldet. Ich glaube nicht, daß er Ihrem Diener entkommen konnte. Er muß bei Ihnen sein.« »Das ist er nicht. Das versichere ich Ihnen, Mr. Hunter. Ich habe diesen kleinen Burschen nie gesehen. Falls er wider Erwarten hier aufkreuzen sollte, was ich mir nicht vorstellen kann, können Sie ihn gern haben. Für ein Kapitel aus dem Daemonicon gebe ich Ihnen Dutzende solcher Zwerge, wenn Sie welche haben wollen.« »Ich erwarte Ihre Nachricht, Professor.« Zaander kicherte. »Es freut mich, daß Sie nicht nachtragend sind, Hunter. Immerhin habe ich gestern abend meine Monstren auf Sie gehetzt.« »Das war eine Kurzschlußreaktion«, sagte Dorian. »Mir geht es im Moment um Wichtigeres.« Lachend legte Johan Zaander auf. Dorian sah Cocos entsetztes Gesicht. »Du hast doch nicht etwa wirklich die Abschrift des entsetzlichsten Kapitels aus dem furchtbarsten und grausigsten Buch der Menschheit, Dorian?« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf. »Das war nur ein Bluff. Ich mußte Zaander etwas anbieten, das für ihn einen ungeheuren Wert besitzt. Das 13. Kapitel des Daemonicon erschien mir dafür bestens geeignet. Er ist darauf hereingefallen. Ich weiß jetzt, daß er den Doppelkopf-Vampir nicht in seiner Gewalt hat, und er wird sich an
mich wenden, wenn er wider Erwarten vor dem Einbruch der Dunkelheit in die Villa kommt.« »Glaubst du, der Doppelkopf-Vampir hat keine Chance gegen Zaander und seine Horrorgeschöpfe?« fragte Cohen. Dorian wiegte den Kopf. »Allein nicht. Er mag zwar eine Menge Unheil anrichten und einige von Zaanders Monstren umbringen, aber letzten Endes wird er der Übermacht doch unterliegen. Mit unserem Beistand könnte er es schaffen.« »Wie, du willst diesem zweiköpfigen Monstrum auch noch helfen?« »Allerdings. Ich will, daß Zaander und seine Ungeheuer vernichtet werden. Und wenn wir dem Doppelkopf-Vampir helfen, sich zu rächen, ist er uns verpflichtet. Wenn wir Rosqvana aber nicht beistehen, sehe ich keine Möglichkeit, von ihm die gewünschten Informationen zu erhalten.« »Hm, das klingt allerdings einleuchtend«, sagte Cohen. »Also werden wir heute abend die Villa beobachten und mit dem Vampir gemeinsam dort eindringen?« »Genau. Ich hoffe nur, daß für Don Chapman unsere Hilfe nicht zu spät kommt. Wenn dieses Ungeheuer Zaander ihm auch nur ein Haar gekrümmt hat, soll es ein schreckliches Ende finden.« Sie mußten bis zum Abend warten. Ohne den Doppelkopf-Vampir in die Villa Zaanders einzudringen und Chapman zu finden und zu befreien versuchen, wäre Wahnsinn gewesen. Coco war nicht so sicher, daß Rosqvana kam, aber auch sie hoffte es von ganzem Herzen. Cohen dagegen war es recht gleichgültig, was mit Chapman geschah; er betrachtete den Kleinen als ein lästiges Anhängsel, als eine Art Maskottchen, das den anderen Umstände bereitete. Ein Hotelpage klopfte an der Tür. »Ich habe Ihnen die Zeitungen besorgt, die Sie haben wollten, Mr. Hunter.« Dorian gab ihm ein gutes Trinkgeld. Sie blätterten die vier Tageszeitungen durch. In dreien fanden sich Meldungen, die für sie von Interesse waren. So wurde vom Auftauchen eines zweiköpfigen Ungeheuers berichtet. Zwei Berichterstatter hatten ihre Witze darüber
gemacht, der dritte hatte seinen Artikel mit okkultem Geschwafel verbrämt, was ihn nicht besser machte. Das zweiköpfige Monstrum war in einer Gartenhütte aufgetaucht und hatte zwei Männer niedergeschlagen und in einem Industrieviertel einen dritten Mann überfallen. Die Personenbeschreibung traf auf den Doppelkopf-Vampir zu. Die Blätter druckten auch den lapidaren Kommentar eines Kommissars der Amsterdamer Polizei ab. Vom Verbleib des Vampirs war nichts bekannt.
Donald Chapman hockte niedergeschlagen bei der weißen Ratte im Käfig. Sie stupste ihn mit der Schnauze an und fiepte, als wollte sie ihn trösten. Geistesabwesend kraulte er ihr Fell. Sie sind tot, ging es Chapman immer wieder durch den Kopf. Alle sind sie tot; getötet und zerrissen von den Monstren Johan Zaanders. Er ahnte nicht, daß der Dämon ihn mit einem Trugbild genarrt hatte. Für Chapman hatte das Leben damit keinen Sinn mehr. Sollte er zulassen, daß Zaander ihn für seine dämonischen Experimente mißbrauchte, oder sollte er seinem Leben vorher ein Ende setzen? Er betrachtete die Gitterstäbe des Käfigs. Mit einem Hosengürtel konnte er sich an einer Querstrebe erhängen. Es würde schnell vorbei sein. Ein schneller Tod war ohne Zweifel besser, als qualvoll im Körper einer Ratte zu leben. Trotzdem konnte er sich nicht zu diesem Ausweg entschließen. Es erschien ihm zu bequem, sich feige aus dem Leben davonzumachen, mochte es auch sinnlos geworden sein und nur noch Schmerzen, Qualen und Schrecken für ihn bereithalten. Ein Donald Chapman gab nicht auf; er stand alles mit zusammengebissenen Zähnen durch und kämpfte bis zum letzten Atemzug. Vielleicht wendete sich das Blatt doch noch, wenn Chapman sich auch im Moment nicht vorstellen konnte, wie das geschehen sollte. Entschlossen verbannte er jeden Gedanken an Selbstmord aus seinem Gehirn. Er überprüfte die Stärke der Käfiggitter, aber sie waren zu stabil, als daß er sie hätte aufbrechen oder verbiegen können. Zaander betrat das kleine medizinische Labor neben dem großen
Saal. Der Käfig mit Chapman und der weißen Ratte Noe'mi stand im kleinen Labor auf einem Ecktisch unter einem Regal mit Gläsern, in denen in trüben Lösungen Gehirne und Körperorgane von Menschen schwammen, für spätere Zwecke konserviert. Auf einem Tisch lag unter dem grellen Licht einer Lampe eine zum Teil sezierte männliche Leiche. »Jetzt ist es soweit«, sagte Zaander. Er trug einen Käfig mit vier fetten Ratten in der Hand. »In eine von ihnen werde ich dein Gehirn transplantieren, Zwerg. Such dir eine aus!« Chapman sagte kein Wort. Zaander hob die Schultern. »Auch gut. Nehmen wir eben die größte. Wenigstens als Ratte sollst du groß sein, wenn du schon als Mensch so klein geraten bist.« Der Dämon machte mit einer Beschwörung die Haut seines rechten Armes zäh und unempfindlich. Dann griff er in den Käfig und holte die erste Ratte hervor. Er band das quiekende, zappelnde Tier auf dem Tisch auf ein Gestell. Umständlich traf er seine Vorbereitungen. Johan Zaander wusch sich sogar die Hände, ehe er sich an die Ratte heranmachte. Ohne daß quiekende Tier zu betäuben, öffnete er den Schädel der Ratte und machte sich an ihrem Gehirn zu schaffen. Die Ratte verstummte. Als Zaander das Gehirn schon fast herausnehmen konnte, zuckte sie plötzlich und streckte dann alle viere von sich. »Verdammt!« sagte Zaander. »Zu früh.« Er wandte sich an Chapman. »So ein blödes Vieh! Jetzt ist es mir krepiert, wo es nur noch eine Minute gedauert hätte. Siehst du die Maschine dort mit den Lichtern und der Skala? Ich habe sie selbst konstruiert. Die Kabel aus der Maschine führen in das kleine, rote Bällchen da. Zuerst löse ich das Gehirn aus dem Schädel, durchtrenne aber die Verbindungen zum Nervensystem und zum Markhirn erst in letzter Sekunde. Diese Verbindungen muß ich dann sofort an das rote Bällchen anschließen, damit die Maschine künstlich die nötigen Impulse für Herzschlag und Atmung liefern kann. Wenn die Ratte vorher stirbt, ehe das Gehirn herausgenommen ist, war die ganze Arbeit um-
sonst.« Er band die tote Ratte los und warf sie in einen Eimer. »Aber ich habe ja genug Ratten zur Verfügung. Bei dir ist es weit unkomplizierter, Zwerg, denn bei dir brauche ich nur das Gehirn am Leben zu erhalten, der Körper kann ruhig sterben.« »Diese schmutzigen Einzelheiten interessieren mich nicht«, sagte Chapman mit Würde. »Ich verabscheue und verachte Sie.« Der Dämon lachte. »So wird der wahre Forscher oft verkannt. Das Genie findet keine Anerkennung. Es ist ein Jammer. Aber rede nur ruhig weiter, Zwerg! Als Ratte wirst du nicht mehr sprechen können.« Er holte die nächste Ratte aus dem Käfig, nachdem er seinen Arm wieder unempfindlich gemacht hatte. Die Ratte schlug ihre Zähne in Zaanders Hand, doch sie konnte ihm nichts anhaben. Diesmal gelang es dem Dämon, das Rattengehirn zu entfernen und den Körper am Leben zu erhalten. »So, Zwerg«, sagte er und wies auf die gefesselte Ratte mit dem geöffneten Schädel. »Jetzt werde ich dir das Gehirn herausnehmen und in den Rattenschädel transplantieren. Lauf nicht so unruhig im Käfig umher, Noe'mie! Du wirst es wohl abwarten können, bis du deinen Gemahl erhältst.«
Dorian, Coco und Marvin Cohen beobachteten die Villa Johan Zaanders. Sie hatten sich gut verteilt und konnten das ganze Grundstück im Auge behalten. Der Doppelkopf-Vampir konnte nicht unbemerkt an ihnen vorbeikommen; einer von ihnen mußte das Monstrum sehen. Es stürmte. Von der Nordsee her wehte ein kalter Wind und trieb alle Menschen von der Straße. Es war ein unfreundlicher Abend. Kurz nach zwanzig Uhr fuhr ein Lieferwagen in die stille Vorortstraße, in der sich die Villa von Zaander befand. Der Lieferwagen hielt an der Seitenmauer des Grundstücks. Die hintere Tür wurde einen Moment geöffnet, und jemand schlüpfte heraus, suchte Deckung im Schatten der Mauer. Der Lieferwagen fuhr weiter. Coco erkannte die Gestalt, als sie sich über die Mauer schwang, im schwachen Lichtschein der Stra-
ßenlampe. Es war der Doppelkopf-Vampir. Sie nahm das Sprechfunkgerät aus der Tasche und benachrichtigte Dorian und Marvin Cohen. »Wir kommen sofort«, erklang Dorians Stimme. Zwei Minuten später stiegen die beiden Männer und die schwarzhaarige Frau über die Mauer. Die Bäume auf dem Grundstück wurden vom Sturmwind gezaust. Der Wind pfiff und heulte. Ein Fensterladen der Villa klapperte. Dorian erblickte den Doppelkopf-Vampir als erster. Er ging gerade auf die Hintertür der Villa zu und schritt wie ein Schemen durch sie hindurch. Dorian lief ihm nach, die beiden anderen hinterher. Die Hintertür war verschlossen. »Mist!« sagte Dorian. »Komm, Marvin, wir brechen sie auf!« »Das würde zu viel Lärm machen«, sagte Coco. »Laßt mich das erledigen!« Sie murmelte einen Hexenspruch, richtete die gespreizten Finger der linken Hand auf Türschloß und Klinke, und mit einem Knacken sprang die Tür auf. Cohen warf Coco einen merkwürdigen Blick von der Seite zu. Dorian betrat die Villa, die beiden andern folgten ihm. Der Dämonenkiller trug genauso wie Cohen einen dunklen Trenchcoat. Er hatte einen Revolver mit geweihten Silberkugeln bei sich, einen geweihten silbernen Krummdolch, zwei Vampirpflöcke, Weihwasser, Dämonenbanner und ein Silberkreuz. Coco und Cohen waren genauso bewaffnet. Es war ein Unternehmen auf Leben und Tod. Schweigend drangen sie in die dunkle Villa ein. Niemand begegnete ihnen, weder im Erdgeschoß noch im ersten Stock. »Sicher sind Zaander und seine Monstren in den unterirdischen Räumen«, sagte Dorian, als sie wieder im Parterre im Treppenhaus standen. »Rosqvana mit seinen magischen Fähigkeiten hat das wahrscheinlich gespürt und ist gleich nach unten gegangen.« Wie zur Bestätigung von Dorians Worten hörten sie in diesem Augenblick Lärm von unten, gedämpft durch die dicken Wände. »Auf!« rief Dorian. »Der Kampf tobt bereits. Wir müssen eingreifen, sonst tragen Zaander und seine Kreaturen den Sieg davon.« Er stürmte mit gezogenem Revolver in den Keller der Villa, Coco
und Cohen rasten hinter ihm her. Zunächst fanden sie den Zugang zu den unterirdischen Räumen nicht, aber Coco entdeckte schließlich die Wandnische. Hinter der dicken alten Mauer tobte ein wilder Kampf. Die Mauern selbst schienen zu beben. Ein furchtbarer Schrei übertönte schrill den Lärm. Kein Mensch war es, der diesen Todesschrei ausgestoßen hatte. Coco fand den Stein, der den Mechanismus in Bewegung setzte. Der hintere Teil der Nische glitt zur Seite. In den unterirdischen Räumen brannten die Neonröhren, die Zaander dort hatte anbringen lassen. Die Türen standen offen. In dem großen Raum mit den Horrorkreaturen des Dämons war die Hölle los. Der Doppelkopf-Vampir kämpfte gegen die Monstren des Professor Zaander. Horrorgestalten mit menschenähnlichen Schuppenleibern und Tier- und Insektenköpfen bedrängten ihn, widerliche Gallertmonstren, wabernd und stinkend, mit Pseudo-Gliedern und menschlichen Körperteilen und Organen garniert. Und auch die künstlichen Schöpfungen des Dämons folgten dem Willen ihres Meisters. Der Doppelkopf-Vampir schlug mit einer Machete und einem Morgenstern um sich, den er irgendwo aufgetrieben hatte. Er war übel zugerichtet; der Kopf Ndoyos war zerfleischt, der Thören Rosqvanas ebenfalls aufgeschlagen und verunstaltet. Am ganzen Körper hatte er klaffende Wunden, aus denen aber kein Tropfen Blut floß. Er konnte nur durch Pfählen sterben; keine andere Verletzung vermochte ihn umzubringen. Er wütete schrecklich unter den Monstren, deren Blut – rotes, grünes und schwarzes – an die Wände, an die Decke und überallhin spritzte. Zaanders Monstren merkten schließlich, daß sie dem DoppelkopfVampir mit ihren Zähnen, Klauen, Fäusten, Tentakeln und Hackschnäbeln nichts anzuhaben vermochten. Selbst die ätzenden Sekrete der Gallenmonstren brachten ihn nicht um, wenn sie ihm auch das Fleisch von den Knochen fraßen. Dem Doppelkopf-Vampir waren die Kleider vom Leib gerissen. Sein rechtes Bein und das Becken bestanden nur noch aus Knochen und Muskeln.
Ein schwärzlicher, formloser Schleimklumpen raste von hinten auf den Doppelkopf-Vampir zu, einen hölzernen Pfahl in den PseudoGliedern. Er wollte den Doppelkopf-Vampir pfählen. Doch Dorian verhinderte es. Drei geweihte Kugeln jagte er in das ekelerregende Monstrum. Es brach zusammen löste sich zu einer widerlichen Schleimflüssigkeit auf. Thören Rosqvanas Beschwörungen und auch der Hexenzauber Cocos blieben gegen die monströsen Angreifer unwirksam. Zaander hatte sich abgesichert. Dorian schoß den Revolver leer und lud nach. Er hieb mit dem Dolch drein und rang mit ein paar Monstren. Weihwasser und Kreuze vermochten den Ungeheuern nichts anzuhaben, da sie selber keine Dämonen waren. Es war ein furchtbarer Kampf. Das große unterirdische Labor verwandelte sich in ein Schlachtfeld, erfüllt von dem gräßlichsten Gebrüll. Marvin Cohen erschoß das Schwein, in das das Gehirn der Sängerin Johanna Almaar transplantiert worden war, und Coco tötete den kopflosen Mann mit dem Dolch. Alle waren angeschlagen und hatten Wunden. Am Dämonenkiller hingen gleich sechs Monstren. Ein Ungeheuer mit einem Tigerkopf sprang auf ihn los und schlug mit den Klauen zu. Dorian konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite nehmen. Er gab dem Monstrum einen Tritt, daß es zurücktaumelte, in die Reichweite des Doppelkopf-Vampirs. Der spaltete ihm mit der Machete den Kopf bis zu den Schultern herunter. Der Doppelkopf-Vampir hatte nur noch einen Arm, der andere war ihm abgerissen. Kein natürliches Leben war es, das diesen Körper noch leben und kämpfen ließ. Der wilde Haß des Ndoyo und die dämonische Wut Thören Rosqvanas tobten sich aus. Die Monstren Professor Zaanders waren aber in der Überzahl und gewannen allmählich die Oberhand. Der Dämonenkiller, seine beiden Begleiter und der Doppelkopf-Vampir schienen verloren. Da wurde die Wand zum Nebenzimmer durchsichtig. Johan Zaander stand dort in einem kleinen Labor. Vor ihm lag Donald Chapman, auf ein Gestell gefesselt. Der Dämon hatte die Operation an
ihm noch nicht begonnen. »Ihr elenden Narren!« rief Zaander. Seine Stimme übertönte den Lärm der Kämpfenden. »Ihr habt geglaubt, ihr könntet mich vernichten? Niemals! Ihr werdet alle sterben. Dich hätte ich für klüger gehalten, Rosqvana. Und du hast mich also belogen mit dem 13. Kapitel des Daemonicon, Dämonenkiller. Einerlei, meine Geschöpfe werden euch alle umbringen, und dein Gehirn bekomme ich jetzt doch noch.« Für ein paar Augenblicke wurde der Kampf unterbrochen. Alle sahen zu dem Dämon hin. Der widerliche fette Mann mit der Glatze und dem Glasauge konnte durch die Glaswand alles wie von einem Logenplatz beobachten, ohne selber in Gefahr zu kommen. Er ließ sich schwer auf einen Stuhl niederfallen. Der gefesselte Donald Chapman sah den abgekämpften Dorian Hunter, Coco Zamis und Marvin Cohen. Er stieß einen Schrei aus, der seine Freude und seine Verzweiflung gleichermaßen ausdrückte. Hatte er die Freunde nur wiedergefunden, um sie gleich erneut zu verlieren? Dorian sah es zuerst. Plötzlich huschten in dem kleinen Labor aus Wandöffnungen, die zuvor noch nicht dagewesen waren, Ratten heraus; große, graue Tiere mit langen, scharfen Zähnen. Die weiße Ratte im Käfig – Noe'mi – sprang gegen die Käfigtür, die sich öffnete. Noe'mi lief über den Boden und am Hosenbein von Zaanders schmuddeligem Anzug hoch und ging ihm an die Kehle. Gleichzeitig fielen auch die anderen Ratten über den Dämon her. Zaander stieß einen irren Schrei aus. »Die Ratten!« brüllte er. »Alle Mächte der Finsternis, helft mir! Die Ratten von Borvedam!« Dorian sah noch, wie Zaander den Kopf der weißen Ratte zerdrückte, dann ging er unter der Last der anderen Ratten – es mußten mindestens hundert sein – zu Boden. Die Wand wurde wieder undurchsichtig, die Schreie des Dämons leiser; bald verstummte er ganz. Dorian wollte den Kampf gegen die Monstren Zaanders fortsetzen, aber es war gar nicht mehr nötig. Sie taumelten umher, fielen zuckend zu Boden und verhauchten ihr Leben. Dorian wußte, wes-
halb. Johan Zaander hatte sein Schicksal ereilt. Der Dämon war tot; und mit ihm starben seine Geschöpfe, die von ihm abhängig gewesen waren, durch ein magisches Band mit seinem Leben und seiner dämonischen Existenz verknüpft. Dorian stürmte zu dem Raum, in dem Zaander von den Ratten angefallen worden war. Er wollte versuchen, Chapman zu retten, obwohl er wenig Hoffnung hatte. Sicher waren die Ratten auch über den gefesselten Puppenmann hergefallen. Die Tür des Labors war verschlossen. Auch Cocos Hexenkünste konnten sie nicht öffnen, da Zaander sie magisch versiegelt hatte. Und die Tür war zu massiv, um sie einzurennen. Dorian schlug sie mit dem Morgenstern des Doppelkopf-Vampirs entzwei, was eine Weile dauerte. Von tödlicher Sorge um Donald Chapman erfüllt, stürzte er schließlich in das kleine Labor. Zu seinem Erstaunen war Chapman völlig unversehrt. Die Ratten, die bis auf ein paar tote Kadaver verschwunden waren, hatten ihm nichts getan. Am Boden sah Dorian Blutlachen und ein paar graue, blutverklebte Haarbüschel. Das Glasauge Zaanders lag da, sonst fand Dorian keine Spur mehr von ihm. Die Ratten hatten Zaander bei lebendigem Leibe aufgefressen. Er befreite Chapman und brachte ihn nach draußen, wo der verstümmelte, übel zugerichtete und fast bewegungsunfähige Doppelkopf-Vampir lag. Ndoyos Kopf war völlig zertrümmert, der Thören Rosqvanas kaum noch zu erkennen. Dorian stellte sich breitbeinig vor den Doppelkopf-Vampir, dessen furchtbare Verletzungen auch Rosqvanas Magie und Zauber nicht mehr heilen konnten. Zu stark war die dämonische Substanz angegriffen. »Sag mir, wo ich den goldenen Drudenfuß und die Dämonen-Drillinge finde. Ich habe dir geholfen, so gut ich konnte.« »Die Ratten von Borvedam bewachen den goldenen Drudenfuß«, ächzte Thören Rosqvana. »Wenn du den Drudenfuß hast, wirst du auch die Dämonen-Drillinge finden. Mehr weiß ich nicht.« Dorian überlegte, was er mit dem Doppelkopf-Vampir tun sollte. Ihm wieder auf die Beine zu helfen, damit er sein verruchtes Vampirdasein fortsetzen konnte, war nicht Dorians Absicht. Töten konn-
te er ihn aber auch nicht, denn das war gegen die Abmachung; und Dorian war ein Mann, der sein Wort hielt. Einfach liegenlassen wollte er ihn jedoch auch nicht. Es war ein Dilemma. Marvin Cohen beendete es, indem er dem Doppelkopf-Vampir ungerührt und noch ehe Dorian hätte eingreifen können einen Pflock ins Herz trieb. Ein Schrei – dann zerfielen der verstümmelte Körper und die beiden Köpfe zu Staub. Wütend über Cohens eigenmächtige Handlungsweise wies Dorian den Exekutor Inquisitor zurecht. Der hob nur die Schultern. »Wir wissen genug, Hunter. Wozu diese Bestie am Leben lassen? Wenn Sie eine Abmachung mit dem Doppelkopf-Vampir hatten, geht das mich nichts an.« Dorian mußte einsehen, daß es die einfachste Lösung des Problems war. Er befragte nun Donald Chapman über das Ende Johan Zaanders. Der Puppenmann beschrieb sehr anschaulich, wie die Ratten den Dämon aufgefressen hatten. »Mir haben sie merkwürdigerweise kein Haar gekrümmt«, beendete er seinen Bericht.
Drittes Buch
Die Rattenkönigin von Ernst Vlcek
Du hörst die Frau deiner Träume rufen: Carl, Carl, Carl – mein Körper sehnt sich so nach dir! Es ist Nacht. Du liegst bereits im Bett. Aber du schläfst nicht und du bist auch nicht wach. Du befindest dich in einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Wie schon in den vergangenen Nächten erscheint dir auch diesmal wieder das wunderschöne Mädchen. Es ist jung, grazil – und verführerisch. Sein wohlproportionierter Körper wird von langem blondem Haar umweht, das die Blößen verdeckt und doch erahnen läßt; wie ein raffiniertes, durchsichtiges Neglige. Diesmal ruft das Mädchen dich. Es braucht dich. Carl, komm! Und du richtest dich im Bett auf, langsam und vorsichtig, weil du Angst hast, du könntest das Bild verscheuchen. Das Verlangen wächst in dir, je länger du die Erscheinung betrachtest. Das Rufen wird drängender, sehnsüchtiger. Carl, Carl, Carl! Noch nie hast du sie so deutlich gesehen, noch nie war sie dir so nahe. Und zum ersten Mal hörst du ihre lautlose Stimme, ihren drängenden Lockruf. Du kannst nicht anders, du mußt ihr folgen. Nun stehst du im Zimmer. Das Fenster ist offen. Das fahle Mondlicht der Novembernacht fällt herein, webt ein Muster auf den Boden und das Bett. Schatten bewegen sich, als hätten sie ein eigenes Leben. Dich fröstelt unter dem dünnen Nachtgewand. Ich werde dich wärmen, Geliebter, verspricht die verführerische Stimme in deinem Geist. Du ziehst einen Morgenrock über, ohne die Fremde aus den Augen zu lassen, die jetzt durch das Fenster schwebt. Du willst nach ihr greifen, doch deine Hand gleitet durch sie hindurch. Du eilst ihr nach, doch mit jedem Schritt, den du auf sie zumachst, weicht sie vor dir zurück. Nein, sie darf nicht entschwinden! Du möchtest sie umarmen, fest an dich drücken, ihr Herz an deinem schlagen spüren, ihren warmen, festen Körper mit der Pfirsichblütenhaut kosen. Du bist am Fenster, kletterst hinaus und springst die zwei Meter in den Garten hinunter. Irgendwo schlägt eine Turmuhr zwölf. Der
Klang der Glocken schreckt dich aus deinem Wachtraum. Kälte! Du zitterst, aber gleich ist dir wieder warm. Die Bäume und Sträucher des Gartens erscheinen dir wie mahnende Finger des Schicksals. Carl, geh nicht in den Tod! Zu deinen Füßen wimmeln schemenhafte Körper, grau, glitschig und struppig. Es quiekt, raschelt, faucht und quirlt um dich herum. Ein kalter Nachtwind fährt dir in die Glieder, rüttelt dich auf. Verweht ist das Bildnis des überirdisch schönen Mädchens. Du willst umdrehen, möchtest zurückkehren in die Geborgenheit deines Zimmers. Doch kaum machst du einen Schritt zurück, tritt dein Fuß auf weiche, pelzige Körper. Scharfe Zähne traktieren deinen Rist, die Zehen und Fußballen. Du rutschst auf etwas Nassem, Glitschigem aus, verlierst fast den Halt. Carl, komm! Laß deine Jenny nicht warten! Ihre Lockrufe schlagen dich wieder in ihren Bann. Du siehst sie wieder – die Frau deiner Träume. Sie erwartet dich hinter dem Gartenzaun. Und sie strahlt Wärme aus. Sie hat die Arme wie zur Umarmung ausgebreitet, den Kopf tief in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, der Mund ist wie in Erwartung eines Kusses halb geöffnet. Durch die herabfallenden Haare schimmern die rosa Warzen ihrer Brüste. Carl, Carl, Carl! fleht sie. Ihre Lockrufe berauschen deinen Geist. In dir hat sich eine Spannung aufgestaut, die du nur durch körperliche Vereinigung mit diesem betörenden Wesen abschütteln kannst. Du meinst, vergehen zu müssen vor Sehnsucht nach ihr. Die kleinen, huschenden sehenden Schatten zu deinen Füßen schrecken dich nicht mehr, denn auf einmal weißt du, daß sie die Boten deiner Traumfrau sind. Sie führen dich zu ihr. Folge ihnen durch Nacht, Nebel und Novemberkälte, und du wirst in ihren Armen die Erfüllung all deiner Wünsche finden. Das nächtliche Borvedam versinkt um dich. Vereinzelte Lichter zeigen dir Momentaufnahmen von verlassenen Straßen. Du setzt schnell einen Fuß vor den anderen, durcheilst die Straßen in wilder Hast – aber du kommst der Frau deiner Träume nicht näher. Und
trotzdem weißt du nun ganz bestimmt, daß sie nicht unerreichbar für dich ist. Du mußt nur zum Horizont gelangen; dort ist ein Regenbogen, und in diesem Regenbogen wartet sie auf dich – die Frau deiner Träume. Deine Jenny. Und wenngleich dir irgendwie bewußt wird, daß der Weg in die Tiefe führt, du durch einen Kanal und dann einen Schacht hinunterkletterst, so weißt du doch ganz bestimmt, daß dieser Weg auch geradewegs in den siebten Himmel führt. Die kleinen, quiekenden Schemen zu deinen Füßen huschen vor dir her, halten ein, putzen sich, hasten weiter. Kleine, tanzende Irrlichter spenden ein angenehmes Licht. Sie spiegeln sich in knöcheltiefem Wasser. Und dann ist der Boden des Stollens so mit den kleinen, pelzigen Tieren übersät, daß du Angst hast, auf eines von ihnen zu treten, aber wie durch ein Wunder wird immer wieder genügend Platz frei, wo du deinen nackten Fuß hinsetzen kannst. Carl, Carl, Carl! Das Rufen wird eindringlicher, drängender, ist voll unterschwelliger Leidenschaft. Und plötzlich weicht sie nicht mehr vor dir zurück. Du kommst ihr näher. Und dann bist du bei ihr. Bei der Frau deiner Träume. Wie benommen fällst du ihr in die Arme. Ihr heißer, keuchender Atem umfächelt dein Gesicht. Dein Morgenrock fällt von dir ab. Dein Nachtgewand wird zerfetzt und entblößt deinen bebenden Körper. Es kommt zur ersten scheuen Berührung. Zart und ängstlich tanzen deine Fingerspitzen über ihren Körper. Ein wohliger Schauer durchrieselt dich, dann durchrast dich siedendheiß die Leidenschaft. Es ist eine Explosion deiner aufgestauten Begierden. »Carl, Carl – nicht so stürmisch! Du mußt zärtlich zu deiner Jenny sein. Ganz, ganz zärtlich. Ja, so.« Zum ersten Mal hörst du ihre wirkliche Stimme. Sie klingt irgendwie fremd, so ganz anders als die lautlosen Lockrufe; aber das dringt nicht bis in dein Bewußtsein. Du bist wie berauscht. Du willst ganz und gar diesem überirdisch schönen Wesen gehören, das dir ganz gehören will. »Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet, Carl! Nun
habe ich endlich den Mut gefunden, dich zu mir zu rufen. Ich will deine Geliebte für diese eine Nacht sein. Deine letzte Nacht.« Was sind das für Worte? Egal, sie sind Schall und Rauch. Die Wirklichkeit ist der junge, bebende Körper deiner Jenny. Und selbst wenn es deine letzte Nacht wäre, du würdest nicht tauschen wollen. Dafür, daß du diese köstlichen Augenblicke erleben darfst, willst du jeden Preis bezahlen. Gern willst du dein Leben für dieses kurze Glück hergeben. Wirklich? Hast du wirklich eben so gefühlt, so verblendet gedacht, Carl? Deine eigenen Gedanken sind dir plötzlich fremd. Der Leidenschaft, dem blinden Wahn folgt die Ernüchterung auf den Fuß. Du siehst auf einmal alles mit ganz anderen Augen. Auch die Frau deiner Träume. Der Traum ist verflogen. Die Wirklichkeit stürzt über dich herein – mit all ihren Schrecken. Du bist in einer Höhle. Giftspritzende Irrlichter umschwärmen dich, traktieren dich mit ihren Stichen. Zu deinen Füßen quirlen Unmengen von Ratten. Der Boden scheint zu leben. Sie gebärden sich wie in Ekstase. Du weichst vor etwas Abscheulichem, unsagbar Schrecklichem zurück, für das du keine Worte finden kannst. Jenny entschwindet endgültig, taucht im dunklen Winkel der Höhle unter. Und im Schutz der Dunkelheit beginnt sie zu lachen. Was für ein ordinäres, animalisches Lachen das ist! »Du bist ein Versager, Carl!« schleudert sie dir entgegen. Und dazwischen gibt sie Pfeiflaute von sich, und die Ratten bewegen sich im Rhythmus dieser Töne. »Du bist nicht der rechte Liebhaber, Carl. Wie ich dich verachte! Du bist meiner Liebe nicht wert. Gerade gut genug als Rattenfutter.« Und sie lacht kreischend, schrill und in höchsten Tönen. Und dazwischen stößt sie immer wieder diese merkwürdigen Pfeiflaute aus. Das bringt die Ratten zur Raserei. Sie stürzen sich auf dich. Reißen mit ihren scharfen Zähnen Fleischfetzen aus deinem Körper. Sie kratzen dir die Augen aus. Du taumelst blind davon. Stolperst über Hindernisse, rutschst auf den glitschigen Körpern aus. Fällst der Länge nach hin – und dann sind sie über dir – die Ratten von Borvedam.
Und Jenny lacht – und stachelt die Rattenhorden mit ihren Pfiffen zu mörderischer Wildheit an. Und du hast noch einen letzten Gedanken, bevor der Tod dich von den furchtbaren Qualen erlöst. Du denkst: Es hat sich nicht gelohnt, Jennys Geliebter gewesen zu sein.
»Hier sind wir richtig«, erklärte Dorian und stellte den Motor des Leihwagens ab. Am Ufer der Amstel drängte sich eine dichte Menschenmenge. Einsatzfahrzeuge der Polizei standen herum, blockierten den Verkehr. Polizisten scheuchten die Autofahrer weiter, die sich hinter den Lenkrädern die Hälse verrenkten, um einen Blick auf das Geschehen werfen zu können; aber die Menschenmenge verstellte ihnen den Blick. »Du kannst doch den Wagen nicht einfach hier abstellen«, sagte Coco, aber Dorian hörte sie nicht mehr; er war bereits aus dem Wagen gestiegen. Sie hob die Schultern und folgte ihm. Ein uniformierter Polizist eilte herbei und versuchte, ihnen wild gestikulierend klarzumachen, daß es hier nichts zu sehen gäbe und sie weiterfahren müßten. »Ich muß zu Kommissar Rejnbrink«, unterbrach ihn Dorian in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Es ist dringend. Im Polizeipräsidium hat man mir gesagt, daß ich ihn hier finden würde.« Er hatte englisch gesprochen. Das verunsicherte den Polizisten noch mehr. »Haben Sie eine Aussage zu machen?« wollte er ebenfalls auf englisch wissen. Er sprach es recht flüssig, wenn auch mit zu vielen Kehllauten. »Haben Sie etwas beobachtet, das uns …« Dorian überreichte ihm wortlos das Schreiben, das man ihm im Polizeipräsidium gegeben hatte. »Ah, Secret Service!« sagte der Polizist, obwohl er sich wohl kaum denken konnte, was ein Beamter vom britischen Geheimdienst hier zu suchen hatte. »Ich verstehe.« »So?« meinte Dorian spöttisch. »Dann seien Sie bitte so freundlich und bringen Sie mich zu Kommissar Rejnbrink.«
»Ich kann meinen Posten leider nicht verlassen, aber gehen Sie nur zum Ufer hinunter. Die Beamten dort werden Sie zu ihm bringen.« Dorian nahm den Passierschein an sich und bahnte sich, Hand in Hand mit Coco, einen Weg durch die gaffende Menschenmenge. Schließlich nahm sich ihrer ein Polizist in Zivil an. Er brachte sie zum Ufer hinunter und deutete zu dem Polizeiboot hinaus, das in der Mitte der Amstel gegen die Strömung kämpfte. »Der kleine Dicke mit dem roten Hängebackengesicht, der sich am Bug über die Reling beugt und mit dem einen Taucher spricht – das ist der Kommissar«, erklärte er. »Wie komme ich zu ihm?« wollte Dorian wissen. »Am besten, Sie warten, bis er seinen Fang gemacht hat und an Land kommt.« »Was sucht er denn?« »Einen Kopf«, antwortete der Beamte. »Die Passagiere eines der Aussichtsboote haben übereinstimmend ausgesagt, daß im Kielwasser plötzlich ein menschlicher Kopf aufgewirbelt wurde. Nun suchen wir schon fast den ganzen Tag danach. Wenn nicht … Da, sehen Sie! Der eine Taucher hält etwas in der Hand!« Ein Raunen ging durch die Menge. Eine ältere Frau, die das Geschehen auf dem Polizeiboot mit einem Feldstecher beobachtet hatte, gab einen spitzen Schrei von sich und fiel in Ohnmacht. Dorian nahm ihr den Feldstecher einfach ab und blickte hindurch. Er sah gerade noch, wie der Taucher einen Kopf an den Haaren ins Boot gab. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, denn das Gesicht war total entstellt. Dorian vermutete, daß der Kopf bereits mehrere Tage im Wasser getrieben haben mußte. Das Polizeiboot näherte sich der Anlegestelle, an der Dorian und Coco warteten. Plötzlich tauchten überall Reporter mit schußbereiten Kameras auf. »Hat man die Leiche, zu der der Kopf gehören könnte?« wollte Dorian wissen. »Wir haben einige Leichenteile, zu der der Kopf passen könnte«, antwortete der Beamte ungehalten. Dorian packte ihn am Arm. »Kennt man den Namen des Opfers?«
»Wir vermuten, daß es sich um Carl de Groot handelt.« »Wie ist er gestorben?« »Was wir fanden, wies Spuren von Rattenzähnen auf. Sie müssen ihn förmlich in Stücke gerissen haben.« »Die Ratten von Borvedam«, sagte Coco tonlos. »Was wissen denn Sie davon?« sagte der Beamte ärgerlich, riß sich aus Dorians Griff und eilte zum Boot hinunter, das gerade anlegte. Einige der umstehenden Leute hatten Cocos Worte aufgegriffen, und ein Gemurre erhob sich. Man beschimpfte die Stadtväter, die nicht imstande waren, etwas gegen die ständig steigende Rattenplage zu unternehmen. Stimmen wurden laut, daß bald ganz Amsterdam von diesen Biestern heimgesucht würde. Man verlangte, daß Borvedam, dieses Rattennest, endlich gesäubert werden sollte. »Komm!« sagte Dorian zu Coco, als er sah, wie die Reporter zum Boot hinunterdrängten und den an Land steigenden Kommissar bestürmten. »Hier kommen wir doch nicht zum Zug.« Er stieg mit Coco die Uferböschung hinauf und steuerte auf den Polizisten zu, dessen Bekanntschaft sie bereits gemacht hatten. »Welcher ist der Wagen des Kommissars?« Der Uniformierte deutete auf das nächststehende Einsatzfahrzeug. Dorian ging hin, hielt dem Fahrer, der lässig gegen den Kofferraum lehnte, als ginge ihn das alles nichts an, seinen Passierschein unter die Nase und sagte auf englisch: »Wir arbeiten mit Rejnbrink zusammen. Er hat uns aufgetragen, schon vorauszugehen und im Wagen auf ihn zu warten.« Der überrumpelte Fahrer salutierte und war Coco sogar beim Einsteigen behilflich. »Frechheit siegt«, meinte sie schmunzelnd auf deutsch; sie verfiel immer wieder in ihre Muttersprache. »Anders wären wir an Rejnbrink wohl kaum herangekommen«, sagte Dorian, ebenfalls grinsend. Sie sahen, wie der Kommissar mit einem wahren Rattenschwanz von Reportern in seinem Schlepptau auf den Wagen zukam. Er sagte immer wieder: »Kein Kommentar!« Dorian konnte aus den ablehnenden und verneinenden Gesten des Kommissars den richtigen Schluß ziehen.
Die Tür ging auf. Rejnbrink ließ sich schnaufend auf den Beifahrersitz sinken. Die ausgesperrten Reporter hämmerten wütend gegen das Seitenfenster. Dem Kommissar blieb für einen Moment vor Staunen der Mund offen, als er seine beiden Fahrgäste erblickte. »Das ist Coco Zamis«, stellte Dorian seine Begleiterin vor. »Mein Name ist Dorian Hunter. Ich nehme an, Trevor Sullivan hat sich von London aus bereits mit Ihnen in Verbindung gesetzt und Sie von unserem Kommen unterrichtet.« Der Kommissar gab einen unartikulierten Laut von sich, als würde er seinen Ärger durch ein Ventil ablassen. »Einen ungünstigeren Zeitpunkt haben Sie sich nicht aussuchen können, was?« schimpfte er. »Es wäre besser …« »Fahren wir doch erst einmal los, bevor die Reporter Ihren Dienstwagen demolieren«, unterbrach Dorian ihn, und Coco schenkte dem Kommissar ihr bezauberndstes Lächeln. Rejnbrink forderte den Fahrer mit einen Wink und einem Grunzlaut zum Abfahren auf. Kommissar Pit Rejnbrink war um die fünfzig, klein und von beachtlicher Körperfülle, und er hatte tatsächlich ein hektisch gerötetes Hängebackengesicht. Er atmete keuchend, tupfte sich mit einem Tuch ständig den Schweiß von der Stirn und wischte die Hände an seinem Mantel ab, den er offen trug. Er war mürrisch bis zur Selbstverachtung. »An der nächsten Ecke lasse ich Sie aussteigen«, erklärte er schnaufend, ohne nach hinten zu blicken. »Ich habe weiß Gott andere Sorgen, als Kindermädchen für die Agenten des britischen Geheimdienstes zu spielen. Fällt mir gar nicht ein! Ich habe Ihrem Vorgesetzten, diesem aufdringlichen Sullivan, überhaupt keine Versprechen gemacht.« »Genaugenommen sind wir gar keine Geheimagenten«, erklärte Dorian. »Nicht einmal das?« »Mehr als das«, berichtigte Dorian. »Wir haben eine Reihe besonderer Funktionen. Im Augenblick sind wir als Rattenfänger unterwegs. Mit Ihrer Unterstützung könnten wir Borvedam von der Rattenplage befreien.«
»Wären Sie nur in Hameln geblieben!« sagte Kommissar Rejnbrink giftig. »Warum geben Sie sich eigentlich so, als könnten Sie sich selbst nicht leiden?« mischte sich Coco ein. »Sie könnten doch besserer Laune sein, nachdem Sie den Kopf von Carl de Groot gefunden haben. Oder gehört er einer anderen Leiche?« Rejnbrink wirbelte herum. »Woher haben Sie diese Informationen? In der Presseerklärung hat überhaupt nichts über die möglichen Zusammenhänge gestanden.« »Vielleicht kommen Sie doch noch zu der Überzeugung, daß sich eine Zusammenarbeit mit uns lohnen könnte«, meinte Dorian. »Das erscheint mir unwahrscheinlich«, erklärte der Kommissar, aber es klang schon versöhnlicher. Als der Fahrer, wie aufgetragen, an der nächsten Ecke halten wollte, winkte ihm Rejnbrink weiterzufahren. »Was haben Sie nun wirklich in Amsterdam zu suchen?« »Wie ich schon sagte, wir interessieren uns für die Ratten von Borvedam.« »Habt ihr in London nicht genug davon?« »Keine so gut dressierten«, erwiderte Dorian und registrierte mit Genugtuung, daß Rejnbrink zusammenzuckte. »Soweit ich informiert bin, hat es oftmals den Anschein, als seien die Aktionen der Ratten von Borvedam gezielt, als besäßen sie Intelligenz und einen Anführer, dessen Befehle sie ausführen. Ich weiß genug über Ratten – zum Beispiel, daß sie Menschen nur dann überfallen, wenn sie in die Enge getrieben werden. Die Ratten von Borvedam fallen aber in Rudeln über die Menschen her, ohne von diesen bedroht worden zu sein.« »Alles Humbug, Zeitungsenten!« rief Rejnbrink verärgert. »Die ganze Sache wird aufgebauscht. Unsere Ratten sind nicht anders als die anderen. Zugegeben, es ist zu Zwischenfällen gekommen, aber die hätten überall, in jeder Großstadt, auch in London, passieren können. Wenn Ratten hungrig sind, kommen sie eben aus ihren Löchern.« »Und was war mit Carl de Groot und den anderen Opfern?« fragte
Dorian. »Wenn es sich dabei bloß um Unfälle handelte, würde sich wohl kaum die Mordkommission einschalten.« »Alles nur Routine«, behauptete Rejnbrink. Als er Dorians Blick begegnete und den Spott darin sah, seufzte er: »Also gut, ich will Ihnen sagen, was wir wissen. Aber nur, um Ihnen zu beweisen, daß Sie mit Ihren Vermutungen auf dem Holzweg sind. Intelligente Ratten, die zu Mord angestiftet werden! Pah, wer hat so was Blödes schon mal gehört!« Der Kommissar hielt keuchend inne. Er blickte aus dem Seitenfenster auf die Amstel hinaus, an deren rechtem Ufer sie in Richtung Altstadt fuhren. Sie erreichten die Singelgracht, nahmen aber nicht die Brücke über den Kanal, sondern fuhren am linken Ufer die Stadhouderskade entlang. Dorian hatte Gefallen an Amsterdam gefunden. Er fand die Bezeichnung »Venedig des Nordens« durchaus berechtigt. Seit sie vor drei Tagen Johan Zaander zur Strecke gebracht hatten, waren sie durch die Stadt gebummelt, dabei gleichzeitig Ermittlungen durchführend. Im Vorort Borvedam hatte Dorian ein Haus gemietet. Von hier aus wollten sie ihre weiteren Nachforschungen betreiben. Bisher hatte sich jedoch nicht der geringste Ansatzpunkt ergeben. Sie hatten sich damit begnügen müssen, Gerüchte zu sammeln, die das Unwesen der Ratten von Borvedam betrafen. Erst als sie erfuhren, daß in den letzten drei Monaten vier Morde passiert waren, für die manche Leute die Ratten verantwortlich machten, beschloß Dorian, sich an die hiesige Polizei zu wenden. Das Ergebnis seiner Bemühungen war die Fahrt in Kommissar Rejnbrinks Dienstauto – und die Zusage Rejnbrinks, ihm die benötigten Informationen zu geben. »Borvedam hatte schon immer unter den Ratten zu leiden«, begann der Kommissar. »Die Chronik verzeichnet, daß es vor hundert Jahren nicht anders – höchstens noch schlimmer – gewesen sei. Die Berichte, daß es zu regelrechten Kämpfen auf Leben und Tod zwischen den Ratten und den Menschen kam, erachte ich jedoch nicht für authentisch. Dennoch finde ich den Plan richtig, Borvedam zu schleifen und dort eine moderne Wohnsiedlung zu errichten. Vielleicht wissen Sie, daß im Jahre 1935 ein Erweiterungsplan für Ams-
terdam ausgearbeitet wurde. Der Bau der geplanten Gartenstädte begann aber erst 1951, und es entstanden bisher die Vororte Slotermeer, Geuzenveld, Slotervaart …« »Das alles ist sicherlich sehr interessant«, unterbrach Dorian, »doch was hat das mit den Ratten zu tun?« »Ich erzähle Ihnen das, damit Sie die Hintergründe besser verstehen«, erklärte der Kommissar. »Im Zuge des Erweiterungsplanes soll auch Borvedam einer modernen Gartenstadt Platz machen. Die Befürworter dieses Planes geben als Argument auch die Rattenplage an. Die Gegner, die sich zumeist aus Bewohnern Borvedams zusammensetzen, die verständlicherweise nicht umgesiedelt werden wollen, sagen wiederum, daß die Ratten für sie weder eine Plage noch eine Bedrohung sind. Sie sehen, daß die Ratten auch einen politischen Aspekt darstellen. Nun, es kann aber nicht abgeleugnet werden, daß es zu ernsten Zwischenfällen kam. Einmal wurde ein Kanalarbeiter angefallen, ein anderes Mal fand man ein Kleinkind mit Rattenbissen auf. Es verschwanden in Borvedam zu allen Zeiten auch Menschen spurlos. Doch das kommt überall vor, und zu behaupten, die Ratten wären für das Verschwinden der Menschen verantwortlich, ist doch etwas weit hergeholt. Anders sieht es jedoch mit den vier Opfern der letzten drei Monate aus. Was wir von ihnen fanden, deutete darauf hin, daß sie von Ratten getötet wurden. Ersparen Sie mir Einzelheiten. Sie sind zu grausig. Es war überhaupt eine kriminalistische Meisterleistung, die Personen anhand der gefundenen Leichenteile zu identifizieren. Wir kennen auch die Namen der vier Opfer. Sie stammen alle aus Borvedam, waren jung und gutaussehend und männlichen Geschlechts. Und wir wissen, daß sie von Ratten zerfetzt wurden. Aber das sagt noch lange nicht, daß wir nun eine wahre Ratteninvasion zu befürchten hätten. Dieses Gerücht streuen die Städteplaner aus, um die Leute aus Borvedam zu vertreiben.« Der Kommissar beendete seine Rede keuchend. Sein Atem kam so rasselnd, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich. Dorian wartete, daß er seine Erzählung fortsetzte. Als der Kommissar aber beharrlich schwieg, fragte er: »Ist das alles?«
»Was wollen Sie denn noch hören?« fragte Rejnbrink schnaubend. »Nun, für Sie als Kriminalisten gehört es doch zur Routine, nach den Hintergründen zu forschen. Gab es Parallelen zwischen den einzelnen Fällen? Ich meine, abgesehen davon, daß stets Ratten für die Tat verantwortlich zu machen waren. Standen die Opfer in irgendwelchen Beziehungen zueinander? Oder suchen Sie nie nach Motiven?« »Bei Ratten nie«, antwortete Rejnbrink spöttisch, fügte jedoch sofort hinzu: »Aber es stimmt schon, daß es Parallelen gab. So fanden sich die Leichenteile der Opfer alle in der Amstel. Wir fanden Kleidungsstücke. Es handelt sich durchwegs um Nachtgewänder. Das heißt, die Opfer wurden nachts aus den Betten geholt. Aber nie war ihr Schlafzimmer auch der Tatort. Und noch etwas ist auffallend: Die Opfer – wie gesagt, junge Männer zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig Jahren – kannten einander. Man kann sie sogar als dicke Freunde bezeichnen. Sie gehörten alle derselben Clique an.« »Gibt es noch lebende Angehörige dieser Clique?« Rejnbrink warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Hören Sie, Hunter, ich würde es nicht gern sehen, wenn Sie mir in die Arbeit pfuschten. Dann könnte ich nämlich recht unangenehm werden.« »Ich kann Ihnen gar nicht in die Quere kommen«, sagte Dorian mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Sie als Kriminalist müssen nach einem Mörder suchen, der womöglich hinter diesen Verstümmelungen steckt. Geben Sie doch zu, daß Sie davon überzeugt sind, daß irgendein Psychopath nur glauben machen möchte, daß es sich um Opfer von Ratten handelt. Ich aber jage die Ratten. Ich verlange nur einen einzigen Namen aus dem Freundeskreis der Opfer. Mehr nicht.« Rejnbrink grunzte: »Anselm van Riems.« Er nannte eine Adresse in Borvedam. Inzwischen waren sie am Ziel angelangt. Der Wagen hielt vor dem Polizeipräsidium. »So, jetzt …« begann der Kommissar, doch Dorian unterbrach ihn. »Ich bitte Sie nur noch um einen Gefallen, Kommissar. Lassen Sie
uns Einblick in die Akten nehmen. Dann verspreche ich Ihnen, Sie nicht mehr zu belästigen.« Während sich Rejnbrink aus dem Wagen zwängte, preßte er durch die Zähne hervor: »In Gottes Namen, kommen Sie mit!«
Donald Chapman erstarrte, als er ins Wohnzimmer trat. Marvin Cohen saß in einem Ohrensessel und kraulte eine sich sträubende und kläglich miauende Katze, die er im Arm hielt. Als das Tier den Puppenmann erblickte, verstummte es sofort, sträubte das Fell und betrachtete ihn interessiert. Chapman kannte diesen Blick. In den Augen der Katze glomm das Interesse des Jägers für ein potentielles Opfer. Der Puppenmann ließ instinktiv die Hand unter dem winzigen Jackett verschwinden und griff nach seiner Pistole im Schulterhalfter. »Bist du von Sinnen, Marvin?« rief er dabei, so laut er konnte. »Jag sofort die Katze aus dem Haus!« »Sie ist mir zugelaufen«, sagte Marvin Cohen unschuldig. »Und da es hier angeblich von Ratten nur so wimmelt, habe ich mir gedacht …« »Du Sadist!« schimpfte Chapman. »Das hast du doch nur getan, um mir Angst einzujagen. Wenn Dorian hier wäre, hättest du es sicher nicht gewagt, die Katze ins Haus zu bringen. Los, schaff sie fort!« »Aber sie ist doch ganz harmlos. Hör nur, wie friedlich sie schnurrt.« »Sie schnurrt in Vorfreude auf einen ordentlichen Happen. Wenn das Biest nicht sofort verschwindet …« »Halt's Maul, Zwerg!« herrschte ihn Cohen an. »Ich habe das Tier in mein Herz geschlossen. Es bleibt im Haus. Wenn du dich fürchtest, dann such dir eben ein sicheres Versteck.« Chapman begann vor Wut zu zittern. Cohen demütigte und ärgerte ihn, wo er nur konnte. Und er konnte sich nicht revanchieren. Was konnte er gegen ihn schon ausrichten? Cohen war der einzige in der Inquisitionsabteilung, der ihn nicht für voll nahm. Über die
anderen Mitglieder konnte er sich nicht beklagen. Ohne ein weiteres Wort wollte er sich abwenden. Da schrillte das Telefon. Die Katze im Arm und Chapman bedeutungsvoll zuzwinkernd, ging Cohen zum Apparat und hob ab. Er nannte die Nummer ihres Anschlusses. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Ah, der gefürchtete Dämonenkiller persönlich!« Er tat, als wollte er die Katze loslassen, und registrierte mit zufriedenem Grinsen, daß Chapman zusammenzuckte. »Ja, ich höre … Nein, ich brauche mir die Adresse nicht zu notieren. Ich habe keine Hand frei. Aber mein Gedächtnis ist ausgezeichnet … Anselm van Riems … Buiksloterstraat … vierundzwanzig Jahre … Tagedieb, lebt vom Vermögen seines Vaters … Keine Sorge, ich weiß mit solchen Bürschchen umzugehen … Ja, ja ich bin ganz Ohr.« In den nächsten Minuten beschränkte sich Cohen aufs Zuhören und gab nur gelegentlich Laute der Zustimmung von sich. Abschließend versprach er: »Ich werde ihn mir sofort vorknöpfen.« Dann hängte er ein. »Ich muß dich jetzt leider mit Pussy allein lassen, Don«, wandte er sich mit gespieltem Bedauern an den Puppenmann. »Dorian hat mir einen wichtigen Auftrag gegeben, der keinen Aufschub duldet.« »Dann nimm das Biest mit, oder ich knalle es ab!« »Na, meinetwegen.« »Bevor du gehst, mach die Kellertür für mich auf. Ich möchte mich dort unten ein wenig umsehen.« Das war der Grund gewesen, warum Chapman überhaupt zu Marvin Cohen ins Wohnzimmer gekommen war. »Klar, mache ich, Don.« Marvin Cohen durchschritt das Wohnzimmer und trat dabei so fest auf, daß jeder seiner Schritte Don bis ins Innerste erschütterte. Nachdem er die Kellertür geöffnet hatte, sprang Chapman die Treppe hinunter. Die Tür fiel hinter ihm mit einem Knall ins Schloß. Chapman wirbelte herum, trommelte gegen die Tür, schrie nach Cohen, doch er bekam keine Antwort. Cohen stellte sich taub, und Chapman war sicher, daß er die Tür absichtlich zugestoßen hatte. Chapman wartete noch kurz und stieg dann die Treppe hinunter,
was bei seiner Größe nicht ganz leicht war. Als er das Treppenende erreichte, erstarrte er plötzlich. Vor einem der Kellerfenster hörte er die Katze. Sie kletterte durch eine Öffnung in den Keller. Die Katze und Chapman beschnüffelten einander. Er hatte seine winzige Waffe gezogen, bereit, sein Leben zu verteidigen. Seit er einige unliebsame Erlebnisse gehabt hatte, unterschätzte er die Gefährlichkeit von Haustieren nicht mehr; denn selbst wenn sie nur mit ihm spielen wollten, konnte das für ihn tödliche Folgen haben. Die Katze duckte sich und sprang auf einen Stapel von Kisten. Als diese unter ihrer Belastung zu schwanken begannen, setzte sie auf eine recht wackelige Kommode über. Chapman behielt sie im Auge, die Waffe hatte er unablässig auf sie gerichtet. Noch machte sie keine Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, aber sie war von einer Unrast erfüllt, die ihm zeigte, daß ihre Geduld bald am Ende sein würde. Sie sprang in eines der unteren Fächer eines Regals, duckte sich, streckte eine Pfote aus und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn zu sich winken. Chapman rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte nur Augen für die Katze, denn er wollte den Moment nicht versäumen, wenn sie sich abschnellte und auf ihn stürzte. Plötzlich wurde er aber doch abgelenkt. Links von sich vernahm er ein Rascheln, und dann sah er einen großen, langgestreckten Körper über den Boden huschen und hinter einer Batterie von Töpfen verschwinden. Eine Ratte! Wenn sich Chapman nicht getäuscht hatte, war sie nicht viel kleiner als die Katze. Die Katze! Chapman wandte ihr wieder seine Aufmerksamkeit zu. Doch sie beachtete ihn nicht mehr. Sie hatte die Ratte erspäht und blickte zu den Töpfen hinüber. Es dauerte nicht lange, da tauchte die Ratte wieder auf. Sie zwängte ihren fetten Körper zwischen den Töpfen hindurch und schnupperte mit zitternden Barthaaren in der Luft. Dann stellte sie sich auf die Hinterbeine, hielt sich mit den Vorderbeinen am oberen Topfrand fest, streckte sich und inspizierte den Inhalt des Topfes. Sie schien mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung nicht zufrieden, denn sie ließ von dem Topf wieder ab und setzte ihren Erkundungsgang
fort. Als sie zwischen Chapman und die Katze kam, erschien ihr plötzlich etwas verdächtig. Da sprang die Katze mit einem mächtigen Satz vom Regal. Die Ratte wandte sich sofort zur Flucht, doch sie kam nicht weit. Die Katze landete auf ihrem Rücken und schnappte nach ihrem Genick. Die Ratte krümmte sich, zog den Kopf ein, um keine Angriffsfläche zu bieten und rollte sich zusammen, so daß die Katze abrutschte. Chapman beobachtete den Kampf der beiden fast gleichgroßen Geschöpfe gebannt. Noch nie in seinem Leben hatte er eine so riesige Ratte gesehen; und noch nie hatte er eine Ratte gesehen, die so beherzt und so klug kämpfte. Sie hielt den Attacken der Katze nicht nur stand, nein, es zeigte sich bald, daß sie der Katze an Intelligenz überlegen war. Einige Augenblicke lang konnte Chapman keine Einzelheiten erkennen. Die beiden Tiere hatten sich ineinander verbissen und bildeten ein unentwirrbares Knäuel, das über den Boden rollte. Sie stießen die Töpfe um; Glas zerschellte klirrend, als einige Einmachgläser aus einem Regal fielen; Staub wirbelte auf, und der Raum war von Kreischen, Fauchen und Quietschen der beiden Tiere erfüllt. Als die Ratte auf der Katze lag, hörte Chapman das Krachen und Splittern von Knochen. Die Beine der Katze zuckten noch einige Male, versuchten, das Gewicht des Rattenkörpers abzuschütteln, aber ihre Bewegungen waren schon zu lahm. Die Ratte biß noch einmal kräftig zu, und die Katze rührte sich nicht mehr. Chapman war in Schweiß gebadet. Die Ratte packte die tote Katze an der blutigen Kehle und schleppte sie mit sich fort. Sie verschwand mit ihrer Trophäe hinter dem Gerümpel. Der Puppenmann, die entsicherte Miniaturpistole im Anschlag, folgte ihr gebannt. Was für ein erstaunliches Exemplar von einer Ratte! Hatte er es hier mit einer jener Ratten zu tun, die den Goldenen Drudenfuß bewachten? Er dachte schaudernd daran, was die Ratte mit ihm anstellen würde, wenn er ihr in die Hände fiel, dennoch zögerte er nicht, die Verfolgung aufzunehmen. Vielleicht fand er auf diese Weise eine erste Spur zum Goldenen Drudenfuß.
Er kam zu einem Loch, aus dem ihm ein beißender Gestank entgegenschlug. Das Kellerlicht fiel etwa einen Meter weit in eine schräg abwärtsführende Höhle. Chapman sah gerade noch, wie der Schwanz der Ratte hinter einer Biegung verschwand. Die Höhle war hoch genug für Chapman. Noch während er mit sich rang, ob er die Verfolgung der Ratte fortsetzen sollte, setzte er sich auch schon in Bewegung. Nach wenigen Schritten war er von völliger Dunkelheit umgeben. Zu seiner Ausrüstung gehörte an sich auch eine Taschenlampe, die er aber jetzt nicht bei sich hatte. Er tastete sich an der Wand aus feuchter Erde entlang und weiter durch den Stollen. Einige Male stieß er mit dem Kopf gegen Wurzeln. Als er nach weiteren Metern jedoch den Arm in die Höhe streckte, griff er ins Leere. Er durchschritt daraufhin den Stollen in seiner Breite und benötigte dafür fünf große Schritte. Das hieß, daß er sich in einer gut einen Meter breiten Höhle befand. Chapman beschloß, sich noch etwas tiefer in das unterirdische Labyrinth zu begeben. Plötzlich glaubte er, vor sich einen Lichtschein zu sehen. Als er um eine Biegung kam, stellte er überrascht fest, daß er sich nicht geirrt hatte. Ihm bot sich ein fantastischer Anblick. Der Stollen endete in einer großen Höhle, deren Boden zwei Meter tiefer lag. Er selbst befand sich auf der Höhe der Decke. Die Höhle war nicht nur für einen normalgroßen Menschen hoch genug, sie war auch an die drei Meter breit. Über die Wände krochen Würmer, die leuchteten; und in der Luft schwirrten leuchtende Pünktchen, die zusammen mit den Leuchtwürmern ein schattenloses Licht spendeten; es war ein diffuses Licht, aber es reichte aus, um die Höhle auszuleuchten. Plötzlich tauchte im Schein der Würmer und Irrlichter ein Rattenrudel auf. Sie sprangen von allen Seiten in die große Höhle. Chapman wartete nicht erst ihre nächsten Schritte ab, sondern wandte sich zur Flucht, die eine Hand ausgestreckt, mit der anderen über die Wand tastend. Als er jenen Teil des Stollens erreichte, in dem vereinzelt Wurzeln von der Decke hingen, vernahm er hinter sich das aufgeregte Quieken der Ratten. Die Geräusche kamen immer näher. Kein Zweifel, die Bestien hatten ihn entdeckt.
Endlich sah Chapman vor sich einen Lichtschein. Er stolperte durch das letzte Stück des Stollens und erreichte den Keller. Seine Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Er drehte sich um und feuerte zwei Mal in das Loch hinein. Dem zweiten Knall folgte der Todesschrei einer Ratte. Bis die Bestien ihren toten Artgenossen aus dem Weg geräumt hatten, konnte er längst die Kellertür erreicht haben. Er rannte durch den Keller, sprang in Riesensätzen über Hindernisse hinweg und hüpfte wie ein Floh von Stufe zu Stufe. Gleich war er bei der Kellertür angelangt. Doch da wurde ihm mit Entsetzen bewußt, daß die Tür ja verschlossen war. Er hämmerte wie verrückt mit seinen kleinen Fäusten dagegen. Hinter ihm schossen die ersten Ratten in den Keller. Chapman ließ von der Tür ab und wandte sich wieder den Bestien zu. Die erste Ratte hatte die Treppe erreicht. Chapman drückte abermals ab. Das winzige Geschoß drang dem Tier zwischen den Augen in den Schädel. Es wurde durch den Aufprall zurückgeschleudert und blieb tot liegen. Wenn er schon auf diese abscheuliche Art den Tod finden mußte, sollten wenigstens vorher einige der Ratten noch ihr Leben lassen. Die zweite Bestie wurde von einem Geschoß getroffen, als sie kaum noch einen Meter von ihm entfernt war. Chapman feuerte so lange, bis das Magazin seiner Pistole leer war. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Hatten ihn die Ratten schon eingekreist? Die Tür schwenkte nach innen auf. Chapman sprang auf eine untere Stufe, um von ihr nicht erschlagen zu werden. »Ich bin sicher, etwas gehört zu haben«, sagte jemand. »Dorian!« rief Chapman aus Leibeskräften. Hoch über ihm tauchte das angespannte Gesicht des Dämonenkillers auf. Dorian erfaßte die Situation sofort. Er bückte sich schnell nach dem Puppenmann, hob ihn auf und versetzte den heranstürmenden Ratten einige Fußtritte. Dann sprang er zurück und zog gleichzeitig die Tür hinter sich zu. »Das war knapp«, sagte Chapman atemlos. Der Dämonenkiller spürte, wie das winzige Herz des Puppenman-
nes gegen seine Handfläche pochte.
Julie Hanegem war schon spät dran. Sie hastete mit trippelnden Schritten die Treppe ins Kelleratelier hinunter. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, stürmte ihr auch schon Jacob Diepenbrock entgegen. »Julie-Schatz, nun mach aber schnell!« Sie faßte im Vorübergehen nach seinem Kinn und drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die stoppelige Wange. »Du hast vielleicht die Ruhe weg! Eine geschlagene Stunde hast du überzogen. Ich sitze hier wie auf Nadeln. Die beiden anderen Mädchen …« »Du hast den Hosenlatz offen«, sagte Julie Hanegem süffisant. Das nahm Jacob den Wind aus den Segeln. Er knurrte irgend etwas, und während er noch seine Kleider in Ordnung brachte, war sie an ihm vorbei und in der Garderobe verschwunden. »Hallo!« begrüßte sie die beiden Mädchen, die, nur mit Büstenhalter und Slip bekleidet, rauchend an den Schminktischen saßen. Ihre Gesichter waren leicht gerötet. Julie kannte die beiden nicht. »Habt ihr zusammen mit Jacob auf Nadeln gesessen?« fragte sie anzüglich. Das brachte ihr giftige Blicke ein; die eine blies ihr herausfordernd den Rauch der Zigarette ins Gesicht. Julie schlüpfte aus ihrem Mantel und mit der gleichen Bewegung auch aus dem Kostüm. »Brr, ist es hier kalt!« »Uns nicht«, sagte das eine Mädchen, das andere lächelte. »Welche Klamotten sind für mich?« rief Julie durch die offene Garderobentür und wühlte in einem Berg von Reizwäsche. »Greif dir was heraus!« karrt Jacobs Antwort. »Achte aber darauf, daß du keinen zu kleinen BH erwischst!« Das war eine durchaus berechtigte Ermahnung, denn für ein Mannequin hatte Julie eine etwas zu üppig geratene Oberweite. Sie fischte sich einen Büstenhalter ihrer Größe und das dazu passende Höschen heraus. »Los, los, Mädchen! Schlaft mir nicht ein!«
Julie hörte ihn im Atelier rumoren, dann ertönte rhythmische Musik. »Einmarsch der Gladiatoren!« verkündete Jacob. Und die beiden Mädchen verließen mit im Rhythmus der Musik kreisenden Händen, schwingenden Hüften und Stepschritten die Garderobe. Julie summte die Melodie mit, um sich schon in Stimmung zu bringen, während sie ihr Make-up vervollkommnete. »Julie!« Sie brachte ihre Frisur in Unordnung und tänzelte ins Atelier. Jacob hatte die beiden Mädchen in durchsichtige Schleier gehüllt und sie auf ein Podest mit allerlei Gerümpel im Hintergrund postiert. »Du in die Mitte, Julie!« verlangte er von seinem Platz hinter der Kamera aus. »Los, bewegt euch! Nicht so eckig wie Schaufensterpuppen! Ihr seid Flitterwöchnerinnen. Kichert nicht so dämlich! Ihr seid Flitterwöchnerinnen, die vor dem frischvermählten Gemahl den letzten Schleier ablegen. Und darunter kommt …« »… das dralle Blondchen Julie zum Vorschein«, vollendete eine von ihnen den Satz, während sie sich mit dem Schleier drehte und maskenhaft in die Kamera lächelte. Julie verpaßte ihr im Vorbeitänzeln mit dem Ellenbogen einen Stoß in die Rippen. »Au!« kreischte sie spitz. »Ich habe mich an einem Skelett gestoßen.« »So, jetzt seid ihr quitt. Und nun macht mir keine Faxen mehr!« rief Jacob. Er schaltete die Beleuchtung ein, und während die drei Mannequins ihre Verrenkungen machten, richtete er die Scheinwerfer aus und brachte die Aufheller in die richtigen Positionen. »Nicht so cool!« verlangte er. »Ihr wollt ja eueren Gemahl nicht frustrieren, sondern becircen. Los, mehr Schwung in den Hüften! Die Körbchen herausgestreckt! Nehmt euch ein Beispiel an Julie! Naja, wer hat, der hat.« Julie drehte sich und zog den Schleier hinter sich her. Dabei kam sie bis an den linken Rand des Podestes. Sie glaubte, im Schatten eine Bewegung gesehen zu haben, doch achtete sie nicht darauf. Ihr Schleier schleifte über den Boden. Plötzlich spürte sie einen Wider-
stand. Sie dachte, der Schleier sei an einem Nagel hängengeblieben, und kam aus dem Rhythmus. Als sie an dem Schleier zog, sah sie jedoch einen dunklen, pelzigen Körper daran hängen. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Was …«, wollte sich Jacob aufregen. Da sah er, daß sich in Julies Schleier eine Ratte verbissen hatte. Die beiden anderen jungen Frauen wichen zu dem Gerümpelberg zurück. »Jacob, verscheuch das schreckliche Biest!« rief die eine. Sie wollte sich an einem verbeulten Ofenrohr stützen. Doch ihre Hand bekam etwas Weiches, Glitschiges zu fassen. Bevor sie noch sah, daß sie mit einer fetten Ratte in Berührung gekommen war, bohrten sich auch schon scharfe Zähne in ihren Handrücken. Schreiend lief sie davon, an ihrem Schleier zwei Ratten nach sich ziehend. »Verdammt!« rief Jacob. »Wo kommen denn die vielen Viecher auf einmal her?« Er hatte einen Besen ergriffen und drosch damit auf die Tiere ein. Eine Ratte sprang ihn an, verbiß sich zum Glück aber nur in seiner Strickjacke. Jacob packte sie am Genick und schleuderte sie gegen die Wand. Er sah, wie eines der Biester ein Beleuchtungsstativ erkletterte und ihn von dort ansprang, konnte aber gerade noch ausweichen. Der langgestreckte Körper flog knapp an seinem Gesicht vorbei; der Rattenschwanz peitschte ihm ins Gesicht. Julie trat mit einem ihrer klobigen Absätze nach einer Ratte und zerquetschte ihr damit den Schädel. Ihr Schleier zerriß, als ein halbes Dutzend Ratten daran zu ziehen begann. Daraufhin packte sie eine Eisenstange, die sie dem als Dekoration gedachten Gerümpelberg entnahm, und entdeckte, daß sich die Ratten dort eingenistet hatten. Eine Ratte kroch aus dem Ofenrohr. Julie schlug mit der Eisenstange zu und zertrümmerte das Biest. Die beiden anderen Mädchen rannten in wilder Panik kopflos durch das Atelier. Sie bluteten bereits aus verschiedenen Bißwunden. Im Haar des einen Mädchens hatte sich eine Ratte eingenistet. Es versuchte verzweifelt, das Tier abzuschütteln. Das andere Mädchen stolperte über ein Kabel und fiel der Länge nach hin. Sofort stürzten sich drei, vier, fünf Ratten
auf sie. Jacob kam ihr zu Hilfe. Er schleuderte die Ratten mit Fausthieben zur Seite und half dem Mannequin auf die Beine. »Seht zu, daß ihr die Wendeltreppe erreicht! In meiner Wohnung seid ihr vor den Biestern sicher.« Ein Scheinwerfer fiel krachend um. Das verursachte einen Kurzschluß. Es wurde dunkel. Julie ließ ihre Eisenstange rotieren und stieß immer wieder auf weiche, zuckende Körper. »Kommt hierher!« ertönte Jacobs Stimme. Links von Julie flammte ein Feuerzeug auf. Im flackernden Lichtschein sah sie Jacobs zerfetzte Kleider und das blutige Gesicht des einen Mädchens, das gerade auf die Wendeltreppe zutorkelte. »Julie! Delana!« »Hier!« erwiderte Julie erschöpft. »Delana, komm zu mir!« rief Jacob durch die Dunkelheit. Ein hysterisches Schluchzen war die Antwort. Dann folgte ein dumpfer Aufprall, so als würde ein Körper auf dem Boden aufschlagen. »Mach Licht, Jacob!« rief Julie. Sie hielt sich einen Arm schützend vors Gesicht und pirschte sich an den Fotografen heran. Das Feuerzeug flammte wieder auf. Julie sah jetzt, daß der Boden des Ateliers mit Ratten übersät war; und unweit vor ihr ragten um sich schlagende Arme und Beine zwischen wild durcheinanderwirbelnden Rattenkörpern hervor. Für einen Augenblick tauchte ein blutiges Gesicht auf. »Jacob, hierher! Delana!« Julie erreichte Delana. Sie wunderte sich selbst, woher sie die Kraft nahm – und den Mut, ihr zu helfen, obwohl sie selbst in größter Gefahr schwebte. Sie ergriff den zerbissenen Arm, der sich ihr entgegenreckte, und zog Delana hoch. Strampelnde Ratten fielen von ihr ab, als sie auf die Beine kam. Julie packte ein Biest im Nacken, das sich in Delanas BH verkrallt hatte. Sie hörte, wie der Stoff riß, als sie das Tier fortzerrte, und schleuderte die quietschende Ratte weit von sich. Delana drohte umzukippen, doch da war Jacob mit dem brennenden Feuerzeug schon zur Stelle. Gemeinsam mit Julie brachte er sie
zur Wendeltreppe. Dort brach Delana zusammen. Sie kroch auf allen vieren die Stufen hoch. Ratten sprangen sie an. Jacob hielt ihnen die winzige Flamme des Feuerzeugs entgegen und trampelte auf den glitschigen Körpern herum. Julies Eisenstange krachte immer wieder gegen das Geländer und die Stufen der Wendeltreppe. Delana raffte sich noch einmal auf. Sie stürzte schreiend die Treppe hinauf, an einem Bein eine Ratte nachziehend. Julie folgte ihr, während Jacob sich mutig den Ratten entgegenstellte. Endlich hatten sie das obere Ende der Wendeltreppe erreicht. Das andere Mädchen lag bewußtlos auf dem Boden, aber wenigstens waren die Ratten noch nicht bis hier hochgekommen. Jacob beförderte noch einige der Biester mit Fußtritten die Wendeltreppe hinunter, und Julie erschlug mit der Eisenstange eine Ratte, die sich in Delanas Ferse verbissen hatte, dann öffnete Jacob die Tür zu seiner Wohnung. Er schleppte das bewußtlose Mädchen hinein, Julie und Delana schafften es aus eigener Kraft. Sobald die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, verließen jedoch auch Julie die Kräfte; ihr wurde schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, sah sie, wie ihr Jacob gerade eine Flasche an den Mund hielt. Er brachte sogar ein Grinsen zustande. Obwohl sein blutverschmiertes Gesicht einen furchtbaren Anblick bot, beruhigte es Julie. Sie trank in großen Schlucken aus der Flasche Kognak. Er rann ihr brennend die Kehle hinunter. »Ich habe bereits nach einem Arzt telefoniert. Die Feuerwehr wird auch bald eintreffen.« Julie kam auf die Beine. Sie sah Delana und das andere Mädchen auf einer Sitzbank hocken. Sie stierten dumpf vor sich hin. »Schock!« erklärte Jacob. »Ich habe ihre Wunden notdürftig behandelt, aber für Delana konnte ich nicht viel tun. Sie braucht Spitalspflege. Du scheinst noch am besten von uns davongekommen zu sein, Julie.« »Ich fühle mich soweit auch wieder ganz gut«, sagte sie tonlos und blickte ihm in die Augen. »Jacob, was – was hat das zu bedeuten?« Er hob die Schultern. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß …« Er verstummte.
»Es sah fast so aus, als hätten die Ratten diesen Überfall geplant. Sie kamen wie auf Kommando aus ihren Löchern. Wie eine Armee, ein Meer gedrillter Soldaten, das einer vorbestimmten Kriegstaktik folgt.« Als sie Jacobs Wohnung verließ, kam ihr das Erlebte wie ein böser Traum vor. Jacob hatte ihr ein Kleid und einen Mantel aus der Garderobe seiner Freundin geliehen. Der Arzt hatte ihr eine Tetanusspritze gegeben und sie für morgen ins Wilhelmina-Krankenhaus bestellt. Die beiden anderen Mädchen waren sofort dort eingeliefert worden. Bevor sie Jacob verließ, hatte sie noch einen Blick ins Keller-Atelier geworfen, wo die Feuerwehrmänner mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren. Es sah wie auf einem Schlachtfeld aus. Julie war sogar wieder so weit in Ordnung, daß sie sich ans Steuer ihres Wagens setzen konnte. Sie wollte rasch fort vom Schauplatz der Geschehnisse. Anselm erwartete sie. Jacob hatte ihn angerufen und erzählt, was passiert war. Anselm hatte gelacht. Manchmal glaubte sie, daß er überhaupt keine Gefühle besaß und auch für sie nichts empfand. Aber er konnte auch sehr zärtlich sein. Manchmal. Deshalb liebte sie ihn. Julie bog in die Buiksloterstraat ein und stellte den Wagen vor der Einfahrt ab. Sie hatte zwar den Schlüssel für das Tor, doch keine Lust, es aufzusperren. Sie stieg aus und ging zu dem kleinen Seiteneingang, der von Efeu umrahmt war. Als sie die Tür öffnete, hörte sie hinter sich ein Geräusch, und dann sagte eine keifende Stimme: »Julie Hanegem?« Sie fuhr herum und erschrak. Vor ihr stand eine bucklige Gestalt, die einen seltsam bestickten Umhang trug und sich auf einen verzierten Stock stützte. »Keine Angst! Ich tue Ihnen nichts«, sagte die Frau. »Im Gegenteil, ich meine es gut mit Ihnen. Ich will Sie warnen.« »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte Julie ängstlich und wollte durch die Tür entwischen. Aber da legte sich eine knochige, mit Pigmenten übersäte Hand auf die ihre und hielt sie fest.
»Man nennt mich Arline«, sagte die Alte. »Ich will Ihnen helfen. Anselm, Ihr Verlobter, ist ein Betrüger. Er hintergeht Sie.« »Lassen Sie mich in Ruhe!« fuhr Julie die bucklige Arline an und wollte sich befreien, doch die Alte hielt sie fest. »Ich muß Sie warnen, Julie«, keifte die Alte weiter. »Sie sind in großer Gefahr.« Sie stutzte und betrachtete Julies Hand mit den Wunden. »Rattenbisse!« konstatierte sie. Als das Licht einer Straßenlaterne auf das Gesicht der Alten fiel, sah Julie eine Hakennase, kleine, verschlagen dreinblickende Augen unter dichten, grauen Brauen, einen breiten Mund mit bräunlichen, aufgesprungenen Lippen – und rundherum unzählige Runzeln und Furchen. Aus Warzen sprossen dichte Haarbüschel. »Ich habe es kommen sehen«, fuhr Arline fort. »Nicht alle lassen sich Anselms Betrügereien so gefallen wie Sie, Julie. Ich muß Sie warnen. Die Ratten werden wiederkommen, wenn …« Julie schrie auf. Sie riß sich los, warf sich gegen die Tür, die quietschend aufschwang und stürzte in den Garten auf das erleuchtete Haus zu. Hinter ihr hörte sie das Tok-Tok eines Stockes. Als sie sich umwandte, sah sie, wie die Alte ihr humpelnd folgte. Sie schrie wieder. Als sie das Haus erreichte, ging gerade die Tür auf. Anselms schlanke Gestalt erschien darin. Sie fiel ihm schluchzend in die Arme. »Na, na!« machte er und strich ihr sanft über das blonde Haar. »Die Alte«, sagte Julie gegen seine Brust gepreßt, »die Alte verfolgt mich. Sie hat mir mit den Ratten gedroht, und …« »Aber da ist niemand«, erklärte Anselm. »Sieh selbst! Dreh dich um!« Julie schüttelte hartnäckig den Kopf und preßte sich noch fester an ihn. »Dreh dich um!« sagte er in befehlendem Ton. Er packte ihr Gesicht am Kinn und zwang sie, den Kopf herumzuwenden. Der Garten war leer. »Aber …« »Es sind die Nerven«, meinte Anselm nun wieder in begütigendem Tonfall. »Komm ins Haus! Nach einem Drink wirst du dich
wieder wohler fühlen. Und dann wirst du über alles lachen.« Sie folgte ihm ins Haus und durch die Diele in das modern eingerichtete Wohnzimmer. Dort stand ein Fremder mit einem Glas in der Hand. Er war etwas kleiner als Anselm, wirkte bulliger und war auch an die zehn Jahre älter. Er hatte schwarzes Haar, und in seinen braunen Augen spiegelte sich nur Härte. Das kantige Gesicht hatte brutale Züge – selbst jetzt, wo er unverbindlich lächelte. »Meine Verlobte, Julie Hanegem«, stellte Anselm van Riems vor. »Das ist Marvin Cohen, ein Engländer. Tu ihm den Gefallen und sprich englisch.« »Es trifft sich gut, daß ich Ihre Bekanntschaft mache, Miß«, sagte Marvin Cohen. »Ihr Verlobter hat mir von Ihrem Erlebnis in dem Foto-Atelier erzählt – das heißt, ich war dabei, als er den Anruf erhielt. Hatten Sie früher schon ähnliche Erlebnisse mit Ratten?« Julie öffnete den Mund, schüttelte den Kopf und blickte hilfesuchend zu Anselm. »Was will dieser Mann hier?« »Er untersucht den Tod von vier jungen Männern, die wir sehr gut gekannt haben«, antwortete Anselm; sein schönes Gesicht blieb dabei ausdruckslos, nur seinen sinnlichen Mund umspielte die Andeutung eines spöttischen Lächelns. »Du meinst …«, begann Julie. Anselm nickte. »Ich bin auch mit Auskünften über Carl de Groot zufrieden«, sagte Marvin Cohen schnell. »Dieser Fall liegt erst drei Tage zurück und dürfte noch gut in Ihrer Erinnerung sein.« Während Julie zur Bar ging und sich einen Drink mixte, sagte sie: »Muß ich seine Fragen beantworten, Anselm? Ich bin noch immer ganz erschöpft und fühle mich nicht in der Lage, über diese Dinge zu sprechen.« »Du hast recht, Julie«, sagte Anselm und wandte sich Cohen zu. »Eigentlich habe ich Ihnen schon alles gesagt. Julie könnte dem nichts mehr hinzufügen. Carl war mein bester Freund. Zwischen uns hat es keine Geheimnisse gegeben. Ich kann mir seinen Tod nicht erklären. Warum sollte er, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, nachts in die Kanalisation hinuntergestiegen sein?«
»Ein Zeuge hat ihn um Mitternacht gesehen«, sagte Cohen. »Aber das ergibt doch keinen Sinn!« »Vielleicht doch«, meinte Julie und drehte sich um. »Hast du von Carls seltsamen Träumen erzählt?« Julie unterbrach sich, als sie sah, wie Anselms Gesicht vor Wut rot anlief. »Das ist ja interessant!« hakte Cohen sofort ein. »Welche Träume?« »Das ist doch bedeutungslos«, sagte Anselm schroff und warf Julie zornige Blicke zu. »Die Träume haben mit seinem Tod nichts zu tun. Wir haben auch der Polizei nichts davon erzählt.« »Aber mir werden Sie davon erzählen«, sagte Cohen kalt. »Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Ihnen Kommissar Rejnbrink auf den Hals hetze?« Anselm ging zur Bar, wie um sich ebenfalls einen Drink zu mixen. Als er bei Julie war, holte er plötzlich aus und gab ihr eine Ohrfeige, daß sie in einen Sessel fiel. Cohen war mit zwei Sätzen bei ihm, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn ordentlich durch. Als er Anselm losließ, schwindelte diesem so, daß er sich setzen mußte. »Wenn du deine Freundin das nächste Mal schlägst, dann paß auf, daß ich nicht in der Nähe bin«, sagte Cohen und zupfte sich das Jackett zurecht. »Oder du reagierst dich gleich an mir ab. So, und nun heraus mit der Sprache! Was für einen Traum hatte Ihr Freund Carl?« »Er träumte von einem Mädchen.« »Nicht von Ratten?« »Nein, von einem Mädchen. Er nannte sie seine Traumfrau. Er nahm diese Träume sehr ernst. An dem Abend, bevor – das mit ihm geschah, zog ich ihn noch auf. Er wurde fuchsteufelswild.« »Du hast ihn mit Absicht provoziert«, fiel Julie ein. »Du hast gesagt, seine Traumfrau müßte eine Nutte sein, weil sie auch den anderen in ihren Träumen erschienen war.« »Moment mal!« Cohen war hellhörig geworden. »Soll das heißen, daß auch die anderen Opfer der Ratten von dem Mädchen geträumt hatten?« »Ja«, gestand Anselm. »Sie haben mir eine übereinstimmende Be-
schreibung von ihr gegeben.« »Und wußten die Freunde, daß sie von demselben Mädchen träumten?« »Nein. Sie waren untereinander nicht so gut befreundet wie mit mir.« »Und träumten sie alle zur gleichen Zeit von dem Mädchen?« »Natürlich nicht. Zuerst war Gustav dran. Nachdem er starb, hatte Jan den Traum, dann der nächste – und zuletzt Carl.« Cohen konnte zufrieden sein. Sein Weg zu Anselm van Riems hatte sich doch noch gelohnt. »Sind Ihnen denn keine Bedenken gekommen, als Ihre Freunde starben – einer nach dem anderen –, nachdem sie kurz zuvor von der Unbekannten geträumt hatten? Haben Sie nicht daran gedacht, daß der Traum so eine Art Todesahnung sein könnte?« »Das ist doch Humbug!« »Die Polizei könnte da anderer Meinung sein. Ihre Freunde sind nicht nur unter den gleichen Umständen gestorben – jeder war zum Zeitpunkt seines Todes nur mit einem Nachtgewand bekleidet und starb außerhalb des Hauses – nein, sie fanden den Tod auch unter den gleichen Vorzeichen. Das kann kein Zufall sein. Das Mädchen, das sie im Traum sahen, muß mit ihrem Tod im Zusammenhang stehen. Sie können mir nicht weismachen, daß Ihnen die Parallelen nicht aufgefallen sind. Warum haben Sie der Polizei gegenüber die Träume nicht erwähnt?« »Ich wollte mich nicht lächerlich machen.« Plötzlich grinste Cohen spöttisch. »Nun, wenn Sie nicht an die Zusammenhänge glauben, dann werden Sie auch noch nicht daran gedacht haben, daß Sie der nächste sein könnten.« »Anselm!« stieß Julie hervor und ergriff seine Hand. »Er will mir doch nur Angst einjagen«, behauptete Anselm, schien sich in seiner Haut jedoch auf einmal nicht mehr recht wohl zu fühlen. »Ist Ihnen diese Traumfrau auch schon mal erschienen?« fragte Cohen gerade heraus. »Nein!« kam es wie aus der Pistole geschossen. Es klang jedoch
nicht besonders überzeugend. »Er ist ein Heuchler!« sagte da plötzlich eine keifende Stimme an der Terrassentür. Julie zuckte zusammen, als sie die bucklige Gestalt zwischen den Gardinen erblickte. »Das ist die Alte, Anselm! Sie hat mir aufgelauert und gedroht …« »Ich habe Sie nur gewarnt«, berichtigte Arline und kam, auf ihren Stock gestützt, herein. Marvin Cohen betrachtete die Alte interessiert. Sie trug einen Umhang, auf den Zeichen und Symbole der Astrologie gestickt waren: die zwölf Tierkreiszeichen, ein Schema von der Konstellation der Planeten und die Häuser des Horoskops. Die Zeichen waren auch in ihren Stock eingeschnitzt. Sie selbst, fand Cohen, sah aus wie eine Knusperhexe, mit der Hakennase und der obligaten Warze darauf, dem lippenlosen Mund und dem hervorstehenden Kinn. Das schmutziggraue Haar hing ihr in wirren Strähnen aus der Kapuze. Bei jedem Schritt klopfte sie lautstark mit dem Stock auf. Jetzt deutete sie damit auf Anselm van Riems. »Ja, ja, er ist ein Heuchler und Betrüger«, sagte sie mit ihrer schrecklich schrillen Stimme. »Er spielt mit den Gefühlen anderer und stürzt sie ins Unglück. Er glaubt, etwas Besonderes zu sein, nur weil er das Aussehen eines nordischen Gottes hat. Er ist anmaßend, verlogen und hinterhältig.« Anselm hatte seine erste Überraschung überwunden. Er betrachtete die Alte belustigt. »Wo hat man dich denn losgelassen, Oma? Ich finde es wirklich erfrischend, in welch einfallsreicher Art du mich charakterisierst. Aber es geht zu weit, daß du dich an meine Verlobte heranmachst und sie zu erschrecken und einzuschüchtern versuchst.« »Ich habe sie nur gewarnt«, behauptete Arline. »Vor wem denn?« »Vor dir, Anselm van Riems. Du bringst Unglück über diese Frau. Und wenn du nicht bald in dich gehst und aufhörst, die Gefühle anderer mit Füßen zu treten, dann wird eine Katastrophe über Borvedam kommen.«
»Bist du nur hier eingedrungen, um uns diesen Blödsinn zu erzählen?« »Lach mich nur aus! Das Lachen wird dir schon noch vergehen! Noch hast du Zeit, dich zu bekehren: Entweder zu Julie oder zu Jenny. Aber es geht nicht länger an, daß du Julie mit Jenny und Jenny mit Julie betrügst. Dir hat es Julie zu verdanken, daß sie vorhin von den Rattenhorden überfallen wurde. Ja, ja, der Überfall der Ratten galt deiner Julie.« »Jetzt ist es aber genug!« herrschte Anselm die Alte an. Er hatte ihr mit steigender Erregung zugehört. Jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. »Hinaus!« brüllte er und ging drohend auf sie zu. Sie wich humpelnd zurück, während sie ihm abwehrend den Stock hinhielt. »Wer ist Jenny?« fragte Julie aus dem Hintergrund. Die Alte lachte schrill. »Jenny ist Anselms Geliebte!« Es hatte den Anschein, als wollte sich Anselm auf sie stürzen, doch Cohen trat dazwischen, so daß die Alte sich ungehindert zurückziehen konnte. Sie verschwand auf demselben Weg, auf dem sie gekommen war. Als Anselm auf die Terrasse stürzte, war sie verschwunden. »Ich hätte ihr das Genick gebrochen«, sagte er schweratmend. »Wenn sie mir noch einmal in die Quere kommt, werde ich es auch tun.« »Kennen Sie sie?« wollte Cohen wissen. Als Anselm den Kopf schüttelte, wandte er sich dem Mädchen zu. »Sie hat am Tor auf mich gewartet«, erzählte Julie, »und sich als Arline vorgestellt. Aber ich habe sie vorher noch nie in meinem Leben gesehen.« Cohen glaubte ihr. Eigentlich gab es hier für ihn nichts mehr zu tun. Die Alte, die sich Arline nannte und eine Wahrsagerin oder etwas Ähnliches zu sein schien, war für ihn ungleich interessanter. »Wer ist Jenny?« fragte Julie wieder. »Was weiß ich!« rief dieser ungehalten. »Ich kenne keine Jenny.« »Du lügst!« »Glaubst du dieser alten Vettel etwa mehr als mir?«
Cohen schickte sich zum Gehen an. »Ich lasse euch jetzt in eurem jungen Glück allein«, sagte er boshaft. Auf der Straße blickte er sich suchend um. Es waren nur wenige Passanten zu sehen, von der buckligen Alten fehlte jede Spur. Cohen lief zu seinem Wagen und startete ihn. Nachdem er auf der Flucht aus Zaanders Labor seinen Leihwagen beschädigt hatte, war man nicht bereit gewesen, ihm abermals einen Bentley zu überlassen. Jetzt mußte er sich mit einem Golf begnügen. In diesem Wagen hatte er das Gefühl, mit der Nase an der Windschutzscheibe zu kleben. Er fuhr langsam an und beobachtete im Vorbeifahren den Bürgersteig. Vier Häuserblocks weiter wendete er und fuhr wieder zurück, an van Riems Haus vorbei. Er überquerte zwei Seitenstraßen; und da war die Bucklige! Über das Tuckern seines Wagens hinweg hörte er das regelmäßige Aufschlagen ihres Stocks. Sein erster Gedanke war, den Wagen abzustellen und ihr nachzugehen. Es konnte nichts schaden, wenn er wußte, wo sie wohnte. Als er mit ihr auf gleicher Höhe war, überlegte er es sich jedoch anders. Er hielt, zog die Handbremse an und sprang aus dem Wagen. Arline hatte ihn bereits entdeckt. Sie blieb stehen und sah ihm entgegen, offensichtlich gefaßt. Selbst als sie die Waffe in seiner Hand sah, regte sich nichts in ihrem Gesicht. »Du kommst jetzt mit, Alte!« sagte er mit schleppender Stimme und packte sie am Arm. »Es sind da noch eine Menge ungeklärter Fragen, die du beantworten mußt. Und mach keine Dummheiten, sonst breche ich dir deine morschen Knochen!« Sie folgte ihm wortlos und ohne sich zu widersetzen zum Wagen. Als sie jedoch neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, sagte sie haßerfüllt: »Die Ratten sollen Sie bei lebendigem Leib auffressen!« Cohen lachte schallend.
Dorian ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Marvin müßte schon längst zurück sein. Wer weiß, welche Extratouren er wieder …« »Er fährt gerade mit dem Wagen vor«, wurde er von Coco unter-
brochen. Dorian lauschte, doch er konnte nichts hören. Wahrscheinlich hatte Cocos sechster Sinn ihr verraten, daß Cohen eingetroffen war. Obwohl es ihnen im Kampf gegen die Schwarze Familie nur nützlich sein konnte, daß Coco einige ihrer Fähigkeiten zurückgewonnen hatte, kam er immer noch nicht über die Tatsache hinweg, daß ihre Liebe zu ihm offensichtlich abgekühlt war. Die Eingangstür ging auf. Schritte von mehr als einer Person waren zu hören und vermischten sich mit einem regelmäßigen Klopfgeräusch. Die Tür flog auf. Eine bucklige Alte erschien im Rahmen. Hinter ihr tauchte Cohen auf. »Ich bringe euch lieben Besuch«, verkündete er über ihren Buckel hinweg. »Das ist Arline, eine Wahrsagerin oder Prophetin, die die Leute einzuschüchtern versucht, indem sie eine Rattenplage voraussagt. Da Ratten in unser Interessengebiet fallen, dachte ich mir, daß sie uns vielleicht helfen kann.« Dorian wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Die Augen der Alten funkelten ihn böse an. Er konnte sich denken, daß Cohen nicht gerade sanft mit ihr umgegangen war. Coco bot Arline einen Platz an. Sie sprach freundlich mit ihr, und das schien auch die Alte umgänglicher zu stimmen, aber sie sagte noch immer kein Wort, als sie auf der breiten Sitzbank Platz nahm; dafür klopfte sie mit dem Stock unaufhörlich in einem bestimmten Rhythmus auf den Boden. Dorian erkundigte sich, ob er ihr etwas zu trinken oder zu essen anbieten könnte, aber Arline schwieg beharrlich. Cohen erzählte von ihrem Auftritt bei Anselm van Riems, und Dorian begann klarer zu sehen. Cohen hatte auf jeden Fall richtig gehandelt, indem er die Alte herbrachte. Trotzdem sagte Dorian an sie gewandt: »Ich muß mich für das Benehmen meines Freundes entschuldigen. Er vergißt manchmal die guten Sitten und ist zu direkt.« »Er ist ein Flegel«, erklärte Arline, während sie immer noch mit ihrem Stock auf den Fußboden trommelte. Cohen grinste breit.
»Wie gesagt, ich entschuldige mich. Aber ich muß gestehen, daß er richtig daran getan hat, Sie herzubringen. Es scheint, daß Sie mehr als alle Bewohner von Borvedam über die Ratten wissen. Und an diesem Wissen bin ich interessiert.« Die Alte kicherte. »So unwissend, wie die Borvedamer tun, sind sie gar nicht. Sie wollen die Wahrheit nur nicht wahrhaben.« »Welche Wahrheit?« »Daß die Ratten die wahren Herrscher von Borvedam sind. Wenn ihre Königin es ihnen befiehlt, dann werden sie den Ort überfluten, alles dem Erdboden gleichmachen und die Menschen auffressen.« »Meinen Sie, die Ratten hätten ein Oberhaupt, dem sie bedingungslos gehorchen? Eine Rattenkönigin, die so etwas wie eine Superratte darstellt?« Arline kicherte schrill. Langsam taute sie auf. »Die Rattenkönigin ist kein Tier, sondern ein Mensch.« Dorian blickte zu Cohen, doch an dessen verblüfftem Gesichtsausdruck erkannte er, daß diese Eröffnung auch für ihn überraschend kam. »Ein Mensch als Oberhaupt der Ratten von Borvedam?« wunderte sich Dorian. Aber so unglaublich, wie er tat, erschien ihm das gar nicht. »Hat Ihnen das noch niemand gesagt?« fragte Arline. »Dabei weiß jedes Kind in Borvedam, daß Jenny die Königin der Ratten ist.« »Ich höre zum erstenmal davon«, gestand Dorian. »Könnten Sie mir mehr darüber erzählen?« Arline ruckte plötzlich hoch und fragte: »Ist außer uns noch jemand hier?« »Nein«, behauptete Dorian. Don hatte noch vor dem Auftauchen der Alten ein Versteck aufgesucht; das tat er immer, wenn Uneingeweihte zu Besuch kamen. »Dann hören Sie«, sagte Arline und setzte sich in Pose. »Jeder in Borvedam kennt die Geschichte der Ratten-Jenny, nur denken alle, daß es sich um eine Sage handelt. Ich aber weiß, daß die Geschichte wahr ist. Vor nahezu hundert Jahren wurde auf dem Friedhof von Borve-
dam ein Neugeborenes ausgesetzt. Ein Mädchen. Niemand wußte, wer die Mutter dieses Balgs war, und so nahm man an, daß Zigeuner es hingelegt hätten. Ein Besucher des Friedhofs fand das Kleine, das in einem Korb neben der Kapelle lag. Er rief andere Leute herbei. Doch als diese herankamen, wurden sie Zeugen eines seltsamen Geschehnisses. Plötzlich tauchten von überall her Ratten auf. Es dürften Hunderte oder Tausende von Ratten gewesen sein, die das Balg aus dem Korb holten und mit ihm flüchteten. Die Friedhofsbesucher verfolgten die Ratten, doch diese verschwanden mit ihrer Beute in Löchern unter der Erde. Man glaubte, das kleine Mädchen sei verloren. In späteren Jahren sah man jedoch immer öfter ein kleines Mädchen mit einem Rattenrudel auftauchen. Es konnte sich nur um das Findelkind handeln, das der Volksmund inzwischen Jenny getauft hatte. Gerüchte begannen sich um Jenny zu ranken. Man glaubte, daß sie von den Ratten aufgezogen worden wäre und die Ratten sie nun als ihre Königin ansahen. Man bekam Jenny immer weniger zu Gesicht, je älter sie wurde, aber man war weiterhin überzeugt, daß die Ratten ihr Ziehkind zur Königin gemacht hatten und sie immer noch über sie herrschte. Die Ratten ernährten ihre Königin, und die Königin stellte den Ratten ihre Intelligenz zur Verfügung. Und noch etwas erhielt Jenny von den Ratten als Dank für ihre Treue: Ewige Jugend. Man sagt, daß Jenny nicht mehr altert und immer noch so jung und frisch wie in ihren besten Jahren aussieht. Und Jenny ist auch heute noch die Rattenkönigin. Ich glaube daran, denn ich weiß es. Nur die anderen Borvedamer verschließen sich vor der Wahrheit.« »Wieso sind Sie so überzeugt, daß es die Rattenkönigin wirklich gibt?« »Ich kenne viele Geheimnisse zwischen Himmel und Erde, und die Sterne hoch oben verraten mir auch, was tief unter der Erde vor sich geht.« »Und glauben Sie, daß Jenny etwas mit dem Tod der vier jungen Männer zu tun hatte?« wandte sich Coco an die Alte. Diese warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Selbst die Polizei weiß inzwischen, daß die vier Opfer von Ratten zerfleischt wurden. Da
die Ratten aber nie etwas ohne Wissen ihrer Königin tun, muß Jenny das Todesurteil gesprochen haben. Ich kenne auch den Grund dafür.« »Und zwar?« »Enttäuschte Liebe«, sagte Arline voll Überzeugung. »Darauf könnten Sie auch von selbst kommen. Sie wissen, daß jedem der vier jungen Männer Jenny im Traum erschienen ist.« »Es ist nicht bewiesen, daß es sich bei der Traumfrau um diese Ratten-Jenny handelte«, warf Cohen ein. »Für mich schon.« Arline warf ihm einen verächtlichen Blick zu und fuhr fort: »Jenny ist den Männern im Traum erschienen, weil sie ihr gefielen. Sie lockte sie zu sich in ihr unterirdisches Reich und machte sie zu ihren Liebhabern. Als sie ihrer überdrüssig war, ließ sie sie von ihren eifersüchtigen Ratten töten.« Dorian mußte zugeben, daß es sich um eine runde Story handelte, die ihm die Wahrsagerin da auftischte, aber er war dennoch skeptisch. Es könnte sich natürlich alles so zugetragen haben; es paßte eigentlich ein Detail zum anderen, doch er fragte sich, ob Arline sich nicht nur interessant machen wollte. Wenn sie tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten besaß, dann hätte sie es nicht nötig, sich in ein so lächerliches Gewand zu kleiden. Sie sah ihm eher so aus, als ob sie zahlungskräftige Kundschaft neppen wollte. »Woher wissen Sie das alles, Arline?« »Aus den Sternen.« »Das erklärt natürlich alles«, meinte Dorian spöttisch. »Sie glauben mir nicht?« keifte sie und erhob sich erbost. »Nun, dann sterben Sie eben dumm. Aber ich will nicht gehen, ohne Ihnen noch etwas anvertraut zu haben. Und gedenken Sie meiner Worte! Es wird alles so kommen, wie ich gesagt habe: Ratten-Jenny glaubt, daß sie bei einem normalen Sterblichen die wahre Liebe gefunden hat. Wenn sie nun merken sollte, daß dieser Mann sie enttäuscht, dann wird sie in ihrer Wut die Ratten auf die Menschheit loslassen. Und in Borvedam gibt es Millionen und Abermillionen von Ratten. Sie können sich ausmalen, was das bedeuten würde.« Sie nickte noch einmal nachdrücklich, dann wandte sie sich ohne ein weiteres
Wort der Tür zu. Marvin Cohen wollte ihr den Weg verstellen, doch Dorian winkte ab. Als Arline das Haus verlassen hatte und das Klopfen ihres Stockes in der Ferne verklungen war, wandte sich Cohen an den Dämonenkiller. »Du willst die Alte laufenlassen, ohne daß sie uns den Beweis für ihre Behauptungen geliefert hat? Ich sage dir, die weiß viel mehr. Wir hätten sie auspressen sollen wie eine Zitrone. Überlasse sie mir und …« »In Ordnung«, sagte Dorian. »Ich überlasse sie dir. Aber du wirst sie nur beschatten. Vielleicht kannst du das sogar, ohne daß sie etwas davon merkt. Wage es aber ja nicht, ihr zu nahe zu treten, falls sie dich entdeckt. Verstanden?« »Ich werde ihr auf Distanz folgen«, versprach Cohen. »Soll ich gleich hinter ihr herwetzen?« »Na sicher. Oder weißt du, wo sie zu finden ist?« Marvin Cohen nahm seinen Mantel, zwinkerte Coco zu und eilte aus dem Haus. Donald Chapman tauchte zwischen den Büchern eines Regals auf. »Habe ich Blut geschwitzt! Die Alte muß übersinnliche Fähigkeiten haben, daß sie meine Anwesenheit gespürt hat. Ich hatte das Gefühl, daß sie mit ihrem Röntgenblick durch die Bücher hindurchsehen konnte.« »Ich glaube auch, daß sie mehr ist als eine Jahrmarkts-Wahrsagerin«, stimmte Coco zu. »Sie strahlt eine unerklärliche Aura aus, die ich einfach nicht erforschen konnte.« »Vielleicht ist sie eine Dämonin«, vermutete Dorian. Coco schüttelte den Kopf. »Das hätte ich gemerkt. Auf diese oder jene Art. Selbst Dämonen, die ihre Ausstrahlung vor mir verbergen, zeigen zumindest nicht so ein Spektrum einander oftmals widersprechender und gegensätzlicher Emotionen.« »Glaubst du, daß sie uns belogen hat? Oder hat sie uns nur die Wahrheit verschwiegen?« »Sie hat uns ganz bewußt einige Lügen aufgetischt, da bin ich mir sicher. Aber im großen und ganzen wird ihre Geschichte stimmen.«
»Das würde bedeuten, daß es tatsächlich eine Rattenkönigin gibt«, sinnierte Dorian. »Es ist fantastisch, aber es könnte wahr sein. Rekapitulieren wir einmal. Wir wissen, daß die Ratten von Borvedam den Goldenen Drudenfuß bewachen. Die Ratten werden von einem menschlichen Wesen, das sie selbst aufgezogen haben, angeführt. Der Ratten-Jenny. Ergo könnte es sein, daß wir nur über sie an den Goldenen Drudenfuß herankommen. Ratten-Jennys Achillesferse ist ihr Sexualtrieb. Sie lockt junge gutaussehende Männer aus Borvedam durch Fernsuggestion – oder wodurch auch immer – in ihr unterirdisches Reich, vernascht sie und überläßt sie dann ihren Ratten. Das wäre eine Erklärung für die vier Morde der letzten Zeit. Wer weiß, wie viele solcher Greueltaten nie entdeckt wurden. Arline hat uns aber noch einen Hinweis gegeben. Sie hat angedeutet, daß Ratten-Jenny sich tatsächlich in einen Mann aus Borvedam verliebt haben könnte. Und ich glaube auch, wir wissen, wen sie meint.« »Du denkst natürlich an Anselm van Riems.« »Ist das nicht naheliegend? Van Riems kannte alle vier Opfer. Als Arline ihm vorhielt, daß er seine Verlobte mit einer Jenny – womit die Rattenkönigin gemeint sein könnte – betrüge, bekam er ein schlechtes Gewissen. Vielleicht weiß er noch gar nichts von Jennys Liebe, aber hat eine Ahnung. Warum soll sie ihm noch nicht im Traum erschienen sein? Marvin glaubte ihm jedenfalls nicht, als er dies ableugnete. Und dann der Überfall der Ratten auf Julie Hanegem, van Riems Verlobte – Jenny könnte aus Eifersucht die Ratten auf sie gehetzt haben.« »Hör auf damit!« bat Coco. »Mir schwindelt, wenn ich in den Abgrund seelischer Verirrungen hinabblicke, der sich mir bei deinen Schilderungen auftut.« »Aber du mußt zugeben, daß es ein abgerundetes Bild ergibt. So könnte es gewesen sein.« »Vorausgesetzt, Arline hat in allen diesen Punkten die Wahrheit gesagt«, gab Coco zu bedenken. »Daß sie in irgendeiner Beziehung gelogen hat, steht für mich fest.« »Ja, es wäre natürlich gut zu wissen, was Lüge und was Wahrheit war. Aber egal – wir werden Anselm auf jeden Fall beschatten. Viel-
leicht bringt er uns weiter.« »Das wäre doch eine Aufgabe, die ich übernehmen könnte«, meldete sich Donald Chapman. »Fühlst du dich denn nach deinem Erlebnis mit den Ratten dazu kräftig genug?« fragte Dorian zweifelnd. »Na, wenn ich bei van Riems Nachtwache halte, werde ich mich schon nicht überfordern.« »Gut, wenn du meinst. Ich werde dich mit dem Wagen zu van Riems' Haus fahren.« Der Wagen hielt an der Ecke der Buiksloterstraat. Der Fahrer öffnete die Beifahrertür, blickte sich prüfend um. Als er sah, daß niemand in der Nähe war, sagte er leise: »Gut, Don, die Luft ist rein. Viel Glück!« Chapman sprang aus dem Wagen und verschwand gleich darauf im Schatten eines Baumes. Er winkte dem Dämonenkiller zum Abschied. Dann überprüfte er seine winzige Waffe. Das Magazin war voll. Dennoch ließ es Chapman nicht an Vorsicht mangeln. Er huschte rasch über den Gehsteig zu der Mauer, die das Grundstück abgrenzte. Chapman fürchtete Straßen und Lokale – eigentlich alle Orte, an denen sich viele Menschen aufhielten, noch mehr als die Keller und verborgenen Winkel, in denen das Ungeziefer hauste. Der Puppenmann kletterte an der Mauer hoch, die Ritzen und Vorsprünge, die einem normal großen Menschen wahrscheinlich nicht auffielen, geschickt nutzend, erreichte eine Efeuranke, zog sich an ihr hoch und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer an einer Efeuranke wieder hinuntergleiten. Einen Meter über dem Boden sprang er und landete auf trockenem Laub. Der Garten lag still und verlassen da. Im Haus brannte nur hinter zwei Fenstern im Erdgeschoß Licht, und diese beiden Fenster gehörten zweifellos zu einem Raum. Obwohl es empfindlich kalt war, standen beide Flügel des einen Fensters sperrangelweit offen. Chapman pirschte sich näher heran. Die friedliche Stille konnte trügerisch sein. Katzen auf Raubzug verursachten kaum Geräusche, aber wahrscheinlich war hier eher mit Ratten zu rechnen. Ratten! Warum mußten es ausgerechnet Ratten sein? Millionen
von Ratten, hatte die bucklige Alte gesagt. Und womöglich standen sie sogar unter dem Einfluß von Dämonen. Für Chapman, der Ratten mit ganz anderen Augen und aus einer ganz anderen Perspektive sah als normal große Menschen, waren es die abscheulichsten Ungeheuer, die man sich vorstellen konnte. Er hatte das Haus ohne Zwischenfall erreicht. Nun stand er unter dem offenen Fenster, das erleuchtet war. Er hörte murmelnde Stimmen, dann ging das Licht aus. Bettfedern quietschten. Chapman, der gerade über eine an die Wand gelehnte Planke zum Fenster hinaufklettern wollte, beschloß, noch einige Zeit zu warten, zumindest so lange, bis die Bettfedern zu quietschen aufgehört hatten. Endlich war es soweit. Ein Windstoß hatte den Vorhang aus dem Fenster geweht. Chapman kletterte am Vorhang bis zum Sims hinauf und sprang auf das Fensterbrett. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit im Zimmer. Zwei Gestalten lagen im Bett. Ihr regelmäßiger Atem zeigte ihm an, daß sie bereits schliefen. Deshalb zögerte er nicht länger und verließ seinen zugigen Beobachtungsposten am Fenster. Er sprang in das Zimmer und suchte nach einem geeigneten Platz, wo er sicher und vor der Kälte geschützt die Nacht verbringen konnte. Er fand schnell, wonach er suchte: einen Muff aus weichem Fell, der auf einer Kommode lag. Chapman machte es sich darin bequem; er hoffte nur, daß ihm nicht die Augen zufielen. Die eine Gestalt im Bett bewegte sich. Chapman dachte sich zuerst nichts dabei, aber dann sah er auf dem Fensterbrett einen Schatten. Eine Ratte! Er blickte wieder zum Bett. Es war ein Mann, der aufrecht im Bett saß. Kein Zweifel, das mußte Anselm van Riems sein. Er hatte die Augen geöffnet; Chapman erkannte es, weil sich die Straßenlichter darin spiegelten. Eine Turmuhr schlug zwölf. So spät war es schon? Anselm van Riems schlüpfte mit seltsam müden Bewegungen in die Pyjamahose und kletterte wie ein Traumwandler aus dem Bett. Eine Weile stand er da, den Blick in unergründliche Fernen gerichtet. Zu der einen Ratte auf dem Fensterbrett hatten sich weitere ge-
sellt. Sie vollführten seltsame Bewegungen, als tanzten sie; dazu gaben sie Laute von sich, wie Chapman sie von Ratten noch nie gehört hatte. Van Riems schien davon magisch angezogen zu werden. Ohne hinzublicken, nahm er seinen Wintermantel, der unordentlich über einem Stuhl lag, zog ihn sich über und trat aus dem Fenster. Die Ratten führten immer noch ihren seltsamen Tanz auf. Van Riems kletterte auf das Fensterbrett. Die Ratten sprangen in die Tiefe. Chapman hörte sie unten aufplumpsen. Van Riems schwang die Beine ins Freie. Die Ratten winselten. Der Puppenmann wartete, bis van Riems außer Sicht war, dann verließ er seinen Beobachtungsposten auf der Kommode, sprang zu Boden, lief zum Fenster und kletterte hinauf. Im Garten befanden sich Dutzende von Ratten, die sich um van Riems' Beine drängten. Sie gebärdeten sich wie in höchster Ekstase. Chapman wollte gerade mit dem Abstieg beginnen, als von der Seite ein Schatten auf ihn zustieß. Er hatte die Ratte gar nicht gesehen, die sich auf dem Sims versteckt gehalten hatte, als hätte sie den Rückzug ihrer Artgenossen decken wollen. Bevor Chapman an Gegenwehr denken konnte, hatte ihn die Ratte erreicht. Sie stieß ihn mit einer Vorderpfote um und schnappte zu. Er kam nicht an seine Pistole heran und war der Bestie damit hilflos ausgeliefert.
Du hörst die Frau deiner Träume rufen: Anselm, Anselm, Anselm – mein Körper sehnt sich so nach dir! Es ist Nacht. Du liegst im Bett, neben dir Julie. Aber du wirst ihrer gar nicht gewahr. Du schläfst nicht und bist auch nicht wach. Du befindest dich in einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Wie schon seit Monaten, erscheint dir auch heute Nacht das wunderschöne Mädchen im Traum. Es gab auch Nächte, da zeigte sie sich dir nicht. Du erfuhrst von Freunden … Anselm, ich liebe nur dich. Du bist mein ein und alles. Die junge Frau bewegt sich grazil und anmutig. Ihr wohlgeformter
Körper wird von blondem Haar umweht, das ihre Blößen nicht ganz verdecken kann. Ich bin deine Jenny. Du richtest dich im Bett auf. Langsam und vorsichtig. Du befürchtest, du könntest Julie wecken, aber noch mehr befürchtest du, du könntest durch eine unachtsame Bewegung Jennys Bild verscheuchen. Das Verlangen in dir wächst, je länger du ihre Erscheinung betrachtest. Sie schwebt im Fensterrahmen, Schatten zu ihren Füßen. Ihr Rufen wird drängender, sehnsüchtiger. Anselm, Anselm, Anselm! Komm! Noch nie hat sie dich so gerufen. Sie braucht dich. Und du brauchst sie. Du kannst nicht anders, du mußt ihr folgen. Du erhebst dich. Du bist nackt. Die Nacht ist kalt. Du schlüpfst in den Pyjama. Es ist noch immer kalt. Du ziehst noch etwas an, einen Mantel. Und dann wandelst du zum Fenster. Doch da entschwindet deine Jenny. Du willst nach ihr greifen, deine Hände fassen ins Leere. Anselm, komm! Laß deine Jenny nicht warten! Jenny braucht dich. Und du willst zu ihr, willst sie umarmen, zärtlich zu ihr sein, ihr sagen, daß es nur sie für dich auf der Welt gibt. Und du folgst ihr, kletterst aus dem Fenster. Doch wenn du auf sie zugehst, rückt sie von dir ab. Komm zu mir! Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet! Endlich habe ich den Mut, dich zu mir zu bitten. Komm! Du willst. Du willst. Ach, wie sehr du ihr alle Wünsche erfüllen möchtest! Du gelangst in den Garten. Jenny ist hinter dem Tor, auf der Straße. Zu deinen Füßen sind Schatten, die ein eigenes Leben haben. Es sind kleine, dunkle Körper, die seltsame Laute ausstoßen. Sie vollführen einen exotischen Freudentanz; es ist ein Ritual, ein Liebestanz für dich und Jenny. Der Nachtwind fährt dir in die Glieder, läßt dich frösteln. Doch die Lockrufe schlagen dich in ihren Bann, lassen dich die Kälte vergessen. Du gürtest den Mantel enger und kommst durch das Tor auf die Straße, gehst, nein schwebst sie entlang. Du bewegst dich wie in Zeitlupe, wirst aber dennoch immer schneller.
Jenny ist vor dir. Sie hat die Arme ausgebreitet, den Kopf tief in den Nacken gelegt. Ihr Mund ist halb geöffnet und wie zum Kuß gespitzt. Durch das herabwallende Haar schimmern geheimnisvoll ihre Reize. Oh, wie schön du bist, Jenny! Dann nimm mich, Anselm! Ich vergehe vor Lust. Der Weg führt dich in die Tiefe. Dunkelheit umgibt dich, kleine, pelzige Körper huschen um deine Füße. Sie fühlen sich naß und glitschig an. Aber was kümmert dich das? Irgendwo hinter der Dunkelheit wartet Jenny auf dich – die Frau deiner Träume. Anselm! Ihr Ruf ist ein Bitten und Flehen; und ihr Körper, so nah und doch noch so fern, ist die Inkarnation der Begierde. Irrlichter tauchen auf, umflirren dich. Es wird hell. Du siehst deine Jenny nun deutlicher denn je. Du eilst auf sie zu – und diesmal weicht sie nicht mehr zurück. Was du nun siehst, ist keine Illusion mehr. Es ist Jenny, wahrhaftig in Fleisch und Blut. Sie liegt auf der Seite, die Beine überkreuzt, auf ihrem Lager – einem Himmelbett. Und nun bist du bei ihr. Du fällst ihr in die Arme, und die Welt versinkt um dich. Ihr heißer Atem, der stoßweise kommt, bringt deine Haut zum Glühen. Der Mantel öffnet sich vorn, du beugst dich über Jenny – deine Jenny. Eure Körper vereinigen sich. »O Geliebter!« haucht sie. »Wie lange habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt! Sei zärtlich zu deiner Jenny! Ganz zärtlich! Enttäusche mich nicht! Bitte, bitte zeig mir, daß alles so ist, wie ich es in meinen Träumen erlebte! Ich will nur dich, Anselm, wollte nie einen anderen Mann. Aber ich hatte nicht den Mut …« Du breitest den Mantel über sie, wie eine Decke, und wickelst dich mit ihr darin ein. Du bist wie berauscht, willst nur diesem zauberhaften Wesen gehören, das nur dich will. Julie! »Ich bin eifersüchtig, Anselm!« Nicht an Julie denken! Sie ist nichts als deine Begleiterin für den Tag. Hier hast du deine Gefährtin für die Nacht. »Ich werde es nicht dulden, daß du neben mir noch eine andere
Frau liebst, Anselm.« Für einen Moment erlischt der Zauber. Du denkst: Was ist mit den anderen Männern, die du außer mir hast, Jenny? Womöglich hast du das auch laut gesagt, denn Jenny gibt dir Antwort. »Die anderen Männer waren nur ein schlechter Ersatz für dich, geliebter Anselm. Ich habe immer nur dich geliebt, seit ich dich zufällig vor vier Vollmonden sah. Doch ich hatte nicht den Mut, dir meine Liebe zu zeigen. Deshalb – und nur deshalb rief ich deine Freunde – einen nach dem anderen. Aber sie haben mich enttäuscht. Sie konnten mir nicht das geben, was ich von dir erwarte.« Welche Erwartungen setzt sie in dich? Du bist bereit, ihr alles zu geben. Noch nie zuvor warst du bei einer Frau so leidenschaftlich. Und du fühlst in diesem Augenblick, daß Jenny dir mehr bedeutet als alle anderen. »Ich liebe dich, Jenny!« Diese Worte hast du vorher noch nie so ehrlich empfunden. Was ist mit dir geschehen? Du bist wie von Sinnen. Deine Gefühle steigern sich zur Ekstase. »Ich brauche einen Beweis deiner Liebe, Anselm.« Welcher Beweise bedurfte es denn noch? Du begehrst Jenny. Dich fasziniert alles an ihr – das duftende Haar, das Grübchen an ihrem Kinn, der Schwung ihres Nackens, die Wölbung ihrer Brüste und das weite, unerforschliche Land ihres Beckens. Ihre Schönheit raubt dir den Atem. Du könntest Leib und Seele für sie opfern. Ist das nicht ein Beweis deiner Liebe? »Ich muß wissen, ob du mich um meiner selbst willen liebst und nicht nur diesen Körper. Denn dieser Körper bin nicht wirklich ich. Dieser Körper ist nur ein Trugbild.« Was für seltsame Worte. Der Höhepunkt des Glücks ist überschritten. Die Leidenschaft klingt ab. Du ruhst in wohliger Erschöpfung auf Jennys makellosem Körper. Du willst, daß es immer so ist wie jetzt. Dieser Körper muß für immer dir gehören. »Ich bin nicht der Körper«, wiederholt Jenny. Du ziehst die Stirn kraus. Warum muß sie um jeden Preis mit solch profanen und nüchternen Worten den Schleier zerreißen, der
die Wirklichkeit verbirgt? Du willst, daß es immer so bleibt. »Würdest du mich auch lieben können, wenn du mich siehst, wie ich wirklich bin, Anselm? Kann ich es wagen, mich dir in meiner wirklichen Gestalt zu zeigen? Ich fürchte mich davor, aber ich muß es tun. Nur wenn ich den Zauber von dir nehme und dir mein wahres Aussehen zeige, kann ich erfahren, ob du mich oder nur die Illusion meines Körpers liebst.« Du möchtest am liebsten lachen. Welche kindischen Ängste Jenny hat. Du weißt es doch, daß du vorher noch nie einen Menschen so geliebt hast wie sie. Das ist nicht nackte Begierde. Nein, du glaubst nicht, daß es nur die Lust des Fleisches ist. Es muß viel mehr sein. »Wirst du mich auch lieben, wenn ich die Illusion von dir nehme und mich dir in meiner wahren Gestalt zeige, Anselm?« »Ich schwöre es dir, Jenny!« »So sei es.« Und der Zauber verfliegt. Das Trugbild zerrinnt, löst sich auf. Du siehst die Wirklichkeit. Sie ist ein Schlag mitten ins Gesicht. Du taumelst zurück. Was ist das? Dieser Berg aus zuckendem Fleisch soll deine Jenny sein? Und diese kleinen, fetten, stinkenden Körper, die euer Liebesnest umtanzen – waren sie schon immer hier? Ratten! Keuchende, quietschende, schnüffelnde Ratten. Dein Körper wird von unsichtbaren Schlägen getroffen. Du zuckst unter diesen Schlägen zusammen. Ein Schrei ertönt. Du selbst bist es, der schreit. Aber du hast nicht lange die Kraft dazu. Du taumelst röchelnd, von Krämpfen geschüttelt. Du würgst vor Abscheu und Ekel. Hast du gerade dieses geifernde, zuckende Monstrum da gestreichelt, geküßt? Dein Magen entleert sich gurgelnd. »Anselm! Du liebst mich doch, so wie ich bin? Du hast es soeben geschworen.« Nein! Nein! Nein! Das kann nicht wahr sein! Das hast du nie und nimmer. Du liebst Jenny – aber nicht dieses stinkende, unförmige Etwas. Das ist nicht Jenny. »Anselm, Anselm, Anselm – enttäusche mich nicht! Komm, küß mich! Sei zärtlich zu mir!« Du weichst entsetzt zurück. Dein Magen krampft sich wieder zu-
sammen. Du krümmst dich vor Schmerz. Dumpf dröhnt das Entsetzen in deinem Kopf. »Bitte, bitte, enttäusche mich nicht!« schreit das Monstrum. »Ich bin deine geliebte Jenny! Ich brauche dich, Anselm!« Eher würdest du sterben, als dich dazu überwinden, diesen Ausbund an Häßlichkeit noch einmal zu berühren.
Donald Chapman konnte einfach nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah: Anselm van Riems in inniger Umarmung mit – ja, was war das eigentlich? Ein Mensch? Einiges deutete darauf hin. Da war ein Kopf mit einem Gesicht, das entfernt menschliche Züge hatte. Der Mantel, den van Riems über dieses Etwas breitete, nahm Chapman die Sicht, aber gelegentlich zuckten Arme darunter hervor, dicke, unförmige Arme mit Fettpolstern, auf denen krause Haarbüschel sprossen. Ein Beinpaar strampelte. Es waren Beine wie Säulen, aber weich und biegsam, so als besäßen sie keine Knochen. Und Anselm gab Liebesschwüre von sich. Chapman mußte sich abwenden vor Abscheu. Aber die Ratten zwangen ihn immer wieder, die abstoßenden Geschehnisse zu beobachten. Sie stießen ihn mit ihren Schnauzen an, und wenn das nichts half, traktierten sie ihn mit Bissen. Dabei konnte er froh sein, überhaupt zu leben. Als sich das Gebiß der Ratte um ihn schloß, hatte er geglaubt, das sei sein Todesurteil. Doch die Ratte wollte ihn nicht töten; sie trug ihn im Maul, ohne ihn auch nur zu verletzen, und folgte dem Rudel, das sich zu Füßen des traumwandelnden van Riems tummelte. Chapman hatte einige Male versucht, seine Lage zu verändern, um an seine Waffe im Schulterhalfter heranzukommen, doch da er dann sofort den verstärkten Druck der Rattenzähne verspürte, gab er seine Befreiungsversuche schließlich auf; zumal sicher war, daß ihn die Ratten am Leben lassen wollten. Er verfolgte, wohin Anselm van Riems gebracht wurde und was mit ihm geschah. Chapman konnte sich denken, daß es seinen vier Freunden ähnlich ergangen war. Vielleicht gelang es ihm, van Riems beizustehen und ihn vor einem
ähnlichen Schicksal, wie es seine Freunde erlitten hatten, zu bewahren. Die Ratten waren durch die verlassenen Straßen von Borvedam gehuscht. Van Riems war ihnen wie unter Zwang gefolgt. Sie waren zur Amstel gekommen und in einen Kanal hinabgestiegen. Durch diesen waren sie in ein unterirdisches Höhlensystem gelangt. Und überall waren Ratten. Sie taten van Riems nichts, aber sein Auftauchen versetzte sie in Ekstase. Dann hatte Chapman den jungen Mann aus den Augen verloren. Die Ratte, die ihn gefangenhielt, verschwand mit dem Puppenmann in einem niedrigen Seitengang. Chapman befürchtete schon, daß er nun für immer von van Riems getrennt war. Vielleicht sollte er irgendwelchen privilegierten Ratten als Futter dienen. Doch dann erkannte er, daß seine Befürchtungen grundlos waren. Die Ratte hatte ihn in eine Höhle gebracht, in der van Riems auf einem Strohlager in inniger Vereinigung mit dem unförmigen Monster lag, das einmal ein Mensch gewesen sein mochte. Der Boden war mit zuckenden Rattenkörpern förmlich übersät. Überall lagen menschliche Skelette herum – säuberlich abgenagt. Es stank erbärmlich. Chapman wurde von den Ratten gezwungen, das Treiben der beiden extrem unterschiedlichen Wesen auf dem Strohlager zu beobachten. Dabei kam er immer mehr zu der Überzeugung, daß van Riems gar nicht wußte, was für ein Scheusal er da in Armen hielt. Ganz sicher zeigte sich ihm Jenny gar nicht in ihrer wahren Gestalt. Diese Vermutung wurde schließlich bestätigt, als die Rattenkönigin mit gutturaler Stimme krächzte: »Ich muß wissen, ob du mich um meiner selbst willen liebst und nicht nur diesen Körper. Denn dieser Körper bin nicht wirklich ich. Er ist nur ein Trugbild.« Jetzt war für Chapman alles klar. Und er wußte nun auch, wie es van Riems' Vorgängern ergangen war. Sie waren einem Trugbild in das unterirdische Labyrinth – dem Reich der Rattenkönigin Jenny – gefolgt und nach einem kurzen Liebesrausch von den Ratten zerrissen worden. Aus Jennys Äußerungen erfuhr Chapman, daß van Riems es war, dem ihre wirkliche Liebe gehörte. Seine Freunde wa-
ren nur ein Ersatz gewesen, weil die Rattenkönigin es bisher nicht gewagt hatte, sich van Riems gegenüber zu offenbaren. Doch jetzt hatte sie den Mut gefaßt. Chapman ahnte, daß es zur Katastrophe kommen würde, wenn van Riems erkannte, wem er da seine Zärtlichkeiten schenkte. Aber van Riems war immer noch so verblendet, daß er Jenny ewige Liebe schwor. Jenny löste sich aus der Umarmung des jungen Mannes, und Chapman konnte sie nun genau sehen. Ihm wurde fast übel bei ihrem Anblick. Die Rattenkönigin hatte kaum noch etwas Menschliches an sich. Ihr Körper hatte annähernd die Form einer Ratte angenommen. Überall an ihrem Körper sprossen borstige Haarbüschel. An vielen Stellen war ihre Haut geplatzt. Die Ratten leckten fürsorglich ihre Wunden und umfächelten sie mit ihren langen Schwänzen. Jenny mußte inzwischen den Bann von Anselm van Riems genommen haben. Er taumelte zurück, als hätte er einen Schlag erhalten. Aus seiner Kehle kam ein unheimlicher Schrei. Er ging etwas in die Knie, dann krümmte sich sein Körper wie unter Peitschenhieben. Seine Augen wurden groß und vor Entsetzen starr. Anselm wandte sich halb ab, neigte den Kopf, seine Wangen wurden hohl, der Mund öffnete sich. Sein Schrei erstarb in einem Röcheln. Sein Gesicht verfärbte sich violett, wurde fast blau, die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu fallen. Er übergab sich. Wie bei einem epileptischen Anfall zuckend, taumelte er durch die Höhle; ein Ertrinkender, der nach einem Strohhalm sucht; ein von Ekel und Abscheu Geschüttelter, der dem Entsetzen entfliehen will. Aber er fand keinen Ausweg. Das Abscheuliche war überall, in Gestalt Hunderter außer Rand und Band geratener Ratten, in Form von grinsenden Totenschädeln – und Jenny: das Häßlichste und Abstoßendste! Anselm van Riems wimmerte. Hinter ihm erhob sich Jenny vom Lager. Eine gallertartige Masse quoll aus ihren Augenwinkeln, Tränen der Rattenkönigin? Sie streckte begehrend die Arme nach Anselm aus. Dieser wich taumelnd und immer wieder unmenschliche Klagelaute ausstoßend vor ihr zurück.
Das schien die Ratten in Rage zu bringen. Chapman entging nicht, wie sie immer unruhiger wurden. Einige sprangen an van Riems hoch und bissen ihn, aber Chapman schenkte dem im Augenblick keine Aufmerksamkeit. Etwas anderes fesselte seinen Blick. Er sah durch das Stroh von Jennys Lager etwas Goldenes schimmern und erkannte die Form eines Drudenfußes mit einem Durchmesser von annähernd einem Meter. Der Goldene Drudenfuß! Chapman wollte näher an das Lager, doch die Ratten verstellten ihm den Weg. Er sah ihre aufgerissenen Rachen. Eine duckte sich und sprang. Chapman brachte sich hinter einem Totenschädel in Sicherheit. Ein Rattenschwanz durchschnitt pfeifend die Luft und peitschte seinen Rücken. Anselm stand jetzt mitten in der Höhle. Immer mehr Ratten sprangen an ihm hoch und schnappten nach ihm. Er hatte bereits blutige Hände. Doch er schien den Schmerz gar nicht zu spüren. Seine vor Entsetzen geweiteten Augen waren auf Ratten-Jenny gerichtet, die sich ihm näherte. Er wich rückwärtsgehend vor ihr zurück. Zwei, drei Ratten waren an ihm hochgeklettert. Sie wollten sich an Anselm rächen, der ihrer Königin eine solche Schmach angetan hatte. Doch als die Ratten seinen Hals erreicht hatten und zum tödlichen Biß ansetzen wollten, gab Jenny einige Pfeiflaute von sich, und die Ratten erstarrten. »Nicht töten! Laßt meinen Geliebten am Leben!« kam es über ihre zitternden Lippen. Anselm schrie auf, als er das hörte. Die Ratten wollten daraufhin wieder nach seiner Kehle schnappen, doch Jenny gab abermals diese Pfeiflaute von sich, die den Ratten Einhalt geboten. Das verschaffte auch Chapman eine Atempause. Er setzte mit einem mächtigen Sprung über die Ratten hinweg und lief auf Anselm zu. »Geh!« sagte Jenny gerade zu ihm. »Ich gebe dich frei. Ich will dich noch nicht töten. Ich muß allein sein.« Anselm wirbelte herum. Chapman hatte ihn schon fast erreicht, als wieder Bewegung in die Ratten kam. Sie schnappten nach Anselms nackten Füßen, zerrten an seinem Mantel. Anselm stürzte davon.
Chapman wollte ihm folgen, aber da baute sich eine Ratte vor ihm auf, die doppelt so groß wie eine Katze war. Chapman zielte kurz mit der Waffe und drückte ab. Zwischen den Augen der Ratte entstand ein Loch. Der Weg war frei. Chapman kam mit zwei gewaltigen Sätzen an Anselm heran. Mit einem dritten sprang er an ihm hoch und bekam eine Manteltasche zu fassen, in die er sich hineinfallen ließ. Völlig erschöpft blieb er in der Manteltasche liegen. Hier war er in Sicherheit. Er wurde zwar in seinem Versteck ganz schön durchgeschüttelt, denn Anselm van Riems rannte, was seine Beine hergaben, aber er war den Ratten entkommen, und nur das zählte. Als er sich einigermaßen erholt hatte und wieder bei Kräften war, lugte er aus seinem Versteck. Sie hatten das Reich der Rattenkönigin verlassen. Anselm van Riems lief immer noch, obwohl die Ratten nicht mehr hinter ihm her waren. Er befand sich in einer menschenleeren Straße. Seine Schritte hallten dumpf durch die Nacht. Er war barfuß. Zwischen den rasselnden Atemzügen gab er immer noch die weinerlich klingenden Klagelaute von sich. Anselm war völlig durchgedreht. Chapman hoffte nur, daß er nicht den Verstand verloren hatte, aber vielleicht war er mit einem Schock davongekommen. Vor ihnen tauchten die Lichter von Scheinwerfern auf. Der Wagen steuerte genau auf Anselm zu, der in der Mitte der Straße lief. »Anhalten!« murmelte Anselm erschöpft vor sich hin. Und immer wieder: »Anhalten, anhalten …« Er warf die Arme in die Luft. Die Autoscheinwerfer kamen näher. Chapman kletterte aus der Manteltasche und sprang in die Tiefe. Er ließ sich in den Rinnstein rollen. Hinter ihm bremste quietschend der Wagen. »Wohl verrückt geworden!« schimpfte jemand. Anselm taumelte zur Beifahrertür. »Nehmen Sie mich mit! Bitte!« Die Tür ging auf. Anselm ließ sich in den Wagen fallen. Nach einer Weile fiel die Tür hinter ihm zu. Das Auto fuhr an. Es war ein Streifenwagen der Polizei. Chapman sah ihm nach, bis die Rücklichter verschwanden. Es hät-
te wenig Sinn gehabt, zu Anselms Haus zu gehen und dort wieder Wache zu schieben. Besser war es, Dorian Bericht zu erstatten. Chapman irrte eine Weile durch Borvedam, bis er die Orientierung wiederfand. Danach war es nicht schwer, das Haus in der Nijvelstraat zu finden, das sie gemietet hatten. Er kletterte durch ein offenes Fenster im Erdgeschoß. Dorian hatte wohlweislich alle Türen offengelassen, auch die des Zimmers, das er mit Coco bewohnte. Chapman hatte den Raum kaum betreten, als das Licht anging. Dorian saß aufgerichtet im Bett und hielt die Vampirpistole in der Hand, die Holzpflöcke verschoß. Er ließ sie erleichtert sinken, als er Chapman erblickte. »Du scheinst mit Besuch gerechnet zu haben«, meinte der Puppenmann. Inzwischen war auch Coco aufgewacht. »Ich habe sogar damit gerechnet, daß du auftauchen könntest«, sagte Dorian und schwang sich aus dem Bett. Er betrachtete Chapman stirnrunzelnd. »Du siehst aus, als hättest du einiges durchgemacht.« Er schnupperte. »Und nach Parfüm duftest du auch nicht gerade.« »Er riecht nach Ratten«, stellte Coco fest. »Ich werde uns Kaffee machen.« Eine Viertelstunde später saßen sie in der Küche und hielten Kriegsrat. Cohen war durch die Geräusche aufgewacht und gesellte sich zu ihnen. Dorian erwähnte kurz, daß Cohen die alte Arline bis zu einer verfallenen Windmühle am Rande von Borvedam verfolgt hatte. Sie schien dort zu wohnen. Da sie sich von einer ermüdenden Beobachtung der Windmühle nichts versprachen, hatte Dorian Cohen zurückbeordert. Es genügte vorerst, zu wissen, wo man Arline finden konnte. Nach dieser kurzen Erklärung erzählte Chapman sein unheimliches Erlebnis im Reich der Rattenkönigin Jenny. Alle waren beeindruckt. »In Borvedam wird sich bald einiges tun«, schloß Chapman. »Ratten-Jenny wird es nicht so ohne weiteres hinnehmen, daß Anselm
ihre Liebe verschmäht hat. Ich habe sie beobachtet. Sie sinnt auf Rache. Erinnert ihr euch noch, was Arline für den Fall prophezeite, wenn der geliebte Mann Jenny enttäuscht?« »Nur zu gut«, sagte Coco schaudernd. »Arline sagte, daß Jenny dann die Ratten auf die Bewohner von Borvedam loslassen würde. Und ich glaube nicht, daß sie übertrieben hat.« »Nein, in diesem Punkt dürfte Arline die Wahrheit gesprochen haben«, stimmte Dorian düster zu. »Arline hat diese Entwicklung ziemlich exakt vorausgesehen. Wir müssen mit einer Rattenplage rechnen.« »Es wäre furchtbar, wenn all die Millionen Ratten plötzlich aus ihren Löchern kriechen und …« Coco sprach nicht zu Ende. Alle hatten genügend Fantasie, sich die kommenden Schrecken auszumalen. »Allein können wir nichts unternehmen, um dieser drohenden Gefahr Herr zu werden«, sagte Marvin Cohen. »Das übersteigt einfach unsere Möglichkeiten.« »Du hast recht«, pflichtete ihm Dorian bei. »Wir müssen die zuständigen Behörden warnen. Ich werde mich sofort mit Kommissar Rejnbrink in Verbindung setzen. Ich habe mir klugerweise im Präsidium seine Privatnummer geben lassen.« »Du bist doch nicht so naiv zu glauben, daß er dir die Geschichte mit Ratten-Jenny abnimmt«, meinte Cohen spöttisch. »Wer weiß, vielleicht doch. Aber wie dem auch sei, ich muß ihn warnen, um mir später keine Vorwürfe machen zu müssen.« »Und was ist mit Anselm?« wollte Cohen wissen. »Um den kümmern wir uns schon noch. Die Sicherheit der Borvedamer ist vorrangig.«
Dorian hatte um zehn Uhr einen Termin mit Kommissar Pit Rejnbrink und war im Taxi zum Polizeikommissariat von Borvedam gefahren. Marvin Cohen hatte den Auftrag erhalten, zur Windmühle hinauszufahren und Arline um jeden Preis herbeizuschaffen. Dorian hoffte, daß sie von der Alten erfahren konnten, was gegen die Ratten zu tun war. Cohen war mit dem VW bereits unterwegs. Donald
Chapman war bei ihm. Da Dorian mit dem Taxi gefahren war, stand Coco der zweite Leihwagen zur Verfügung. Sie wollte einige Besorgungen erledigen und hatte sich deshalb eine Einkaufsliste zusammengestellt. Um selbst für eine längere Belagerung durch die Ratten gewappnet zu sein, wollte sie im Haus einen größeren Vorrat an Lebensmitteln aufstapeln. Auch Rattengift und Fallen standen auf ihrer Liste. Sie ging sie noch einmal durch und fand, daß sie nichts vergessen hatte. Bevor sie sich jedoch auf den Weg machte, rief sie bei Anselm van Riems an. Eine Frauenstimme meldete sich, wahrscheinlich Julie. Von ihr erfuhr Coco, nachdem sie sich als Krankenschwester des WilhelminaKrankenhauses ausgegeben hatte, daß Anselm vom Arzt eine Beruhigungsspritze bekommen hatte und schlief. Nein, sein Zustand sei nicht ernst. Er habe nur einen schweren Schock erlitten, fantasiere und rede konfuses Zeug, dürfte aber in häuslicher Pflege bleiben. Der Arzt habe alle weiteren Verhöre durch die Polizei strikt untersagt. Zwei Beamte seien vor dem Haus postiert. Coco beendete das Gespräch einigermaßen beruhigt. Sie wollte gerade das Haus verlassen, als sie aus dem Keller Geräusche hörte. Sie ging hin, öffnete die Tür, schlug sie aber sofort wieder zu. Obwohl sie sich nicht denken konnte, wie es Ratten möglich sein sollte, eine Tür zu öffnen, sperrte sie dennoch ab. Begann die Invasion der Ratten bereits? Schickte Jenny ihre Horden aus, um sie an den Menschen von Borvedam furchtbare Rache nehmen zu lassen? Als Coco auf die Straße kam, bot sich ihr ein alltägliches Bild. Zwei Häuserblocks weiter spielten einige Vorschulkinder, Hausfrauen gingen einkaufen. Mitten auf der Straße lag der Kadaver einer Ratte. Ein Auto hatte sie überfahren. Coco startete den Wagen. Der Supermarkt war nur einige Straßen entfernt. Sie hatte keine große Eile, sondern fuhr langsam, um sich umsehen zu können. Ihr sechster Sinn verriet ihr, daß etwas in der Luft lag. Es konnte aber auch sein, daß sie sich alles nur einbildete; nur zu gut wußte sie, wie überreizt sie war.
Sie bog in eine Geschäftsstraße ein und kam an einem kleinen Park vorbei. Pensionäre saßen an Tischen und spielten Karten und Schach. Es war ein ungewöhnlich warmer Novembertag. Eine Frau mit einem Kinderwagen kam aus dem Park. Plötzlich tauchte ein Rudel Ratten aus einem Gebüsch auf. Einige der Ratten sprangen die Frau an, die anderen fielen über den Kinderwagen her. Die Frau begann zu schreien. Coco trat abrupt auf die Bremse, stürzte aus dem Wagen und rannte in den Park. Die Frau war von den Ratten zu Boden gerissen worden. Coco kümmerte sich zuerst um den Kinderwagen, in dem das hilflose Kleinkind herzzerreißend schrie. Sie sah entsetzt, daß fünf Ratten über das Kind hergefallen waren, ihm aber noch nichts getan hatten; sie zerrten zwar an ihm, aber es schien eher, daß sie es aus dem Kinderwagen holen wollten. Sie wollen das Kind entführen, durchzuckte es Coco. Sie packte die Ratten und schleuderte sie weit von sich. Dann wandte sie sich der Frau zu. Inzwischen waren andere Leute herbeigeeilt und hatten die Ratten mit Taschen, Schirmen und Stöcken in die Flucht geschlagen. Die überfallene Frau schien unverletzt. »Am besten, Sie gehen mit Ihrem Kind nach Hause«, riet Coco ihr und stieg wieder in den Wagen. Mehr konnte sie nicht für die Frau tun. Auf dem weiteren Weg wurde Coco Zeuge eines weiteren Zwischenfalls mit Ratten. In einem Laden versuchte ein Metzger eines Rattenrudels Herr zu werden, das über sein Fleisch hergefallen war. Er rückte ihnen mit einem unterarmlangen Messer zu Leibe. Coco stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Supermarkts ab, holte sich einen Einkaufswagen und steuerte auf den Eingang zu. Gerade als sie das Gebäude betreten wollte, brach dort eine wilde Panik aus. Kunden stürmten dem Ausgang zu. Coco wäre von ihnen beinahe umgerannt worden. Sie sah eine Frau an sich vorbeilaufen, aus deren Mantelkragen das Hinterteil einer Ratte ragte. Auch Angestellte kamen herausgestürzt. Ihre weißen Mäntel hingen ihnen in Fetzen vom Körper, waren blutverschmiert. Eine Frau mit einer schräg sitzenden Perücke schrie immer wieder:
»Ich kann nichts sehen! Ich bin blind!« Ihre Augenhöhlen waren blutig. Sie rannte gegen einen Turm aus Konservendosen, der einstürzte. Die Frau wurde unter den Konservendosen begraben. Coco überlegte nicht lange und lief zu der Frau, um ihr beizustehen. Sie schrie hysterisch, als Coco sie am Arm packte und hochzog. Coco versuchte, sie zu beruhigen, aber das war unmöglich. Wenn sie nicht blind gewesen wäre, hätte Coco sie hypnotisieren können, aber es gelang ihr wenigstens, sie trotz heftigsten Widerstands ins Freie zu bringen. Es mußten Hunderte oder gar Tausende von Ratten sein, die den Supermarkt im Sturm erobert hatten. Nun, nachdem sie keine Opfer mehr fanden, begannen sie mit einem sinnlosen Zerstörungswerk. Bald darauf ertönte eine Polizeisirene, und wenig später traf auch die Feuerwehr ein. Coco stieg in den Wagen und fuhr davon, um ihre Besorgungen woanders zu erledigen. Jetzt gab es für sie keinen Zweifel mehr. Der Terror der Ratten hatte begonnen. Sie hoffte nur, daß die Behörden das auch erkennen würden.
»Ich möchte zu gern wissen, was aus Pussy geworden ist«, sagte Cohen leichthin, während er den VW-Käfer steuerte. Chapman saß auf der Ablagefläche vor der Heckscheibe. Ein unbefangener Beobachter hätte ihn für ein Maskottchen halten können. »Die Ratten haben diese verdammte Katze aufgefressen«, sagte er sarkastisch. »Du hättest eben besser auf sie aufpassen sollen und sie nicht in den Keller lassen dürfen.« »Was – sie hat sich in den Keller geschlichen?« fragte Cohen erstaunt und lachte. »Das hast du mit Absicht getan«, sagte ihm Chapman auf den Kopf zu. »Du hast auch mich absichtlich in den Keller gesperrt.« »Aber Don!« Cohen bremste abrupt, da vor ihm ein Lastwagen die Straße verstellte. Der LKW war mit den Vorderrädern eingesunken. Cohen stieg aus und sah, daß die Straßendecke an dieser Stelle eingebro-
chen war. Ein Kranwagen versuchte, den LKW herauszuheben. Cohen wandte sich in englischer Sprache an die Umstehenden, doch verstand ihn niemand. Dann sah er einige Rattenkadaver herumliegen und reimte sich den Rest zusammen. Er stieg wieder in den Wagen, fuhr im Rückwärtsgang bis zur nächsten Querstraße und wendete dort. Auf Chapmans Frage, was eigentlich passiert sei, antwortete er: »Verdammte Ratten! Sie haben die Straße an dieser Stelle unterhöhlt. Als der Lastwagen darüberfuhr, brach die dünne Decke unter seinem Gewicht ein. Ich frage mich nur, ob die Ratten das bezweckt haben.« »Es wäre möglich, daß Jenny ihnen das befohlen hat.« »Dann können wir uns noch auf allerhand Überraschungen gefaßt machen.« Cohen steckte sich eine Zigarette in den Mund. Er suchte im Wagen vergeblich nach einem Zigarettenanzünder und holte schließlich fluchend sein Feuerzeug hervor. Sein Fuß zuckte instinktiv zur Bremse, als vor ihnen ein halbes Dutzend Ratten die Fahrbahn überquerte, aber dann lachte er wild und gab Gas. »Wieder einige Biester weniger«, grunzte er zufrieden. Sie kamen ohne weiteren Aufenthalt aus Borvedam hinaus. Cohen bog auf einen Feldweg ein, der durch Büsche hindurchführte. »Dahinter liegt die Windmühle. Wir sind gleich da.« Als sie die Sträucher hinter sich gelassen hatten, sah Chapman bereits die Mühle. Die Flügel standen still. Cohen entfuhr ein erstaunter Ausruf. »Sieh dir das einmal an, Wichtel! Ratten, wohin du blickst.« Chapman reckte den Kopf. In der Tat. Das Gelände rund um die Mühle wogte förmlich unter einem Meer von Rattenkörpern. Sie hatten die Mühle eingekreist und wanderten in einem beständigen Strom darum herum. »Hoffentlich lebt die Alte noch«, sagte Cohen gepreßt. »Du wirst doch auf einmal nicht so etwas wie Mitgefühl entwickeln?« meinte Chapman spöttisch. Cohen grinste verzerrt. »Ach wo! Aber die Alte ist uns nur lebend von Nutzen. Es wäre verdammt schade, würde sie ihr Geheimnis
mit ins Grab nehmen.« »Dort steht ein Wagen!« rief Chapman plötzlich und deutete aus dem Seitenfenster. Cohen sah in den Innenspiegel und blickte in die Richtung, in die Chapman wies. Der Wagen stand etwa zweihundert Meter von Arlines Windmühle entfernt; etwas hinter einem Hügel verborgen. »Ob die Alte wohl Besuch hat? Vielleicht ist das aber auch ein Treffpunkt für Liebespärchen. Der Wagen ist ziemlich versteckt abgestellt. Ich fahre mal hin.« Er bog vom Weg ab, und der Wagen rumpelte über das unebene Gelände und um den Erdhügel herum. »Die eine Tür ist offen. Der Wagen scheint verlassen zu sein«, stellte Chapman fest. Cohen fuhr an die Seite des Wagens. Als er auf gleicher Höhe mit der Tür war, schoß plötzlich ein Schatten heraus und prallte wuchtig gegen ihr Seitenfenster. Der einen Ratte folgten weitere, die in blinder Wut den Wagen ansprangen. Eine Reihe dumpfer Laute wie von aufprallenden Geschossen war zu hören. Als keine weitere Attacke mehr erfolgte, blickte Cohen in den anderen Wagen. »Mein Gott!« Er würgte und fuhr sofort an. Im Vorbeigleiten sah Chapman auf den Vordersitzen zwei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte menschliche Körper. Auch ihm war dieser Anblick zu viel: Er wandte sich ebenfalls ab. Wahrscheinlich hatte es sich um ein Liebespärchen gehandelt, das in der Nacht hierher gefahren war und von den Ratten überfallen wurde. »Halt dich fest, Wichtel!« rief Cohen, dessen Gesicht immer noch wächsern war. »Wir fahren gleich über lebenden Untergrund.« Chapman sah, wie der Wagen auf die wogende Masse von Rattenkörpern steuerte – und dann rollten die Räder über die Ratten hinweg. Das krachende Geräusch splitternder Knochen vermischte sich mit den durch Mark und Bein gehenden Todesschreien, Ratten sprangen auf den Wagen hoch und fielen wieder herab. Cohen erreichte die Windmühle und fuhr so an den Eingang her-
an, daß zwischen ihm und der Beifahrertür nur ein freier Raum von einem Meter lag. Er betätigte die Hupe. Das schien die Ratten nur weiter aufzustacheln. Ihre Attacken wurden immer heftiger. »Wenn es ihnen gelingt, eines der Fenster einzuschlagen, dann gute Nacht«, sagte Chapman. »Warum gibt die Alte kein Lebenszeichen von sich?« schimpfte Cohen, während er unablässig die Hupe niederdrückte. »Verdammte Närrin! Ich muß nach ihr sehen.« »Bist du wahnsinnig? Du kannst mich doch hier nicht allein lassen. Die Ratten werden dich in Stücke reißen.« Aber Cohen lachte nur und wechselte auf den Beifahrersitz über. Er spannte seine Muskeln an, stieß die Tür auf, sprang hinaus, schlug die Tür hinter sich wieder zu und erstürmte den Eingang der Mühle. Chapman befürchtete schon, daß die Tür aus massivem Holz abgesperrt sein könnte, aber dann sah er, wie sie unter Cohens Körpergewicht nachgab und hinter ihm sofort wieder ins Schloß fiel. Doch wenn die Ratten die Mühle bereits erobert hatten? Dann war Cohen verloren – und er selbst ebenfalls. Er war nicht in der Lage, den Wagen zu steuern. Plötzlich sackte der Wagen vorn ein. Chapman erinnerte sich an den Lastwagen und befürchtete, die Ratten könnten auch hier das Gelände unterhöhlt haben, doch da sackte der Wagen auch auf der linken hinteren Seite ein – diesmal mit einem Knall –, und Chapman wußte, daß die Ratten die Reifen zerbissen hatten. Das war schlimm genug, aber immer noch besser, als wenn der Wagen im Boden einsinken würde. Wo blieb denn nur Cohen? Man konnte über ihn sagen, was man wollte, aber ein Feigling war er nicht. Chapman stand Todesängste aus, während die Ratten mit ihren Körpern immer wieder gegen die Scheiben knallten. Sie waren auf den Kofferraumdeckel geklettert, rannten gegen die Windschutzscheibe an und rissen die Scheibenwischer ab. Ihre Pfoten trommelten auf das Wagendach. Sie glotzten Chapman durch die Heckscheibe an. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Der Tod war so nahe.
Endlich ging die Eingangstür der Mühle auf. Cohen erschien darin. Er zog hinter sich die heftig um sich schlagende Arline her. Chapman hielt den Atem an, als Cohen die Beifahrertür öffnete und Arline hineinstieß. Sie schrie auf. Cohen kam um den Wagen herum. Er schlug um sich und schoß wie ein Verrückter mit der Pistole in die Luft. Was Chapman nie für möglich gehalten hätte, trat ein: Die Schüsse schienen die Ratten einzuschüchtern. Jedenfalls erreichte Cohen unversehrt die Fahrertür, riß sie auf und sprang herein. Er hatte den Motor laufen lassen, so daß er sofort abfahren konnte. »Alle vier Reifen sind platt«, erklärte Chapman. »Wir schaffen es schon«, sagte Cohen zuversichtlich. Der Wagen rollte auf den Felgen über die Ratten hinweg. Wieder diese schauerlichen Geräusche krachender Knochen und die Todesschreie. Cohen wandte sich an die steif dasitzende Arline. Ihr Mund war verkniffen, als schmollte sie. »Durch Ihre Sturheit hätten wir alle draufgehen können«, schimpfte er. »Warum sind Sie denn nicht herausgekommen, als Sie die Hupzeichen hörten?« »Ich habe Sie nicht gebeten, mir zu helfen.« »Bilden Sie sich nur nichts ein! Uns geht es nicht um Ihre Person, sondern um Ihr Wissen. Meinetwegen könnten die Ratten Sie mit Haut und Haaren auffressen.« Sie wandte ihm den Kopf zu, und ihr lippenloser Mund verzerrte sich zu einem grotesken Lächeln. »Ich sagte Ihnen schon, daß ich die Ratten nicht fürchte. Mir hätten sie nichts getan.« »Ach, dann sind die Biester wohl nur hier, um Ihnen einen Höflichkeitsbesuch abzustatten?« Arline schwieg. Sie erreichten die ersten Häuser von Borvedam, ließen den Wagen stehen und nahmen ein Taxi. Chapman kauerte sich in der Tasche von Cohens Jackett zusammen. Als Cohen einen Blick zurück auf den verbeulten VW warf, meinte er grinsend: »Da wird sich die Leihwagenfirma aber freuen.«
Dorian Hunter hatte dem Kommissar wider besseres Wissen die volle Wahrheit erzählt, denn er erachtete es für nötig, die Behörden auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Rejnbrink hatte ihn ausreden lassen. Jetzt war er am Zug. »Nein, das nehme ich Ihnen nicht ab, Mr. Hunter!« rief er, während er in seinem Büro wild gestikulierend auf und ab ging. »Diesen Bären können Sie mir nicht aufbinden. Ein von Ratten aufgezogenes Mädchen, das zu ihrer Königin wurde! Was für ein blühender Unsinn! Aber damit begnügen Sie sich ja noch nicht einmal. Die Rattenkönigin hat sich auch noch in einen Mann verliebt. Und weil dieser von ihr nichts wissen will, wird sie aus gekränkter Eitelkeit die Ratten von Borvedam auf die Menschheit loslassen. Was denken Sie sich eigentlich dabei, mir solch einen Humbug aufzutischen?« »Seien Sie doch nicht so vernagelt, Kommissar!« begann Dorian, aber Rejnbrink unterbrach ihn. »Mir ist in meiner Laufbahn schon eine Menge vorgekommen. Jeden Tag bekomme ich Hinweise von Verrückten und alten Weibern über Invasoren vom Mars, lästige Poltergeister und dergleichen mehr. Aber Sie übertreffen alle alten Weiber. Bei Ihrer Fantasie sollten Sie besser Vampir-Romane verfassen, Sie – Sie Rattenfänger.« »Ich habe selbst schon daran gedacht, meine Memoiren zu schreiben«, entgegnete Dorian. »Warum stehlen Sie mir eigentlich meine kostbare Zeit, Mr. Hunter? Ich habe eine Serie grauenhafter Morde aufzuklären …« »Die hängen doch damit zusammen!« Als er Rejnbrinks zweifelnden Blick sah, lenkte er ein: »Na schön, Sie ungläubiger Thomas. Lassen Sie einmal alles weg, was Ihnen nicht in den Kram paßt. Nehmen wir an, es gibt keine Ratten-Jenny und auch nicht die von mir genannte Motivation für die Morde. Dann bleibt nur noch die Rattengefahr. Und davor will ich Sie warnen. Ich will nur, daß Sie Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung treffen. Wenn die ersten Opfer zu beklagen sind, ist es zu spät.« »Und was müßte ich Ihrer Meinung nach tun?« »Fordern Sie Truppen an, jede Menge Flugzeuge und Hubschrau-
ber, um die Bevölkerung notfalls evakuieren zu können – und vor allem etliche Tonnen Rattengift!« »Aha! Und mit welcher Begründung soll ich das alles anfordern? Ich bin doch nicht der liebe Gott, sondern nur ein kleiner Angestellter. Ich muß Rechenschaft ablegen für alles, was ich tue. Soll ich einfach den Minister anrufen und ihm sagen, hören Sie mal, unsere Ratten-Jenny hat Liebeskummer, wer weiß ob sie nicht durchdreht, sie ist nämlich ein labiles Gör …« Noch während er sprach, begann das Telefon zu läuten. Er nahm den Hörer ab, meldete sich und lauschte dann. Nur einmal sagte er: »Ja, ja, ich bin noch am Apparat. Sprechen Sie weiter!« Dann vergingen etliche Minuten, in denen er dem Bericht des Anrufers zuhörte, bis er abschließend bat: »Ich möchte über alle ähnlichen Vorfälle auf dem laufenden gehalten werden.« Er legte den Telefonhörer auf. »Was war?« fragte Dorian, obwohl er es ahnte. »Es hat einige Zwischenfälle mit Ratten gegeben«, sagte Rejnbrink tonlos. »Feuerwehr und Rettung sind im Dauereinsatz. Eine Schule wurde von Hunderten von Ratten überfallen. Einige Kinder wurden verletzt, bevor sie sich ins Obergeschoß retten konnten. Sie mußten über Feuerwehrleitern geborgen werden.« »Glauben Sie mir jetzt?« »Das über Ratten-Jenny?« fragte Rejnbrink spöttisch, doch als Dorian aufbrausen wollte, sagte er begütigend: »Nun werden Sie nicht gleich wild. Ich nehme Ihre Warnung jetzt ernst und könnte mir sogar vorstellen, daß die Ratten zu einer noch größeren Plage werden. Wenn es in meiner Macht läge, würde ich nicht zögern, den Notstand auszurufen, aber so einfach geht das nicht. Ich werde jedoch alle Hebel in Bewegung setzen.« »Falls Sie auf meine Hilfe Wert legen – ich stehe zu Ihrer Verfügung«, bot sich Dorian an. »Und ob ich darauf Wert lege«, sagte Rejnbrink. »Wenn es nur halb so schlimm kommt, wie Sie prophezeien, benötigen wir jeden einzelnen Mann. Und besonders einen so erfahrenen Rattenfänger wie Sie, Mr. Hunter.« »Nicht Rattenfänger – Dämonenkiller trifft besser zu«, berichtigte
Dorian. Beide lächelten, wenn auch jeder aus einem anderen Grund.
Auf dem Rückweg kam Coco zufällig durch die Buiksloterstraat und beschloß, bei van Riems vorbeizuschauen. Die beiden Polizisten am Tor wollten sie jedoch nicht ins Haus lassen. Coco schenkte ihnen ein betörendes Lächeln und starrte jeden von ihnen hypnotisierend mit einem Auge an – eine Gabe, die sie früher als Hexe meisterlich beherrscht hatte und nun langsam wieder erlernte. Es wirkte. Die Polizisten gaben ihr den Weg frei. Im Hauseingang kam ihr Julie Hanegem entgegen. Coco fand, daß sie trotz ihrer unnatürlichen Blässe nichts von ihrer Schönheit eingebüßt hatte – ja, vielleicht noch attraktiver aussah, als auf den Plakaten, die sie in der Stadt gesehen hatte. Ratten-Jenny mußte dieses Mädchen abgrundtief hassen. »Sind Sie Jenny?« empfing Julie sie. »Sehe ich denn aus wie ein Monstrum?« fragte Coco zurück. »Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht – und Ihrem Verlobten.« »Er schläft«, sagte Julie. Sie betrachtete Coco immer noch voll Mißtrauen. »Aber manchmal erwacht er und – und …« Sie verstummte. Coco ergriff voll Mitgefühl ihre Hand. »Ich weiß, wovon Ihr Verlobter fantasiert. Wir werden versuchen, ihm zu helfen. Und auch Ihnen. Aber es wäre besser, Sie würden dieses Haus verlassen. Oder überhaupt für einige Tage aus Borvedam fortgehen. Hier sind Sie in großer Gefahr, Julie.« »Sie können mir keine Angst einjagen.« »Das war auch nicht meine Absicht, Julie. Ich will nur …« »Ich bleibe in diesem Haus. Bei Anselm.« Coco überlegte, ob sie das Mädchen beeinflussen sollte, Borvedam zu verlassen, entschied sich aber dagegen. Sie konnte sich mit ihren widergewonnenen Kenntnissen noch nicht recht anfreunden und verzichtete so weit wie möglich darauf. Wenn Julie bei Anselm bleiben wollte, wollte sie ihr ihren Willen lassen. »Alles Gute, Julie!« sagte Coco und ging.
Als sie in das Haus in der Nijvelstraat zurückkehrte, waren Marvin Cohen und Donald Chapman bereits da. Sie hatten die alte Arline mitgebracht. Coco stellte fest, daß Don sich nicht mehr vor ihr versteckte. Arline erwiderte Cocos Gruß nicht; sie saß schweigsam und steif wie eine Mumie da. »Sie ist uns böse, weil wir sie vor den Ratten gerettet haben«, klärte Cohen Coco auf. »Arline wird schon ihre Gründe haben«, sagte Coco gleichgültig. Draußen gellte die Sirene eines vorbeifahrenden Einsatzfahrzeuges. »Dorian hat angerufen«, sagte Donald Chapman. »Kommissar Rejnbrink hat sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt. Es könnte sein, daß bald der Notstand ausgerufen wird. Und wir sollen aufs Kommissariat kommen, falls er bis zum Abend nicht hier eintrifft.« »Es wird immer ärger mit den Ratten«, erklärte Cohen. »Uns haben sie regelrecht das Auto unter dem Hintern auseinandergenommen. Die Alte weiß sicher, wie man den Ratten beikommen könnte, aber sie macht den Mund nicht auf. Ich würde zu gern meine Spezialmethode anwenden, um sie zum Sprechen zu bringen.« Arline saß bewegungslos da. Plötzlich begann sie mit ihrem Stock auf den Boden zu trommeln, wie schon bei ihrem ersten Besuch. »Laß Arline in Ruhe!« sagte Coco. »Ich glaube, sie will sich nur wichtig machen. Was soll sie schon über Ratten-Jenny wissen?« Arlines lippenloser Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Was ist das?« fragte Chapman plötzlich. »Habt ihr das Ächzen nicht gehört? Es klang, als würde das Haus aus den Fugen geraten.« »Alte Häuser haben es eben so an sich, daß sie knarren«, meinte Cohen. »Oder es sind die Ratten«, sagte Coco. »Bevor ich das Haus verließ, warf ich einen Blick in den Keller. Horden von Ratten hatten ihn besetzt.« »Den Ratten wird bald ganz Borvedam gehören«, ertönte Arlines keifende Stimme. Sie machte den Mund zum erstenmal auf, seit sie
im Haus war. »Warum helfen Sie uns nicht, das zu verhindern?« fragte Coco. »Das geht mich nichts an.« »Übrigens, ich war vorhin bei Anselm van Riems«, meinte Coco wie nebenbei. »Er hat den Schock noch nicht überwunden, den ihm das Erlebnis mit Ratten-Jenny verursachte.« Arline kicherte. Das Thema schien sie zu interessieren. Coco hatte das auch gehofft. Sie hatte einen bestimmten Verdacht. »Es war dumm von Ratten-Jenny, sich Anselm in ihrer wahren Gestalt zu zeigen«, fuhr Coco fort, und plötzlich hatte sie das Gefühl, daß der Boden unter ihr schwankte – wie bei einem Erdstoß. Trotzdem sprach sie ruhig weiter: »Ratten-Jenny muß doch wissen, wie abstoßend häßlich sie ist. Nein, es war nicht klug, sich Anselm zu zeigen. Bei seinem Aussehen kann er ja an jedem Finger zehn haben.« »Es war überhaupt dumm von Ratten-Jenny, sich in einen Mann zu verlieben«, keifte Arline. »Sie gehört zu den Ratten. Und sie hätte bei diesen bleiben sollen.« Coco war enttäuscht. Sie hatte erwartet, daß Arline für Ratten-Jenny Partei ergreifen würde, doch genau das Gegenteil war der Fall. Arline klopfte weiter mit dem Stock auf den Boden, in einem ständig sich wiederholenden Rhythmus. War das ein Kode für die Ratten im Keller? Coco taumelte auf einmal, als würde sie einen Schwindelanfall bekommen. In den Wänden krachte es bedrohlich. Staub rieselte von der Decke. »Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu«, meinte Cohen. Arline kicherte. »Die Ratten sind unersättlich. Sie werden Borvedam dem Erdboden gleichmachen, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht.« Die Balken des Fachwerkhauses ächzten. Die eine Wand bekam Sprünge. Der Bretterboden senkte sich. Cohen und Coco standen für einen Moment wie erstarrt da. Chapman reagierte sofort. »Die Ratten unterhöhlen das Haus!« rief er so laut er konnte und sprang vom Tisch. Arline kam auf die Beine und hämmerte nun wie verrückt mit ih-
rem Stock auf den Holzboden. Da kam Bewegung in Cohen. Er packte die Alte am Arm und zerrte sie zur Tür. »Raus hier!« Plötzlich stürzte ein Teil des Bodens krachend ein. Die eine Wand bekam einen handbreiten Sprung. Cohen hatte die Tür aufgerissen und stürzte mit Arline, die hysterisch lachte, in die Diele hinaus. Coco und Chapman folgten ihm. Sie waren kaum am Ausgang, als die Treppe zum Obergeschoß in den Keller hinunterstürzte. Das ganze Haus wankte. Als sie im Garten waren, stürzte eine Seitenfront des Hauses ein. Das Dach neigte sich langsam zur Seite und brach unter ohrenbetäubendem Getöse zusammen. Coco sah, wie Arline sich von Cohen losreißen konnte und in der Staubwolke verschwand, die sich schnell über den Garten ausbreitete. Coco sprang ihr nach. Sie hatte die Alte bald eingeholt, packte sie an der Schulter und wirbelte sie herum. »Sie wollen es ja nicht anders, Arline«, sagte Coco wütend und fixierte den Blick der Alten. »Ich muß Sie hypnotisieren, damit Sie nicht wieder zu flüchten versuchen.« Arline murmelte aufgeregt. Ihr Unterkiefer machte mahlende Bewegungen. Coco sah ihr tief in die Augen. Sie drang immer tiefer in sie ein, bis sie auf einmal das Gefühl hatte zu versinken. Arlines Augen waren bodenlos. Coco griff haltsuchend um sich. Sie verlor die Orientierung, fiel immer tiefer – und dann wurde sie von einer gefräßigen, grenzenlosen Schwärze verschluckt. Als sie wieder zu sich kam, stand Cohen über sie gebeugt. Hinter ihm sah sie fremde Gesichter, die neugierig gafften. Coco erhob sich. Sie war immer noch schwach auf den Beinen. Sie blickte zum Haus hinüber. Es waren nur noch einige Mauerreste davon übrig. Die Ratten hatten ganze Arbeit geleistet. Cohen führte sie aus dem Kreis der Neugierigen. »Was war denn mit dir los?« erkundigte er sich. »Ich wollte Arline mit einem Bann belegen«, sagte Coco verständnislos. »Aber statt dessen wurde ich beeinflußt. Arline muß eine starke übersinnliche Begabung haben. Sie reflektierte meine hypnotischen Impulse wie ein Spiegel.« Wer war Arline wirklich? Welches Ziel verfolgte sie?
Zwei Tage später waren die meisten Bewohner von Borvedam evakuiert, aber es gab noch einige hundert, die in ihren Häusern eingeschlossen waren und von den Ratten belagert wurden. Andere wiederum weigerten sich, ihren Besitz aufzugeben und verbarrikadierten sich vor den Rettern in ihren Wohnungen. Borvedam sah aus wie ein Schlachtfeld: überall eingestürzte Häuser, die Gärten waren von den Ratten förmlich umgegraben worden. Längst schon hatte das Militär das Kommando über das Notstandsgebiet übernommen. Pioniereinheiten waren im ständigen Einsatz, um die Eingeschlossenen zu retten oder um evakuierte Gebiete mit Flammenwerfern, Rattengiftspritzen und Gasgranaten zu säubern. Aber all diese Maßnahmen waren nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Denn die Ratten zogen sich aus den evakuierten Gebieten zurück und unternahmen alles, um die Rettung der Eingeschlossenen zu erschweren. Es hatte den Anschein, als besäßen sie genügend Intelligenz, um die Maßnahmen der Truppen vorauszusehen und sich darauf einzurichten. Dorian und seine Gefährten wußten natürlich, daß Jenny hinter den Aktionen der Ratten stand, doch hüteten sie sich, die Soldaten darauf aufmerksam zu machen. Sie waren froh, daß man ihnen Plätze in einem Rettungshubschrauber zugebilligt hatte, so daß sie ständig am Ort der Geschehnisse waren und die Lage überblicken konnten. Auch die NATO hatte Ausrüstung und Soldaten zur Verfügung gestellt. Da alle Krankenhäuser von Amsterdam und den Vororten schon längst überfüllt waren, hatte man außerhalb von Borvedam eine Zeltstadt errichtet, die als Lazarett ausgestattet war. Dort befanden sich bereits über vierhundert Borvedamer in Pflege, und es wurden ständig mehr. Auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol standen ein Dutzend Flugzeuge bereit, die mit Rattengifttanks beladen waren. Sie sollten eingesetzt werden, wenn der Vorort restlos evakuiert war. Doch war es noch lange nicht so weit, daß man aus der Luft Rattengift spritzen
konnte. Allein in einem siebenstöckigen Bürohaus befanden sich noch fünfzig Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, die sich dorthin geflüchtet hatten. Augenzeugen berichteten, daß die Ratten die Menschen absichtlich in das Bürohaus getrieben hatten. Und jetzt verteidigten die Ratten das Haus gegen die Rettungsmannschaften. Die unteren drei Geschosse wurden von den Ratten beherrscht, ebenso wie die oberen Geschosse, so daß eine Rettung aus der Luft praktisch unmöglich wurde. Die Ratten hatten ihre fünfzig Gefangenen in der vierten Etage zusammengedrängt; und es schien fast so, daß sie sie nicht auffressen, sondern nur als Geiseln behalten wollten. Eine Frau hatte die Nerven verloren und war aus dem Fenster gesprungen. Die Ratten stürzten sich sofort auf ihre Leiche und nagten sie bis auf die Knochen ab. Daraufhin hatten sich Rettungsmannschaften mit Sprungtüchern eingefunden. Doch obwohl sie von den Soldaten Feuerschutz erhielten, waren sie von den Ratten verjagt worden. Jetzt versuchte man, die Eingeschlossenen mit Feuerwehrleitern zu retten. Drei Einsatzfahrzeuge fuhren von drei Seiten heran. Man hoffte, die Ratten auf diese Weise zu dezentralisieren. Doch kaum fuhren die Feuerwehrwagen ihre Leitern aus und kletterten behelmte Feuerwehrmänner an ihnen hoch, da kamen die Ratten auch schon aus ihren Löchern. Sie zerbissen die Reifen der Autos, zerschmetterten die Windschutzscheiben, töteten die Männer in den Fahrerkabinen und an den Leitern und rannten selbst über die Leitern nach oben. Die Männer und Frauen, die bereits aus den Fenstern auf die Feuerwehrleitern geklettert waren, mußten wieder umkehren. Ein Mann verlor das Gleichgewicht und stürzte ab. Es dauerte auch nicht lange, da hatten die Ratten die Leiterwagen der Feuerwehr derart demoliert, daß sie zusammenkrachten. Dorian und seine Gefährten beobachteten diese Geschehnisse aus der Luft. Sie flogen in einem englischen »Whirlwind«, einem Allzweckhubschrauber. Typischstes Merkmal dieser Hubschrauberserie war, daß die Pilotenkabine über dem Laderaum angebracht war, der bis zu zwanzig Menschen aufnehmen konnte. Wegen seiner
Länge von über dreizehn Metern konnte der Hubschrauber nicht überall landen, aber dafür konnte man mittels eines Flaschenzuges Menschen heraufziehen. Dorian hatte mit diesem Hubschrauber in den zwei Tagen schon über vierzig Einsätze geflogen und mitgeholfen, über fünfhundert Menschen vor einem ungewissen Schicksal zu bewahren. Er war Zeuge erschütternder Szenen geworden. Er hatte Mütter gesehen, die ihre von Ratten zerbissenen Kinder in den Armen gehalten hatten. Männer, die sich verzweifelt an ihre verstümmelten Frauen klammerten. Und das alles, weil Ratten-Jenny sich an ihrem treulosen Liebhaber rächen wollte! Der Hubschrauber konnte fünf Stunden und mehr in der Luft bleiben, so daß die Besatzung nur zum Auftanken landen mußte. Dorian und seine Gefährten waren im Dauereinsatz. Sie nahmen Aufputschmittel, um nicht vor Erschöpfung umzukippen; an Schlaf dachte niemand von ihnen. Als sie nun die vergeblichen Versuche, die Eingeschlossenen mit Feuerwehrleitern aus dem Hochhaus zu retten, verfolgten, faßte Dorian einen Plan. Er blickte auf das Dach des Hochhauses, auf dem es von Ratten nur so wimmelte. »Wir müssen das Dach von Ratten säubern. Nur so ist es möglich, die Eingeschlossenen zu retten.« Er gab seinen Plan über Funk weiter, und man stimmte ihm zu. Wenig später erschienen zwei Kampfhubschrauber, die das Dach mit Flammenwerfern unter Beschuß nahmen. Nachdem alle Ratten vernichtet waren, sprang ein Löschkommando ab, das die Flammen eindämmte und den Zugang zum Dach verbarrikadierte. Nachdem dies geschehen war, landete der Hubschrauber auf dem Dach. Dorian und seine Gefährten stiegen aus und ließen sofort ein Seil in die Tiefe. Inzwischen seilten sich auch Pioniere von anderen Hubschraubern ab und versorgten alle vier Seiten des Daches mit Flaschenzügen. Man wollte die Eingeschlossenen zuerst auf das Dach holen und von dort mit den Hubschraubern wegbringen. Zuerst unternahmen die Ratten nichts gegen diesen Rettungsver-
such, doch nachdem etwa ein Dutzend der Eingeschlossenen gerettet worden war, kam es zu den ersten Zwischenfällen. Dorian kniete am Dachrand und blickte hinunter. Gerade wurde ein etwa zehnjähriges Mädchen mit ihrem Hund im Arm heraufgezogen. Plötzlich klirrte eine Fensterscheibe in einer der oberen Etagen. Eine Ratte sprang heraus und schoß knapp an dem Mädchen vorbei. Weitere Ratten folgten. Zwei davon verbissen sich in den Kleidern des Mädchens. Es schrie und weinte und schlug verzweifelt um sich. Der Hund bot den Ratten einen erbitterten Kampf, doch dann fiel er mit ihnen in die Tiefe. Als Dorian das Mädchen auf das Dach holte, weinte es hemmungslos über den Verlust des Tieres. Die Rettungsaktion wurde immer schwieriger, weil sich die Ratten aus den Fenstern auf die Menschen stürzten. Einige erlitten dabei nicht unerhebliche Verletzungen, aber Todesopfer waren keine zu beklagen. Und es gelang schließlich, alle Eingeschlossenen lebend auf das Dach zu holen. Mehr als die Hälfte war in anderen Hubschraubern fortgebracht worden; die letzten achtzehn wurden im Laderaum des »Whirlwind« untergebracht. Gerade als der Hubschrauber des Dämonenkillers mit den Geretteten vom Dach abhob, begann sich das Bürohaus zur Seite zu neigen. Aus der Luft sahen sie, wie der Straßenbelag rund um das Gebäude herum sich zu bewegen begann. Die Ratten hatten das Fundament unterhöhlt. Das Bürohaus stürzte mit donnerndem Getöse in sich zusammen.
»Das ist das Haus, das Sie meinen«, sagte der Pilot. Dorian war zu ihm in die Kanzel geklettert. Aus der Luftperspektive hätte er Anselm van Riems' Haus nicht wiedererkannt – und nicht nur deshalb, weil es förmlich unter Rattenkörpern begraben war. Tausende dieser schrecklichen Biester hatten das gesamte umliegende Gebiet erobert. Sie hockten auch auf den Bäumen. Auf dem Dach des Hauses war kein Fußbreit Platz mehr. Ein Wunder, daß das Dach dieser Belastung standhielt. Dorian setzte sich über Funk mit Kommissar Rejnbrink in Verbin-
dung. »Ist van Riems noch im Haus?« erkundigte sich der Dämonenkiller. »Ja«, kam die Antwort aus dem Lautsprecher des Funksprechgerätes. »Er und seine Verlobte, Julie Hanegem.« »Verdammt!« entfuhr es Dorian. »Wieso haben Sie mir nichts davon gesagt? Ich dachte, Sie würden alles unternehmen, um die beiden herauszuholen?« »Habe ich auch«, erwiderte Rejnbrink müde. »Ich habe wirklich alles versucht, aber die Ratten haben alle Rettungsversuche vereitelt. Sie bewachen die beiden wie einen Schatz. Es gelang uns nur, den beiden ein Funksprechgerät durchs Fenster zu werfen, so daß wir wenigstens Verbindung zu ihnen haben. Sie sind beide wohlauf. Es geht ihnen gut – den Umständen entsprechend wenigstens.« »Es muß doch eine Möglichkeit geben, die beiden fortzubringen. Zumindest das Mädchen. Ratten-Jenny haßt sie besonders.« »Fangen Sie schon wieder damit an! Sie haben mir versprochen …« »Schon gut. Ich werde meine Zunge künftig im Zaume halten. Aber Sie haben mir auch etwas versprochen, Kommissar.« »Ich habe wirklich alles versucht, die beiden zu retten.« »Sie hätten ein Panzerfahrzeug einsetzen sollen. Damit müßte es möglich sein, bis zum Haus vorzudringen. Sie müssen mir ganz einfach glauben, daß Anselm die Wurzel allen Übels ist.« »Ich versuche es noch einmal von der Luft aus«, erwiderte Rejnbrink erschöpft. »Wenn Sie keinen Erfolg haben, dann nehme ich die Sache in die Hand. Einverstanden?« »Sie glauben wohl, ohne Sie geht es nicht, wie?« »Ich will nur, daß Sie es mich auf meine Art und Weise versuchen lassen. Ich glaube, die richtige Methode zu kennen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.« »Und die wäre?« Dorian hätte beinahe gesagt, daß man versuchen müßte, mit Anselms Hilfe direkt an Ratten-Jenny heranzukommen – wenn man sie tötete, dann wären die Ratten führungslos –, aber er besann sich
noch rechtzeitig. »Wenn es nicht anders geht, müssen wir van Riems opfern. Damit können wir hundert anderen das Leben retten. Verlangen Sie keine Einzelheiten. Sie würden mir doch nicht glauben. Also, wie ist es? Wenn Sie keinen Erfolg haben, nehme ich die Sache in die Hand, einverstanden?« »Gut!« Dorian kletterte wieder in den Laderaum zu seinen Gefährten hinunter. Sie hatten das Funkgespräch mitgehört. »Du hättest dich schon längst dazu entschließen sollen, gegen Ratten-Jenny vorzugehen«, meinte Marvin Cohen vorwurfsvoll. »Mir war es wichtiger, bei der Rettung Unschuldiger mitzuhelfen«, erwiderte Dorian. »Ja, ja«, meinte Cohen spöttisch, »du bist eben mehr ein Samariter als ein Dämonenkiller.« »Wenn du Arline nicht hättest laufenlassen, wäre es vielleicht gar nicht zu einer Katastrophe diesen Ausmaßes gekommen«, hielt ihm Dorian entgegen. »Jetzt ist wahrlich nicht der richtige Moment, sich zu streiten«, mischte sich Coco ein. »Da – seht! Ein Hubschrauber senkt sich auf das Grundstück herab. Das ist bestimmt der, den Rejnbrink geschickt hat.« »Bin gespannt, was sich der holländische Sherlock Holmes hat einfallen lassen«, sagte Cohen. Der »Whirlwind« kreiste über dem Anwesen von van Riems. Der andere Hubschrauber, der gerade neben dem Haus zur Landung ansetzte, war ein ziemlich kleines Modell mit einer Länge von etwa acht Metern. Er hatte statt Rädern Kufen und eignete sich deshalb besonders für den Einsatz in rattenverseuchten Gebieten, da die Biester Gummiräder in Sekundenschnelle zernagten. Dorian, Coco, Cohen und Chapman, der Dorians Schulter als Aussichtsposten benutzte, beobachteten gespannt die Manöver des kleinen Hubschraubers. Der Pilot hatte sich der Hauswand genähert – der Abstand zwischen den Rotoren und der Hauswand betrug kaum einen Meter – und schwebte jetzt einen Meter über dem Boden. Die Seitentür öffnete sich. Eine Art Harpune wurde ausgefah-
ren, und dann schoß ein Enterhaken an einem dicken Seil auf das Haus zu. Der Enterhaken durchschlug ein Fenster im Erdgeschoß. Das Seil wurde eingeholt, bis es sich spannte. Der Enterhaken hatte sich im Fensterrahmen verfangen. Im Fenster erschien eine Gestalt. »Julie!« sagte Coco. »Und da ist auch Anselm!« »So dumm ist Rejnbrink gar nicht«, meinte Cohen mit leiser Anerkennung. »Hoffentlich hat das Mädchen genügend Kraft.« »Die Ratten sind aber auch nicht dumm. Da seht!« rief Dorian erregt. Die Krone des am nächsten stehenden Baumes geriet in Bewegung, und plötzlich regnete es von den Ästen Ratten, die versuchten, auf den Hubschrauber zu springen. Die meisten gerieten in die Rotoren und wurden zerhackt. Einige erreichten jedoch unversehrt den schlanken, libellenartigen Rumpf und huschten zur Pilotenkanzel vor. Und am Haus kletterten die Ratten zum Fenster hinauf. Anselm schlug nach ihnen, doch richtete er im Endeffekt nichts gegen sie aus. Er mußte zurückweichen und den Ratten das Seil überlassen. Diese balancierten an ihm wie Seiltänzer hoch. Dabei bearbeiteten sie es mit ihren Nagewerkzeugen, bis es riß. Dorian wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Helikopter zu. Er hielt unwillkürlich den Atem an, als er sah, daß ein halbes Dutzend Ratten die Kanzel erreichte und die beiden Piloten überfiel. Diese wehrten sich verzweifelt. Dadurch wurde ihre Aufmerksamkeit jedoch von den Instrumenten abgelenkt. Der Hubschrauber trudelte etwas ab – und damit wurde die Katastrophe perfekt. Die Rotoren berührten die Hauswand und zersplitterten. Der Hubschrauber machte eine Bruchlandung. Sofort stürzten von allen Seiten Ratten herbei und fielen über die beiden Piloten her. Coco wandte sich entsetzt ab. Dorian preßte die Zähne zusammen, bis seine Backenmuskeln als dicke Stränge hervortraten. »Jetzt sind wir am Zug. Wir werden aber nicht den gleichen Fehler wie Rejnbrink machen. Wir werden einfach eine Bresche ins Dach schlagen und durch diese Öffnung ins Haus eindringen.« »Und willst du Anselm wirklich opfern?« erkundigte sich Marvin Cohen.
»Ich hoffe immer noch, daß er Ratten-Jenny lebend lieber ist als tot«, erwiderte Dorian. »Aber ich kann es ihm nicht ersparen, ihrem Rattenreich noch einen Besuch abzustatten.«
Anselm van Riems war mit den Nerven am Ende. Er fragte sich, wieso es möglich war, daß Julie das alles besser ertrug als er. »Ich liebe dich eben, Anselm«, hatte sie zu ihm gesagt. »Ich bleibe an deiner Seite, was immer auch geschehen mag.« So einfach war die Antwort. Anselm saß der Schock noch gehörig in den Gliedern, den ihm der mißglückte Rettungsversuch des Hubschraubers verursacht hatte, als er über Funk von dem neuen Rettungsversuch verständigt wurde. Diesmal wollten die Retter durch das Dach ins Haus eindringen. Deshalb hatte man ihnen geraten, dem Obergeschoß fernzubleiben. Vom Fenster aus sah er, wie sich der etwa vierzehn Meter lange Transporthubschrauber heruntersenkte. Auf der Ladetür stand »Westland Whirlwind«; und über dieser Tür erblickte er eine Seilwinde mit einem etwa vier Meter langen Seil, an dem ein gut zehn Zentner schwerer Betonklotz hing. Damit wollte man eine Bresche in das Dach schlagen. »Es muß gelingen«, sagte Anselm. Er preßte Julie fest an sich und küßte sie leidenschaftlich. »Ich schwöre dir, daß wir sofort heiraten, wenn wir hier heraus sind«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich will kein Opfer von dir, Anselm«, erwiderte sie. »Es ist kein Opfer, Julie. Ich habe jetzt erst erkannt, was ich in dir habe.« Im Garten begannen die Ratten zu rasen. Hatte Ratten-Jenny seinen Liebesschwur gehört, der einer anderen Frau galt? Über ihnen krachte und polterte es, als würde ein Berg auf das Dach des Hauses stürzen. Die Geräusche wiederholten sich – und dann donnerte es ohrenbetäubend. Die Decke des Wohnzimmers bebte und bekam Sprünge. »Sie sind durchgekommen!« rief Anselm überschwenglich. »Es ist
ihnen gelungen, das Dach zu durchbrechen. Komm, wir gehen ihnen entgegen!« Er nahm Julies Hand und zog sie mit sich über die Treppe ins Obergeschoß. Eine Staubwolke schlug ihnen entgegen. Hustend und keuchend hastete Anselm mit Julie an der Hand die Treppe zum Speicher hinauf, ungeachtet dessen, daß der Betonklotz immer wieder krachend auf das Dach heruntersauste und die Bresche vergrößerte. Als sie den Dachboden erreichten, war endlich Ruhe. Anselm sah ein gewaltiges Loch von gut vier Metern Durchmesser. Zertrümmerte Dachbalken und Schindeln lagen auf dem Boden und dazwischen unzählige Kadaver von Ratten. Durch das Loch hing ein straffes Drahtseil, an dessen Ende der Betonklotz befestigt war. »Komm, Julie, wir klettern sofort hinauf!« drängte Anselm. »Ich habe nicht die Kraft dazu. Anselm, ich schaffe es nicht. Rette du dich!« »Nein«, sagte Anselm entschieden. Er hatte kaum ausgesprochen, da glitt ein Mann an dem Seil herunter. Anselm hatte ihn noch nie gesehen. »Ich bin Dorian Hunter«, stellte der Mann sich vor. »Wir standen über Funk miteinander in Verbindung.« »Ich könnte Sie umarmen!« rief Anselm. »Überstürzen Sie nur nichts!« warnte Dorian. Als nächster seilte sich Marvin Cohen ab, dessen Bekanntschaft Anselm bereits gemacht hatte. Dann folgte Coco. Sie lächelte Julie zu. Dorian und Cohen hatten inzwischen den Betonklotz vom Seil gelöst. »Kommen Sie, Julie!« forderte Dorian Anselms Verlobte auf. Sie zögerte, aber Anselm nickte ihr zu und drängte sie zu Dorian. Der befestigte das Seil um ihre Taille, überprüfte den Karabinerhaken und gab dann dem Co-Piloten mit der Hand ein Zeichen. Julie wurde am Seil hochgezogen. »So, Anselm, und wir gehen ins Erdgeschoß hinunter«, sagte Dorian hart. »Was?« rief Anselm entsetzt. »Was sollen wir dort? Wissen Sie
denn überhaupt, was sich dort abspielt? Ich will sofort in den Hubschrauber! Ich denke nicht daran …« »Wenn die Ratten vorhätten, Sie zu verspeisen, hätten sie das schon längst getan, mein Guter«, sagte Cohen und gab Anselm einen lichten Stoß in Richtung Treppe. »Kommen Sie!« sagte Dorian und nahm ihn am Arm. Es gelang ihnen nur unter Anwendung von Gewalt, Anselm ins Erdgeschoß zu bringen. Er stemmte sich mit den Beinen gegen die Wände und das Stiegengeländer und schlug wild um sich. Dorian hatte Mitleid mit ihm, aber er durfte ihn nicht verschonen. »Was hat das denn alles zu bedeuten?« rief Anselm weinerlich, als sie das Erdgeschoß erreicht hatten. »Sind Sie denn nicht gekommen, um uns herauszuholen?« »Wir wollten in erster Linie Julie retten«, sagte Coco sanft. »Ihnen droht von den Ratten keine Gefahr, Anselm.« »Ach, wirklich nicht? Wieso wissen Sie das so genau?« »Weil Jenny Sie immer noch begehrt. Sie will nicht, daß Ihnen etwas zustößt.« Anselm begann hysterisch zu lachen. Dorian schlug ihm leicht auf die Wange. »Wissen Sie, daß es nur zu der Katastrophe gekommen ist, weil Sie Jennys Liebe verschmähten?« fragte er ausdruckslos. »Jenny glaubte, in Ihnen die wahre Liebe gefunden zu haben; deshalb zeigte sie sich Ihnen in ihrer wahren Gestalt. Genau genommen sind Sie an dem ganzen Schlamassel schuld.« Anselm schnappte nach Luft. Endlich fand er die Sprache wieder und rief mit sich überschlagender Stimme: »Wie kommen Sie dazu, solchen Unsinn zu reden? Hätte ich mich denn mit diesem abscheulichen Monstrum liieren sollen? Mir wird schon schlecht, wenn ich mich nur erinnere …« Er schüttelte sich angeekelt. »Würden Sie helfen, Hunderten von Menschen das Leben zu retten, wenn Sie dazu in der Lage wären?« fragte Dorian. »Was hat das schon wieder zu bedeuten?« wollte Anselm wissen. »Es stünde in Ihrer Macht, diese Menschen zu retten«, erklärte Dorian. »Sie müßten nur Jenny aufsuchen und sie bitten, die Ratten in
ihre Löcher zurückzupfeifen. Ich bin sicher, daß Jenny Ihnen diesen Wunsch erfüllt, wenn sie glaubt, daß Sie ihre Liebe erwidern.« »Ich soll …« Anselm wich entsetzt zurück. »Das können Sie nicht von mir verlangen!« Er würgte. »Ich kann dieses Scheusal doch nicht lieben! Allein ihr Anblick verursacht mir schon Übelkeit.« »Sie sollen doch nur Liebe vortäuschen«, sagte Dorian. »Ich würde dieses Opfer nie von Ihnen verlangen, wenn nicht das Leben so vieler unschuldiger Menschen auf dem Spiele stünde.« »Nein, nein, nein!« schrie Anselm. Er krümmte sich plötzlich. »Mir wird schlecht! Bitte!« Marvin Cohen trat zu ihm. »Komm, ich bringe dich auf die Toilette.« Marvin Cohen verschwand mit ihm in der Diele. Als sie allein waren und Anselm sich der Toilette zuwenden wollte, trieb ihn Cohen zum Ausgang. »Hier geht's lang!« »Aber da draußen sind die Ratten!« begehrte Anselm auf. »Eben«, sagte Cohen brutal und hatte plötzlich seine Pistole in der Hand. Er drückte sie Anselm an die Schläfe. »Wenn du nicht tust, was ich sage, dann puste ich dir das Gehirn aus dem Schädel.« Cohen öffnete die Tür und stieß Anselm hinaus. Dieser taumelte schreiend die Stufen hinunter und fiel mitten in das Rudel der Ratten. Dorian, durch die Geräusche aufgeschreckt, kam in die Diele gestürzt. Es war aber bereits zu spät zum Eingreifen. Als er einen Fuß vor die Tür setzte, gingen die Ratten sofort zum Angriff über. »So, jetzt bekommt Ratten-Jenny ihren Liebhaber«, sagte Cohen, und als er Dorians wütenden Gesichtsausdruck sah, meinte er: »Du hast es doch ebenfalls gewollt.« »Aber nicht auf diese Weise. Nicht mit Gewalt.« Sie mußten hilflos zusehen, wie die Ratten Anselm mit vereinten Kräften zu einem Gebüsch zerrten und in einem großen Loch mit ihm verschwanden.
Die Ratten zogen sich von der Oberfläche zurück. Der Dämonenkil-
ler und seine Gefährten beobachteten es vom Fenster aus. Donald Chapman wagte sich sogar aufs Fensterbrett. »Wenn wir in London sind, spende ich in der Westminster Abbey eine Kerze für Anselm«, sagte Cohen. »Da Jenny wieder ihren Liebhaber hat, pfeift sie die Ratten zurück.« »Laß diese geschmacklosen Witze!« verlangte Coco. Aber nicht nur von van Riems' Anwesen zogen sich die Ratten zurück. Dorian setzte sich über Sprechfunk mit Kommissar Rejnbrink in Verbindung und erfuhr, daß die Ratten so schnell von der Oberfläche verschwanden, wie sie gekommen waren. Nun konnte die Evakuierung weitergehen. Und danach konnte die Ausrottung der Ratten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beginnen. In spätestens einer Stunde würde es soweit sein. Kommissar Rejnbrink wollte den Hubschrauber schicken, der Dorian und seine Gefährten abholen sollte. Doch davon wollte der Dämonenkiller nichts wissen. Er sagte Rejnbrink, daß die Ratten Anselm entführt hätten und er nichts unversucht lassen würde, ihn zu retten; daß eigentlich Marvin Cohen an Anselms Entführung schuld war, verschwieg er. Aber er fühlte sich moralisch dazu verpflichtet, einen Rettungsversuch zu unternehmen. Nachdem er die Verbindung abgebrochen hatte, wandte sich Dorian an Donald Chapman. »Don, du warst doch in Jennys Unterschlupf. Würdest du ihn wiederfinden?« »Du meinst, ich soll euch hinführen?« der Puppenmann schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hielt mich in Anselms Manteltasche versteckt. Als ich daraus auftauchte, befanden wir uns bereits wieder an der Oberfläche. Aber selbst wenn ich mich nicht versteckt hätte, würde ich mich in dem Labyrinth kaum zurechtfinden. Denk daran, daß sich das Höhlensystem unter ganz Borvedam erstreckt! Wir würden uns hoffnungslos verirren.« »Ich fürchte, Anselm ist verloren«, meinte Coco und warf Marvin einen vorwurfsvollen Blick zu. Den berührte das nicht. »Um den Feigling ist es doch nicht schade. Ihr solltet euch mehr Gedanken um den Goldenen Drudenfuß machen. Seinetwegen sind wir doch überhaupt hier.«
»Wenn wir an Jenny herankommen, haben wir auch den Drudenfuß«, erklärte Dorian. »Don hat gesehen, daß sie ihn bewacht.« »Da schau, welch unerwarteten Besuch wir bekommen!« rief Chapman. Dorian, Coco und Cohen wirbelten wie auf Kommando herum. In der Tür stand niemand anderer als die alte Arline. Cohen überwand seine Überraschung als erster. »Sie leben noch?« feixte er. »Sie waren den Ratten wohl zu zäh?« Die Alte kicherte nur. »Was ist der Grund Ihres Besuches, Arline?« fragte Dorian mißtrauisch. »Es ist doch kein Zufall, daß Sie gerade jetzt auftauchen. Warum haben Sie sich die ganze Zeit über versteckt?« Arline kicherte wieder. »Sie sind ja ganz gut allein zurechtgekommen. Aber jetzt wissen Sie nicht mehr weiter, und ich dachte, Sie könnten meine Hilfe brauchen. Ich kann Ihnen äußerst nützlich sein.« »Inwiefern?« »Sie wollen doch Anselm van Riems nicht seinem Schicksal überlassen«, kicherte sie. »Der Arme wird in Jennys Armen umkommen vor Angst und Abscheu. Wenn Sie ihn retten wollen, kann ich Sie zu ihm führen. Oder glauben Sie mir nicht?« »Doch, doch«, versicherte Dorian, »Ich frage mich nur, warum Sie das tun wollen.« »Ich habe meine Gründe.« »Fürchten Sie denn die Ratten nicht?« wollte Coco wissen. »Die Ratten tun mir nichts«, antwortete Arline und warf Cohen einen Blick zu. »Das habe ich diesem Muskelprotz da schon einmal erklärt. Wollen Sie nun, daß ich Sie zu Jennys Versteck bringe oder nicht?« Dorian zögerte keine Sekunde länger. »Ich nehme Ihr Angebot an.« Sie folgten Arline in den Garten hinaus, Arline steuerte auf das Erdloch zu, in dem die Ratten mit Anselm verschwunden waren. Cohen hatte Donald Chapman in die Tasche gesteckt, damit dieser nicht zufällig im Maul einer Ratte landete, und Dorian hatte das
Funksprechgerät an sich gekommen. Er setzte sich mit Kommissar Rejnbrink in Verbindung. »Wir steigen jetzt in das unterirdische Labyrinth hinab«, meldete er. »Sind Sie denn wahnsinnig?« war Rejnbrinks erste Reaktion. »Wir haben einen Führer, der sich angeblich auf den Umgang mit Ratten versteht. Es könnte allerdings sein, daß wir Ihre Unterstützung benötigen. Ist es möglich, daß Sie unseren Sender anpeilen?« »Lassen Sie Ihr Gerät auf jeden Fall eingeschaltet. Ich werde sehen, was sich machen läßt. Können Sie uns nicht ständig Ihre Position durchgeben?« »Wir werden es versuchen.« Dorian ließ das Funksprechgerät eingeschaltet und steckte es in Cohens ausgebeulte Tasche, wo sich bereits Chapman verkrochen hatte. Er bat den Puppenmann: »Übernimm du das, Don!« Arline hatte mit spöttischem Grinsen quittiert, daß Dorian sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt hatte. Sie kletterte bereits vor ihm in das Erdloch hinunter. »Wie sollen wir uns denn in der Dunkelheit zurechtfinden?« maulte Cohen. »Es bleibt nicht so dunkel«, erklärte Arline. »Hat Ihnen Ihr Däumling nichts von den Irrlichtern und Leuchtwürmern erzählt? Wissen Sie eigentlich, daß die Würmer die Leuchtstoffe aus Leichengift produzieren?« »Na, Sie müssen es ja wissen«, erwiderte Cohen unbeeindruckt. Dorian blieb dicht hinter der Alten; ihm folgte Coco, den Abschluß bildete Cohen. Sie waren etwa sechs Meter in die Tiefe geklettert – eigentlich mehr gerutscht –, als sie zu einem horizontalen Stollen kamen. Er war so niedrig, daß sie auf allen vieren kriechen mußten, aber bereits nach knapp zehn Metern wurde der Stollen breiter und fast zwei Meter hoch, so daß sogar Dorian aufrecht gehen konnte. Der Stollen hatte zahlreiche Windungen. Sie konnten nie weiter als fünf Meter sehen, aber wenigstens konnten sie jetzt überhaupt etwas sehen. Leuchtkäfer umschwirrten sie, und über die Wände krochen halbfingerlange Leuchtwürmer.
In den Wänden befanden sich Löcher von dreißig bis vierzig Zentimetern im Durchmesser. Sie lagen im Dunkeln. Bisher waren sie noch keiner einzigen Ratte begegnet, aber Dorian hörte sie in den Löchern rascheln und quieken, und einmal stieß der Schädel einer Ratte auf ihn zu. »Keine Angst!« sagte Arline beruhigend. »Die lieben, lieben Tierchen tun euch nichts, solange ihr unter meinem Schutz steht.« Sie gab zwischendurch ständig seltsame Pfeiflaute von sich und schlug in dem bereits bekannten Rhythmus mit dem Stock auf den Boden. Coco war nun sicher, daß es sich um einen Kode handelte, über den sie sich mit den Ratten verständigen konnte. »Wo haben Sie eigentlich gelernt, mit den Ratten umzugehen?« Statt einer Antwort kicherte Arline nur. Cohen schrie auf, als ihn aus einem Loch eine Ratte ansprang. Er schlug sie zu Boden. Als er nach dem Tier treten wollte, herrschte ihn Arline an: »Nicht!« Sie pfiff besänftigend, und die Ratte zog sich zurück. Arline ermahnte Cohen streng: »Tun Sie keinem der Tiere etwas zuleide. Wenn Sie auch nur ein einziges verletzen, rühre ich keinen Finger für sie.« Cohen schluckte. Dorian konnte nicht genau sagen, welche Strecke sie bereits zurückgelegt hatten. Es mochten an die hundert Meter gewesen sein. Chapman zählte die Schritte mit und gab an Kommissar Rejnbrink durch, in welche Richtung sie sich bewegten. Was Rejnbrink wohl gesagt hätte, wenn er gewußt hätte, daß er den Dialog mit einem dreißig Zentimeter großen Puppenmann führte? Je tiefer sie in das Labyrinth eindrangen, desto mehr Ratten zeigten sich. Sie kamen aus ihren Löchern, huschten ihnen über die Füße und traktierten sie gelegentlich mit versteckten Bissen. Arline gab zwar ständig die beruhigenden Pfeiflaute von sich und klopfte mit dem Stock auf den Boden, aber das hielt die Ratten nicht immer davon ab, die Eindringlinge zu attackieren. Arline wurde dagegen überhaupt nicht von ihnen behelligt; im Gegenteil, es schien fast so, als ob die Ratten bei ihrem Anblick Freu-
dentänze vollführten. »Wieso kommen Sie mit diesen Bestien so gut aus?« fragte Coco. »Es sind keine Bestien«, sagte Arline zurechtweisend. »Man muß sie nur fürchten, wenn man ihr Feind ist.« »Wer sind Sie, Arline?« Diese Frage beschäftigte Coco schon seit ihrer ersten Begegnung. Arline kicherte wieder. »Es gab eine Zeit«, fuhr Coco fort, »da dachte ich, Sie selbst seien Ratten-Jenny.« »Und warum glauben Sie es jetzt nicht mehr?« wollte Arline zwischen den Pfeifpausen wissen. »Als Marvin Sie aus Ihrer Windmühle holte und in unser Haus brachte, da verstärkte sich mein Verdacht«, erklärte Coco. »Aber als ich dann über Jenny schimpfte und sie als Ungeheuer hinstellte, traf Sie das gar nicht, ja, ich merkte sogar, daß Sie Jenny hassen. Ist es nicht so?« »Ja, ich hasse dieses ruchlose Geschöpf.« »Warum?« »Sie werden es erfahren. Sie werden alles erfahren, wenn wir am Ziel sind. Gleich ist es soweit.« Dorian holte unwillkürlich seine Pistole hervor. Er blickte zu Chapman. Der Puppenmann erwiderte seinen Blick und raunte ihm zu: »Rejnbrink hat veranlaßt, daß sich die Truppen in diesem Bezirk konzentrieren. Er kennt nicht unseren exakten Standort, kann ihn aber ziemlich genau abgrenzen.« Das beruhigte Dorian einigermaßen. Cohen hatte seine Waffe ebenfalls gezogen. Er fluchte ständig verhalten vor sich hin, weil der Boden so mit Ratten übersät war, daß er kaum noch Platz für seine Füße hatte. Es kam manchmal vor, daß sie ungewollt Ratten auf die Schwänze traten. Das brachte ihnen dann immer eine Reihe schmerzhafter Bisse ein. Der Stollen wurde breiter und endete schließlich in einer geräumigen Höhle. Arline blieb stehen, warf die Hände in die Luft und gab einen langgezogenen Schrei von sich.
Noch bevor Dorian Ratten-Jenny sah, wußte er, daß sie am Ziel angelangt waren. Nun mußte bald die Entscheidung fallen.
Ratten-Jenny war noch viel häßlicher und abstoßender, als Donald Chapman sie geschildert hatte. Man konnte sie einfach nicht beschreiben: Die menschliche Sprache war ein unzulängliches Ausdrucksmittel dafür. Das monströse Wesen kauerte an einer Wand. Ihr breiter Kopf mit dem Gesicht, das nur entfernt menschliche Züge hatte, war den Eindringlingen zugewandt. Es war eigentlich ein Rattengesicht; Nase und Mund liefen in einem schnauzenähnlichen Gebilde zusammen, die seitlich angeordneten Kugelaugen schienen ins Leere zu starren. Ratten-Jenny riß das Maul auf, daß ihre spitzen Reißzähne sichtbar wurden, und fauchte wütend. Es war ein Laut, wie nur Ratten ihn von sich geben konnten. Sofort begannen die Tiere rings um sie zu rasen. Aber Arlines Pfeiftöne besänftigten sie wieder. Jetzt erst bemerkte Dorian, daß das unförmige Geschöpf, halb Ratte, halb Mensch, Anselm bei sich hatte. Jenny preßte Anselm fest und besitzergreifend an ihren unförmigen Körper und streichelte ihn mit den klauenartigen Händen. Anselm schien nicht gerade beglückt von diesen Zärtlichkeiten, aber er mußte sie sich gefallen lassen. Als Anselm Dorian und die anderen erblickte und sich aus der Umarmung befreien wollte, stellten sich ihm sofort die angriffslustigen Ratten in den Weg. Bißwunden an seinen Armen und Beinen zeigten, daß er bereits einige schlechte Erfahrungen mit seinen Bewachern gemacht hatte. »Ah!« machte Ratten-Jenny jetzt. »Wagst du dich überhaupt noch hierher, Alte? Hast du noch immer nicht begriffen, daß deine Zeit um ist? Willst du wieder einmal versuchen, mich von meinem Platz zu verdrängen? Diesmal werde ich keine Rücksicht mehr nehmen, du Rattenfutter!« »Du weißt, daß es mein rechtmäßiger Platz ist, den du da einnimmst«, kreischte Arline. »Ich bin zurückgekehrt, um mir zu nehmen, was mir gehört. Ich bin die Königin der Ratten!«
Diese Eröffnung traf Dorian wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er zweifelte nicht daran, daß Arline die Wahrheit sprach; er verstand nur nicht, warum es zwei rivalisierende Anwärter auf den Thron der Rattenkönigin gab. Während Arline noch sprach, veränderte sie ihre Gestalt. Der Umhang mit den astrologischen Symbolen fiel von ihr ab, und darunter kam ein Körper zum Vorschein, der dem einer Ratte viel mehr glich als dem eines Menschen. Arline hatte ihnen die ganze Zeit über ein Trugbild vorgegaukelt; sie hatte sich ihnen nicht in ihrer wahren Gestalt gezeigt; nun ließ sie die Maske fallen. Sie war nicht mehr die bucklige Alte, die wie eine Knusperhexe aussah, sondern sie wurde zu einem Ebenbild von Ratten-Jenny. »Ich bin die wirkliche Jenny, und meine geliebten Tiere haben das nicht vergessen«, fuhr Arline fort. »Ich wurde vor hundert Jahren als kleines hilfloses Menschenkind von ihnen aufgezogen. Und ich war es, die von dem Dämon zur Königin über die Ratten von Borvedam gemacht wurde, auf daß ich bis in alle Ewigkeit den Goldenen Drudenfuß bewache. Ich wurde gekrönt. Du dagegen bist nur ein Emporkömmling.« Ratten-Jenny lachte schrill und spöttisch; das heißt, jenes Geschöpf, das bisher als Ratten-Jenny gegolten hatte, doch nun bezeichnete sich ja Arline als die wahre Rattenkönigin. »Die lieben Tierchen haben dir die Treue aufgekündigt«, kreischte das rattenähnliche Zwitterwesen, das immer noch Anselm an sich preßte. »Du wurdest schon zu alt, Jenny. Und deshalb haben sich die Ratten vor zwanzig Jahren eine neue Königin geholt. Es war der Wille der Ratten, daß ich dich ablöste, Jenny. Sei froh, daß ich dich damals nicht getötet habe. Aber Vorsicht! Ich kann es immer noch tun.« »Ja, du hast mich vor zwanzig Jahren von meinem Platz verdrängt«, kreischte Arline. »Ich mußte lange Zeit bei den Menschen in der Emigration leben. Doch geduldig wartete ich auf meinen Tag. Und der ist nun gekommen. Du hast die Ratten mit unzähligen Liebhabern aus den Reihen der Menschen betrogen. Sie haben es dir gutmütig verziehen. Doch dann verliebtest du dich in einen von ih-
nen – und das werden dir die Ratten nie verzeihen. Ich weiß es, denn sie sind zu meiner Mühle gekommen, um sich über dich zu beklagen. Und ich habe ihnen Abhilfe versprochen. Ich habe ihnen gesagt, daß ich zurückkomme, um wieder ihre Königin zu werden. Du selbst hast in deiner grenzenlosen Begierde deinen Sturz herbeigeführt.« Das Monstrum auf dem Strohlager stieß Anselm plötzlich von sich, sprang auf alle viere und stellte sich Arline entgegen. Dorian konnte durch das Stroh den Goldenen Drudenfuß schimmern sehen. Die beiden monströsen Geschöpfe sprangen sich an, und es entbrannte ein blutrünstiger Kampf. Die beiden Körper waren so eng miteinander verschlungen, daß man sie nicht auseinanderhalten konnte. Dorian versuchte die Situation auszunutzen und seinen Platz zu verlassen. Doch so gebannt die Ratten von dem Kampf der Königinnen auch zu sein schienen, schon bei der geringsten Bewegung erwachten sie aus ihrer Erstarrung und nahmen Kampfstellung ein. Dorian wollte sich noch nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen und hielt es für klüger abzuwarten. Er blickte zu Anselm van Riems hinüber, der noch immer bei dem Strohlager stand und sich eng an die Wand preßte. Er starrte ängstlich auf die beiden auf Leben und Tod kämpfenden Ungeheuer. »Anselm!« rief Dorian ihn an. Doch er reagierte nicht; auch nicht auf weitere Rufe. Er blickte nur einmal kurz in ihre Richtung. »Laß mich das machen!« sagte Coco. Sie starrte intensiv zu Anselm hinüber, so daß er schließlich nicht anders konnte, als den Blick auf sie richten, und dann kam er von ihren Augen nicht mehr los. »Du wirst alles tun, was ich von dir verlange«, suggerierte ihm Coco mit beschwörender Stimme ein. Sie flüsterte, aber ihre Stimme hatte solch eine magische Kraft, daß Anselm sie hören konnte. »Du wirst mir gehorchen. Gehorchen! Und jeden meiner Befehle bedingungslos ausführen! Bedingungslos gehorchen!«
Dorian sah, wie sich Anselm nach dem Drudenfuß bückte. Eine Ratte sprang ihn an, verbiß sich in seinem Arm, aber er schien den Schmerz nicht zu spüren. Er berührte den Drudenfuß, und da fiel die Ratte wie gelähmt von seinem Arm ab. Dorian bemerkte es mit Genugtuung und blickte wieder zu den beiden Kämpfenden hinüber. Eines der beiden Geschöpfe hatte die Oberhand gewonnen. An verschiedenen Einzelheiten erkannte Dorian, daß Arline, also die ältere und wahre Rattenkönigin, unter die jüngere zu liegen gekommen war. »Jetzt werde ich dich töten!« stieß ihre Rivalin hervor. »Die Ratten selbst werden entscheiden, wer ihre Königin sein soll«, erwiderte Arline und gab eine Reihe von Pfeiftönen von sich. Dorian sah, wie sich die Ratten alle gleichzeitig in Bewegung setzten und auf die jüngere Rattenkönigin stürzten, um sie zu zerfleischen. Arline, die wirkliche Ratten-Jenny, hatte recht behalten: Die Ratten hatten es ihrer jungen Königin nicht verziehen, daß sie sich in einen Mann von der Oberwelt verliebt hatte. Sie hielten ein schauriges Femegericht ab. Dorian wandte sich ab. Anselm trug jetzt den Drudenfuß in den Händen. Der Drudenfuß hatte einen Durchmesser von einem Meter und schimmerte im Schein der herumflirrenden Irrlichter grünlich. Zur Zeit schien er leicht wie eine Feder zu sein, denn trotz seiner gewaltigen Ausmaße hatte Anselm keine Mühe, ihn zu tragen. Dorian konnte es kaum erwarten, den Goldenen Drudenfuß, dessen Farbe nun in ein intensives Blau wechselte, in Händen zu halten. Er vergaß alle Vorsicht und lief Anselm entgegen. Die Ratten fielen augenblicklich über ihn her. Doch kaum berührte er den Drudenfuß, da fielen sie wie leblos von ihm ab. Der Dämonenkiller konnte aufatmen. Jetzt fühlte er sich der Ratten-Jenny und ihren Horden nicht mehr so wehrlos ausgeliefert. »Triumphiere nicht zu früh!« rief die wirkliche Ratten-Jenny mit kreischender Stimme. »Der Bann wirkt nicht ewig auf meine Tiere. Sie werden ihn abschütteln und dann über euch herfallen. Wenn du mir den Drudenfuß aber aushändigst, dann will ich euch freies Geleit bis zur Oberfläche geben.«
»Ich traue dir nicht, Arline«, sagte Dorian und ließ seine Finger spielerisch über die achtundsiebzig Tarot-Symbole des Drudenfußes gleiten. Obwohl Dorian nicht genug über die magischen Kräfte des Goldenen Drudenfußes wußte, war er bereit, sie zu entfesseln. »Gib mir den Drudenfuß!« sagte Ratten-Jenny beschwörend und kam auf ihren Hinterbeinen näher. Die Kugelaugen in ihrem kleinen, abstoßenden Rattengesicht funkelten hypnotisierend. »Gib ihn mir!« »Nein!« rief Coco verzweifelt. Dorian fühlte, wie er müde wurde. Er wehrte sich mit aller Kraft gegen Ratten-Jennys Einfluß, aber er ließ sich nichts davon anmerken; er tat so, als sei er ihr verfallen. Jetzt hatte sie ihn erreicht. »Gib mir das Pfand der Dämonen, Dorian Hunter!« Der Dämonenkiller sah den Zeitpunkt zum Handeln gekommen. Er überflog mit einem einzigen Blick die Tarot-Symbole auf den fünf sternförmig ineinander verflochtenen Schenkeln des Drudenfußes. Da ragte über alle Symbole die Dreizehn heraus: der Tod! Dorian stellte ihm das Glücksrad gegenüber: Sechzehn – der Turm – bedeutete in dieser Konstellation Verderben. Le Soleil, die Sonne – Glück und Erleuchtung für den Dämonenkiller und seine Freunde. Achtzehn – la Lune, der Mond – Gefahr und Verrat für die Rattenkönigin. Päpstin und Kaiserin, Gehenkter und Eremit – und die Farbensymbole: die Keulen und Kelche, zu denen Reiter, Bube, Dame und König gehörten. Der Dämonenkiller verschob all diese Symbole schnell und brachte sie in Konstellation zueinander. Und dann blieb ihm noch der letzte Trumpf, mit dem Dorian die Waage zu seinen Gunsten ausschlagen lassen wollte: ein Engel, auf der Trompete blasend, ruft die Auferstandenen. Das Jüngste Gericht, mit der Bedeutung der Verwandlung, Veränderung. Dorian hoffte nur, daß die Verwandlung mit dem Drudenfuß vor sich gehen würde. Darauf fußte sein ganzer Plan. Er hatte die Symbole in Sekundenschnelle verändert. Als Ratten-Jenny es merkte, schrie sie auf – und dieser Schrei endete erst mit ihrem Tod.
Dorian stülpte ihr blitzschnell den Drudenfuß über den Kopf. Sie wollte ihn abstreifen, doch die magische Kraft des Pentagramms aus Alchimistengold lähmte ihre Kraft. Und da ging auch schon die Veränderung mit dem Goldenen Drudenfuß vor sich. Er wurde rasend schnell kleiner – und entsprechend kleiner wurde auch die Öffnung zwischen den Sternschenkeln. Die Schenkel drückten den Hals der Rattenkönigin zusammen, nahmen ihr den Atem. Und der Drudenfuß wurde noch kleiner, schrumpfte zusammen, schnitt mit seinen Schenkeln in Ratten-Jennys Hals – immer tiefer. Plötzlich wackelte ihr Kopf, ein Blutstrom ergoß sich aus der Wunde. Der Kopf fiel ab, rollte zwischen die Ratten, die zu völliger Bewegungslosigkeit erstarrt waren. Dorian nahm den Goldenen Drudenfuß wieder an sich, der keinen Blutspritzer aufwies und nun so klein war, daß man ihn leicht unter dem Jackett verstecken konnte. »Nichts wie fort von hier!« befahl er seinen Kameraden und faßte den völlig verstörten und apathischen Anselm am Arm. »Sonst erwachen die Ratten noch aus ihrer Starre.« Sie brauchten keine dreißig Meter weit zu laufen, um aus dem unterirdischen Labyrinth zu gelangen. Pioniere hatten dort einen Schacht gegraben, weil Rejnbrink sie aufgrund von Donald Chapmans Angaben an dieser Stelle vermutet hatte. Nachdem sie im Freien waren, bestiegen sie einen Jeep und verließen den Vorort. Bald darauf hörten sie Motorenlärm von Flugzeugen. Die Flugzeuge schossen im Tiefflug über das halbzerstörte Borvedam hinweg, warfen Brandbomben und spritzten hochgradig giftige Rattenvertilgungsmittel. Drei Tage nach diesen Ereignissen war Borvedam von Ratten gesäubert. Die Pläne, an dieser Stelle eine neue Gartenstadt entstehen zu lassen, lagen längst bereit. In wenigen Jahren schon würde nichts mehr an das Rattennest erinnern, und Ratten-Jenny würde in Vergessenheit geraten – oder auch nicht. Vielleicht würde sie unsterblich werden, aber wenn, dann nur als Sagengestalt. Der Dämonenkiller und seine Helfer waren für die Abreise nach London bereit. Julie Hanegem und Anselm van Riems kamen zum
Flughafen hinaus, um sich von ihnen zu verabschieden. Anselm war wie verwandelt: schweigsam, zurückhaltend, ernst; und er hatte ständig den Arm um seine Verlobte gelegt, als wollte er sich wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammern. Er wußte, daß nur sie ihm den Halt geben konnte, den er benötigte. »Bis heute hatten Sie Schonzeit, Anselm«, sagte Dorian zu ihm, »aber dort lauern bereits die Jäger.« Anselm folgte seinem Blick. Keine zwanzig Schritte von ihnen entfernt wartete Kommissar Pit Rejnbrink mit zwei Kriminalbeamten. »Bis heute konnte ich Vernehmungsunfähigkeit vortäuschen«, sagte Anselm unbehaglich, »aber Rejnbrink hat gesagt, daß er mich sofort nach Ihrer Abreise zum Verhör holen wird. Er wird mir natürlich Löcher in den Bauch fragen. Was soll ich ihm denn nur sagen?« »Wenn Sie einen Rat wollen: auf keinen Fall die Wahrheit«, riet ihm Dorian. »Vor allem lassen Sie Ratten-Jenny aus dem Spiel, sonst landen Sie in der Gummizelle. Glauben Sie mir, ich habe Erfahrung mit solchen Dingen. Niemand würde Ihnen glauben.« »Das mag schon stimmen.« »Kopf hoch, Anselm! Zusammen mit Ihrer Verlobten werden Sie es schon schaffen, mit Ihrer Erinnerung fertig zu werden. Und nur das zählt.« Sie schüttelten einander die Hände. Dorian drehte sich nicht mehr um, als er mit seinen Gefährten zur Abfertigung schritt. Für den Dämonenkiller war das Kapitel Rattenkönigin abgeschlossen. Jetzt konnte er darangehen, die DämonenDrillinge zu vernichten.
Viertes Buch
Die Todesmasken des Dr. Faustus von Ernst Vlcek
Vergangenheit Die Alte fror, obwohl sie ganz dicht am Kaminfeuer saß. Ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Fenster, das sie notdürftig mit Lumpen abgedichtet hatte. In der vergangenen Nacht war es so kalt gewesen, daß das letzte Stück Glas im Fenster zerborsten war. Plötzlich flog krachend die Tür auf. Ein Luftzug entstand, der Wind heulte und löschte das Feuer aus. »Quendola! Quendola! Es ist soweit. Pack deine alten Knochen und komm rasch in das Haus des Stadtknechts Chergenta!« Die alte Quendola drehte sich fluchend nach dem Störenfried um. Es war ein kleiner Junge in zerlumpten Kleidern, einer von jenen Zigeunern, die frech wie die Spatzen waren und wie die Raben stahlen. »Mach die Tür gefälligst wieder zu, Lausebengel! Oder willst du, daß ich mir den Tod hole?« »Wenn du dich nicht beeilst, ist dein Leben wirklich nichts mehr wert«, erwiderte der Zigeunerjunge, ohne sich aus der offenen Tür zu rühren. Hinter ihm wirbelten die Schneeflocken über die Straße. »Bei Chergentas Weib ist es soweit. Sie schreit wie am Spieß, und Chergenta hat zu mir gesagt, ich soll laufen wie der Teufel und die Hebamme holen. Komm schon, Quendola! Chergenta versteht keinen Spaß. Wenn was schiefgeht, schlägt er dir den Schädel ein.« »Schon gut«, sagte die Hebamme knurrend. Noch während der Junge sprach, hatte sie sich ihren Umhang übergeworfen. Jetzt kam sie zur Tür und stieß ihn ins Freie. »Da, trag meine Tasche! Aber versuch nicht, dich damit davonzumachen. Ich kenne dich und werde dich überall in Toledo finden.« Sie schloß hinter sich die Tür und folgte dem Jungen, der sich gegen den Wind stemmte und mit eingezogenem Kopf gegen die wirbelnden Schneeflocken ankämpfte. Der Schnee schmolz, kaum daß er den Boden berührte. Überall waren Pfützen. Aber in der Nacht würde das Wasser frieren. Die alte Quendola konnte sich nicht erinnern, wann in Toledo zuletzt so ein schlechtes Wetter gewesen war.
Sie erreichte mit dem Jungen die Plaza del Barrio Nuevo. »Beeile dich, Quendola! Der Stadtknecht wird vor Ungeduld bereits toben«, rief der Junge ihr zu. »Eile mit Weile«, erwiderte die Hebamme. »Chergenta, dieser Geizkragen, wird es schon noch erwarten können. Wie man bezahlt, so wird man bedient.« Sie wischte sich über die Augen, weil Schneeflocken in den Wimpern ihre Sicht behinderten. Da stieß sie gegen eine Gestalt. »Verzeiht, edler Herr!« entschuldigte sie sich unterwürfig, als sie an den Kleidern erkannte, daß sie mit einem wohlhabenden jungen Mann zusammengestoßen war. Die Kleider sagten ihr aber noch etwas anderes: daß dies ein Fremder war, der aus dem Norden jenseits der Pyrenäen stammte. Er war so jung und wirkte so unerfahren, daß sie die Situation zu nutzen gedachte. Während sie sich entschuldigte, ließ sie ihre gichtigen Finger wie haltsuchend über seine Kleider wandern. In Wirklichkeit suchte sie jedoch nach seinem Geldbeutel. Als sie die pralle Lederbörse umschloß, wurde sie plötzlich mit festem Griff am Handgelenk gepackt. »Ah! Du alte Hexe wolltest mich bestehlen!« sagte der junge Edelmann in schlechtem Spanisch. »Ich sehe, daß dort drüben auf dem Richtplatz der Henker gerade zu tun hat. Er sollte sich auch gleich deiner diebischen Hand annehmen.« »Gnade, Herr!« flehte die Hebamme. »Ich habe euch nichts getan. Ich bin eine ehrbare Geburtshelferin. Man erwartet mich in einem herrschaftlichen Haus auf diesem Platz. Ich muß mich beeilen, will ich das Kind retten, das in diesem Augenblick schon das Licht dieser ungerechten Welt erblicken kann. Ich bitte euch, haltet mich nicht auf, Herr!« Der Zigeunerjunge stellte sich auf die Seite der diebischen Hebamme. »Es ist wahr, Herr. Sie ist eine Hebamme und muß einer werdenden Mutter beistehen.« »Dann lauf los, Alte! Komm mir aber nicht mehr unter die Augen.« Georg Rudolf Speyer ließ die Greisin los. Gleich darauf war sie in
der Menge, die sich um sie gebildet hatte, verschwunden. Die Leute zerstreuten sich wieder, als der Zwischenfall ein so undramatisches Ende nahm. Speyer, Sohn eines Kaufmannes aus Marburg an der Lahn, machte sich ebenfalls eiligen Schritts davon. Er liebte es nicht, Aufsehen zu erregen, obwohl er eigentlich nichts zu verbergen hatte. Aber er hatte auf seiner langen Wanderung von Wittenberg durch Frankreich und über die Pyrenäen schon zu viele schreckliche Geschichten über die Spanische Inquisition gehört, so daß er sich sagte, es war besser, keines Menschen Aufmerksamkeit zu erregen. Er war von Toledo enttäuscht, wie überhaupt von Spanien. Er hatte geglaubt, daß hier selbst im Dezember die Sonne lachen würde; statt dessen war es hier so kalt und unfreundlich wie in seiner Heimat zu dieser Jahreszeit. Es war auch nur ein schwacher Trost, daß er überall zu hören bekam, dies sei der kälteste Winterbeginn seit Jahren. Der Himmel war seit Tagen grau. Die kalten Winde kamen heulend von den Montes de Toledo herunter und hüllten die Stadt ein. Regen und Schneefall wechselten einander ab. Die Zufahrtsstraßen waren am Tag aufgeweicht und schlammig, so daß die Karren und Kutschen darin steckenblieben. In der Nacht fror der Boden und wurde so hart und glatt, daß die Hufe der Pferde keinen Halt fanden. Speyer hatte mit eigenen Augen gesehen, wie man einem Zugtier, das mit gebrochenem Bein hilflos im Straßengraben lag, den Gnadenstoß geben mußte. Er war erst heute hier angekommen und spielte schon wieder mit dem Gedanken, Toledo den Rücken zu kehren. Vielleicht war es tiefer im Süden doch freundlicher. Wahrscheinlich, sicher sogar. Aber was sollte er dort? Andererseits – was zog ihn nach Toledo? Er wußte es nicht. Und doch – diese Stadt übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Er war in den letzten Jahren ruhelos durch die Lande gezogen, nur um schließlich zu erkennen, daß er nach Toledo wollte. Warum nur? Und was trieb ihn ausgerechnet auf die Plaza del Barrio Nuevo? »Entschuldigt, mein Freund, aber ich habe vorhin zufällig gehört, daß Ihr ein Landsmann von mir seid«, sagte da jemand auf deutsch
an Speyers Seite. Er wandte sich um und sah einen Mann mit nur einem Bein, der auf Krücken ging. Der Mann trug einen dicken Mantel aus Wolfspelz und einen hohen, breitkrempigen Hut mit einer langen, flauschigen Feder. Speyer dachte zuerst, daß ihn ein Bettler anspreche, doch der Kleidung nach zu schließen war der Mann weitaus wohlhabender als er selbst. Er konnte sich sogar einen Diener leisten, der mit finsterem Gesicht, die Hand am Knauf des Degens, hinter ihm stand. »Gestattet Ihr, daß ich mich vorstelle?« sagte der Einbeinige. »Mein Name ist Thadäus Gruenerthal. Laßt Euch von meiner Kleidung nicht blenden, denn sie spiegelt nicht meine wahre Herkunft und Stellung wider. Ich bin nur ein einfacher Schneider aus Köln.« Speyer nannte seinen Namen und sagte, daß er der Sohn eines Kaufmannes auf Wanderschaft sei. Er verschwieg wohlweislich, daß er zwei Jahre lang Medizin studiert hatte, denn in jener Zeit hielt man nirgends viel von Studenten und nannte sie allerorts schlichtweg Rauf- und Trunkenbolde. »Und was führt Euch nach Toledo, wenn man fragen darf?« wollte der Schneider aus Köln wissen. Speyer hob die Schultern. »Wahrscheinlich derselbe Trieb, der die Zugvögel im Winter in den Süden ziehen läßt.« Der einbeinige Schneider lächelte verschmitzt. »Dann habt Ihr in Toledo sicherlich nicht das richtige Winterquartier gefunden.« Er zwinkerte Speyer zu. »Oder aber Ihr verheimlicht mir aus irgendwelchen Gründen – am Ende gar aus falscher Scham –, daß Ihr aus einem ganz anderen Grund nach Toledo gekommen seid.« »Und der wäre?« »Das Wunder von Toledo – die Madonnenstatue, die auf wundersame Weise Tränen weint und Kranke heilt und Blinde sehend macht.« »Ja, ich habe davon gehört.« Überall sprach man über dieses Wunder, und von überall kamen die Leidenden, um bei der Madonnenstatue um Erlösung zu flehen; und glaubte man den Legenden, dann hatten schon unzählige Kran-
ke hier Heilung gefunden. Immer wenn die Madonnenstatue weinte, erlebten die gläubigen Pilger ein Wunder. War er deshalb nach Toledo gekommen? Aber er war doch nicht krank und hatte auch kein körperliches Gebrechen. »Die Madonna ist meine letzte Hoffnung«, sagte der einbeinige Schneider. »Nicht, daß ich glaube, ich könnte durch ein Wunder ein zweites Bein erhalten. Mit diesem Gebrechen habe ich mich längst abgefunden. Aber ich bin unheilbar krank. Die Ärzte haben mir prophezeit, daß ich das neue Jahr nicht mehr erleben werde. Deshalb habe ich alle meine Ersparnisse zusammengekratzt und bin hierher gepilgert. Und Ihr, Speyer, wollt Ihr mir nicht anvertrauen, warum Ihr hier seid? Euer Schritt lenkt Euch geradewegs zur Kirche Santa Maria la Bianca, in der die Wunder wirkende Madonna einen Seitenaltar ziert.« Speyer empfand den Redeschwall des Schneiders plötzlich als äußerst lästig. Anstatt sich darüber zu freuen, in der Fremde einen Landsmann gefunden zu haben, ärgerte er sich über dessen Erscheinen. »Ach, laßt mich mit Eurem Unsinn in Frieden!« sagte er wütend und wandte sich ab. Er hörte hinter sich das Klappern der Krücken. Als er sich nach einer Weile umdrehte und zu der Kirche hinüberblickte, sah er den Schneider durch das Portal verschwinden. Worauf warte ich? fragte sich Speyer. Warum suche ich nicht ebenfalls die Kathedrale auf? Er hätte es in diesem Augenblick getan, wenn nicht gerade ein Trauerzug vorbeigekommen wäre und ihm den Weg verstellt hätte. Die Prozession mit den Sargträgern an der Spitze bewegte sich gemessenen Schrittes auf den kleinen Friedhof hinter der Kirche zu. Plötzlich gellte ein Schrei über den Platz. Die Henkersknechte hatten die Arme und Beine des Verurteilten an das Zaumzeug von vier Ackergäulen gebunden, um ihn zu vierteilen. Jetzt trieben sie die Gäule mit Peitschen an, jeden in eine andere Himmelsrichtung. Wieder schrie der Verurteilte. Diesmal erstarb sein Schrei in einem gewaltigen Donnerschlag, der einem grellen Blitz folgte. Der Blitz
schlug in den Kirchturm ein und spaltete ihn. Die Trümmer fielen auf den Platz. Menschen stoben schreiend auseinander. Beim Portal der Kirche entstand ein Tumult. »Haltet den Dieb!« schrien aufgeregte Stimmen. »Er hat die heilige Madonna beraubt.« »Was für ein Sakrileg! Ein Fluch wird über uns kommen.« Wieder zuckte ein Blitz vom Himmel herab und schlug in die Kirche ein. Die Holzbalken fingen Feuer. Georg Rudolf Speyer stand wie erstarrt da. Eine furchtbare Ahnung hatte sich seiner bemächtigt; und die Erkenntnis, daß sich hier ein schreckliches Drama anbahnte, lähmte ihn. Eine Gestalt lief, von der Kirche kommend, über den Platz. Die Meute der Gläubigen folgte ihr. Das mußte der Dieb sein. Es war ein Mann in einem Umhang und mit einer Kapuze. Er rannte, als sei der Teufel hinter ihm her, und er preßte etwas fest an den Körper, das golden glänzte. Jetzt kam er ganz nah an Speyer vorbei. Dieser konnte sogar das verzerrte Gesicht des Mannes erkennen; und er sah, was er so ängstlich an seinen Körper drückte. Es war ein golden glänzender Drudenfuß. Da fiel es Speyer plötzlich wie Schuppen von den Augen. Wegen dieses Drudenfußes war er nach Toledo gekommen. Die Erinnerung traf ihn wie ein Schock; er war nicht fähig, dem Dieb zu folgen. Er wußte nun mit unumstößlicher Gewißheit, daß der Drudenfuß für die Wunder der weinenden Madonna verantwortlich gewesen war. Und durch den Diebstahl wurden nun die Mächte des Bösen frei. Der Dieb rannte über den Friedhof. Georg Rudolf Speyer nahm die Verfolgung auf, während rings um ihn die Blitze einschlugen und die Gräber sich öffneten. Ein Blitz traf den Sarg, den die Träger zum offenen Grab brachten. Der Sargdeckel sprang auf, und der Tote erhob sich mit einem tierischen Schrei. Speyer rannte weiter. Er achtete nicht auf die unerklärlichen Vorfälle um sich herum, sah nicht, wie die durch eine unheimliche Macht belebten Skelette aus den aufgewühlten Gräbern stiegen. Er hatte nur Augen für den Dieb des Drudenfußes. Rund um die Kirche Santa Maria la Bianca breitete sich das Grauen
aus. Die alte Quendola entband die Frau des Stadtknechts von einem Kind, das einen riesigen Schädel und keine Arme und Beine hatte. Als der Vater das sah, tötete er das Neugeborene mit einem einzigen Streich seiner Waffe und verfolgte in seinem Blutrausch die Hebamme bis auf die Plaza del Barrio Nuevo, wo er sie in der Menschenmenge stellte und so lange mit seinem Säbel auf sie einschlug, bis einige beherzte Männer den Tobenden niederrangen. Der einbeinige Schneider aus Köln hatte mit den anderen Pilgern die Verfolgung des Diebes aufgenommen. Auf dem Platz wurde er jedoch zu Fall gebracht und niedergetrampelt. Und so fand man ihn später: Eine seiner Krücken war wie eine Schlange um seinen Hals gewunden und hatte ihn erwürgt. Auf dem Richtplatz versuchten die Henkersknechte vergeblich, die vier kräftigen Gäule auseinanderzutreiben. Der Boden unter ihren Hufen fror plötzlich zu Eis, so daß sie ausrutschten und nicht wieder hochkamen. Die Stricke, mit denen der Verurteilte gefesselt war, zerfielen durch einen Blitz zu Staub, woraufhin sich der Gepeinigte auf seinen geschundenen Gliedern fortschleppte, bis ihm die Hellebarde eines Henkersgehilfen den Garaus machte. Und kaum war dies geschehen, da öffnete sich der Boden auf der Plaza del Barrio Nuevo und verschlang all die Verfluchten, die wie eine Herde aufgescheuchter Lämmer umherirrten; und auch auf dem Friedhof wurden die von den Mächten der Finsternis geweckten Toten von den Erdmassen wieder in die Tiefe gerissen. Dann war der Spuk vorbei. Der Himmel riß im Westen auf, und die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen auf das brennende Dach der Santa Maria la Bianca. Das Feuer erlosch, als hätte ein göttlicher Atem es ausgeblasen. Georg Rudolf Speyer blieb keuchend stehen. Er hatte den Dieb aus den Augen verloren. Es hatte keinen Zweck, auf der Suche nach ihm durch Toledo zu irren; aber das hieß nicht, daß er an Aufgabe dachte. Er würde nichts unversucht lassen, um des Diebes habhaft zu werden, damit er ihm den Goldenen Drudenfuß, den er in seinem früheren Leben als Juan Garcia de Tabera am Seitenaltar der Santa Maria la Bianca versteckt hatte, abnehmen konnte.
Gegenwart Dorian Hunter stand vor dem offenen Wandtresor und starrte versonnen auf den Goldenen Drudenfuß in seinen Händen. Der Drudenfuß hatte sich nun wieder etwas ausgedehnt. Jeder seiner fünf Schenkel war zwei Fuß lang, und er schimmerte weißgolden. Man sah ihm an, daß er aus Edelmetall gearbeitet war. Dorian wollte ihn behüten, als wäre er ein Stück von ihm. Und genau betrachtet war der Goldene Drudenfuß längst ein Teil seines Lebens – seiner vielen Leben – geworden. »Dorian, Achtung!« rief Coco hinter ihm mit verhaltener Stimme. »Phillip kommt!« Dorian legte den Goldenen Drudenfuß schnell in den Wandtresor. Doch noch bevor er die Tür verschließen und das Ölbild – ein phosphoreszierendes Kreuz, das von Symbolen aus der Kabbala umgeben war – an seinen Platz hängen konnte, da tauchte auch schon der Hermaphrodit auf. Phillip trug einen Hausanzug im Mao-Look. Das einfache, kragenlose und sackähnlich geschnittene Gewand ließ ihn noch geheimnisvoller erscheinen. Phillip war groß und schlank und hatte eine unnatürlich blasse, fast durchscheinende Haut. Er hatte silbriges Haar, das sein Gesicht mit den goldenen Augäpfeln wie das eines Engels umrahmte. Die Bluse hing schlaff über seiner Brust, denn an diesem Tag hatte er keine sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale entwickelt. Phillip war ein Zwitterwesen, nicht Mann, nicht Frau – und dann wieder beides zusammen; er war kein normaler sterblicher Mensch, aber auch kein Dämon, sondern ein Wesen, das dazwischen stand, ein Wesen, weder den Gesetzen dieser Welt noch denen des Reichs der Finsternis unterworfen. Er bewegte sich zwischen Zeit und Raum. Und dementsprechend war auch sein Handeln, Fühlen und Denken. Niemand konnte seine Psyche ergründen. Er war schlecht-
hin ein Orakel. Bevor Dorian den Tresor schließen konnte, stand Phillip neben ihm. In seinen goldenen Augen spiegelte sich der Drudenfuß. Phillip streckte eine seiner schlanken Hände danach aus, doch dann zuckte er zurück. »Nicht, Phillip!« sagte Dorian leise. »Es ist noch zu früh.« Phillips Gesicht verzerrte sich leicht, als würden ihn die Worte des Dämonenkillers schmerzen. »Gefällt dir dieser Drudenfuß?« erkundigte sich Dorian, während er Phillips Arm herunterdrückte. Der Hermaphrodit öffnete den Mund, aber kein Laut kam über seine Lippen. Dorian schloß den Tresor und hing das Bild mit dem phosphoreszierenden Kreuz davor. Coco trat an Phillips Seite und drehte ihn sanft herum. »Es besteht kein Grund zur Aufregung, Phillip. Du brauchst dich wegen des Drudenfußes nicht zu beunruhigen. Die magischen Kräfte, die in ihm wohnen, können uns nichts anhaben, sondern sie werden uns von Nutzen sein.« »Ah, habe ich es mir doch gedacht!« ertönte da eine keifende Stimme von der Tür des Arbeitszimmers her. Eine kleine, gebeugt gehende Frau von etwa sechzig Jahren mit einer weißen Schürze und einem Häubchen war in der Tür aufgetaucht. Es war Miß – und darauf, daß sie immer noch ein Fräulein war, legte sie besonderen Wert – Martha Pickford, der gute Hausgeist in der Jugendstilvilla und Dorian Hunters Sargnagel. »Phillip hat sich während Ihrer Abwesenheit glänzend erholt«, keifte sie weiter. »Ja, er ist geradezu aufgeblüht. Aber kaum kamen Sie aus Amsterdam zurück, da verfiel er wieder merklich. Gibt es nicht noch ein paar Rattennester, die Sie ausräuchern müssen, Mr. Hunter?« »Seien Sie doch nicht so zanksüchtig, Miß Pickford!« griff Coco Zamis schlichtend ein. »Dorian hat Phillip kein Härchen gekrümmt. Er ist ganz überraschend hereingekommen.« Miß Pickford schnaubte verächtlich. »Sie brauchen mir über den Herrn des Hauses nichts zu erzählen, Coco. Ich sehe es seinem lau-
ernden Blick an, daß er ein Attentat auf Phillip vorhat. Aber ich werde verhindern …« »Scheren Sie sich zum Teufel!« rief Dorian verärgert, bereute seinen Gefühlsausbruch aber sofort wieder. Er richtete bei Miß Pickford auf diese Weise überhaupt nichts aus, sondern jedes unbedachte Wort war nur Wasser auf ihre Mühlen und festigte ihre Überzeugung, daß ihn die Jagd auf Dämonen hatte verrohen lassen. »Ich weiß selbst, wie man Phillip behandeln muß«, fügte er milder hinzu. »Wenn Sie sich noch einmal in meine Angelegenheiten einmischen, dann schmeiße ich Sie einfach raus.« »Dorian!« ermahnte ihn Coco. Miß Pickford reckte die Nase in die Höhe und ging zu Phillip, um ihn hinauszuführen. Dorian wagte nicht zu sprechen. »Komm, Phillip! Ich bringe dich vor diesem Rohling in Sicherheit«, sagte sie und faßte den Hermaphroditen am Arm. Doch Phillip widersetzte sich ihr. »Warum bist du auf einmal so bockig? Phillip, was ist mit dir?« Dorian sah, daß der Hermaphrodit sich versteift hatte. »Lassen Sie ihn, Miß Pickford!« Die Haushälterin ließ den Hermaphroditen los. Sie wußte inzwischen, wie weit sie bei Dorian gehen durfte. Außerdem kannte sie Phillip gut genug, um zu wissen, wann es besser war, ihn gewähren zu lassen. Es schien so, als sei er wieder zum Orakel geworden, das etwas mitzuteilen hatte. Phillip stand eine Weile reglos zwischen den dreien, die ihn aufmerksam beobachteten. Dann glitten seine grazilen Hände über seinen schlanken Körper, als wollten sie ihn liebkosen; das ging einige Atemzüge lang so. »Phillip«, sprach Dorian den Hermaphroditen mit leiser Stimme an. Doch er schien schon zu laut gesprochen zu haben, denn Phillips Gesicht verzerrte sich. Seine Hände wanderten über seine Brust hinauf. Die Finger sprangen – wie auf den Sprossen einer Leiter – die Knöpfe seiner Bluse hinauf, bis sie sein Kinn erreicht hatten. Sie wanden sich wie Schlangen, schlängelten auf seinen Mund zu, vi-
brierten an den Lippen. »Olivaro«, murmelte der Hermaphrodit auf einmal. »Der Dämon Olivaro?« entfuhr es Dorian. »Hast du Kontakt zu ihm?« Er verstummte sofort wieder, als Phillips blasses Engelsgesicht zu zucken begann. Die durchsichtigen Lider senkten sich über die goldenen Pupillen. »Olivaro!« wiederholte er, diesmal heller, fast mit Kinderstimme. Dorian wagte nicht zu sprechen. Er beobachtete Phillip, der sich nun ruckartig in Bewegung setzte und auf die Tür zuging. Dorian gab Miß Pickford einen Wink, daß sie ihm Platz machen sollte. Sie trat tatsächlich zur Seite. Phillip ging an ihr vorbei, schritt in die Halle hinaus und wandte sich dem Ausgang zu. »Er will ins Freie!« sagte Miß Pickford erschrocken. »Sie dürfen ihn bei dieser Kälte nicht hinauslassen. Er ist nicht warm genug angezogen. Er wird sich den Tod holen.« »Hören Sie auf zu jammern!« herrschte Dorian sie ungehalten an. »Die Kälte dieser Welt kann ihm nichts anhaben.« Phillip erreichte das Tor, griff wie ein Traumwandler nach der Klinke und drückte sie nieder. Der kalte Wind, der hereinblies, als er die Tür öffnete, schien ihm nichts auszumachen. Ihn fröstelte nicht einmal. »Jetzt ist es aber …« Miß Pickford verstummte sofort, als Dorian ihr einen scharfen Blick zuwarf. »Worauf möchte er uns aufmerksam machen?« fragte Coco unsicher. Dorian folgte dem Hermaphroditen in den Garten, über dem dichter Nebel lag. Die Welt schien um Phillip versunken zu sein. Er marschierte zielstrebig auf das Gartentor zu, dessen schmiedeeiserne Dämonenbanner sich langsam aus dem Nebel schälten. Als Phillip beim Tor anlangte, erreichte Dorian ihn. Der Hermaphrodit klammerte sich an die schmiedeeisernen Ornamente und starrte auf die Straße hinaus. Dorians Blick folgte dem seinen, und der Dämonenkiller hielt den Atem an. Dort im Schein der Straßenbeleuchtung schwebte eine schwarze Wolke. Sie pulsierte leicht, als lebte sie, und ihre absolute Schwärze absorbierte den Lichtschein.
»Coco, schnell den Wagen!« rief Dorian nach hinten und wandte sich Phillip zu. »Komm! Das ist nichts für dich. Geh ins Haus zurück! Miß Pickford wird sich um dich kümmern.« Phillip ließ sich widerstandslos vom Tor fortbringen. Die schwarze Wolke begann unruhig zu tanzen. Nur Geduld, Olivaro, dachte Dorian. Ich habe Ihren Hinweis verstanden. Er übergab Phillip der Obhut der Haushälterin. »Geben Sie gut auf ihn acht, Miß Pickford! Es könnte sein, daß er wieder einmal auf Wanderschaft gehen möchte. Halten Sie ihn zurück! Und halten Sie ihn auch von dem Tresor mit dem Drudenfuß fern! Ich möchte nicht, daß er jetzt schon damit herumhantiert.« »Ich werde dafür sorgen, daß Phillip dem Drudenfuß nicht zu nahe kommt«, erklärte sie fest und verschwand mit dem Hermaphroditen im Haus. Das Garagentor kippte nach oben. Das Licht der Scheinwerfer wurde nach einigen Metern vom dichten Nebel verschluckt. Dorian überlegte sich, ob er seinen Mantel holen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er lief zum Gartentor und schloß es auf. Coco fuhr den Rover auf die Straße. Dorian schloß das schmiedeeiserne Tor wieder. Als er zum Wagen lief, der mit laufendem Motor auf dem Gehsteig wartete, sah er, daß die schwarze Wolke immer noch drei Meter über der Straße schwebte. Im Wagen war es angenehm warm; Coco hatte das Heizgebläse eingeschaltet. Sie starrte zu der schwarzen Wolke hinauf, die sich in Bewegung setzte und in gleichbleibender Höhe die Straße hinunterschwebte. Coco folgte ihr. »Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?« erkundigte sich Dorian. Sie schüttelte wie abwesend den Kopf und ließ die Wolke nicht aus den Augen. »Nach Phillips Verhalten zu schließen, hat die Wolke irgend etwas mit Olivaro zu tun, aber ich kann sie nicht analysieren. Obwohl sie magischer Natur sein muß, kann ich keinerlei dämonische Ausstrahlung feststellen. Wahrscheinlich soll sie uns nur den Weg weisen. Vielleicht führt sie uns zu Olivaro.« »Oder sie soll uns in eine Falle locken«, meinte Dorian grimmig.
»Das alles hängt mit dem Goldenen Drudenfuß zusammen. Ich kann mir gut vorstellen, daß man in der Schwarzen Familie langsam nervös wird. Man muß ständig fürchten, daß ich den Drudenfuß als Waffe einsetzen könnte.« »Das könnte ein Grund dafür sein, daß Magus VII. mit uns in Verbindung treten will«, stimmte Coco ihm zu. »Magus VII.!« echote Dorian abfällig. »Das hört sich beinahe so an, als würdest du Olivaro als neuen Fürst der Finsternis akzeptieren. Naja, du hast auch nie verhehlt, daß du so etwas wie Sympathie für diesen Dämon empfindest.« »Du hast keinen Grund, Olivaro mehr als alle anderen Dämonen zu hassen«, erwiderte sie. »Schließlich hat er dir im Kampf gegen Asmodi beigestanden.« »Ja, aber nur, um nach Asmodis Vernichtung dessen Platz einzunehmen. Er hat mich für seine Zwecke mißbraucht. Ich habe noch eine private Rechnung mit ihm zu begleichen. Und abgesehen davon ist und bleibt er ein Dämon. Deshalb werde ich nichts unversucht lassen, ihn zur Strecke zu bringen.« Coco gab keine Antwort. Die schwarze Wolke glitt über die im Nebel versunkenen Straßen Londons dahin. Da nur wenig Verkehr herrschte, hatten sie keine Mühe, ihr zu folgen. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wohin uns die Wolke lotst«, sagte Coco nach einer Weile. »Im Nebel sieht alles so fremd aus, aber liegt in diesem Stadtteil nicht dein Reihenhaus?« »Erraten«, sagte Dorian. Gerade bogen sie in die Straße ein. »Da ist schon die Abraham Road. Olivaro scheint eine Vorliebe für dieses Haus zu haben. Es ist schließlich nicht das erstemal, daß ich ihn hier treffe.« Die Wolke stand plötzlich still. Coco parkte den Wagen in einer Lücke. Die Wolke strebte auf den Eingang eines der Häuser zu, die sich auf der Frontseite wie ein Ei dem anderen glichen. Als sie die Tür berührte, löste sie sich in Nichts auf. Coco stellte den Motor ab. Dorian aber machte keine Anstalten, den Wagen zu verlassen. »Worauf wartest du?« »Bevor wir seiner Einladung Folge leisten, werden wir einige Vor-
sichtsmaßnahmen treffen. Kannst du Olivaros Ausstrahlung spüren?« fragte er, während er die Wagentür öffnete. »Nein. Das Haus scheint völlig verlassen dazuliegen. Ich verstehe das selbst nicht. Wenn Olivaro hier wäre, müßte ich seine Anwesenheit spüren. Das heißt, falls er nicht besonderen Wert darauf legt, nicht entdeckt zu werden. Aber er erwartet uns doch.« »Wir werden bald wissen, welches Spiel er treibt.« Dorian stieg aus dem Wagen. Kaum stand er auf der Straße, malte er mit magischer Kreide einen Kreis, der so groß war, daß zwei Personen darin stehen konnten. Coco rutschte auf den Fahrersitz und stieg auf seiner Seite aus. Sie war darauf bedacht, nicht aus dem magischen Kreis zu treten, den Dorian inzwischen mit magischen Symbolen umgeben hatte. Nichts geschah. Wenn die Straße im Einfluß der Schwarzen Magie gestanden hätte, wäre durch den Gegenzauber eine Reaktion hervorgerufen worden. »Ich glaube, wir sind nicht in Gefahr«, meinte Coco. »Riskieren wir trotzdem nichts.« Er malte auf den Asphalt kabbalistische Symbole, die zum Gehsteig wiesen, und folgte ihnen. Coco blieb ihm auf den Fersen. Wenn ein ahnungsloser Passant zufällig des Weges gekommen wäre und sie beobachtet hätte, hätte er sie wahrscheinlich für verrückt erklärt. Aber darauf konnte der Dämonenkiller keine Rücksicht nehmen; sein Seelenheil war ihm wichtiger als die Meinung irgendeines Bürgers. Langsam näherten sie sich dem Eingang. Dorian war ständig auf einen Zwischenfall vorbereitet, aber es geschah überhaupt nichts; die dämonischen Mächte schienen ihnen so fern wie in einer Kirche zu sein. Er schloß die Tür auf und schaltete in der Diele das Licht ein. Bevor er sie betrat, vergewisserte er sich, daß sich hier seit seinem letzten Besuch nichts verändert hatte. Oder doch? Als er zum letzten Mal hiergewesen war, hatte er einige Unordnung zurückgelassen. Jetzt war alles aufgeräumt; kein Stäubchen lag auf dem Boden oder der Garderobe. Aber das konnte darauf zurückzuführen sein, daß Miß Pickford hier gewesen war, um ihrem Reinlichkeitsfimmel
nachzugehen. Kein Dämon wäre so pervers gewesen, die Unordnung des Dämonenkillers zu beseitigen. »Alles in Ordnung?« erkundigte er sich. »Hier ist niemand«, antwortete Coco überzeugt und schloß die Tür hinter sich. »Weder Mensch noch Dämon.« Sie hatte kaum ausgesprochen, als sie in der Bibliothek ein Geräusch hörten, ein Summen, das von statischen Störungen unterbrochen wurde. Als sie den Raum betraten, atmete Dorian auf. Das Rätsels Lösung war einfach: Der Fernsehapparat war eingeschaltet, doch auf einem Kanal, auf dem kein Programm lief. Deshalb das Rauschen und die Störgeräusche. Dorian lachte erleichtert. »Unsere ordnungsliebende Miß Pickford hat bei ihrem letzten Besuch vergessen, den Fernseher auszuschalten. Wenn ich ihr das sage, glaubt sie mir sicherlich nicht.« »Mit gutem Grund«, ertönte da eine Stimme aus dem Lautsprecher, »denn dieser Vorwurf wäre ungerecht. Ich habe die Manipulation an dem Apparat vorgenommen.« Das Flimmern auf dem Bildschirm beruhigte sich, und die Gestalt des Dämons Olivaro begann sich abzuzeichnen. »Für einen Fürst der Finsternis sind Sie doch reichlich verspielt, Olivaro«, sagte Dorian spöttisch, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Ein solcher technischer Schnickschnack müßte doch unter Ihrer Würde sein.« »Erstens handelt es sich keineswegs um einen technischen Trick«, berichtigte ihn Olivaro vom Bildschirm, »sondern um Schwarze Magie, und zweitens ist es keine Spielerei von mir, sondern eine Sicherheitsvorkehrung. Ich wollte Sie nicht in die Versuchung bringen, Dorian, einen Anschlag auf mich zu verüben. Ich habe Sie gerufen, um mit Ihnen zu verhandeln. Und das können wir nur, wenn wir auf Distanz bleiben. Aber bitte nehmen Sie doch Platz!« »Danke, sehr liebenswürdig, Olivaro.« Die Bibliothek war angenehm temperiert, obwohl der Raum schon seit Wochen nicht mehr beheizt wurde. Aber offenbar hatte Olivaro auch daran gedacht, um die Bedingungen für seine Gesprächspartner so angenehm wie möglich zu gestalten. Dorian konnte sich nicht
vorstellen, wie es ihm trotz der überall angebrachten Dämonenbanner möglich gewesen war, seinen Einfluß derart geltend zu machen. Aber wahrscheinlich fielen ihm diese magischen Tricks leichter, als persönlich in das Haus zu kommen. Coco hatte in einem der hochlehnigen Ledersessel Platz genommen. Sie schwieg und blieb reserviert wie ein unbeteiligter Zuschauer. »Sie haben sich ja mächtig angestrengt, um uns herzulotsen«, sagte Dorian. »Wäre es nicht auf eine weniger spektakuläre Art gegangen?« »Ich wollte sicher sein, daß Sie auch wirklich kommen. Und was für einen normalen Sterblichen spektakulär erscheint, ist für einen Schwarzblutigen reine Routine. Sie vergessen nur zu oft, daß Sie nunmehr, da Asmodi Ihnen die Unsterblichkeit genommen hat, ein ganz normaler Mensch sind, Dorian. Sie gehen zu leichtfertig mit dem einen Leben um, das Sie noch haben.« »Haben Sie mich nur gerufen, um mir zu drohen, Olivaro?« Die Gestalt auf dem Bildschirm begann für einen Augenblick zu flimmern, dann festigte sie sich wieder. Dorian sah, wie Olivaro die Hände abwehrend von sich streckte. »Kennen Sie mich denn so schlecht, um zu glauben, daß ich Sie auf solche Art und Weise einschüchtern möchte?« fragte der Dämon in beleidigtem Tonfall. »Nein, nein, ich möchte Sie schützen. Und werden Sie nicht gleich ätzend – ich meine es ernst. Was ich Ihnen vor einem Monat an diesem Ort gesagt habe, gilt auch heute noch.« Dorian lächelte. »Habe ich etwa nicht recht getan, Ihre Warnung in den Wind zu schlagen? Ich lebe immer noch, und meine Position ist besser denn je. Ich bin im Besitz des Goldenen Drudenfußes. Jetzt kann ich die Dämonen-Drillinge mit einem Schlag vernichten.« Olivaro schüttelte den Kopf. »Sie unterliegen einem großen Irrtum, Dorian. Der Goldene Drudenfuß wird Ihnen weniger helfen als schaden. Lassen Sie die Finger davon!« »Halten Sie mich für so naiv, daß Sie glauben, ich traue Ihnen? Sie wissen, daß ich die Entstehung des Drudenfußes und die Geburt der Dämonen-Drillinge miterlebt habe, Olivaro. Ich kenne alle Zusam-
menhänge. Ich weiß, daß man mit dem Drudenfuß diese drei Superdämonen vernichten kann. Aber ich weiß auch, daß die Schwarze Familie schon bei ihrer Geburt große Hoffnungen in die drei Dämonen gesetzt hat. Deshalb schützte man ihr Leben besonders. Und was man nicht alles zu ihrem Schutz unternahm! Doch am Ende habe ich mich durchgesetzt. Ich habe in all den Jahrhunderten und in vielen Leben auf meine Chance gewartet. Jetzt bin ich im Besitz des Drudenfußes. Und niemand wird mich daran hindern, ihn zur Vernichtung der Dämonen-Drillinge einzusetzen.« »Sagen Sie nicht, das sei Ihr letztes Wort«, riet Olivaro. »Ich stehe immer noch zu dem Angebot, das ich Ihnen gemacht habe. Und ich bin sogar bereit, es zu erweitern.« »Dann schießen Sie mal los!« Dorian holte ein Päckchen Zigaretten hervor, bot Coco eine an und nahm sich selbst eine. Bevor er Coco noch Feuer geben konnte, entzündete sich ihre Zigarette wie von selbst. »Danke, Olivaro«, sagte sie. Dorian blies verächtlich die Luft durch die Nase. Er ließ sich von solchen magischen Tricks nicht beeindrucken. »Also, wie lautet ihr neues Angebot?« »Ich spreche nicht nur in meinem Namen, sondern ich bin mit einer Reihe der Familien übereingekommen, daß es für uns alle das beste ist, mit Ihnen zu verhandeln. Gut für die Schwarze Familie – und für Sie, Dorian. Mein Angebot sieht so aus: Händigen Sie mir den Goldenen Drudenfuß aus, dann übergebe ich Ihnen die Dämonen-Drillinge.« Dorian war so überrascht, daß ihm der Mund offenblieb. Er hatte sich längst einen Plan zurechtgelegt, auf welche Weise er die Dämonen-Drillinge vernichten wollte. Er wußte, daß das Herumhantieren mit dem Drudenfuß gefährlich war, da sagte Olivaro ihm nichts Neues. Es gab nur eine Person, die diese Waffe ohne Gefahr für ihr Leben bedienen konnte: der Hermaphrodit. Dorians Plan sah vor, daß Phillip die Drillinge vernichten sollte. Weshalb also sollte er auf Olivaros unsinniges Angebot eingehen und sich unter Druck setzen lassen?
»Sie sprechen in Rätseln, Olivaro. Oder halten Sie mich für dümmer, als ich bin? Ich kann mir vorstellen, daß Sie in den Besitz des Drudenfußes gelangen wollen, um die Existenz der drei Dämonen zu schützen. Die Schwarze Familie hat ja in der Vergangenheit alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um alle Unbilden von ihnen fernzuhalten.« Olivaro seufzte. »Es ist schon einige Jahrhunderte her, daß Sie mit den Dämonen-Drillingen zu tun hatten. Seit damals hat sich einiges geändert. Es stimmt, daß man einst große Hoffnungen in die drei gesetzt hat. Sie sollten für die Schwarze Familie diese Welt erobern. Es stimmt auch, daß jeder der Drillinge einen Beschützer bekam. Einer davon war der Vampir Rosqvana. Doch das alles hat heute keine Gültigkeit mehr.« »Rosqvana ist ausgeschaltet«, warf Dorian ein. »Aber ich vermute, daß die beiden anderen Paten noch leben. Stimmt das?« »Jawohl, das stimmt. Sie leben und bewachen die Dämonen-Drillinge.« »Nun, wenn das so ist, sind Sie gar nicht kompetent, diese Verhandlungen zu führen«, entgegnete Dorian. »Wenn ich überhaupt über diese Dinge verhandle, dann nur mit den Paten der Drillinge.« »Ich bin als Oberhaupt der Schwarzen Familie zu Ihnen gekommen!« rief Olivaro verärgert. »Das möchten Sie wohl sein«, erwiderte Dorian spöttisch. »Wahrscheinlich könnten Sie Ihre Position auch festigen, wenn Sie mir den Drudenfuß herauslocken. Doch darauf warten Sie vergebens.« »Es hat eine Zeit gegeben, da haben wir ganz gut miteinander gearbeitet, Dorian. Warum sollte es nicht wieder so werden? So gegensätzlich, wie Sie meinen, sind unsere Standpunkte gar nicht. Solange Sie nicht meine persönlichen Interessen durchkreuzen, lasse ich Sie in Ruhe und verspreche Ihnen, daß ich nichts gegen Sie persönlich unternehme.« »Kommen Sie mir nicht so, Olivaro! Unsere Wege haben sich auf Haiti getrennt. Ich weiß, wo Sie stehen. Und Sie wissen, daß Sie mein Todfeind sind. Ihre scheinheilige Maske kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie zu den schrecklichsten Dämonen die-
ser Erde gehören. Denn wäre es anders, hätten Sie es innerhalb der Schwarzen Familie nicht so weit gebracht.« »Gut, wenn Sie dieser Meinung sind, dann sprechen wir nicht mehr darüber«, gab Olivaro nach. »Aber trotzdem sollten wir uns über den Goldenen Drudenfuß einigen können.« »Weshalb liegt Ihnen so viel an dem Drudenfuß?« »Das braucht sie nicht zu kümmern. Sie sind doch nur an der Vernichtung der Drillinge interessiert. Ich gebe Ihnen Gelegenheit dazu.« »Sagen Sie mir die Wahrheit. Andernfalls lasse ich mich auf keine weiteren Diskussionen mehr ein.« Olivaro machte eine resignierte Handbewegung und wandte sich Coco zu. »Könnten Sie nicht Ihren Einfluß geltend machen und Dorian von seiner sturen Haltung abbringen? Ich bin ganz einfach nicht in der Lage, ihm weitere Informationen zu geben.« »Tut mir leid«, sagte Coco. »Ich kenne die Zusammenhänge zu wenig, um mir eine Meinung bilden zu können.« »Lassen Sie Coco aus dem Spiel!« rief Dorian ärgerlich. »Sie könnte mich auch nicht umstimmen. Wenn Sie mir Ihre Beweggründe nicht verraten wollen, dann verhandle ich nicht weiter. Ich bin fest entschlossen, den Drudenfuß einzusetzen.« »Geben Sie mir noch eine Frist, Dorian! Überstürzen Sie nichts! Warten Sie hier, bis ich mich wieder melde. Vielleicht kann ich Ihnen weitere Informationen verschaffen.« Er verneigte sich leicht, und sein Bild auf dem Schirm des Fernsehapparates verblaßte. »Wenn ich nur wüßte, was er im Schilde führt«, sagte Dorian. Coco erhob sich. »Ich mache uns Kaffee.« In der Tür der Bibliothek drehte sie sich noch einmal um. »Ich finde, du übertreibst es, Dorian. Was kannst du denn schon dabei verlieren, wenn du im Austausch gegen den Drudenfuß die Dämonen-Drillinge ausgeliefert bekommst?« »Die Frage ist: Was kann ich dabei gewinnen?« Eine Viertelstunde später kam Coco mit einer Kanne dampfenden Kaffees. Sie goß zwei Tassen voll. Dorian saß in Gedanken versunken da. »Ich glaube, ich hab's«,
sagte er schließlich wie zu sich selbst. »Habe ich dir schon erzählt, daß ich den Dämonen-Drillingen im Alter von vierundzwanzig Jahren noch einmal begegnet bin?« »Du meinst, in einem deiner früheren Leben? Nein. Ich weiß überhaupt sehr wenig über deine Vergangenheit.« Er blickte zu ihr hoch. Ihre Blicke kreuzten sich. »Was weiß ich denn über deine Vergangenheit?« fragte Dorian zurück. Sie erwiderte seinen Blick. »Willst du, daß ich jetzt ein Geständnis darüber ablege, welche Schandtaten ich als Hexe begangen habe?« »Entschuldige, Coco. Ich meinte nur … Aber lassen wir das. Ich wollte dir eigentlich von meiner Begegnung mit den Dämonen-Drillingen erzählen. Dieses Erlebnis könnte der Schlüssel zu dem Geheimnis sein, das hinter Olivaros Tauschhandel steckt. Aber ich bin mir nicht sicher. Willst du die Geschichte hören?« »Ich brenne darauf.« »Zuvor noch eine Frage: Kennst du Dr. Faustus?« »Goethes Faust?« »Nein, ich meine nicht Goethes Werk, sondern den Dr. Johannes Faustus, der ihm als Vorlage gedient hat. Er hat tatsächlich gelebt und war schon zu Lebzeiten eine legendäre Gestalt. Alles, was man heute über ihn weiß, entstammt diesen Legenden. Aber ich habe ihn persönlich kennengelernt.« »Tatsächlich?« Dorian nickte. Sein Blick glitt in unergründliche Fernen. »Ich hieß damals Georg Rudolf Speyer, war neunzehn, Sohn eines Kaufmanns an der Lahn und studierte in Wittenberg Medizin. Dr. Faust war einer meiner Lehrer. Er machte jedoch mehr Ulk mit uns, als daß er uns medizinische Kenntnisse beibrachte. Zumindest erschien es mir damals als Ulk. Ich erinnere mich plötzlich einer Begebenheit so deutlich, als sei sie gestern passiert. Mit sechs anderen Studenten suchte ich ihn in seinem Haus auf. Es ging um die Streitfrage, ob der Teufel, den Faust gut zu kennen vorgab, eine Gestalt aus Fleisch und Blut hat, oder ob er nur aus Rauch und Feuer besteht. Es entbrannte eine ziemlich heftige Diskussion,
bei der einige Studenten etwas zu weit gingen und den Doktor einen Scharlatan nannten. Darüber geriet Faust in solche Wut, daß er ausrief, er würde uns Spukgestalten das Fürchten lehren. Plötzlich stürzten sich furchterregende Ungeheuer auf fünf von uns. Wir versuchten uns mit den Fäusten so gut es ging zu wehren, und das unter dem Gelächter unserer beiden Kameraden, die von den Ungeheuern verschont geblieben waren. Endlich zogen sich die Scheusale zurück. Wir fünf waren ganz schön abgekämpft. Die anderen beiden Studenten erzählten uns, daß es unglaublich komisch ausgesehen hätte, wie wir da mit angstverzerrten Gesichtern in die Luft geboxt hätten. Damit erkannte ich, daß Faust zu Unrecht bei manchen Leuten als Scharlatan verschrien war. Natürlich hatte er uns hypnotisiert, aber er hatte uns gleichzeitig klargemacht, daß der Teufel in beliebiger Erscheinung auftreten könnte.« Dorian machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Dr. Faust hat erst im späteren Leben des Georg Speyer eine entscheidende Rolle gespielt. Ich habe diese Episode nur erwähnt, um zu zeigen, welchen Eindruck er schon damals auf mich machte. Ohne diese erste Begegnung wäre ich nie darauf verfallen, ihn um Unterstützung zu bitten. Als Faust aus Wittenberg fortzog, gab ich bald darauf mein Studium auf und ging auf Wanderschaft. Das war mit einundzwanzig. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß ich durch einen Pakt mit Asmodi I. Unsterblichkeit erlangt hatte. Und auch nichts darüber, daß ich im Jahre 1508 als Juan Garcia de Tabera die Entstehung des Goldenen Drudenfußes und die Geburt der schrecklichen Dämonen-Drillinge miterlebt hatte. Erst als mich mein Wandertrieb im Jahre 1531 – einige Tage vor Weihnachten – nach Toledo führte, erfuhr ich die Wahrheit über mich. Ich erlebte die Schrecken der entfesselten Elemente mit, als jemand den Drudenfuß, den ich als de Tabera an einem Seitenaltar der Santa Maria la Bianca versteckt hatte, stahl. Da setzte die Erinnerung an meine früheren Leben ein, und ich wußte, daß ich nur nach Toledo gekommen war, um den Goldenen Drudenfuß zu finden. Doch er wurde vor meinen Augen geraubt. Ich erfuhr, daß der Dieb einer Komödiantentruppe angehörte, die noch am selben Abend nach Norden weiterzog. Ich folgte den
Komödianten, holte sie aber erst Anfang Februar des folgenden Jahres nahe vor Köln ein.« Der Dämonenkiller sah die Geschehnisse, die er als Georg Rudolf Speyer im Alter von vierundzwanzig Jahren erlebte, auf einmal wieder so deutlich vor sich, als hätte er das Rad der Zeit zurückgedreht und als liefe alles wie in einem Film noch einmal genau so ab, wie es sich vor fast vierhundertundfünfzig Jahren abgespielt hatte. Haßfurt – Haßfurt – Haßfurt … Dieser Name blinkte immer wieder wie ein Signal in seinem Geist auf. Haßfurt war ein Ort vor Köln, der seinem Namen alle Ehre machte.
Vergangenheit Der Wirt der Schenke Zum Einbeinigen Mohren war klein und fett, ja, er war um die Körpermitte so dick, daß er die kurzen, wulstigen Arme nicht herunterbaumeln lassen konnte, sondern sie ständig seitlich abgewinkelt hatte. Er sah einer Mastsau ähnlicher als einem Menschen. Seine zwinkernden Schweinsäuglein taxierten den Gast mißtrauisch, und als der junge Mann sogar noch ein Zimmer für die Nacht begehrte, da verhehlte er nicht länger, worum es ihm wirklich ging. »Könnt Ihr für das Zimmer auch bezahlen, junger Herr?« Georg Rudolf Speyer, von der langen Reise müde, schmutzig und durchfroren, ließ unter seinem Umhang den Degen hervorblitzen und sagte: »Mein Vermögen reicht, um Euch diese Räuberhöhle abzukaufen. Aber ich könnte Euch auch meine Waffe als Pfand hinterlegen – Ihr müßt sie Euch nur selbst aus der Scheide ziehen.« Die paar Gäste – einige Bauern, Müller und Knechte – lachten ausgiebig. Der verunsicherte Mohrenwirt wurde sofort höflicher, zweifellos aus Angst, man könnte den Fettvorrat seines Körpers durch einen Degenstich anzapfen. »Ihr braucht Euch nicht zu verbürgen, edler
Herr«, versicherte er schnell. »Ich gebe Euch das beste Zimmer meines Hauses, das noch nie Läuse oder Wanzen gesehen hat.« »Warum nicht gleich so?« meinte Speyer müde. »Ruft schon endlich jemanden, der mir die Habe hinauf bringt!« Sein Reisegepäck bestand aus einem großen Holzkoffer, dessen Inhalt hauptsächlich aus Andenken bestand, die er aus den vielen Städten hatte, in die er auf seiner langen Wanderschaft gekommen war. »Sehr wohl, Herr!« Der fette Wirt katzbuckelte, dann rief er mit schriller Stimme hinter sich: »Probus! Theres!« Durch eine niedrige Hintertür kam ein Mädchen in einer schmutzigen Schürze. Sie war klein und zierlich, und ihre kinderfaustgroßen Brüste zeichneten sich durch die über ihren mageren Körper schlotternden Kleider kaum ab. »Das ist meine Tochter Theresa! Dieser junge Edelmann ist unser Gast, Theresa. Daß ich von ihm keine Klagen über dich höre.« Sie machte einen unbeholfenen Knicks. »Sehr wohl, mein Vater.« »Ich bin kein Edelmann«, berichtigte Speyer den Wirt, »sondern ein einfacher Scholar.« Durch dieselbe Tür wie das Mädchen kam jetzt ein Mann, der so groß war, daß er den Kopf einziehen mußte, um ihn sich nicht am Türstock anzuschlagen. Seine Kleider, sicherlich welche, die ihm sein kugeliger Vater überlassen hatte, waren ihm viel zu kurz und zu weit. Er hatte ein stupides, ausdrucksloses Gesicht, und von der herabhängenden Unterlippe troff ihm Speichel, den er ständig geräuschvoll einsog. »Das ist mein Sohn Probus. Er ist leider ein Idiot, aber ich versichere Euch, Herr, ein ganz und gar harmloser. Probus, nimm den Koffer dieses jungen Herrn! Theresa wird dir zeigen, wo sein Zimmer ist.« Probus grinste dümmlich und wischte sich mit dem behaarten Handrücken den Speichel vom Kinn. Er war ein kräftiger Bursche. Mit Schwung warf er sich den Reisekoffer auf die Schulter und stapfte damit zur Treppe und seiner Schwester nach ins Obergeschoß. Speyer ließ die beiden vorangehen und beugte sich vertrau-
ensvoll zum Wirt hinunter. »Ich habe eine lange Reise hinter mir. Ich bin nun schon seit fast zwei Monaten unterwegs, bin mit französischen Landsknechten gereist und spanischen Juden und zuletzt mit einem fahrenden Kaufmann aus Hamburg. Ich habe bei Schneestürmen die Pyrenäen überquert, gegen Wölfe und Bären gekämpft, nur um so rasch wie möglich nach Köln zu kommen, aber vielleicht will es Gott, daß meine Reise hier schon endet. Eure Tochter ist ein liebreizendes Kind.« Zu seiner Verwunderung sah Speyer, wie der Wirt blaß wurde. »Oh – meine Tochter – Theresa? Sie ist ganz sicher viel zu minder für Euch, Herr. Ihr habt was Besseres verdient. Wenn Ihr wollt …« »Mich wird heute nacht sicherlich frieren.« »Euer Zimmer ist warm geheizt, Herr.« »Nicht gut genug geheizt, um meine innere Kälte zu verjagen«, behauptete Speyer. »Eure Tochter könnte mich wärmen. Sagen wir, für einen Dukaten?« »Das ist großzügig, Herr. Wirklich, äußerst großzügig. Viel zuviel für meine unschuldige Tochter.« »Zwei Dukaten?« »Theresa ist – verzeiht mir, Herr – aber sie ist nicht mehr frei. Bitte verlangt nicht so etwas von mir, Herr!« »Nun – meinetwegen. Ich habe, seit ich Toledo verlassen habe, außer einer diebischen Zigeunerin keine Bettgefährtin gehabt. Aber bis Köln ist es ja nur noch zwei Tagesreisen weit.« »Ihr kommt aus Toledo, Herr?« rief der Wirt aus, rasch das Gesprächsthema wechselnd. »Was für ein Zufall! Heute ist eine Komödiantentruppe eingetroffen, die ebenfalls zuletzt in Toledo Station gemacht hat. Die Wagen der Komödianten stehen hier ganz in der Nähe. Der Prinzipal heißt Cherves Apillion. Vielleicht kennt Ihr ihn? Er hat mir für heute abend seinen Besuch angekündigt.« Speyers Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich kenne keinen Komödianten dieses Namens. Laßt mich jetzt auf mein Zimmer.« Es stimmte also, was der Schmied behauptet hatte – daß eine Komödiantentruppe mit drei Wohnwagen bei ihm vorbeigekommen war, die nach Haßfurt, eine Tagesreise vor Köln, zog. Es waren jene
Komödianten, denen Speyer von Toledo gefolgt war. Speyer stieg die Treppe hinauf. Probus stand neben einer offenen Tür im schmalen Flur. »Da, Herr!« sagte er hastig und deutete auf die Tür. Speyer gab ihm einen Groschen und betrat das Zimmer. Es war wirklich ordentlich beheizt, wenn auch so klein, daß außer einem Bett, einem Schrank und einem winzigen Stuhl kaum noch Platz war. Probus hatte den Koffer auf den Tisch stellen müssen. Theresa hatte gerade das Bett gerichtet und wollte das Zimmer verlassen. Speyer hielt sie an ihrem dünnen Arm zurück. »Wie alt bist du, Theresa?« »Siebzehn, Herr«, sagte sie mit einem scheuen Blick zur Tür, wo Probus stand und sein einfältiges Grinsen zeigte. Speyer stieß ihm mit dem Fuß die Tür vor der Nase zu. »Siebzehn«, wiederholte Speyer. Er suchte den Blick ihrer unruhigen Augen. »Und stimmt es, daß du bereits vergeben bist? Hast du einen Geliebten, dem du zur Frau versprochen bist?« Sie öffnete den Mund, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Plötzlich wurde ihr Körper geschüttelt, und sie begann herzzerreißend zu schluchzen. »Aber, aber«, sprach Speyer tröstend auf sie ein. »Es ist doch nichts Schlimmes, einem Mann in die Ehe zu folgen. Und selbst wenn ihm noch nicht dein Herz gehört, wird sich die Liebe mit der Zeit schon einstellen. Oder weinst du am Ende gar nur, weil du dich schämst? Sind das Tränen der schüchternen Jungfrau, die solche Reden als sündig empfindet?« Er hob ihr Kinn an. »Laßt mich, Herr!« flehte sie. »Quält mich nicht länger!« »Zuerst sagst du mir aber noch, Jungfer Theresa, ob es wahr ist, was dein Vater mir anvertraute. Wenn du nämlich noch niemanden fürs Herz hast, dann würde ich …« »Bitte, Herr!« flehte sie schluchzend. »Verlangt nicht, daß ich das Siegel des Schweigens breche, sonst wird er uns alle beide töten. Er ist grausam wie der Teufel selbst.« »Dein Vater? Oder dein Liebhaber?«
Theresa griff sich an den Mund. »Was sage ich da?« entfuhr es ihr. »Ich – bitte …« Da ging die Tür auf. Der Mohrenwirt stand darin. Die Schweinsäuglein waren groß vor Angst. »Da, nehmt Eure Tochter!« sagte Speyer. »Sie will meinen Trost nicht.« Der Wirt zerrte sie wortlos an der Hand aus dem Zimmer. Speyer lauschte, bis das Schluchzen des Mädchens nicht mehr zu hören war. »Der Prinz wird jeden Augenblick eintreffen, und du …«, hörte er noch die wütende Stimme des Wirtes, dann wurde es still. Nur das ferne Grölen aus der Schankstube war zu hören. Speyer war sicher, daß ihm Theresa ihr Geheimnis verraten hätte, wenn ihr Vater nicht aufgetaucht wäre. Hatte er richtig gehört? War Theresa wirklich die Bettgenossin eines Prinzen?
Zwei Stunden später fühlte Georg Rudolf Speyer sich wie neugeboren. Die Wirtin, Agnes Naßanger, hatte ihm ein heißes Bad gemacht und seine müden Glieder ordentlich geschrubbt. Sie war eine nette, einfache Frau, die viel zu gut für eine Mastsau wie den Mohrenwirt war. Doch sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden und stand treu zu ihrem Mann. Das bedeutete auch, daß sie nichts über das Geheimnis ausplauderte, das dieses Haus umgab. Dennoch bekam Speyer, wenn auch unfreiwillig, von ihr bestätigt, was er schon durch die Bemerkung von Theresas Vater vermutet hatte, nämlich, daß ein edler Herr von blaublütigem Geschlecht, den auch sie den »Prinzen« nannte, sich für ihre Tochter interessierte. Als Probus mit einem neuen Eimer heißen Wassers kam und ihn wie ein Kind lachend über Speyers Kopf schüttete, hörte er die Mohrenwirtin mit sanftem Tadel sagen: »Was suchst du hier noch, Probus? Hinaus mit dir in den Stall zu den Ziegen! Du weißt, daß der Prinz dich nicht im Haus haben will, wenn er zu Besuch ist.« Das war ein weiterer Hinweis für Speyer gewesen, und von da an nahm sein furchtbarer Verdacht immer festere Formen an. Er hatte nun seine Erinnerung an die früheren Leben zurück; er wußte, daß
seine Seele nach dem Tode des Baron Nicolas de Conde in den neugeborenen Juan Garcia de Tabera gewandert war und von dort in den Körper des Georg Rudolf Speyer, der er nun war. Er trug ein schweres Erbe mit sich herum: das Wissen, daß die Welt von Dämonen bevölkert war, und daß die Inquisition, die eigentlich zu ihrer Ausrottung dienen sollte, machtlos gegen sie war. Und daran war er zum Teil selbst schuld. Er wollte nur noch dafür leben, diese Schuld abzutragen. Und der Beginn seines Feldzuges gegen die Dämonen sollte die Vernichtung der Drillinge sein. Dies konnte er jedoch nur mit Hilfe des Goldenen Drudenfußes bewerkstelligen, jenes Pentagramms aus Alchimistengold, das ein Mitglied der Komödiantengruppe des Prinzipals Cherves Apillion aus der Santa Maria la Bianca zu Toledo gestohlen hatte. Georg Rudolf Speyer sah sich seinem Ziel schon sehr nahe, als er über die Treppe in den Schankraum trat. Der Mohrenwirt kam ihm entgegengewatschelt und flüsterte ihm zu: »Die Komödianten sind da. Die drei Männer am hintersten Tisch sind es – falls man den verwachsenen Gnom als Mann bezeichnen kann. Der stattliche Herr mit dem wallenden, grauen Haar – das ist der Prinzipal. Soll ich Euch vorstellen, Herr?« »Nein, ich nehme mein Abendbrot an einem anderen Tisch ein«, erklärte Speyer. Er steuerte auf einen Tisch zu, der in der Ecke neben der Tür zur Küche stand, aus der verlockende Düfte strömten. Speyer hatte sich Fisch bestellt. Von den drei Komödianten beachtete ihn nur der verwachsene Zwerg, aber auch dieser würdigte ihn nur eines kurzen Blickes. Speyer setzte sich so, daß er den Prinzipal beobachten konnte. Er war tatsächlich eine stattliche Erscheinung, groß, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einer tiefgebräunten Haut. Die Hand, mit der er den Weinkrug an den Mund führte, war kräftig. Er hatte ein schmales Gesicht, das von einer geraden Nase in zwei fast identische Hälften geteilt wurde. Speyer hatte noch nie ein Gesicht gesehen, das so ebenmäßig war. Es wirkte von jeder Seite schön und männlich, aus welcher Perspektive man es auch betrachtete. Viel-
leicht war der Prinzipal der Komödianten in der Rolle eines »Prinzen« aufgetreten und hatte Theresas Herz im Sturm erobert? Da der dritte Mann am Tisch mit dem Rücken zu ihm saß, hatte Speyer noch keinen Blick auf sein Gesicht werfen können. Die drei unterhielten sich über irgendwelche Probleme der Schauspielerei, und obwohl Speyer nie ein scherzhaft gemeintes Wort heraushörte, kicherte der Gnom immer wieder in sich hinein. Er war bestimmt nicht größer als einen Meter und hatte links einen Buckel, der bis zum Hinterkopf hinaufragte. Seine Arme waren extrem kurz und standen seitlich ab. Wenn er nach dem Weinkrug griff, mußte er immer eine entsprechende Körperdrehung machen. Seine Beine waren ebenfalls viel zu kurz; sie baumelten von der Bank, gut einen halben Meter über dem Boden. Er hatte ein Pferdegesicht, in dem vereinzelt borstige Bartstoppeln sprossen. Die Tür zur Küche ging auf. Agnes Naßanger kam mit einer Schüssel, in der Speyers Karpfen dampfte. »Ah, duftet das!« rief der Prinzipal mit sonorer Stimme und machte eine theatralische Handbewegung. Plötzlich ertönte von oben der spitze Schrei einer Frau. Die Mohrenwirtin erstarrte, beinahe wäre ihr die Fischschüssel entfallen. Die Komödianten drehten sich zur Treppe herum. »Was war das?« fragte der Gnom mit seiner schrillen Stimme. »Laßt Euch nur nicht stören, edle Herren!« rief der Wirt beruhigend. »Das ist weiter nichts.« Als die Wirtin mit zitternden Händen den Fisch vor Speyer auf den Tisch stellte, ergriff er ihre Hand und fragte: »Geht es Theresa nicht gut?« »Das war nicht Theresa«, behauptete sie. Doch als neuerlich ein Schrei ertönte, der sich wie der Schmerzenslaut einer gequälten Kreatur anhörte, konnte sie nicht mehr an sich halten und schluchzte auf. »Diesmal habe ich Theresas Stimme erkannt«, erklärte Speyer. Und die Wirtin nickte. Er fragte barsch: »Warum kümmert sich niemand um sie?« Die Wirtin wischte sich über die Augen. »Wir können nicht stän-
dig um sie herum sein. Es ist wirklich nichts Schlimmes. Nur einer ihrer Anfälle. Das geht gleich wieder vorbei. Laßt Euch bitte nicht stören, Herr!« »Weib!« brüllte der Wirt sie an. »Wie bedienst du unsere Gäste!« Die Wirtin verschwand schnell wieder in der Küche. Speyer zerteilte den Fisch, um die Gräten herauszulösen. Als er den ersten Bissen an den Mund führen wollte, ertönte wieder ein Schrei Theresas. Diesmal hielt er länger an und ging schließlich in ein Wimmern über. »Wirt, könnt Ihr nicht endlich dieses Gejammer abstellen!« empörte sich der dritte Mann am Tisch der Komödianten, den Speyer bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Als er jetzt den Wirt ansprach, wandte er den Kopf herum. Und Speyer erkannte ihn sofort. Der Fisch blieb ihm beinahe im Halse stecken. Es war der Dieb, der den Goldenen Drudenfuß gestohlen hatte. Speyer hatte Muße, ihn eingehend zu betrachten. Es konnte kein Zweifel bestehen. Der Wirt kam herbei und redete begütigend auf seine Gäste ein. Er versicherte, daß die Anfälle seiner Tochter nun vorbei seien. Und tatsächlich war von da an auch nichts mehr zu hören. Speyer hatte den Karpfen kaum angerührt und schob ihn von sich. Er hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Außerdem war der Fisch viel zu wenig gewürzt und stank nach Sumpf. »Darf ich die Herren zu einem Krug Wein einladen?« fragte Speyer die Komödianten. »Der Mohrenwirt hat mir verraten, daß Ihr die hohe Kunst der Mimik beherrscht. Und da ich schon immer ein Verehrer dieser Kunst war, würde es mir eine besondere Ehre sein, solch hochbegnadete Künstler wie Euch meine Gäste nennen zu dürfen.« »Seid willkommen an unserem Tisch!« rief der Prinzipal erfreut. »Die Ehre ist ganz auf unserer Seite.« »Wirt, was von jetzt an getrunken wird, geht auf meine Rechnung!« rief Speyer. »Oh, wie spendabel!« meinte der Gnom kichernd. Speyer nannte den Komödianten seinen Namen und erfuhr, was
er schon wußte, daß der Prinzipal Cherves Apillion hieß. Der Name des Zwerges war Odrigue, und der Dieb des Goldenen Drudenfußes hieß Walther von der Spiend. Er machte auf Speyer sofort den Eindruck eines rücksichtslosen und brutalen Mannes, der vom Raufen sicherlich mehr als von der Schauspielkunst verstand – und ebenso vom Trinken. Da Speyer sie freihielt, entwickelten die drei einen solchen Durst, daß der Mohrenwirt kaum nachkam, die Krüge vollzuschenken. Nur Speyer hielt sich zurück. Er wollte einen klaren Kopf behalten, um aus dem Dieb, wenn dieser trunken war, herauszuprügeln, wo er den Goldenen Drudenfuß versteckt hatte. Als Speyer Gelegenheit fand, das Wort zu ergreifen, erklärte er, daß er die Schauspielkunst nicht nur bewundere, sondern auch selbst beherrsche. Er traue sich zu, jede Rolle zu spielen, und beherrsche sogar einige Instrumente leidlich gut. O ja, er fühle sich dazu berufen, einmal ein großer Schauspieler zu werden. Um ein Komödiant zu werden, habe er sogar auf das Studium der Medizin verzichtet. Er hatte nicht einmal die Prüfungen abgelegt, um Bakkalaureus zu werden – dabei hätte er es sicherlich zum Magister und wohl auch zum Doktor gebracht. Doch seine einzige Liebe gehöre der Bühne, deren Bretter die Welt bedeuteten. »Das habt Ihr schön gesagt, Scholar Speyer«, lobte Cherves Apillion. »Bretter, die die Welt bedeuten! Diesen Ausspruch sollte man sich merken. Aber um sich auf diesen Brettern zu behaupten, erfordert es mehr als nur eisernen Willen und die Freude am Spiel. Man braucht Talent.« »Davon habe ich im Überfluß«, behauptete Speyer. Er ergriff impulsiv die Hand des Komödianten und bat inständig: »Bitte, Prinzipal, gebt mir Gelegenheit, Euch mein Talent zu beweisen!« Der Prinzipal rülpste. »Ich soll Euch in meiner Truppe aufnehmen? Aber, junger Mann, wie stellt Ihr Euch das vor? Talent hin, Talent her, es gibt Wichtigeres als dieses. Vom Talent wird man nicht satt. Und ich kann keinen etliche Jahre nur wegen seiner Liebe zur Schauspielkunst durchfüttern, ohne zu wissen, ob sich das Geld irgendwann verzinst, das ich in ihn gesteckt habe. Was ist das Wich-
tigste, wenn Ihr in die Lehre gehen wollt? Ihr müßt dafür bezahlen …« »Aber das könnte ich doch auch bei Euch, oder?« warf Speyer ein. Die Augen des Prinzipal wurden groß und gierig. »Ihr wollt Euch bei uns einkaufen? Ist das Euer Ernst?« »Ich würde nichts lieber tun«, versicherte Speyer. Das war nicht einmal gelogen. Natürlich tat er es nicht der Schauspielerei wegen, sondern um an den Goldenen Drudenfuß heranzukommen. Er gestand dem Prinzipal, daß er beachtliche Ersparnisse besäße, die er nur zu gern für eine gediegene Ausbildung als Schauspieler investieren wolle. »Das ist klug. Ihr könnt Euer Geld nicht besser anlegen als bei mir. Wann wollt Ihr beginnen?« »Wenn es Euch recht ist, gleich morgen. Ich hatte ohnehin nicht vor, länger als eine Nacht in diesem Haus zu bleiben.« Der Prinzipal stand schwankend auf und hob seinen Krug. »Walther! Odrigue! Hiermit habt ihr einen neuen Kollegen, Freund und Bruder. Darauf trinken wir. Willkommen in unserer Familie! Vielleicht – vielleicht könnt Ihr schon in meinem neuen Stück eine Rolle übernehmen.« Er setzte den Krug an die Lippen, doch bevor er noch einen Schluck getrunken hatte, wanderten seine Augen zur Treppe. Die anderen folgten seinem Blick. Dort war eine Gestalt aufgetaucht. Sie war ganz in Weiß gekleidet, ein Weiß, das von keinem Stäubchen verunreinigt war. Selbst das Gesicht war weiß gepudert, und sie trug eine weiße Perücke mit Pagenschnitt. Auf dem Kopf hatte der Fremde ein Barett aus weißem Pelz mit einer neckischen Feder auf der Seite. Dieses Barett war nach spanischer Mode geschnitten, die übrige Kleidung entsprach der Tracht der Burgunder: das kurze Wams, im unteren Abschluß pelzverbrämt, mit silbernen Stickereien vorn, eine enganliegende gefütterte Strumpfhose und leicht nach oben gebogene Schnabelschuhe. Ja, als er so dastand, reglos wie gemalt, glich er der Erscheinung eines Engels. Auch das Gesicht war so schön und rein; ein vollkommener Mund mit leicht geschwungenen Lippen, die ständig zu lächeln schienen, Brauen, die zwei exakt nach unten gewölbte Halb-
monde bildeten und eine reine Zierde für die großen Augen waren. Diese Augen! Sie demaskierten den Engel, verrieten, daß in ihm der Teufel steckte. »Habe ich die Herren bei ihrem Umtrunk gestört?« erkundigte er sich leicht amüsiert. »Aber bitte, laßt euch doch durch mein Erscheinen nicht einschüchtern. Ich habe mir schon immer gewünscht, das fahrende Volk der Komödianten einmal in ihrer privaten Sphäre zu belauschen. Naßanger hat mir von euch erzählt. Wer von euch ist der Prinzipal? Seid Ihr es?« Er deutete mit seinem silbernen Gehstock auf den Zwerg Odrigue. Das konnte nur als Verhöhnung gemeint sein, aber er sagte es ohne Spott, so daß man es nur schwer als Beleidigung auffassen konnte. Odrigue schüttelte vehement seinen großen Kopf, ohne ein Wort hervorzubringen. »Gestattet …« Cherves Apillion wandte sich an den jungen Edelmann, der nur der »Prinz« sein konnte, von dem die Wirtsleute gesprochen hatten. Der Prinzipal wankte, versuchte eine Verbeugung und wäre mit dem Gesicht beinahe in den Weinkrug gefallen, hätte Walther von der Spiend ihn nicht gestützt. »Gestattet mir, mich vorzustellen. Ich bin der Leiter dieser Künstlertruppe, die wie keine andere die Maske des Schauspielers zu tragen versteht.« Der weiße Engel mit den schwarzen Teufelsaugen verbeugte sich ebenfalls. »Dann seid also Ihr es, an den ich mich wenden muß, um mein Begehren vorzutragen«, sagte er mit seiner wie Musik klingenden Stimme. »Ihr kommt mir wie gerufen. Wie Ihr sicherlich wißt, ist das Fastnachttreiben im Kölnischen besonders bunt. Es gibt keinen, der dann nicht ein Narr sein möchte. Wie jedes Jahr wollen meine Geschwister und ich auf dem Schloß unseres Paten ein großes Fest veranstalten; und da habe ich mir gedacht, daß es eine Abwechslung besonderer Art wäre, einmal von begnadeten Künstlern ein Fastnachtspiel vortragen zu lassen. Glaubt Ihr, daß Eure Leute Komödianten genug sind, um auch anspruchsvollere Herrschaften zu unterhalten, Prinzipal? Wenn Ihr mir das versichern könnt, dann möchte ich Euch bitten, zur Fastnacht Euer neuestes Stück auf unse-
rem Schloß zu spielen. Überlegt Euch meinen Vorschlag! Ich sehe, daß Ihr nicht mehr in der Lage seid, Eure Zunge zu kontrollieren. Deshalb will ich Euren Bescheid noch gar nicht haben. Solltet Ihr Euch entschließen, uns die Ehre zu geben, dann kommt nur zum Schloß und beruft Euch auf mich. Sagt, Athasar habe Euch geschickt. Und jetzt entschuldigt mich. Ich habe zu tun.« Er verneigte sich, betupfte sich den Mund mit einem weißen Tüchlein, machte kehrt und entschwand über die Treppe ins Obergeschoß. Der Mohrenwirt stand mit geschlossenen Augen und am ganzen Körper zitternd hinter dem Schanktisch. »Was für eine Ehre!« sagte der Prinzipal beeindruckt. »Was für eine Ehre, mein Fastnachtspiel auf dem Schloß hochherrschaftlicher Leute zur Uraufführung zu bringen! Das müssen wir begießen!« Er hob den Krug und fiel steif wie ein Brett hintenüber. »Ist es wieder einmal soweit«, kicherte der Zwerg Odrigue. »Na, ist vielleicht besser, wenn er seinen Rausch hier ausschläft. Auch für uns. Bis zum Lager schaffen wir es doch nicht mehr. Wir würden uns bestimmt verirren und in der eisigen Nacht erfrieren.« »Ich bleibe nicht!« erklärte Walther von der Spiend. Das paßte Speyer ausgezeichnet. »Erlaubt Ihr mir, daß ich Euch zu Eurem Lager führe?« bot er sich an. »Wartet nur, bis ich meinen Umhang geholt habe. Bechert inzwischen auf meine Rechnung. Ich bin gleich wieder da.« Walther von der Spiend nickte vor sich hin. Speyer hastete die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Er spürte förmlich die mißtrauischen Blicke des Wirtes in seinem Rücken. Oben angekommen, schlich sich Speyer den Flur entlang und lauschte an jeder Tür. Aber hinter allen war es still. Ohne lange zu überlegen, suchte er sein Zimmer auf, warf sich den Umhang um, öffnete das Fenster und sprang hinaus. Er fand sich im Hof der Wirtschaft wieder. Bis zu den Stallungen waren es keine fünfzehn Meter. Er mußte aber an den Küchenfenstern vorbei, um zu dem halboffenen Stalltor zu gelangen. Da in der Küche die Wirtin mit ihren Töpfen rumorte, kroch er auf allen vieren unter den Fenstern vorbei und erreichte un-
bemerkt den Stall. »Probus!« rief er verhalten in die Dunkelheit. Nur das Scharren der Tiere war zu hören. Er wiederholte den Namen des geistesgestörten Wirtssohnes immer wieder, bis dieser sich endlich meldete. »Was ist?« Schlurfende Schritte näherten sich. »Schnell, Probus!« rief Speyer dem Schatten, der sich ihm näherte, zu. »Deine Schwester hat dich gerufen. Theresa braucht dich.« »Aber …« »Willst du Theresa denn nicht helfen?« »Ja, aber ich …« »Sie braucht dich, Probus. Ohne dich ist sie verloren!« Der Geistesgestörte gab einen unartikulierten Laut von sich, stieß Speyer mit einer Handbewegung beiseite und stürmte wie ein Stier auf den Hof hinaus. Speyer sah ihm nach, wie er eine Holztreppe hochstürmte, die zu einer Tür führte. Jetzt war Speyer klar, auf welche Weise sich der engelhafte Edelmann unbemerkt in Theresas Kammer schlich. Probus erreichte die Tür und hämmerte wild dagegen. »Theresa! Theresa!« schrie er. Als die Tür daraufhin nicht geöffnet wurde, rannte er einfach dagegen an. Sie gab beim ersten Ansturm nach, und Probus stürzte mit ihr in den dahinterliegenden Raum. Gepolter und wütendes Geschrei waren zu hören. Einen Atemzug später tauchte der weißgekleidete Edelmann auf. »Verschwinde, du Bastard!« schrie er Probus an, während er ängstlich vor ihm zurückwich. Sein Gesicht war jetzt nicht mehr das eines Engels, sondern war vor Wut und Entsetzen verzerrt. Speyer beobachtete ihn genau. Als Probus ihn am Wamskragen packte, heulte der Edelmann wie ein getretener Hund auf, riß sich verzweifelt los, stolperte die Treppe hinunter und stürzte quer durch den Hof zum Ausgangstor. Probus kehrte in das Zimmer seiner Schwester zurück. Speyer hatte genug gesehen. Aus seiner Erinnerung wußte er, daß es ein probates Mittel gab, Dämonen zu entlarven: Man mußte sie
nur mit Geistesgestörten konfrontieren, vor denen es ihnen mehr graute als vor allen Heiligen. Und hatte Athasar nicht auch gesagt, daß er Geschwister besaß? Speyer war ziemlich sicher, daß er einer von den Dämonen-Drillingen war. Aus Theresas Zimmer ertönte jetzt die wütende Stimme des Mohrenwirtes. Speyer suchte die Schankstube auf. Der Prinzipal und der verwachsene Zwerg lagen schnarchend auf den Bänken und schliefen ihren Rausch aus. Von dem dritten Komödianten war nichts mehr zu sehen. Speyer ging in die Küche. Die Wirtsfrau stand am Herd und stocherte mit einem Feuerhaken in der Glut herum. »Wißt Ihr, wohin der dritte Komödiant verschwunden ist?« »Er hat ziemlich lautstark kundgetan, daß er ins Lager zurück will«, antwortete sie. »Wenn Ihr ihm folgen wollt, haltet Euch immer nach Norden, Herr. Dann könnt Ihr den Weg nicht verfehlen.« Und ob Speyer ihm folgen wollte! Er hoffte, den Dieb noch vor dem Lager einzuholen, bevor er durch seine Gefährten Verstärkung erhielt. Wenn es sein mußte, würde er das Versteck des Goldenen Drudenfußes aus ihm herausprügeln.
Die Nacht war wolkenlos, aber es war bitterkalt. Speyer sah ständig seinen Atem als zerfließenden Nebel vor sich hertanzen. Er mußte durch einen Wald, dessen Bäume nicht dicht standen. Der Boden war hartgefroren, an vielen Stellen vereist. Nur in versteckten Mulden, wohin die Sonne nie schien, lag Schnee. Als Speyer zu einer Lichtung kam, blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm standen drei Wohnwagen. Sie waren dunkel, so als schliefen die Insassen bereits. Er war zuerst enttäuscht, weil er keine Spur von dem Dieb fand, doch nach kurzem Nachdenken sagte er sich, daß dieser, betrunken wie er war, unmöglich schon hier eingetroffen sein konnte. Speyer entschloß sich, sich bei den Wohnwagen auf die Lauer zu legen. Er sammelte etwas Reisig ein, schichtete es übereinander, hockte sich darauf und zog seinen Umhang fester um sich. Irgend-
wie hatte er das Gefühl, in einem Theater zu sitzen und auf den Beginn eines Schauspiels zu warten. Die Lichtung mit den drei Wohnwagen war die Bühne. Und dann begann das Schauspiel. Links tauchten zwei Gestalten auf. Das Kichern einer jungen Frau war zu hören. Sie war in einen Mantel aus Fell gehüllt und hatte eine Kapuze auf dem Kopf. Ihr Begleiter war ganz in Weiß gekleidet. Er war das genaue Ebenbild des weißen Engels mit den Teufelsaugen aus dem Einbeinigen Mohren. Er führte das Mädchen an der Hand. Aber das war unmöglich! Nach dem Streich, der Athasar von dem geistesgestörten Probus gespielt worden war, mußte ihm zweifellos die Lust zum Buhlen vergangen sein; und doch verhielt er sich so, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Speyer fand nur eine einzige Erklärung dafür: Dies war nicht Athasar, sondern sein Bruder. Er sah Athasar, selbst was die Kleidung anbelangte, zum Verwechseln ähnlich. »Mein Vater wird schrecklich böse sein, daß ich so spät nach Hause komme«, flüsterte das Mädchen. »Er ist nicht nur ein gestrenger Prinzipal, sondern ein noch viel strengerer Vater. Er sieht es gar nicht gern, wenn ich mich mit schönen Männern abgebe.« »Isolde!« Der weiße Engel stellte sie mit dem Rücken gegen einen Wohnwagen. Ihre Augen weiteten sich, sie öffnete den Mund. »Warum seht Ihr mich plötzlich so seltsam an, Bethiar?« fragte sie ängstlich. »Jetzt höre mir zu, mein Täubchen. Ich habe dein Verlangen nach körperlicher Liebe gestillt. Jetzt verlange ich als Gegenleistung, daß du mir Lust und Wonne bereitest. Du wirst alle Wünsche erfüllen, die ich an dich richte.« »Aber was kann ich noch für Euch tun, Bethiar?« fragte sie, ohne den Blick von seinen Augen abwenden zu können. Sie stand ganz in seinem Bann. »Du bist doch eine Komödiantin, Isolde«, sagte der Dämon, der in seinem weißen Gewand wie eine Geistererscheinung wirkte. »Ich möchte, daß du vor mir alle Register deiner Schauspielkunst ziehst. Aber du wirst die Rollen, die ich von dir verlange, nicht nur spielen,
sondern ich sorge dafür, daß du sie erlebst. Wenn ich verlange, daß du eine Leidende spielst, dann wirst du leiden. Und wenn du eine mit dem Tode Ringende sein sollst, dann wirst du auch dem Gevatter tatsächlich in die Augen schauen. Du wirst mit Leib und Seele in deiner Rolle aufgehen. Das ist für mich die höchste Lust. Denn ich, Bethiar, bin dein Schicksal, Isolde.« »Nein, Herr!« rief sie erschrocken aus. »Tut alles mit mir, nur das nicht.« »Tanz, Isolde! Tanz!« forderte er und schlug ihr mit dem Silberstock auf das Hinterteil. Isolde, die – nach dem, was Speyer gehört hatte – die Tochter des Prinzipals Apillion sein mußte, begann sich nach einer unhörbaren Musik in den Hüften zu wiegen. »Schneller!« forderte der Dämon – und Isolde wirbelte wie eine Rasende über die Lichtung. »Du bist der Tanz. Du bist die Musik! Und mitten in deinem Tanz stürzt alles Leid dieser Welt über dich herein. Hörst du? Deine Seele soll schmerzen und dein Körper vor Qual brennen.« Isolde brach mit einem Aufschrei zusammen. Sie kauerte auf dem Boden, riß sich den Fellmantel vom Leib, keuchte und röchelte, riß sich an den Haaren und schlug sich ins Gesicht, bis es aufgequollen war und die Lippen bluteten. Dann packte sie eines ihrer Beine, verrenkte es sich und schlug sich die Ferse immer wieder in den Leib. Sie heulte wie ein Tier, verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und riß ihren Mund auf. Noch nie in seinem Leben hatte Speyer einen Menschen gesehen, der es fertig brachte, den Mund so weit aufzusperren. Bethiar stand daneben und weidete sich an ihrer Besessenheit. Wahrscheinlich hätte er Isolde so weit getrieben, daß sie sich selbst zerfleischte, denn höchstes Glück konnte ein Dämon wie er nur dann erleben, wenn das Leben aus einem Gepeinigten wich. Doch da trat jemand auf die Bühne, der die Choreographie des Dämons störte. Walther von der Spiend! Er war nicht allein. An seiner Seite war eine Frau, so weiß geklei-
det wie Bethiar und der Dämon Athasar. Sie war den beiden wie aus dem Gesicht geschnitten und hatte auch die nachtfinsteren Augen des Satans. »Sieh nur, Bethiar, welch munteren Gesellen ich dir bringe!« rief die Weißgekleidete, die nur die Schwester dieses Dämons sein konnte. Sie hielt Walther von der Spiend an der Hand und führte den Torkelnden über alle Hindernisse hinweg – einem Schutzengel gleich. Bethiar ließ von Isolde ab. Sie kauerte immer noch auf dem Boden und gab vereinzelt Klagelaute von sich, als schmore sie immer noch im Fegefeuer. »Ist er das?« fragte Bethiar. »Ja, das ist er«, bestätigte seine Schwester. Der Komödiant stierte Bethiar aus blutunterlaufenen Augen an, hob eine Hand und deutete auf ihn. »He! Hab ich Euch nicht gerade noch im Einbeinigen Mohren gesehen? Ihr ludet uns ein, auf dem Schloß Euers Paten ein Fastnachtspiel aufzuführen.« »Ach, tat ich das?« Bethiar stieß dem Betrunkenen den silbernen Gehstock vor die Brust. »Wie dem auch sei, deine große Stunde schlägt schon diese Nacht.« »Verzeiht, aber ich bin viel zu betrunken, um jetzt noch … He! Ist das nicht Isolde? Warum gebärdet sich unsere entehrte Jungfer so seltsam?« »Sie leidet«, erklärte Bethiar. »Sie steht Höllenqualen aus, und nur du kannst sie erlösen, mein treuer Freund.« »Ich?« Der Komödiant torkelte auf das sich auf dem Boden windende Mädchen zu. Drei Schritte vor ihr zuckte er jedoch zurück, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen. »So kannst du ihr nicht helfen, Dummkopf!« schalt ihn die Schwester Bethiars. Sie packte ihn bei den Haaren und riß seinen Kopf zu sich herum. »Sieh mir in die Augen! Erkennst du mich nicht? Erkennst du nicht deine Calira, die sich dir über weite Räume hinweg hingab? Erinnerst du dich nicht mehr an die Schmerzen dieser einen Nacht, in der ich dir im Traume erschien und dich um ein
Liebespfand bat?« Sie ließ ihn los. Der Komödiant blieb in dieser unnatürlichen Verrenkung stehen. Sein Körper wurde von Schauern geschüttelt. »Ich hatte einen Traum«, kam es krächzend aus seinem Mund. »Ja, Dummkopf«, herrschte ihn Calira an. »In diesem Traum war ich bei dir. Hast du die Brandwunden dieses Traumes nicht noch am Körper? Willst du, daß diese Wunden wieder aufbrechen? Daß du wieder in der Glut der Elmsfeuer schmorst?« Aus dem Gewand des Komödianten züngelten plötzlich grünliche Flammen. Er schlug mit den Händen auf sich ein, um die Flammen zu löschen, aber es gelang ihm nicht. Er stürzte sich zu Boden und wälzte sich schreiend, doch die Elmsfeuer brannten weiter, verzehrten sein Leben. Walther von der Spiend schrie wie am Spieß, aber in den Wohnwagen rührte sich nichts. Niemand außer jenen, die sich mit ihm in dem magischen Kreis befanden, konnte ihn hören. Nicht einmal Speyer konnte ihm zu Hilfe kommen. Auch er stand im Banne der dämonischen Geschwister. »Du warst in Toledo«, redete Calira auf ihn ein. »Du hast dort ein verruchtes Haus aufgesucht, das ein Schwarzblütiger nie betreten könnte. Und du hast dort etwas an dich genommen. Ich weiß es, denn ich habe diesen Augenblick miterlebt. Du hast das Liebespfand geholt, das ich von dir verlangt habe. Wo hast du den Goldenen Drudenfuß versteckt?« »Gnade!« winselte der Komödiant. Er stolperte und stürzte gegen das Rad eines Wagens. »Ich will … habt Erbarmen! Hier … da!« Caliras engelhaftes Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Fratze. »Wo ist der Beweis deiner Hörigkeit, verfluchter Bastard?« kreischte sie. Der Komödiant preßte sich gegen die Speichen des Rades. Zuerst rieb er sich den brennenden Rücken daran, dann warf er sich herum, stieß seine Arme durch die Speichen und umschlang sie, als wollte er sie herausreißen. »Den Goldenen Drudenfuß!« kreischte Calira in seinem Rücken.
»Gib das Pfand heraus!« Walther von der Spiend schob nun auch seine Beine zwischen die Speichen des Rades. Er stemmte sich mit aller Gewalt dagegen, und es hatte den Anschein, als wollte er durch diesen Kraftakt den Schmerzen entgegenwirken, die die Elmsfeuer ihm verursachten. Calira steigerte sich immer weiter in Raserei. Sie schien es nicht verwinden zu können, daß sich eines ihrer Opfer ihrem Willen widersetzte. »Verbrennen sollst du, Abtrünniger! Und gerädert sollst du werden wie noch niemand vor dir!« Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich die Bremsklötze unter den Rädern lösten. Der Wohnwagen setzte sich in Bewegung, rollte zuerst langsam, dann immer schneller werdend, die abschüssige Lichtung hinunter und krachte gegen einen Baum. Jetzt erst gelang es Speyer, sich aus dem Bann, in dem er die ganze Zeit über gestanden hatte, zu lösen. Er hatte keine andere Waffe bei sich als ein silbernes Kruzifix, das er an einer Kette um den Hals trug. Dieses holte er hervor. Er hielt es fest in der Hand und streckte es den beiden Dämonen entgegen, während er auf sie zulief. »Haltet ein!« rief er so laut er konnte. »Macht diesem grausamen Spiel ein Ende! Auch Edelleute sollten ihren Übermut in Grenzen halten!« Calira wirbelte herum. Zuerst wollte sie sich auf ihn stürzen, doch das Kreuz in seiner Hand ließ sie zurückschrecken. Sie fauchte wie ein wildes Tier und klammerte sich an ihren Bruder, der abwehrend eine Hand ausstreckte. »Wie kannst du es wagen, dich gegen uns zu stellen?« schrie Bethiar. »Weißt du denn nicht, wer wir sind?« »Ihr braucht Euch auf Eure Abstammung wahrlich nichts einzubilden. Ich habe Euer schändliches Treiben beobachtet. Ihr habt dieses Mädchen bis aufs Blut gequält und einen Mann in den Tod geschickt. Geht nur dorthin zurück, woher Ihr kommt! Flieht! Aber Eurer gerechten Strafe könnt Ihr nicht entgehen.« Er wählte absichtlich diese unverbindliche Formulierung, um nicht zu verraten, daß er die beiden Dämonen erkannt hatte, denn sonst wäre sein Leben verwirkt gewesen. Sollten sie nur glauben, daß er sie für normale Edelleute hielt, die in ihren Späßen etwas zu
weit gegangen waren. Calira hielt sich die Hand vor die Augen, damit sie das Kruzifix nicht ansehen mußte. »Glaube ja nicht, daß du uns ungestraft verjagen kannst«, sagte sie – nun wieder mit ihrer engelhaften Stimme. »Wir werden uns bestimmt wiedersehen. Dann wirst du meine qualvolle Zärtlichkeit zu spüren bekommen.« »Schwörst du das bei diesem Kreuz?« rief Speyer ihr zu. Da wandte sie sich mit ihrem Bruder ab, und beide verschwanden im Wald. Speyer blickte auf Isolde Apillion, die ohne Bewußtsein dalag. Dann stieg er den Hang hinunter zum Wohnwagen, der bei einer mächtigen Eiche zum Stillstand gekommen war. Walther von der Spiend war zwischen dem Rad und dem Baumstamm erdrückt worden. Die Elmsfeuer an seinem Körper waren erloschen. Er hatte sein Geheimnis mit in den Tod genommen. Damit zerrann Speyers Hoffnung, in den Besitz des Goldenen Drudenfußes zu kommen. Aber wenigstens hatten auch die Dämonen-Drillinge ihn sich nicht aneignen können. Speyer verließ den Lagerplatz der Komödianten.
Zurück im Einbeinigen Mohren erklärte er der Wirtin, daß er sich verlaufen hätte. Aber sie schien ihn gar nicht zu hören. Sie saß wie abwesend da und rührte sich nicht. Als er sie an der Schulter nahm und schüttelte, blickte sie ihn aus großen Augen an. Was sie denn habe, wollte er wissen. Sie sagte nur ein Wort: »Theresa.« Speyer hastete in das Obergeschoß. Er wußte jetzt, wo das Zimmer der Wirtstochter lag und auch, daß man es durch zwei Türen betreten konnte. Die Flurtür stand offen. Der Mohrenwirt und sein debiler Sohn Probus waren im Zimmer. Sie standen links und rechts von Theresas Bett, die dort wie aufgebahrt lag. Aber es war nicht mehr die Theresa, die Speyer kennengelernt hatte. Es war ein Geschöpf, dem man nicht nur das Leben genommen hatte, sondern auch die Jugend. Ihr Gesicht war das einer ausgezehrten alten Frau – ein mit
Haut überzogener Totenkopf. Speyer schauderte bei dem Gedanken, was der Dämon mit ihr angestellt haben mochte. Hatte er ihr die Lebenskraft ausgesogen, um sie sich selbst zuzuführen? Speyer ging auf sein Zimmer. Als er nach einer endlos scheinenden Nacht am nächsten Morgen in die Schankstube kam, waren der Prinzipal und der Gnom nicht mehr da. Nur der Wirt hockte einsam an einem Tisch. Er ertränkte seinen Schmerz in Wein. Speyer konnte kein Mitleid mit ihm empfinden. Naßanger war am Schicksal seiner Tochter mitschuldig. Aus Habgier – weshalb sonst? – hatte er seine Tochter an den Dämon verschachert. Er konnte sich wohl kaum eingeredet haben, daß der Edelmann ernste Absichten mit Theresa, einer Wirtstochter, gehabt hatte. Aber war er deshalb wirklich schuldig? Sein Schmerz schien echt zu sein. Athasar konnte ihn ganz leicht mittels Schwarzer Magie so beeinflußt haben, daß der Wirt ihm ahnungslos seine Tochter überließ. »Werdet Ihr uns heute verlassen?« fragte der Wirt. »Ja, ich muß weiterziehen«, antwortete Speyer. »Bevor der Prinzipal wegging, ersuchte er mich, Euch auszurichten, daß er auf dem Weg nach Haßfurt vorbeikommen wolle, um Euch abzuholen. Wollt Ihr Euch wirklich den Komödianten anschließen?« »Das habe ich vor.« »Tut es nicht!« »Was habt Ihr gegen diese Menschen?« Naßanger schüttelte den Kopf. »Gegen die Komödianten nichts, außer daß sie Euch nur um Euer Geld erleichtern wollen. Aber sie ziehen nach Haßfurt. Ich rate jedem, um diesen Ort einen großen Bogen zu machen. Er ist verhext. Dort geschehen merkwürdige Dinge. Schreckliche Dinge! Ihr habt es erlebt, der Fluch von Haßfurt ist bis hierher zu uns gedrungen. Meine arme, arme Theresa!« »Es tut mir leid um sie.« Der Wirt packte Speyer am Arm. »Ich weiß, ich kann meiner Tochter jetzt nicht mehr helfen, aber vielleicht tue ich etwas für ihr See-
lenheil, wenn ich Euch durch einen gutgemeinten Ratschlag rette. Geht nicht nach Haßfurt! Dieser Ort hat nicht umsonst diesen Namen. Die Leute, die dort wohnen, sind Besessene. Sie stiften nur Unheil. Erst vor einer Woche ist in den Schmied der Teufel gefahren. Er hat seine ganze Familie ausgerottet. Er ist mit dem Hammer auf seine Frau losgegangen und hat nacheinander seine acht Kinder erschlagen – und zum Schluß seine Magd. Und das war kein Einzelfall. Ähnliche Dinge passieren ständig in Haßfurt. Ich flehe Euch an, weicht diesem Ort aus!« »Danke für Euren Ratschlag«, sagte Speyer warm. Er wußte jetzt, daß der Mohrenwirt nicht wirklich schlecht war, sondern nur unter dem Einfluß der Dämonen-Drillinge gestanden hatte. »Aber mein Entschluß steht fest.«
Gegen Mittag traf der Prinzipal Cherves Apillion mit zwei der drei Wagen ein. Er erzählte von dem Unfall, dem von der Spiend zum Opfer gefallen war. Er nannte ihn einen besoffenen Kerl, der in seinem Rausch die Bremsklötze unter den Rädern entfernt habe, so daß der Wagen ins Rollen kam. Es geschah ihm recht, daß er dabei in die Speichen eines Rades geriet und zermalmt wurde, sagte er. Zum Glück war es sein Wagen, der gerade leer stand, weil er einer göttlichen Eingebung folgend im Wirtshaus übernachtet hatte. Von der Spiend tat ihm nicht leid; er hatte ja in ihm, Speyer, einen vollwertigen Ersatz, wie er hoffte. Schade war nur, daß sie durch die Reparatur an dem beschädigten Wagen aufgehalten wurden. So verlor man wohl einen ganzen Tag. Aber der Prinzipal hatte sich entschlossen, mit den beiden anderen Wagen schon vorauszufahren – wenigstens bis vor Haßfurt, um dann gleich am nächsten Morgen früh in den Ort einzuziehen – im Triumphzug, versteht sich. Speyer lernte während dir Fahrt Isolde etwas näher kennen, ebenso die anderen Mitglieder der Truppe. Außer den Personen, die Speyer schon kannte, gab es noch vier Frauen und sechs Männer, deren Namen er sich aber nicht auf Anhieb merken konnte. Zwei der Männer waren bei dem beschädigten Wagen zurückgeblieben.
Als er während der Fahrt Isolde einmal fragte, wie es denn möglich gewesen war, daß sie bei dem Unfall des Wohnwagens, den sie ja zusammen mit ihrem Vater bewohnte, nicht zu Schaden kam, antwortete sie: »Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht einmal, ob ich im Wagen war. Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Erdboden und fror jämmerlich.« Da sie keine Erinnerung mehr an die Geschehnisse der Nacht hatte, brauchte er auch nicht zu befürchten, daß sie etwas über seine Anwesenheit wußte. Eine Meile vor Haßfurt, nahe einer Straßenkreuzung, wurde bald nach Einbruch der Dunkelheit das Lager aufgeschlagen. Speyer bekam einen Platz im Wohnwagen der Männer zugewiesen. Isolde meinte zwar zu ihrem Vater, daß der Scholar bei ihnen im Wagen wohnen könnte, wenn er wieder fahrbereit war, weil außer ihnen beiden dort nur noch der Zwerg Odrigue einquartiert war, doch davon wollte der Prinzipal nichts wissen. Er hielt seine heißblütige Tochter eifersüchtig von allen jungen Männern fern und wußte sicher auch, warum. Isolde machte auf Speyer ganz den Eindruck, als sei sie ziemlich männerhungrig, und die Tatsache, daß sie immer die Rolle der Jungfer spielte, verleitete die anderen weiblichen Mitglieder der Truppe zu höhnischen Bemerkungen. Aber selbst wenn Isolde alles andere als eine Jungfrau war, so stand ihr diese Rolle immer noch eher zu als irgendeiner der anderen Schauspielerinnen – aus einem einleuchtenden Grund: Sie war die schönste von ihnen. Ada Madrigal, zum Beispiel, hätte nach ihrem Aussehen am besten eine Kupplerin spielen können. Sie hatte das Gesicht immer zentimeterdick gepudert und stand Isolde sicherlich kaum nach, was die Zahl ihrer Männerbekanntschaften anging. Allerdings konnte sie wohl kaum mehr so wählerisch sein wie die knusperige Tochter des Prinzipals. »Man munkelt, daß Ada einmal einen ihrer Geliebten zwischen ihren Brüsten erdrückt hat«, klärte Oswald Supper am Lagerfeuer den Schauspielaspiranten Speyer auf. Supper war etwa dreißig. Seine Schwester Kordula, die ebenfalls der Truppe angehörte, war im Leben und auf der Bühne das, was
man ein Mauerblümchen nannte. Sie hatte ursprünglich ins Kloster gehen wollen, weil der Mann, der ihr als Gatte bestimmt worden, mit einer Gerbersfrau durchgegangen war. Doch ihr Bruder hatte es verstanden, sie zu überreden, sich der Schauspielkunst zu widmen, um ihr Leid aller Welt zu zeigen. »Paßt nur auf, junger Freund!« bemerkte Barnabas Eene, der der älteste war und sich wie ein menschenscheuer Eremit gab und kleidete, »daß Ihr nicht unter Adas wogende Fleischmassen geratet. Junge Burschen wie Ihr behagen ihr besonders.« Um das Lagerfeuer hockten nur die Männer, die Frauen saßen bei ihrer Näharbeit im Wohnwagen; es galt, die Kostüme und Masken für die Premiere des Fastnachtspiels zu vollenden. Zenta Eytzinger, ein recht gutgebautes Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren, deren Gesicht jedoch von einer Narbe entstellt war, so daß sie auf der Bühne nur Hexen und Kräuterweiber mimen konnte, kam gerade aus der Richtung der Wohnwagen und mußte Barnabas' letzte Worte gehört haben. »Falls einer der Herren Schutz vor Ada sucht, dann soll er es mir nur sagen.« Sie wackelte mit den Hüften und stieß Speyer herausfordernd den Schuh ins Gesäß. »Euern Schutz würde ich besonders gern übernehmen, Herr Georg. Wenn ich in Eure Augen sehe, so will es mir scheinen, daß sie voll Ulk und Schabernack sind. Man hört es immer wieder, daß die Studenten nichts als Unsinn und Frauen im Kopf haben. Ich wette, Ihr mußtet von der Universität flüchten, weil man Euch mit der Frau eines Lehrers erwischt hat.« Die Männer lachten, und David Brombach, ein kleines lüsternes Kerlchen, verlangte spontan, daß Speyer einige Schwänke aus seinem Leben erzählte. »Aber nein!« wehrte Speyer lachend ab. »Wenn ich mein Studium unterbrach, dann nur, um Schauspieler zu werden. Ich weiß, daß mein Leben nur ausgefüllt ist, wenn ich Komödiant sein darf.« »Nun, wenn Ihr die Schauspielerei so ernst nehmt, dann solltet Ihr Euch ein seriöseres Unternehmen aussuchen als dieses«, rief Adalbert Labisse mit französischem Akzent. Er war der »Pfau« und spielte auf der Bühne den Herzensbrecher. Im Leben machte er Jagd auf
schlanke, blonde Jünglinge. Speyer verstand es geschickt, das Gespräch auf Walther von der Spiend zu bringen. Dabei stellte sich heraus, daß er in der Truppe nicht besonders beliebt gewesen war. Ein Raufbold, der den Komödianten immer nur Schwierigkeiten bereitete, weil er in jeder Stadt, in die sie kamen, Händel suchte. So war es auch in Toledo gewesen. Niemand wußte genau, was er angestellt hatte, aber es mußte schon etwas sehr Gewichtiges gewesen sein, weil die Spanische Inquisition hinter ihm her gewesen war. Zenta Eytzinger behauptete, daß er etwas aus der Kirche gestohlen hätte, die durch Blitzschlag fast bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Speyer hakte sofort ein. Doch keiner der Männer konnte sich vorstellen, was von der Spiend gestohlen haben könnte, weil man kein Diebesgut oder etwas, das danach aussah, bei ihm gefunden hatte. Spever nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Zenta auszuhorchen. Vielleicht hatte sich von der Spiend ihr anvertraut? Odrigue war zu diesem Thema ein kleines Liedchen eingefallen. Er gab es zum besten, während er sich selbst auf der Laute begleitete. »Der Tunichtgut Walther, er stammt von der Spiend, erreichte kein hohes Alter, denn der Teufel holte ihn geschwind.« Der Zwerg spielte auf der Bühne Narren, Teufel und Dämonen und sang die verbindenden Lieder, die er oftmals aus dem Stehgreif dichtete. Speyer fand ihn trotz seines abstoßenden Äußeren recht sympathisch. Sein Liedchen über von der Spiend ließ jedoch die Vermutung in ihm aufkommen, daß er vielleicht mehr über dessen Pakt mit den Dämonen-Drillingen wußte. Als Speyer sah, wie sich Zenta Eytzinger zurückzog, erhob er sich ebenfalls und folgte ihr. »Fräulein Zenta«, sprach er sie an, als sie sich einige Meter vom Lagerfeuer entfernt hatten. »Ich habe mir Euer Angebot überlegt. Vielleicht könnte ich doch Euren Schutz brauchen.« Sie wandte sich ihm mit vielsagendem Lächeln zu. Jetzt, da nur ihre eine Gesichtshälfte vom Lagerfeuer beschienen wurde und die Narbe im Schatten lag, wirkte sie sogar ausgesprochen schön.
Unwillkürlich legte er eine Hand auf ihre Narbe. Sie erstarrte, doch dann entspannte sie sich wieder, weil sie erkannte, daß seine Geste mehr zärtlich als alles andere war. »Ihr müßt viel in Euerm Leben durchgemacht haben – und dennoch habt Ihr Euch noch so viel Mut zum Leben bewahrt.« »Habt Ihr es noch nicht erkannt, daß es meistens die Getretenen sind, die sich im Endeffekt durchsetzen, Herr Georg?« Sie nahm sofort wieder Abwehrstellung ein und verzog den vollen Mund zu einem spöttischen Grinsen, während sie weitersprach. »Diese Narbe stammt von dem ersten Mann in meinem Leben. Ich war damals vierzehn. Meine Mutter zwang mich, auf diese Weise Geld zu verdienen. Ich wußte erst, was es bedeutete, als dieser Rohling über mich herfiel. Ich wehrte mich erfolgreich, doch bevor ich ihm den Dolch zwischen die Rippen stoßen konnte, fügte er mir mit seiner Waffe noch diese Wunde zu. Seit damals bin ich gezeichnet. Und dafür, daß ich meine Unschuld verteidigte, mußte ich monatelang in den Kerkern der Inquisition schmoren. Dort habe ich alles verloren. Jetzt könnt Ihr Euch vielleicht ein Bild davon machen, wie ich zum Leben stehe. Wollt Ihr immer noch unter meine Fittiche? Ich fürchte, Ihr werdet nun einsehen, daß Ihr bei mir nicht bekommt, was Ihr Euch erwartet.« »Ihr habt mich mißverstanden«, beteuerte Speyer. »Ich habe nie angenommen, Ihr könntet leichte Beute für mich sein. Wenn ich gewußt hätte … Nun, wenn Ihr mir es gestattet, dann biete ich Euch meinen Schutz an. Ihr habt nur eine rauhe Schale, mit der Ihr Euch gegen Eure Feinde schützt, im Innern seid Ihr aber wohl mehr Mensch als alle anderen hier. Ich habe bemerkt, daß Ihr nicht über Walther von der Spiend geschimpft habt – im Gegensatz zu den anderen.« »Wir waren uns sehr ähnlich. Er war so verzweifelt wie ich. Aber bei Männern drückt sich das eben anders aus.« »Habt Ihr in letzter Zeit nicht eine Veränderung an ihm festgestellt?« »Wieso kommt Ihr darauf?« »Nun, ich kenne ihn von früher, genauer gesagt aus Toledo.«
Speyer entschloß sich, sofort aufs Ganze zu gehen. »Er hat dort wirklich etwas gestohlen. Und zwar mir. Sagt bitte den anderen nichts davon, aber ich bin Eurer Truppe nur gefolgt, um mir wiederzuholen, was mir gehört.« »Und was soll das sein?« »Es ist aus Gold, leuchtet manchmal aber auch in anderen Farben und wechselt auch seine Größe«, umschrieb Speyer den Goldenen Drudenfuß. »Ich habe nichts bei Walther gesehen, auf das diese Beschreibung paßt«, meinte sie, nun wieder mißtrauisch geworden. »Und selbst wenn – wie kann ich sicher sein, daß es Euch gehört?« Speyer merkte, daß sich ihnen eine Frauengestalt näherte. »Wir unterhalten uns morgen weiter«, flüsterte er Zenta schnell zu. »Ihr müßt mir aber versprechen, den anderen gegenüber zu schweigen.« »Das ist vergebliche Liebesmühe«, ertönte da Isoldes Stimme. »Ich kann Euch versichern, daß Ihr bei Zenta nicht ans Ziel kommt, Herr Georg.« »Schlampe«, murmelte Zenta in sich hinein und rauschte davon. Isolde Apillion hakte sich bei Speyer ein und führte ihn zurück zum Lagerfeuer; dabei preßte sie seinen Arm wie zufällig gegen ihren Busen. Plötzlich tauchten rund um das Lagerfeuer Gestalten in Rüstungen auf. Es handelte sich um etwa zwanzig Landsknechte, die ihre Hellebarden drohend auf die Komödianten richteten. »Im Namen des Fürsten, seiner Hoheit Hector Domenicus derer von Reese«, sagte ihr Anführer, »ergebt Euch! Euer Lager ist umstellt. Wer sich zur Wehr setzt, ist des Todes.« In diesem Moment kam der Prinzipal aus dem Wohnwagen der Frauen. Er wurde sofort von zwei Landsknechten in die Mitte genommen und zum Anführer gebracht. »Was hat das zu bedeuten, Herr Hauptmann?« begehrte Apillion auf. »Wir sind friedliche Leute. Komödianten, die hier nächtigen, um morgen in Haßfurt einzuziehen. Wie kommt Ihr dazu, uns wie Räuber zu überfallen?«
Der Hauptmann schlug ihm den mit Lederplättchen besetzten Handschuh ins Gesicht, was den Prinzipal wohl mehr aus Überraschung denn aus Schmerz zum Verstummen brachte. »Wir haben Befehl, Euer Lager zu durchsuchen«, sagte der Hauptmann der Landsknechte. »Dies ist Grund und Boden, der seiner Hoheit, Fürst Hector 1. gehört. Hier regiert sein Recht. Wer sich widersetzt, wird an dem Beinen aufgeknüpft.« »Aber wir genießen Gastrecht. Prinz Athasar persönlich hat uns eingeladen und …« »Mag sein«, wurde der Prinzipal vom Hauptmann unterbrochen. »Prinz Athasar hat aber auch verfügt, daß man Eure Wohnwagen nach Diebesgut durchsuchen soll.« »Diebesgut?« »Jawohl. Um Eurem Gedächtnis nachzuhelfen, will ich Euch eine Beschreibung des Gegenstandes geben, nach dem wir suchen. Vielleicht fällt Euch zufällig ein, daß jemand von euch ihn in Besitz hat. Dann könnten wir es uns ersparen, eure Wohnwagen zu durchsuchen. Der gesuchte Gegenstand ist aus Gold, schimmert manchmal aber auch in anderen Farben und kann seine Größe verändern. Besitzt Ihr einen solchen Gegenstand?« »Hört sich an, als handelte es sich um das Werkzeug eines Alchimisten oder Magiers«, meinte der Prinzipal mit schüchternem Lächeln. »Wir haben nichts mit falschem Zauber zu tun. Wenn Ihr von der Inquisition geschickt …« Der Hauptmann schlug ihm wieder den Handschuh ins Gesicht. Er war wohl der Meinung, daß man es sich mit Komödianten erlauben konnte, sie ständig zu beleidigen. Als Apillion verstummte, gab der Hauptmann seinen Leuten ein Zeichen, und diese begannen die Wohnwagen zu durchsuchen. Speyer beobachtete sie gespannt. Da die Landsknechte zu sehr in ihre Tätigkeit vertieft waren, konnte er unbemerkt die Vorbereitungen für eine Flucht treffen. Falls sie den Goldenen Drudenfuß fanden, würde er ihn ihnen abnehmen und sich damit davonmachen, koste es was es wolle. Zenta merkte, wie er verstohlen ein Zugpferd sattelte, das dem
Prinzipal bei besonderen Gelegenheiten auch als Reittier diente. »Bereitet für mich auch ein Pferd vor«, raunte sie ihm zu. »Ich komme mit.« Doch Speyer brauchte seine Fluchtpläne nicht zu verwirklichen. Die Landsknechte durchsuchten zwar jeden Winkel der beiden Wohnwagen, kehrten das Unterste zuoberst, krochen unter sie und leuchteten mit ihren Fackeln überall hin, den Drudenfuß aber fanden sie nicht. Speyer konnte aufatmen. Genau besehen hatten ihm die Landsknechte sogar Arbeit abgenommen. So konnte er sich vorerst darauf beschränken, sein Augenmerk auf den dritten Wohnwagen zu konzentrieren, der sich noch beim ursprünglichen Lagerplatz befand. Es dauerte fast die ganze Nacht, die Unordnung, die die Landsknechte zurückgelassen hatten, zu beseitigen. Als man am nächsten Morgen alles für den Aufbruch vorbereitete, trafen Cornelius Piffl und Tassilio Rothorst mit dem dritten Wohnwagen ein. Der Zug der Komödianten setzte sich in Richtung Haßfurt in Bewegung.
Haßfurt war ein kleiner Ort mit fünfzig Häusern am Fuße eines Hügels, auf dem ein imposantes Schloß thronte. Es lag eine Tagreise südlich von Köln. Der Prinzipal war am meisten von dem Schloß beeindruckt. Dies mußte die Residenz des Fürsten Hector I. sein, auf dem zur Fastnacht sein neuestes – sein bestes und reifstes – Werk seine Uraufführung erleben würde. »Ich hoffe, ihr habt alle eure Rollen gelernt«, sagte der Prinzipal zu seinen Leuten. Er ritt der Kolonne aus drei Wohnwagen voran und trug sein bestes Kostüm. »Ich weiß noch nicht einmal, was ich spielen soll«, meinte Speyer, der zusammen mit Isolde und dem Zwerg Odrigue auf dem Kutschbock des einen Wohnwagens saß. »Keine Sorge, Herr Georg«, beruhigte ihn Apillion mit einer schwungvollen Handbewegung. »Die Rolle ist Euch wie auf den Leib geschrieben.«
Die Laune des Prinzipals verschlechterte sich aber zunehmend, je näher sie dem Ort kamen; und als sie auf der Hauptstraße an den ersten Häusern vorbeifuhren, hatte sie ihren Tiefpunkt erreicht. Niemand war erschienen, um den Einzug der Komödianten mitzuerleben. Keine Mädchen standen entlang der Straße, um den Schauspielern Strohblumen zuzuwerfen. In den Fenstern tauchten nicht die Alten auf. Nicht einmal die Kinder erschienen, die sonst immer die ersten waren, wenn die Komödianten mit Spiel und Gesang einzogen. Odrigue zupfte an der Laute und sang seine Verse auf den großen Cherves Apillion, aber niemand hörte ihm zu. Die Mädchen in ihren Phantasiekostümen tänzelten in gespielter Ausgelassenheit über die staubige Straße, allen voran Ada Madrigal, die Fleischberge, die aus ihrem tiefen Dekollete ragten, blaugefroren. Aber für wen das alles? Nicht einmal die Hunde kamen, um die Pferde anzubellen. »Was ist das für ein Empfang?« rief der Prinzipal verärgert. »Ist dieses Dorf ausgestorben? Fastnacht steht ins Haus, aber statt guter Laune, Heiterkeit und Trubel herrscht hier Trauer.« Die Straße machte nach dem dritten Haus einen Bogen. Dort stand ein alter Mann, der sich zitternd auf seinen Stock stützte. Als er den Zug der Komödianten erblickte, hob er seinen Stock und winkte. Apillion strahlte, winkte ihm gönnerhaft zu und ritt zu ihm hin. »Habt ihr in Haßfurt die Pest, Alter, daß niemand auf der Straße zu sehen ist?« Der Alte schüttelte den Kopf, lächelte und zeigte dabei sein zahnloses Maul. »Was ist dann los, daß niemand zu unserer Begrüßung erscheint?« »Heute findet die Hinrichtung des Schmiedes statt«, antwortete der Alte und setzte seinen Weg fort. Als der Komödiantenzug um die Biegung der Straße kam, sah Speyer eine riesige Menschenmenge, die sich auf dem Hauptplatz drängte. Das ganze Dorf mußte sich hier versammelt haben. Der Prinzipal ritt an die Menge heran. Einige Leute drehten sich um, blickten jedoch sofort wieder weg. Die buntgekleideten Leute schienen sie überhaupt nicht zu interessieren; sie waren ganz und
gar von den Geschehnissen auf dem Marktplatz gebannt. Speyer fuhr den Wagen so nah es ging heran. Von seinem erhöhten Platz auf dem Kutschbock hatte er einen ausgezeichneten Überblick. Einige Dutzend Landsknechte hielten in der Mitte einen Platz frei. Dort war eine Loge errichtet worden, in der die Würdenträger und Honoratioren saßen. Neben der Loge stand eine Prunkkutsche. Darin saßen drei Personen, die alle in blendendes Weiß gekleidet waren. Zwei junge Männer und eine junge Frau. Die Dämonen-Drillinge! Sie starrten gebannt zu den Häusern hinüber. Speyer mußte sich zwingen, die Augen von den drei Dämonen loszureißen und ihrem Blick zu folgen. Aus einer Schmiede trat jetzt ein verhüllter Henker mit vier Folterknechten. Ihnen folgten die fünf in schwarze Kleider gehüllten Rechtsgelehrten mit ihren hohen Hüten. Einer von ihnen hielt ein aufgerolltes Pergament vor sich und verkündete mit lauter Stimme: »Angeklagt und der Tat überführt ist der Schmied von Haßfurt, Adolar Zappel. Er wurde beschuldigt, sein Weib, seine Magd und seine acht Kinder auf bestialische Weise erschlagen zu haben. Der Schmied Adolar Zappel hat nicht nur diese Tat gestanden, sondern darüber hinaus noch zugegeben, vom Teufel dazu angestiftet worden zu sein.« Danach begann die Verlesung seines Geständnisses, aus dem hervorging, wie, wann und wo der Schmied mit dem Teufel in Kontakt getreten war. Aus der Menge ertönte immer wieder staunendes »Ah!« und »Oh!«. Man schien jedoch mehr fasziniert als empört oder entsetzt. Die Bewohner von Haßfurt genossen das Zeremoniell der Hinrichtung sichtlich. Speyer betrachtete den Angeklagten. Dieser war trotz der Kälte bis auf einen knappen Schurz nackt. Die Hände hatte man ihm an die Beine gekettet, so daß er nur gebückt dastehen konnte. Sein Körper war mit Narben und frischen Wunden übersät. Als er während der Verlesung seiner Schandtaten plötzlich auf die Knie sank und seinen Herrn und Meister Asmodi um Hilfe anflehte, geriet das Volk vor Verzückung fast in Ekstase.
»Hast du an dieser Stelle dein Jüngstes mit dem Schmiedehammer erschlagen, Adolar Zappel?« fragte der Rechtsgelehrte. »Ja!« schrie der Schmied. »Ich habe seine Seele in die Gefilde des Teufels geschickt und sie in Asmodis Obhut gegeben.« »Dann büße dafür!« Einer der Folterknechte erschien plötzlich mit einer glühenden Zange und riß den Schmied damit an der Brust. Die Folterknechte zerrten den Verurteilten zu einer anderen Stelle. Und wieder wurde er gefragt: »Hast du an dieser Stelle dein Zweitjüngstes mit dem Schmiedehammer erschlagen, Adolar Zappel?« »Ja!« brüllte der Schmied. Und wieder wurde er mit der glühenden Zange gerissen. Das ging achtmal so, bis er für seine von ihm erschlagenen Kinder gebüßt hatte. Am Ende konnte der Gequälte nicht mehr sprechen, sondern schrie nur noch vor Schmerzen. Aber noch einmal wurde er mit der glühenden Zange gerissen. Es war die Buße für die Magd, die er verflucht hatte, während sie ihn um Gnade anflehte, bevor er ihr den Schädel zerschmetterte. Dann schleppten die Folterknechte den brüllenden Schmied zu einer Grube. Der Henker mit dem Schwert stellte sich vor ihn. Der Rechtsgelehrte fragte den Schmied, ob er hier schließlich das ihm angetraute Weib in den Tod befördert habe. »Ja – und ich würde es wieder tun. Asmodi zuliebe. Hörst du mich, o Fürst der Finsternis? Nimm mich treuen Dämonendiener bei dir auf!« »Dann büße!« Der Henker blickte zur Prunkkutsche. Speyer sah, wie die Augen der Dämonen-Drillinge fast lüstern aufblitzten. Calira gab mit dem kleinen Finger ein Zeichen, und der Henker schlug mit dem Riesenschwert zu. Nur zweimal. Zuerst trennte er den Kopf des Angeklagten vom Rumpf. Dann hieb er ihm mit einem einzigen Schlag beide Hände ab. Als der Schädel des Schmiedes in die Grube fiel, kam noch einmal der Name des Fürsten der Finsternis über seine Lippen. Die Folterknechte schaufelten die Grube zu. Das Volk begann sich zu zerstreuen. Es gab nichts mehr zu sehen. Das Schauspiel war vor-
bei. Die Honoratioren von Haßfurt absolvierten vor den DämonenDrillingen ihre Ehrenbezeigungen. Dann setzte sich die Prunkkutsche in Bewegung. Sie kam auf die Wohnwagen der Komödianten zu. Der Prinzipal zog vor den Dämonen seinen Hut und machte eine tiefe Verbeugung, die anderen Komödianten folgten seinem Beispiel; nur Speyer blieb hochaufgerichtet auf dem Kutschbock sitzen. »Was für ein widerwärtiges Schauspiel«, sagte er, als er Caliras Blick begegnete. Sie gab nicht zu erkennen, daß sie bereits seine Bekanntschaft gemacht hatte, und sagte nur: »Ich bin der Hoffnung, daß ihr Komödianten uns dieses Schauspiel, mit etwas Fantasie gewürzt, zur Fastnacht wiederholen werdet.« Dann fuhr die Kutsche auch schon weiter. Der Prinzipal saß blaß im Sattel. »Was habt Ihr, Apillion?« erkundigte sich Speyer bei ihm. »Könnt Ihr am Ende kein Blut sehen?« »Das ist es nicht«, murmelte der Prinzipal. »Aber was wir eben erlebt haben – ist genau der Inhalt meines neuen Stückes. Auch bei mir spielt ein Schmied die Hauptrolle, der seine ganze Familie niedermetzelt. Wie ist das möglich? Es muß eine göttliche Fügung sein.« »Oder der Wille des Teufels«, fügte Speyer hinzu. Aber niemand hörte ihn. Für Speyer gab es keinen Zweifel, daß es der Einfluß der Dämonen-Drillinge war, der den Schmied zu dieser Wahnsinnstat getrieben hatte; und keinen Zweifel konnte es auch darüber geben, daß es ihren dämonischen Machenschaften zuzuschreiben war, daß das neueste Schauspiel Apillions das Schicksal gerade dieses Schmiedes zum Inhalt hatte. Speyer ahnte Furchtbares. Er mußte den Goldenen Drudenfuß finden, um das Unheil noch abzuwenden.
Die Tage vergingen wie im Flug. Fastnacht rückte immer näher. Die Komödianten probten eifriger. Die Frauen legten letzte Hand an die Kostüme. Die Männer fertigten die Masken an. Alle sahen der Gala-
premiere mit großen Erwartungen entgegen. Nur Speyer nicht. Er wußte, daß die Dämonen-Drillinge einen teuflischen Plan geschmiedet hatten, der zur Fastnacht verwirklicht werden sollte. Er konnte ihnen nur Einhalt gebieten, wenn er den Goldenen Drudenfuß fand. Aber so gründlich er den Wohnwagen des Prinzipals auch durchsuchte, er konnte das magische Pentagramm aus Alchimistengold nicht finden. Er war verzweifelt. Auch beunruhigten ihn die Grausamkeiten der Bewohner von Haßfurt. Speyer hatte noch nie so viele schlechte Menschen an einem Ort angetroffen. Sie waren alle ohne Ausnahme durch und durch böse, vom Bürgermeister angefangen bis hin zum Dorftrottel, vom Kleinkind bis zum Tattergreis. In der Nacht kamen manchmal die Burschen aus dem Dorf zu den Wohnwagen geschlichen und begannen daran zu rütteln, daß man meinte, die Erde stürzte ein; und sie schrien und beschmierten die Wohnwagen mit Kot, warfen den Frauen die Kadaver toter Tiere in die Betten und zeigten ihnen ihre nackten Hinterteile, auf die sie Obszönitäten geschrieben hatten. Die Komödianten gewöhnten sich auch daran. Als Speyer ihnen vorschlug, Haßfurt einfach hinter sich zu lassen und nach Köln weiterzuziehen, wo ein dankbareres Publikum wartete, da stieß er nur auf Verwunderung. Der Prinzipal meinte, daß es die Krönung seines Künstlerlebens sei, vor Fürst Hector Domenicus von Reese zu spielen. Die Frauen wagten sich schon am zweiten Tag nicht mehr nach Haßfurt hinein. Als sie am Morgen zu dritt – Zenta, Isolde und Oswald Suppers Schwester Kordula – zum Brunnen auf dem Marktplatz gegangen waren, um Wasser zu holen, da begegneten ihnen die Bewohner zuerst freundlich. Wo der Brunnen sei, hatten sie gefragt. »Ja, meine Hübschen, ich führe euch hin«, hatte sich ein freundlicher alter Mann angeboten. Und weitere Dorfbewohner, alles Männer aller Altersstufen, hatten sich ihnen angeschlossen. Der Alte führte die drei Frauen wirklich zu einem Brunnen. Doch nachdem sie ihre Eimer am Strick heruntergelassen und wieder emporgeholt hatten, war darin statt Wasser nur Schlamm gewesen; und der Schlamm hatte nur so von Würmern gewimmelt und menschli-
che Gebeine hatten darin gesteckt. Als die drei Frauen zu schimpfen begannen, schütteten die Dorfbewohner den Inhalt der Eimer einfach über sie. Die sensible Kordula Supper hatte einen Schreikrampf bekommen, der den ganzen folgenden Tag andauerte; erst gegen Mitternacht beruhigte sie sich wieder, und in den folgenden Tagen war sie noch schweigsamer als sonst. Dennoch dachte auch sie nicht daran, von Haßfurt fortzugehen. Ein magischer Bann schien die Komödianten hier festzuhalten. Als der Prinzipal am zweiten Tag mit Odrigue zur Dorfschenke ging, faßte Speyer den Entschluß, seinen Wohnwagen zu durchsuchen. Von den anderen unbemerkt, schlich er sich hinein und begann mit seiner Tätigkeit, darauf bedacht, alles wieder an seinen Platz zu legen. Doch gut eine halbe Stunde war vergangen, ohne daß er auch nur einen Hinweis auf den Goldenen Drudenfuß gefunden hätte. Er untersuchte gerade Isoldes Schlaflager, als deren Stimme hinter ihm ertönte. Da Speyer ihr unter keinen Umständen verraten wollte, was er hier wirklich suchte, tat er so, als hätte er sich nur hereingeschlichen, um den Duft ihres Bettgewandes zu genießen. Da legte sie sich auch schon hin und riß ihn in brutaler Leidenschaft an sich. So wurde er ihr Liebhaber. Er brauchte das nicht einmal zu bereuen, und doch – er hatte Zenta gegenüber Gewissensbisse. Aber es zeigte sich, daß das Mädchen mit der Narbe ihm nicht gram war. Von ihr wußte er ja, daß sie nichts von körperlicher Liebe wissen wollte. Sie begehrte nur seine Freundschaft; und seiner Freundschaft konnte sie gewiß sein, das fühlte sie. So wurde Zenta Eytzinger seine Vertraute. In dieser Nacht kam Gherves Apillion übel zugerichtet zum Lager zurück. Er war stockbesoffen, so daß niemand ein vernünftiges Wort aus ihm herausbekommen konnte. Wenig später kam auch der Zwerg Odrigue zurück, der den Prinzipal begleitet hatte. Er berichtete, was vorgefallen war. Zuerst habe man sie beide in der Schenke hochleben lassen. Odrigue mußte singen, und jedesmal, wenn er sich versprach, flößte
man ihm Wein ein, Wein, der ekelhaft süß schmeckte und nach dessen Genuß man sich selbst vergaß. Ein Zaubertrank, behauptete der Gnom. Und sobald er zu dieser Überzeugung gelangt war, spuckte er den Wein immer heimlich aus, anstatt ihn hinunterzuschlucken. So blieb er halbwegs nüchtern. Dem Prinzipal erging es weniger gut. Er trank alles in sich hinein, was man ihm in Bechern und Krügen reichte: und dann forderte man ihn auf, Personen aus seinen Stücken zu spielen; und er spielte bis zum Umfallen. Dabei traktierte man ihn mit Schlägen. Immer wenn er Stöße in den Rücken bekam und sich umdrehte, wurde er von der anderen Seite geschlagen, so daß er nie wußte, von wem die Knüffe kamen. Und alle lachten ihm dabei freundlich ins Gesicht. Dann tanzte man mit ihm. Es war ein Tanz, wie Odrigue ihn noch nie gesehen hatte. Die Männer entblößten sich dabei und rissen auch dem Prinzipal die Kleider vom Leib. Sie fügten sich selbst und anderen Wunden mit glosenden Holzscheiten zu – und natürlich auch Apillion. Zu diesem Zeitpunkt lief Odrigue aus der Kneipe, um Hilfe zu holen, weil er fürchtete, daß sich der Prinzipal noch zu Tode tanzen würde, aber man bemerkte seine Flucht, und die Meute verfolgte ihn. Auf seinen kurzen Beinen wäre er sicherlich nicht weit gekommen, wenn er nicht den Einfall gehabt hätte, sich in der verlassenen Schmiede zu verstecken. Dort suchte man ihn nicht. Er wartete, bis es wieder still im Dorf war, dann rannte er hierher. »Das ganze Dorf ist von einem bösen Dämon verhext«, behauptete der Zwerg, aber von hier fortgehen wollte und konnte auch er nicht. Die Komödianten konnten Fastnacht kaum erwarten. Der Prinzipal probte mit ihnen immer wieder das Schauspiel und nahm ständig Änderungen vor. Als Speyer den Prinzipal wieder einmal nach seiner Rolle fragte, gab dieser sich unschlüssig. Erst als Speyer tief in seinen Säckel griff und einige Taler in die aufgehaltene Hand Apillions fallen ließ, hatte dieser eine plötzliche Eingebung. »Jetzt weiß ich, wer du sein wirst, Georg!« rief er aus. Seit sie in Haßfurt waren, duzten sich alle Komödianten untereinander. Man war plötzlich eine verschworene Gemeinschaft – ver-
schworen bis in den entsetzlichen Tod, wie Speyer bei sich dachte. »Du bist der Freund der Magd«, fuhr Apillion fort. »Du kommst gerade in jenem Augenblick in die Schmiede, als Adolar Zappel den schweren Hammer gegen die Seinen erhebt. Wollen wir das alles einmal durchprobieren?« Speyer bekam eine Maske, die dem Gesicht des geistesgestörten Sohnes Probus vom Mohrenwirt ähnelte; jedenfalls hatte die Maske denselben debilen Gesichtsausdruck. Der Prinzipal selbst spielte den Schmied. Seine Maske hatte einen brutalen Ausdruck und war so brandrot wie das Feuer in der Esse – oder in der Hölle. Er schwang einen Hammer, der fast so groß war wie er selbst, jedoch federleicht. Odrigue sollte das jüngste Kind des Schmiedes mimen. Wie in der Wirklichkeit würde er als erster erschlagen werden. Deshalb trug er eine Kindermaske, die in der Mitte senkrecht durchschnitten war. Wenn ihn der Schmiedehammer traf, würden sich die beiden Gesichtshälften verschieben – und von diesem Augenblick an sollte Odrigue als Erzähler fungieren, der die weiteren Geschehnisse mit seinen Liedern interpretierte. »O furchtbarer Haßfurter Schmieder, zerschmetterst mit dem Hammer die Glieder der dir Treuen und schmetterst von neuem …« Speyer, der Liebhaber der Magd, sollte gerade auf den Marktplatz kommen, als die Seine dem Schmied zu Füßen lag. Zenta war die Magd. Ihre Maske war ganz in Grün gehalten. Fingerlange Zähne ragten ihr aus dem aufgerissenen Mund. Speyer mußte sich als Opfer anbieten, um seine Geliebte zu verschonen. Der Schmied ging scheinbar auf den Handel ein, zerschmetterte ihm zuerst mit dem Hammer die Eingeweide und holte sich dann trotzdem noch das Leben der Magd. »Wir stecken dir eine Hühnerblase unter das Wams, Georg«, rief Apillion begeistert. »Und diese füllen wir mit Tierblut. Ja, das ist gut. Es muß spritzen und knallen. Und Odrigue soll sich dazu einen passenden Text einfallen lassen. Isolde, du als die Frau des Schmiedes wirst in Georgs Eingeweiden herumwühlen und zetern und fluchen. Aber erst wenn du den Fürst der Finsternis anrufst, sollst du
erhört werden. Barnabas, du bist Asmodi. Wo hast du deine Maske? Los, komm schon!« Barnabas Eene trat in den Kreis. Er war in Schwarz und Rot gekleidet; aus dem Hinterteil ragten ihm Pfauenfedern, um die Mitte hatte er statt eines Gürtels einen Ochsenschwanz gebunden. Seine Maske jedoch, einen Meter hoch und halb so breit, sprach dem Aussehen des Teufels Hohn; das heißt, die Maske war die eines Teufelchens, das man nicht fürchten, sondern über das man sich nur lustig machen konnte. »Also Barnabas …« Der Komödiant, der Asmodi imitieren sollte, taumelte plötzlich. Seine Hände zuckten hoch, versuchten, die Maske herunterzureißen. Er kämpfte mit ihr, blieb jedoch der Unterlegene. Alle außer Speyer standen wie erstarrt da und sahen wie gelähmt dem Todeskampf ihres ältesten Kollegen zu. Nur Speyer lief zu ihm und versuchte, ihn von seiner Maske zu befreien. Doch sie war auf seinem Gesicht festgeklebt. Als Speyer sie endlich doch abbekam, war Barnabas bereits erstickt. »Da seht!« rief Isolde, während sie sich schutzsuchend an ihren Vater drückte. Ihre Hand wies auf die Teufelsmaske, die sich verändert hatte und nun zum Fürchten aussah. »Speyer hat sie verformt, als er sie Barnabas abnehmen wollte«, behauptete Zenta Eytzinger. »Nein, nein«, meinte Cherves Apillion salbungsvoll. »Der Teufel selbst hat uns gezeigt, wie er aussehen möchte. Asmodi fühlte sich durch Barnabas verhöhnt, deshalb ließ er ihn an dieser Maske ersticken.« Speyer fand, daß daran durchaus etwas Wahres sein konnte. Die anderen Komödianten hielten Apillions Worte aber sicherlich nur für eine Übertreibung – und er meinte sie auch als solche, denn wenn es sich anders verhalten hätte, wären sie sicherlich schleunigst aus Haßfurt geflohen. Als sie Barnabas Eene bestatten wollten, spielten ihnen die Bewohner von Haßfurt wieder einen Streich, indem sie Barnabas' Leiche
stahlen und statt dessen einen toten Esel hinlegten – besser gesagt, den Torso eines Esels. Barnabas' Leiche wurde nie gefunden. Speyer wollte nicht einmal daran denken, was die Haßfurter damit angestellt haben mochten.
Zwei Tage vor Fastnacht glaubte Speyer durch Zufall auf die Lösung seiner Probleme gestoßen zu sein. Aber war es nicht vielleicht eher Bestimmung? Cherves Apillion war den ganzen Tag über unleidlich. Er nörgelte ständig an seinen Leuten herum, und wenn sie ihm gehorchten, wollte er es wieder ganz anders haben. Odrigue sang ihm zu falsch, Isolde erschien ihm nicht wie die Frau eines Schmiedes, sondern wie eine körnerklaubende Gänsemagd, und Zenta wiederum war ihm keine Magd, sondern eine Landsknechtdirne. So ging es den ganzen Tag. Bei Sonnenuntergang sprach er endlich aus, was er wirklich wollte. »Ich brauche eine Luftveränderung. Ich muß ins Dorf und ein wenig Kneipendunst schnuppern.« »Diesmal komme ich aber nicht mit, Prinzipal«, sagte Odrigue. »Diese Höllenhunde bringen es fertig und braten mich im Suppentopf.« »Es ist unverantwortlich von dir, nach Haßfurt hineinzugehen, Cherves«, sagte Speyer. Er konnte es sich erlauben, den Prinzipal beim Vornamen zu nennen, da ja die gesamte Truppe auf seine Kosten lebte. »Hast du vergessen, was man mit dir angestellt hat? Diesmal könnte es schlimmer kommen.« »Ich erinnere mich nur, daß ich besoffen war«, erwiderte Apillion. »Und das werde ich auch heute wieder sein. Anders kann ich euch Gesindel nicht mehr ertragen.« »Gut. Wenn du unbedingt gehen willst, dann komme ich mit.« »Isolde, du wirst dir einen anderen Bettwärmer suchen müssen«, meinte Zenta Eytzinger lakonisch. »Und du wirst einen Schleier brauchen«, erwiderte Isolde Apillion giftig, »denn Georg war der einzige, der in deine häßliche Fratze bli-
cken konnte, ohne sich übergeben zu müssen.« Die Streitereien unter den Komödianten nahmen von Tag zu Tag zu. Nur wenn sie das Fastnachtspiel probten, vertrugen sie sich. Speyer begleitete also den Prinzipal ins Dorf. Ihm war klar, daß er mit einigen Unannehmlichkeiten zu rechnen hatte. Doch aus der Erinnerung an seine früheren Leben wußte er, wie man mit Besessenen umzugehen hatte. Freilich, er hätte viel darum gegeben, jetzt einige der magischen Utensilien des Baron de Conde zu besitzen, aber er hoffte, sich und Apillion auch so helfen zu können. Das Dorf lag wie ausgestorben da. Nur über den Hauptplatz rannte ein kläffender Hund, dem irgendein Lümmel ein halbes Dutzend tote Ratten an den Schwanz gebunden hatte. Hinter den Fenstern war es finster. Waren die Haßfurter nachtsichtig? Oder waren es gar keine Menschen, sondern Geschöpfe der Dämonen-Drillinge? Untote? Speyer fröstelte plötzlich, als er daran dachte, daß ihm womöglich Barnabas Eene begegnete, von den Toten wieder auferstanden. Der Prinzipal sprach nur einmal auf dem Weg. »Hast du Geld, Georg?« »Nur für einen Krug Wein«, erwiderte Speyer. Sie erreichten die Kneipe. Kein Laut drang heraus. Als Apillion jedoch die Tür aufstieß, brandete ihnen Jubelgeschrei entgegen. Die Gaststube war bis auf den letzten Platz voll. »Ah, da ist unser Held wieder!« »Ihr müßt für uns tanzen!« »Los, Freunde, holt den Wein aus der Senkgrube!« »Wollen wir nicht doch wieder gehen?« riet Speyer. Apillion riß sich von ihm los. »Seid gegrüßt, meine Freunde! Heute halte ich euch alle frei!« Er warf Speyer einen Blick zu, der sagen mochte: Siehst du, das hast du nun davon, daß du mich gereizt hast; jetzt mußt du nicht nur auf mich aufpassen, sondern auch noch alles bezahlen. Die Dorfbewohner nahmen den Prinzipal in ihre Mitte, so daß Speyer ihn eine Weile nicht sehen konnte. Als er sich zu seinem Schützling durchgearbeitet hatte, saß dieser auf dem Boden und spielte ein Schwein. Speyer wollte dem grausamen Spiel Einhalt ge-
bieten, doch da blitzte an seiner Kehle ein Dolch auf. Er hatte sich darauf vorbereitet, gegen magische Mächte anzukämpfen – und jetzt mußte er vor einem simplen Dolch kapitulieren. »Sei kein Spaßverderber!« ermahnte ihn ein grobschlächtiger Bursche. »Was du uns da zeigst, ist kein richtiges Sauleben«, rief jemand. »Echte Säue wälzen sich im eigenen Dreck.« »Ja, und wenn sie so fett wie du sind, dann werden sie geschlachtet.« Spever wurde fast übel vor Wut, aber er konnte sich nicht vom Fleck rühren; er mußte zusehen, wie sich Apillion auf dem Boden tatsächlich wie ein Tier gebärdete. Plötzlich wurde Speyer von hinten an den Haaren gepackt, die Nase wurde ihm brutal zugehalten, so daß er den Mund aufreißen mußte, und dann schüttelte ihm jemand ein gallenbitteres Getränk hinein. »Könnt ihr euch wirklich an so lächerlichen Späßen erfreuen?« ertönte da eine kultiviert klingende Stimme. »Oh! Seht an! Noch ein Fremder! Seid Ihr etwa auch ein Komödiant?« Speyer sah in der Tür einen Mann mit einem dunklen Umhang und einem Gelehrtenhut stehen. Von seinem Gesicht bekam er nichts zu sehen, da es von der breiten Krempe überschattet wurde. »Ich bin mehr als nur ein Komödiant«, erklärte der Fremde ruhig und bahnte sich selbstsicher einen Weg durch die dicht nebeneinanderstehenden Gäste. »Ich kann euch viel mehr bieten als alle Komödianten der Welt. Was wollt ihr sehen? Sagt es mir, und ich liefere es euch in diesen Raum.« Die Dorfbewohner johlten. Sie brachten ihre Vorschläge vor und überboten sich an Abscheulichkeiten und Widerwärtigkeiten. Der Fremde hob beschwichtigend die Arme, und es wurde tatsächlich still. Er blickte in die Runde. »Hat jemand nicht gesagt, er wolle sehen, wie jemand sein eigenes Bein auffrißt?« »Ja, aber sicher. Ich war es! Aber es wird Euch nicht behagen,
wenn ich sehen will, wie Ihr an Eurem Bein knabbert.« Die Gäste grölten. Jetzt kam erst Stimmung ins Haus. »Aber warum denn, mein Freund?« sagte der Fremde mit leiser Verwunderung. »Warum sollte mir mein Bein nicht munden? Es ist etwas dünn, zugegeben, weil ich es nämlich nur selten zum Gehen benutze. Ich lasse mich lieber von den Gehilfen Asmodis überall hinfliegen. Aber weil ich mein Bein so selten zum Gehen benutze, ist das Fleisch auch besonders weich und zart. Macht Platz, denn wenn ich speise, will ich es in Muße tun.« Die Gäste wichen zurück. Der Fremde schlug seinen Umhang zurück und hob sein rechtes Bein hoch, bis er die Wade vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Dann bat er einen Gast, ihm den Stiefel auszuziehen. Der tat es nur zu gern. Dann den Strumpf. Der Gast gehorchte. Schließlich schob der Fremde die Hose bis übers Knie hoch. »Was für ein leckeres Bein!« schwärmte er und streichelte genießerisch darüber. »Da läuft einem direkt das Wasser im Munde zusammen.« Er beugte sich über seine Wade, küßte sie andächtig, biß dann herzhaft ein Stück ab, lehnte sich zurück, kaute schmatzend, schluckte und holte sich einen zweiten Bissen. Die Gäste waren vor Staunen sprachlos. Endlich sagte einer: »Da bekommt man Appetit.« »Willst du auch ein Stück?« fragte der Fremde und hielt ihm das Bein hin. Da wandte sich der Gast mit Grausen ab. Der Fremde beendete seine schaurige Mahlzeit erst, als seine Wade bis zum Knochen abgenagt war. Dann kugelte er Schien- und Wadenbein aus und warf beides zusammen mit den Fußknochen unter den Tisch. »Es lohnt sich nicht mehr, die Knochen einem Hund vorzuwerfen. Jetzt bin ich durstig. Was gibt's zu trinken?« »Euer Blut!« rief jemand. »Es ist auch der beste Saft«, sagte der Fremde belehrend, streifte den Ärmel des linken Arms hoch, holte mit einer Bewegung einen
gekrümmten Dolch hervor, schnitt sich die Schlagader durch und fing den herausschießenden Blutstrom mit dem Mund auf. Er trank endlos lange sein eigenes Blut, als entströme es einem unversiegbaren Quell. Endlich kam der Blutschwall zum Stillstand, und der Fremde leckte die letzten Tropfen von seinem Handgelenk. »Wie kommt es, daß Ihr so viel Blut habt? Es müssen doch gut zwanzig Maß gewesen sein, die Ihr da in Euren Mund habt fließen lassen?« »Dreiundzwanzig«, berichtigte der Fremde. »Ich zähle beim Trinken immer mit.« »Und wie macht Ihr das?« »Es ist ein kleiner Trick dabei, den ich euch gern verraten will, wenn ihr nichts davon weitererzählt. Wenn ich das Blut trinke, fließt es sofort wieder in die Adern zurück, so daß ich beliebig lange meinen Durst löschen kann. Glaubt ihr mir, daß ich auch zehn Eimer meines eigenen Blutes trinken könnte?« »Warum nicht?« sagte jemand. »Aber das würde uns nur langweilen. Vielleicht könnt Ihr Euch sogar gänzlich auffressen.« »Natürlich kann ich das, aber das würde zu lange dauern.« »Was habt Ihr uns sonst noch anzubieten? Könnt Ihr eine Sau sein, wie der Komödiant hier?« Der Fremde machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist so einfach, daß ich mich damit erst gar nicht abgeben möchte. Ich würde lieber etwas anstellen, das mein ganzes Können erfordert.« »Und das wäre?« »Nein, nein«, sagte der Fremde, »das will ich euch doch nicht zumuten. Ihr würdet wahrscheinlich vor Schreck sterben.« Die Gäste lachten. Sie konnten sich nichts vorstellen, was ihnen Angst einjagen könnte, und sie begannen den Fremden zu beschimpfen und versprachen, ihn aus Haßfurt zu prügeln, wenn es ihm nicht gelang, ihnen wirklich Angst einzujagen. Speyer dachte, daß es nun um den Fremden geschehen sei, denn den Haßfurtern Angst einzujagen, das konnte höchstens Asmodi selbst. »Nun gut, meine Freunde, ihr wollt es nicht anders. So seht also hinein ins Himmelreich!«
Mitten in der Schankstube erschien die heilige Mutter Gottes mit dem Jesuskind im Arm. Sie lächelte in unendlicher Güte auf die Besessenen herab, die noch gar nicht begriffen, was hier wirklich auf sie zukam. Aber dann sagte die Mutter Gottes: »Ihr verirrten Lämmer, kommt her und laßt euch segnen!« Da erkannten die Besessenen die Bedeutung der Erscheinung, und sie flüchteten mitsamt dem Wirt aus der Kneipe. Nur Speyer und Apillion blieben bei dem Fremden zurück. Dieser sagte, während die Vision verblaßte, bedauernd zu ihnen: »Also gibt es in diesem ganzen verfluchten Ort nur euch beide, deren Seelen nicht den Dämonen gehören.« Und jetzt erst, nachdem der Bann gebrochen war, erkannte Speyer den Fremden. »Doktor Johannes Faustus!« rief er überrascht aus. Der Fremde erschrak. »Ihr müßt Euch irren, junger Freund. Ich bin der Magister Georgius Sabellicus Faustus Junior.« »Ich weiß, daß Ihr Euch auch so nennt, Dr. Faustus. Aber mich könnt Ihr nicht täuschen. Ich bin einer Eurer ehemaligen Schüler. Euch schickt der Himmel!« Das Gesicht des Dr. Faust überschattete sich. »Wenn Ihr mich kennt, dann werdet Ihr auch wissen, daß ich mit dem Teufel im Bunde stehe.« »Das sagt man Euch nach, aber ich weiß, daß Ihr ihm entsagt habt. Denn wenn Ihr die Heiligen anrufen könnt, müßt Ihr im Geiste rein sein.«
Dr. Johannes Faustus war schon zu Lebzeiten eine Legende. Den meisten Erzählungen zufolge sollte er 1490 in dem Dorf Sondwedel in der Grafschaft Anhalt geboren worden sein. Andere wieder erzählten, daß er bereits zehn Jahre früher, also im Jahre 1480, zur Welt gekommen wäre. Und abwechselnd wurden als Geburtsorte Roda bei Jena im Weimarischen, Salzwedel im Anhaltischen – womit auch das vorher genannte Sondwedel gemeint sein konnte – und
Knittlingen bei Maulbronn im Württembergischen genannt. Und was sagte Dr. Faust selbst dazu? Er schwieg nur und lächelte auf seine geheimnisvolle Art. Als rechter Abenteurer war er selbst am meisten bestrebt, seine Herkunft zu verwischen. Er zog durch viele Städte und Landschaften, bezeichnete sich mal als Johannes, dann wieder Georg oder auch als Faustus Junior. Er widersprach auch nicht, wenn man ihn zum Sohn des Humanisten Publius Faustus erklärte, welcher in Paris tätig gewesen war und schon vor fünfzehn Jahren, 1517, starb. Er erregte sich nur, wenn man ihn als Scharlatan, Chiromanten – wenn es abfällig gemeint war – und Gaukler bezeichnete. Da war es ihm schon lieber, wenn man ihm vorhielt, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Das bestätigte er gern, und er erzählte jedem, der es hören wollte, wie er den Fürst der Finsternis angerufen hat und diesen derart überlistete, daß er ihm den Menschendiener Mephistopheles schickte. Aber Fausts eigene Aussagen darüber, wie er den Teufel anrief, widersprachen sich von Mal zu Mal, so daß auch diese authentischen Berichte sehr an Glaubwürdigkeit einbüßten. Faust gefiel sich einfach darin, die Welt zum Narren zu halten. Wohin er kam, wurde er mit hohen Ehren bedacht, weltliche Herrscher und der Klerus sahen zu ihm auf. Aber früher oder später wandten sich die meisten wieder von ihm ab, weil er hartnäckig dabei blieb, einen Pakt mit dem Teufel eingegangen zu sein. Und so sagte man sich allerorten, ein Diener des Teufels mußte böse sein wie der Höllenfürst selbst oder gar noch übler. Was mochte Faust dazu getrieben haben, selbst seine Gönner vor den Kopf zu stoßen, so daß sie ihn irgendwann wieder fallenließen, nichts mehr von ihm wissen wollten oder sich einfach nicht getrauten, die Freundschaft zu ihm öffentlich zu bekennen? Als er im Jahre 1513 die Erlaubnis erhielt, auf der Universität zu Erfurt Kollegien über Homer abzuhalten, da rissen sich die Studenten darum, einen Platz in seinem Auditorium zu bekommen. Doch wie dankte Faust es ihnen? Er machte aus den Vorlesungen spiritistische Sitzungen. Er begann aufs lebhafteste die trojanischen und
hellenischen Heldengestalten zu beschreiben, bis sie den Studenten im abgedunkelten Hörsaal erschienen. Zuerst herrschte tiefe Stille und ehrfurchtsvolle Ergriffenheit unter den Studenten. Doch als der einäugige Riese Polyphem auftauchte, da bebte die Aula. Und als der Einäugige aus dem Geschlecht der Zyklopen zudem noch die Studenten bedrohte, sich anschickte, riesige Felsbrocken auf sie zu schleudern, da gerieten sie in Panik und stürmten in wilder Flucht aus der Universität. Daraufhin schaltete sich der Rektor Magnificus ein. Er bat den Franziskaner-Verweser Dr. Kling, sich Faustens anzunehmen, was auch geschah. Der Franziskaner-Verweser versuchte, Dr. Faust in ausgedehnten Gesprächen zu bekehren, er wollte sogar Messen lesen lassen, um den Teufel aus ihm auszutreiben, doch das paßte Faust überhaupt nicht. Alles wollte er mit sich geschehen lassen, nur keinen Exorzismus. Da er sich weigerte, sich eindeutig zum Christentum zu bekennen, ließ ihn der Rat kurz entschlossen aus der Stadt weisen. Und Fausts Neider und Feinde konnten wieder einmal triumphieren – wie schon so oft vorher und noch viel mehr später. Die Geschichte über das Erscheinen der homerschen Heldengestalten in der Aula der Erfurter Universität erinnerte Speyer sehr an sein eigenes Erlebnis, als Faust in seiner Wut ihn und weitere Studenten gegen Ungeheuer kämpfen ließ. Augenzeugen bestätigten, daß es solche Ungeheuer überhaupt nicht gegeben hätte. Alles mußte nur Einbildung gewesen sein. Für Speyer selbst war die Bedrohung durch die Ungeheuer aber äußerst real gewesen. Ähnliches trug sich ja auch in der Kneipe in Haßfurt zu. Die Gäste – und auch Speyer – hatten mit eigenen Augen gesehen, wie Faust sein Bein verspeiste. Jetzt, als er mit Speyer und dem volltrunkenen Prinzipal auf sein Zimmer ging, hatte er wieder beide Beine; und sie waren gesund, als wäre nie etwas damit geschehen. Speyer kam zu dem Schluß, daß Dr. Faust, welche Fähigkeiten er auch sonst noch haben konnte, auf jeden Fall den menschlichen Geist dahin beeinflussen konnte, Dinge zu sehen, die es nicht gab; und zwar waren diese Visionen so real, daß man sie im Augenblick
des Erlebens unbedingt für Wirklichkeit hielt. Auf Fausts Zimmer angekommen, erzählte Speyer ihm von den Vorgängen in diesem Ort und von dem Einfluß der Dämonen-Drillinge. Faust war ein guter Zuhörer. Er unterbrach Speyer kein einziges Mal; auch dann nicht, als Speyer, von dem Goldenen Drudenfuß auf sein eigenes Schicksal überleitend, ihm von seinen früheren Leben erzählte. Speyer ging sogar so weit, Faust mit sich selbst zu vergleichen. Waren sie nicht schon allein deswegen Verbündete, weil sie beide einen Pakt mit dem Fürst der Finsternis geschlossen, es aber geschafft hatten, sich ein Hintertürchen offenzuhalten? Er, Speyer, hatte von Asmodi das ewige Leben erhalten; seine Seele wanderte von Körper zu Körper – aber ohne daß er deswegen zu einem Diener des Bösen geworden war; ganz im Gegenteil: Sein Haß gegen die Dämonen war durch diesen Pakt nur noch größer geworden, und er bekämpfte die Schwarze Familie mit einer solchen Leidenschaft, wie kein normaler Sterblicher. Und war es mit Dr. Faust nicht das gleiche? Er hatte mit Mephistopheles von Asmodi einen sklavisch ergebenen Diener bekommen, der ihm alle seine Wünsche erfüllen mußte. Aber Faust war dadurch nicht nur Inkarnation des Bösen geworden, sondern er hatte die Schwarze Magie so meisterlich im Griff, daß er sein eigener Herr blieb. Freilich, man konnte Faust auch nicht als das absolut Gute hinstellen; dafür war er ein zu vielschichtiger Charakter; aber er hatte die Kraft, nach seinem eigenen Gutdünken zu leben, ohne sich dem Diktat Asmodis unterwerfen zu müssen. So konnte Faust seine Macht auch dazu verwenden, Dämonen zu bekämpfen. »Helft mir, die Dämonen-Drillinge zu vernichten!« bat Speyer. »Ihr habt mich tief beeindruckt«, sagte Faust, aber er ließ sich vorerst keine Zusage entlocken. Er stand in der Mitte seiner Stube, trug immer noch seine Kutte und hatte auch nicht den Gelehrtenhut abgelegt. Seine großen Augen, die von einem ungewöhnlich hellen Blau waren, starrten ausdruckslos ins Leere. »Aber glaubt Ihr mir auch?« fragte Speyer unsicher. »Ich schwöre
bei allem, was mir heilig ist, daß ich die volle Wahrheit gesagt habe. So unglaublich es auch klingen mag, daß mir Asmodi die Unsterblichkeit gab – Ihr seid doch kein Zweifler, sondern ein Magier, der die Geheimnisse zwischen Himmel und Erde kennt. Und Ihr habt ähnliche Erfahrungen mit dem Fürst der Finsternis gemacht wie ich.« Jetzt lächelte der etwas untersetzte Mann leicht und zwirbelte seinen zottigen Oberlippenbart, der ihm das Aussehen eines Katers gab. »Nur mit dem Unterschied, mein junger Freund«, meinte er ohne sonderliches Bedauern, »daß meine Seele nicht unsterblich ist, sondern Eigentum Asmodis. In einigen Jahren, wenn meine Frist abgelaufen ist, wird er sie sich holen. Grund genug, ihm vorher noch ausgiebig auf die Finger zu klopfen.« Speyer fiel ein Stein vom Herzen. Fausts Ausspruch konnte nichts anderes bedeuten, als daß er ihn für seine Sache gewonnen hatte. »Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll, Dr. Faust!« rief er voll Überschwang aus. »Ich weiß, daß wir zusammen die Dämonen-Drillinge zur Strecke bringen werden, auch ohne im Besitz des Drudenfußes zu sein.« »Sachte, sachte!« beschwichtigte Faust ihn. »Ich habe noch nichts versprochen. Bevor ich eine bindende Zusage mache, muß ich noch weitere Einzelheiten in Erfahrung bringen. Aber ich muß zugeben, die Sache reizt mich.« Faust wandte sich dem Prinzipal zu, den sie auf eine Bank gelegt hatten, wo er, laut schnarchend, seinen Rausch ausschlief. Manchmal zuckten seine Glieder, und er grunzte, als träumte er immer noch davon, ein Schwein zu sein. Faust rümpfte die Nase, ging zu ihm und hob eines seiner Lider hoch. Dann blickte er einige Atemzüge lang fest in Apillions gerötetes Auge. Der Prinzipal verstummte, seine Glieder zuckten nicht mehr, und seinen Mund umspielte ein seliges Lächeln. »Jetzt träumt er schöner«, erklärte Faust, wandte sich wieder Speyer zu und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Ihr müßt mir einige Fragen beantworten. Ihr sagt also, daß die Geburt der drei Dämonen
stattgefunden hat, als ein spanischer Alchimist Gold erzeugte. Sind nun die Dämonen-Drillinge eine Begleiterscheinung der Gewinnung des Alchimistengoldes gewesen, oder verhält es sich umgekehrt?« »Es ist umgekehrt«, sagte Speyer. »Gerade als die Geburt der Dämonen stattfand, konnte der Alchimist das Gold gewinnen. Deshalb ist ein Teil ihrer Lebenssubstanz in dem Goldenen Drudenfuß, so daß die Dämonen-Drillinge von dem Drudenfuß abhängig sind.« Faust nickte zufrieden. »Etwas anderes. Ihr nehmt als gegeben hin, daß Athasar, Bethiar und Calira mit den Dämonen-Drillingen identisch sind. Wie könnt Ihr dessen so sicher sein, wo ihr sie doch zuletzt als Kleinkinder, bald nach der Geburt, gesehen habt? Könnt Ihr Euren Verdacht beweisen?« »Jawohl, ich habe ein Gespräch belauscht, in dem zwei der Drillinge verrieten, den Dieb Walter von der Spiend nach Toledo geschickt zu haben, damit er den Drudenfuß für sie stehle.« Faust nickte. »Es könnte sich also in der Tat um die Dämonen-Drillinge handeln.« »Sie sind es«, behauptete Speyer. »Seht Euch in dem Dorf nur um! Alle Leute hier stehen unter dem Einfluß der drei. Ihr müßtet Athasar, Bethiar und Calira einmal erleben, dann hättet Ihr keine Zweifel mehr an ihrer Abstammung.« »Ich habe in Köln gehört, daß hier in Haßfurt schreckliche Dinge passieren«, sagte Faust. »Ich bin dort Gast des Erzbischofs. Er ist einer meiner letzten Freunde. Aber inzwischen wird er erfahren haben, daß ich mich aufgemacht habe, Dämonen auszutreiben – und er wird mir seine Freundschaft wohl aufkündigen. Ihr habt gerade etwas gesagt, dem ich voll beipflichten möchte. Wiederholt es bitte!« »Ich sagte, Ihr müßtet die drei Geschwister persönlich kennenlernen.« »Das ist es. Ich möchte dieses Trio kennenlernen. Am besten, ich begebe mich gleich morgen auf das Schloß.« »Ihr wollt auf das Schloß?« fragte Speyer entsetzt. Faust lächelte. »Natürlich, denn die Edelleute werden wohl kaum zu mir kommen.« »Aber ist das nicht zu gefährlich?«
»Was habt Ihr schon zu befürchten, Speyer? Wenn ihr sterbt, erwacht Ihr sofort wieder in einem neuen Körper. Und das Risiko, das ich eingehe, ist auch nicht groß. Wenn ich die drei richtig einschätze, wird es sie sicherlich amüsieren, den berühmten Doktor Faustus als Gast zu empfangen. Sie müssen ja glauben, daß ich ihnen sehr ähnlich bin. Deshalb hoffe ich auch, daß sie auf meinen Vorschlag eingehen werden.« Speyer kam aus dem Staunen nicht heraus. »Welchen Vorschlag?« Faust schwieg eine Weile. Dann sagte er gedankenverloren: »Mich interessieren noch Einzelheiten über das Fastnachtspiel. Seid Ihr ganz sicher, daß es das Schicksal des Schmiedes von Haßfurt zum Inhalt hat?« »Absolut. Der Prinzipal selbst hat die Parallelen entdeckt. Natürlich gibt es Abweichungen, diese aber nur deshalb, um alle Komödianten an dem Spiel zu beteiligen. Ich habe den furchtbaren Verdacht, daß wir alle dabei wirklich das Leben verlieren sollen. Nur das würde die Dämonen-Drillinge voll befriedigen.« »Wenn es so ist, könnten die dämonischen Geschwister dem Spiel vielleicht noch mehr Reiz abgewinnen, wenn sie sich aktiv daran beteiligen.« »Wie meint Ihr denn das nun wieder?« Faust erklärte ihm seinen Plan. Und Speyer war Feuer und Flamme. Er bezweifelte aber, daß sich die Dämonen-Drillinge darauf einlassen würden. »Laßt mich nur machen«, meinte Faust.
Faust hatte sich die Kutsche des Erzbischofs von Köln »entliehen«. Darin fuhren sie zum Schloß hinauf. Faust hatte aber wohlweislich das Wappen des Erzbischofs und alle sakralen Elemente an der Kutsche mit Symbolen der Dämonologie übermalt. Das mußte bei den Dämonen-Drillingen Eindruck machen. Nicht einmal Speyer wunderte sich darüber, daß man sie auf dem Schloß bereits zu erwarten schien. Er hatte nur befürchtet, daß man sie nicht einlassen würde. Doch erklärte die Torwache, daß alles für
den Empfang vorbereitet sei. So erfreulich das war, Speyer fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Er befürchtete, daß die Dämonen-Drillinge irgendwelche diabolischen Überraschungen für sie vorbereitet hatten. Solche Bedenken hatte Dr. Faust nicht. Er war so selbstsicher, als würde er der Begegnung mit einigen Trunkenbolden entgegensehen, die er leicht mit seinen magischen Tricks einschüchtern konnte. Speyer begann sich immer unbehaglicher zu fühlen, je näher sie dem Hauptgebäude kamen. Überall standen Wachen in Rüstungen und mit Augen, die so stumpf wie die von Untoten waren. Sie flößten Speyer seltsamerweise Furcht ein, obwohl er in seinen früheren Leben Erfahrungen im Umgang mit ihnen gesammelt hatte. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Er saß wie gelähmt neben Faust, der nichts von seinem Zustand zu bemerken schien. Da griff eine kalte Hand nach Speyers Herz. Jemand lachte ihn aus. In seinem Kopf ertönte das glockenhelle Lachen Caliras. Ein Bild entstand vor seinem geistigen Auge: Er blickte in ihr Boudoir. Sie war nackt. Welch schönen begehrenswerten Körper sie besaß! Sie war eine Frau, von der ein Mann nur träumen konnte, die er aber nie im Leben besitzen würde – nicht einmal für eine Nacht, nicht für wenige himmlische Augenblicke. Von dieser Frau umarmt zu werden und dann sterben – das war kein zu hoher Preis. Und wie zärtlich sie zu ihrem Liebhaber war. Es war ein junger Bursche, nicht älter als Speyer. Er war groß und kräftig und hatte einen Körper wie ein Gott. Und er durfte Caliras Zärtlichkeiten genießen. Aber er lechzte auch nach ihrer Grausamkeit. Schmerz wurde in ihren Armen für ihn zur Wonne. Als sein Rücken die fingerlangen Nägel des Folterbretts berührte, stöhnte er wohlig auf. Und während Caliras Körper auf ihm lastete, bohrten sich die spitzen Nägel tiefer in sein Fleisch. Sie drangen immer tiefer in seinen Körper ein, während sie immer leidenschaftlicher wurde, und er machte willig ihre Bewegungen mit. Und als das Leben schließlich aus ihm gewichen war, lag ein seliges Lächeln um seinen Mund. Er hatte den Tod in Caliras Armen genossen. »Willst du nicht auch meine schmerzhaften Zärtlichkeiten spüren,
Georg Rudolf Speyer?« fragte ihn Caliras Stimme. Speyer schauderte. Was für ein Satan dieses Weib war! Er wollte jetzt glauben, daß die Dämonen-Drillinge schrecklicher waren als alles, was die Hölle hervorgebracht hatte. Das besonders Teuflische an ihnen war, daß sie ihr wahres Gesicht hinter der Maske von Engeln verbargen. Man mußte sie entlarven – ihnen einen Spiegel vor ihre Teufelsfratzen halten. Ihre Brüder standen Calira um nichts nach. Wer von den dreien am grausamsten war, ließ sich nicht sagen. Athasar mußte im Einbeinigen Mohren wohl ähnliches mit Theresa angestellt haben wie Calira mit ihrem Liebhaber. Und Bethiar hatte Isolde alles Leid dieser Welt spielen und diese Rolle erleben lassen. Die drei beherrschten den Tod in all seinen Variationen. Speyer fühlte sich von ihnen abgestoßen. Er wünschte sich von ganzem Herzen, sie zu töten. Und die drei amüsierten sich darüber, lachten ihn aus. Im Schloß gab es außer den Untoten auch Diener, die noch nicht im Banne der Dämonen standen, aber nach und nach, wie es den Drillingen gefiel, mehr und mehr in Abhängigkeit gerieten. Einer dieser nicht besessenen Diener erregte seit einigen Tagen den Unwillen Bethiars. Speyer erlebte es mit. Der Diener hatte zu Hause eine kranke Frau, zu der er sich des Nachts immer schlich, um nach ihr zu sehen. Deshalb war er am Tage unausgeschlafen und konnte seine Aufgaben nicht ganz nach Wunsch verrichten. Bethiar stellte ihn zur Rede. Der Diener klagte über sein privates Leid und sagte, daß er wohl den Kopf verloren habe. »Er lügt«, sagte Bethiar kalt. »Er trägt ja noch seinen Kopf. Aber seine Lüge soll Wahrheit werden.« Und plötzlich stand der Diener ohne Kopf da. Dieser lag auf einmal im Bett seiner kranken Frau – was Speyer im Geiste zu sehen bekam –, und die Frau bekam einen solchen Schreck, daß ihr Herz aussetzte und sie auf der Stelle starb. Speyer mußte all seine Willenskraft aufbringen, um diese abscheulichen Bilder zu verjagen. »Euer junger Freund sieht blaß aus, Dr. Faustus, findet Ihr nicht
auch?« fragte Athasar heuchlerisch. »Das stimmt«, meinte Faust. Er beugte sich besorgt zu Speyer. »Was ist mit Euch? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?« Speyer saß an einer reichlich gedeckten Tafel neben Faust, den Dämonen-Drillingen gegenüber. Sie waren wieder ganz in Weiß gekleidet und zeigten ihre Engelsgesichter. »Nur eine kleine Unpäßlichkeit«, entschuldigte sich Speyer. »Es ist schon wieder vorbei. Entschuldigt bitte!« »Aber das macht doch nichts«, sagte Calira mit honigsüßer Stimme und sah ihm tief in die Augen, daß ihm heiß wurde. Er spürte in diesem Augenblick, daß er dieser Frau nicht würde widerstehen können – auch wenn er zugleich wußte, daß sie ihn in den Tod führte. »Wo waren wir stehengeblieben?« erkundigte sich Athasar. »Ach ja. Ihr spracht gerade von dem Fastnachtspiel, das die Komödianten für uns vorbereiten. Es wird sehr amüsant werden.« »Für mich ganz bestimmt, denn ich werde mich daran beteiligen«, erklärte Dr. Faust. »Ich habe den Prinzipal dazu gebracht, noch eine Rolle einzubauen.« »Interessant«, meinte Bethiar mit leuchtenden Augen. »Und wen werdet Ihr spielen, Faust? Oder soll das ein Geheimnis bleiben?« »Wozu Geheimnisse machen? Euch kann doch ohnehin nichts verborgen bleiben.« Hier log Faust ganz bewußt, denn ihm als Kenner der Schwarzen Magie war es möglich, seine Gedanken vor den Dämonen-Drillingen geheimzuhalten. Er wollte sie nur verhöhnen, wenn er sich den Anschein gab, als sei er ihnen unterlegen. Und das wiederum wußten Athasar, Bethiar und Calira ganz genau. Sie zeigten nichts von ihren Regungen, die wohl aus Wut, Ärger und sicherlich auch Haß auf diesen aufgeblasenen Sterblichen bestanden, der sich mit Dämonen, die vom Schwarzen Blut abstammten, messen wollte, nur weil er einen Pakt mit Asmodi geschlossen hatte. Zweifellos sannen sie auf Rache – und damit lieferten sie sich Faust aus. Dieser fuhr fort: »Ich selbst beherrsche die Schauspielkunst an sich nicht. Deshalb werde ich mich selbst spielen: Einen Scharlatan, einen
Teufelsaustreiber und Geisterbeschwörer. Das sei ich, sagen mir die Leute nach. Deshalb spiele ich ihnen diese Rolle vor, auf der Bühne wie im Leben.« »Eure Mitwirkung wird das Fastnachtspiel zweifellos bereichern«, sagte Calira. »Ich werde Euch ganz bestimmt genießen.« »Nun, ich bezweifle, daß Ihr als passiver Zuschauer zu echtem Genuß kommen könnt«, widersprach Faust. »Ich habe einmal einen Komödianten gekannt, der seine Zuschauer verachtete. Er hielt sie für viel schäbiger als Voyeure, denn diese machten ihre Beobachtungen nicht so passiv wie ein Theaterbesucher, sondern nahmen an dem Geschehen teil. Und daran ist etwas Wahres, warum ich mich bewogen fühlte, die Komödianten zu bitten, mich mitwirken zu lassen.« »Ich verstehe«, sagte Calira. »Ihr meint, auch wir sollten uns um Rollen in diesem Fastnachtspiel bewerben. Ein anziehender Gedanke. Fürwahr, das würde mich reizen. Was meint ihr dazu, meine Brüder?« »Ich würde sofort mittun«, erklärte Athasar, »doch bezweifle ich, daß die Komödianten ein passendes Kostüm für mich haben.« »Euer Einverständnis vorausgesetzt, könnte ich den Komödianten auftragen, Kostüme für Euch anzufertigen«, bot Faust an. »Unter einer Bedingung könnt Ihr dieses Einverständnis haben«, sagte Bethiar. »Niemand soll erfahren, daß wir es sind, die hier vor gemeinem Publikum agieren. Das setzt wiederum voraus, daß wir entsprechende Masken tragen.« »Ein Schauspieler ohne Maske ist wie ein Körper ohne Blut«, erwiderte Faust. »Ich verspreche, daß wir passende Masken für Euch entwerfen werden. Wollt Ihr selbst vorschlagen, welche Masken ihr tragen sollt?« Die Dämonen-Drillinge schüttelten lächelnd die Köpfe. »Wir vertrauen in dieser Beziehung ganz Eurem Urteilsvermögen«, sagte Calira. »Wollen wir uns doch überraschen lassen. Und nehmt bitte nur keine Rücksicht auf unsere Eitelkeit! Ich meine sogar, das Aussehen der Masken sollte dem unseren entgegengesetzt sein.«
»Wie Ihr befehlt.« Faust verneigte sich galant. »Ich werde meiner Phantasie freien Lauf lassen.«
Im Lager der Komödianten wuchs die Spannung ins Unermeßliche. Man hörte sie förmlich knistern. Jeden Moment konnte sie sich entladen. Doch Speyer wußte, daß es erst während des Fastnachtspiels zur Explosion kommen würde. Ihm schien es fast so, als hätten die Dämonen-Drillinge ihre Opfer mit übernatürlichen Kräften aufgeladen. Irgendwann mußten diese Kräfte durch ein Ventil entweichen – und dann kam es zur Katastrophe. Das würde der Höhepunkt für die Dämonen-Drillinge sein. Die Komödianten gingen einander tunlichst aus dem Weg. Wenn sie dennoch aufeinandertrafen, kam es unvermeidlich zu Streit und Tätlichkeiten. Proben für das Fastnachtspiel wurden längst schon nicht mehr veranstaltet. Jeder ging für sich seine Rolle durch, die ihm die Dämonen zugedacht hatten, auch wenn sie glaubten, Apillion sei der Autor des Stücks. Odrigue rannte nur noch mit seiner überdimensionalen Kindermaske herum, gab unaufhörlich Zoten von sich und begleitete sich auf der Laute. Apillion trank nichts mehr. Das machte ihn noch unausstehlicher. Als er sah, wie Isolde am hellen Tag Speyer in den Wald locken wollte, stürzte er sich auf sie und prügelte sie windelweich. Speyer wäre ihr zu Hilfe gekommen, doch die anderen Männer hielten ihn fest und zwangen ihn, zuzusehen. Mit Zenta war nicht mehr zu reden. Sie arbeitete an der Maske für Calira. Kordula wurde von Faust mit der Fertigung von Athasars Maske beauftragt, Ada machte die Maske für Bethiar. Alle drei Frauen gingen in ihrer Arbeit förmlich auf. Sie aßen und schliefen nicht und hatten sich von den anderen vollkommen abgesondert. Die Dorfbewohner kamen nicht mehr zu ihrem Lager. Sie vergnügten sich untereinander, und in den letzten beiden Nächten kamen sie nicht mehr zur Ruhe. Das lärmende Treiben in Haßfurt dauerte immer bis zum Morgengrauen und dann auch am Tage weiter. Speyer beobachtete aus der Ferne, wie die Dorfbewohner Tiere auf
grausame Art schlachteten, wie sie in ihrem Blut badeten und sich in die frisch abgezogenen Tierhäute kleideten. Auf dem Hauptplatz brannten große Feuer. Aber auch die Komödianten dachten nicht mehr an Schlaf. Sie waren ganz auf die bevorstehende Aufgabe konzentriert und von einer Unrast erfüllt, die sie nie zur Ruhe kommen ließ. Dr. Faust, unter dessen Anleitung die Masken für die DämonenDrillinge angefertigt wurden, war zwar in das Lager der Komödianten gezogen und schlief – falls er überhaupt ein Auge zubekam – in der Kutsche des Erzbischofs, aber er ließ sich nur selten blicken. Die meiste Zeit durchstreifte er die Wälder und war unauffindbar. Speyer konnte sich überhaupt nicht mit ihm über die kommenden Ereignisse unterhalten. Wenn Faust auftauchte, gab er nur den Maskenbildnerinnen Anweisungen und brachte Kräuter, Knochen von seltenen Tieren und anderes Zeug mit, das er miteinander kochte oder zerstampfte, um daraus einen klebrigen Brei zu machen. Dieser Klebstoff war eine wichtige Zutat für die Masken, wie er selbst sagte. Er diente nicht nur dazu, die einzelnen Teile zusammenzuhalten, sondern er sollte darüber hinaus auch noch eine besondere Wirkung ausüben. Faust war im großen und ganzen mit der Arbeit der Mädchen zufrieden. Nur manchmal schlug er eine Änderung vor, meinte, daß zu viel Ton verwendet worden wäre und statt dessen besser Stoff aus den Kleidern eines Gehenkten genommen werden solle. Er brachte Stroh und Eichenhölzer, die ebenfalls in die Masken eingearbeitet werden mußten. Als der letzte Tag seinem Ende zuging, und der Doktor schon Stunden dem Lager ferngeblieben war, machte sich Speyer auf die Suche nach ihm. Er fand Faust an einem Bach sitzend und müßig das dahinströmende Wasser beobachtend und setzte sich neben ihn. »Ihr seid von einer begnadeten Ruhe«, warf er dem Magier vor. »Während ich vor Erregung zittere, mir den Kopf darüber zerbreche, was im entscheidenden Augenblick zu tun ist und vor Sorge um Euch halb verrückt werde, sitzt Ihr hier und beobachtet müßig die Natur. Seid Ihr denn so siegessicher?«
»Keineswegs«, erwiderte Faust, ohne den Blick vom strömenden Wasser zu lassen. »Es ist ungerecht von Euch, mir Müßiggang vorzuwerfen. Ich arbeite auf meine Weise. Der Schöpfer hat auch keine Axt, nicht Hammer und Nägel gebraucht, als er die Welt erschuf.« »Versündigt Euch nicht, Dr. Faustus!« ermahnte ihn Speyer. »Wie könnt Ihr Euch mit Gott vergleichen?« »Ich wollte Euch nur an diesem Beispiel zeigen, daß man auf vielerlei Art tätig sein kann. Ich suche, Speyer. Ich suche … Da! O Ihr seid ein Glücksbringer! Ihr müßt ein Sonntagskind sein! Seit Tagen sitze ich nun schon hier und warte darauf, daß mir die Strömung etwas zutreibt.« »Was denn?« fragte Speyer verblüfft. Faust war aufgesprungen und watete ungeachtet der Kälte in den Bach. Als er bis zum Rande seiner Stulpenstiefel im kalten Wasser stand, bückte er sich und holte etwas vom Grund herauf. Speyer war enttäuscht, als er sah, was er herausgefischt hatte. »Ein gewöhnlicher Stein. Was wollt Ihr denn damit?« »Kein gewöhnlicher Stein, Speyer. Da! Seht ihn Euch einmal genau an!« Der Kiesel war ein ziemlich großer Brocken, und das Absonderliche an ihm war, daß er ein großes Loch in der Mitte hatte, ein Loch, durch das man alle Finger einer Hand stecken konnte. Es war wirklich kein gewöhnlicher Kiesel. Es war ein Drudenstein. »Erkennt Ihr nun, daß ich nicht müßig hier gesessen bin?« fragte Faust leicht erregt. »Ich wußte, daß mir die Strömung etwas zutreiben würde. Ich hatte einen Wahrtraum, in dem ich sah, daß mir eine Waffe, die ich gegen die Dämonen-Drillinge einsetzen kann, in die Hände gespielt werden würde. Und dieser Drudenstein ist diese Waffe. Seht nur, wie er glitzert und funkelt. Er wird die DämonenDrillinge erblinden lassen. Fühlt er sich nicht schwer in Eurer Hand an? Seine magischen Kräfte lassen sich mit den Gewichten dieser Welt nicht wiegen. Damit werde ich die Dämonen-Drillinge zerschmettern. Geht jetzt ins Lager zurück, Speyer! Bald ist es Zeit, zum Schloß aufzubrechen. Wartet nicht auf mich! Ich finde den Weg auch allein.«
Speyer ging ins Lager zurück. »Du kommst wie gerufen, Georg!« empfing ihn Apillion keuchend. »Tassilio und Cornelius, die das Rad an meinem Wohnwagen reparierten, haben schlechte Arbeit geleistet. Das Rad hat sich von der Achse gelöst. Wir müssen es schnell wieder festmachen, sonst kommen wir zu spät ins Schloß.« Speyer sah die Bescherung sofort. Der Wohnwagen des Prinzipals war etwas zur Seite gekippt und ruhte nur noch auf drei Rädern. Die Männer bemühten sich, ihn mit einem Balken hochzuheben, damit die Frauen Steine unterlegen konnten. Das vierte Rad lag achtlos daneben. Speyer wurde davon plötzlich wie magisch angezogen. Irgend etwas war ihm schon von Ferne an dem Rad aufgefallen, ohne daß er sagen konnte, was es war. Als er sich jetzt jedoch nach dem Rad bückte und es eingehend betrachtete, da erstarrte er. Er sah den Goldenen Drudenfuß vor sich! Er hatte dem Rad bisher überhaupt keine Beachtung geschenkt – oder er hatte es eben mit ganz anderen Augen angesehen. Deshalb war ihm auch nicht aufgefallen, daß der Drudenfuß zwischen den Speichen in das Rad eingeklemmt worden war. Er kratzte etwas von dem Schmutz ab, und der Drudenfuß schimmerte golden. »Was ist denn mir dir, Georg?« wollte Odrigue wissen. »Läßt uns hier schuften, während du Löcher in die Luft starrst.« »Dieses Rad ist nicht mehr zu gebrauchen«, behauptete Speyer. »Wie kannst du das sagen?« fragte Apillion. »Ich finde, daß das Rad völlig in Ordnung ist.« »Und ich sage: Nein! Ich habe einige Monate bei einem Wagner gearbeitet und kenne mich aus. Ich hole aus deinem Wohnwagen das Reserverad, Cherves.« »Und wir sollen inzwischen dein Gewicht mittragen?« schimpfte Oswald Supper. Speyer beachtete ihn nicht und verschwand im Wohnwagen. Walther von der Spiend hatte den Goldenen Drudenfuß gut versteckt – so gut, daß nicht einmal die Dämonen-Drillinge ihn gefunden hatten. Und die Landsknechte, die von ihnen hergeschickt wor-
den waren, waren ebenso erfolglos gewesen, weil der Wagen des Prinzipals noch am alten Lagerplatz gestanden hatte. Dabei hätten sich die Dämonen-Drillinge all diese Mühen ersparen können. Walther von der Spiend hatte ihnen den Drudenfuß aushändigen wollen. Als er an den Speichen des Rades rüttelte, tat er es nur, um den Drudenfuß loszubekommen. Aber die Dämonen hatten ihn mißverstanden und in ihrer Wut getötet. Speyer kostete es einige Mühe, den Drudenfuß aus dem Rad zu lösen. Draußen rief Apillion: »Wo bleibt das Reserverad?« Speyer fiel vor Schreck der Goldene Drudenfuß aus der Hand. Er polterte zu Boden. Als er sich danach bückte, sah er entsetzt, daß er auf einmal immer kleiner wurde. Wahrscheinlich hatten sich bei dem Aufprall einige Symbole verschoben. Erst als er die Größe von etwa einer Handspanne erreicht hatte, veränderte er sich nicht mehr. »Also, Georg, was treibst du nur so lange?« Isolde kam in den Wohnwagen geklettert. »Ich …« begann Speyer, den geschrumpften Drudenfuß an sich pressend. »Was hast du denn da?« Isolde kam interessiert näher. Speyer wußte, daß er ihr den Drudenfuß nicht verheimlichen konnte, ohne sich verdächtig zu machen. So entschloß er sich zu einer anderen Taktik. Bei Isolde war der Drudenfuß wahrscheinlich besser aufgehoben als sonst irgendwo. »Ich will dir ein Geschenk machen«, sagte er und setzte ihr den Drudenfuß aufs Haupt. »Ich will dich, meine wahre einzige Liebe, krönen wie eine Königin.« Isolde war so gerührt, daß sie ihn sofort aufs Bett drängen wollte, doch Speyer rief ihr in Erinnerung, daß die anderen auf das Rad warteten.
Fastnacht. Die Narren aus Haßfurt wanderten in einem fröhlichen Zug zum Schloß hinauf. Fürst Hector I. hatte sie alle eingeladen, sei-
ne Gäste zu sein. Einmal im Jahr waren die einfachen Bürger und Bauern die Narren des Schloßparks. Im Schein der Fackeln erschienen ihre Masken wie die Fratzen von Teufeln und Kobolden. In dieser Nacht zeigte niemand sein wahres Gesicht. Oder doch: In dieser Nacht würden die Dämonen-Drillinge demaskiert. Das würden die Masken des Dr. Faust bewerkstelligen. Während die Komödianten mit ihren Wohnwagen die Straße zum Schloß hinauffuhren, reckte sich Speyer den Hals auf der Suche nach dem Magier aus. Doch er konnte ihn nirgends entdecken. Auch von der Kutsche des Erzbischofs war nirgends etwas zu sehen. Die Leute, die er nach dem Doktor fragte, konnten ihm keine Auskunft geben. Und dann fuhren sie in den Schloßpark ein. Die Wachen wiesen ihnen einen Platz vor dem Hauptgebäude zu. Hier sollten sie ihre Bühne errichten. Speyer half beim Aufstellen der Aufbauten tatkräftig mit. Zwischendurch erkundigte er sich immer wieder, ob Dr. Faustus nicht aufgetaucht sei. Odrigue antwortete: »Der Doktor war gerade hier. Er hat die Masken für die Edelleute abgeholt.« Speyer wunderte sich, sagte aber nichts. Endlich war die Bühne errichtet. Es war schon längst Nacht. Der Schloßpark wurde von unzähligen Fackeln und Lagerfeuern erhellt, über denen halbe Ochsen und Ferkel brieten. Das Volk hatte in einem weiten Halbkreis vor der Bühne Platz genommen. Ständig wurden neue Ochsenhälften herangeschleppt, volle Weinfässer herangerollt, die leeren übermütig zertrümmert. Hinter dem Vorhang, auf der Bühne, herrschte Hektik wie vor jeder Premiere. Aber diesmal kam noch etwas anderes dazu: Die Komödianten schienen zu fühlen – oder gar zu wissen –, daß sie diesmal mehr als nur ein Schauspiel zur Aufführung brachten, daß sie das Schicksal der dargestellten Personen nicht spielen, sondern erleben würden. So wollten es die Dämonen-Drillinge. Doch das Wissen um das blutige Drama rettete sie nicht. Sie mußten ihre Rollen spielen; niemand konnte sich dagegen auflehnen. Speyer trug bereits seine Maske, die das ins Groteske verzerrte Gesicht des debilen Probus Naßanger darstellte. Unter seinem Wams
trug er die mit Blut gefüllte Hühnerblase. Doch wenn es nach dem Willen von Athasar, Bethiar und Calira ging, würde er diese Attrappe nicht brauchen, sondern in seinem eigenen Blute daliegen müssen. Isolde trug die liebliche Maske der Frau des Schmiedes. Die Maske, silbrig schimmernd, mit bunten Ornamenten verziert, verdeckte nur ihre obere Gesichtshälfte. In ihrem Haar blitzten die Ecken des Goldenen Drudenfußes. Speyer blieb in ihrer Nähe, um sich sofort des Pentagramms bemächtigen zu können. Odrigue mit dem Kindergesicht stimmte sein Saiteninstrument. Und dann tauchte der Teufel auf. »Wer verbirgt sich nun hinter dieser Maske?« fragte Speyer. »Wer hat eigentlich Barnabas Eenes Rolle übernommen?« »Ich habe die Rolle nicht abgegeben«, ertönte Eenes hohle Stimme hinter der Maske. Speyer glaubte, sich getäuscht zu haben. Er hatte doch mit eigenen Augen gesehen, wie Barnabas unter der Maske erstickt war. Er mußte sich Gewißheit verschaffen und riß dem Teufel die Maske ab. Darunter kam Barnabas Eenes Gesicht zum Vorschein. Es war unnatürlich blaß, grau eigentlich, und ohne Ausdruck. Die dunklen Augen, die Speyer anblickten, waren tot. Ohne ein einziges Wort zu verlieren, setzte sich der Untote die Maske wieder auf. Die anderen hatten von dem Zwischenfall nichts bemerkt. Cherves Apillion, der Schmied, der alle mit seinem Hammer niedermetzeln sollte, stützte sich auf diesen. Plötzlich kam Leben in ihn. »Da kommen die hohen Herrschaften mit Dr. Faustus!« Die Komödianten verteilten sich auf ihre Plätze. Speyer mußte vorerst hinter einer Kulisse Aufstellung nehmen, achtete aber darauf, Isolde so nahe wie möglich zu sein. Dr. Faust und seine Begleiter erschienen auf der Bühne. Der Magier trug wie immer seinen Umhang und den Gelehrtenhut. Sein Gesicht war jedoch verhüllt wie das eines Henkers, nur die blauen Augen blitzten aus den Schlitzen hervor. Athasar, Bethiar und Calira boten in ihren Masken einen schrecklichen Anblick. Es wunderte Speyer, daß Faust es geschafft hatte, sie dazu zu bringen, diese
furchteinflößenden Masken anzunehmen. Athasar war ein grünes Ungeheuer. Seine Teufelsfratze sah so aus, als lebte sie. Ebenso wirkten die vier mit Klauen versehenen Arme nicht wie unbelebte Attrappen. Speyer hatte das Gefühl, als würde er sich jeden Augenblick auf seinen weit abstehenden Drachenflügeln erheben und davonfliegen. Bethiar wirkte noch monströser: Er hatte in seiner Maske kaum noch etwas Menschliches an sich. Sein Körper steckte in einem eiförmigen Gebilde, von dem vier Spinnenbeine abstanden; der Kopf saß ihm halslos am eiförmigen Rumpf, und er hatte ein abstoßendes, widerwärtiges Gesicht: Glotzaugen, eine breitgedrückte Nase mit faustgroßen Löchern, einen Mund, so groß, daß ein Kind hineingepaßt hätte und drei Reihen nadelspitzer Zähne. Calira durfte ihren schönen Körper zeigen. Nur ihr Gesicht war hinter einem schaurigen Totenschädel versteckt. Armlange Haare standen nach allen Seiten ab. Die Finger und Zehen – sie kam barfuß – hatten lange, spitze Nägel, die aus Tierhorn bestanden. »Ein wirklich bunter Reigen«, sagte sie spöttisch. »Nur schade, daß der Fürst nicht anwesend ist. Er mußte leider wegen dringender Geschäfte fort und läßt sich entschuldigen. Aber es mag für euch Komödianten ein Trost sein, daß wir ihm das Schauspiel nachträglich in allen Einzelheiten schildern werden. Oh, ich bin gewiß, daß wir uns noch gern und lange daran erinnern werden.« »Beginnen wir endlich!« sagte Athasar mit vor Erregung heiserer Stimme. »Ja, das Schauspiel kann beginnen«, sagte Faust.
Der Vorhang wurde zurückgezogen. Auf der Bühne hockte Odrigue, hinter seiner Kindermaske versteckt. Die Arme durch die Nasenlöcher geschoben, zupfte er die Laute und sang dazu. Er sang davon, daß er als Jüngstes von acht Kindern des Schmiedes unter einem bösen Stern geboren sei, weshalb er, kaum daß er mit einigen Schreien seine Lebhaftigkeit bekundet, auch schon wieder dorthin müßte, woher er gekommen war – zurück in die ewige Finsternis.
Als er das Ende der letzten Strophe erreichte, erschien der Prinzipal auf der Bühne, hinter ihm, in einer unheilvollen Prozession die anderen Komödianten in ihren Masken. Der Schmied rief den Teufel an und schwang dabei den Hammer über dem ahnungslosen Odrigue. Denn jetzt handelte es sich nicht mehr um die federleichte Attrappe. Er hielt einen echten Schmiedehammer in den Händen. Das Publikum verharrte in atemlosem Schweigen, als der Prinzipal mit donnernder Stimme verkündete, daß er nun Asmodi das Opfer bringen wollte, das dieser forderte. Doch noch bevor er das schwere Eisen des Hammers auf den Zwerg niedersausen lassen konnte, sprang Faust in die Mitte der Bühne. Während er mit lautstarker Stimme Beschwörungsformeln in einer unbekannten Sprache rief, bei denen der Prinzipal mitten in der Bewegung erstarrte, riß er sich den Umhang vom Leib. Darunter kam ein eng anliegendes weißes Gewand zutage, in das mit schwarzem Garn Dämonenbanner gestickt und mit Pech daraufgemalt waren. In der einen Hand hielt er plötzlich ein mit Dornenkränzen gespicktes Kruzifix, die Faust seiner Rechten umspannte den Drudenstein. So stellte er sich den drei dämonischen Geschwistern entgegen. Diese fauchten und schrien wie die Tiere und versuchten verzweifelt, sich ihrer hinderlichen Masken zu entledigen. Doch vergebens. Die Masken klebten ihnen förmlich am Leib, waren eins mit ihnen geworden. Die Dämonen-Drillinge sahen keinen anderen Ausweg mehr, als die Komödianten, die immer noch in ihrem Bann standen, zu Hilfe zu rufen. Der Prinzipal ließ den Hammer niedersausen und zerschmetterte damit den Zwerg Odrigue. Speyer rannte zu Isolde und griff ihr ins Haar, um sich den Drudenfuß zu holen. Doch sie entkam ihm. Er verfolgte sie über die Bühne. Sie suchte in ihrer vorbestimmten Rolle die Nähe des Prinzipals, um von ihm als Frau des Schmiedes den Tod zu empfangen. »Du willst noch weitere Opfer, Asmodi?« gellte die Stimme des Prinzipals durch den Park. »Also will ich sie dir bringen.«
Er schwang seinen Hammer und ließ ihn wuchtig in die Reihen seiner Komödianten sausen, aber wie durch ein Wunder verfehlte das tödliche Eisen jedesmal sein Ziel. Speyer sah, wie Zenta sich ergeben vor den Prinzipal stellte, um von ihm erschlagen zu werden. Er beförderte sie einfach mit einem Tritt von der Bühne und damit aus dem Gefahrenbereich. Inzwischen hatte sich Faust den Dämonen-Drillingen auf Reichweite genähert. Er hielt sie mit dem dornenbesetzten Kreuz in Schach; sie konnten sich nicht von der Stelle rühren. Jetzt holte er mit dem Drudenstein weit aus und ließ ihn dann mit aller Gewalt gegen die Maske Athasars krachen. Unter dem tierischen Aufschrei des Dämons begann seine Maske zu zerbröckeln. Faust holte wieder mit dem Drudenstein aus und schmetterte ihn gegen die Körpermaske von Bethiar. Ein Geheul wie von allen Teufeln der Hölle entrang sich diesem, und unter den zerstörerischen Kräften des Drudensteins zerfiel seine Maske in tausend Trümmer. Nun war nur noch Calira übrig. »Zerfalle auch du, Hexe aller Hexen, unter dem Gewicht des Drudensteins zu Staub!« schrie ihr Faust entgegen, während er ihr den Stein gegen die Gesichtsmaske knallte. Speyer hatte die Geschehnisse um die drei Dämonen nicht genau beobachten können, denn er versuchte immer noch, in dem allgemeinen Chaos an Isolde heranzukommen, in deren Haar sich der Goldene Drudenfuß befand. Jetzt aber wurde seine Aufmerksamkeit auf die Dämonen gelenkt. Faust schrie entsetzt auf und wich vor ihnen zurück. Sein Zauber hatte nur zum Teil gewirkt. Der Drudenstein hatte nur die Masken, nicht aber ihre Träger zerschmettert. Dafür war etwas anderes vor sich gegangen, etwas, das Faust ganz sicher nicht bezweckt hatte. Als die Masken von den Dämonen-Drillingen abfielen, wurde das Schreckliche offenbar. Sie hatten das Aussehen der Masken angenommen. Sie waren zu jenen Ungeheuern geworden, als die sie sich verkleidet hatten. Die Demaskierung war geglückt, aber auf eine Art, wie es sich keiner der Beteiligten gewünscht hatte. Die Dämonen-Drillinge sahen nun so schrecklich aus, wie sie in ihrem Innern
auch waren. Athasar – der geflügelte, grüne Teufel mit den vier Klauenarmen. Bethiar – die Spinne mit einem Maul, das so groß war, daß er damit einen ausgewachsenen Mann verschlingen konnte. Calira – mit dem makellosen Körper einer Göttin und dem Gesicht des Todes und den langen Schlangenhaaren. In diesen Körpern waren die Dämonen-Drillinge nun gefangen. Anstatt sie zur Strecke zu bringen, hatte Faust alles nur noch schlimmer gemacht. Speyer wußte, daß nur noch der Goldene Drudenfuß helfen konnte. Doch gerade als er Isolde erreicht hatte, tauchte der Prinzipal mit erhobenem Hammer vor ihr auf. »Nicht!« konnte Speyer noch rufen. Doch seine Warnung verhallte ungehört. Er brachte sich durch einen Sprung noch in Sicherheit, da sauste der schwere Schmiedehammer auch schon auf Isolde nieder. Aber er erreichte sie nie. Denn als er den Goldenen Drudenfuß berührte, da schien die Zeit stillzustehen. Eine Ewigkeit lang ereignete sich überhaupt nichts, dann entluden sich die Kräfte des Drudenfußes mit einem Schlag. Der Prinzipal wurde förmlich in Stücke gerissen. Und diese Stücke, schönen Ornamenten und leuchtenden Blumenmustern gleich, zerfielen zu Staub. Isolde wurde durch die Bretter der Bühne geschleudert. Ein Loch tat sich darunter in der Erde auf, von dem sie verschlungen wurde. Und der Goldene Drudenfuß, der sekundenlang mitten in der Luft schwebte, begann sich in Nichts aufzulösen. Er wurde zuerst durchsichtig, dann verblaßte er immer mehr, wie eine Vision, bis er verschwunden war. Und mit ihm verschwanden auch die DämonenDrillinge, die bis zuletzt die Gestalt von Ungeheuern beibehalten hatten.
Gegenwart »Bei dem nachfolgenden Erdbeben stürzte das Schloß ein. Haßfurt
verschwand in einer Bodenspalte, die sich auftat. Die Bewohner dieses Ortes überlebten alle, weil sie Fastnacht im Schloßpark feierten. Mit dem Verschwinden der Dämonen-Drillinge wurde jedoch auch der Bann von den Menschen genommen. Sie verließen diesen verfluchten Ort und verstreuten sich in alle Winde. Von den Dämonen-Drillingen habe ich seit damals nie wieder gehört, und den Goldenen Drudenfuß fand ich erst vor Tagen in Borvedam wieder.« Der Dämonenkiller machte eine Pause. Er hatte Coco ohne Unterbrechung seine Geschichte erzählt und sich auch nicht davon ablenken lassen, daß Olivaro wieder auf dem Bildschirm des Fernsehapparates erschienen war. »Ich bin absolut sicher, daß die Dämonen-Drillinge damals nicht zu existieren aufhörten«, sprach Dorian nach einer Weile weiter. »Sie wurden mit dem Drudenfuß nur an einen anderen Ort geschleudert. Wären sie nämlich vernichtet worden, so gäbe es auch den Goldenen Drudenfuß wahrscheinlich nicht mehr. Mir ist nur eines unverständlich. Wieso fand ich von den Drillingen nie wieder eine Spur, obwohl ich ihnen in all den Jahrhunderten nachgejagt bin? Das ist mir ein Rätsel.« »Ich biete Ihnen die Lösung dafür an, Dorian«, ergriff Olivaro das Wort. »Darauf kann ich verzichten. Mir geht es nur darum, Athasar, Bethiar und Calira zu töten. Und das wird mir mit Hilfe des Drudenfußes gelingen.« »Das ist eben der Irrtum, dem Sie unterliegen. Warum sind Sie nur so stur und lassen sich nicht von mir warnen? Sie können nur gewinnen, wenn Sie mir den Drudenfuß überlassen, denn ich übergebe Ihnen im Austausch die Dämonen-Drillinge. Ich will Ihnen auch verraten, warum. Dank der Mitwirkung Ihres ach so genialen Dr. Faust sind Athasar, Bethiar und Calira zu solch schrecklichen Ungeheuern geworden, daß sie selbst für die Schwarze Familie eine Gefahr darstellen. Das ist der Grund dafür, warum wir sie an Sie ausliefern wollen. Aber ich verlange, daß Sie mir vorher den Goldenen Drudenfuß übergeben.«
»Wozu brauchen Sie diesen denn überhaupt?« fragte Dorian. »Was wollen Sie denn noch alles wissen?« regte sich Olivaro auf. »Wozu wollen Sie denn immer allen Geheimnissen auf den Grund gehen? Genügt es Ihnen nicht, die Drillinge unschädlich zu machen?« Dorian schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Olivaro, das ist mir ein zu unsicheres Geschäft. Ich bleibe lieber bei meiner Methode.« »Damit werden Sie noch mehr Unheil anrichten als damals Faust. Ich habe Sie gewarnt.« Das Bild auf dem Fernsehschirm verblaßte. Coco fuhr von ihrem Platz hoch und rief: »Olivaro!« Aber der Dämon hatte den Kontakt bereits abgebrochen. »Das war nicht besonders klug, Dorian. Immerhin könnte Olivaro die Wahrheit gesprochen haben. Er ist dir sogar auf halbem Weg entgegengekommen. Ihr hättet euch einigen können.« »Das hätten wir – wenn er meine Bedingungen akzeptiert hätte.« Der Dämonenkiller lächelte und drückte sie versöhnlich an sich. »Nun mach nicht solch ein Gesicht! Noch ist nichts verloren. Ganz im Gegenteil, ich bin immer noch der Überzeugung, daß wir auf der Siegerstraße sind. Und wenn die Schwarze Familie die DämonenDrillinge tatsächlich so zu fürchten hat, wie Olivaro behauptet, dann wird er sich wieder melden.« Sie verließen die Bibliothek. »Komm, gehen wir nach oben! Wir haben uns nach dieser anstrengenden Nacht beide etwas Entspannung verdient.«
Fünftes Buch
Das Mordpendel von Neal Davenport
Alan Thayer beugte sich vor und warf dem Fahrer einen raschen Blick zu. »Womit beginnen Sie die Besichtigung?« Jim Osmonde antwortete nicht. Er hockte verkrampft hinter dem Lenkrad. Sein Gesicht war bleich, und Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte Thayer besorgt. Das Aussehen und Verhalten des Fahrers wollten ihm überhaupt nicht gefallen. Er bezweifelte langsam, ob es eine gute Idee gewesen war, auf den Vorschlag des Hotelportiers einzugehen und eine Rundfahrt durchs nächtliche London bei Jim Osmonde zu buchen. Der Fahrer wandte langsam den Kopf. Er lächelte verzerrt. »Alles in Ordnung.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« Alan Thayer ließ nicht locker. Jim Osmonde antwortete aber wieder nicht. Seine großen Fäuste umspannten das Lenkrad des Kleinbusses, in dem sechs Touristen saßen. Er fuhr die Stamford Street in gemächlichem Tempo entlang. Thayer schüttelte den Kopf. Seine Frau Linda legte beruhigend eine Hand auf seinen Unterarm. Sie kannte das cholerische Temperament ihres Mannes. Er schüttelte ihre Hand ungeduldig ab. »Zum Teufel!« knurrte er wütend. »Jetzt fahren wir schon mehr als fünfzehn Minuten in der Gegend herum, völlig sinnlos, wie mir scheint.« »Ich bringe Sie zur Black Angels Cathedral«, sagte Jim Osmonde stockend. »Nie davon gehört«, schaltete sich Edwin Peel ein, der neben Thayer saß. Peel war ein kleiner kahlköpfiger New Yorker, der sich jetzt die gewaltige Hornbrille höher auf die Nase schob. »Ich auch nicht«, sagte Alan Thayer ungehalten. »Mich interessiert diese Kathedrale überhaupt nicht. Ich will die Sehenswürdigkeiten sehen, die im Prospekt stehen.« Er fuchtelte wild mit einem schmalen Heftchen rum, und sein Gesicht lief rot an. Der Fahrer reagierte nicht. Er fuhr stur und mit zusammengebisse-
nen Zähnen weiter. Die restlichen drei Touristen im Wagen hatten von der Auseinandersetzung nur wenig mitbekommen, da sie alle Ausländer waren und nur äußerst mangelhaft Englisch verstanden. Jacques Brousse und Petru Dumitrin hatten sich im Hotel kennengelernt und sich angefreundet. Beide waren geschäftlich in London. Brousse war ein waschechter Pariser, während Dumitrin in Rumänien geboren war, jetzt aber in Genf wohnte. Sigrid Jorgenson war Dänin, die bei einem Preisausschreiben einer Waschmittelfirma eine Wochenendreise nach London gewonnen hatte. »Beruhige dich, Alan!« sagte Thayers Frau besänftigend. »Halt den Mund!« schnauzte er sie an. »Das ist doch der Gipfel der Frechheit, was sich dieser Kerl leistet. Er will die Besichtigung mit einer Kathedrale beginnen, von der kein Mensch je etwas gehört hat.« Er klopfte dem Fahrer auf die Schulter, der aber reagierte nicht, sondern beschleunigte den Kleinbus, so daß Thayer auf seinen Sitz zurückgeschleudert wurde. »Fahren Sie langsamer!« schrie Edwin Peel. Die Tachonadel pendelte über der Fünfzigmeilenmarke und wanderte höher. »Der Kerl ist übergeschnappt«, sagte Thayer mit versagender Stimme. Es war Anfang Dezember. Ein kalter, wenig einladender Abend. Nebelschwaden zogen von der Themse her durch die Straßen. Jim Osmonde bog mit kreischenden Pneus in die Waterloo Road ein und stieß beinahe mit einem Bus zusammen. Er wich im letzten Augenblick aus, bremste aber nicht ab, sondern fuhr noch rascher. »Ein Wahnsinniger«, keuchte Edwin Peel. Seine Augen weiteten sich, und er hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest. Die sechs Touristen wurden wild hin und her geschüttelt. Entgegenkommende Fahrzeuge blinkten Jim Osmonde an, der sich aber auch davon nicht beirren ließ. Sigrid Jorgenson schloß die Augen. Sie war über fünfzig und ziemlich ängstlich. Sigrid hatte vor fast allem Furcht, beim Autofahren aber besonders. Jacques Brousse und Petru Dumitrin schrien auf Französisch durcheinander, während
Edwin Peel und Alan Thayer den Fahrer immer wieder aufforderten, das Tempo zu drosseln. »Bleiben Sie augenblicklich stehen!« brüllte Alan Thayer schließlich. Seine Frau krallte sich an ihm fest. »Wenn das nur gutgeht«, murmelte Edwin Peel. »Wir müssen den Verrückten aufhalten«, keuchte Thayer. Jim Osmonde achtete nicht auf die Touristen. Er strich sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, überholte einen Morris und stieg langsam auf die Bremse. Jeder Gedanke fiel ihm schwer. Nur undeutlich vernahm er die schrillen Stimmen der Touristen. Eine unheimliche Macht trieb ihn vorwärts. Er zog den Wagen nach rechts, bog in eine schmale Sackgasse ein, schaltete runter und trat stärker auf das Bremspedal. Nach wenigen Metern ging die Gasse in einen Platz über. Osmonde schaltete das Fernlicht ein. Die Scheinwerferstrahlen glitten über eine Hausfassade und wanderten weiter. Dann war die Kirche zu sehen. »Wir sind da! Hier ist die Black Angels Cathedral.« Osmondes Stimme klang rauh. Genau vor dem Haupttor blieb er stehen. Einige Sekunden war es still im Wagen. »Bitte steigen Sie aus!« »Ich denke nicht daran«, sagte Alan Thayer wütend. »Auf eines können Sie sich verlassen, Mister, ich werde Sie anzeigen. Ihre Fahrweise ist ja geradezu kriminell. Ihnen gehört der Führerschein abgenommen. Außerdem will ich augenblicklich mein Geld zurückhaben. Ich verzichte auf die Rundfahrt. Haben Sie mich verstanden? So schauen Sie mich doch nicht so dumm an!« Jim Osmonde hatte Thayer den Kopf zugewandt. Seine Augen waren glasig; sie schienen durch Thayer hindurchzublicken. »Steigen Sie aus!« wiederholte er. Sein Gesicht veränderte sich. Es schien jetzt zu leuchten, und die Augen funkelten bösartig. »Komm«, flüsterte Linda Thayer fast unhörbar. »Steigen wir aus. Der Fahrer scheint wahnsinnig geworden zu sein.« Thayer nickte, griff nach der Wagentür und öffnete sie. Seine Frau stieg aus, und er folgte ihr. Edwin Peel schob sich schnaubend aus dem Wagen und blieb stehen.
Der Platz, auf dem sie standen, war quadratisch. Nirgends war eine Straßenlampe zu sehen. Die einzige Lichtquelle waren die Scheinwerfer des Kleinbusses. Die anderen Touristen stiegen ebenfalls aus dem Wagen und blieben stehen. Der Himmel war grau. Die Silhouette der Kathedrale war nur undeutlich zu erkennen. Eine eisige Kälte schien über dem Platz zu hängen, und von Sekunde zu Sekunde wurde es noch kälter. »Laß uns gehen«, sagte Linda Thayer. »Nicht, bevor ich unser Geld zurückbekommen habe«, sagte ihr Mann und trat auf Jim Osmonde zu. Alan Thayer war ein hochgewachsener Mann, der einmal Freistilringer gewesen war. Er überragte den Fahrer um Kopfeslänge. Jetzt baute er sich vor Osmonde auf und hob seine Fäuste. »Wird's bald, Bürschchen?« fragte er grimmig. »Zücken Sie die Brieftasche und geben Sie mir die zehn Pfund, die ich Ihnen für die Besichtigungstour gezahlt habe!« Osmonde sah an Thayer vorbei zur Kirche. Ein lautes Knarren war zu hören. Das Kirchentor schwang langsam auf. Eine dunkle Gestalt trat heraus. Sie war nur wenige Sekunden im Scheinwerferlicht zu sehen, dann verschmolz sie mit der Dunkelheit. Schritte kamen näher. Sie hallten seltsam hohl über den verlassenen Platz. »Guten Abend, meine Herrschaften!« hörten sie eine tiefe Stimme sagen. »Ich werde Sie durch die Kathedrale führen. Sie können sicher sein, daß Sie diese Führung nie vergessen werden.« Thayer sah die Gestalt an, die in einigen Metern Entfernung stehengeblieben war. Sie trug eine bodenlange schwarze Kutte und eine hohe Kapuze, die das Gesicht fast völlig verhüllte. »Wer sind Sie?« »Ich bin Ihr Führer.« »Ich lege keinen Wert darauf, eine Kathedrale bei Nacht zu besichtigen!« fauchte Thayer. »Ich mache mir überhaupt nichts aus Kirchen! Seit meiner Taufe habe ich keine mehr von innen gesehen. Ich will mein Geld zurückhaben, sonst nichts.« »Bitte folgen Sie mir, meine Herrschaften!« sagte die vermummte
Gestalt. Thayer setzte zu einer bösartigen Bemerkung an, doch plötzlich konnte er nicht mehr sprechen. Seine Gedanken verwirrten sich. Willenlos schloß er sich den anderen Touristen an, die der unheimlichen Gestalt folgten. Auf den ersten Blick hätte man die Kathedrale für eine Gotikkirche gehalten, doch das täuschte. Jeder der drei Türme schien in einer anderen Stilepoche entstanden zu sein. Die Wände der Kirche waren grau und brüchig. Über dem gotischen Hauptportal erhoben sich seltsam geformte Türmchen, Strebepfeiler und Bogen; und dazwischen hockten drei unheimliche Steinfiguren, offensichtlich Wasserspeier. Einzelheiten waren bei der Dunkelheit nicht zu erkennen. Die Touristen betraten die Kathedrale. Kälte, Finsternis und ein merkwürdiger Geruch empfingen sie. Als sich das Tor krachend hinter ihnen schloß, fiel die Erstarrung von ihnen ab. Sie riefen erregt durcheinander. Undurchdringliche Schwärze war um sie. Alan Thayer gewann als erster die Fassung zurück. »Ruhe!« Das Stimmengemurmel legte sich. »Wo steckt dieser verdammte Kuttenmann?« Doch er bekam auf seine Frage keine Antwort. Er öffnete seinen Mantel und fischte nach den Streichhölzern. Während er eines anriß, drängte sich seine Frau an ihn. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Edwin Peel mit zittriger Stimme. »Das werden wir herausbekommen«, sagte Thayer grimmig. Er wandte den Kopf herum, und sein Blick fiel auf das geschlossene Tor. Das Streichholz erlosch, und er zündete ein neues an. Mit zwei Schritten stand er vor dem Tor und griff nach der Klinke. Er drückte sie nieder, doch das Tor ließ sich nicht öffnen. Die anderen Touristen waren ihm gefolgt und umringten ihn. »Was nun?« fragte Linda. Thayer grunzte. Er riß an der Klinke, doch so sehr er auch daran rüttelte, er bekam das Tor nicht auf. Brummend gab er seine Bemühungen auf.
»Hat jemand vielleicht zufällig eine Taschenlampe bei sich?« »Taschenlampe?« wiederholte Jacques Brousse. »Ich habe eine bei mir.« Sein Englisch war fast unverständlich. »Geben Sie sie mir!« bat Thayer. Sigrid Jorgenson zitterte vor Angst. Sie hielt die rechte Hand vor den Mund, und mit der linken umklammerte sie ihre Handtasche. Sie schluchzte und unterdrückte nur mit äußerster Mühe ihre Tränen. Brousse holte aus seiner Brusttasche eine Bleistiftlampe und reichte sie Thayer, der sie anknipste. Er leuchtete zuerst über das Eingangstor, dann drehte er sich um und hob die Lampe. Der dünne Strahl verlor sich in der Tiefe der Kathedrale. Thayer senkte die Lampe. Bankreihen waren zu sehen. Das Längsschiff der Kirche wies die charakteristischen Kreuzrippengewölbe auf. »Ich will raus«, keuchte Sigrid Jorgenson. Sie hatte dänisch gesprochen, daß keiner der anderen Touristen verstand. »Ich will raus!« Sie rannte zum Tor und hämmerte mit den Fäusten dagegen, dabei schluchzte und heulte sie hemmungslos. Petru Dumitrin versuchte die hysterische Frau zu beruhigen, was ihm aber nicht gelang. Sie schlug weiter wie eine Verrückte gegen das Tor. Plötzlich war eine hohl klingende Stimme zu hören. »Herzlich willkommen in der Black Angels Cathedral!« Sigrid Jorgenson ließ von der Tür ab und wandte sich wie die anderen in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Das Klappern von Holzsandalen war zu hören. Zwei hünenhafte, mit Kutten bekleidete Männer kamen näher. In der rechten Hand hielten sie dicke Kerzen. Die Gesichter der beiden waren von Kapuzen verhüllt. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in den dunklen Augen, die durch die Schlitze blickten. Die beiden unheimlichen Gestalten kamen rasch näher. Einige Schritte vor den sechs Touristen blieben sie stehen. Beide verbeugten sich. »Wir freuen uns über Ihren Besuch«, sagte die eine der Gestalten, und der höhnische Unterton war nicht zu überhören. Thayer trat einen Schritt vor. »Was geht hier vor?« »Sie wollen doch die Kathedrale besichtigen, nicht wahr?«
»Da irren Sie sich aber gewaltig«, schrie er. »Wir wollen nur eines: möglichst rasch ins Freie!« »Das ist leider nicht möglich, mein Herr«, sagte der Vermummte sanft. »Nachdem Sie schon hier sind, müssen Sie an der Führung teilnehmen.« »Ich denke nicht einmal im Traum daran«, brüllte Thayer und ging auf den Kapuzenmann los. Mit beiden Händen griff er nach ihm und zuckte zusammen, als seine Hände die Kutte berührten. Er ging in die Knie und schrie gequält auf. »Greifen Sie mich nicht an«, warnte der Kuttenmann. Thayer stand schwankend auf. Seine Hände zitterten. Ihm war, als hätte er einen gewaltigen elektrischen Schlag bekommen. »Folgen Sie uns!« sagte der zweite Kapuzenmann. »Sie dürfen sich glücklich schätzen, daß es Ihnen erlaubt ist, die Kathedrale zu besichtigen.« Die eingeschüchterten Touristen folgten den beiden unheimlichen Gestalten. Schweigend gingen sie den Mittelgang entlang. Einer der Kuttenmänner blieb stehen, während der andere weiterging. »Die Kathedrale ist die Grabstätte von Dämonen«, sagte der Maskierte, der bei den Touristen geblieben war. »Hier ruhen mächtige Dämonen, die jeden Augenblick erwachen können.« Dumitrin, Brousse und Jorgenson bekamen von den Erklärungen des Kuttenmannes kaum etwas mit; ihr Englisch war zu schlecht. »Das Besondere an dieser Kathedrale sind die Glocken«, sprach der Unheimliche weiter. »Überall befinden sich Glocken.« Er hob die Kerze. Dutzende verschieden großer Glocken waren über ihnen zu sehen. Bunte Bänder hingen von den Glocken herunter. Der Vermummte lachte boshaft. »Greifen Sie ruhig zu! Suchen Sie sich eine Glocke aus, die Ihnen besonders gut gefällt und läuten Sie sie!« Keiner der Touristen bewegte sich. »Läuten Sie!« sagte der Kapuzenmann scharf. Edwin Peel streckte zögernd die rechte Hand aus. Er packte ein grünes Band und zog einmal kurz daran. Eine der Glocken bewegte
sich, und ein sanftes Läuten war zu hören. »Keine Angst!« sagte der Unheimliche. »Niemand wird durch das Läuten gestört. Kein Ton dringt aus der Kathedrale hinaus. Läuten Sie! Alle!« Alan Thayer handelte wie in Trance. Ohne zu denken, packte er ein violettes Band und riß daran. Die anderen folgten seinem Beispiel. Ein halbes Dutzend Glocken bewegten sich. Die Klöppel schlugen immer stärker gegen die Klangkörper. Das Läuten hallte schaurig in der Kirche wider. Alan Thayer ließ das Band los. Doch die Glocke läutete weiter. Das Läuten klang wie das Heulen eines Orkans, wurde immer lauter und hörte sich immer schauriger an. Er glaubte, daß sein Trommelfell platzen würde, so laut und dröhnend war das Läuten geworden. Er versuchte die Hände zu heben, doch er war dazu nicht fähig. Sein Körper war gelähmt. Er konnte sich nicht bewegen. Den anderen Touristen ging es nicht besser. Sie standen auf ihren Plätzen, so als wären sie zu Statuen geworden. Das Läuten wurde immer schriller, die Glocken bewegten sich rascher. Gebannt starrten sie die Glocken an. Einige setzten sich in Bewegung, kamen tiefer. Alan Thayer wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Eine Glocke schwebte weniger als einen halben Meter über seinem Kopf. Der Klöppel wurde langsamer, und Thayer merkte, daß der Klöppel eine seltsame Form hatte; er war gebogen – ein meterlanges Messer, das gegen den kegelförmigen Klangkörper schlug und ihm seltsame Laute entlockte. Die vermummte Gestalt stellte die Kerze zwischen den Touristen auf den Boden und trat etwas zur Seite. Sie kicherte zufrieden, als die Glocken immer tiefer schwebten und die langen Messer nach unten klappten und wie Sensen hin und her geschwungen wurden. Das Messer zischte über Alan Thayers Kopf und schnitt eine Haarsträhne ab. Es senkte sich immer tiefer. Die unheimliche Gestalt verbarg die knochigen Hände in der Kutte und blickte sich rasch um, dann nickte sie zufrieden. Über jedem Touristen hing eine Glocke. Sechs erstarrte Gestalten, für die es keine Rettung mehr gab. Das Dröhnen der Glocken war schwächer ge-
worden. Alan Thayer hatte seine Stimme zurückgewonnen. Er brüllte vor Entsetzen, konnte sich aber noch immer nicht bewegen. Die Glocke über seinem Kopf drehte sich und dann raste das scharfe Messer heran – genau auf seine Kehle zu.
Dorian Hunter saß mit halbgeschlossenen Augen im Wohnzimmer der Jugendstilvilla in der Baring Road. Die Beine hatte er weit ausgestreckt. In der rechten Hand hielt er ein Glas, und im Aschenbecher vergloste eine Player's. Er dachte an das Gespräch mit Olivaro zurück. Der Dämonenkiller seufzte leicht, griff nach der Zigarette, sog einmal dran und drückte sie aus. Dann trank er das Glas leer und stellte es auf den Tisch. Im Haus war es ruhig. Er schloß die Augen und versuchte sich zu entspannen, doch es gelang ihm nicht. Seine Gedanken kreisten immer wieder um die Frage, wo sich die DämonenDrillinge befinden mochten. Wie konnte er sie finden und töten? Er war überzeugt davon, daß ihm der Drudenfuß eine Antwort auf all seine Fragen geben konnte. Er stand auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Sein Blick irrte zum Wandtresor, der hinter einem Ölbild verborgen war, das ein phosphoreszierendes Kreuz zeigte. Darin befand sich die Wunderwaffe gegen die Drillinge. Dorian blieb vor dem Wandtresor stehen, nahm das Ölbild ab und stellte es auf den Boden. Er öffnete den Tresor und blickte hinein. Der Drudenfuß war geschrumpft. Er schimmerte jetzt rotgolden. Die überkreuzten fünf Stäbe aus Alchimistengold waren kaum größer als Hunters Handfläche. Der Dämonenkiller griff nach der Waffe und holte sie aus dem Tresor hervor. Der Drudenfuß schien in seiner Hand zu pulsieren und die Farbe zu verändern. Hunter ging zum Tisch zurück, setzte sich und stellte den Drudenfuß auf die Tischplatte. Die achtundsiebzig Symbole des magischen Tarots bewegten sich nicht. Hunter hatte gute Lust, die Symbole zu verändern, doch er wußte, daß dadurch möglicherweise unheimliche Ereignisse ausgelöst werden konnten,
deshalb zögerte er. Er hob den Kopf, als die Tür geöffnet wurde. Phillip trat ins Zimmer. Die Augen hatte er geschlossen, nur die langen Wimpern zitterten leicht. Das bodenlange, weiße Nachthemd ließ den Hermaphroditen noch seltsamer erscheinen. Phillips Haut war blaß, fast durchscheinend. Das lange silbrige Haar umrahmte sein Gesicht und verlieh ihm etwas Engelhaftes. Phillip hob beide Hände und schlug die Augen auf. Sie schienen von innen heraus zu leuchten. Er preßte die Handflächen zusammen, und seine Lippen bewegten sich. »Sie läuten wieder.« Sein Körper begann zu zittern. »Sie läuten den Tod ein.« Der Dämonenkiller sprang auf und fragte sanft: »Wovon sprichst du, Phillip?« Er ließ den Hermaphroditen nicht aus den Augen. »Die Glocken«, hauchte Phillip, und seine Augen wurden größer. »Welche Glocken?« »Hörst du sie nicht?« Der Hermaphrodit drehte den Kopf zur Seite und lauschte. »Ich höre nichts«, sagte Hunter. »Du mußt sie hören.« Phillips Stimme war schrill geworden. Sein Körper krümmte sich, und er öffnete den Mund weiter und keuchte. Schaum stand vor seinen Lippen. Die Augen waren starr und riesengroß. Hunter kam näher. Er blieb vor Phillip stehen, der sich beide Hände gegen die Ohren preßte, einen gurgelnden Schrei ausstieß und an Hunter vorbei auf den Tisch zu sprang. Der Dämonenkiller griff nach dem Hermaphroditen, doch Phillip entwand sich seinem Griff und kauerte vor dem Tisch nieder. Bevor ihn Hunter daran hindern konnte, hatte Phillip den Drudenfuß mit der rechten Hand gepackt, und seine schmalen Finger huschten über die Tarot-Symbole. Der Drudenfuß strahlte plötzlich dunkelrot und wuchs. Die Symbole wanderten immer rascher die Stäbe auf und nieder. Phillip erstarrte mitten in der Bewegung. Der Drudenfuß entfiel seiner klammen Hand. Der Hermaphrodit wimmerte leise und versuchte aufzustehen. Die Augen hatte er geschlossen. Hunter stützte den Jungen und führte ihn zur Couch. Phillip ließ
sich einfach niederfallen und drehte sich zur Seite. Sein angespanntes Gesicht veränderte den Ausdruck. Er sah wieder wie ein Engel aus. Seine mädchenhafte Brust hob und senkte sich regelmäßig. Er war eingeschlafen. Der Dämonenkiller strich sich nachdenklich über den Schnurrbart. Sein Blick fiel auf den Drudenfuß, der wieder geschrumpft war und jetzt schwarz schimmerte. Hunter bückte sich, nahm den Drudenfuß und versperrte ihn im Wandtresor. Er hing das Ölbild davor und wandte sich dann Phillip zu, der noch immer schlief. Hunter hob den Hermaphroditen hoch und trug ihn in sein Zimmer. Im Gang blieb er nachdenklich stehen. Er war, wie üblich, aus Phillips Worten nicht klug geworden. Der Junge hatte ihm etwas sagen wollen, aber was? Hunter hob die Schultern und ging ins Schlafzimmer. Coco war noch auf. Sie legte das Buch zur Seite und blickte ihn an. »Ich dachte, daß du schon schlafen würdest«, sagte er und setzte sich aufs Bett. »Ich bin noch nicht müde.« Der Dämonenkiller brummte und unterdrückte die boshafte Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Sein Verhältnis zu Coco war noch immer leicht gespannt, und er hatte keine Lust, es durch spöttische Bemerkungen noch mehr zu strapazieren. Ursprünglich hatte er in seinem Reihenhaus in der Abraham Road übernachten wollen, doch Coco war dagegen gewesen. Sie mochte das Haus nicht; da war ihr die Jugenstilvilla noch lieber. »Hast du schon mal etwas von Glocken gehört, die den Tod einläuten, Coco?« »Wie war das?« fragte sie überrascht. »Ich saß im Wohnzimmer, da tauchte Phillip auf und faselte etwas von Glocken, die wieder läuten. Und angeblich sollen diese Glocken den Tod einläuten. Er führte sich auf, als würde er Schmerzen haben. Er veränderte einige Symbole des Drudenfußes, dann fiel er in einen ohnmachtsartigen Schlaf. Ich brachte ihn in sein Zimmer. Kannst du dir darauf einen Reim machen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde morgen mit Phillip darüber
sprechen. Vielleicht sagt er mir mehr.« »Viel Glück!« sagte Hunter boshaft. »Vielleicht hast du jetzt tatsächlich mehr Glück, dich mit Phillip zu verständigen, nachdem du einen Teil deiner Fähigkeiten zurückgewonnen hast.« Coco seufzte. »Es würde dir wohl sehr schwerfallen, einige Zeit ohne spitze Bemerkungen auszukommen, was?« Dorian lachte freudlos. »Entschuldige. Ich bin nervös und gereizt. Wir treten auf der Stelle. Den Drudenfuß haben wir zwar, aber wir wissen nicht, wo sich die Dämonen-Drillinge aufhalten. Sag mir jetzt bitte nicht wieder, daß ich auf Olivaro hätte hören sollen. Ich will von ihm nichts wissen. Du kennst meine Gründe.« »Möglicherweise hast du recht«, sagte Coco zu Dorians Überraschung. »Aber du machst noch immer die gleichen Fehler. Du kannst nicht zuhören und abwarten. Du bist zu unbeherrscht, zu stur. Und das könnte einmal böse ins Auge gehen.« Der Dämonenkiller nickte langsam. Obwohl es ihm schwerfiel, antwortete er: »Ich werde versuchen, mich in Zukunft mehr zu beherrschen. Der direkte Weg ist nicht immer der beste.« Coco lächelte. Es war das Lächeln, das Dorian an ihr so liebte und das er in letzter Zeit so selten gesehen hatte. Er stand auf, ging ins Badezimmer, wusch sich und putzte sich die Zähne. Dann legte er seine Kleider über den linken Arm und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Coco hatte das Licht abgedreht. Er legte seine Kleider über einen Stuhl und ging zum Bett. Er schlug das Bettlaken zurück, legte sich auf den Rücken und schloß die Augen. Da spürte er die Bewegung neben sich. Langes seidiges Haar fiel auf sein Gesicht, und feste Brüste preßten sich gegen seinen Körper. Cocos heiße Lippen waren auf den seinen. Er erwiderte ihren Kuß heftig, und sein Verlangen erwachte. Dorian und Coco saßen beim Frühstück. Dorian aß einen Teller Bohnen in Tomatensauce und gebratenen Speck. Coco hatte sich noch immer nicht an das englische Frühstück gewöhnen können; sie aß zwei weichgekochte Eier und ein mit Butter bestrichenes Brötchen.
Miß Pickford kam ins Zimmer. Der Dämonenkiller warf ihr einen mißmutigen Blick zu. Er bezeichnete sie gelegentlich als seinen Sargnagel. »Phillip schläft noch«, sagte sie. »Deshalb hätten Sie wirklich nicht kommen müssen«, sagte Hunter vorwurfsvoll. »Deswegen bin ich ja auch nicht gekommen. Ein neuer Exekutor Inquisitor ist da. Er …« »Was sagen Sie da?« fragte der Dämonenkiller ungehalten und betupfte sich die Lippen. »Sie haben richtig gehört, Mr. Hunter. Er heißt Leslie Mitton.« Dorian und Coco wechselten einen Blick. »Sagen Sie ihm, daß er im Wohnzimmer warten soll, Miß Pickford! Nach dem Frühstück werde ich mit ihm sprechen.« Der Dämonenkiller wartete, bis die Haushälterin aus dem Zimmer war, dann beugte er sich wütend vor. »Ein neuer E. I.«, zischte er, nur mühsam seine Wut unterdrückend. »Mir reicht Marvin Cohen. Wir brauchen keinen neuen Mann. Außerdem hätte mich Sullivan ruhig vorher verständigen können.« Coco schenkte sich eine Tasse Tee ein. »Denk an deine Nerven! Der O. I. wird ohnedies wütend sein, daß du ihm noch keinen Bericht gegeben hast.« »Mir reicht es langsam«, knurrte er. »Teilweise ist es ja ganz angenehm, den Secret Service hinter sich zu haben, aber anderseits sind uns die Hände gebunden. Für jedes und alles brauchen wir die Zustimmung des O. I. Und das paßt mir überhaupt nicht. Ich will auf keinen Menschen Rücksicht nehmen müssen. Das behindert nur unsere Arbeit.« »Du hast recht, Dorian, aber wir brauchen nun einmal die finanzielle Unterstützung.« Hunter lehnte sich zurück. Er wußte, daß Coco recht hatte. Sie hatten dieses Thema schon oft durchdiskutiert. Es war einfach so, daß sie auf die Hilfe – und vor allem das Geld – des Geheimdienstes angewiesen waren; vorläufig zumindest. Und wie es im Augenblick aussah, würde es wohl noch lange Zeit so bleiben. »Manchmal kom-
me ich mir wie ein Beamter vor«, sagte der Dämonenkiller ungehalten. »Ich bin gespannt, wann die Brüder Spesenabrechnungen in achtfacher Ausführung anfordern.« Er schob den Teller zur Seite und steckte sich eine Zigarette an. »Sehen wir uns den Neuen an?« Er stand auf. Coco trank ihre Tasse leer und folgte ihm ins Wohnzimmer. Bei seinem Eintritt stand ein schlanker, mittelgroßer Mann auf. Er war Dorian Hunter auf Anhieb unsympathisch. »Dorian Hunter«, stellte sich der Dämonenkiller vor, dann zeigte er mit dem Kopf auf seine Lebensgefährtin. »Coco Zamis.« Der neue Agent deutete eine knappe Verbeugung an. »Leslie Mitton. Der O. I. schickt mich. Ich soll die Stelle von Steve Powell einnehmen.« Hunter nickte. »Setzen Sie sich!« Er wartete, bis Mitton seiner Aufforderung nachgekommen war; dann ließ er sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder. Mittons Gesicht war so durchschnittlich, daß man es sicherlich nach wenigen Sekunden wieder vergessen hatte. Das kurze Haar war dunkelbraun und leicht gewellt. Am rechten Ringfinger glitzerte ein protziger Siegelring. Er trug einen billigen braunen Anzug und eine dunkelgrüne Krawatte. »Zigarette?« fragte Hunter und hielt Mitton das Päckchen hin. »Danke, ich rauche nicht.« »Einen Drink vielleicht?« »Dazu ist es noch zu früh. Vielleicht eine Cola.« Na ja, jeder muß ja nicht so wie ich ein Raucher und Trinker sein, dachte Hunter. »Der O. I. läßt Ihnen bestellen, daß er in einer Stunde kommen wird, Mr. Hunter.« »Danke für die Information.« Er musterte Mitton. Was fange ich bloß mit diesem Kerl an? überlegte er. Gibt es denn keine Möglichkeit, ihn schnell wieder loszuwerden? »Seit wann sind Sie beim Secret Service, Mr. Mitton?« »Seit sechs Jahren. Ich weiß über die Abteilung Bescheid, die Sie leiten, Mr. Hunter. Mr. Sullivan hat mich informiert.«
»Und was halten Sie von unserer Abteilung?« Mitton klopfte mit der rechten Hand auf seine Knie. »Dazu will ich im Augenblick keine Stellung beziehen.« Jetzt wußte Hunter, was ihn an Mitton störte. Es waren die weit auseinanderstehenden Augen, die fast farblos waren und so freundlich wie Kieselsteine dreinblickten. »Glauben Sie an Dämonen, Mr. Mitton?« »Bis vor wenigen Tagen hätte ich Ihre Frage mit einem entschiedenen Nein beantwortet, doch jetzt denke ich anders.« Coco brachte ein Glas und eine Flasche Cola und stellte sie vor Mitton auf den Tisch. Er bedankte sich höflich. Die Tür wurde aufgerissen, und Marvin Cohen stapfte ins Zimmer. »Guten Morgen!« rief er und warf Coco einen unverschämten Blick zu. Er sah Hunter flüchtig an, dann baute er sich vor Mitton auf und kniff die Augen zusammen. »Hallo, Les! Lange nicht gesehen. Was treibst du bei uns?« »Mr. Mitton ist der neue E. I.«, erklärte Hunter. »Sag das noch mal!« brummte Cohen. »Es stimmt, Marvin«, sagte Mitton. »Das darf doch nicht wahr sein!« rief Cohen kopfschüttelnd. »Sie müssen Cohens loses Mundwerk entschuldigen«, erklärte Hunter. »Ich kenne ihn lange genug«, sagte Mitton böse. Cohen stand auf. »Entschuldigt mich«, sagte er und ging kopfschüttelnd aus dem Zimmer. Dieser Mitton wird nicht lange bei uns sein, dachte der Dämonenkiller zufrieden. Manchmal hat auch Marvin Cohen sein Gutes. Hunter war hundertprozentig sicher, daß Cohen den neuen E. I. innerhalb kürzester Zeit so fertigmachte, daß dieser blitzartig die Inquisitionsabteilung verlassen würde. »Mit Cohen kam niemand beim Geheimdienst gut aus«, sagte Mitton. »Wir waren alle froh, daß er versetzt wurde. Er war zu brutal und immer zu üblen Scherzen aufgelegt. Ich fürchte, daß es ständig Streitereien mit ihm geben wird, Mr. Hunter.« »Das fürchte ich auch«, sagte der Dämonenkiller. »Ich werde das
alles mit dem O. I. besprechen, sobald er kommt.«
Das Gesicht des O. I. war eine undurchdringliche Maske, als er in Hunters Arbeitszimmer trat. Trevor Sullivan war ein kleiner, schmächtig wirkender Mann, dessen Alter kaum zu schätzen war. Er trug einen dunklen Anzug mit weißen eingewebten Streifen. Er setzte sich, lehnte sich zurück und blickte den Dämonenkiller an, der sich hinter dem Schreibtisch niedergelassen hatte. Die beiden musterten sich einige Sekunden schweigend. »Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie mir augenblicklich nach Ihrer Rückkehr vom Kontinent Bericht erstatten würden«, sagte der O. I. gefährlich ruhig. »Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Sie vergessen anscheinend, daß Sie dem Geheimdienst angehören. In unserer Organisation kann nicht jeder tun und lassen, was ihm beliebt. Unser Budget ist beschränkt. Wir müssen Erfolge aufweisen, die ich bei Ihnen vermisse, Mr. Hunter.« Der Dämonenkiller hatte die Hände im Schoß gefaltet. Äußerlich wirkte er ruhig, nur die Halsschlagadern pochten stärker; aber innerlich war er mit einer Zeitbombe zu vergleichen, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Er zählte still bis zehn, griff nach den Zigaretten und zündete eine an. »Sie werden es mir nicht glauben, Mr. Sullivan«, sagte er grinsend, »ich hatte zu tun. Der Bericht war doch wohl wirklich nicht so eilig, oder?« Der O. I. knabberte an den Lippen. »Den Drudenfuß haben Sie bekommen, aber welche Erfolge können Sie noch aufweisen? Ist es Ihnen gelungen, die Dämonen-Drillinge zu töten? Nein. Sie kennen ja nicht einmal ihren Aufenthaltsort. Sie sind kreuz und quer durch Europa gefahren – und mit welchem Erfolg? Ein Goldener Drudenfuß. Was sind Sie? Ein Kunstsammler oder ein Dämonenkiller?« Mit Hunters Beherrschung war es vorbei. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sullivan«, sagte er wütend. »Sie sitzen in Ihrem warmen Büro, während wir uns mit Mitgliedern der Schwarzen Familie herumschlagen. Sie platzen einfach herein und reißen den Mund so
weit auf, daß ich Ihre Plomben sehen kann. Sie kanzeln mich wie einen kleinen Buben ab. Sie wußten von Beginn an, daß ich kein Beamtentyp bin, sondern unkonventionelle Methoden bevorzuge. Sie bekommen Ihren Bericht. Sie bekamen ihn immer. Weshalb jetzt auf einmal die Aufregung?« »Sie scheinen zu vergessen, daß auch ich Vorgesetzte habe, Hunter. Vorgesetzte, denen die Inquisitionsabteilung schon lange ein Dorn im Auge ist. Auf mich wird ständig Druck ausgeübt. Ich muß Erfolge aufweisen, sonst …« »… wird unsere Abteilung aufgelöst«, vollendete Hunter den Satz. Der O. I. nickte. »Sie sagen es. Aber lassen wir das vorerst. Geben Sie mir lieber einen kurzgefaßten Bericht.« Hunter drückte die Zigarette aus und verschränkte die Hände über dem Bauch. »Den Anfang haben Sie ja noch mitbekommen.« Er schilderte seine Erinnerung an die früheren Leben, in denen er den Drillingen begegnet war, und seine Reise zu Thören Rosqvana und nach Amsterdam, um den Goldenen Drudenfuß in die Hände zu bekommen. Der O. I. schwieg einige Sekunden, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Eine phantastische Geschichte.« Er runzelte die Stirn. »Sie sagten, daß der Drudenfuß wie auch die Drillinge verschwunden sind? Aber jetzt haben Sie den Drudenfuß doch in Ihrem Besitz.« »Stimmt«, sagte der Dämonenkiller. »Ich zeige Ihnen den Drudenfuß später. Ich bin noch immer sicher, daß die Dämonen-Drillinge damals nicht getötet wurden. Doch ich weiß nicht, wo sie sich aufhalten und wohin der Drudenfuß damals verschwand. Es ist mir überhaupt vieles unverständlich. Wieso fand ich später nie eine Spur der Drillinge? Sie müssen sich gut verborgen haben. Aber wo?« »Ich glaube, daß Sie da einem Hirngespinst nachjagen«, sagte der O. I. »Meiner Meinung nach sind diese Dämonen-Drillinge längst tot.« »Da muß ich Ihnen entschieden widersprechen.«, sagte Hunter scharf und beugte sich vor. »Olivaro hat sich gestern mit mir in Ver-
bindung gesetzt. Er behauptet, daß die Drillinge zu solch grauenvollen Monstern geworden sind, daß sie selbst für die Schwarze Familie eine Gefahr darstellen. Er wollte mir die Dämonen ausliefern, dafür sollte ich ihm den Drudenfuß geben. Ich habe abgelehnt.« »Das ist doch alles Unsinn! Olivaro hat Ihnen sicherlich einen Bären aufgebunden. Er will den Drudenfuß haben, was ja nur verständlich ist. Möglicherweise weiß er besser über seine Anwendungsmöglichkeiten Bescheid als Sie. Wenn die Drillinge noch leben würden, hätten sie in den vergangen vierhundertfünfzig Jahren sicherlich von sich hören lassen. Vergessen Sie das Ganze!« »Ich denke nicht daran«, sagte Hunter ungehalten. »Ich werde alles unternehmen, um zu erfahren, wo …« Der O. I. winkte ungeduldig ab. »Nehmen wir mal an, daß diese Monstren tatsächlich noch existieren. Wie wollen Sie sie finden, Hunter?« Der Dämonenkiller lehnte sich zurück. »Mir wird wahrscheinlich nichts anderes übrigbleiben, als mich mit Olivaro in Verbindung zu setzen.« »Das werden Sie schön bleiben lassen. Ich habe nämlich einen neuen Fall für Sie.« Hunter trommelte wütend mit der rechten Faust auf den Tisch und hob resigniert die Schultern. Es war ihm ziemlich gleichgültig, was der O. I. von den Dämonen-Drillingen hielt; er würde auf keinen Fall die Jagd nach ihnen aufgeben. »Es geht um einige verschwundene Touristen.« »Dafür ist doch wohl die Polizei zuständig.« »Hören Sie mir zuerst einmal zu«, sagte der O. I. ungeduldig. »Seit einiger Zeit häufen sich die Vermißtenmeldungen in London – genauer gesagt seit dem vergangenen Monat. Meist handelt es sich um Leute, die von einem Tag auf den anderen verschwanden, Leute, die in geordneten Verhältnissen lebten und einfach keinen Grund hatten unterzutauchen. Zweimal verschwanden aber auch ganze Reisegruppen, samt Fahrer und Reiseführer. Es handelte sich um Ausländer. Die Polizei fand keine Spuren. Keine der vermißten Personen tauchte jemals wieder auf. Vorgestern traf es wieder sechs Personen.
Sie wohnten in einem kleinen Hotel in der Old Kent Road. Der Hotelportier empfahl ihnen eine Fahrt durch das nächtliche London. Nach neun Uhr abends traf der Fahrer des Kleinbusses im Hotel ein. Die sechs Touristen stiegen ein und wurden seither nicht mehr gesehen.« »Und was ist mit dem Fahrer?« »Er heißt Jim Osmonde, und er ist nicht verschwunden. Die Polizei verhörte ihn, doch er behauptete, er könnte sich an nichts mehr erinnern. Er hat eine Gedächtnislücke von mehr als zehn Stunden. Und er simuliert nicht. Er kann sich tatsächlich nicht erinnern. Scotland Yard hat sich an uns gewandt. Ich habe mir diesen Jim Osmonde selbst vorgenommen und den Eindruck gewonnen, daß er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf ist. Er ist fahrig, nervös und verängstigt.« »Und was erwarten Sie nun von mir? Soll ich vielleicht die sechs Touristen suchen?« »Werden Sie nicht spöttisch. Es kam mir so vor, als sei Osmonde von einem Dämon besessen. Deshalb will ich, daß Sie sich dieses Falles annehmen.« »Ich bezweifle sehr stark, daß Sie beurteilen können, ob ein Mensch von einem Dämon besessen ist«, brummte Hunter. »Aber der neue E. I. den Sie mir geschickt haben, der kann sich ja …« »Das ist nichts für Mitton«, unterbrach ihn der O. I. »Coco Zamis und Marvin Cohen sollen sich diesen Jim Osmonde vornehmen. Hier haben Sie alle notwendigen Unterlagen.« Er öffnete seine Aktenmappe und zog einen Schnellhefter heraus, den er vor Hunter auf den Schreibtisch legte. »Und jetzt möchte ich gern diesen geheimnisvollen Drudenfuß sehen«, sagte er und stand auf.
Phillip saß mit Coco im Wohnzimmer. Der Hermaphrodit trug ein einfaches blusenartiges Hemd und lange, schwarze Hosen. Die Arme hatte er über der Brust gekreuzt und die Fingernägel in die Schultern gekrallt. Er atmete heftig. »Die Glocken«, sagte Coco sanft. »Erzähl mir etwas über die Glocken, Phillip!«
»Jetzt läuten sie nicht«, flüsterte das Zwitterwesen. »Aber sie werden wieder läuten.« »Wann, Phillip?« »Sie läuten jetzt oft. Zu oft.« Coco blieb geduldig. Sie wußte, daß es nur in den seltensten Fällen gelang, Phillip zu einer klaren Aussage zu bringen. Er wollte ihnen oft Hinweise geben, doch meist blieben sie so verworren, daß man sich kein Bild machen konnte. »Wo sind die Glocken?« bohrte sie weiter. Das Gesicht des Hermaphroditen bekam einen hilflosen, fast stupiden Ausdruck. »Nicht weit von hier entfernt …« Die Finger verkrallten sich stärker in seinen Schultern. Coco hob den Kopf, als der O. I. und Dorian ins Zimmer traten. »Was ist mit Phillip los?« fragte Sullivan. »Ist er krank?« Coco schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Er spricht wieder einmal wirr und scheint vor etwas ganz entsetzlich Angst zu haben.« »Wovor?« »Vor den Glocken, die den Tod bringen«, erklärte der Dämonenkiller. »Nie davon gehört.« »Wir haben auch nie etwas davon gehört«, meinte Hunter und holte den Drudenfuß aus dem Tresor. Phillip setzte sich kerzengerade auf und wimmerte leise. Seine Augen wurden groß. Er heftete seinen Blick auf den Drudenfuß und streckte beide Arme aus. »Das ist also der geheimnisvolle Drudenfuß«, sagte der O. I. Hunter nickte und stellte ihn auf den Tisch. Der O. I. setzte sich und starrte die sonderbare Waffe an. »Sieht eigentlich recht harmlos aus. Sie sagten, daß er die Farbe, das Gewicht und die Größe ändern kann?« Er brummte nachdenklich. »Wir sollten ihn von einigen Spezialisten untersuchen lassen. Vielleicht bekommen sie etwas heraus.« »Wir geben den Drudenfuß auf keinen Fall aus der Hand. Ich bin sicher, daß Phillip sein Geheimnis lösen wird. Er wird magisch von
ihm angezogen. Sehen Sie selbst!« Phillips Gesicht hatte einen verzückten Ausdruck angenommen. Vorsichtig streckte er die rechte Hand aus und hielt sie über den Drudenfuß. Sekundenlang geschah nichts. Dann wanderte eines der magischen Symbole höher, und die fünf Stäbe begannen zu wachsen. »Das ist allerdings recht eindrucksvoll«, sagte der O. I. Phillip berührte eines der Symbole mit dem Zeigefinger, zuckte zurück und wimmerte leise. Plötzlich war ein lauter Knall zu hören. Eine kostbare chinesische Bodenvase, die in einer Ecke des Zimmers stand, zerbarst in tausend Stücke. Dann hörten sie einen lauten Schrei und einen dumpfen Laut, als wenn etwas Schweres auf den Boden schlug. Hunter sprang auf und rannte in die Küche. Martha Pickford lag bewußtlos auf der Erde. Er kniete neben ihr nieder, wälzte sie auf den Rücken, hob sie hoch, trug sie ins Wohnzimmer und bettete sie auf die Couch. Phillip starrte den Drudenfuß an. Sein Ausdruck änderte sich ständig; einmal sah er fast verklärt aus, Sekunden später spiegelte sich entsetzliche Angst in seinem Gesicht. »Das Herumhantieren mit dem Drudenfuß kann gefährlich sein«, sagte Hunter. »Sie wollen doch nicht sagen, daß das Zersplittern der Vase und Miß Pickfords Ohnmacht durch Phillips Berührung ausgelöst wurde?« Miß Pickford bewegte sich leicht. Sie schlug die Augen auf und hob den Kopf. Mit beiden Händen griff sie sich an die Stirn. »Wie fühlen Sie sich, Miß Pickford?« fragte Hunter. »Schwach«, sagte sie krächzend. »Ich bekam auf einmal einen Schlag gegen die Stirn, dann wurde es schwarz um mich.« Sie setzte sich auf, schüttelte den Kopf und blickte den Drudenfuß an. »Dieser Gegenstand ist gefährlich. Sperren Sie ihn in den Tresor, Mr. Hunter!« Marvin Cohen stürzte ins Zimmer. Er blieb schweratmend stehen und blickte sich ratlos um. Mit heiserer Stimme sagte er: »Ich hatte
die Befürchtung, daß etwas geschehen sein könnte.« »Und wie kommen Sie zu dieser Vermutung, Cohen?« fragte der O. I. gespannt. »Ich war auf der Straße, und da …« Er hatte sich setzen wollen, und dabei fiel sein Blick auf die Scherben. »Wer hat die Vase zertrümmert?« »Das erkläre ich dir später«, schaltete sich Hunter ein. »Erzähl du zuerst.« »Ich wollte meinen Wagen in den Garten fahren. Plötzlich ist der Motor abgestorben. Ein junges Mädchen mit einem Fahrrad fuhr gerade vorbei. Die Räder wurden von einer unsichtbaren Kraft zusammengedrückt, und das Mädchen fiel zu Boden und blieb bewußtlos liegen. In den gegenüberliegenden Häusern zerbarsten einige Scheiben, und ein paar Dachziegeln fielen auf die Straße. Ich kümmerte mich kurz um das Mädchen und rannte dann ins Haus.« »Du hast recht«, sagte Hunter und stand auf. »Es ist etwas geschehen. Phillip hat eines der Symbole auf dem Drudenfuß berührt. Dadurch wurde die Vase zerstört, und Miß Pickford erlitt einen Ohnmachtsanfall.« »Aber wir haben nichts gespürt«, sagte der O. I. »Sperren Sie das Teufelsding fort!« kreischte Miß Pickford mit schriller Stimme. »Wir müssen die Wirkungsweise des Drudenfußes ergründen«, erklärte der Dämonenkiller. »Davon würde ich dringend abraten«, sagte der O. I. »Es ist einfach unverantwortlich, wenn Sie Phillip weiterhin mit dem Drudenfuß spielen lassen. Da hilft nur eine wissenschaftliche Untersuchung. Ich werde den Drudenfuß einigen Spezialisten vorlegen, die …« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich ihn nicht aus den Händen gebe.« Hunter hob den Drudenfuß vorsichtig hoch. »Nicht!« sagte Phillip laut. »Nicht einsperren!« Doch Hunter hörte nicht auf ihn. Er legte den Drudenfuß in den Tresor und schloß die Tür. Phillip heulte enttäuscht auf. Er ließ sich trotzig zurücksinken und ballte die Fäuste. Seine Lippen bewegten
sich, und er stieß seltsame Laute aus. »Miß Pickford«, sagte Hunter, »bringen Sie Phillip in sein Zimmer!« Zu Hunters Überraschung ließ sich der Junge willig von ihr aus dem Wohnzimmer führen. »Vergessen Sie für einige Zeit den Drudenfuß, Hunter«, sagte der O. I. »Sie haben einen neuen Fall. Coco sollte es möglich sein herauszufinden, ob Osmonde von Dämonen beeinflußt wurde.«
Nachdem der O. I. gegangen war, studierte der Dämonenkiller zusammen mit Coco und Cohen die Unterlagen, die den neuen Fall betrafen. Die Polizei und der Secret Service hatten gründlich gearbeitet. Unter den Papieren fand sich auch eine Aufstellung aller Vermißten der vergangenen zehn Jahre. Es stimmte tatsächlich: Seit einigen Wochen war die Zahl der Vorfälle sprunghaft angestiegen, und am überraschendsten war, daß es hauptsächlich größere Touristengruppen gewesen waren, die verschwanden. Hunter sah sich die Karteikarte Jim Osmondes an. Er war vierzig Jahre alt, nicht vorbestraft, seit zehn Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder. Vor sechs Jahren hatte er sich selbständig gemacht. Er hatte mit einigen Hotels und Lokalen Arrangements getroffen, die ihm für seine Stadtrundfahrten Touristen vermittelten. »Seht euch diesen Osmonde mal unauffällig an!« sagte Hunter. »Tretet aber nicht mit ihm in Kontakt! Verfolgt ihn und versucht herauszufinden, ob er sich irgendwie ungewöhnlich verhält. Wenn ich ehrlich sein soll, dann glaube ich noch immer nicht, daß dies ein Fall für uns ist. Da ist die Polizei zuständig.« »Das glaube ich auch«, brummte Cohen und stand auf. »Und was ist mit unserer Jagd auf die Dämonen-Drillinge?« fragte Coco. »Die geht natürlich weiter. Ich hätte gute Lust, Phillip weiter mit dem Drudenfuß spielen zu lassen, aber es ist doch zu gefährlich. Wir wissen nicht, welche unheimlichen Kräfte dadurch freigesetzt werden. Vielleicht fällt mir eine andere Möglichkeit ein, wie wir an sie
herankommen können.« Coco nickte. »Ich bin ziemlich sicher, daß sich die Schwarze Familie mit uns in Verbindung setzen wird. Sie will den Drudenfuß. Ich glaube, Geduld ist alles, was wir jetzt brauchen.« »Möglich. Aber es liegt mir nicht besonders, zu warten, bis die Gegenseite etwas unternimmt. Und wahrscheinlich denkt sie sich etwas Böses aus.« »Wir sind Kummer gewohnt«, sagte Cohen lässig. »Sehen wir uns mal diesen Osmonde an.« Der Dämonenkiller blieb hinter dem Schreibtisch sitzen und sah Coco und Cohen nach. Er hatte mit dem O. I. auch kurz über den neuen Mann gesprochen. Sullivan hatte darauf bestanden, daß Leslie Mitton vorerst bei der Inquisitionsabteilung blieb. Hunter stand unwillig auf und legte Osmondes Karteikarte in den Schnellhefter zurück, nachdem er noch flüchtig einen Blick auf das Foto des Mannes geworfen hatte. Er schob den Schnellhefter in eine Lade des Schreibtisches und verschloß sie. Langsam ging er aus seinem Arbeitszimmer. Don Chapman, der Puppenmann, kam ihm entgegen. Chapman hielt sich in letzter Zeit meist in seinem Zimmer auf oder blieb bei Phillip, mit dem er sich recht gut verstand. Hunter grinste und hob den dreißig Zentimeter großen Mann auf seinen rechten Arm. »Ich war gerade bei Phillip«, sagte Don Chapman und runzelte die Stirn. »Er hat mich überhaupt nicht beachtet. Er liegt in seinem Zimmer auf dem Bauch und zeichnet Gesichter. Einige sind nur angedeutet, doch einige überraschend gut ausgeführt.« »Das will ich mir mal ansehen.« Als sie das Zimmer betraten, lag Phillip auf dem Bauch. Vor sich hatte er einen Zeichenblock liegen; in der rechten Hand hielt er einen Filzschreiber. Hunter blieb neben dem Hermaphroditen stehen, der ihn keines Blickes würdigte. Schließlich zog er sich einen Stuhl heran, setzte sich und stellte Chapman auf den Boden. Der Puppenmann sammelte die Zeichnungen zusammen und reichte sie Hunter, der sie der Reihe nach ansah. Die ersten drei Zeichnungen waren ziemlich primitiv geraten: schlecht ausgeführte
Männerköpfe. Die vierte Zeichnung war wesentlich besser; sie zeigte eine dunkelhaarige Frau mit großen, weit aufgerissenen Augen. Hunter starrte die fünfte Zeichnung an und stutzte. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Was ist?« »Hm«, brummte der Dämonenkiller und stand auf. »Komm mal mit, Don!« Er hob den Puppenmann hoch und ging in sein Arbeitszimmer. Chapman setzte sich auf die Tischplatte und ließ die Beine herunterbaumeln. »Sieh dir mal diese Zeichnung genau an!« sagte Hunter und sperrte den Schreibtisch auf. Chapman beugte sich über das Blatt. Es zeigte einen hohlwangigen, etwa vierzig Jahre alten Mann, der weit auseinanderstehende, dunkle Augen hatte und lange Koteletten trug. Hunter holte Osmondes Foto hervor und legte es neben Phillips Zeichnung. Die Ähnlichkeit der Bilder war überraschend. »Das ist derselbe Mann«, erklärte Chapman. »Ich habe mich also nicht getäuscht«, sagte Hunter nachdenklich. »Phillip kann das Foto Osmondes nie zuvor gesehen haben. Trotzdem glaube ich nicht an einen Zufall. Phillip will uns etwas sagen.« »Aber was?« Der Dämonenkiller berichtete Don von dem neuen Fall, den Sullivan ihm übertragen hatte. »Ich kann mir nur vorstellen, daß uns Phillip sagen will, daß wir auf diesen Osmonde achten sollen«, sagte Chapman. »Möglich. Sehen wir nach, ob er noch weitere Zeichnungen angefertigt hat.« Phillip hatte mit dem Zeichnen aufgehört. Er saß jetzt auf dem Bett und starrte vor sich hin. Das tat er oft stundenlang, und Hunter gewann dabei immer wieder den Eindruck, er würde einer unhörbaren Stimme lauschen, einer Stimme, die nur der Hermaphrodit verstehen konnte. Auf dem Boden lagen noch einige Zeichnungen. Zwei stellten Frauen dar, drei weitere Männer, die aber ziemlich schlecht ausge-
führt waren. Die letzte Zeichnung paßte nicht zu den anderen. Sie zeigte einen hockenden Engel, der die Flügel weit gespreizt hatte. Der Engel war schwarz, das Gesicht eine verzerrte Fratze mit einer langen Zunge. »Ein schwarzer Engel«, sagte Hunter. »Was will er uns damit sagen?« »Keine Ahnung«, murmelte Chapman. »Phillip!« Hunter schüttelte den Jungen an der Schulter. Doch der Hermaphrodit erwachte nicht aus seinem tranceartigen Zustand. »Laß ihn, Dorian! Phillip befindet sich im Augenblick in einer Welt, die wir nicht kennen, die wir nicht verstehen.« Der Dämonenkiller nickte und sammelte die Zeichnungen ein. »Ich werde später versuchen, mit Phillip zu sprechen.« »Ich werde bei ihm bleiben.« Hunter zog sich ins Wohnzimmer zurück und studierte Phillips Zeichnungen ganz genau. Dann legte er sie zur Seite und dachte nach. Gestern abend hatte Phillip etwas von Glocken gemurmelt, die den Tod einläuten würden; und heute zeichnete er die Köpfe einiger Leute und dazu einen schwarzen Engel. Bestand da irgendein Zusammenhang, oder hatte das eine überhaupt nichts mit dem anderen zu tun? Das Sprechfunkgerät schlug an. Der Dämonenkiller hob den Hörer ab und drückte auf eine Taste. »Wir haben Osmonde gefunden«, meldete sich Coco. »Wir verfolgen ihn. Er absolviert im Augenblick gerade eine Besichtigungstour mit einigen Touristen. Wir sind zur Zeit bei der Westminster Abbey.« »Welchen Eindruck macht er auf dich?« »Einen ganz normalen. Ich habe keine dämonische Ausstrahlung feststellen können, obwohl ich ihm einige Minuten gefolgt bin.« »Trotzdem sollten wir das ganze nicht zu leicht nehmen«, meinte Hunter und berichtete von den Zeichnungen, die Phillip angefertigt hatte. »Er will uns einen Hinweis geben, aber ich verstehe nicht, was er uns sagen will.«
»Ich auch nicht«, gestand Coco. »Aber das ändert die Situation doch einigermaßen. Wir werden Osmonde weiterhin beobachten. Sobald sich etwas Neues ergibt, melde ich mich.« Coco unterbrach die Verbindung, und Hunter wanderte wieder ruhelos im Zimmer auf und ab. Der neue E. I. hatte Sullivan begleitet. Er sollte weitere Unterlagen über die verschwundenen Touristen bringen. Eigentlich hätte Mitton schon längst zurück sein müssen. Hunter setzte sich, rauchte eine Zigarette und dachte weiter nach. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Mitton ins Zimmer trat. Der Agent trug eine Aktenmappe, die er unter den rechten Arm geklemmt hatte. Er war in einen Mantel gekleidet, und auf seinem Kopf saß eine hohe Pelzkappe. »Wo haben Sie so lange gesteckt?« fragte Hunter ungehalten und stand auf. Mitton blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Seine Augen waren glasig. »Was ist mit Ihnen los?« »Ich soll Ihnen etwas ausrichten, Mr. Hunter«, sagte Mitton stockend und schluckte. »Von einem Hector Reese.« »Nie gehört.« »Er läßt Ihnen bestellen, daß er Sie im Harmsworth Park um zweiundzwanzig Uhr treffen will. Ich soll Ihnen sagen, daß er einer der Paten ist.« Mitton schluckte, dann änderte sich der Ausdruck seiner Augen. »Hier sind die Unterlagen, die Ihnen der O. I. schicken läßt.« Hunter musterte den Agenten genau. »Erinnern Sie sich daran, was Sie eben gesagt haben, Mitton?« »Natürlich. Ich sagte, hier sind die Unterlagen, die …« »Ich meine, davor.« »Davor? Sie müssen sich irren, Mr. Hunter.« »Ziehen Sie sich den Mantel aus und setzen Sie sich!« Mitton folgte. »Sie sagten, daß mir Hector Reese, einer der Paten, bestellen läßt, daß ich ihn um zweiundzwanzig Uhr im Harmsworth Park treffen soll. Können Sie sich daran erinnern, Mitton?«
»Nein«, sagte der Agent völlig verwirrt. »Hm«, brummte Hunter. »Das dachte ich mir. Ist Ihnen irgend etwas Besonderes während der Fahrt vom O. I. zu mir her aufgefallen?« »Nein, nichts.« Hunter überlegte kurz. Mitton war in den Fall mit dem goldenen Drudenfuß nicht eingeweiht. Er konnte also auch nicht wissen, daß er von Olivaro verlangt hatte, mit einem der noch lebenden Paten der Dämonen-Drillinge zu sprechen. Für Hunter gab es keinen Zweifel, daß Mitton von einem Dämon beeinflußt worden war. Coco hatte mit ihrer Vermutung recht behalten; die Schwarze Familie hatte sich mit ihm in Verbindung gesetzt. »Versuchen Sie sich zu erinnern!« drängte er. »Denken Sie nach! Haben Sie irgendeine Gedächtnislücke?« Mitton konzentrierte sich. »Ja, da war etwas«, sagte er nach einiger Zeit. »Als ich in den Wagen stieg, verschwamm für kurze Zeit alles vor meinen Augen. Aber das dauerte nur wenige Sekunden.« Das Telefon läutete. Hunter hob ab und meldete sich. »Haben Sie meine Nachricht bekommen, Mr. Hunter?« Die Stimme war tief und melodiös. »Sind Sie Hector Reese?« »Werden Sie kommen, Mr. Hunter?« »Das muß ich mir noch gut überlegen«, sagte der Dämonenkiller. »Tun Sie das meinetwegen. Und noch eines: Kommen Sie allein! Ich werde auch allein sein. Und ich kann Ihnen garantieren, daß unser Gespräch interessant sein wird.« Hunter starrte den Hörer an. Der Anrufer hatte aufgelegt. Er legte den Hörer auf die Gabel und sah Mitton an. »Wollen Sie mir nicht endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat, Mr. Hunter?« »Sie wurden von einem Mitglied der Schwarzen Familie beeinflußt«, sagte Hunter. »Sie sollten mir etwas ausrichten, und das haben Sie getan. Geben Sie mir bitte die Unterlagen, die Ihnen der O. I. mitgegeben hat!« Mitton war noch immer verwirrt. Er reichte Hunter die Mappe.
Der Dämonenkiller öffnete sie und holte einige Papiere hervor. Er blätterte sie rasch durch und lachte überrascht auf: Kopfschüttelnd sah er einige Fotos an. Es handelte sich um Paßbilder von vier der vorgestern verschwundenen Touristen. Die Fotos wiesen überraschende Ähnlichkeiten mit den Porträts auf, die Phillip vor wenigen Stunden gezeichnet hatte. Das konnte kein Zufall sein. Phillip wollte ihnen eine Nachricht geben, eine wichtige Mitteilung. Hunters Entschluß stand fest. Coco und Cohen würden weiterhin Osmonde überwachen, er selbst würde um zweiundzwanzig Uhr in den Harmsworth Park gehen.
Hunter stellte seinen Wagen in der Gladstone Street ab. Er hatte noch fünfzehn Minuten Zeit. Von seinem Standplatz aus hatte er einen guten Blick auf den Harmsworth Park. Hinter den kahlen Ästen der Bäume zeichneten sich die Umrisse des Imperial War Museums ab. Der Dämonenkiller hatte beschlossen, sich allein mit Hector Reese zu treffen. Er glaubte nicht, daß er dabei ein großes Risiko einging. Coco und Cohen hatten Jim Osmonde beobachtet, doch nichts Verdächtiges feststellen können. Osmonde war zur Zeit wieder mit einigen Touristen unterwegs, und er hielt sich genau an seine übliche Route. Hunter öffnete das Fenster des Rover, und kühle, milchige Luft drang ins Innere. Es war ein scheußlicher Dezembertag, neblig und kalt. Der Dämonenkiller war auf das Gespräch mit Hector Reese neugierig. Er war gespannt, welche Vorschläge der Pate der Dämonen-Drillinge vorbringen würde. Einige Autos fuhren vorbei, doch kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Hunter schaltete das Sprechfunkgerät ein und stellte Verbindung mit Coco her. Sie meldete sich sofort. »Wo steckt ihr?« »In Soho. Osmonde führt seine Fahrgäste gerade in ein heruntergekommenes Strip-Lokal. Und wo bist du?« »Ich gehe jetzt zu meiner Verabredung. Ich nehme das kleine
Sprechgerät mit. Sollte irgend etwas Besonderes sein, dann könnt ihr mich ja jederzeit erreichen.« »Ich drücke dir die Daumen, daß alles erfolgreich verläuft.« »Wird schon schiefgehen.« Er schob ein schmales Sprechfunkgerät in die rechte Manteltasche, schloß das Wagenfenster, zündete sich eine Zigarette an und öffnete die Wagentür. Während er den Wagen absperrte, sah er sich aufmerksam um, stellte dann den Mantelkragen auf und vergrub die Hände in den Taschen. Er ging die Gladstone Street entlang und überquerte die breite Georges Road. Vor dem Park blieb er stehen. Die feuchte Kälte fraß sich durch seinen kurzen Mantel, und sein Atem hing wie ein Wattebausch vor seinen Lippen. In der Georges Road herrschte mehr Verkehr, doch auch hier waren keine Fußgänger zu sehen. Vor einem der Eingangstore des Parks blieb er stehen. Zu seiner Überraschung war es nicht abgesperrt. Er drückte die Klinke nieder und trat in den Park. Ein gewundener Weg lag vor ihm, der sich in der Dunkelheit verlor. Ein leichter Wind bewegte die blätterlosen Bäume. Hunter blieb einige Sekunden stehen. Nur der Verkehrslärm war zu hören. Nach wenigen Schritten verschmolz der Dämonenkiller mit der Dunkelheit. Der Kies knirschte unter seinen Schritten. Er war nicht schutzlos. Überall unter seinem Mantel befanden sich Dämonenbanner, und er hatte seinen Körper mit magischen Zeichen bemalt. Seine rechte Hand umspannte die Pistole, die mit silbernen geweihten Kugeln geladen war. Hunter blickte auf die Uhr. Es war zwei Minuten vor zweiundzwanzig Uhr. Langsam ging er weiter. Er entfernte sich immer mehr von der Straße, und der Verkehrslärm war nur noch ein sanftes Rauschen und nach einiger Zeit nicht mehr zu hören. Dann sah er das flackernde, blaue Licht. Es umtanzte einen seltsam gewachsenen Baum. Das Licht wurde stärker, und die Umrisse einer hochgewachsenen Gestalt waren zu sehen. Hunter kam näher. »Guten Abend!« sagte die Gestalt. »Sie sind allein gekommen. Das ist gut so.« Hunter ging drei Schritte weiter.
»Bleiben Sie stehen, Mr. Hunter! Sie haben sich geschützt. Ich spüre die Ausstrahlung der Dämonenbanner. Aber auch ich bin nicht schutzlos. Sie können mich nicht angreifen. Ich habe eine magische Sperre um den Baum gezogen. Kommen Sie nicht näher! Das wäre Ihr Tod.« Der Dämonenkiller trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. Die flackernden, blauen Lichter tanzten auf den Ästen des Baumes. So sehr sich Hunter auch bemühte, er konnte nur die Konturen der Gestalt vor sich ausmachen. »Sie sind Hector Reese, einer der Paten der Dämonen-Drillinge?« »Ja, der bin ich.« Die Stimme klang stolz. »Hat Sie Olivaro geschickt?« »Nein«, sagte der Dämon. »Aber er hat mir von seinem Gespräch mit Ihnen erzählt. Sie wollen keine Vernunft annehmen und glauben noch immer, daß es Ihnen gelingen wird, die Dämonen-Drillinge aufzuspüren. Doch sie sind zu gut versteckt. Sie können sie aber haben, Mr. Hunter. Ich will nur eines: den Drudenfuß.« »Und den bekommen Sie nicht«, sagte Hunter kühl, »bevor ich nicht mehr weiß. Ich habe keine Garantie dafür, daß Sie Ihr Versprechen halten. Ich traue Ihnen nicht, Reese.« »Das kann ich mir denken. Aber ich will nicht viel, Mr. Hunter. Sie geben mir den Drudenfuß, und dafür liefere ich Ihnen die Drillinge aus. Es ist ein einfacher Tausch.« »Ein einfacher Tausch, sagen Sie. Dem kann ich nicht zustimmen. Ich will endlich wissen, weshalb die Schwarze Familie so sehr daran interessiert ist, daß die Drillinge verschwinden.« »Sie waren schon immer neugierig«, sagte Reese. Die Lichter irrten im Geäst des Baumes umher. »Aber ich kann Ihre Neugierde verstehen. Ich schlage Ihnen folgendes vor: Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit hierher, dann werde ich Sie zu einem interessanten Ort bringen. Dort werden Sie die volle Wahrheit erfahren.« »Und weshalb können wir nicht sofort dorthin gehen?« fragte Hunter. »Haben Sie den Drudenfuß bei sich?« »Nein, er ist gut aufgehoben.«
»Dann nehmen Sie ihn morgen mit. Sie werden …« Das Piepsen des Sprechfunkgerätes war überlaut zu hören. Hunter holte es aus der Tasche und drückte auf den Empfangsknopf. »Wir werden überfallen!« hörte er Miß Pickfords Stimme. »Einige maskierte Männer sind ins Haus eingedrungen. Sie haben Chapman und Mitton betäubt. Ich habe mich mit Phillip im Wohnzimmer eingesperrt, aber sie sprühen durch das Schlüsselloch Gas. Ich spüre, daß das Gas zu wirken beginnt. Kommen Sie rasch, Mr. Hunter! Ich …« Ihre Stimme brach ab. Gurgelnde Geräusche waren zu hören, dann herrschte Stille. Hunter hielt den Atem an. »Da stecken Sie dahinter, Reese!« brüllte er plötzlich. »Sie haben mich hierher gelockt, damit Ihre Kumpane ungestört in die Villa eindringen konnten. Sie werden …« »Ich garantiere Ihnen, daß ich mit diesem Überfall nicht das geringste zu tun habe, Mr. Hunter.« »Sie lügen!« schrie Hunter wütend. »Ich glaube Ihnen kein Wort.« Seine Hand zuckte nach der Pistole. »Lassen Sie die Pistole stecken!« schrie Reese. »Die Waffe würde sich nur gegen Sie richten.« Hunter hielt mitten in der Bewegung inne. Die blauen Lichter umtanzten jetzt die dunkle Gestalt. »Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit wieder, Hunter!« Die Lichter erloschen, und die schemenhafte Gestalt des Dämons verschwand. Der Dämonenkiller erwachte aus seiner Erstarrung. Er sprintete los, dabei hielt er das Sprechfunkgerät an seine Lippen und stellte die Verbindung mit Coco her. »Die Villa wurde überfallen«, rief er ins Mikrophon. »Fahrt sofort hin!« »Verstanden«, sagte Coco. Der Dämonenkiller steckte das Gerät ein und raste durch den Park. Er riß das Tor auf, hastete über die Straße, sperrte den Wagen auf und startete. Rücksichtslos reihte er sich in den Verkehr ein und überholte wie ein Verrückter eine Wagenkolonne, die wütend hinter ihm her hupte. Immer wieder versuchte er, Verbindung mit der Vil-
la herzustellen, doch niemand meldete sich. Das Gartentor stand offen. Hunter fuhr in den Garten und blieb vor dem Haus stehen. Er zog seine Pistole, rannte die Stufen zur Haustür hinauf, drückte die Tür auf und blieb stehen. Ein süßlicher Geruch hing in der Luft, der sich schwer auf die Lungen legte. Seine Augen tränten; er hustete, preßte sich ein Taschentuch vor die Nase und eilte weiter. Chapman und Mitton lagen bewußtlos in der Diele. Die Tür zum Wohnzimmer stand sperrangelweit offen. Miß Pickford lag vor dem Tisch. Von Phillip war nichts zu sehen. Der Tresor war offen, der Drudenfuß verschwunden. Hunter stürzte zu den Fenstern und riß sie auf. Seine Augen tränten noch immer. Er beugte sich aus einem Fenster und sog die kühle Nachtluft in die Lungen. Das Betäubungsgas zog langsam ab. Er wischte sich die Tränen ab und sah sich im Zimmer um. Eines stand fest. Es konnten auf keinen Fall Dämonen gewesen sein, die den Drudenfuß geraubt hatten, denn die unzähligen Dämonenbanner und Fallen machten es Mitgliedern der Schwarzen Familie unmöglich, ins Haus einzudringen. Aber es war durchaus möglich, daß die Schwarze Familie einige normale Gangster beauftragt hatte. Coco und Cohen stürzten durch die Tür. »Phillip und der Drudenfuß sind verschwunden«, sagte der Dämonenkiller und ballte wütend die Fäuste. »Damit hätten wir eigentlich rechnen sollen.« Cohen verzog das Gesicht. »Wir müssen den O. I. verständigen.« »Das kann warten. Zuerst brauchen wir einen Bericht, was tatsächlich geschehen ist. Martha Pickford sagte mir nur, daß maskierte Männer ins Haus eingedrungen wären.« Coco hatte die Haushälterin flüchtig untersucht. »Sie ist nur bewußtlos.« »Vielleicht sollten wir einen Arzt rufen«, meinte Cohen. »Völlig unnötig«, stellte der Dämonenkiller fest. »Die Eindringlinge hatten es nur auf Phillip und den Drudenfuß abgesehen. Wahrscheinlich wurden die anderen mit Chloroform betäubt. Es wird ei-
nige Zeit dauern, bis sie erwachen und eine klare Aussage machen können.« Er schlüpfte wütend aus seinem Mantel und warf ihn über einen Stuhl. »Durchsuchen wir erst einmal das Haus und den Garten«, sagte Coco. »Vielleicht wurde Phillip gar nicht entführt. Möglicherweise steckt er irgendwo.« Doch die Suche erbrachte nichts. Der Hermaphrodit blieb verschwunden. Cohen untersuchte den Garten. Er leuchtete den Boden ab. Viele Spuren fand er nicht. Er untersuchte das Gartentor. Es war nicht gewaltsam geöffnet worden, und auch an der Haustür fand er keine Spuren. Entweder hatten die Täter Nachschlüssel gehabt, oder es waren Profis gewesen, denen es keinerlei Schwierigkeiten bereitete, die komplizierten Schlösser zu öffnen. Cohen stellte fest, daß die Entführer mit einem Wagen in den Garten gefahren waren. Es mußten mindestens drei Männer gewesen sein. Chapman erwachte als erster. Es dauerte einige Minuten, bis er die Benommenheit abgeschüttelt hatte. »Wir saßen im Wohnzimmer«, berichtete er leise. »Mitton hatte die Warnanlage eingestellt. Da hörten wir Schritte. Ich stand auf, und Mitton folgte mir. Als wir in die Diele traten, standen wir drei Männern gegenüber. Sie trugen Gasmasken. Ich schrie eine Warnung, und Miß Pickford schloß die Wohnzimmertür. Ich wollte mich aus dem Staub machen, da packte mich einer der Männer und blies mir Gas ins Gesicht. Ich wurde augenblicklich ohnmächtig. Ich sah noch, wie Mitton zusammenbrach, mehr kann ich nicht sagen. Es ging alles viel zu rasch. Wir waren einfach nicht darauf gefaßt.« »Hm«, sagte Hunter. »Das würde bedeuten, daß die Männer Nachschlüssel gehabt haben, denn sonst hätte die Warnanlage reagiert. Oder jemand hat die Anlage abgestellt. Sieh mal nach, Cohen!« Dann wandte er sich wieder an die anderen. »Jetzt haben wir die Bescherung. Phillip entführt und der Drudenfuß geraubt. Ich habe Angst um Phillip. Er ist für die Dämonen gefährlich. Ich fürchte, daß sie ihn nicht lange am Leben lassen.« Cohen kehrte mißmutig zurück. »Die Warnanlage ist eingeschal-
tet.« »Dann müssen die Kerle Nachschlüssel gehabt haben«, folgerte Coco. »Aber wie sind sie dazu gekommen?« »Mitton«, sagte Hunter. »Er wurde heute von Reese beeinflußt. Er hat mir eine Botschaft ausgerichtet. Und er besitzt Schlüssel zum Garten und zum Haus. Es muß für Reese ziemlich einfach gewesen sein, sich Abdrücke der Schlüssel anzufertigen.« »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Coco, doch ihre Stimme klang nicht sehr überzeugt. »Ich verständige jetzt den O. I.«, sagte Hunter und griff nach dem Telefon.
Der O. I. hatte die Nachricht von Phillips Verschwinden überraschend ruhig aufgenommen. Er hatte einige Spezialisten zur Jugendstilvilla gesandt, die aber auch nichts Neues feststellen konnten. Nach einer Stunde zogen sie wieder ab. Es war eine traurige Gesellschaft, die sich da im Wohnzimmer versammelt hatte: Pickford, Chapman und Mitton waren noch immer leicht benommen. Ein Arzt des Secret Service hatte ihnen Bettruhe verordnet. »Was nun?« fragte Hunter und blickte Coco und Cohen an. Cohen hatte einiges von seiner Kaltschnäuzigkeit eingebüßt. Er erwiderte mißmutig den Blick des Dämonenkillers, während Coco nur mühsam ihre Beherrschung bewahrte. Sie hing sehr an Phillip; sein Verschwinden ging ihr sehr nahe. »Wir müssen Phillip suchen«, sagte Cohen. Der Dämonenkiller lachte bitter. »Das ist leicht gesagt, aber wo sollen wir beginnen?« »Wie soll ich das wissen?« knurrte Cohen. »Das ist ja keine normale Entführung. Üblicherweise wartete man in solchen Fällen, bis sich die Entführer melden. Aber da können wir lange warten. Eines ist doch klar, der Überfall galt dem Drudenfuß. Aber weshalb wurde Phillip entführt?« »Eine gute Frage«, sagte Hunter, schenkte sich sein Glas mit Bour-
bon voll und trank einen Schluck. »Gehen wir einmal von der Voraussetzung aus, daß Reese hinter der Entführung steckt – auch wenn er selbst es abgestritten hat.« »Vielleicht hat er die Wahrheit gesagt«, schaltete sich Coco ein. »Vielleicht steckt Olivaro hinter der Entführung.« »Das wäre auch möglich«, gab Hunter zu. »Aber Olivaro war nur am Drudenfuß interessiert, ebenso Reese. Warum wurde also Phillip entführt? Die Schwarze Familie hat doch eine panische Angst vor dem Hermaphroditen. Die Ausstrahlung Phillips ist für Dämonen ärger als die von Wahnsinnigen.« »Vielleicht wollen sie uns mit Phillips Entführung unter Druck setzen«, sagte Cohen. »Das würde dann aber bedeuten, daß sie ihn am Leben lassen müssen«, sagte Hunter nachdenklich, »und sich früher oder später melden, um uns ihre Bedingungen zu diktieren.« »Hm«, sagte Coco. »Ich weiß nicht. Mir wollen diese Mutmaßungen nicht gefallen. Ich glaube, daß jemand anderer dahintersteckt.« »Du spielst auf die Machtkämpfe innerhalb der Schwarzen Familie an«, stellte der Dämonenkiller fest. Sie nickte. »Olivaro ist noch immer nicht als Oberhaupt der Schwarzen Familie anerkannt. Verschiedene andere Clans wollen die Führung an sich reißen. Und ich bin sicher, daß bereits ziemlich viele Mitglieder der Familie über den Drudenfuß Bescheid wissen. Vielleicht wollte sich eine Gruppe durch den Drudenfuß ein Druckmittel gegen Olivaro sichern? Und dazu würde auch Phillips Entführung passen. Mit ihm könnten sie die Inquisitionsabteilung unter Druck setzen und zur Aufgabe zwingen.« Der Dämonenkiller schloß die Augen. Coco hatte recht, das war eine Möglichkeit. Wenn das zutraf, hatten sie es mit einem weiteren Gegner zu tun, über den sie nichts wußten. »Gibt es eine Möglichkeit, daß du mit Hilfe deiner magischen Fähigkeiten den Entführern auf die Spur kommst?« »Leider nein«, sagte Coco. »Ich habe es versucht. Der Großteil meiner Fähigkeiten ist nur latent vorhanden. Ich kann sie nur unter einer tödlichen Bedrohung anwenden. Es wird noch einige Zeit dau-
ern, bis ich voll über sie verfügen kann.« »Das heißt also, daß wir nichts unternehmen können«, brummte Hunter unwillig und ballte die Fäuste. »Wir müssen warten. Ich würde vorschlagen, daß Marvin und ich morgen weiterhin Osmonde beobachten, und du triffst dich abends mit Reese.« »Reese will aber den Drudenfuß. Und den haben wir nicht mehr.« »Du behauptest ganz einfach, daß du ihn noch hast.« »Das ist eine Möglichkeit«, stimmte Hunter ihr zu, »aber ich werde Reese nicht lange täuschen können. Und von einer Beobachtung Osmondes verspreche ich mir nicht besonders viel. Deiner Meinung nach steht er doch nicht unter dem Einfluß der Dämonen.« »Wir haben immer noch Phillips Zeichnungen. Sie müssen eine Bedeutung haben. Ich dachte schon daran, daß ich mir Osmonde vornehmen sollte. Ich könnte ihn hypnotisieren, aber ich fürchte, daß er eine zu starke geistige Sperre hat. Da könnte ich unter Umständen alles ruinieren. Warten wir also ab.« Das Telefon klingelte. Der Dämonenkiller ließ es dreimal läuten, dann hob er ab. »Was ist bei Ihnen geschehen, Mr. Hunter?« fragte Reese. »Das wissen Sie doch ganz genau«, fauchte Hunter. »Phillip wurde entführt.« »Ich weiß nichts davon. Ich habe nichts mit der Entführung zu tun. Haben Sie den Drudenfuß noch?« »Ja.« »Dann ist ja alles gut«, sagte Reese erleichtert. »Ich warne Sie, Mr. Hunter! Spielen Sie auf keinen Fall mit ihm herum! Sie haben keine Ahnung, welche Katastrophe Sie dadurch auslösen können. Bis morgen also!« »Warten Sie«, schrie Hunter, doch Reese hatte schon aufgelegt. Er blickte Coco und Cohen an. »Was hat dieser Anruf zu bedeuten?« »Schwer zu sagen. Würde Reese tatsächlich hinter der Entführung stecken, dann hätte er anders gesprochen. Ich bin ziemlich sicher, daß er nichts damit zu tun hat.« »Sie hat recht«, sagte Cohen und stand auf. »Ich gehe schlafen. Im
Augenblick können wir nichts unternehmen. Gute Nacht!« Er verließ das Zimmer. »Wir sollten auch schlafen gehen«, sagte Coco. »Ich kann jetzt nicht schlafen«, sagte Hunter abweisend. »Du quälst dich unnötig. Es hat keinen Sinn, daß du dir jetzt Vorwürfe machst. Damit änderst du auch nichts.« Der Dämonenkiller nickte, blieb aber sitzen, als Coco aus dem Zimmer ging.
Coco! Die Stimme war weit weg, kaum zu hören. Coco! Die junge Hexe wälzte sich zur Seite und schlug die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel und ruhig. Irgend jemand hatte sie aber gerufen. Sie knipste die Nachtkästchenlampe an. Das Bett neben ihr war leer. Dorian war noch nicht schlafen gegangen. Sie blickte auf die Uhr. Zehn Minuten nach vier. Coco! Sie zuckte zusammen. Da war wieder der Ruf gewesen, diesmal besser zu verstehen. Sie setzte sich auf und schlüpfte in ihre Pantoffeln. Sie spürte ein leichtes Ziehen in ihren Schläfen, das in ein sanftes Pochen überging. Verwirrt schüttelte sie den Kopf, griff nach dem Morgenrock und hängte ihn über die Schultern. Langsam durchquerte sie das Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür und blieb lauschend stehen. Kein Laut war zu hören. Coco! Der Ruf war schwach – aber jetzt wußte sie, daß es eigentlich gar kein Ruf war; es waren Gedankenströme, die ihr Hirn durchfluteten. Rasch huschte sie die Stufen hinunter und trat ins Wohnzimmer. Der Dämonenkiller war auf der Couch zusammengesunken. Seine rechte Hand hing zu Boden und er schnarchte leise. Sie durchschritt das Zimmer und setzte sich Dorian gegenüber auf einen Stuhl. Coco, hilf mir! Diesmal erkannte sie die Stimme. Sie gehörte Phillip, daran gab es keinen Zweifel. Aber wie war das möglich? Noch nie zuvor war es Phillip gelungen, auf telepathischem Weg Verbindung mit ihr auf-
zunehmen. Sie schloß die Augen und wartete auf einen weiteren Ruf, doch nichts war zu hören. Dorian bewegte sich im Schlaf. Er bewegte die Hand und stöhnte laut, dann wälzte er sich schnaufend auf die Seite. Irgend etwas preßte sich gegen Cocos Stirn. Anfangs war der Druck sanft und nicht unangenehm, dann wurde er immer stärker, so als würden winzige Nadeln in ihren Kopf stechen. Lodernde Funken sprühten vor ihren Augen, und etwas bohrte sich in ihr Hirn. Ihr Körper schien sich aufzulösen. Sie sackte in sich zusammen und schlief ein. Und dann kamen die Alpträume. Ein Vorortzug raste durch die Nacht. Plötzlich verbogen sich die Schienen und krümmten sich wie Schlangen. Die Lokomotive kippte zur Seite. Die Waggons dahinter stellten sich auf. Einer wurde in der Mitte auseinandergerissen. Knirschende, unheimliche Geräusche waren zu hören. Dann folgte Stille – sekundenlang. Schreie von verletzten Menschen gellten durch die Nacht. Flammen und Rauch stiegen auf. Coco schrie im Schlaf. Der schwere Sattelschlepper war vollbeladen, der Fahrer müde und gereizt. Plötzlich wirbelten Bäume über die Straße. Der Fahrer trat mit voller Wucht auf das Bremspedal. Der schwere Wagen kam ins Schlittern und verkeilte sich zwischen den Baumstämmen. Coco wälzte sich keuchend zur Seite. Nebel lag über dem Fluß. Das Tuten der Sirenen war zu hören. Das Wasser war ruhig. Von einer Sekunde zur anderen änderte sich das Bild. Das Wasser kochte, zischte hoch, sammelte sich, raste auf den Schlepper zu und zerschnitt ihn in zwei Hälften. Coco wimmerte. Das Flugzeug setzte zur Landung an. Die Instrumente arbeiteten tadellos. Das Flugzeug ging tiefer. Da griff eine unsichtbare Faust nach ihm, rüttelte es durch, drehte es nach links, ließ es sich überschlagen und wie einen Stein zu Boden fallen. Es krachte auf ein Feld und ging in Flammen auf. Coco brüllte, und Dorian Hunter erwachte aus seinem unruhigen
Schlaf. Er setzte sich auf und blickte Coco überrascht an, die sich wimmernd auf dem Boden wälzte. Dorian sprang auf, kniete neben ihr nieder, strich über ihre glühende Stirn, und sie entspannte sich. »Coco«, sagte er sanft. Sie beruhigte sich langsam. Ihre Glieder entkrampften sich. Sie war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Dorian hob sie vorsichtig hoch. Sie brummte im Schlaf. Er trug sie ins Schlafzimmer und legte sie ins Bett. Sie rollte sich wie ein Igel zusammen und schlief ruhig weiter.
Als der Dämonenkiller erwachte, schlief Coco noch immer. Geräuschlos ging er ins Badezimmer und kleidete sich an. Bevor er ins Wohnzimmer ging, warf er noch einen Blick ins Schlafzimmer. Coco saß aufrecht im Bett und rieb sich die Augen. »Morgen!« sagte der Dämonenkiller knapp. Coco schlug die Augen auf. Langsam kehrte ihre Erinnerung zurück. »Ich bin in der Nacht aufgewacht«, erzählte sie, »und ins Wohnzimmer gegangen. Du hast auf der Couch geschlafen. Wie bin ich ins Schlafzimmer gekommen?« »Ich habe dich getragen. Du hast im Schlaf geschrien.« »Ich hatte Alpträume«, sagte sie leise. »Ich träumte von einigen Katastrophen. Und alles war so deutlich, als erlebte ich es wirklich. Aber das war nicht alles.« Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen und sprang aus dem Bett. »Ich bin ganz sicher, daß ich Phillip gehört habe.« »Das ist doch Unsinn, Coco.« »Nein«, sagte sie entschieden. »Er rief nach mir – einige Male. Es war in meinem Hirn. Telepathie. Ich ging hinunter und suchte dich, doch dann setzten die Alpträume ein, und ich hörte die Rufe nicht mehr.« »Das ist aber eine ziemlich tolle Geschichte«, sagte Hunter und runzelte die Stirn. »Bist du ganz sicher, daß du nicht geträumt hast?« »Ja. Die Träume kamen erst später. Es waren scheußliche Alpträu-
me. Ein Zug entgleiste, ein Sattelschlepper raste in umgestürzte Bäume, ein Schiff wurde in zwei Hälften geschnitten, und ein Flugzeug zerschellte auf einem Feld. Und alles war so plastisch.« Der Dämonenkiller wollte nicht ausschließen, daß Phillip tatsächlich über telepathische Fähigkeiten verfügte. »Zieh dich an. Wir sprechen später darüber.« Er stieg die Stufen hinunter und trat ins Eßzimmer. Cohen saß am Tisch und blätterte in den Morgenzeitungen. Er blickte auf, als Hunter eintrat. »Miß Pickford und die anderen schlafen noch. Ich habe eine Kanne Kaffee und ein paar Brötchen geholt.« Der Dämonenkiller setzte sich. Er drehte das Radio leiser und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Ich will die Nachrichten hören«, sagte Cohen. Er drehte das Radio wieder lauter. Der Dämonenkiller steckte sich eine Zigarette an. Es war kurz vor neun Uhr. »Du siehst ja nicht gerade frisch aus«, stellte Cohen fest. »Ich habe auch miserabel geschlafen«, brummte der Dämonenkiller und überlegte, ob er sich ein Brötchen nehmen sollte. Mit halbem Ohr hörte er den Nachrichten zu. Immer das gleiche. Unruhen im Nahen Osten, Englands verheerende Wirtschaftslage und so weiter. Doch plötzlich beugte er sich gespannt vor. »… ereignete sich eine Zugkatastrophe«, sagte der Sprecher soeben. »Kurz bevor der Zug in den Bahnhof Chelsea einfuhr, sprang die Lokomotive aus den Schienen. Einige Waggons verkeilten sich. Nach bisher vorliegenden Meldungen gibt es zehn Tote und mehr als fünfzig Verletzte.« Der Sprecher machte eine kurze Pause. »Eine Frachtmaschine der KLM stürzte heute morgen kurz vor der Landung auf dem Flughafen Chelsea ab. Alle Besatzungsmitglieder wurden getötet. Die Absturzursache ist bis jetzt ungeklärt. Eine Untersuchungskommission hat sich an die Unfallstelle begeben. Sie hörten Nachrichten, gesprochen von …« Hunter drehte das Radio ab. »He, was soll das?« fragte Cohen ungehalten. »Halt den Mund!« fauchte Hunter. Er sprang auf, lief ins Wohn-
zimmer und telefonierte mit einem befreundeten Reporter. Nachdenklich legte er den Hörer auf. Coco war in der Zwischenzeit im Eßzimmer eingetroffen. Hunter blieb in der Tür stehen und betrachtete Coco aufmerksam, dann schüttelte er den Kopf und setzte sich an den Tisch. »Coco, hast du früher schon sogenannte Wahrträume gehabt?« »Gelegentlich, aber das ist schon lange her. Und meist waren es völlig unbedeutende Ereignisse.« »Diesmal ist es anders«, sagte der Dämonenkiller grimmig. »Du hast mir von vier Träumen erzählt, und ich habe mich beim Daily Mirror erkundigt. Diese Unfälle sind tatsächlich geschehen. Zwischen vier und fünf Uhr. Heute.« Coco wurde bleich. »Und alle vier Unglücksfälle sind reichlich mysteriös. Beim Zugunglück wurden die Schienen aus den Schwellen gerissen. Der Sattelschlepper raste in einen Berg von entwurzelten Bäumen. Das Schiff wurde von einer unbekannten Kraft in zwei Hälften geschnitten. Und beim Flugzeug versagten alle Instrumente. Das waren keine normalen Unfälle.« »Der Drudenfuß«, sagte Coco tonlos. »Genau. Irgend jemand spielt damit herum.« Sekundenlang herrschte Schweigen. »Wollt ihr mir nicht endlich sagen, was hier vorgeht?« fragte Cohen aufgebracht. Coco und Dorian berichteten es ihm. »Wir wissen nicht, welche Kräfte man durch den Drudenfuß entfesseln kann«, sagte Coco. »Ich nehme aber an, daß irgend jemand – wahrscheinlich die Leute, die Phillip entführt haben – ihn mit dem Drudenfuß herumspielen läßt. Und dabei werden vielleicht auch Kräfte frei, die es Phillip ermöglichen, mit mir in telepathische Verbindung zu treten.« »Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Hunter. »Und wenn sie zutrifft, wird man Phillip weiterhin mit dem Drudenfuß herumhantieren lassen. Vielleicht kann er wieder mit dir in Verbindung treten und dir seinen Aufenthaltsort verraten.«
»Mir kommt das alles zu phantastisch vor«, sagte Cohen. »Coco hat jahrelang keine Wahrträume gehabt und heute gleich vier«, sagte der Dämonenkiller. »Ich lasse mich nicht davon abbringen, daß an diesen Unglücksfällen der Drudenfuß schuld ist. Und wenn wir ihn nicht bald zurückbekommen, ist gar nicht abzusehen, welche weiteren Katastrophen noch geschehen.« »Du hast recht«, sagte sie. »Erinnere dich an dein Erlebnis als Tabera, als du die Dämonen-Drillinge töten wolltest. Du konntest die Kraft des Drudenfußes über viele Kilometer hinweg spüren. Der Drudenfuß wurde zu einem bestimmten Zweck geschaffen, nämlich als Waffe gegen die Dämonen-Drillinge; aber niemand weiß, wie man mit ihm umgehen muß. Phillip mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten könnte es allerdings herausfinden.« »Das sind doch alles durch nichts bewiesene Mutmaßungen«, sagte Cohen unwillig. »Wir wissen ja nicht einmal, ob Phillip und der Drudenfuß zusammen sind. Wir tappen völlig im dunkeln.« »Wir haben einen Anhaltspunkt, und das ist Osmonde. Diesen Burschen werde ich heute nicht aus den Augen lassen.«
Coco und Cohen waren Jim Osmonde den ganzen Tag über gefolgt, doch nichts Außergewöhnliches war geschehen. Coco hatte gehofft, daß es Phillip noch einmal gelingen würde, mit ihr Kontakt aufzunehmen, leider war es nicht dazu gekommen. Hunter hatte den ganzen Tag in der Jugendstilvilla verbracht. Er hatte auf einen Anruf der Entführer gewartet, doch das Telefon hatte nicht geläutet. Er hatte einmal kurz mit dem O. I. telefoniert, der seltsam einsilbig gewesen war. Seine Nachforschungen hatten auch nichts ergeben. Der Dämonenkiller rannte wie ein gefangenes Tier im Haus auf und ab. Schließlich sperrte er sich in sein Arbeitszimmer ein, da ihm Miß Pickfords lautstarke Vorwürfe zunehmend auf die Nerven gingen. Er traf seine Vorbereitungen für das abendliche Treffen mit Hector Reese. Er versuchte sich zu entspannen und auf die vor ihm liegende
Aufgabe zu konzentrieren, was ihm mit einiger Mühe gelang. Schließlich war er völlig entspannt und hatte seine düsteren Gedanken vertrieben.
Coco hatte beschlossen, an Jim Osmondes nächtlicher Besichtigungstour teilzunehmen. Sie quartierte sich in dem kleinen Hotel in der Old Kent Road ein, in dem auch die sechs verschwundenen Touristen gewohnt hatten. Beim Hotelportier buchte sie eine Karte für die Fahrt, die um einundzwanzig Uhr dreißig beginnen sollte; dann zog sie sich in das kleine Zimmer zurück. Cohen beobachtete Osmonde weiter. Er wollte während der Besichtigungsfahrt hinter seinem Bus herfahren. Coco bestellte sich einen Drink und einige Sandwiches, dann legte sie sich aufs Bett und schloß die Augen. Das Warten zerrte an ihren Nerven. Sie hatte Angst um Phillip, und diese Angst wurde immer größer. Noch immer hoffte sie, daß es ihm noch einmal gelang, mit ihr in Verbindung zu treten, doch je später es wurde, um so mehr sank ihre Hoffnung. Einige Minuten nach einundzwanzig Uhr setzte sie sich mit Cohen in Verbindung. »Osmonde kommt gerade aus seinem Haus. Er geht jetzt zu seinem Bus und steigt ein. Ich folge ihm.« »Ich werde versuchen, später mit dir in Verbindung zu treten, Marvin«, sagte sie, »wenn mich keiner beobachtet.« Danach stellte sie eine Verbindung mit der Jugendstilvilla her. Der Puppenmann meldete sich. »Ist Dorian noch da?« »Nein«, sagte Chapman. »Er ist vor wenigen Minuten gegangen.« »War noch irgend etwas los, Don?« »Nichts«, sagte der Puppenmann bedauernd. »Wir haben noch immer keine Nachricht von den Entführern bekommen.« »Das hatte ich auch kaum erwartet. Ich melde mich später wieder.« Coco steckte das Sprechfunkgerät in ihre große Handtasche, schlüpfte in ihren Mantel und hängte sich ihre Tasche um. Sie trat in
den Aufzug und fuhr in die Hotelhalle. Der Portier nahm den Schlüssel entgegen, und sie setzte sich auf einen Stuhl. Außer ihr waren noch zwei Ehepaare in der Halle. Coco griff nach einer Illustrierten und blätterte sie flüchtig durch. Sie rauchte eine Zigarette und versuchte, möglichst unbefangen zu erscheinen. Einige Minuten vor einundzwanzig Uhr dreißig betrat Jim Osmonde die Halle. Er nahm seine Kappe ab und ging zum Portier. Er trug einen knöchellangen schwarzen Ledermantel. Coco versuchte, etwas von der Unterhaltung zwischen Osmonde und dem Portier aufzuschnappen, doch sie saß zu weit entfernt. Osmonde nickte einmal, dann wandte er sich ab und winkte dem Portier flüchtig zu. Er kam auf Coco zu. Sie hob den Blick und sah Osmonde an. Ihr fiel nichts Ungewöhnliches an ihm auf. Osmonde lächelte. »Guten Abend, meine Herrschaften! Die Besichtigungsfahrt durchs nächtliche London beginnt.« Coco legte die Illustrierte zur Seite und stand auf. Sie folgte Osmonde, und die beiden Ehepaare schlossen sich ihr an. Der Aussprache nach mußten es Amerikaner sein. Sie traten auf die Straße, und Coco blickte sich rasch um. Cohens Wagen stand unweit des Hotels. Jim Osmonde öffnete den Kleinbus, und Coco stieg als erste ein. Sie nahm genau hinter dem Fahrersitz Platz. Eines der Ehepaare setzte sich neben sie, das zweite nahm auf der hinteren Sitzbank Platz. Osmonde schloß die Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich hinters Lenkrad. Er startete und reihte sich langsam in den starken Abendverkehr ein. Osmonde hatte sich die Kappe tief in die Stirn gedrückt. Er fuhr langsam. »Links sehen Sie den Bahnhof Elephant & Castle«, sagte er nach einigen Minuten Fahrt. »Kein sehr bedeutender Bahnhof.« Sie bogen in die London Road ein, und plötzlich änderte sich Osmondes Gesichtsausdruck. Coco beugte sich etwas vor. Schweißperlen rannen über Osmondes Stirn, und seine Hände verkrampften sich. Sein Gesicht wurde bleich, und die Lippen preßte er fest zusammen. Coco spürte eine seltsame Ausstrahlung, die rasch stärker
spürbar wurde. Irgend etwas ergriff von Osmondes Geist Besitz. Coco sah deutlich, wie sich Osmonde gegen den fremden Zwang wehrte. Sie hätte eingreifen können; ein Dämonenbanner und einige Sprüche hätten geholfen, doch sie wollte wissen, was Osmonde unternehmen würde. Der Kampf wurde lautlos geführt. Außer Coco nahm keiner der Fahrgäste etwas davon wahr. Sie wunderten sich höchstens, daß Osmonde extrem langsam fuhr. Es dauerte kaum zwei Minuten, und Osmonde hatte den Kampf verloren. Ein Dämon hatte von ihm Besitz ergriffen. Osmonde fuhr jetzt die Blackfriars Road entlang und beschleunigte. Coco wandte den Kopf. Cohen war dicht hinter ihnen. Sie sah wieder Osmonde an. Sein Gesicht hatte sich erschreckend verändert; es war grau und eingefallen. Er fuhr immer rascher. Plötzlich riß er das Steuer herum und bog nach links ab. Immer schneller wurde die Fahrt. »Rasen Sie doch nicht so!« empörte sich eine der Touristinnen. Doch Osmonde hörte nicht auf sie. Er fuhr nur noch rascher.
Er muß verrückt geworden sein, dachte Cohen. Er hatte Mühe, dem Bus zu folgen, und an einer Kreuzung kam es fast zum Zusammenstoß. Osmonde raste bei Gelb über eine Kreuzung. Cohen mußte bremsen, um einen Autobus vorbeizulassen, dann stieg er so stark aufs Gaspedal, daß der Wagen wie eine Rakete vorschoß. Er sah gerade noch, wie Osmonde nach rechts in eine schmale Gasse einbog. Der fährt ja kreuz und quer herum, dachte Cohen. Er hatte gute Lust, Verbindung mit Coco herzustellen. Die wilde Verfolgungsjagd ging weiter, doch Cohen war ein zu guter Fahrer, um sich abschütteln zu lassen. Jetzt rasten sie die Waterloo Road entlang. Nach einigen Minuten Fahrt leuchteten die Bremslichter an Osmondes Wagen auf. Ohne zu blinken, bog Osmonde nach rechts in eine winzige Gasse ab. Cohen folgte ihm. Doch plötzlich streikte sein Wagen. Der Motor starb gurgelnd ab. Fluchend drehte Cohen den Zündschlüssel her-
um, einmal, zweimal, doch der Motor sprang nicht wieder an. Cohen riß die Wagentür auf, nahm das Sprechfunkgerät an sich und blickte sich rasch um. Er befand sich in einer schmalen Gasse. Kein Auto war zu sehen, kein Licht brannte in den niedrigen Häusern, und kein Mensch war auf der Straße. Weit vor sich sah er Osmondes Wagen, der auf einen leeren Platz einbog. Cohen lief die Gasse entlang, in Richtung Platz. Seine Schritte hallten seltsam hohl durch die Gasse. Eisige Kälte schlug ihm entgegen. Seine Bewegungen wurden langsamer. Unheimliche Gedanken strömten auf ihn ein. Er fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf. Irgendeine unbekannte Kraft wollte ihn zum Umkehren bewegen. Er wehrte sich, doch die fremdartigen Gedanken wurden immer stärker. Er biß die Zähne zusammen und taumelte mit geschlossenen Augen weiter. Einmal fiel er zu Boden, stand aber rasch wieder auf.
Diesmal parkte der Dämonenkiller seinen Wagen direkt vor dem Park. Er hatte sich einen Plan zurechtgelegt, mit dem er Hector Reese täuschen wollte. Er warf die halbgerauchte Zigarette in den Rinnstein und öffnete das Parktor, das so wie gestern unversperrt war. Es war kälter als am Tag zuvor. Der Mond stand hoch am Himmel. Einige Sterne waren zu sehen. Hunter ging rasch. Vor dem seltsamen Baum blieb er stehen und stapfte mit den Füßen auf. Dann blickte er rasch auf die Uhr. Er war zu früh gekommen; es fehlten noch fünf Minuten. Er holte das Sprechgerät hervor und stellte die Verbindung mit der Jugendstilvilla her. »Alles in Ordnung, Don?« »Ja«, sagte der Puppenmann. »Haben sich Coco oder Cohen in der Zwischenzeit gemeldet?« »Nein, bis jetzt noch nicht.« »Bis später, Don!« sagte der Dämonenkiller und steckte das Gerät in die Tasche. »Sie sind pünktlich, Mr. Hunter«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er drehte sich blitzschnell um. Eine schwarze Gestalt stand vor ihm. Das Gesicht konnte er nicht sehen, es war ein schemenhafter, weißer Fleck. »Sie auch, Mr. Reese.« »Haben Sie den Drudenfuß mitgebracht?« »Ja«, sagte Hunter mit spröder Stimme. Jetzt kam es darauf an, ob er Reese täuschen konnte. »Zeigen Sie ihn mir!« Hunter griff in die linke Brusttasche seines Mantels. Es hatte ihm einige Mühe bereitet, in der kurzen Zeit einen Drudenfuß herzustellen. Er war auch ziemlich primitiv ausgefallen, aber er hoffte, daß der Dämon in der Dunkelheit den Schwindel nicht bemerken würde. Hunter hatte den Drudenfuß präpariert, ihn mit Weihwasser besprüht und mit Knoblauch eingerieben und einige winzige Dämonenbanner daran befestigt. Der Dämonenkiller packte den Drudenfuß und zog ihn aus der Tasche. Die Spitzen hatte er mit Leuchtfarbe betupft. Der Drudenfuß schimmerte dunkelblau. Hunter holte ihn nur einen Augenblick heraus, dann steckte er ihn sofort wieder ein. Er preßte die Lippen zusammen und wartete auf Reese' Reaktion. Der Dämon nickte, und Hunter atmete erleichtert auf. »Jetzt will ich die Wahrheit hören!« sagte Hunter. »Ich habe meinen Teil der Vereinbarung eingehalten und den Drudenfuß mitgebracht. Dafür will ich jetzt den Aufenthaltsort der Dämonen-Drillinge erfahren.« »Sie werden alles erfahren, Hunter. Kommen Sie mit! Ich führe Sie zu den Drillingen. Und unterwegs werde ich Ihnen alle Ihre Fragen beantworten.« Der Dämon ging voraus, und Hunter folgte ihm in einigen Schritten Abstand. Sie verließen den Park und traten auf die Georges Road. »Es ist nicht weit«, sagte Reese. »In einigen Minuten sind wir da.« Jetzt hatte der Dämonenkiller Gelegenheit, den Dämon genau zu betrachten: Reese trug einen schwarzen, weiten Mantel, der bis zum Boden reichte. Der hohe Kragen war aufgestellt. Auf dem Kopf trug Reese einen seltsam geformten hohen Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Sein Gesicht schien zu flimmern und war eine konturlo-
se, weiße Fläche; nur die dunklen, schräggestellten Augen waren zu erkennen. »Sie sind einer der Paten der Drillinge?« fragte Hunter. Reese nickte. »Ja, ich bin einer der drei Paten. Einen von uns haben Sie ja schon kennengelernt: Thören Rosqvana. Sie sehen, ich weiß genau, was in Amsterdam geschehen ist.« Sie gingen einige Sekunden schweigend weiter. »Ich war dabei, damals, im Jahre 1532, als Dr. Faust die Drillinge töten wollte«, sagte Dorian. »Ich sah, wie sich der goldene Drudenfuß auflöste, und mit ihm verschwanden die Drillinge. Und seither hatte ich nie mehr etwas von ihnen gehört. Wo tauchten sie auf? Und was geschah mit dem Drudenfuß?« Sie hatten die Lambeth Road erreicht und warteten, bis die Ampel auf Grün sprang; dann überquerten sie die breite Straße. Hunter wunderte sich, daß kein Mensch auf der Straße zu sehen war. Möglicherweise war daran die starke Ausstrahlung des Dämons schuld. »Faust hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Die Drillinge waren und sind mit ungewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Bei ihrem Verschwinden waren sie vierundzwanzig Jahre alt. Sie nutzten aber ihre Fähigkeiten nicht aus. Sie waren verspielt wie kleine Kinder. Und wir hatten damals kein besonderes Interesse, die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Drillinge zu fördern und in die richtigen Bahnen zu lenken. Das sollte erst später der Fall sein. Doch dazu kam es nicht mehr. Dr. Fausts Beschwörung war nur teilweise erfolgreich verlaufen. Die Mittel, die er einsetzte, reichten nicht aus, die Drillinge zu töten.« »Das weiß ich alles«, sagte Hunter ungeduldig. »Ich will …« »Wir haben Zeit, Hunter. Drängen Sie mich nicht! Die Drillinge waren zu jenen Ungeheuern geworden, die sie darstellen sollten. Sie hatten das Aussehen der Masken angenommen, die Dr. Faust für sie angefertigt hatte. Bei dem Schauspiel befanden sich auch einige Beobachter der Schwarzen Familie, die aber nicht eingreifen konnten. Die Ausstrahlung der Drillinge bannte sie auf ihre Plätze. Sie mußten hilflos mitansehen, wie sich die Drillinge und der Drudenfuß auflösten. Diese wenigen Augenblicke genügten jedoch, um den Be-
obachtern zu zeigen, zu welchen ungeheuerlichen Monstern die Drillinge geworden waren. Sie stellten eine Bedrohung für alle dar – nicht nur für die normalen Menschen, sondern auch für die Schwarze Familie. Wir hatten keine Ahnung, wohin sie verschwunden waren, doch wir wußten, daß sie auftauchen würden, und dann mußten wir eingreifen, bevor sie sich ihrer Kräfte und Fähigkeiten richtig bewußt wurden. Und dann tauchten sie auf, in der Nähe eines kleinen Dorfes an der englischen Nordseeküste. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen. Die Drillinge töteten alles, was ihnen unter die Hände kam, Menschen und Tiere, und verwüsteten das Dorf. Sie machten es dem Erdboden gleich. Und dann setzten sie ihre Wanderung fort. Ein weiteres Dorf fiel ihnen zum Opfer. Aber in der Zwischenzeit hatten wir von ihrem Auftauchen erfahren. Wir griffen ein.« Reese schwieg einige Sekunden. »Rosqvana, Torsk und ich eilten hin«, fuhr er fort. »Wir versuchten, die Drillinge zu bändigen, doch sie wandten sich gegen uns. Wir mußten fliehen. Es gab keine andere Möglichkeit, wir mußten den Herrn der Finsternis zu Hilfe holen, der ja an der Entstehung der Drillinge maßgeblich beteiligt gewesen war. Er kam, und mit seiner Hilfe konnten wir die Drillinge unschädlich machen. Aber wir konnten sie nicht töten. Wir konnten sie nur gefangenhalten, da wir den goldenen Drudenfuß nicht hatten. Der Drudenfuß blieb verschwunden. Wir suchten ihn verzweifelt, doch unsere Suche blieb erfolglos, bis etwa vor einhundert Jahren. Bei Ausgrabungsarbeiten entdeckte ein Archäologe den Drudenfuß und hantierte damit herum. Die Drillinge wurden halb verrückt, und wir konnten sie nur mühsam bändigen. Wir brachten den Drudenfuß in unseren Besitz.« »Und weshalb haben sie die Drillinge dann nicht sofort getötet?« fragte Hunter gespannt. »Erinnern Sie sich an das Jahr 1713, Hunter?« Der Dämonenkiller nickte. Damals hatte er als Ferdinand Dunkel in Wien gelebt. »Sie selbst haben erlebt, wie der damalige Herr der Finsternis von einem neuen Herrscher abgelöst wurde«, sagte Reese. »Das neue
Oberhaupt der Schwarzen Familie nannte sich ebenfalls Asmodi. Er wußte natürlich über die Drillinge Bescheid, und wir schlugen ihm vor, daß wir sie töten sollten, doch er war dagegen. Er wollte sie weiter am Leben lassen. Er glaubte, daß sie uns doch einmal nützen könnten. Der Drudenfuß wurde versteckt.« »Die Ratten von Borvedam bewachten ihn«, sagte Hunter. »Sie sagen es. Asmodi hatte die Drillinge mit einem starken Bann gefesselt, doch als er starb, wurde der Bann aufgehoben. Mit unseren Mitteln konnten wir die Drillinge kaum im Zaum halten. Und dann tauchten Sie auf. Und daran hatte Rosqvana Schuld. Er wollte sich auch um die Rolle des Oberhauptes der Schwarzen Familie bewerben und hatte einen verrückten Plan gefaßt. Er lockte Coco in sein Haus und gaukelte ihr die Illusion des goldenen Drudenfußes vor. Rosqvana war sicher, daß Coco Ihnen davon erzählen würde – und er hatte recht. Er rechnete auch damit, daß Sie zu ihm eilen würden. Rosqvana wollte Sie töten. Damit wäre er ein ernsthafter Anwärter für das Oberhaupt der Schwarzen Familie geworden. Doch er hatte sich verrechnet. Es gelang Ihnen das, womit niemand gerechnet hatte. Sie kamen an den Drudenfuß. Und mit Ihrem Herumhantieren mit den magischen Symbolen machten sie uns fast verrückt. Die Drillinge fingen zu rebellieren an. Wir mußten sie beruhigen. Ihre Ansprüche wurden immer größer. Sie verlangten immer mehr.« »Was verlangten sie?« fragte Hunter. »Das erzähle ich Ihnen später«, meinte Reese ausweichend. »Sie haben die Drillinge also die ganzen Jahrhunderte über gefangengehalten«, stellte Hunter fest. »Ja, hier in London. Und dazu mußten wir einige Vorbereitungen treffen. Wir benötigten einen ganz bestimmten Ort. Und wir fanden ihn. Wir kauften einige Häuser, die seither leer stehen. Wir mußten verhindern, daß jemand den Drillingen zu nahe kam. Wir konnten sie aber nicht im Inneren eines Hauses gefangen halten.« »Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß die Drillinge sich die ganzen Jahrhunderte hindurch im Freien aufgehalten haben?« »Ja, das will ich damit ausdrücken. Sommer und Winter waren sie
im Freien.« »Dann muß sie doch jemand gesehen haben?« »Das haben wir verhindert. Und wenn sie tatsächlich jemand gesehen hätte, dann hätte er sich nicht weiter gewundert.« »Das ist mir zu hoch«, sagte der Dämonenkiller. »Die Drillinge sehen ja abscheulich häßlich aus. Irgendwann hätte ich etwas von ihnen hören müssen.« »Lassen Sie dich überraschen, Hunter«, sagte Reese. »In wenigen Minuten werden sie den Drillingen gegenüberstehen.«
Coco bemerkte die starke dämonische Ausstrahlung, als sie durch die schmale Gasse fuhren. »Wohin fahren Sie, Osmonde?« Doch der Fahrer antwortete nicht. »Reden Sie endlich!« herrschte sie ihn an. Osmonde bewegte die Lippen leicht. »Zur Black Angels Cathedral«, sagte er fast unhörbar. Die unheimlichen Gedankenströme setzten für einige Sekunden aus. Osmonde bog auf einen kleinen Platz ein. Die Kathedrale der Schwarzen Engel, dachte Coco. Und plötzlich fiel ihr Phillips Zeichnung ein. Er hatte einen schwarzen Engel gezeichnet und ihnen damit einen Hinweis geben wollen, den sie nicht verstanden hatten. Osmonde schaltete das Fernlicht ein. Teile der Kathedrale waren zu sehen: das spitz zulaufende Tor und winzige Türmchen. Die Kirche mußte uralt sein. Osmonde bremste, und Coco blickte zurück. Cohen war ihr nicht gefolgt. Sie konnte seinen Wagen nicht sehen. »Steigen Sie aus!« sagte Osmonde. Die zwei Ehepaare drückten sich ängstlich in die Sitze und schwiegen. »Aussteigen!« sagte Osmonde mit veränderter Stimme. Er warf Coco einen Blick zu, dann starrte er die zwei Paare an. Eine der Frauen griff willenlos nach dem Türgriff und drückte ihn nieder; dann stieg sie aus. Ihr Mann folgte ihr. Coco spürte deutlich die Ausstrahlung, die von Osmonde und der Kirche ausging, doch
ihre magischen Fähigkeiten schützten sie vor dieser einfachen Beeinflussung. Sie paßte ihre Bewegungen den Touristen an, um nicht aufzufallen. Im Schatten des Wagens öffnete sie ihre Handtasche und zog das Sprechgerät halb heraus. Sie versuchte mit Cohen Verbindung aufzunehmen, der sich aber nicht meldete. Stirnrunzelnd schob sie das Sprechgerät zurück in die Tasche. Das Kirchentor schwang knarrend auf, und eine vermummte Gestalt tauchte auf. Die Gestalt hob die Arme, und die Touristen erstarrten mitten in ihren Bewegungen. »Bitte, folgen Sie mir!« sagte der Kuttenmann. Coco imitierte die ruckartigen Bewegungen der Touristen. Die hypnotische Beeinflussung des Dämons konnte ihr nichts anhaben. Während sie auf die Kirche zuging, warf sie Osmonde einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Der Fahrer stand bewegungslos neben seinem Wagen und stierte die Kathedrale an. Coco hob etwas den Kopf. Sie konnte nur wenige Einzelheiten der Kathedrale ausmachen; es war zu dunkel. Der Kuttenmann trat in die Kirche, und die Touristen folgten ihm. Coco trat als letzte ein. Ein seltsamer Geruch erfüllte die Kirche, der einen Brechreiz verursachte. Sie zögerte weiterzugehen. Irgend etwas hielt sie zurück; ein unbestimmtes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte, irgend etwas warnte sie. Sie wußte, daß der Kuttenmann ein Dämon war, aber er schien ihr nicht mächtig genug zu sein, um als ernsthafter Gegner für sie zu gelten. Aber da war noch eine andere Ausstrahlung: Drohend schien sie in der Luft zu hängen, nicht faßbar, aber unglaublich schrecklich; eine Ausstrahlung, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Ihre Neugier trieb sie weiter. Hinter ihr fiel das Tor krachend ins Schloß, und die Touristen riefen erregt durcheinander. Kälte und Finsternis umgab sie. Coco schloß die Augen, entspannte sich und versuchte, einige ihrer magischen Fähigkeiten zu mobilisieren, doch die Ausstrahlung des Bösen hinderte sie daran. Sie öffnete die Augen, versuchte die Schwärze zu durchdringen, ging einige Meter weiter und blieb dann stehen. Ein hohles Lachen erfüllte das Innere der Kathedrale.
»Herzlich willkommen in der Black Angels Cathedral!« schrie eine hohe Stimme. »Machen Sie endlich Licht, verdammt noch mal!« brüllte ein Mann. »Was soll dieser Unsinn?« fragte der zweite Tourist. »Wir wollen wieder raus.« »Das ist leider nicht möglich«, sagte die Stimme hohntriefend. »Sie werden die Kathedrale nicht mehr verlassen.« Ein zartes Läuten war zu hören. Coco zuckte einen Schritt zurück. Sie drehte sich um und rannte zur Tür. Das Läuten dröhnte in ihren Ohren. Sie preßte die Hände an den Kopf, doch plötzlich konnte sie sich nicht mehr bewegen; ihr Körper war gelähmt. Und dann hörte sie die Stimme, die deutlich trotz des Läutens zu verstehen war. »Heute haben wir einen ganz besonderen Ehrengast zu begrüßen«, sagte die Stimme. »Coco Zamis.« Eine andere Glocke läutete jetzt. Eine unsichtbare Kraft zog sie und die anderen Touristen tiefer ins Innere der Kirche. Sie gingen etwa fünfzig Schritte, dann läuteten gleichzeitig drei Glocken, die sie auf ihre Plätze bannten. Durch die hohen schwarzen Glasfenster drang kein Lichtschimmer. Die Glocken läuteten weiter. Es mußten Dutzende sein. Coco glaubte, daß ihr Kopf jeden Augenblick zerspringen würde, so schrill und schmerzhaft waren die Töne. Plötzlich tauchten zwei Scheinwerfer das Innere der Kirche in rotes Licht. Coco konnte den Kopf bewegen, doch von den Schultern an abwärts war ihr Körper wie versteinert. Einige Meter vor ihr stand der Kuttenmann. Seine grauen Augen starrten sie böse an. »Ich bin Torsk«, sagte er. »Der Name wird Ihnen nichts sagen, Coco Zamis. Ich bin einer der Paten der Dämonen-Drillinge. Ich gab den Drudenfuß den Ratten von Borvedam zur Bewachung und freue mich nun ganz besonders, daß Sie zu mir gekommen sind. Es wird mir ein spezielles Vergnügen sein, Sie zu töten. Heben Sie den Kopf, meine Teuerste!« Coco folgte. Ihre Augen weiteten sich. Überall hingen Glocken. Es mußten Hunderte sein. Einige der Glocken drehten sich um die eigene Achse. Andere wanderten scheinbar sinnlos hoch, und wieder
andere schnellten in die Tiefe und blieben wenige Zentimeter über dem Boden hängen. Die meisten Glocken waren klein, manche nur faustgroß, doch es befanden sich auch gewaltige Exemplare darunter. »Die Glocken des Todes«, sagte Torsk. »Spezielle Glocken – jede auf eine andere Art. Aber keine ist harmlos. Mit einigen kann ich Menschen in den Wahnsinn treiben, mit anderen kann ich sie lähmen oder am Sprechen hindern oder gar töten. Auf vielerlei Weise. Sie dürfen wählen, Coco Zamis! Suchen Sie sich eine Glocke aus! Welche gefällt Ihnen besonders gut? Vielleicht diese?« Der Kuttenmann zog an einem giftgrünen Band, und eine Glocke schwebte langsam tiefer. Sie war fußballgroß. Eine Handfläche über Cocos Kopf blieb sie hängen. Der Klöppel bewegte sich und glitt nach unten; er teilte sich und wurde zu einer zackigen Zange, die gierig nach Cocos Kopf schnappte. Torsk lachte. »Diese Glocke ist nichts für Sie. Ich werde sie an diesem Mann ausprobieren.« Der Kuttenmann zog weiter am Band, und die Glocke wanderte nach rechts und blieb über einem der Touristen hängen. Das Gesicht des Mannes war verzerrt. »Nicht!« brüllte er. »Nicht!« Torsk lachte, und Coco schloß schaudernd die Augen. Der Todesschrei des Touristen hallte schaurig durch die Kirche, als die Zange seine Kehle zerfetzte. Der Pate wandte sich grinsend Coco zu. »Für Sie habe ich ein besonders schönes Exemplar ausgewählt. Es wird Ihnen einen wunderschönen Tod bereiten. Sehen Sie diese große, rote Glocke?« Vergeblich kämpfte sie gegen die Lähmung ihres Körpers an. Die Glocke senkte sich langsam. Im Hohlkörper befanden sich stecknadelspitze Zacken, die sich wie das Maul eines Tiefseefisches bewegten. »In dieser Glocke sind mehr als hundert verschieden lange Spitzen«, sagte Torsk mit schriller Stimme. »Sie werden sich in Ihren Körper bohren. Zuerst nur ein kleines Stückchen, dann immer tiefer.«
Die Glocke schwang über Cocos Kopf hin und her und senkte sich tiefer.
Gohen hörte das Piepsen des Sprechgerätes und holte es hervor. Es entfiel seiner Hand. Er bückte sich, um es aufzuheben. Fluchend stellte er fest, daß es zerbrochen war. Wütend warf er es zur Seite und rannte weiter. Die unheimlichen Gedanken, die auf ihn einströmten, machten ihn fast bewußtlos. Doch plötzlich ließen die Gedankenströme nach. Erleichtert richtete er sich auf. Osmondes Wagen stand vor der Kathedrale. Die Scheinwerfer waren auf das Tor gerichtet. Osmonde stand neben dem Wagen; von den Touristen und Coco keine Spur. Gohen rannte über den kleinen Platz auf Osmonde zu, der sich wie in Trance bewegte. Er öffnete die Wagentür und wollte einsteigen, da war Cohen heran und packte ihn an der Schulter. Er riß Osmonde herum und starrte in die glasigen Augen des Mannes. »Wo sind die Touristen?« fragte er und packte ihn am Mantelaufschlag. Osmonde antwortete nicht. »Raus mit der Sprache!« zischte Cohen, und wie es zu seiner brutalen Art gehörte, vergaß er nicht hinzuzufügen: »Wenn du nicht sofort redest, Bürschchen, dann schlage ich dir die Zähne aus! Aber einzeln.« Osmonde redete noch immer nicht. Er schüttelte Cohens Hand ab. Cohen blickte den Fahrer überrascht an. Solche Kräfte hatte er dem kleinen Mann nicht zugetraut. Osmonde wollte wieder einsteigen, doch wieder riß ihn Cohen zurück. Der Agent zog seine Pistole und richtete sie auf den Fahrer. »Rede endlich!« schrie er. »Meine Geduld ist erschöpft!« »Sie sind – sie sind – in der Kathedrale. Sie sind …« Osmonde verdrehte die Augen. Er wollte in den Wagen steigen, doch das ließ Cohen nicht zu. »Du bleibst da!« sagte er, hob die rechte Hand und ließ den Pistolenlauf auf Osmondes Kopf krachen.
Doch die Kappe dämpfte die Wucht des Schlages. Osmonde stöhnte und wandte sich um. Seine Augen glühten. Mit beiden Fäusten schlug er auf Cohen ein, der einen Schritt zurücktrat und eine gestochene Gerade abfeuerte, die Osmonde genau am Kinn traf, aber dem Fahrer machte sie wenig aus. Im Gegenteil. Er schlug weiter wie ein Verrückter auf Cohen ein und achtete nicht auf die Schläge, die seine Lippen aufplatzen ließen. Cohen wich immer weiter zurück und näherte sich, von Osmonde getrieben, der Kirche. Dann hörte er ein knirschendes Geräusch. Er sprang zwei Schritte zurück und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Eine der Steinfiguren, die über dem Haupttor der Kathedrale kauerten, bewegte sich und hielt etwas zwischen den klauenartigen Händen. Das Knirschen wurde lauter. Etwas flog durch die Luft. Cohen konnte im letzten Augenblick ausweichen, doch Osmonde reagierte überhaupt nicht. Ein metergroßes Steintürmchen zerschmetterte Osmondes Kopf. Tot brach er zusammen. Dann war ein Zischen zu hören. Etwas tropfte auf Cohen, der schmerzgequält aufschrie. Seine linke Hand war mit einer dicken, dampfenden Flüssigkeit bedeckt: Siedendheißes Pech. Einige Tropfen des klebrigen Teers verbrühten seine Wangen. Panikartig stürzte Cohen los. Er rannte auf den Wagen zu. Neben ihm krachte ein schwerer Gegenstand zu Boden, doch er hatte keine Zeit, darauf zu achten. Mit einigen Sprüngen hatte er den Wagen erreicht. Er glitt hinters Steuer und nahm sich nicht einmal die Zeit, die Tür zu schließen. Er startete, und der Wagen sprang sofort an. Cohen nahm den Fuß von der Kupplung, und der Wagen schoß los. Er trat stärker aufs Gaspedal. Ein riesiger Felsbrocken flog gegen die Kühlerhaube, ein Felstürmchen krachte auf den Motor. Der Wagen gab ein gurgelndes Geräusch von sich, dann blieb er stehen. Cohen hechtete heraus und legte sich neben dem Wagen auf den Boden. Immer wieder flogen Steinbrocken in seine Richtung, trafen ihn jedoch nicht. Es stank nach Benzin. Der Tank entleerte sich. Cohen rückte näher an den Wagen heran. Für einige Augenblicke war der Platz in glutrotes Licht getaucht. Deutlich sah Cohen drei furchterregende Gestalten, die sich über dem Hauptportal beweg-
ten. Irgend etwas Loderndes flog durch die Luft und landete vor dem Wagen. Eine Stichflamme zischte hoch. Das Benzin hatte Feuer gefangen. Die Flammen rasten auf Cohen zu, der aufsprang und losrannte. Ein Steinbrocken traf ihn im Rücken, und er geriet ins Taumeln. Keuchend hetzte er weiter. Ein weiterer Stein traf ihn. Diesmal hinter dem rechten Ohr. Er spürte, wie es schwarz vor seinen Augen wurde. Seine Bewegungen wurden langsamer. Er hatte das Ende des Platzes erreicht. Halb ohnmächtig fiel er zu Boden und blieb liegen. Vorsichtig wandte er den Kopf nach einer Weile. Osmondes Bus stand in Flammen. Das Feuer loderte hoch und erhellte den Platz und die Kathedrale. Die drei furchterregenden Gestalten, Wasserspeier vermutlich, bewegten sich nicht mehr. Cohen schüttelte den Kopf. Er hatte ja in seiner Laufbahn schon einiges erlebt, aber so etwas noch nicht. Für ihn gab es keinen Zweifel, die Statuen waren für einige Minuten zum Leben erwacht. Dann fiel ihm Coco ein. Sie und die anderen Touristen befanden sich in der Kathedrale. Er stand auf und umspannte den Griff der Pistole. Zögernd überquerte er den Platz. Der Bus brannte noch immer, doch die Flammen waren kleiner geworden. Er ging um den Wagen herum und ließ dabei die Steinfiguren nicht aus den Augen. Doch sie bewegten sich nicht mehr. Cohen blieb vor dem Tor stehen und drückte die Klinke nieder, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Er preßte sein Ohr gegen das Eisentor. Kein Laut drang aus der Kirche. Er holte sein Spezialbesteck aus der Tasche, bückte sich und untersuchte das Schloß. Er versuchte einen Dietrich in das Schloß zu schieben, was ihm aber nicht gelang. Fluchend richtete er sich auf und trommelte mit einer Faust gegen die Tür. Natürlich öffnete ihm niemand.
Der Dämonenkiller und Hector Reese gingen die Waterloo Road entlang. Wieder fiel dem Dämonenkiller auf, daß kein Mensch auf
der Straße zu sehen war. Reese bog in eine schmale Gasse ein, und Hunter blieb überrascht stehen. Er sah vor sich Cohens Wagen. Die Wagentür stand offen, Cohen war verschwunden. »Dieser Wagen gehört einem meiner Mitarbeiter«, sagte Hunter. »Ich wundere mich, wie er hierher kommt.« Reese war ebenfalls stehengeblieben und starrte den Dämonenkiller mißtrauisch an. »Hier ist eine magische Falle aufgestellt«, erklärte der Dämon. »Sie verhindert, daß normale Leute hier weitergehen. Sie werden zurückgetrieben. Wir wollen keine Besucher. Auch Ihrem Mitarbeiter dürfte es nicht gelungen sein, weiterzugehen. Wahrscheinlich irrt er irgendwo herum. Aber ich frage mich, wie es ihm möglich gewesen ist, hierher zu finden. Sie haben mir etwas verborgen, Hunter.« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf und ging langsam weiter. Reese folgte ihm. »Wo sind die Dämonen-Drillinge?« »Sehen Sie diese Häuser einmal genau an!« forderte Reese ihn auf. Hunter konnte nichts Ungewöhnliches an den Häusern feststellen. »Sie stehen leer«, sagte Reese. »Kein Mensch wohnt darin. Am Ende der Gasse befindet sich ein kleiner Platz, auf dem eine Kathedrale steht, eine Sehenswürdigkeit, die Sie in keinem Reiseführer finden werden. Die Kathedrale wird höchstens in alten Aufzeichnungen erwähnt. Nur wenige Sterbliche haben die Kirche seit dem Jahr 1532 gesehen; und diese wenigen hatten keine Gelegenheit mehr, davon zu berichten.« »Wie heißt die Kathedrale?« fragte Hunter. »Black Angels Cathedral«, sagte Reese. »Sie haben recht; von dieser Kathedrale habe ich noch nie zuvor gehört.« »Und auf dieser Kathedrale befinden sich die Drillinge«, sagte Reese. Der Dämonenkiller blieb überrascht stehen. »Sie haben schon recht verstanden«, sagte Reese. »Die Drillinge sind zu einem Bestandteil der Kathedrale geworden. Asmodi gelang es, die drei unheimlichen Geschöpfe zu versteinern. Sie erwachen
nur gelegentlich zum Leben: Dann wüten und toben sie, aber sie können ihren Platz nicht verlassen. Jahrhundertelang waren sie ruhig. Sie saßen über dem Hauptportal und verlangten nicht viel. Ein Opfer pro Jahr, das war aber auch notwendig, um sie am Leben zu erhalten. Doch seit Asmodis Tod ist ihre Gier kaum zu stillen. Sie verlangen immer mehr Opfer.« »Was für Opfer?«, fragte Hunter mit betender Stimme. »In den ersten Jahren genügten Tieropfer. Wir löteten einige Stiere oder Kälber in der Kathedrale. Und dazu läuteten wir mit den unheimlichen Glocken. Die Drillinge bezogen die Lebensenergie von den sterbenden Tieren. Doch das reichte ihnen bald nicht mehr. Wir mußten Menschen nehmen, die durch die Glocken getötet wurden.« Hunter hatte entsetzt zugehört. »Und seit Asmodis Tod wurde es immer ärger«, fuhr Reese leise fort. »Wir konnten sie nur zur Ruhe und Erstarrung bringen, indem wir immer mehr Menschen opferten. Jetzt müssen täglich mindestens fünf Menschen sterben.« Hunter schloß die Augen. Vieles wurde ihm nun verständlich. Die sich in letzter Zeit häufenden Vermißtenmeldungen sprachen eine deutliche Sprache. Er schauderte. Die Touristen hatten sterben müssen, damit die Drillinge besänftigt werden konnten. Plötzlich lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Cohens Wagen! Der Agent hatte den Auftrag gelabt, hinter Osmonde herzufahren. Der Dämonenkiller lief los. Er verspürte nichts von einer magischen Falle, aber wahrscheinlich hatte Reese sie aufgehoben. Er bog auf den Platz ein und blieb stehen. Unweit der Kathedrale lag ein ausgebranntes Wrack, das noch schwach gloste. »Coco!« brüllte Hunter und raste auf den Wagen zu. »Coco!« »Hierher, Dorian!« hörte er Cohens Stimme. Hunters Puls hämmerte stärker, als er am Wagen vorbeirannte und vor Cohen stehenblieb. »Was ist geschehen?« fragte er mit heiserer Stimme. »Wo ist Coco?« »Mit den anderen Touristen in der Kathedrale!« Der Dämonenkiller wandte den Kopf herum. Reese war näher ge-
kommen. »Nichts wie rein in die Kirche!« sagte Hunter. »Coco schwebt in Lebensgefahr.« »Das Tor läßt sich nicht öffnen«, sagte Cohen. »Öffnen Sie das Tor, Reese!« brüllte der Dämonenkiller. »Das ist nicht möglich. Im Augenblick findet gerade eine Opferung statt, und die darf nicht gestört werden, sonst werden die Drillinge ärgerlich, was heute schon einmal geschehen ist. Sehen Sie die Gesteinsbrocken und den ausgebrannten Wagen!« »Das ist mir alles egal!« schrie Hunter. »Machen Sie sofort auf! Coco befindet sich da drinnen.« »Zuerst den Drudenfuß, Hunter!« sagte Reese. Hunter griff in die Brusttasche des Mantels und holte die Imitation heraus. »Da haben Sie den Drudenfuß!« keuchte er und schleuderte ihn Reese entgegen. »Aber es ist nur eine Imitation. Den echten bekommen Sie erst, wenn Sie das Tor öffnen.« »Sie haben mich getäuscht«, sagte Reese gefährlich ruhig, »und das werden Sie büßen, Hunter. Das verspreche ich Ihnen. Ich habe mit offenen Karten gespielt, doch Sie …« Ein knarrendes Geräusch war zu hören. Die drei hoben die Köpfe. Und da entdeckte der Dämonenkiller die Drillinge, die er das letzte Mal im Jahr 1532 gesehen hatte. Die drei Monster hatten sich nicht verändert. Athasar war ein grüner Teufel mit vier klauenbewehrten Armen. Aus dem Rücken wuchsen ihm riesige Drachenflügel. Bethiar sah noch abstoßender aus. Der Körper war eiförmig, und daraus wuchsen vier Spinnenbeine. Er hatte Glotzaugen, eine breitgedrückte Nase und ein riesiges mit drei nadelspitzen Zahnreihen versehenes Maul. Calira hatte den Körper einer nordischen Gottheit. Sie war makellos geformt und voller Anmut, doch die Schönheit ihres Körpers wurde durch den totenkopfähnlichen Schädel mit den armlangen, hauchdünnen Haaren zerstört. Zehen und Finger bestanden aus Tierhorn. Und diese drei unheimlichen Gestalten hockten über dem Portal der Kirche. Reese stieß einen Schrei aus, als sich Athasar bewegte, ein Türm-
chen ausriß und es in die Tiefe fallen ließ. »Wir müssen hinein!« brüllte Reese. »Es bleibt uns keine andere Wahl. Wir müssen die Opferung stören, sonst töten uns die Drillinge.« Er fuhr mit der rechten Hand in den Umhang, suchte kurz etwas und holte einige seltsam geformte Stöpsel hervor. »Die Glocken«, sagte er. »Stecken Sie sich die Stöpsel tief in die Ohren! Sie verhindern, daß sie gelähmt werden. Diese Stöpsel schalten das Läuten aus, aber sie können sonst alles hören. Rasch!« Hunter nahm vier Stöpsel, zwei schob er in die Tasche; er wollte sie Coco geben, falls sie noch am Leben war; die beiden anderen Stöpsel drückte er sich tief in die Ohren. Cohen folgte seinem Beispiel. Wieder krachten einige Steinbrocken zwischen die drei. Dann rann etwas Schwarzes über das Tor und vermischte sich mit einer grünen, ätzenden Flüssigkeit. Reese zog einen seltsam gedrehten Schlüssel hervor und drückte ihn gegen das Kathedralentor. Es dauerte einige Sekunden, und der Schlüssel verschwand im Loch. Knarrend sprang die Tür auf. Cohen war als erster in der Kathedrale. Mit einem Blick erfaßte er die Situation. Er sah den Kuttenmann, der vor Coco stand. Dann fiel sein Blick auf die Glocke, die an einer dünnen Schnur hing und über ihrem Kopf hin und her pendelte und sich dabei immer tiefer senkte. Er sah die Spitzen, die nach Cocos Kopf zu fassen schienen. Ohne nachzudenken, hob er die Pistole. So penetrant Cohen auch sein konnte, auf seine Art hing er an Coco, und seine Ausbildung als Geheimagent hatte sein unwahrscheinlich rasches Reaktionsvermögen noch gesteigert. Der Schuß peitschte durch die Kirche, ein Schuß, auf den Cohen stolz sein konnte. Trotz des schlechten Lichtes hatte er die Schnur getroffen, an der die Glocke hing. Die Schnur riß, und die Glocke kippte zur Seite. Sie sah wie das weit geöffnete Maul eines Riesenfisches aus. Torsk war zu überrascht. Er reagierte nicht rechtzeitig. Die Glocke raste auf ihn zu, prallte gegen seine Brust und riß ihn zu Boden. Die
spitzen Stacheln bohrten sich in seinen Körper, und der Hohlkörper schloß sich und umfing Torsks Oberkörper. Es sah so aus, als hätte eine riesige fleischfressende Pflanze den Dämon verschlungen. Er schrie gequält auf, seine Beine zuckten kurz, dann bewegten sie sich nicht mehr. Hunter blieb neben der Tür stehen, während Reese das Tor schloß. Einer der Touristen lag mit zerfetzter Kehle auf dem Boden, während die anderen wie gelähmt dastanden. Hunter lief zu Coco, holte die Stöpsel aus der Tasche und schob sie ihr in die Ohren. Coco bewegte sich, schüttelte schwach den Kopf und stützte sich an Hunter, der seine Arme um sie schlang. »Das war knapp«, sagte er und lächelte. »Die Glocken«, wisperte Coco fast unhörbar. »Sie haben mich gelähmt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Das war Torsk.« Sie zeigte auf den Dämon, dessen Körper in der zusammengedrückten Glocke steckte. »Er war einer der Paten der Drillinge. Er hat auch den Drudenfuß den Ratten von Borvedam zur Aufbewahrung gegeben. Wir müssen die Glocken abstellen.« Der Dämonenkiller stützte weiterhin Coco, während er auf Reese zuging, der ihm finster entgegenblickte. »Stellen Sie die Glocken ab, Reese!« sagte der Dämonenkiller fordernd. »Damit wir die armen Leute aus der Kirche bringen können.« »Das ist leider nicht möglich«, sagte Reese. »Dann stopfen Sie den dreien Stöpsel in die Ohren!« sagte Hunter scharf. »Ich denke nicht daran«, knurrte Reese und verschränkte die Hände über der Brust. »Sie haben mich getäuscht. Sie haben Ihr Wort gebrochen, während ich Sie zu den Drillingen geführt habe.« »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Reese«, sagte der Dämonenkiller. »Wie Sie wissen, wurde gestern während unserer Zusammenkunft unser Hauptquartier überfallen und Phillip entführt. Die Täter nahmen noch etwas mit: den Drudenfuß.« Reese sah den Dämonenkiller aufmerksam an. »Sprechen Sie jetzt die Wahrheit, Hunter?« Der Dämonenkiller nickte. »Es ist die Wahrheit. Der Drudenfuß
wurde geraubt, und wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt, in wessen Auftrag der Raub ausgeführt wurde. Anfangs dachte ich, daß Sie oder Olivaro dahintersteckten, doch jetzt glaube ich das nicht mehr. Wir vermuten, daß irgendein anderes Mitglied der Schwarzen Familie für die Tat verantwortlich ist.« »Das glaube ich nicht«, sagte Reese. »Wir haben geheimgehalten, daß sich der Drudenfuß in Ihrem Besitz befindet. Olivaro und ich hatten keinerlei Interesse daran, daß diese Tatsache in der Schwarzen Familie bekannt wurde.« »Aber es ist nicht auszuschließen, daß irgend jemand davon erfahren hat?« »Auszuschließen ist es nicht«, sagte Reese unsicher, »aber es kommt mir unwahrscheinlich vor. Ich glaube nicht, daß …« Coco stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus und schloß die Augen. Coco! Es war der Hermaphrodit, der sie rief. Coco! »Ich habe Kontakt mit Phillip!« Sie versuchte die Gedankenverbindung mit dem Hermaphroditen herzustellen, doch es gelang ihr nicht. »Er darf auf keinen Fall mit dem Drudenfuß herumspielen!« schrie Reese mit geweiteten Augen. »Das könnte unser aller Tod sein. Ein unsachgemäßes Herumhantieren könnte die Drillinge erwecken. Und das wäre …« Reese brach mitten im Satz ab. Seine Augen wurden noch größer. Eines der schwarzen Fenster zersplitterte, und eine Krallenhand schob sich in die Kirche. Gleich darauf war der abstoßend häßliche Teufelskopf zu sehen. »Zu spät!« sagte Reese mit versagender Stimme. »Wir sind verloren.« Athasar sprang in die Kathedrale. Er breitete die Flügel aus und flog auf die drei noch immer gelähmten Touristen zu. Cohen hob die Pistole und schoß. Die Kugel prallte vom Schädel des Monsters ab. Athasar packte eine der gelähmten Frauen mit den vier Klauen. Die
Drachenflügel schlugen stärker. Er erhob sich in die Luft und schwebte in der Kirche hin und her. Cohen schoß nochmals; doch die Kugel konnte dem Ungeheuer nichts anhaben. »Nichts wie raus!« schrie der Dämonenkiller. Coco wandte den Kopf ab, als Athasar der Frau die Kehle zerriß und gierig das hervorquellende Blut zu schlucken begann. In diesem Augenblick stieg Calira durch das zerbrochene Fenster. Die hauchdünnen Haare bewegten sich erregt. Sie ließ sich zu Boden fallen und schlich langsam auf die zwei verbliebenen Touristen zu. Cohen und Hunter schossen mit den geweihten Silberkugeln auf die scheußliche Frauengestalt, doch die Kugeln prallten vom Körper ab und schwirrten als Querschläger durch die Kirche. Reese öffnete die Tür und prallte entsetzt zurück. Bethiars Spinnenkörper schob sich in die Kathedrale. »Unser Fluchtweg ist versperrt!« Das Spinnenmonster sprang ihn an. Er wich zurück, taumelte und fiel zu Boden. Im selben Augenblick war das Ungeheuer über ihm. Die Beine umkrallten Reeses Körper, und die scharfen Zähne schnappten nach seinem Kopf. Calira erreichte die Touristen. Ihre langen Haare zitterten stärker. Sie schlug ihre Krallen in den Rücken des Mannes. Die Haare bewegten sich rascher, berührten die Brust des Mannes und drangen wie tausend Sonden in die Brust ein. Das geflügelte Ungeheuer ließ die tote Frau fallen und schnappte sich im Vorbeifliegen die letzte noch lebende Touristin. »Wir kommen da nicht so einfach raus«, sagte Cohen entsetzt. Ihn erschütterte nicht so schnell etwas, doch was er in den vergangenen Minuten gesehen hatte, war einfach zuviel gewesen. »Vielleicht helfen unsere Dämonenbanner«, sagte Hunter und holte eines seiner Amulette hervor. Das Spinnenmonster ließ vom toten Reese ab und kroch langsam auf die drei zu. Dorian hielt Bethiar das Amulett hin. Die Glotzaugen des Ungeheuers änderten sich; es blieb für einen Augenblick stehen, dann stolzierte es jedoch langsam näher. »Rasch!« schrie Hunter. »Verschanzen wir uns in einem der Seitenschiffe! Hier können uns die drei von jeder Seite aus angreifen.«
»Wir müssen eine Möglichkeit zur Flucht finden«, keuchte Cohen. »Das Amulett hat keine Wirkung.« Hunter nickte. Im Augenblick waren Athasar und Calira mit ihren Opfern noch beschäftigt, doch Bethiar verfolgte sie mit überraschender Geschwindigkeit. Sie erreichten eines der Seitenschiffe, in dem ein kleiner Altar stand. Das Heiligenbild, das sich früher sicherlich dort befunden hatte, war durch ein Teufelsbild ersetzt worden. Die Glocken waren zum Stillstand gekommen. »Habt ihr irgendwelche Vorschläge, wie wir uns gegen die drei Ungeheuer verteidigen können?« Coco schloß die Augen, konzentrierte sich und hielt dabei eines von Hunters Amuletten und Dämonenbanner in den Händen. Ihre Lippen bewegten sich. Sie flüsterte unhörbare Worte, dann hob sie die Stimme und sprach in einer längst vergessenen Sprache. Ihre Stimme wurde immer lauter. Das spinnenartige Monster blieb stehen und trommelte mit den langen Beinen auf den Boden. Es öffnete das Maul und brüllte unmenschlich. Die Augen schlossen sich, und das Maul flog auf und zu. Aber das Ungeheuer ging nach einigen Sekunden weiter; wie in Zeitlupe. »Die Bannsprüche helfen auch nichts«, sagte Cohen mit versagender Stimme. Hunter hatte die Lippen zusammengepreßt. Seine Kiefer malmten. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Athasar und Calira hatten von ihren toten Opfern abgelassen und kamen nun ebenfalls näher.
Phillip wußte nicht, wo er sich befand. Der Raum war dunkel, und es war warm. Nach der Entführung war er lange Zeit bewußtlos gewesen. Er hatte sich schläfrig und müde gefühlt. Als er die Augen öffnete, war sein Blick auf den goldenen Drudenfuß gefallen. Er hatte nach ihm gegriffen und einige Symbole verändert; dabei hatte er intensiv an
Coco gedacht und sie sogar gerufen. Doch er hatte keine Antwort bekommen. Fremde Männer hatten ihm den Drudenfuß weggenommen, und einer hatte mit einer spitzen Nadel in seinen Arm gestochen. Coco, hilf mir, waren seine letzten Gedanken gewesen, bevor er eingeschlafen war. Jetzt war er wieder wach. Er hatte zu essen und zu trinken bekommen und saß nun vor einem Tisch in einem halbverdunkelten Raum. Der Drudenfuß stand vor ihm auf dem Tisch. Wieder hatte er einige Symbole verändert und dabei intensiv an Coco gedacht. Und plötzlich hatte sich der Drudenfuß rasend schnell verändert. Er war jetzt über einen Meter groß und schwarz. Die Tarot-Symbole schimmerten wie blutrote Tränen. Phillip wußte, daß etwas Entsetzliches geschehen war, doch noch ahnte er nicht, was er angerichtet hatte. Der Drudenfuß hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Er berührte ihn jetzt sanft und dachte nochmals an Coco, nicht auf das Stimmengewirr um ihn herum achtend. Trevor Sullivan, der O. I. blieb vor dem Zimmer stehen. Neben ihm stand Dr. Watson, der die Untersuchungen leitete. Dr. Watson war ein unscheinbares kahlköpfiges Männchen. Er trug einen weißen, viel zu weiten Arbeitsmantel. »Irgendwelche Ergebnisse, Watson?« fragte der O. I. »Einiges«, sagte Watson zufrieden. »Setzen wir uns, bevor wir zu ihm hineingehen.« Watson deutete auf einen kleinen Tisch, vor dem zwei Stühle standen. Er wartete, bis der O. I. Platz genommen hatte, dann setzte er sich auch. »Kaffee?« »Nein, danke«, sagte Sullivan ungeduldig. »Ich möchte endlich wissen, was Sie herausbekommen haben.« Watson zog eine dünne Zigarre hervor und zündete sie sich an. Entsetzlicher Gestank breitete sich im Vorraum aus. Sullivan rümpfte die Nase. »Erstaunlich, dieser Junge«, sagte Watson. »Wir haben ihn untersucht und dabei allen möglichen Tests unterzogen. Die Ergebnisse sind einfach famos.«
»Reden Sie nicht um den heißen Brei herum!« schnauzte ihn Sullivan an. »Was ist so erstaunlich an ihm?« Watson machte ein beleidigtes Gesicht. »Um es ganz offen zu sagen, wir haben kaum etwas herausbekommen.« »Und da behaupten Sie, daß die Ergebnisse erstaunlich sind?« »Das ist es ja«, sagte Watson aufgeregt. »Zum Beispiel konnten wir seine Blutgruppe nicht bestimmen.« »Das ist doch nicht möglich!« rief der O. I. Watson nickte. »Es ist aber so. Phillips Blut verändert sich innerhalb von wenigen Sekunden. Ich habe die Probe ins Labor geschickt, doch auch die haben nichts herausbekommen. Dabei ist eine Blutgruppenbestimmung eine ganz simple Angelegenheit. Dann haben wir ihn geröntgt. Das Ergebnis war wieder gleich Null. Die Aufnahmen zeigten nur die Umrisse des Körpers.« »Sie wollen damit sagen, daß die gesamte Untersuchung umsonst war?« »So weit würde ich nicht gehen«, sagte Watson. »Sehen Sie selbst!« Er zog aus seiner Tasche einen dünnen Papierstreifen, den er dem O. I. reichte. Sullivan ließ den Streifen durch seine Finger gleiten. Anfangs war der Streifen leer, dann waren schwache Linien zu sehen, die immer kräftiger wurden; Wellenlinien, die später in Zacken übergingen, die die ganze Breite des Streifens einnahmen. »Wir haben ihn an den Enzephalographen angeschlossen. Noch nie zuvor habe ich so seltsame, stark ausgeprägte Hirnströmungen gesehen. Der Junge ist ein Rätsel.« Der O. I. legte der Streifen zur Seite. »Da sagen Sie mir nichts Neues, Watson. Ich weiß, daß Phillip ein ungewöhnlicher Mensch ist – wenn man ihn überhaupt als Menschen bezeichnen kann.« »Wir haben auch seine Reaktionen getestet und sind zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Teilweise sind seine Reflexe so schwach ausgeprägt, daß er eigentlich nicht lebensfähig sein könnte. Als Phillip bei uns eingeliefert wurde, war er bewußtlos. Wir haben gewartet, bis er erwacht ist, und ihm den Drudenfuß gegeben, den wir vorher eingehend untersucht hatten. Es war uns nicht gelungen,
eines der Symbole zu bewegen. Doch Phillip hatte damit keine Mühe. In seinen Händen wechselte der Drudenfuß die Farbe und wurde größer. Der Junge hat dabei kein Wort gesprochen. Wir haben ihm den Drudenfuß wieder weggenommen und ihm eine Betäubungsspritze gegeben. Er ist sofort eingeschlafen – und die Einstichstelle hat sich augenblicklich geschlossen.« »Hat wenigstens die Untersuchung des Drudenfußes etwas ergeben?« »Wenig. Er ändert ständig das Gewicht und ist auch sonst beträchtlichen Veränderungen unterworfen. Die Gewichtsdifferenz betrug bis zu einem halben Kilogramm. Er reagiert auf keine Säure. Unter dem Mikroskop ist nichts zu erkennen. Teilweise sind uns die Linsen zerbrochen, wie von Geisterhand. Wir haben die besten Bohrer angesetzt, doch sie zersplitterten. Die Symbole lassen sich nicht bewegen. Wir stehen vor einem Rätsel.« »Sie stehen vor einem Rätsel«, sagte der O. I. ätzend. »Sie haben ein Labor, das mit den teuersten Instrumenten ausgerüstet ist, und so eine einfache Untersuchung gelingt Ihnen nicht. Das ist doch lächerlich!« Watson lächelte schwach. »Ich wiederhole es nochmals, auch auf die Gefahr hin, daß ich Sie langweile: Nie zuvor hatten wir so einen seltsamen Gegenstand wie den Drudenfuß zur Untersuchung. Vor wenigen Minuten ist Phillip erwacht. Wir hatten den Drudenfuß auf einen Tisch gestellt. Er griff sofort nach ihm, und es gelang ihm mühelos, wozu wir nicht in der Lage waren: Er veränderte die Stellung einiger Symbole, und der Drudenfuß wuchs und änderte die Farbe. Und dabei geschah wieder etwas äußerst Seltsames.« »Reden Sie schon!« knurrte der O. I. »Wir kontrollierten Phillips Herz- und Hirntätigkeit. Während er mit dem Drudenfuß herumspielte, hörte sein Herz zu schlagen auf, und der Enzephalograph zeichnete keine Hirntätigkeit mehr auf. Der Pulsschlag setzte ebenfalls aus. Phillip atmete auch nicht. Dieser Zustand dauerte fast fünf Minuten, dann ließ Phillip den Drudenfuß los und Herzschlag und Atmung setzten wieder ein.« »Das ist ja unglaublich!«
Watson nickte. »Es wird ziemlich lange dauern, bis wir einige konkrete Ergebnisse melden können.« »Was macht Phillip jetzt?« »Er spielt weiterhin mit dem Drudenfuß. Einige Spezialisten sind bei ihm. Er wird ständig beobachtet, und jede seiner Reaktionen wird über einen Computer gespeichert.« »Kann ich ihn sehen?« »Natürlich«, sagte Watson und stand auf. Es war Sullivans Idee gewesen, von drei seiner Agenten Phillip entführen zu lassen und den Drudenfuß zu rauben. Der O. I. glaubte weiterhin nicht an die Möglichkeit, daß die Dämonen-Drillinge noch lebten, doch er hatte mit eigenen Augen die verheerende Wirkung des Drudenfußes gesehen und wollte das Rätsel des geheimnisvollen Gegenstandes lösen. Aber wie es jetzt schien, hatten seine Bemühungen nichts erbracht. Er preßte grimmig die Lippen zusammen, als er Watson folgte. Sie traten in ein kleines Zimmer ein, das im Halbdunkel lag. An einer Wand waren verschiedene Apparate angebracht. Der Hermaphrodit saß vor einem winzigen Tisch. Auf der Tischplatte stand der Drudenfuß. Der Oberkörper des Hermaphroditen war nackt. Überall an seinem Körper und an der Stirn waren Elektroden angebracht, die zu den Apparaten an der Wand führten. Außer Phillip befanden sich noch drei Männer im Zimmer, die ihn nicht eine Sekunde aus den Augen ließen. Der Hermaphrodit berührte mit der rechten Hand den Drudenfuß. Seine Hautfarbe änderte sich, sie wurde hellblau. Der Drudenfuß nahm dieselbe Farbe an. Der O. I. blieb fasziniert stehen. »Coco ist in Gefahr«, flüsterte Phillip. »In großer Gefahr.« Sullivan trat näher. »Wo ist Coco, Phillip?« Der Hermaphrodit hob langsam den Kopf. Er starrte den O. I. durchdringend an und schien ihn zu erkennen. »Antworte, Phillip!« drängte Sullivan. Phillip schloß die Augen, und seine rechte Hand umklammerte einen der Stäbe des Drudenfußes. »Ich sehe eine Kirche«, sagte er fast unhörbar. »Coco, Dorian und Cohen haben sich in einem der
Seitenschiffe verschanzt. Sie werden angegriffen.« So normal hatte der O. I. den Hermaphroditen noch nie sprechen hören. »Von wem werden sie angegriffen? Und um welche Kirche handelt es sich?« »Drei Ungeheuer. Entsetzliche Monster. Sie wollen Coco töten.« »Die Kirche, Phillip! Welche Kirche ist es?« »Black Angels Cathedral!« »Diese Kathedrale kenne ich nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Watson. Sullivan verließ das Zimmer und winkte einen Agenten heran. »Lassen Sie feststellen, wo sich die Black Angels Cathedral befindet und schicken Sie ein Dutzend Männer hin!« »Verstanden.« Der O. I. kehrte zu Phillip zurück, der sich jetzt vorgebeugt hatte. Zögernd griff er nach einem der Symbole und bewegte es ein Stück nach unten; dabei berührte er eines der anderen Tarot-Symbole, und der Drudenfuß schrumpfte langsam. Phillips Finger schienen mit dem glühenden Metall zu verschmelzen. Der O. I. hatte den Eindruck, der Drudenfuß wäre zu einem Körperteil des Hermaphroditen geworden. Er konnte nicht ahnen, daß Phillip auf gedanklicher Ebene abermals nach Coco suchte.
Athasar, Bethiar und Calira lauerten auf eine Möglichkeit, an den Dämonenkiller und seine Gefährten heranzukommen. Coco schrie noch immer Bannsprüche, die aber nur wenig halfen. Dorian hatte mit geweihter Kreide einige Drudenfüße auf den Boden gemalt, die den Drillingen nicht gefallen wollten. Sie schlichen im Halbkreis hin und her, wagten sich aber nicht näher. »Die Drudenfüße helfen«, sagte Cohen. »Aber wie lange?« fragte Hunter leise. Er holte das Sprechgerät aus der Tasche und stellte eine Verbindung zur Jugendstilvilla her. Chapman meldete sich. »Ruf sofort den O. I. an!« sagte Hunter. »Wir befinden uns in einer
Kathedrale, die in einer winzigen Seitengasse liegt, die rechts von der Waterloo Road abzweigt. Die Dämonen-Drillinge sind zum Leben erwacht. Sie greifen uns an. Der O. I. soll einen Hubschrauber schicken. Hast du verstanden, Don? Es ist dringend. Ich weiß nicht, wie lange wir uns die drei Bestien noch vom Leib halten können.« »Verstanden«, sagte Chapman knapp. »Sie kommen näher«, flüsterte Cohen. Sie waren immer weiter zurückgewichen – bis an die Wand; weiter konnten sie nicht mehr. Die drei Monster standen jetzt etwa dreißig Schritte vor ihnen. Athasar flatterte mit den gewaltigen Flügeln und erhob sich in die Luft. Die abscheuliche Teufelsfratze verzerrte sich. Er flog im Kreis, blieb einige Sekunden in der Luft über dem Hauptaltar hängen, machte dann kehrt und flog auf die drei zu. »Ich kann den O. I. nirgends erreichen«, meldete sich Chapman. »Verdammt!« knurrte der Dämonenkiller. Athasar stieß auf sie herab. Hunter schleuderte dem geflügelten Monster ein Amulett entgegen. Athasar fauchte wütend und landete neben seiner Schwester. Er zerriß die Kette des Amuletts und schleuderte es durch die Kirche. Die Methoden, die sie sonst gegen Dämonen anwandten, wirkten bei den Drillingen nicht. Plötzlich hatte Hunter eine Idee. »Don!« schrie er ins Mikrophon. »Sag Mitton, er soll rasch ein wildes Musikstück auflegen und die Anlage auf höchste Lautstärke stellen. Dann halte das Mikrophon neben den Lautsprecher.« »Ob das etwas nützt?« fragte Cohen. »Es kann nichts schaden«, sagte der Dämonenkiller. »Wir dürfen nicht vergessen, daß die Drillinge keine Ahnung von moderner Technik haben.« Der Dämonenkiller wartete einige Sekunden, dann bückte er sich und drehte das Sprechfunkgerät auf höchste Lautstärke. Als er die Musik hörte, legte er das Gerät auf den glatten Boden und versetzte ihm einen Stoß. Es schlitterte auf die Monster zu. Laute Musik war zu hören. Mitton hatte eine Platte der Rolling Stones gewählt. Satisfaction hallte schaurig durch die Kirche. Athasar, der grünhäutige Teufel, zuckte zurück. Bethiar, das Spin-
nenmonster, verkrallte die Beine ineinander. Calira, das Totenkopfmädchen, sprang einige Schritte zurück und stieß einen schrillen Schrei aus. »Es klappt«, sagte Hunter. »Wahrscheinlich glauben die drei an einen besonders starken Zauber.« »Hauen wir ab«, sagte Cohen. »Ich habe wieder Kontakt mit Phillip!« rief Coco. »Diesmal viel stärker. Ich kann ihn ganz deutlich verstehen.« Athasar schlich um das Sprechfunkgerät herum und fauchte dabei. Mit einer seiner Krallen schlug er danach. Als nichts geschah, wurde er mutiger. Mit einem Schlag zertrümmerte er das kleine Gerät. Die drei Monster stürzten auf den Dämonenkiller und seine Gefährten los. »Jetzt ist es endgültig aus«, sagte Cohen. Doch dann geschah das Wunder. Die drei Monster erstarrten in ihren Bewegungen. Phillips Finger flogen über den Drudenfuß. Sein Gesicht war schweißnaß. Coco befand sich in Lebensgefahr. Er spürte ihre Angst. Es mußte ihm gelingen, die Monster unschädlich zu machen. Phillip wußte, daß er mit der Manipulation der Tarot-Symbole die Ungeheuer geweckt hatte. Und wenn er sie wecken konnte, dann mußte er sie auch lähmen können. Der Drudenfuß pulsierte jetzt giftgrün. Allmählich verstand Phillip die Symbolik: Seine Finger bewegten sich langsamer, und die Ausstrahlung des Drudenfußes griff auf seinen Körper über. Ungewöhnliche Fähigkeiten erwachten in ihm. Er konnte über Kilometer hinweg sehen. Er brauchte sich nur auf Coco zu konzentrieren. Er erblickte die Kathedrale, dann sah er ins Innere der Kirche. Schon einmal war es ihm gelungen, die Monster zu sehen, doch die Verbindung war nach wenigen Sekunden abgerissen, da er zu unvorsichtig mit dem Drudenfuß herumhantiert hatte. Diesmal durfte nichts schiefgehen. Vorsichtig umspannte sein rechter Zeigefinger das Symbol Die Kraft, während sein linker Mittelfinger das Symbol Das Jüngste Ge-
richt berührte. Im Zeitlupentempo bewegte er die Symbole. Ganz deutlich sah er, wie die drei Ungeheuer auf Coco, Dorian und Cohen losgingen. Er bewegte die Symbole rascher. Seine Lippen bebten. Und er hatte Erfolg. Die Monster erstarrten. Coco! dachte er. Flieht! Coco schien ihn verstanden zu haben. Sie lief zusammen mit Dorian und Cohen aus der Kathedrale. Die Monster bewegten sich noch immer nicht. Phillip wußte nicht, was er weiter tun sollte. Die Monster stellten eine Gefahr dar. Er mußte sie töten, aber so weit war er noch nicht. Er mußte sich weiter intensiv mit dem Drudenfuß beschäftigen und alle Möglichkeiten erforschen. Phillip hatte jedoch Angst davor, ein anderes Symbol zu berühren, da dadurch die Monster vielleicht wieder zu neuem Leben erwachten. Er versuchte erneut, mit Coco in Verbindung zu treten, und nach wenigen Sekunden gelang es ihm.
Der Dämonenkiller und seine Gefährten liefen am toten Osmonde vorbei. »Ohne Phillips Eingreifen wären wir jetzt tot«, keuchte Coco. Der Dämonenkiller nickte. »Hast du noch Kontakt mit ihm?« »Nein.« Sie überquerten den Platz und erreichten die schmale Gasse, in der noch immer Cohens Wagen stand. Cohen setzte sich hinters Lenkrad, während der Dämonenkiller neben ihm Platz nahm. Coco setzte sich in den Fond des Wagens. Cohen startete den Wagen, fuhr aus der Gasse heraus und bog in die Waterloo Road ein. Der Dämonenkiller versuchte mit Chapman Verbindung aufzunehmen, doch es gelang ihm nicht. »Wahrscheinlich läßt Don noch die Musik laufen«, sagte Cohen. »Halt bei der nächsten Telefonzelle an! Ich rufe an.« Cohen nickte. »Wohin fahren wir?«
Hunter kratzte sich am Kinn. »Wir müssen den O. I. erreichen. Wenn die drei Monster aus der Kathedrale ausbrechen, dann … Das müssen wir auf jeden Fall verhindern. Bleib stehen! Da ist eine Telefonzelle!« Er sprang aus dem Wagen und stürzte in die Zelle. Er verwählte sich einmal, fluchte und wählte wieder, diesmal langsamer. Mitton meldete sich. Im Hintergrund war laute Musik zu hören. »Stellt die Musik ab! Uns ist die Flucht aus der Kathedrale gelungen. Habt ihr versucht, den O. I. zu erreichen?« »Er ist nicht in der Zentrale. Niemand weiß, wo er sich aufhält.« »Herr im Himmel!« stöhnte Hunter. »Wenn man ihn einmal benötigt, ist er verschwunden. Die drei Monster können jeden Augenblick wieder zu toben beginnen.« Die Musik im Hintergrund verstummte. »Sind diese Ungeheuer tatsächlich so gefährlich?« fragte Mitton. »Gefährlich ist überhaupt kein Ausdruck«, schnaubte der Dämonenkiller. »Mit den üblichen Waffen sind sie nicht zu töten. Magie hilft auch nicht. Nur der Drudenfuß kann ihnen etwas anhaben – und der ist mit Phillip verschwunden. Ich …« »Mr. Hunter«, sagte Mitton, »ich muß Ihnen etwas gestehen.« »Dann machen Sie rasch, Mitton!« Der Agent schluckte. »Ich weiß, wer Phillip entführt hat«, sagte er tonlos. »Und das sagen Sie mir erst jetzt, Sie Wahnsinniger? Das ist doch …« »Es war der O. 1.« »Der O. I.?« schrie Hunter. »Ja, ist er denn völlig übergeschnappt?« »Er wollte den Drudenfuß untersuchen lassen, und da Sie ihn nicht …« »Wo wurde Phillip hingebracht?« »Das weiß ich nicht. Der O. I. sagte etwas von einem neuartigen Labor, aber ich weiß nicht, wo es ist.« »Versuchen Sie das herauszubekommen, und zwar möglichst rasch! Jede Sekunde ist wertvoll.« Hunter warf den Hörer auf die
Gabel und flog förmlich in den Wagen. Er schlug die Tür zu und fluchte. »Phillip wurde vom O. I. entführt. Mitton hat es mir gesagt. Angeblich soll er in ein Labor gebracht worden sein. Mitton weiß aber nicht, in welches.« »Das ist der Gipfel!« sagte Coco. »Wir waren halb verrückt vor Sorge um Phillip, und hinter der Entführung steckt der O. I.« »Jetzt reicht es mir endgültig«, sagte der Dämonenkiller. »Ich habe von Sullivan und dem Secret Service genug.« Coco hob die Hand. »Seid still! Phillip nimmt gerade Verbindung mit mir auf.« Sie versuchte sich auf die Gedanken des Hermaphroditen zu konzentrieren. Kannst du mich verstehen, Coco? Ja, ich verstehe dich, Phillip. Wo bist du? Ich weiß es nicht. Der O. I. ist bei mir. Frage ihn, wo du dich aufhältst! Sekundenlang empfing Coco nichts. Er will es nicht sagen. Warte einen Augenblick! Ich weiß, wie ich es auch ohne seine Hilfe herausbekommen kann. Wieder rissen die Gedanken ab. Ich befinde mich in der Cannon Street Nummer 198. Wir kommen, Phillip! Hantiere nicht mit dem Drudenfuß herum. Hast du verstanden? Ja, ich habe verstanden, Coco. Die Verbindung riß plötzlich ab. Nur ein schwacher Gedankenstrom war noch spürbar. Sie nehmen mir den Drudenfuß … »Rasch, Marvin!« sagte Coco. »Phillip befindet sich in der Cannon Street.« Cohen fuhr los. Er raste an der Waterloo Station vorbei und bog nach rechts in die Stamford Street ein. Der Agent holte das Letzte aus dem Wagen heraus. Er sauste die Southwark Street entlang, bog in die High Street ein und überquerte die London Bridge.
Der O. I. ließ den Hermaphroditen nicht aus den Augen. Phillip hatte noch immer die Augen geschlossen. Seine langen, seidigen Wimpern zitterten leicht. Der Mund war verkrampft, und die Wangen waren eingefallen. »Wir müssen ihm den Drudenfuß wegnehmen«, sagte Watson leise. »Er verfällt zusehends. Es wäre verantwortungslos, ihn weiter damit …« »Wo befinde ich mich?« fragte Phillip plötzlich. »Das hat dich nicht zu kümmern, Phillip«, sagte der O. I. »Weshalb willst du es wissen?« »Ich bekomme es auch so heraus«, sagte Phillip. »Mr. Sullivan«, sagte Watson ernst, »ich bestehe darauf, daß wir Phillip den Drudenfuß wegnehmen. Haben Sie mich verstanden?« »Gut«, sagte der O. I. mürrisch. »Dann nehmen Sie ihn an sich! Ich bin nur neugierig, wie sich Phillip verhalten wird.« Watson griff blitzschnell zu. Er packte den Drudenfuß und riß ihn an sich. Phillips linker Zeigefinger verschob noch das Symbol für Die Kraft, dann war der Drudenfuß aus seiner Reichweite. »Nicht!« schrie Phillip und sprang auf. Zwei Männer packten ihn und hielten ihn zurück. »Ich muß den Drudenfuß haben!« schrie Phillip. »Gebt ihn mir! Die Monster! Sie erwachen wieder! Ich spüre es! Sie erwachen!« Tränen rannen über seine Wangen.
Phillip hatte sich nicht getäuscht. Die Ungeheuer bewegten sich. Sie stapften in der Kathedrale auf und ab. Und plötzlich fingen sie zu rasen an. Sie zertrümmerten die Bankreihen, schlugen die Altäre in Stücke und rissen an den Mauerpfeilern. Athasar flog in der Kathedrale hin und her und riß die Glocken aus den Verankerungen und schleuderte sie durch die Kirche. Bethiar verspritzte Säure, die alles zerfraß. Der Boden warf Blasen, und die Kirche bebte in den Grundfesten. Calira stand vor einem der hohen Pfeiler und drückte ihre hauchdünnen Haare gegen das Gestein.
Die Haare fraßen sich in den Pfeiler, der sich langsam auflöste. Die Kathedrale schwankte hin und her. Ein Teil der Decke stürzte ein. Die drei Monster tobten weiter. Systematisch zertrümmerten sie die Kathedrale. Doch von einer Sekunde zur anderen hörten sie damit auf. Einen Augenblick bewegten sie sich nicht, dann war ein lautes Dröhnen zu hören. Die Luft flimmerte. Die Gestalten der drei Ungeheuer wurden durchscheinend, fast milchig, dann lösten sie sich auf und verschwanden.
Phillip hatte übermenschliche Kräfte entwickelt. Er riß sich los und schleuderte die beiden Männer, die ihn gepackt hatten, zur Seite. Dann schlug er Watson nieder und griff nach dem Drudenfuß. Sein Körper zitterte. Er schrie gequält auf, als er merkte, daß die Drillinge tatsächlich erwacht waren und die Kirche verwüsteten. Er versuchte, die Drillinge wieder zu lähmen. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als würde ihm das gelingen. Die Dämonen erstarrten. Doch dann lösten sie sich auf. Sie verschwanden, und ihre unheimliche Ausstrahlung war nicht mehr zu spüren. Phillip schluchzte und umklammerte den Drudenfuß fester. Coro, kannst du mich verstehen? Ja, ich verstehe dich, vernahm er ihre Antwort. Die Drillinge sind wieder erwacht. Sie haben die Kathedrale zertrümmert und sind anschließend verschwunden. Hast du mit dem Drudenfuß hantiert'? Sie wollten ihn mir wegnehmen. Dabei ist eines der Symbole verschoben worden. Wir sind in wenigen Augenblicken bei dir, Phillip. Wir fahren eben in die Cannon Street hinein. Ich sehe schon das Haus, in dem du bist, Phillip. Ich habe Angst, Coco. Entsetzliche Angst! Achtung, Phillip! gellte Cocos Stimme in seinem Kopf auf. Die Monster kommen! Phillip hob den Blick. Ein lautes Zischen war zu hören, dann folgte eine Explosion. Die Decke bebte. Steinbrocken fielen zu Boden.
Schreie hallten durch das Haus. Wände stürzten ein und Möbel zerbrachen. Es dröhnte unheimlich. Phillip öffnete die Augen. Eine Hitzewelle raste auf ihn zu. Er umklammerte den Drudenfuß fester. Die Ausstrahlung der Dämonen-Drillinge wurde stärker. Sie waren im Haus. Einer der Männer im Zimmer fing zu brennen an. Er raste durch die Tür und stieß schrille Schreie aus. Eine unsichtbare Faust zermalmte Dr. Watson. Der O. I. stemmte sich gegen den heißen Luftstrom. Seine Haut warf Blasen, und seine Knochen zerbrachen. Bewußtlos brach er zusammen. Athasar durchbrach eine der Zwischenwände. Unter seinen Armen trug er seine Geschwister. Augenblicklich gingen die drei Ungeheuer auf Phillip los. Da erwachten in Phillip Fähigkeiten, von denen er selbst keine Ahnung hatte. Er hielt den Drillingen den Drudenfuß entgegen, und seine Finger bewegten die Symbole wie ein Virtuose die Tasten eines Klaviers. Die Zeit schien stillzustehen. Die Luft wurde glasartig, die Perspektiven verzerrten sich. Die Wände wölbten sich nach innen, die Apparate zerschmolzen, und grelle Blitze durchzuckten den Raum. Die Ungeheuer schrumpften, während der Drudenfuß immer größer wurde. Und in diesem Chaos stand Phillip mit weit aufgerissenen Augen. Auch er veränderte sich. Sein Körper krümmte sich. Das Fleisch verschwand von seinen Knochen, nur noch die Haut hing schlaff herunter. Sein Gesicht sah wie ein Totenkopf aus. Die Haare fielen büschelweise aus und wurden stumpf. Die drei Monster waren nur noch einen Meter groß. Sie hockten nebeneinander auf dem Boden. Phillip trat auf sie zu. Jede Bewegung verursachte ihm Mühe. Er stemmte den Drudenfuß hoch und schlug mit ihm die DämonenDrillinge. Ruckartig schoben sich die Stäbe zusammen und umspannten die Schädel der Monster. Phillip ließ den Drudenfuß noch immer nicht los. Die Ungeheuer wurden noch kleiner. Phillip wußte nun genau, was er zu tun hatte. Er berührte das
Symbol, das für den Tod stand, und schob es hoch. Dann trat er einen Schritt zurück und ließ den Drudenfuß los. Die Waffe war bei der Geburt der Dämonen-Drillinge entstanden. Jetzt setzte sie alle Kräfte frei, die von Phillip ausgelöst worden waren. Die unheimlichen Monster verwandelten sich. Sie hatten ihre ursprünglichen schönen Gestalten zurückerhalten, doch ihre Leiber waren kaum mehr daumengroß. Aber sie lebten noch. Der Drudenfuß wurde noch kleiner. Die Stäbe zermalmten die Kehlen der winzig gewordenen Drillinge. Die Köpfe der Drillinge zerplatzten, dann die Leiber. Der Drudenfuß flimmerte stärker, dann löste er sich auf. Der Spuk war zu Ende. Phillip schloß die Augen. Er schwankte hin und her, dann brach er bewußtlos zusammen.
Cohen hatte den Wagen unweit vom Labor geparkt. Alle drei hatten deutlich gesehen, wie die Drillinge angekommen waren. Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht und einfach in das Haus hineingerast. Dabei war das Dach eingestürzt. Coco krümmte sich im Fond des Wagens. Sie hatte alles mitverfolgt. Phillip war es unbewußt gelungen, mit ihr in Gedankenverbindung zu treten. Sie hatte alles durch seine Augen gesehen: die Verwüstung im Haus und die Vernichtung des Drudenfußes und der Drillinge. »Die Drillinge sind tot«, sagte sie. »Phillip ist bewußtlos zusammengebrochen. Wir müssen ihn herausholen.« Sie stiegen aus und betraten das Haus. Gespenstische Stille empfing sie. Überall sah es wüst aus, so als wäre eine Bombe auf das Haus gefallen. Der Aufzug funktionierte nicht. In der Ferne heulte die Sirene eines Feuerwehrwagens. Sie stiegen die Stufen hoch. Überall lagen Trümmer und kaputte Möbel herum. Sie kletterten über einige bewußtlose Männer und erreichten schließlich das Zimmer, in dem Phillip gefangengehalten worden war. Die Tür war aus den Angeln gerissen worden.
Hunter blieb entsetzt stehen. Sein Blick fiel auf Phillip, der zwischen den Trümmern auf dem Boden lag. Sein Körper schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. »Phillip!« rief Coco und kniete neben ihm nieder. Sie griff nach seiner Halsschlagader und spürte ganz schwach den Puls. »Er lebt!« sagte sie erleichtert. Cohen kümmerte sich um den O. I. »Es hat ihn böse erwischt. Aber auch er lebt. Es wird nur ziemlich lange dauern, bis er wieder auf den Beinen ist.« »Phillip braucht ganz dringend einen Arzt«, sagte Coco. »Tragen wir ihn hinunter«, sagte der Dämonenkiller. Mit Schaudern dachte Hunter daran, was hätte geschehen können, wenn es Phillip nicht gelungen wäre, die Drillinge zu töten. Er bückte sich und hob Phillip auf, der leicht wie eine Feder war. Langsam stieg er die Stufen hinunter. ENDE
Vorschau
Der tätowierte Tod von Ernst Vlcek und Neal Davenport
Die Jagd nach den Dämonen-Drillingen ist beendet, aber schon steht die nächste Herausforderung für Dorian Hunter und seine Gefährten an. Während Coco in einer obskuren Erbschaftsangelegenheit nach Wien reist, nimmt Dorian in Schweden an einer Werwolfjagd teil. Der Weg führt ihn über Rußland, wo abermals dem geheimnisvollen Kiwibin begegnet, nach Istanbul. Dort gerät er in eine Auseinandersetzung zwischen der Sekte der Neu-Manichäer und dem Dämon Srasham. Der Köder ist ausgelegt, und der tätowierte Tod wartet bereits auf Dorian Hunter …