Marc Tannous
Die ozeanische Residenz Bad Earth Band 19
ZAUBERMOND VERLAG
Die falsche Sonne verbirgt eines der sagen...
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Marc Tannous
Die ozeanische Residenz Bad Earth Band 19
ZAUBERMOND VERLAG
Die falsche Sonne verbirgt eines der sagenumwobensten Bauwerke des Kosmos: den Aquakubus. Die RUBIKON kreuzt nach einem kurzen Vorstoß in sicherer Entfernung dazu. Doch wie sicher ist der Ortungsschatten eines Sterns, der jeden Moment kollabieren kann? Und wie sicher ist die Crew unter der Führung eines Mannes, der plötzlich jede Vorsichtsmaßregel zu vergessen scheint und plötzlich sogar den Treymor traut? Was geht vor sich mit John Cloud? Ist er längst eine Marionette der neuen Herren über Tovah'Zara …?
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, je-
doch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster. denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enor-
men Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. In der Anomalie eines Milchstraßenplaneten trifft sie ausgerechnet auf Sobek. Der bringt die RUBIKON in seinen Besitz und steuert gemeinsam mit seiner Gefährtin Siroona die alte Heimat der Foronen, Samragh, an. Dort kommt es zum Duell mit Mecchit, der das wieder erblühende Foronenreich mit harter Hand regiert. Sobek siegt, Mecchit stirbt … aber dann kommt alles anders als erwartet. Ein in den Randgebieten Samraghs auftauchendes Phänomen – Tausende Sterne verschwinden ohne erkennbaren Grund – lockt Sobek an, und die Fremdtechnik aus der Anomalie, mit der er die RUBIKON unter seine Kontrolle bringen konnte, wird im Einflussbereich des Unfassbaren zerstört. Sobek stirbt. Und Siroona erhält von John Cloud die Chance, ihr Volk auf einen friedlichen Weg zu führen. Die RUBIKON aber kehrt in die Milchstraße, ins Angksystem zurück und informiert die Bractonen über ihre besorgniserregende Entdeckung. Eine Expedition ins galaktische Zentrum bringt es dann an den Tag: Der kosmische Bereich, in dem die Menschen siedeln, steht vor dem Kollaps, vielleicht das ganze bekannte Universum. Den verwaisten Platz der von Kargor mobil gemachten CHARDHIN-Station hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes hat eine Negaperle eingenommen. Im Heimatkontinuum der ERBAUER scheint man beschlossen zu haben, das EXPERIMENT (unser Universum!) rigoros zu beenden. Nur unter Einsatz fast aller vorrätigen Tridentischen Kugeln gelingt es schließlich, die Negaperle zu eliminieren und eine neue »gesunde« CHARDHIN-Station im Milchstraßen-Black-Hole zu installieren. Die Gefahr scheint gebannt, doch wieder einmal haben auch die Treymor von sich reden gemacht. Bis zum letzten Moment versuchten sie, die Negaperle zu schützen. Ihre Motive sind mysteriöser denn je. Erst recht, als die RUBIKON Zeuge wird, wie eine ganze Flotte von X-Schiffen ein einzelnes bekämpft und schließlich vernichtet. Herrscht Uneinigkeit unter den Treymor? Bei der Verfolgung stößt die RUBIKON auf ein längst vernichtet
geglaubtes Relikt aus der Vergangenheit – die ozeanische Sonne, in der Mysteriöses vorgeht. Denn es handelt sich bei ihr um nichts anderes als den Aquakubus, einstiges Versteck der Foronen. Heimat der Vaaren, Heukonen und Luuren. Doch die Vaaren gibt es nicht mehr …
Prolog Der Ruf des Gesegneten ereilte Mingox während seiner täglichen Andacht im Zentrum der Protowiesen. Die Botschaft war unmissverständlich, Farrak erwartete sein sofortiges Erscheinen. Farrak! Mingox erstarrte kurz vor Glückseligkeit. Ein Erleuchteter wollte ihn sehen! Seit der Luure das Amt des Ersten Verwerters innehatte, war es erst einmal geschehen, dass er eine persönliche Audienz bei einem von ihnen erhalten hatte – am Tag seiner Ernennung. Das war achtzehn Statuseinheiten her, und hätte sich der ruhmreiche Tag nicht in sein Gedächtnis gebrannt, hätte er sich daran vielleicht kaum noch erinnern können. Achtzehn Statuseinheiten, das war die Hälfte seines exakt reglementierten Lebens. Luuren, denen nicht die Ehre zuteil wurde, zum Ersten Verwerter aufzusteigen, mussten sich mit einem Drittel dieser Lebensspanne begnügen, sie wurden nur zwölf. Niemand konnte dagegen anfechten. Das innere Uhrwerk eines Luuren funktionierte erschreckend perfekt. Wie genau es zuging, dass ein Amt das Leben verlängerte, wusste nicht einmal Mingox als Betroffener genau. Vielleicht hatte es mit dem damaligen Akt der Berufung zu tun – Mingox hatte manches Mal darüber gegrübelt, war aber nie zu einem überprüfbaren Resultat gelangt. Irgendwann hatte er es einfach akzeptiert, und im Nachhinein fand er, dass das die einzig richtige Art war, damit umzugehen. Allzu großes Wissen schadete mitunter. Zumindest, wenn es sich um Wissen handelte, das nichts, aber auch nicht das Geringste mit seiner Aufgabe zu tun hatte, die er seither erfüllte. Eigentlich, dachte er, bin ich selbst ein Gesegneter. Weil ich in meiner Bestimmung aufgehe, das tun kann, was sich jeder Luure im Grunde seines Herzens wünscht und ersehnt. Aber noch während er dies dachte, überkam ihn ein ungutes Ge-
fühl, das ihn selbst erschreckte. Denn plötzlich … war eine klamme Furcht in ihm, die sich kaum bezähmen ließ. Welchen Anlass mochte es geben, dass Farrak ihn zu sprechen wünschte? Hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen? Hatte er Fehler begangen, sich zu bequem in seinem Amt eingerichtet und es – ohne das zu wollen und sich dessen bewusst zu sein natürlich – in irgendeiner Weise vernachlässigt? Mit Grausen dachte er an die näheren Umstände zurück, unter denen er die Nachfolge seines Vorgängers angetreten hatte. Unmittelbar nach der Ankunft der Gesegneten. Es war lange her, wie schon gesagt, aber Mingox' Vorgänger hatte sich gegen die Erleuchteten ausgesprochen, hatte sie … Mingox krümmte sich innerlich – wie lange hatte er daran schon nicht mehr gedacht, hatte er die Erinnerung daran in den Tiefen seines Gedächtnisses verschlossen gehalten? … hatte sie Feinde Tovah'Zaras, Invasoren genannt! Mingox wischte die Erinnerungen weg wie einen ekligen Folarniwurm, der sich bevorzugt in den Gedärmen von Jung-Luuren einnistete und für anhaltendes Erbrechen sorgte. Mühsam kämpfte er die erwachte Furcht nieder. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, sprach er sich selbst Mut zu. Er ging völlig in seiner Arbeit auf, nahm sich weder Zeit für ein Privatleben noch für eine Gefährtin – obwohl es ihm an Angeboten nicht mangelte. Natürlich nicht. Welches Weib sonnte sich nicht gern im Glanz eines Ersten Verwerters? Aber die Vernunft hatte ihn immer davor zurückschrecken lassen, auch wenn er sich manches Mal einsam fühlte und nach der Nähe einer Partnerin sehnte. Doch die nie endende Arbeit bot Ablenkung zuhauf. Im Grunde war er zufrieden, wie es war. Das Leben hätte nicht besser laufen können. Bis heute. »Was ist mit dir, Meister?« Die Schallwellen drangen an Mingox' Rezeptoren. Hinter einem rankenartigen Ausläufer aus Protogras, auf dem der Schrein stand,
glitt Lomax hervor, einer seiner fähigsten Helfer, der bereits im letzten Stadium seines Lebens angelangt war. Nicht mehr lange und Lomax würde den unvermeidlichen Weg aller Luuren gehen. Er hatte sich bereits einen Flecken ausgesucht, an dem er in Ruhe zerfallen und den Wiesen wertvolle Nährstoffe zuführen konnte. In letzter Zeit sprach Lomax von kaum etwas anderem als dem nahenden Tod. Obwohl Mingox seinen Helfer verstand, verabscheute er es, tagtäglich mit den Ängsten seines Helfers konfrontiert zu werden. Er hatte ihm geraten, das spezielle Kraut zu sich zu nehmen, das die Gedanken klären half. Aber Lomax gefiel sich in seinem Selbstmitleid und lehnte diese Hilfen kategorisch ab. Er wollte lamentieren, er wollte seine Trauer über das unausweichliche Ende mit demjenigen teilen, der ihm am nächsten stand. Und das war nun einmal Mingox – zu dessen Leidwesen. »Ich wurde gerufen, Lomax.« »Gerufen?« Der fleißige, aber etwas einfältige Helfer verstand nicht die Tragweite dessen, was sein Meister andeutete. »Von ihnen. Einem Gesegneten.« Für eine ungewöhnlich lange Weile war Lomax sprachlos. Dann fasste er sich, und in seinen Augen brannte plötzlich ein Feuer, das Mingox nicht auf Anhieb zu deuten vermochte. »Du gehst zu ihm?« »Er wird mir eine Weiche schicken«, bestätigte Mingox, was die Ehrfurcht seines Helfers nur noch steigerte. An der Art und Weise, wie er herumtänzelte, erkannte Mingox, dass Lomax etwas auf dem Herzen hatte. »Was beschäftigt dich? Müsste nicht eigentlich ich derjenige sein, der nervös ist?« Lomax fühlte sich offensichtlich ertappt. »Verzeih«, druckste er herum. »Es ist nur …« »Was?« Die Stimme des Helfers schwankte. »Wenn du … nun, wenn du vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen könntest? Es gibt noch andere Protowiesen, und falls für dort ein … ein Erster Verwerter
gesucht wird …« Lomax verstummte. Seine Haut zeigte plötzlich eitrig gelbe Verfärbungen – Zeichen seiner Beschämung. Aber Mingox hatte längst begriffen, was sein Helfer anstrebte. Du redest von anderen Protowiesen, dachte er, aber du würdest auch diese Weiden hier übernehmen – vielleicht hoffst du ja, dass das, was ich fürchte, eintritt. Dass die Gesegneten mich rufen, um mich für irgendetwas zur Rechenschaft zu ziehen. Dann wäre dieser Platz – mein Platz – frei. Er verspannte sich, doch dann beruhigte er sich selbst. Aber nicht einmal du, Lomax, wärst unverfroren genug, mich zu bitten, ein gutes Wort für dich einzulegen, wenn du glaubtest, ich hätte die Gunst der Erleuchteten verspielt. Nicht einmal du … »Du bist ehrgeizig, Lomax, das zeichnet dich aus. Ich war wie du – einst. Aber ich kann dir keine Hoffnung machen. Ich weiß nicht, was der Grund meiner Audienz ist. Es könnte sein …« Obwohl er nicht aussprach, was er insgeheim fürchtete, wurden Lomax' Augen groß. »Meister … nein, niemals!« »Ich hoffe, du hast recht.« Mingox verabschiedete sich von seinem Helfer. Dabei blieb er kurz angebunden. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als glaube er selbst nicht an seine Rückkehr. Mit gemischten Gefühlen machte er sich auf den Weg dorthin, wo ihm die Transitweiche versprochen worden war. Tatsächlich materialisierte das blau gefärbte Feld, das sich in seiner Konsistenz kaum vom umgebenden Wasser zu unterscheiden schien, aber etwas völlig anderes war. Die Gesegneten hatten es mitgebracht und als Transportmittel eingeführt. Mingox glitt hinein. Auf der anderen Seite des Feldes erwartete ihn etwas Schockierendes: völlige Trockenheit. Von einem Moment zum anderen, noch während die Nässe von seinem schlanken, vierfüßigen Körper perlte, stellte sich seine Atmung um. Ebenso Augen und Gehör. Es war etwas völlig anderes, zu sehen und zu hören – erst recht zu riechen –, als innerhalb des Mediums, in dem Luuren normalerweise ihr ganzes Leben verbrachten.
Schon beim ersten Besuch eines Ortes wie diesem hatte er den Übergang ins Wasserlose nur schwer verkraftet. Niemand hatte ihn vorgewarnt, in irgendeiner Weise darauf vorbereitet. Er versuchte sich von seiner Scheu und Abneigung nicht allzu sehr vereinnahmen zu lassen. Die eigentliche Prüfung wartete ja erst auf ihn. Die Begegnung mit … … IHM. In einer der metallischen Wände entstand eine Öffnung, und der Gesegnete trat über die Schwelle. Sofort traf die Euphorie Mingox wie eine unsichtbare Welle. Er erzitterte. Sein Kopf neigte sich wie von selbst zum Boden. In seine Augen schoss das brennende Sekret, das normalerweise kaum erträgliche körperliche Schmerzen freisetzte. Aber in gewisser Weise war es auch Schmerz, der Mingox zum Erbeben brachte – ein Gefühl so überbordender Freude, dass es weh tat. »Erleuchteter …« Seine eigene Stimme war ihm fremd. Unter Wasser klang sie völlig anders. Der Widerhall von den Wänden war im ersten Moment kaum erträglich. Umso süßer, melodischer, verzaubernder dann die Erwiderung: »Beruhige dich, Erster unserer Wahl. Sei ganz du selbst, du hast nichts zu fürchten. Wir sind mehr als zufrieden mit deinen Leistungen, deiner Loyalität, deinen Ergebnissen.« Für einen Moment glaubte Mingox, sterben zu müssen. Hätte er diesen Moment nur festhalten können. Er hob den Kopf. Der Gesegnete stand nur noch eine Körperlänge von ihm entfernt. Im Gegensatz zu einem Luuren stand er auf lediglich einem Beinpaar, obwohl zwei weitere, fast identisch aussehende Paare aus seinem Torso wuchsen. Die aber benutzte er offenkundig als Greifwerkzeuge. Insgesamt mutete sein Erscheinungsbild an, als hätte seine Spezies sich vor langer, langer Zeit einmal in ähnlicher Körperhaltung wie die Luuren fortbewegt – nur eben auf trockenem Geläuf. »Was – kann ich für Euch tun, Gesegneter?« »Das werde ich dir erklären. Du musst mir folgen. – Geht es?
Kommt dein Metabolismus mit der Umstellung zurecht?« »Es geht, ja, ja, Erleuchteter. Darf ich fragen, ob es länger dauert? Ich habe niemanden berufen, mich in meiner Abwesenheit –« Die berauschende Stimme des Erhabenen unterbrach ihn. »Ich habe das für dich getan. Denn du wirst nicht mehr zurückkehren. Dein Ersatz erhält in diesem Moment die Weihe.« Es war, als wäre Mingox im Moment größter Glückseligkeit eröffnet worden, dass er nun doch sein Leben verwirkt hatte – warum auch immer. Er sank in sich zusammen. Farraks Stimme richtete ihn wieder auf. »Du missverstehst. Deine Bevorzugung wird dadurch keinen Schaden erfahren. Im Gegenteil: Solltest du auch unsere neuen Erwartungen erfüllen, erhältst du zum Lohn eine weitere Aufstockung deiner Lebensspanne.« Mingox fühlte sich hin- und hergerissen. Er wagte es nicht mehr, sich in schrankenlosem Wohlgefühl zu sonnen, weil er fürchtete, abermals aus seinen Träumen geworfen zu werden. Verhaltener als zuvor fragte er noch einmal: »Was kann ich für Euch tun?« Die Aussicht, vielleicht noch länger als ohnehin schon durch eine neuerliche Bevorzugung und Belohnung leben zu dürfen, war zusätzlicher Ansporn. Aber er hätte auch ohne sie alles gegeben, wozu er fähig war, um die Gesegneten zufrieden zu stellen. Seit sie über Tovah'Zara herrschten, strebte die Welt immer neuen Höhen entgegen. Die Einzigen, die nicht mehr in den Genuss dieser neuen Epoche kamen, waren die Herren von einst – die Vaaren. Kaum noch etwas erinnerte an sie. Ihre Korallenstädte und -paläste waren, soweit Mingox wusste, verwaist. »Beweise, dass du ein Meister der Materie bist, Mingox. Beweise uns, dass du damit zu formen vermagst, was immer du willst … oder wir wollen.« Mingox meinte zu wissen, von welcher Materie der Gesegnete sprach. Von Geburt an waren Luuren affin zu Protomaterie. Dem Stoff, aus dem die Technik des Kubus gemacht war. Aber er sollte sich irren.
Wieder einmal. Farrak führte ihn in einen noch größeren Raum ohne Wasser. Zum ersten Mal sah Mingox einen Ausschnitt jenes Gebildes oder Bauwerks, in dem er sich befand, denn eine der Wände war so durchsichtig, als existiere sie gar nicht. Durch dieses gewaltige Fenster hindurch blickte Mingox auf die Umgebung, die ebenfalls wasserlos war. Ihre Weite war im ersten Moment bestürzend, weil sie suggerierte, dass der Luure Tovah'Zara gänzlich verlassen hatte. Aber wieder waren es Farraks Worte, die ihn beruhigten. »Wir befinden uns im Herzen deiner Heimat. Nur wenigen wird die Gunst erwiesen, das hier zu schauen.« Das hier – was war es? Mingox sah genauer hin. So genau, wie er nur konnte. Aber alles war so anders und fremd zu dem, was er gewohnt war, dass sein Verstand daran verzweifelte. »Wir befinden uns in einem Trakt der Silberstadt. Und die Silberstadt schwebt innerhalb der Kugel, die die Vaaren … du erinnerst dich an sie, die uns die Stirn bieten wollten? … einst ihre ›Ewige Stätte‹ hießen. Nun, ewiger als diese sich maßlos überschätzenden Fadenwesen ist dieser Ort allemal. Er wird noch sein, wenn niemand sich mehr an die Vaaren erinnert – und das wird schon sehr bald der Fall sein. Hier fanden wir ideale Bedingungen, um unsere Vorhaben umzusetzen. Hier wirst auch du fortan all deine Fähigkeiten für uns geben. Für die Sache.« »Welche …« Mingox räusperte sich. »… Sache, Gesegneter?« Wie aus dem Nichts trieb von der Seite her ein gigantisches Objekt ins Blickfeld. Mingox erschrak. Aus Farraks Brust drang ein rasselndes Geräusch, das amüsiert klang. »Es sieht riesig aus – aber auch … anders. Ganz anders als das, was wir zu erschaffen pflegen. Primitiver … Oder, Mingox?« Es war faszinierend. Es strahlte etwas aus, das eine bislang unbekannte Saite in Mingox zum Klingen brachte … Rasch rief er sich zur Räson. Wenn Farrak auch nur einen Anflug seiner Begeisterung bemerkte, mochte er es als Beleidigung auffassen. »Ja, Erleuchteter! Primitiv …«
Wieder rasselte es in Farraks Brust. »Und dennoch birgt es einen Schatz. Ein Juwel von unersetzlichem Wert, das du für uns schleifen sollst. Wir wüssten keinen Geeigneteren für diese Aufgabe.« Mingox sah kein Juwel, und er wusste auch nicht, wovon der Gesegnete die ganze Zeit redete. Dennoch haftete dem Objekt, das wie ein Dorn von gewaltigen Ausmaßen geformt war, um den sich eine Spirale wand, eine immense Anziehungskraft an. »Wir wechseln jetzt hinüber«, kündigte Farrak an. »Du sollst dir einen ersten Eindruck der Masse machen, auf die du von nun an deine ganze Konzentration und Schöpfungskraft verwenden wirst. Bist du bereit?« Mingox konnte seine Bejahung nur wortlos zum Ausdruck bringen. Sein Rachen war wie ausgedörrt. Sein Herz hämmerte von innen gegen die Brust. »Dann komm.« Farrak fädelte sich als Erster durch die Transitweiche, die er mit einer kaum merklichen Berührung eines seiner Gürtelsegmente hatte entstehen lassen. Mingox folgte ihm so schnell er konnte. Und schrie auf.
»Was, bei den Gezeichneten, ist das?« Farrak winkte den eingeschüchterten Luuren näher heran. Der Raum, in dem sie sich befanden und in den die Weiche sie geführt hatte, war groß. Aber an der schieren Größe lag es nicht, dass Mingox das Gefühl hatte, Wurzeln geschlagen zu haben, die ihn daran hinderten, weiter vorzudringen. Erst die Geste des Erhabenen hob die Erstarrung auf. Mingox wankte über den Boden, der an unzähligen Stellen aufgebrochen war. Unmittelbar vor einem der geschwulstartigen Ausblühungen blieb er stehen. »Fass es an«, forderte Farrak ihn auf. Mingox spürte sofort, dass es etwas Lebendiges war. Aber erst als er vorsichtig die vorderste seiner variablen Gliedmaßen ausstreckte und mit allen drei Zehenfingern gleichzeitig berührte, übertrug sich
ein prickelndes Gefühl wie schwache Elektrizität auf ihn. Er widerstand dem Verlangen, zurückzuzucken. Farrak erwartete gewiss mehr Selbstbeherrschung von ihm. »Es ist … besonders. Anders. Fremd. Aber mit enormem Potenzial.« »Ich sehe, wir verstehen uns.« Mingox drehte leicht den Kopf. Fragend sah er den Gesegneten an. »Jeder Künstler braucht Rohstoff, um ein Meisterstück zu kreieren. Je hochwertiger in der Qualität dieser Rohstoff ist, desto hochwertiger müsste auch das Endprodukt sein, was meinst du, Erster?« Mingox zögerte mit der Bestätigung, weil er bereits ahnte, dass Farrak ihn darauf festnageln würde – mit freundlichen Worten, die aber nichts an der sich daraus ergebenden Konsequenz änderten. »Davon … ist auszugehen.« »Sehr gut.« »Darf ich jetzt erfahren …« Mingox löste die Zehenfinger von der gallertartigen, von einer dünnen Haut umspannten Masse. »… worum es sich handelt? Woher es … kommt?« Der Gesegnete erteilte bereitwillig Auskunft. »Von einem sonderbaren fernen Planeten, dessen Bewohner einen absonderlichen Weg in der Evolution beschreiten. Das hier …« Farrak machte eine Geste, die die Umgebung, in der sie sich befanden, umschloss. »… ist uralt. Du kannst nicht ermessen, wie viele Statuseinheiten. Wir haben es uns geholt – es gibt noch weitere dieser … Ressourcenlager. Wie du bereits bemerkt haben wirst, wohnt ihm eine besondere Kraft inne. Draußen, jenseits der Grenzen Tovah'Zaras, nennt man sie Psi-Kraft. Die Auswucherungen, die wir im Boden sehen, sind nur ein winziger Teil dessen, was darunter an Masse schlummert. Es ist Gehirnmasse, wie du vielleicht erkannt hast. Sie entstand nicht auf natürliche Weise. Sie wurde gezüchtet. Du wirst alles Nähere darüber erfahren. Es gibt Datenblöcke, die du ohnehin einsehen musst. Aber ich dachte, es sei wichtig, es dir so zu zeigen, dass du dir eine wirkliche Vorstellung davon machen kannst. Du ahnst, was wir von dir erwarten?« Mingox machte eine Geste der Verneinung. »Als Erster Verwerter
beschäftige ich mich normalerweise mit Protomaterie –« »Absolut richtig«, fiel der Gesegnete ihm ins Wort. »Aber du unterschätzt dich, wenn du glaubst, darauf wäre deine Gabe beschränkt. Wir wissen es besser. Sobald du anfängst, das hier als deiner Protomaterie gar nicht so unähnlich zu betrachten, wirst du den Zugang finden, den es braucht, um unseren Wunsch zu erfüllen.« »Euren Wunsch, Gesegneter?« Über Farraks Physiognomie huschte ein undeutbarer Ausdruck. Es schien, als wollte er gerade zu einer Erklärung ausholen, als er jäh stoppte. Eines der vielen bizarren Segmente seines Gürtels leuchtete grell auf. Der Gesegnete wurde sofort aufmerksam und berührte es. Seine Mienenspiel wurde abwesend … viele Herzschläge lang. Als lauschte er in sich hinein – oder einer Stimme, die für Mingox unhörbar blieb. Ein anderer Erhabener? Abrupt kam wieder Leben in Farrak. Hektik prägte die Sätze, mit denen er Mingox vertröstete und sich zugleich von ihm verabschiedete. Ganz in der Nähe der Transitweiche, durch die sie gekommen waren, entstand eine zweite. Farrak zeigte darauf. »Sie wird dich zurück zu den Protowiesen bringen – und bestehen bleiben, sodass du nach Belieben hin- und herwechseln kannst. Bis auf weiteres kannst du deine alte Behausung behalten. Ich melde mich, sobald die … Störung behoben ist.« »Störung, Gesegneter?« Farraks Haltung wurde abweisend, aber er war immer noch der Inbegriff dessen, was Mingox anbetete. Wo wäre Tovah'Zara ohne die Erleuchteten? Sich in ihrer Nähe sonnen zu dürfen, war das höchste Glück, das ein Luure erreichen konnte. Farrak ging wortlos durch die Transitweiche, durch die sie gekommen waren. Kaum war er fort, erlosch sie. Nur noch die Verbindung, die er für Mingox geschaltet hatte, blieb wie angekündigt. Mingox zögerte, sie zu benutzen. Nicht, weil er ihr misstraute, sondern weil er sich kaum losreißen konnte von dem, was hier war. Waren das schon die Anfänge dessen, was der Gesegnete vorausge-
sagt hatte? Fand er bereits den Kontakt zu der riesigen Masse, die unter seinen Füßen schlummerte? Gehirnmasse … Psi-gesättigt … Erregung packte ihn, und er konnte es kaum abwarten, die tiefere Bedeutung dieses noch fremden Begriffes zu erforschen. »Kannst du mich auch … sehen und fühlen?«, fragte er die geschwulstartige Ausblühung ganz nah vor sich. Obwohl er keine Antwort erhielt, schloss Mingox nicht aus, dass dem so war. Mit einem letzten Blick über die Weite des Raumes, der nur einen Bruchteil des spiralumwundenen Objektes zeigte, das er aus dem Fenster der Silberstadt heraus erblickt hatte, trat er durch die Transitweiche. Sein letzter Gedanke, bevor ihn das Feld in sich einsog und bei den Protowiesen wieder ausatmete, war: Ich komme wieder. Und dann … machen wir uns richtig miteinander bekannt. Ich werde in dich dringen mit all meinen Sinnen. Davor fürchte ich mich. Und kann es doch kaum erwarten …
Farrak betrat die Kommandosphäre, in der sich bereits jene acht Treymor aufhielten, die mit ihm die Führungsriege bildeten, die über das Tovah'Zara der Neuzeit herrschte. Zu einer Festung hatten sie das seltsame Relikt ausgebaut. Zu einer Basis von unschätzbarem Wert und dabei weder technische Mittel noch Anstrengung gescheut. Allein für die Tarnung des Wasserwürfels, der nach außen hin eine Sonne vorgaukelte, war das Beste an Technologie aufgeboten worden, über das sie verfügten. Und doch … hatte jemand die Tarnung durchschaut und – daran gab es keinen Zweifel mehr, als Farrak sich das gesamte aktuelle Sphärenwissen übertragen ließ – durchbrochen. Ein fremdes Fahrzeug war ohne Vollmacht in den Kubus eingedrungen! Weder Farrak noch die anderen Treymorführer hielten sich mit der Frage nach dem Wie auf – wie es hatte passieren können. Sie stellten sich unverzüglich der Situation. Das Fahrzeug, das den Ro-
chengleitern der Vaaren ähnelte und doch entscheidende Unterschiede, nicht nur was die Größe anging, aufwies, stieß mit hoher Geschwindigkeit in die Tiefenbereiche Tovah'Zaras vor. Dabei verhielt es sich, als wäre seine Besatzung kaum überrascht über die Verhältnisse, die sie hier antraf. Was wiederum nur bedeuten konnte, dass sie diese Verhältnisse kannte. »Stimmen wir in dieser Einschätzung überein?«, wandte sich Farrak an die anderen Versammelten, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. »Absolut«, kam es unisono zurück. Die Treymor waren über die Sphärenströme miteinander vernetzt. Ihre Wortkargheit beruhte darauf, dass die wichtigen Aspekte über die Kollektivschaltung der Sphäre ausgetauscht wurden, chemoelektrisch. »Ihr Ziel scheint im Kern des Kubus zu liegen …« Und so war es tatsächlich. Das fremde Objekt glitt mit beeindruckender Geschwindigkeit dem Zentrum entgegen. Dem Ort, wo Farrak und die Seinen das wichtigste Projekt in der Geschichte ihres Volkes vorantrieben. »Sollen wir sie aufhalten? Zerstören?« Farrak verneinte kategorisch. Er war der Kopf der für das Projekt zuständigen Neun. »Sie kommen aus eigenem Antrieb zu uns – wir brauchen sie nicht erst zu zwingen. Was könnte Besseres passieren?« »Wir wissen noch nichts über ihre waffentechnischen Möglichkeiten.« »Das lässt sich durch gezielte Provokationen ändern, oder?« Er setzte sich durch wie stets. Das seltsame Schiff jagte dem Ort entgegen, den die Vaaren Ewige Stätte genannt hatten. Dem Ort, der in einer ganz besonderen Beziehung zu dem Objekt stand, das ihn zweifelsfrei gezielt ansteuerte … Aber davon ahnten weder Farrak noch die anderen acht Treymor etwas – sonst hätten sie ihr Verhalten womöglich noch einmal hinterfragt und überdacht.
Und revidiert.
»Ich … weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll, Meister! Ich bin völlig überwältigt …« Lomax musste gesehen haben, wie Mingox aus der Transitweiche getreten war. Unvermittelt tauchte er vor ihm auf – und konnte seinen Überschwang kaum bremsen. »Danken?«, echote Mingox perplex. »Für deine Fürsprache«, sprudelte es aus Lomax heraus. »Ohne dich … wäre ich nie Erster Verwerter geworden – und erst recht nicht hier, auf meinen Heimatweiden.« Jetzt erst realisierte Mingox, was in seiner Abwesenheit geschehen war. Der gesegnete Farrak hatte es angedeutet, aber Mingox wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Lomax seine Nachfolge antreten würde. Schneller als erwartet erholte er sich von seiner Verblüffung. Offenbar glaubte Lomax, er, Mingox, habe seinen Einfluss bei der Wahl des Nachfolgers in die Waagschale gelegt. Sein Körper straffte sich, seine Stimme klang fest. »Ich wünsche dir alles Gute in deinem Amt, Lomax. Du bist ein würdiger Nachfolger. Ich war immer zufrieden mit dir.« Der neue Erste Verwerter huschte quecksilbrig um ihn herum. »Und du, Meis… ich meine Mingox? Man verriet mir nicht, was aus dir wird. Ich hoffe, mein Aufstieg wurde nicht auf deinem Rücken ausgetragen …« Zum ersten Mal keimte in Mingox leiser Zweifel, ob Lomax ihm gegenüber tatsächlich so loyal war, wie er es immer vorgab. Zum ersten Mal glaubte er für einen winzigen Moment hinter die Maske aus Unterwürfigkeit zu blicken. Was er sah, erschreckte ihn. Aber letztlich war er sich nicht sicher, ob er sich nicht täuschte. »Sei unbesorgt. Mir geht es gut. Es könnte gar nicht besser sein. Auch ich bin … nun, aufgestiegen. Aber es ist mir untersagt, darüber zu sprechen. Ich wandle künftig unter den Augen der Gesegneten. Dort, bei ihnen, wartet eine Herausforderung auf mich, wie sie
wahrscheinlich noch von keinem Luuren bewältigt werden musste …« Er verstummte. Hatte er schon zu viel verraten? In Lomax' Gesicht las er die brennende Neugier des ehemaligen Helfers. Aber er tat so, als sähe er es nicht. »Wir reden und beglückwünschen uns ein anderes Mal«, verabschiedete er sich von Lomax. »Ich bin müde. Ich war zwar nur kurz drüben, aber den Aufenthalt dort muss ich erst einmal verarbeiten.« »Nur kurz?« Lomax sah ihn misstrauisch an. »Seit wann sind acht Mikrostatuseinheiten kurz?« Nun war es an Mingox, den anderen ungläubig anzusehen. »Acht Mikrostatuseinheiten?« Über eine solche Spanne waren zwei Schlafperioden verteilt. »Was redest du da? Ich war nur –« »Du warst genauso lange fort, wie ich sage. Ich verstehe nicht, warum du nicht dazu stehen willst. Wenn die Gesegneten dich rufen, kannst du bei ihnen bleiben, so lange sie nur wollen.« Mit offener Empörung sah Lomax seinem Vorgänger nach, als dieser sich wortlos umdrehte und auf seine Behausung am Rand der Protowiesen zuglitt. Kaum in seinem Heim angekommen, überprüfte Mingox Lomax' Aussage. Das häusliche Uhrwerk bestätigte sie. Verwirrt verbrachte er den Rest der Wachperiode mit Grübeln. Er hatte Erinnerungen an höchstens eine Mikrostatuseinheit, die er im Allerheiligsten der Gesegneten zugebracht hatte. Wieso? Und was war während der übrigen Zeit passiert? Zum ersten Mal, seit er auf Farrak getroffen war, beschlich ihn ein Gefühl von Unbehagen. Er konnte es an nichts Bestimmtem festmachen, aber es verunsicherte ihn zutiefst. Er beschloss, den Gesegneten bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Mit diesem Vorsatz legte er sich in sein Protobett und fiel in unruhigen Schlaf, aus dem ihn erst der Ruf riss. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Frist erging die dringende Aufforderung der Gesegneten an ihn, zu ihnen zu kommen. Dafür war eine Transitweiche mitten in seinem Haus entstanden. Mingox sammelte sich kurz, dann fädelte er sich in den Transport-
strom ein. Gleich neun Gesegnete erwarteten ihn diesmal – und Farrak, der Erleuchtetste von allen, kam ohne Umschweife zur Sache. »Seit wir uns zuletzt begegneten, ist einiges von Bedeutung geschehen«, sagte er. Es war ein merkwürdiges Erlebnis, umgeben von so vielen Erhabenen zu stehen und ihre Blicke auf sich zu spüren. Mingox wurde von der Situation völlig überrascht. Er hatte erwartet, nur Farrak wiederzusehen. Und auch die Umgebung war ihm fremder als alles, was er sich vorstellen konnte. Kein Raum im eigentlichen Sinn war das Ziel seines diesmaligen Transfers, vielmehr wirkte es so, als schwebe er in einer Sphäre ohne feste Grenzen. Seltsame Muster und Darstellungen trieben zwischen ihm und den Gesegneten umher. Licht- und Farbenspiele. Er beobachtete, wie einer der Erhabenen mit seinen Extremitäten durch einen farbigen Nebel wischte und dieser sich zu einem Bild verformte, das zweifelfrei einen Sektor innerhalb Tovah'Zaras zeigte. Doch es löste sich gleich wieder auf, und an anderer Stelle, dort wo Farrak gestikulierte, bildete sich ein Szenario, wie Mingox es nur aus Gerüchten kannte, die allenthalben kursierten. Persönlich hatte er dergleichen nie erblickt. Aber sollte so nicht die Welt hinter der Welt aussehen? Wasserloser, luftleerer Raum mit gigantischen Feuerkugeln, zwischen denen noch gigantischere Abgründe klafften. Endlose Weite, endlose Leere … Kamen die Gesegneten nicht von dort, aus einem Raum, der sich Mingox' Vorstellungskraft entzog? »Ja«, erwiderte er auf Farraks Worte. »Ich wollte darüber sprechen. Ich stehe … vor einem Rätsel. Und hoffe, dass du mir helfen kannst.« Farrak fasste ihn scharf ins Auge. »Du sollst uns helfen, Luure. Es betrifft nicht die Aufgabe, die ich dir schon zugewiesen habe, sondern …« Das Bild, das Farrak aus den Farben erweckt hatte, veränderte sich. Details wurden herangezoomt. »Erkennst du es?« Mingox verneinte wahrheitsgemäß. Es hatte Ähnlichkeit mir den Fahrzeugen der Vaaren, in denen sie einst als Ordnungsmacht
durch Tovah'Zara gereist waren. »Wir haben die alten Datenbänke deines Volkes und die der anderen Völker Tovah'Zaras durchforstet«, sagte der Gesegnete, »und sind dabei auf Informationen von einiger Brisanz gestoßen.« Mingox wusste nicht, ob Farrak eine Stellungnahme dazu erwartete. Sein Blick hing immer noch an dem Fahrzeug, das eine machtvolle Ausstrahlung hatte. »Demnach«, fuhr Farrak fort, während die anderen Gesegneten nicht aufhörten, Mingox einfach nur anzustarren, als könnten sie so bis auf den Grund seiner Seele schauen, »spielte dieses Raumschiff vor Äonen eine Rolle in eurer Mythologie. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, Tovah'Zara wurde nur seinetwegen … gebaut.« Mingox wurde von der eigenen Körperreaktion überrascht. Das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Er hatte das Gefühl, gleich würde es zerspringen, weil es den dumpfen Takt, in den es wechselte, nicht lange aushalten konnte. »Ge…baut?«, röchelte er. Sich nicht innerhalb von Wasser, sondern in Luft aufzuhalten, mochte dazu beitragen, dass sein Organismus gerade kurz vor dem Kollaps stand – aber ausgelöst … ausgelöst worden war dieser Schock von Farraks Worten, die etwas wie eine Urerinnerung in Mingox hochspülten. Sie war jedoch so diffus, dass sie sich zu keinem Bild verdichtete. Einzig als Untermalung des Chaos, das nach seinem Geist griff, eignete sie sich perfekt. »Du hörst richtig – gebaut. Und ich spreche nicht etwa von den Vaaren, die ihr für eure ausschließlichen Herren hieltet, als Erbauer, sondern von Wesen, die ihr in eurer Verklärung Hirten nanntet. Sie waren die Initiatoren des Würfels. Sie initiierten die Ewige Stätte. Und sie verbargen darin … jenes Schiff, das du vor dir siehst und das …« Wieder legte Farrak eine Kunstpause ein, bevor er die eigentliche Bombe platzen ließ. »… zurückgekehrt ist nach all den Äonen, die es verschwunden war.« »Zurückgekehrt.« Mingox hasste sich selbst für das dauernde Wiederkäuen von Wörtern, die der Gesegnete ihm hinwarf. »Aber … ich verstehe nicht … Wenn die Hirten zurückgekommen sind –« »Davon war nicht die Rede. Du musst genauer zuhören. Ich sagte,
das Schiff ist zurückgekehrt. Aber aus euren Datenspeichern, denen der Vaaren, Heukonen und Luuren, geht hervor, dass es damals von einer Spezies entwendet wurde – entwendet aus der Kernzone Tovah'Zaras, in der wir uns heute befinden, jetzt –, die nicht hier ansässig ist. Sie kam von außerhalb. Und sie entschwand mit dem Schiff wieder nach außerhalb. Wir wissen nicht, warum sie zurückkehrten. Aber sie sind da. Und beinahe hat es den Anschein, als wären für sie keine Äonen vergangen.« Mingox verstand immer weniger – am wenigsten, warum die Gesegneten ihn mit alldem konfrontierten. »Seit unserer letzten Begegnung«, fuhr Farrak fort, »ist einiges passiert, das sagte ich schon. Die Insassen des Schiffes erreichten die Ewige Stätte und drangen sogar in die Silberstadt vor. Einer der Eindringlinge wurde dabei absolut zweifelsfrei identifiziert. Er gehört einer Spezies an, die sich Mensch nennt. Wir kennen sie. Was ich dir zeigte und woran du künftig arbeiten sollst, stammt von der Heimatwelt der Menschen. Aber sie sind überaus kurzlebig, werden nur unwesentlich älter als die Nichtberufenen deines Volkes, Mingox. Wie also können sie all die Zeiten überdauert haben, die euren Aufzeichnungen gemäß seit ihrem letzten Besuch vergangen sind? Dieser Eine, von dem ich rede, wurde anhand von Merkmalen identifiziert, die, das wirst du mir bestätigen, sobald ich sie dir nenne, unverfälschlich sind. Unübertragbar. Er muss es sein. Er ist es. Und damit haben wir nicht nur ein Problem, das nach Lösung schreit, sondern halten wir auch einen Trumpf in Händen, der ausgespielt werden kann, wenn ich eure diesbezüglichen Niederschriften richtig deute.« Mingox ertrug die Ungewissheit kaum noch. Die Ungewissheit, was Farrak von ihm wollte. Der Gesegnete spannte ihn nicht länger auf die Folter. »Du bist der Schlüssel. Die Fremden haben Tovah'Zara wieder verlassen. Aber sie werden wiederkommen. Und dann erwarten und empfangen wir sie gebührend.« »Was«, krächzte Mingox, »macht Euch … Gesegneter … so sicher?«
Farrak erklärte es ihm. Anfänglich verstand Mingox nur Ansätze. Aber die Erleuchteten wurden nicht müde, ihm das Wissen aus längst vergessener Zeit zu vermitteln. Mingox tauchte ein in ein Damals, das keiner der heute noch lebenden Luuren auch nur verschwommen kannte. Die Überlieferungen schwiegen dazu. »Aah …«, rann es irgendwann wie benommen aus seinem Mund. »Aah, jetzt … jetzt beginne ich zu begreifen …« Und er fühlte sich unendlich stolz, denn das, was die Gesegneten von ihm verlangten, erschien … machbar. Wenngleich reichlich bizarr.
1. Rot-Alarm! Der schrille Ton hallte, begleitet von einem intervallartigen Wechsel aus Licht und Dunkelheit, den das menschliche Gehirn gerade noch verarbeiten konnte, durch die Räume und Gänge der RUBIKON. Commander John Cloud spürte, wie sich sein Magen zu einem kalten Klumpen verdichtete, der ihm wie ein Stein in der Bauchhöhle lag. Auch mit Assur, die schöne Angk, die ihm gegenüber saß und ihn gerade noch aus verliebten Augen angeschmachtet hatte, weil er ihr ein Kompliment zu ihrer neuen Langhaarfrisur gemacht hatte, ging eine spontane Wandlung vonstatten. Cloud war noch nie Zeuge aus solcher Nähe geworden, wenn eines der Angkbesatzungsmitglieder mit dem Schiff verschmolz. Doch genau das geschah. Assurs eben noch auf den Tisch gestützten Ellbogen waren plötzlich darin eingesunken, als handele es sich um kein festes Metall, sondern um irgendetwas Flüssiges. Ihre Augen weiteten sich, um sich zwei Herzschläge später fest zu schließen. Ein gespenstischer neuer Ausdruck von höchster Anstrengung und Konzentration geisterte über ihr Gesicht. All das war eine Frage von wenigen Sekunden. Dann drang auch schon Seshas Stimme in die Stille. Eine Stimme, die Cloud wie eine rasche Folge von Geräuschen, die zerspringendes Glas verursachte, anmutete. Er versuchte sich von seinem Stuhl in Assurs Haus zu erheben. Aber irgendetwas zog alle Kraft aus seinen Muskeln. Für einen Moment überschwemmte ihn ein intensives Übelkeitsempfinden, und alles drehte sich vor seinem Blick. Es bereitete ihm äußerste Mühe, die Worte der KI zu verstehen. »Die Schilde wurden errichtet, das Schiff auf Fluchtkurs gesetzt, Commander. Ich erwarte die exakten Befehle.«
»Was zur Hölle …«, krächzte Cloud, immer noch um sein inneres Gleichgewicht kämpfend, »ist passiert. Warum wurde Alarm ausgelöst? Warum und wovor flüchten wir denn?« Seit Tagen hatte die RUBIKON einen gerade noch akzeptabel engen Orbit um eine zweifellos echte Sonne bezogen, deren Position rund drei Lichtjahre entfernt von einer nur vorgetäuschten lag. Die Bilder, die mit dem getarnten Aquakubus zusammenhingen, sprangen ihn förmlich an. Stöhnend versuchte er erneut, aufzustehen und von seinem Platz zu lösen. Aber zur Übelkeit kam jetzt auch noch ein brutales Schwindelgefühl hinzu. Er konnte gerade noch verhindern, dass er seitlich vom Stuhl stürzte. Seine Finger klammerten sich um die Kante der Tischplatte, die für ihn nach wie vor hart und stabil war, während Assur – Er merkte, wie die Sorge und Angst um sie seinen ohnehin schon angeschlagenen Verstand noch mehr beeinträchtigte. »Sesha! Meine Vitalfunktionen überprüfen. Auch die Gehirnströme. Besonderheiten?« Von irgendwoher huschte ein Scannerfeld heran, das Cloud bis in den Mentalbereich hinein durchleuchtete. Bevor eine Diagnose erfolgte, antwortete die KI jedoch erst auf das, was den Commander vorrangig interessierte. »Wir flüchten vor der Sogkraft des kollabierenden Sterns, in dessen Korona wir uns befinden«, erläuterte Sesha nüchtern. »Flux hat vor einer Minute ohne Warnzeichen begonnen, seinen Energiehaushalt zu verändern. Wenn es im bisherigen Tempo weitergeht, wird es den Stern in … dreißig Sekunden zerreißen. Die Folgen für das Schiff wären prekär. Deshalb leitete ich Präventivmaßnahmen ohne Absprache ein. Ich band dazu die Angks ein, alle, ohne Ausnahme. Nur so war es –« »Schon gut!«, unterbrach Cloud die Seele der RUBIKON. »Du hast richtig gehandelt, natürlich. Alles Weitere dazu später. Bring uns erst einmal in Sicherheit. Und achte dabei auf etwaige Suchschiffe der Treymor …« »Natürlich. – Dann zu dir, Commander …« Noch während Sesha sprach, spürte Cloud, wie seine Kräfte all-
mählich zurückkehrten. Wie sein Blick wieder klar wurde und das Übelkeitsgefühl ihn verließ. Beim dritten Versuch gelang es ihm, sich von seinem Sitz zur erheben. Er blieb vor dem Tisch stehen und blickte zur Decke, als könnte er dort eine Manifestation Seshas erspähen. Aber die KI blieb unsichtbar. »Leg los! Was ist mit mir? Bin ich krank?« »Dafür gibt es keine Anzeichen.« »Aber – ich war gerade handlungsunfähig. Ich konnte nicht einmal mehr über meinen eigenen Körper befehlen! Etwas muss mit mir sein. Wenn nötig, wiederhole den Scan!« Sesha gehorchte. Abermals wanderte der Diagnosestrahl durch Cloud, analysierte jeden Wert, den die Einrichtungen des Schiffes zu ermitteln vermochten. »Negativ«, beschied ihm im Anschluss die KI. »Kein Befund, der von den gespeicherten Normwerten in einem Maße abweicht, dass Grund zur Besorgnis bestünde.« »Das kann nicht sein!« Sesha schwieg. Cloud wusste, warum. Reaktionen wie die gerade von ihm gezeigte, überstiegen den Interpretationshorizont der KI. Vor ihm schnellte Assur in den Stand. Von einem Moment zum anderen hatte sich ihre Verbindung zum Schiff gelöst. Aber noch immer stand ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Cloud wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber sie nickte bereits und sagte: »Ich bin informiert. Ich habe es gesehen, John, gefühlt. Die Sonne, die uns Schutz vor Entdeckung bot, ist soeben … gestorben.«
»Kein Zweifel?«, fragte Cloud, als sich die Stammcrew mit ihm im Rund der Kommandositze niedergelassen hatte und Sesha das Resultat seiner Berechnungen und Recherchen vorlegte. »Ein vernachlässigbarer Prozentsatz«, behauptete die KI selbstbewusst. »Gibt es in der kosmischen Nachbarschaft Beobachtungen, die die-
se Einschätzung stützen?« Sesha verneinte nach einem kurzen Zögern, das Cloud sich auch einbilden konnte. »Was hieße«, sagte er, »dass dies, zumindest in unserem aktuellen Umfeld, eine Premiere wäre.« Die KI bestätigte dies. Cloud richtete den Blick auf die Gefährten, die Seshas Erklärung für den Sonnenkollaps ebenso gehört hatten wie er selbst. Mit ihm auf dem Kommandopodest Platz genommen hatten Scobee, Jarvis, Algorian, Jelto, Jiim und Cy. Damit waren alle sieben Sitze belegt. Die aktivierte Holosäule zeigte als Aufzeichnung die Tragödie, die sich kurz zuvor jenseits der Schiffshülle abgespielt hatte. Die RUBIKON hatte seither weitere fünf Lichtjahre zum nächsten Stern zurückgelegt, der bislang keinerlei Auffälligkeit zeigte. Aber die Sensoren arbeiteten auf Höchstleistung, und beim kleinsten Hinweis darauf, dass auch hier eine Entartung drohte, würde der Rochenraumer eine Nottransition vornehmen. Die Entfernung zur »ozeanischen Sonne«, wie Tovah'Zara neuerdings im bordinternen Sprachgebrauch auch genannt wurde, betrug etwa 3,9 Lichtjahre. Die zwischengeschalteten Filter schützten die Betrachter der Katastrophe vor dem Erblinden. Ansonsten wäre die Lichtfülle des Sonnenballs, der urplötzlich in sich zusammensank, als hätte jemand das Ventil eines zuvor prall aufgeblasenen feuerroten Luftballons geöffnet, nicht zu ertragen gewesen. Wieder und wieder lief das Sterben in der Holosäule ab. Die Sequenz war in eine Endlosschleife gebunden worden. »Seshas Annahme geht also dahin«, fasste Jarvis schließlich noch einmal zusammen, was sie erfahren hatten, »dass der Sonnentod von den neuen Herren des Kubus ausgelöst wurde. Sie zieht Parallelen zu unserem zweiten Exkurs nach Tovah'Zara, in die dortige Ewige Stätte, zu einem Zeitpunkt, als Sobek das Schiff für sein Volk zurückerobert hatte und wir hilflose Gefangenen seiner Willkür waren. Damals wurden die HARKARS erschaffen – in der Ewigen Stätte, welche, wenn wir uns nicht täuschen, die Funktion eines giganti-
schen Kopierapparats hat. Die RUBIKON – oder SESHA, wie die Foronen ihre Arche nannten – als Mastervorlage, wurden damals Dutzende ›Kopien‹ von ihr erschaffen. Und dafür wurden unvorstellbare Energiemengen benötigt, die die Ewige Stätte den Sternen stahl, in deren Umgebung Tovah'Zara seinerzeit kreuzte. Nun soll das, folgt man Sesha, wieder geschehen sein, wenn auch in bescheidenerem Umfang. Dabei erwischte es offenkundig den Stern, der dem getarnten Kubus momentan am nächsten steht. Dummerweise hatten wir den als Versteck auserkoren und können von Glück sagen, dass er uns nicht mit sich ins Verderben riss.« »Das verdanken wir allein Seshas Reaktionsschnelligkeit«, erinnerte Scobee. »Zu unserem Glück hat sie feminine Eigenschaften, wozu auch die Fähigkeit zählt, in Stresssituationen spontan richtige Entscheidungen zu treffen.« Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Nur Jarvis verzog keine Miene. »Natürlich«, sagte er nur – in einem Tonfall, der das Gegenteil verhieß. »Wenn Seshas Abgleich mit den in unseren Datenspeichern befindlichen Werten von damals den richtigen Schluss zog«, sagte Cloud, »bleibt die Frage, was diesmal in der Ewigen Stätte kopiert wurde …« »Vielleicht wurde nichts kopiert, sondern einfach nur erschaffen«, warf Algorian ein. Der spindeldürre Aorii-Telepath machte ein besorgtes Gesicht und saß kerzengerade da. »Ich erinnere an das Ergebnis unseres jüngsten Vorstoßes in den Kubus. Dabei wurde offenbar, dass die Treymor an einem neuartigen Schiffstyp arbeiten, der sich radikal von ihren bisherigen Vorlieben unterscheidet.« »Schiffe aus anorganischer Materie, der in noch unerforschter Weise Leben innezuwohnen scheint …« Cloud nickte. »Wie bei den Jay'nac. Vielleicht waren sie Vorbild … Wir finden es heraus. Auch, warum immer sie sich dafür entschieden haben. Welchen Vorteil sehen sie in solchen Konstruktionen, wo sie doch selbst zweifelsfrei organisch sind?« »Das Geschehen innerhalb des Kubus ist rätselhafter denn je«, stimmte Scobee ihm zu. »Die Verdrängung der Vaaren als ordnende
Instanz ist jedenfalls sicher … Ich frage mich, was aus den anderen Bewohnern wurde, denen zu früherer Zeit richtungsweisende Bedeutung zukam.« »Du meinst die Heukonen?« »Beispielsweise.« »Sie wurden wahrscheinlich ebenso unterdrückt wie jeder andere ›Ureinwohner‹ des Würfels«, vermutete Jarvis, »und stehen heutzutage kurz vor der Ausrottung – falls sie nicht schon ausgerottet sind.« »Das würde in der Schlussfolgerung bedeuten, die Treymor haben keine Verwendung für sie«, sagte Cloud. »Das kann … okay, das will ich nicht glauben! Warum sollte ihnen der Kubus so wichtig sein, wenn ihnen nicht auch an seinen Bewohnern etwas läge? Das Element Wasser ist nicht eben ihr bevorzugter Lebensraum, im Gegenteil.« »Das war es auch schon für die Foronen nicht«, erinnerte ihn Jarvis. »Und dennoch wählten sie genau dies, um sich vor ihren Feinden zu verstecken.« Cloud lächelte. »Du hast recht, alter Freund, du hast ja recht. Wir fischen im Trüben. Zumal wir nicht einmal eine Erklärung dafür haben, wie der Kubus das Darnok'sche Vernichtungsfeld überhaupt überstehen konnte.« »Vielleicht hielt er sich zum damaligen Zeitpunkt außerhalb der Milchstraße auf«, sagte Jiim. Der Narge hatte die Flügel hinter dem Rücken zusammengefaltet und machte einen entspannten Eindruck, obwohl er im Zuge der jüngsten Ereignissen buchstäblich hatte Federn lassen müssen. »Die Mobilität dieses riesigen Objekts steht außer Frage.« »Es wäre denkbar«, sagte Cloud nickend, »und fast würde ich es hoffen, denn …« »Denn?«, fragte Scobee, als er verstummte. »… diese Erklärung würde mir bedeutend besser gefallen, als wenn es eine andere gäbe, die uns das unglaubliche Machtpotenzial der Treymor noch drastischer als ohnehin schon vor Augen führen würde.«
»Wohl gesprochen, Häuptling!« Jarvis grinste jungenhaft über sein ganzes Gesicht – das ebensolche Täuschung war wie der Rest seines Körpers, den er den anderen präsentierte. »Wie lange wollen wir uns mit Halbwahrheiten noch zufrieden geben? Wenn ihr mich fragt: Wir müssen so schnell wie möglich wieder rein ins kühle Nass! Nur im Kubus werden wir Antworten auf die noch ungelösten Rätsel finden.« Cloud blieb zurückhaltend. »Ich bin gegen vorschnelles Handeln. Diese Strategie hatten wir bereits, als wir uns blindlings in die vermeintliche Sonne warfen. Der nächste Vorstoß sollte geplanter erfolgen.« »Dann bist du gefragt«, sagte Scobee. »Du bist der Stratege.« Cloud wünschte, er hätte dem zustimmen können. Momentan fühlte er sich fast hilflos. Zumal da immer noch etwas in ihm rumorte, von dem Sesha hartnäckig behauptete, es wäre gar nicht da. Diese Schwäche. Dieser Mangel an Selbstkontrolle, der ihn stärker beunruhigte, als er den anderen gegenüber zugeben wollte. So kannten sie ihn nicht. Schlimmer: So kannte er sich nicht …
Zur gleichen Zeit, in der Ewigen Stätte Die Kolonne meldete die Fertigstellung des Prototyps. Farrak strich sich über einen der Chitindeckel, die die verkümmerten Hautflügel verdeckten. Er war hoch erfreut über den raschen Fortschritt, und zur Belohnung ließ er kurzlebige Mingkparasiten an die Kolonne verteilen. Die mit dem bloßen Auge kaum sichtbaren Mikroben würden sich in den Gehirnen der Arbeiter einnisten und ihnen ein paar flüchtige Glückserlebnisse suggerieren. Die Parasiten waren jedoch so präpariert, dass sie sofort nach Abgabe der entsprechenden Enzyme starben, ohne Nachkommen gezeugt zu haben. Aus diesem Grund waren sie harmlos. Hätte es sich hingegen um originale
Schmarotzer vom Planeten Kar'st N'Kur gehandelt, wären Blut und Gewebe eines Befallenen der ideale Nährboden zur ungehemmten Vermehrung gewesen. Auch in diesem Fall hätten sie Glücksenzyme an den Wirt ausgeschüttet – aber so unkontrolliert und mit fortschreitender Vermehrung in solch hohen Dosen, dass das bedauernswerte Opfer vor lauter Euphorie in Wahnsinn und Tod getrieben worden wäre. Es gab schlimmere Schicksale, fand Farrak, programmierte die Transitweiche und langte mit einem Schritt auf der Werftplattform an. Vor ihm erhob sich, von den Lichtern der Silberstadt erhellt, der neue Prototyp, für dessen Her- und Fertigstellung die Energie eines ganzen Fixsterns verbraucht worden war. Dabei wirkte das Resultat, rein äußerlich, fast unscheinbar. Die Form war die eines raupenartig segmentierten Zylinders. Verglichen mit dem jüngst aufgetauchten Raumschiff, das in die Annalen von Tovah'Zara Eingang gefunden hatte und somit keine völlige Unbekannte war, besaß der Zylinder die mehr als sechsfache Länge. Wirklich beachtenswert war jedoch nicht die Größe, sondern das Material, aus dem das Schiff erbaut worden war – und die Möglichkeiten, die ihm innewohnten. Farrak war überzeugt, sein Volk mit dieser Entwicklung einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zum großen Ziel vorangebracht zu haben. Dem Ziel, das da hieß – »Gesegneter!« Die Stimme des Heukonen, der die Oberaufsicht über die Arbeiten führte, holte Farrak aus der für ihn ohnehin untypischen Schwelgerei. Er sah dem Wesen entgegen, das in einer kompliziert anmutenden Vorrichtung auf ihn zugefahren kam. Vilgamasch war schon in jungen Jahren Opfer eines schweren Unfalls geworden. Da Vilgamasch aber auch schon in jungen Jahren unübersehbar genial im Umgang mit Hochtechnik gewesen war, hatten die Treymor ihm ein ausgefeiltes Exoskelett zur Verfügung gestellt, das Vilgamasch die maximale Mobilität ermöglichte und ihn überdies über längere Zeiträume autark mit allen lebenswichtigen Stoffen versorgen konnte. Auf diese Weise konnte Vilgamasch
seine ganze Kraft den Projekten widmen, die ihm die Treymor auftrugen. Er war ein loyaler Sklave, mindestens so treu ergeben wie Mingox, den Farrak unlängst unter seine Chitindeckel genommen hatte. »Vilg, mein genialer Diener …« »Zu gütig, Erleuchteter.« »Du hast schnellere Arbeit geleistet, als wir es erhoffen konnten. Eine Extraration Mingk?« »Nicht jetzt, Erhabener. Ihr sollt Euch erst von der Leistung überzeugen, nicht nur durch bloßen Augenschein. Ich dachte an eine Schiffsführung.« Farrak musterte Vilgamasch lange und eindringlich. »Wie lange dienst du uns nun schon, Vilg?« »Ich habe es vergessen, Herr. Aber lange. Seit Ihr mir das Geschenk machtet, altere ich nicht mehr. Ich wünschte mir zwar …« Er verstummte, als sei ihm eine Beleidigung herausgerutscht, und in gewisser Weise war es auch so. Farrak wusste, was Vilgamasch hatte sagen wollen. Nach kurzem Überlegen sagte er: »Wenn es dein sehnlichster Wunsch ist, Vilg, soll er dir erfüllt werden – gesetzt den Fall, dass du mich überzeugen kannst von den versprochenen Vorzügen dieser neuen Bauweise …« Für einen Moment schien es, als würde Vilgamasch samt Exoskelett zu beben anfangen. »Herr … Gesegneter …« »Beruhige dich. Noch hast du es dir nicht verdient. Und überlege ruhig noch einmal, ob du es denn wirklich so anstrebst, wieder auf eigenen, gesunden Beinen laufen zu können. Ich müsste dir im Gegenzug das andere Geschenk wieder entziehen. Und du weißt, wie schnell man sich ans Nichtmehraltern gewöhnt. Fortan würdest du ab dem Punkt weitermachen, an dem wir deinen Zellverfall stoppten … Willst du das? Für läppische Gesundheit?« Über das Gesicht des Heukonen huschte für einen Moment Gier, die ihn in einem ganz neuen Licht stehen ließ. »Könntet … könntet Ihr Euch nicht …« »Was?« »… zu beidem durchringen, Gesegneter?«
Farrak rückte einen Schritt von ihm ab. »Du hast immer meine Sympathie genossen, Vilg, immer. Selbst, wenn du Anforderungen, was selten vorkam, einmal nicht zur vollsten Zufriedenheit erfülltest. Aber nun …« Er machte eine Geste der Abscheu. »Lass uns nicht mehr darüber reden. Lass es uns vergessen. Zeig mir das Schiff. Alles Weitere sehen wir danach.« Vilgamasch duckte sich eingeschüchtert und um seine Unterwürfigkeit zu bekunden. Er wusste, dass er kurz davor gestanden hatte, den Bogen zu überspannen. Wahrscheinlich hätten Äußerungen wie die seinen, ausgesprochen von einem weniger verdienten Heukonen, dessen sofortigen Tod zur Folge gehabt. »Gerne. Gerne. Wenn Ihr mir folgen wollt …« In der Schiffshülle entstand eine Öffnung, und als Farrak durch sie hindurch schritt, spürte er die Veränderung sofort. Verzückt blieb er stehen. »Es ist also wahr«, flüsterte er. »Ihr habt es geschafft. Dieses Schiff hat Seele. Und … ja, ich spüre es … sie spricht zu mir …«
»Assur …« »Ich dachte, es wäre schön, mal wieder nebeneinander einzuschlafen.« Cloud war überrascht, als er in seine Kabine kam und seine Lebensgefährtin vorfand. Seit kurzem hatte sie die Legitimation, das »private Reich des Commanders« auch in dessen Abwesenheit zu betreten – ebenso wie er zu jeder Zeit in ihrem Haus im Angkdorf willkommen war, das sie zusammen mit ihrer Tochter Winoa bewohnte. Und mit ihrem Exmann bewohnt hatte – der aber war vor geraumer Zeit aus- und bei einer neuen Partnerin eingezogen. Damit hatte Rotak sowohl Assur als auch Cloud überrascht – allerdings nur positiv. »Winoa ist versorgt?« »Was glaubst du wohl? Sie hat sich Aylea eingeladen – ich würde doch nur stören. Teenagergespräche. Du weißt, wovon ich rede?« »Ich ahne es.«
Sie lag bereits im Bett. Nackt und ohne Scheu über der Zudecke. Cloud konnte sich keinen verführerischen Anblick vorstellen – und keine nettere Überraschung nach allem, was hinter ihnen lag. »Soll ich mich auch ausziehen?« Er trat zu ihr ans Bett. »Nein.« »Nein?« »Ich stehe auf Männer in Uniform.« »Das ist keine.« Cloud sah an sich herab. Er trug eine selbst entworfene und von Sesha produzierte Kombination in Kobaltblau. Darauf prangte ein Fantasiesymbol, das in abgewandelter Form das irdische Sonnensystem darstellte – wie es einmal ausgesehen hatte, bevor Jupiter sich verwandelte und die Erde sich zusammen mit ihrem Trabanten in die Oortschale hüllte. »Es sieht aber so aus.« »Und was soll aus uns werden, wenn ich angezogen bleibe?« »Wer redet davon? Ich sagte nur, dass du dich nicht ausziehen sollst – das übernehme ich. Das macht mich an.« Ihm gefiel, wie unverblümt offen sie mit Sexualität umging. Und ihr gefiel, dass er ihr vollkommen offen begegnete – so war es eigentlich von Beginn an zwischen ihnen gewesen. Und bislang zeigten sich keinerlei Abnutzungserscheinungen. Vielleicht, weil sie beide auch noch ihre eigenen Leben lebten, nicht permanent aneinander klebten. Assur war eine wertvolle Stütze der Besatzung, des Schiffes. Wie sämtliche Angkstämmigen an Bord war sie in der Lage, in der RUBIKON aufzugehen. Die Bractonen hatten das initiiert. Und damit das Raumschiff auf ein ganz neues Level gehoben, was seine technischen Möglichkeiten anbelangte. Seit die RUBIKON ihr höchst bizarres »Tuning« erfahren hatte, hatte die Sicherheit enorm gewonnen. Dass, quasi als Nebenprodukt, auch noch eine Partnerin für Cloud herausgesprungen war, nahm er gerne als Bonus hin. Nach wie vor wusste er nicht, wohin die Beziehung mit Assur führen würde. Aber dass er sich darüber auch nicht den Kopf zerbrach, war eindeutig ein gutes Zeichen. Er ließ alles auf sich zukommen. Mit wenig überzeugender Gegenwehr ließ er sich von der attrakti-
ven Angkgeborenen auf das Bett ziehen, das seit Assurs »Einzug« auf doppelte Breite gewachsen war. Zärtlichkeit und Leidenschaft hielten sich die Waage, und als sie später ermattet nebeneinander lagen, plauderten sie noch kurz über den Aquakubus und das gerade überstandene Abenteuer, das ihnen der kollabierende Stern beschert hatte. Neue Aspekte kamen nicht zur Sprache, und als Cloud bald darauf einschlief, ahnten weder er noch Assur, wie hässlich ihr späteres Erwachen sein sollte.
Über Tage hatte sich Mingox in die genetischen Archive vertieft. In Aufzeichnungen, älter als alles, was er jemals studieren hatte können. Ihm gingen die Augen über vor Ehrfurcht vor dem, was seine Vorgänger schon vor langer, langer Zeit geleistet hatten. Eingestanzt in Protozellen hatten die Schriften überdauert. Aber es bedurfte der besonderen Sinne und Kräfte eines Luuren, um sie auch wieder aus diesen Speichern auslesen zu können. Es war ein atemberaubender Akt, der Schauder um Schauder durch Mingox grazilen Körper jagte. Tatsächlich war in den uralten Texten die Rede von eben jenem Schiff, das nun, nach einer halben Ewigkeit, wiedergekehrt war und sich ins erleuchtete Zentrum Tovah'Zaras vorgewagt hatte. Ein heiliges Schiff, das jedoch ganz offenkundig von Fehlgeleiteten gelenkt wurde, denn … es wandte sich gegen die Gesegneten, floh vor ihnen, wo es nicht gegen sie und ihre Diener kämpfte. Dieses absonderliche Verhalten, das im Widerspruch zu dem stand, was Mingox in den geheimsten der uralten Schriften fand, weckte die Neugier und das Engagement des Luuren nur umso mehr. Stets hielt er Farrak auf dem Laufenden über den Stand seiner Forschung. Über jeden der nach und nach eingeleiteten Schritte war der Gesegnete informiert, der sie billigte und Mingox über die Maßen lobte. Es war die beste Zeit in Mingox' Leben.
Insbesondere ab dem Moment, da es gelang, die uralte Verbindung neu zu beleben. Den Kontakt herzustellen. Und Schicht um Schicht in das Fremde vorzudringen. Das Fremde, das sich … Mensch nannte …
2. John Cloud träumte. Er träumte, ein Treymor zu sein. Ein menschengroßer Käfer, aufrecht gehend und bis an die Kieferzangen bewaffnet. Vor ihm rannte ein Humanoide davon, dessen chitinloser Körper bleich, weich und jämmerlich anmutete. Haut nannten die Geschöpfe das, was ihr Fleisch ummantelte. Darauf wuchsen an manchen Stellen Haare, die auch keinen wirklichen Schutz boten. Nicht vor dem, was die Treymor aufzubieten hatten, sowohl an Körper- als auch an Waffenkraft. Näher und näher kam Cloud dem Fliehenden. Er hätte schießen und ihn schon aus der Entfernung niederstrecken können, aber er wollte ihn mit seinen bloßen Fangwerkzeugen töten. Und dann, als es gerade soweit war, spürte er, wie er weggezogen wurde – nicht nur fort von der sicher gewähnten Beute, sondern überhaupt fort aus dem verstörenden Traum. Er erwachte, und neben ihm …
… erwachte Assur. Sie wurde von den krampfartigen Bewegungen geweckt, mit denen sich John im Schlaf hin- und herwarf. John? Assur zuckte vor der Kreatur zurück, die neben ihr im Bett lag, nach der sie gerade beruhigend die Hand hatte ausstrecken wollen und die sie flüchtig berührt hatte … dem Himmel sei Dank nur flüchtig …! Und dann, nur Sekunden später, war alles wieder normal. John lag neben ihr.
Seufzend richtete er sich auf. »Du kannst dir nicht vorstellen, was
ich für einen Traum hatte … He, warum siehst du mich so erschrocken an? Assur …?« Sie war von ihm abgerückt und kreidebleich, als wäre ihr gerade ein Geist erschienen. »John, du … Was war das eben?« Er verstand nicht. »Habe ich im Traum um mich geschlagen? Er war heftig, und wenn ich grob wurde, tut es mir leid. Ich konnte nichts dafür. Ich träumte …« Er räusperte sich. Die Erinnerung legte sich wie ein Schatten über sein Gemüt. »Ich träumte, ich sei ein … Treymor. Es war alles so echt. Als hätte sich die Art meines Denkens und Empfindens verschoben. Wenn die Käferartigen in ihrem Innersten wirklich so sind, wie in meiner Fantasie, dann … brrrrrrrr!« Er schüttelte sich. Langsam kehrte die Farbe in Assurs Gesicht zurück. »Du hast … geträumt, ein Treymor zu sein?« Er nickte, tastete nach ihrer Hand. Fast widerstrebend ließ Assur die Berührung zu. »Was hast du?«, fragte Cloud erneut. »Rede doch endlich, verdammt. Das ist ja nicht zum Aushalten.« Sie gab sich einen sichtbaren Ruck. »Das warst du gerade auch.« »Was?« »Nicht zum Aushalten.« Sie schauderte. »Ich hatte Halluzinationen, als ich neben dir aufwachte. Zuerst dachte ich, mit mir stimmt etwas nicht. Aber wenn du sagst, von ihnen geträumt zu haben …« »Würde es dich sehr überraschen, wenn ich sage, dass ich kein Wort von dem verstehe, was du da von dir gibst? Worauf spielst du an? Was meinst du mit Halluzinationen? Hattest du auch einen Albtraum?« Sie nickte zögernd. »Offenbar. Nur dummerweise, nachdem ich schon wach war.« Und dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Das warst nicht du, der neben mir lag, als ich die Augen aufschlug.« Noch nahm es Cloud mit Humor. »Ach ja, wer denn? Kenne ich ihn zufällig?« »Als Spezies, ja. Da lag … ein Treymor. Du, Liebling, sahst aus wie ein Treymor.«
Auch eine halbe Stunde später war Assur noch völlig außer sich. Zu nachhaltig hatte sich das Schreckensbild offenbar in ihr Gedächtnis gebrannt. »Du musst dich täuschen«, beruhigte Cloud sie – und sich selbst – zum wiederholten Mal. Zumindest versuchte er es, aber ebenso vergeblich wie die Male davor. »Du hast gehört, was Sesha sagte.« Sie hatten die KI nach besonderen Vorkommnissen befragt, besonderen Vorkommnissen hier in Clouds Kabine. Negativ, lautete die Antwort. »Das überzeugt mich nicht. Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Und findest du es nicht auch seltsam, mehr als seltsam, dass ich genau das sah, was du geträumt hast?« »Seltsam ist gar kein Ausdruck …« »Eben!« »Aber …«, führte er weiter aus, »könnte die Ursache dafür nicht ebenso gut bei dir zu suchen sein wie bei mir?« »Wie meinst du das?« Sie hatten sich angekleidet und saßen sich bei zwei dampfenden Bechern Kaffee an dem kleinen Tisch vor der Wand gegenüber, an der das Bild von Johns Vater Nathan hing. Immer wieder verfing sich Clouds Blick während des Gesprächs in den Augen seines großen Vorbilds. In ihm war immer noch tiefe Trauer, wenn er an das tragische Ende seines Vaters dachte. »Du bist ein besonderer Mensch, Assur. Eine Angk. Damit verfügst du über mehr Sensibilität und übernatürliche Talente als beispielsweise ich. Du weißt, wovon ich rede.« »Und?« »Und könnte es nicht sein, dass besagte Sensibilität es dir ermöglichte, meinen Traum zu erspüren – was dein Unterbewusstsein wiederum so umsetzte, dass es dir dieses … Bild vorgaukelte?« Ganz von der Hand weisen schien Assur diesen Aspekt nicht zu wollen. Clouds Einwand machte sie nachdenklich. »Das hieße aber auch«, sagte sie mit funkelnden Augen, »dass wir einander gefühlsmäßig verdammt nahe gekommen sind in der kurz-
en Zeit, seit wir uns kennen.« Zum ersten Mal seit er den Albtraum abgeschüttelt hatte, gelang Cloud wieder ein Lächeln. Assur redete und reagierte gerade wie eine typische Frau. »Womit wir dem Ganzen auch etwas Positives abgewonnen hätten«, bestärkte er sie in ihrer Annahme. Aber so leicht war sie nicht zu beruhigen. »Es wäre zumindest eine harmlose Erklärung – wobei ich nicht der Meinung bin, dass wir uns damit begnügen sollten. Du warst, als du deine Kabine betratest, irgendwie anders als sonst. Ich fand, du wirktest verstört. Könnte es sein, dass du etwas mit dir herumträgst, was ich wissen sollte? Etwas, das nicht nur mit dem Sonnenkollaps oder dem Kubus zu tun hat?« Es war beängstigend, wie gut sie ihn tatsächlich schon kannte – und durchschaute. Er entschloss sich, die Karten auf den Tisch zu legen und keine Ausflüchte zu suchen. Assur war die Frau, mit der er zusammen sein wollte, und zwar ohne Einschränkungen. Und das schloss mit ein, dass er keine Geheimnisse vor ihr hatte. Dass er sich ihr öffnete, wenn ihn Dinge bedrückten. »Du hast recht«, sagte er. Pause. Blicktausch. Sie wartete. »Als ihr die RUBIKON gerettet habt … ich meine dich und den Verbund der anderen Angks im Zusammenspiel mit Sesha … während du noch mit dem Schiff verschmolzen warst, da … da hatte ich eine Anwandlung, wie ich sie nicht von mir kenne.« »Konkret?« »Schwäche«, sagte er. »Entscheidungsschwäche, aber auch was meine körperliche Befindlichkeit in dem Moment anging.« »Wir alle haben unsere schwachen Momente. Aber vielleicht gibt es trotzdem in deinem Fall einen Zusammenhang.« »Wie meinst du das?« »Auffällig ist doch, dass das alles kurz nach Verlassen des Aquakubus geschieht.« »Du denkst …?«
»Die Treymor haben eine für uns neuartige Waffe zum Einsatz gebracht. Vielleicht hast du etwas abbekommen, ohne es gemerkt zu haben.« »Zumindest Sesha müsste es aber gemerkt haben. Und sie verneint, dass ich physiologisch in irgendeiner Weise anders bin als zuvor.« »Ich an deiner Stelle würde das schon mal als gute Nachricht werten – und trotzdem misstrauisch bleiben. Die KI hat sich schon mehrfach … nun, sagen wir vertan.« Aus dem Off kam kein Protest. So weit gingen Seshas Befugnisse auch nicht, solange sie nicht direkt angesprochen wurde. »Wir werden es also im Auge behalten«, sagte Cloud. »Wir werden dich im Auge behalten, mein Lieber«, lächelte Assur, beugte sich zu ihm und küsste ihn.
Zwischenspiel Der Kleine Arto hustete einen Schwarm Protosonden aus, der die Wassermassen durchpflügte. Die eintreffenden Bilder formten sich im Kopf des Läufers zu einem Bild, das ihm alles Erforderliche verriet. Demnach war die größte Gefahr vorbei, er konnte sein Versteck zwischen den korallenbewachsenen Felsen langsam wieder verlassen. Und vorsichtig natürlich, denn der Kleine Arto war nicht dumm, ganz im Gegenteil, der hatte es drauf. Klar war er anders als die, denen er Meldung machen musste, aber bestimmt nicht dümmer. Die hatten schon gewusst, warum sie ihn da raus schickten. Da raus zu den Unheimlichen Wohltätern, wie der Kleine Arto sie für sich nannte. Wohl taten sie wahrscheinlich nur sich selbst, und das war der Kniff dabei – der Kleine Arto war gerne ironisch –, aber unheimlich traf es allemal. Selbst der Kleine Arto gab zu, sich vor ihnen in Acht zu nehmen. Er wäre ein Narr gewesen, hätte er sich nicht vor den UnWos gefürchtet. Falsches Heldentum kannte der Kleine Arto nicht. Er hatte
es drauf, ängstlich und doch effektiv zu sein. Weil er es drauf hatte, seine Angst zu überwinden, immer, wenn's drauf ankam. Und jetzt kam es drauf an. Weil … irgendwas passierte im Nassen Land (wie er die Welt nannte, in der er aufgewacht war; Mann, mit den Namen hatte er's auch drauf!). Irgendwas hatte die hässliche Routine aufgebrochen. Für die Versklavten wurde es dadurch kein Deut besser, aber zumindest war Bewegung in das monotone Grauen gekommen, das über allem und jedem im Nassen Land lag. Der Kleine Arto fand die Veränderung toll. Prima auch, dass man ausgerechnet ihn losschickte, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Aber es hatte sich wohl rumgesprochen, dass er's drauf hatte. Er kicherte. Nahm sich selbst nicht so ernst. Hahaha. Ernst war nur, dass gerade eines der Patrouillenboote der UnWos vorbeigekommen war – just, als der Kleine Arto die Wahre Welt verlassen hatte. An einem der Auslässe. Durch ihn wollte er auch wieder zurück, aber zuerst musste er seine Mission erfüllen. Er war ein Spion. Der beste, den sie hatten, und sie hatten nicht viele. Eigentlich nur … ihn. Na ja, der Kleine Arto war's zufrieden. Vor ihm leuchteten die Rückstände des Antriebs, den die UnWos für ihre Fahrzeuge benutzten. Die hatten's auch drauf, waren aber böse. Schlecht. Töteten und versklavten. Der Läufer hangelte sich die Spur entlang. Er war die Spur. Und irgendwann … … erreichte er ihr Ende. Wo bin ich? Der Kleine Arto orientierte sich anhand der Gravitationsmuster, die innerhalb Tovah'Zaras leichten Schwankungen unterlagen. Ah. Da … Das Boot der UnWos war in den Inneren Hoheitsbereich der Unheimlichen Wohltäter vorgedrungen. Und der Kleine Arto war ihm im Kielwasser gefolgt. Eine Weile tat der Läufer, was er am besten konnte: Er spionierte. Dann nahm er den gleichen Weg, den er gekommen war – nur umgekehrt. Und schon bald darauf erstattete er dem Großen Arto
Bericht. Wie üblich erntete er viel Lob. Der Kleine Arto war froh. Dann schaltete er sich ab, bis er wieder gebraucht wurde.
3. Die RUBIKON kreuzte im interstellaren Raum, abseits der ozeanischen Sonne und auch abseits jedes echten Sterns. Noch einmal einen Vorfall riskieren, wie den gerade überstandenen, wollte Cloud nicht. Und niemand konnte verlässlich vorhersagen, wann Tovah'Zara das nächste Sonnenfeuer »anzapfte«. Dass dies geschehen war, daran ließ die Auswertung der gesammelten Daten keinen Zweifel. »Da braut sich was zusammen«, behauptete Scobee. Eine Meinung, mit der sie nicht allein stand. »In größerem Maßstab haben wir das Ausbrennen von Sternen, die dem Kubus zu nahe standen, schon mal erlebt, ihr erinnert euch. Als die Ewige Stätte Kopien unseres fantastischen Schiffes fertigte, die HAKARs. Das ist lange her, die Umstände waren völlig andere, ich weiß. Inzwischen haben die Treymor den Kubus offenbar komplett übernommen, und wir wissen seit unserem Abstecher dorthin zumindest in Ansätzen, was sie dort treiben.« »Du spielst auf die Materialprobe an, die wir von dort mitbrachten?«, fragte John. »Exakt.« »Algorian ist sich im Nachhinein nicht mehr sicher, ob er tatsächlich ein mentales Echo daraus empfing – oder ob es von sonstwoher kam.« Scobee drehte sich dem Aorii zu, der mit auf dem Kommandopodest Platz genommen hatte. »Nicht mehr sicher?« Der spindeldürre Humanoide wand sich sichtlich unter ihrem Blick. »Es wurde von Stunde zu Stunde schwächer, und mittlerweile kann ich gar nichts mehr empfangen«, erklärte der Telepath. »Aber es war da. Du klangst sehr überzeugt, als du es uns das erste Mal gemeldet hast. Die Probe, die dem neuen Schiffstyp entnommen wurde, an dem die Treymor in Tovah'Zara bauen, war dem-
nach beseelt. Genau so sagtest du es. Beseelt. Und das soll plötzlich nicht mehr wahr sein?« Algorian sah wie jemand aus, der sich zutiefst missverstanden fühlte – aber seinen Standpunkt auch nicht für jedermann verständlich machen konnte. Cloud sprang ihm bei. »Das hat Algorian nicht gesagt. Er weist uns lediglich darauf hin, dass das Fragment seinen Mentalabdruck offenbar verloren hat. Möglich, dass er sich nur in größerer Masse halten kann.« Der Aorii machte eine Geste der Zustimmung. Jarvis, der die momentane Runde komplettierte, knurrte: »Dann ist der Brocken wertlos. Schmeißen wir ihn zurück in den Tümpel.« Was er mit Tümpel meinte, war auch dem Letzten klar. »Seine Zusammensetzung gibt immer noch Rätsel auf. Deshalb sollten wir eher pfleglich damit umgehen.« »Metall«, sagte Scobee. »Unbekannte Legierung.« »Eben.« Cloud sah sie an. »Und bevor wir sie nicht kennen, müssen wir daran arbeiten, sie kennenzulernen. Einiges deutet darauf hin, dass dies das favorisierte Material der Treymor für ihren künftigen Raumschiffbau ist. Und da wir aufgrund der ursprünglich festgestellten Eigenschaft, dass eine geistige Kraft darin steckt, davon ausgehen können, dass diese neuen Schiffe auch über neues Gefahrenpotenzial verfügen, sollten wir so schnell wie möglich hinter das Geheimnis kommen.« »Achtung«, meldete sich Sesha in diesem Augenblick. »Ortung.« Augenblicklich fokussierten sich alle Gedanken auf die KI. »Genauer!«, verlangte Cloud. »Ein Fahrzeug«, erläuterte Sesha. »Es verlässt soeben die falsche Sonne.« »Unsere momentane Distanz dazu?« »Zwei Lichtjahre.« »Ein X-Schiff«, mutmaßte Scobee. »Die Entfernung ist zu groß für ein klares Ortungsbild«, ging die KI darauf ein. »Allerdings gibt es auffällige Diskrepanzen zu den Echos, die X-Schiffe hervorrufen.«
Diese Aussage fand Cloud beachtenswert. »Wie stellt sich die Lage um den Kubus herum sonst so dar?« »Immer noch identisch mit den zuletzt gemeldeten Ergebnissen. Drei X-Schiffe, die in etwa zehn Lichtstunden Distanz zur falschen Sonne patrouillieren.« »Okay, wir stehen nach wie vor unter Volltarnung. Gehen wir ruhig etwas näher.« »Wie nah?«, fragte Sesha. »Nah genug, um zu sehen, was Tovah'Zara da verlassen hat.« Die RUBIKON nahm Fahrt auf.
Gespanntes Schweigen machte sich unter den Gefährten breit. Größer und größer wurde der vermeintliche Sonnenball, vor dem die drei X-Schiffe der Treymor patrouillierten. Beim ersten Anflug der RUBIKON hatte es noch gar keine Patrouillen gegeben; nichts, was auch nur im Entferntesten darauf hingedeutet hätte, dass diese planetenlose »Sonne« von irgendeinem Interesse für irgendjemanden sein könnte. Erst die RUBIKON-Aktionen hatten die neuen Machthaber Tovah'Zaras offenbar dazu veranlasst, ein Minimum an externen Sicherheitsmaßnahmen aufzubieten. Drei X-Raumer fielen dabei nicht weiter auf. Cloud seufzte innerlich. Die derzeitige machtpolitische Lage innerhalb der Milchstraße war immer noch weitestgehend unbekannt. Nach Beendigung des Darnok'schen Entartungsfeldes würden neue raumfahrende Zivilisationen auf der galaktischen Bühne erscheinen – davon war auszugehen. Allerdings würde dies seine Zeit brauchen. Gegenwärtig waren interstellar nur diejenigen unterwegs, die es geschafft hatten, ihre Technik vor den zerstörerischen Einflüssen zu schützen, die Darnoks Amoklauf milchstraßenweit streute. Darnok. Oft dachte Cloud nicht mehr an den ersten Außerirdischen, der sich auf ihre Seite gestellt hatte und dessen weiterer Werdegang nur
tragisch genannt werden konnte. Darnok existierte nach wie vor an Bord der RUBIKON. Aber er war ruhig gestellt. Matt gesetzt. Sodass er dem allmählichen Vergessen anheim fallen konnte. Darauf lief es hinaus, Cloud machte sich nichts vor. Er hatte auch keine Lösung parat, wie mit dem Keelon, der zum Ungeheuer geworden war, umgegangen werden sollte, wenn er eines Tages »zurückgeholt« würde aus seinem für alle Beteiligten – ihn selbst eingeschlossen – gnädigen Staseschlaf. »Da«, entschlüpfte es Scobees Lippen, als sich in der Holosäule ein neues Fenster öffnete, in dem ein Detail aus der unmittelbaren Umgebung des getarnten Kubus erkennbar wurde. Und Jarvis knurrte: »Was zur Hölle ist das denn …?« Auch Cloud war verblüfft. Für einen Moment hielt er es für möglich, dass sie einer kosmischen Fata Morgana zum Opfer fielen. Einer optischen Täuschung … Aber dann hätten die Sensoren des Schiffes nicht angeschlagen. So leicht waren sie – und Sesha – nicht zu täuschen. »Hat jemand von euch so was schon mal gesehen?«, wandte sich Cloud an die Gefährten. Selten einig verneinten sie. »Und das Ding kommt sicher aus dem Kubus? Sesha?« »Die Ortungsdaten waren von Anfang an unmissverständlich – ja.« »Es sind jedenfalls definitiv keine Treymor«, sagte Scobee leise. »Trotzdem machen die X-Schiffe keine Anstalten, das … Fahrzeug zu stoppen oder auch nur zu kontrollieren. Sie beachten es offenbar gar nicht.« »Fahrzeug beschleunigt langsam, aber stetig. Weg von Tovah'Zara«, meldete sich die KI. »Momentane Geschwindigkeit: 0,236 LG. Erreichen der halben Lichtgeschwindigkeit bei gleichbleibender Beschleunigung in zirka fünfzig Minuten.« Clouds Blick hing immer noch wie gebannt an dem kuriosesten Raumfahrzeug, das er jemals gesehen hatte. »Das sind Heukonen«, stellte er fest, nachdem die Passagiere durch die transparente
»Haut«, die das Vehikel umgab, herangezoomt worden waren. »Heukonen … Die Techniker des alten Kubus.« »Und die machen jetzt gerade einen Betriebsausflug«, ergänzte Jarvis sarkastisch. »Tolle Stimmung bei denen. Die überschlagen sich ja fast. Fehlen nur noch Konfetti und Schampus.« »Was hast du vor?«, fragte Scobee, die seinem Gesichtsausdruck wohl ansah, dass es in ihm arbeitete. Cloud zuckte die Schultern. »Abwarten. Sesha? Vorsichtigen Scan des Objektes durchführen. Möglichst ohne nachverfolgbare Spuren.« »Auf diese Entfernung absolut gefahrlos«, versprach die KI. Der Scan blieb draußen im All unsichtbar, nur im Holo wurde er farbig simuliert, damit die Betrachter über den Fortschritt informiert blieben. Sekunden später lagen die Ergebnisse vor. »Dachte ich mir's doch …« Cloud nickte zufrieden, als hätte er gerade eine unausgesprochene Wette gewonnen. »Was?«, fragte Jarvis. »Es beschleunigt, um möglichst nah an Lichtgeschwindigkeit heranzukommen. Da … Es besitzt vergleichsweise altmodische und leistungsschwache Transitionstriebwerke. Um sie gefahrlos zu initiieren, muss es auf mindestens zwei Drittel LG gebracht werden … Habe ich recht, Sesha?« »Völlig korrekt, Commander.« »Ist mir irgendetwas entgangen, oder verfügt das Ding tatsächlich über keinerlei Bewaffnung?« »Nichts, was sich den Schiffssensoren erschließen würde. Demnach ist das Objekt völlig harmlos.« »Danke, das wollte ich hören.« »John!« Neben ihm hielt es Scobee nicht mehr auf ihrem Platz. »John, du hast doch nicht ernsthaft vor –« Cloud sah sie ausdruckslos an. Über sein Gesicht wucherte Chitin. Jeder im Rund des Kommandopodests sah es. Dann löste Cloud den Verschluss des Sarkophagsitzes aus, und das Gehäuse schloss sich blitzschnell um ihn. Gleichzeitig stellten
die Neuralschnittstellen die Verbindung zum Schiffskorpus her. Commander? Ich übernehme, Sesha. Ruh dich ein bisschen aus. Ich melde mich, wenn ich dich brauche. Die RUBIKON drehte sich in ein halsbrecherisches Manöver.
»Verdammt, ihr habt es auch gesehen, oder? Heilige Galaxis, was war das? Scob?« Jarvis war außer sich. Die düstere Verwandlung von Clouds Gesicht, unmittelbar bevor er sich hinter den Deckel des Sarkophags zurückgezogen hatte, erschütterte selbst seinen Kunstkörper … mehr noch aber seinen Verstand. Sie nickte. »Jep. Hab's gesehen. Muss irgendein Phänomen sein. Sesha? Was ist dir darüber bekannt?« Die KI ließ sich ungewöhnlich viel Zeit für eine Stellungnahme. Schließlich sagte sie: »Keine Befugnis zur Preisgabe privater Informationen.« »Das hier ist nicht privat«, ereiferte sich Jarvis. »John ist in Gefahr. Irgendetwas hat ihn infiziert. Oder was weiß ich. Öffne wenigstens den Sitz, Sesha. Ich will mit ihm sprechen. Er muss uns erklären, was da vor sich geht – wenn er es kann.« »Bedaure. Keine Zugriffsmöglichkeit.« »Keine …?« Jarvis wurde zunehmend fassungsloser. »Er hat sich eingeschlossen«, fasste Scobee ihren eigenen Eindruck in Worte. »Ich hatte den Eindruck, dass er sich zurückziehen wollte.« Kopfschüttelnd löste sich Jarvis von seinem Sitz und trat durch die Holosäule auf Scobee zu. »Geht's noch? Hier ist was oberfaul und wir sollen das einfach hinnehmen? Wo ist Assur?« Er sah sich demonstrativ um. »Sie muss verständigt werden. Sie hat den aktuell besten Draht zu ihm …« »… aber auch keine Kommandogewalt«, erinnerte ihn Scobee ruhig. »Die hat, solange er an Bord ist, nur John. Und John hat sich offenbar gerade zu einer großen Dummheit entschlossen – mal ganz abgesehen davon, dass er schon besser aussah.«
Jarvis fasste sie an den Oberarmen und schüttelte sie sachte. »Du nimmst es nicht ernst, nicht wahr? Du spielst es herunter. Aber das da war gerade eine Art Monster-John. Der hatte Facettenaugen. Und Mandibeln statt normaler Kiefer. Vom Rest gar nicht erst zu reden.« »Es kann nur eine Täuschung gewesen sein.« »Und woher nimmst du die Sicherheit, das zu glauben?« Scobee schwieg. Biss sich auf die Unterlippe. Jarvis ließ sie ruckartig los und stellte sich stattdessen neben den geschlossenen Sarkophag. Er fluchte. Dann hieb er mit seiner nur scheinbar organischen Hand auf den Deckel ein, dass es metallisch durch die Zentrale hallte. »Aufmachen! John, mach auf! Das kannst du nicht –« Die Darstellung des äußeren Weltraums in der Holosäule veränderte sich. Alles kippte plötzlich weg, als würde die RUBIKON einen Looping fliegen. Die künstliche Schwerkraft an Bord blieb davon unberührt. Aber als sich das Bild wieder »fing«, befand sich das, was ihnen zuvor noch als entferntes Objekt herangezoomt worden war, exakt im Kursvektor der RUBIKON. Beide Fahrzeuge rasten aufeinander zu – Riese und Zwerg. Der Zusammenstoß war unausweichlich. Jetzt, dachte Jarvis. Und fand noch die Kraft, John abermals zu verfluchen. Dann … … verschwand das fremde Objekt aus dem Erfassungsbereich der Außenkameras. Eine Erschütterung, die auf einen Zusammenprall schließen ließ, gab es jedoch nicht. »Sesha?«, wandte sich Scobee an die KI. Bevor diese antworten konnte, bildete sich das Sarkophaggehäuse über Clouds Sitz zurück. Wortlos stemmte er sich heraus, stand dann ohne erkennbares Schuldbewusstsein zwischen Jarvis und Scobee. »Was seht ihr mich so an?« »Objekt an Bord«, sagte Seshas Stimme aus dem Off. Scobee schüttelte fassungslos den Kopf. »Du hast …?« Cloud hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Richtung Türtrans-
mitter. »Wer kommt mit?« »Wohin?« Jarvis machte auf distanziert. »In den Bughangar. Dort müssten sie sein. Und sie haben uns bestimmt einiges zu erzählen – sobald sie ihre Überraschung überwunden haben.« »Er meint es ernst«, flüsterte Scobee, als Cloud weiter auf den Transmitter zuging und die Reaktion seiner Freunde gar nicht abwartete. »Er ist völlig übergeschnappt. – Sesha? Kümmere dich um den Commander! Tu irgendwas, egal, was. Nur mach –« Clouds wildes Lachen, mit dem er offenbar Scobees beschwörende Ansprache an die KI kommentierte, brach jäh ab, als das Transmitterfeld ihn verschluckte. Kopfschüttelnd heftete sich Scobee an Clouds Fersen. »Assur! Sesha – verständige Assur! Sie soll unverzüglich auch in den Hangar kommen. Vielleicht bringt sie ihn zur Vernunft … Und hoffentlich hast du alle erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen?« Die Antwort der KI kam prompt, und sie war fast so schizophren wie Johns Verhalten. »Nicht nötig. Sie kommen in Frieden.«
Es sah nicht nur auf den ersten Blick wie ein Floß aus, das für die Fahrt auf einem rauen Fluss gebaut worden war. Eine Plattform aus segmentiertem Material war es, das tatsächlich den Eindruck versteinerter Baumstämme hervorrief, die jemand zusammengebunden hatte; ausreichend viele, um Platz für insgesamt 48 Passagiere zu schaffen – und deren Gepäck. Das Prallfeld, das die Heukonen, die sich in speziellen Geschirren zusammendrängten, in ihrem eigenen Medium, dem Wasser, hielt und sie vor den eisigen Temperaturen des Weltraums ebenso wie vor dessen tödlichem Vakuum geschützt hatte, war nach wie vor präsent. Cloud trat gemessenen Schrittes auf das ungewöhnliche Vehikel zu, in dem sich das halbe Hundert Heukonen wie kapitale Meeresbewohner in einem Riesenaquarium drängte. Sesha hatte alles Nötige für eine erfolgreiche Kommunikation in-
stalliert, und so wusste er, dass seine Stimme ins Innere des absonderlichen Objekts getragen wurde, als er zu sprechen begann. »Willkommen an Bord der RUBIKON – so nennen wir unser Raumschiff, mit dem wir euch aus dem All fischten und euch hinderten, eure Reise fortzusetzen. Der Grund dafür ist simpel: Wir sind Suchende. Wir suchen Informationen und gehen dafür mitunter auch unkonventionelle Wege.« Er zeigte auf sich. »Mein Name ist John Cloud. Ihr kennt mich nicht. Aber ich kenne euer Volk, über das ich vielleicht sogar mehr weiß als ihr selbst – als die HeukonenGeneration, die jetzt in Tovah'Zara lebt. Ihr wart nicht immer Bewohner des Wassers. Vor langer, langer Zeit nanntet ihr euch auch nicht Heukonen, sondern Surer. Eure Heimat war Sur, ein Planet, den es heute nicht mehr gibt. Und die, die euch davor bewahrten, vom Untergang eurer Ursprungswelt mitgerissen zu werden, waren die Foronen … Habt ihr jemals von ihnen gehört? Und glaubt ihr mir, was ich über eure wahre Herkunft sage?« Einer der Heukonen drängte sich vor, bis dicht an die Abgrenzung aus Prallfeldenergie. Seshas Instrumentarium übertrug seine Stimme in eine für Cloud verständliche Sprache. Vielleicht trug auch der Übersetzungschip dazu bei, der ihm unter den Stirnknochen transplantiert worden war. »Wir kennen weder dich noch dein Schiff. Deine Behauptungen klingen so eitel und selbstgefällig wie die Gesetze der Fremden, die unsere Heimat – unsere wahre Heimat, die wir für immer verlassen haben – eroberten.« »Du sprichst von den Treymor?« »Nennt ihr sie so? Wir nennen sie …« Etwas Unverständliches beendete den Satz des Heukonen. »Wiederhole das letzte Wort«, verlangte Cloud. »Ich konnte es nicht verstehen. Vielleicht ersetzt du es durch eines, das dasselbe bedeutet, aber von mir verstanden werden kann …?« »Wir nennen sie«, gab sich der Heukone kooperativ, »die Gesegneten. Die Erleuchteten … Es gibt viele Namen, aber keiner wird ihnen wirklich gerecht. Sie sind rätselhaft geblieben, in all der Zeit, die sie nun schon in Tovah'Zara nisten.«
Nisten, wiederholte Cloud in Gedanken. Das klang ebenso verharmlosend wie die Titel, die die Heukonen den Treymor verliehen hatten. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir von denselben reden …« »Es gibt nur noch diese einen Herren über das Wasser. Nur sie haben heute noch das Sagen dort, von wo wir kommen. Sie genießen unseren Respekt. Aber sie sind nicht nach … nun, nach unserem Geschmack.« Cloud verstand immer weniger. Hinter sich hörte er Schritte, und auch ohne sich umzudrehen, wusste er, wer gekommen war. Und schon sagte Scobee: »Seit wann gehst du solche Risiken ein, John? Hast du vergessen, wie viele Besatzungsmitglieder an Bord sind? Sie alle – wir eingeschlossen – werden sterben, wenn dies eine verkappte Heimtücke und Hinterlist der Treymor ist.« Erst jetzt wandte er sich um. »Wo ist Jarvis?« »Er kommt gleich. Er holt noch jemanden dazu.« »Wen?« »Algorian. Und Assur wird wohl auch in Kürze eintreffen.« »Algorian.« Cloud nickte. »Verstehe. Aber Assur? Was –« »John …« Sie trat unmittelbar neben ihn und musterte ihn, wie Freunde es manchmal taten. Cloud spürte ihre Sorge – um ihn, um sein Verhalten, das sie sich nicht erklären konnte. Er auch nicht. Früher war er generell vorsichtiger gewesen. Aber anders als ihr bereitete es ihm keine Sorgen. »Ja?« »Ich erkenne dich in deinem Handeln kaum wieder. Was ist los mit dir? Es hätte Mittel und Wege gegeben, mit den Heukonen …« Sie nickte zum Floß hin. »… in Kontakt zu treten, ohne sie gleich aus dem All zu fischen. Was zur Hölle ist in dich gefahren? Wir müssen vorsichtiger sein. Sonst bist du es, der diese Prämisse ausgibt. Aber seit unserer Rückkehr aus dem Kubus … bist du so nachlässig in deinen Entscheidungen, dass es schon fahrlässig ist. Außerdem entpuppst du dich mehr und mehr als Egoist, der, ohne die Meinung anderer einzuholen, eine einsame Entscheidung nach der anderen trifft.«
Ihre Augen loderten. Er hatte sie lange nicht mehr so temperamentvoll erlebt. »Bist du fertig?«, fragte er ruhig. Und hasste sich dafür. Dieser Ton … Wieso redete er so mit ihr? Sie war seine älteste Freundin. Der Kampf ums nackte Überleben und der Vorstoß in Gefilde, die kein Mensch vor ihnen betreten hatte, hatte sie zusammengeschweißt. Sie, Jarvis und ihn, John Cloud. Davon war momentan jedoch herzlich wenig zu spüren. Selbstkritisch wurde ihm das bewusst … aber das reichte nicht, um seine Taten danach auszurichten. Er blieb distanziert. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Was sollte ich darauf erwidern? Ich bin der Commander. Ich treffe Entscheidungen, die nicht immer bequem für andere sind. Aber sie sind notwendig. Zu große Passivität kann auch tödlich sein. Ab und zu muss man handeln, ohne jede Konsequenz bis ins Letzte auszuloten.« »Du willst nicht verstehen, was ich kritisiere. Du willst keine Kritik, und das ist ein Problem. Wie soll man mit jemandem umgehen, der glaubt, fehlerlos zu sein?« »Tue ich das?« Bevor Scobee etwas erwidern konnte, erschien Jarvis in Algorians Begleitung. Der Aorii machte eine neutrale Miene, aus der nicht abzulesen war, inwieweit er bereits über die Situation informiert war. Allerdings ging Cloud davon aus, dass er grob gewusst hatte, was ihn im Hangar erwartete. »Du kannst ihn natürlich wieder wegschicken …«, kommentierte Scobee den Blick, den Cloud in Richtung der Ankömmlinge warf. Cloud wusste, dass sein Lächeln sie noch mehr auf die Palme bringen würde. »Unsinn. Algorian ist eine gute Idee.« Er winkte den Aorii zu sich, ohne Jarvis weiter zu beachten. Mit knappen Sätzen umriss er dem Telepathen dessen Aufgabe und schloss: »Kriegst du das hin? Es sind Heukonen. Sie ticken vermutlich anders als Menschen oder dir vertrautere Spezies. Ist das ein Problem?« Algorian verneinte. »Sie denken. Das reicht mir. Meine Psi-Sinne tasten sich bereits vorsichtig vor. Sie sind absolut offen dafür. Da ist
nichts, was sie verbergen. Keine Konditionierung …« »Bist du ganz sicher?«, fragte Scobee, als passe ihr diese Aussage nicht in den Kram. »Sonst würde ich es nicht sagen.« Aus Algorians Mund klang es wie eine pure Feststellung. Beleidigt sein war ihm fremd. »Und was liest du in ihren Gedanken?«, fragte Cloud. »Wer sind sie? Was machen sie auf diesem absonderlichen Vehikel, das ich ausbremsen konnte?« In diesem Augenblick näherten sich eine weitere Person: Assur. Ihr Schritt geriet ins Stocken, als sie das absurd anmutende Objekt im Hangar erblickte. Ohne es aus den Augen zu lassen, näherte sie sich langsam den Freunden und blieb bei John stehen. »Ich – wurde gerufen.« Sie nickte zu dem Floß hin. »Deshalb?« Cloud lächelte kopfschüttelnd. Er zeigte auf sich. »Deshalb.« »Ich verstehe nicht … Was ist passiert? Wer … oder was ist das da? Woher kommt es? Da sind Lebewesen drin! Sie … sie schauen uns an. Ich spüre ihre Furcht.« »Tatsächlich?«, wandte sich Cloud interessiert an sie. »Ich wusste gar nicht, dass du empathisch bist.« »Was ist passiert?«, beharrte sie auf einer Antwort. »Und noch einmal: Was soll ich hier? Warum gerade ich?« »Es geht um John.« Scobee trat auf sie zu. »Ich … wir machen uns Sorgen um ihn. Es gab da einen Vorfall …« »Schon wieder?«, entfuhr es Assur. Was Cloud nicht unbedingt gefiel. Aber er hielt sich zurück. Alles war so … seltsam. Während die anderen redeten, hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen – die Zusammenkunft wie ein unbeteiligter Beobachter beizuwohnen. Verrückt. »Was heißt ›schon wieder‹?«, fragte Scobee. Assur suchte Clouds Blick. Er musste sich einen inneren Ruck geben, um sie anzusehen. »Du hast es ihnen nicht gesagt?« »Bestand dafür eine Notwendigkeit?« Schroffer als gewollt kam ihm die Erwiderung über die Lippen. Assur zuckte leicht zusammen. Betroffenheit bildete sich auf ih-
rem Gesicht ab. »Du weißt, dass ich mir Sorgen mache.« »Dann sind wir ja schon mindestens zu dritt.« Das war Jarvis, der sich bislang erstaunlich zurückhielt. »Sesha hat mich von Kopf bis Fuß gescannt. Du warst dabei. Und kam etwas dabei heraus? Etwas, das auch nur ansatzweise Grund zur Sorge bieten könnte?« »Das nicht, aber –« »Aber was?« »Wahrscheinlich will Assur darauf hinweisen, dass Sesha alles andere als unfehlbar ist«, mischte sich Scobee ein. »Ich würde es auch gerne in einem anderen Rahmen erörtern als hier …« Sie sah zum Floß, in dem sich kaum etwas rührte. Die darauf befindlichen Heukonen schienen abzuwarten, was weiter mit ihnen passierte. Ihre Bergung unter abenteuerlichsten Umständen hatte ihnen überdeutlich klar gemacht, dass sie es mit einem himmelhoch überlegenen Gegenüber zu tun hatten. »Aber«, fuhr Scobee fort, »die Umstände sind nun mal so. John hat sich in den Kopf gesetzt, das aus Tovah'Zara kommende Objekt einzufangen, und das hat er dann auch stur und schnell erledigt. Er ist ja der Commander, wie er uns unmissverständlich wissen ließ. – Aber dürften wir jetzt erfahren, was für ein Vorfall dazu führte, dass du dich von Sesha untersuchen ließest? Hat es zufällig etwas mit dem … Phänomen zu tun, dessen Zeuge wir wurden, Jarvis und ich, bevor du dich hinter dem Sarkophagdeckel verschanzt hast?« Assurs Züge drückten mehr und mehr den Widerstreit der Gefühle aus, der in ihr entbrannt war. Cloud lauschte in sich. Was tue ich da? Warum – gehe ich nicht mehr auf sie ein? Ihre Kritik ist mehr als gerechtfertigt. »Vielleicht gibt es tatsächlich ein Phänomen, das neuerdings durch die RUBIKON geistert«, sagte er, nachdem er sich hart geräuspert hatte. »Aber dann heißt es Halluzination. Irgendetwas lässt euch plötzlich Dinge sehen, die ihr euch lediglich einbildet.« »Und wovon genau sprichst du?«, fragte Jarvis. Es war Assur, die es ihm erzählte. Und die kaum ausgesprochen hatte, als es aus Jarvis herausplatzte: »Wie in der Zentrale – als du
deinen Rappel gekriegt hast und unbedingt Pirat spielen, das Floß der Heukonen aufbringen wolltest!« Scobee erklärte Assur, was sie an Cloud beobachtet hatten. Es passte ins Schema der angeblichen Halluzinationen. »Es sind keine Hallus«, behauptete die attraktive Angk, nachdem sich die Worte in ihr gesetzt hatten. »John hat Unrecht, aber er will es nicht wahrhaben.« »Assur …« Der Name rann über seine Lippen, aber für einen Moment vergaß er, wem er gehörte. Orientierungslos huschte sein Blick über die Anwesenden. »Vielleicht ist es ein Vertrauensbruch, wenn ich das verrate … aber, John, Liebling, ich tue es nicht, um dich zu verraten, sondern weil ich sicher bin, dass etwas nicht stimmt mit dir – und etwas dagegen unternommen werden muss.« Scobee und Jarvis warteten angespannt auf Clouds Reaktion. Offenbar glaubten sie, er würde ihr den Mund verbieten. Aber … dazu war er gar nicht in der Lage. Er fühlte sich matt und schwach und unfähig, sich zu irgendetwas aufzuraffen. Wie … »… im Moment des Sonnenkollaps …«, hörte er Assur wie von weither berichten, was Cloud ihr anvertraut hatte. Diese … unerklärliche Schwäche, ja, beinahe Lähmung, die ihn schon wieder übermannte. Jetzt. Genau in diesem Moment … Dann war es vorbei. Cloud schüttelte sich wie ein nasser Hund. Schlagartig kehrte all das, was er gerade noch an sich vermisst hatte, zurück. Er straffte sich. Sein Blick suchte Algorian, der wie in Trance ein paar Schritte entfernt stand, Richtung Floß, und den die Diskussion unter den Gefährten nicht zu tangieren schien. Er hatte eine Aufgabe und ging völlig darin auf. Algorian war sein Mann. Cloud ging zu ihm, ließ die anderen einfach stehen. Er brauchte den Aorii weder anzutippen noch anzusprechen. Auf irgendeiner unterschwelligen Ebene hatte er die Annäherung bemerkt, und fast augenblicklich kam Leben in seine Mimik. Er wandte sich Cloud zu.
»Ich habe jetzt alle geespert. Ausnahmslos«, sagte er. »Und ich fand in allen bestätigt, was ich gleich zu Anfang, beim Ersten, den ich mir vornahm, erfuhr.« Zögernd näherten sich aus dem Hintergrund Assur, Scobee und Jarvis. Sie hatten aufgehört zu reden. Aber auch Clouds jüngstes Verhalten schien sie eher vor den Kopf zu stoßen als ihre Zweifel zu beseitigen. »Was genau hast du erfahren, Freund«, forderte Cloud den Aorii zum Sprechen auf. Der Spindeldürre bekam noch einmal einen verklärten Gesichtsausdruck. Offenbar rief er sich in Erinnerung, was er geespert hatte und suchte nach der passendsten Formulierung. Endlich sagte er: »Es sind Flüchtlinge …« »Flüchtlinge? Die unbehelligt von den Treymor-Schiffen langsam und gemütlich auf Beinahe-Lichtgeschwindigkeit hochbeschleunigen wollten, um zu entkommen?«, fiel Jarvis ihm ins Wort. »Das klingt nicht sehr glaubwürdig.« »Ich war noch nicht fertig«, erwiderte Algorian so ruhig wie gewohnt. »Ich sagte nicht, es sind Verfolgte, die sich einem Regime heimlich entziehen wollten. Es handelt sich ausnahmslos um Flüchtlinge, die sich mit dem Segen der neuen Kubusherrscher zu einem Verlassen der alten Heimat entschlossen. Ich sage ausdrücklich ›mit dem Segen‹, weil dieser Begriff, Segen, in vielfältiger Form in ihrem Denken vorkommt und eine Rolle spielt. Für sie sind die Treymor die Gesegneten. Ich habe in keinem der Bewusstseine Furcht vor ihnen gefunden, bestenfalls Abneigung. Aber auch nicht auf die Treymor als solche bezogen, sondern auf das, was seit ihrem Erscheinen aus Tovah'Zara wurde – und daran geben die Heukonen auf dem Floß eigentlich mehr sich selbst, ihrem Volk, und den anderen Wasserbewohnern die Schuld. Den ›Gesegneten‹ unterstellen sie beste Absichten. Aber der Kubus ist nicht mehr das, was sie einst liebten. Deshalb entschlossen sie sich – wie im Übrigen viele vor ihnen und wohl noch etliche nach ihnen – zum Aufbruch ins Exil. Die Treymor stellten ihnen dazu das Floß zur Verfügung, ebenso die Koordinaten einer geeigneten Welt in Reichweite des Sprungtriebwerks, das in
ihr Gefährt integriert ist.« Cloud hatte fasziniert zugehört. In den Gesichtern seiner Freunde las er hingegen puren Unglauben – und neu entfachtes Misstrauen. »Das ist jetzt ein schlechter Scherz, oder, Alg?«, knurrte Jarvis auch prompt. »Nun die wahre Version, bitte. Du hast das echt todernst rübergebracht, aber … die Käfer als Wohltäter, missverstandene Wohltäter, das ist mir nun doch etwas zu starker Tobak.« »Es ist das, was ich in ihren Köpfen gelesen habe«, beharrte Algorian. »Eine andere Version gibt es nicht. Tut mir leid, wenn ich Erwartungen enttäusche. Aber ich lüge nicht, nur um jemanden in seiner vorgefassten Meinung zu bestärken …«
4. Die Stimme der Qual war da, in seinem Kopf, und ließ sich nicht verleugnen. Aber das hatte Farrak ohnehin nicht vor, im Gegenteil. Sie war der schlagende Beweis dafür, dass es funktionierte – das, was die Treymor als Entwicklungsziel vorgegeben und Heukonen wie Vilgamasch in die Tat umzusetzen bestrebt waren. Es gab Vorläufer von beinahe Flottenstärke, einsatzfähig und auch zum Einsatz gebracht, aber dies hier, dieses Unikat, das der Heukone ihm soeben vorführte, war der gegenwärtige Gipfel allen Bestrebens, aller Anstrengung, aller Mühsal. Ja, Farrak war durchaus im Stande zu würdigen, was Vilgamasch und seine Mannschaft hier geleistet hatten. Ein Schiff der Schiffe, ein Instrument, das irgendwann – bald! – Vorbild und Vorlage für eine neue Generation von Fahrzeugen sein sollte, mit denen die Treymor (die Gesegneten …) durch die Finsternis zwischen den Sternen reisten. Schiffe wie dieses würden sie dem Großen Plan näherbringen, um vieles näherbringen. Dass zugleich noch ein viel einschneidenderes Ereignis innerhalb Tovah'Zaras vorbereitet wurde, machte Farrak unendlich stolz auf die Kraft seines Volkes, Altes hinter sich zu lassen, auf die Entschlossenheit, durchaus Gutes und Bewährtes dem noch Besseren zu opfern. Denn Opfer waren es, die ein jeder, selbst er und die anderen acht, erbringen mussten. Alles hat seinen Preis. Mit dieser oft schmerzlichen Wahrheit war er groß geworden. Und noch größer, mächtiger, wissender wollte er werden. Bevor er abtreten und dem weichen musste, was nach ihm kommen würde. Dem, das geht, folgt stets etwas nach. Das war die zweite, schon gar nicht mehr so schmerzliche Wahrheit, die in den Grundfesten des Universums verankert schien.
Er hatte sich damit abgefunden. Er war ein Pragmatiker. Er würde gehen müssen, natürlich. Aber er war wild entschlossen, Fußstapfen im Sand der Unendlichkeit zu hinterlassen, die niemand übersehen konnte und die stets an ihn und die Leistung derer, die ihn unterstützten, erinnern würden. Er wollte erreichen, was wenige seines Volkes jemals schafften: Legende werden. Eine Legende, über deren Leistungen Treymor noch in Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen staunend erzählen würden. Innerlich schauderte er. Manchmal überraschten ihn die Motive, die ihn antrieben, selbst. Es hatte Zeiten gegeben, da war er völlig ohne Visionen ausgekommen. Er hatte Befehle erhalten und Befehle ausgeführt. Wann genau war dieser Wandel in ihm vonstatten gegangen? Er erinnerte sich nicht. Er schob die müßigen Gedanken in ein winziges Fach seines Verstandes. Vielleicht würde er sie bei Gelegenheit wieder hervorkramen und weiterspinnen. Vielleicht würden sie dort aber auch der Vergessenheit anheim fallen. An Vilgamasch gewandt sagte er: »Aus was für einem Stoff besteht das Schiff?« »Metall«, sagte der Heukone. »Metall«, echote er, beinahe enttäuscht. »Ein besonderes Metall natürlich, Gesegneter«, beeilte sich Vilgamasch zu versichern. »Es wurde aus Proben einer bizarren Lebensform entwickelt, die uns vor langer Zeit schon zur Verfügung gestellt wurden – Ihr erinnert Euch gewiss.« »Ich erinnere mich«, bestätigte Farrak. »Die Lebensform nennt sich Jay'nac. Wirklich absonderliches Sein. Beinahe so grotesk wie jene, die wir dir auch schenkten. Und die wir, seit wir ihr Potenzial kennen, jagen, wo immer wir ihre Fährte aufnehmen.« »Darauf kommen wir später noch zu sprechen«, wiegelte Vilgamasch ab, wobei er jedes einzelne Wort mit so vielen Demutsbekundungen in Form von Gesten untermalte, dass es Farrak fast schon zuwider wurde.
»Dieses Schiff hier ist riesig«, betonte er. Weil er wusste, wie bescheiden die Materialprobe war, die die Treymor den mit dem Projekt betrauten Heukonen zur Verfügung gestellt hatten. »Ja, das ist es«, bestätigte Vilgamasch. Niemand wusste besser als er, wie die bescheidene Ausgangsmasse vervielfacht worden war. Die Ewige Stätte Tovah'Zaras hatte dies vollbracht. Die Kräfte, die in ihr gebündelt und genutzt werden konnten. Die Hochtechnologie, die es vermochte, umliegende Sterne anzuzapfen und aus deren Energie … Materie herzustellen. Die Heukonen hatten sie in Zusammenarbeit mit den Treymor noch weiter entwickelt, als sie bei Erscheinen der Treymor gewesen war. Mittlerweile war die Ewige Stätte perfektioniert. Sie stellte das Optimum dessen dar, wozu Treymor und Heukonen fähig waren. Aber sie blieb das Werkzeug – das noch Perfekteres zu erschaffen vermochte. Und diese Schöpfungskraft ging über das rein Gegenständliche längst hinaus. So wie dieses Schiff kein einfaches Ding mehr war, würden die Treymor in Bälde – Auch diesen Gedanken ließ Farrak nicht weitergehen. Er kehrte ganz ins Jetzt zurück, tauchte darin ein und ließ sich von Vilgamasch durch sämtliche Bereiche des Prototyps führen. Wie erwartet, erreichten sie das Prunkstück, Gehirn und Herz des Schiffes in einem, wenn man so wollte, erst zum Schluss. Farrak trat beeindruckt in den vergleichsweise winzigen Raum, den Vilgamasch für ihn geöffnet hatte. Der Treymor wusste, dass er am Ziel des Rundgangs angelangt war. Die Stimme der Qual war der Herzschlag und der Intellekt des Schiffes, und hier, unmittelbar vor ihm, hatte sie ihren Sitz, von dem aus sie in jedes Atom der Metalllegierung hallte. Und darüber hinaus. Sie war geeicht. Auf Treymor. Wenn Vilgamasch und seine Leute alles richtig gemacht hatten, dann hörte der Heukone das Wispern, das eine ganz besondere Saite in Farrak zum Klingen brachte, nicht.
»Lass uns allein«, bat er den Heukonen. Vilgamasch wirkte über das Ansinnen nicht erstaunt. »Ich warte draußen auf dem Gang. Ihr könnt mich jederzeit rufen.« »Ich komme zurecht«, erwiderte Farrak mit unterschwelligem Spott. »Daran zweifele ich nicht, Gesegneter, verzeiht.« Farrak entließ den Heukonen mit einer Geste. Kaum hatte sich das Schott hinter ihm geschlossen, trat Farrak auf den Energiebalken zu, der wild zwischen zwei Polen in der Mitte der Kammer zuckte, sich nach oben und unten, rechts und links bäumte und dabei die Stimme der Qual erzeugte. Aber das war, wie der Treymor wusste, nur ein Nebenprodukt des Prozesses, der hier ablief. Die Heukonen hatten fantastische Arbeit geleistet. Farrak aktivierte das Komm-Modul, das ihm zur Verfügung gestellt worden war. »Kannst du mich verstehen?« Die bislang völlig unstrukturierte Stimme pegelte sich auf die eingestellte Frequenz ein. »Ich verstehe …« »Großartig«, sagte Farrak. »Du bist Seele und Kraftquell dieses Schiffes. Wie lautet dein Name?« Täuschte er sich, oder zögerte der zwischen den Polen gefangene, tanzende Blitz tatsächlich mit seiner Antwort? Schließlich aber sagte er: »Meinnameist …« Noch einmal stockte er, ehe er preisgab: » … ovayran.«
»Was hast du mit ihnen vor? Mit den Heukonen auf dem Floß, meine ich.« Cloud überlegte, was er auf Jarvis' berechtigte Frage antworten sollte. »Sie werden wieder ausgesetzt und können ihre beabsichtigte Reise nach der kleinen Unterbrechung fortsetzen.« »Damit rufst du die Treymor endgültig auf den Plan. Bevor ich kam, habe ich Seshas aktuelle Ortungseingänge gecheckt. Dabei fand ich meine Befürchtung mehr als bestätigt: Die drei X-Schiffe
vor der ozeanischen Sonne haben ihre normalen Patrouillenrouten verlassen und sich den Koordinaten zugewandt, an denen das Floß aus ihrer Ortung verschwand. Wenn du es jetzt wieder aussetzt, werden die Treymor nichts Eiligeres zu tun haben, als es selbst aufzubringen und die Heukonen zu verhören.« »Was könnten sie groß verraten?«, entgegnete Cloud. »Nichts, was sie nicht ohnehin schon wüssten: Dass sich ein Schiff mit Fremden hier herumtreibt. Fremde, denen sie schon anderenorts als dem Kubus begegnet sind, womöglich. Ich weiß nicht, wie ihre interne Informationspolitik funktioniert und inwieweit sie auf Konfrontationen anderer X-Schiffe aus der Vergangenheit zurückgreifen. Wir sind als Raumschiff längst keine Unbekannten mehr für die Käfer, behaupte ich. Und dass wir jetzt hier aufgetaucht sind, mag sie alarmieren, ändert aber nichts daran, dass sie ohnehin hinter uns her sind, oder?« Jarvis schwieg. Scobee, die sich leise mit Assur und Algorian unterhalten hatte, unterbrach ihr Gespräch und bewies, dass sie mit halbem Ohr zugehört hatte. »Ich sehe auch keine erhöhte Gefahr, wenn wir das Floß zurückverfrachten. Die Heukonen können den Treymor nicht viel verraten.« »Dann«, sagte Cloud, »ist es also beschlossen.« Er informierte Sesha und verließ mit den Gefährten den Hangar, nachdem er sich kurz von den Heukonen verabschiedet hatte, die auf derartige Floskeln aber wenig Wert zu legen schienen. Algorian esperte, dass sie froh waren, die für sie albtraumhafte Umgebung wieder verlassen zu dürfen. Doch während für sie der Albtraum – dieser zumindest – endete, fing er für die Crew der RUBIKON erst richtig an. Zumindest für diejenigen, die John Clouds aktuellen Entscheidungen eher kritisch gegenüberstanden und daraus auch keinen Hehl machten …
Es konnte goldrichtig – oder aber grundverkehrt sein, was er da am
Commander der RUBIKON vorbei tat, und entsprechend lange hatte Jarvis gezögert. Letztlich aber siegte die Angst um seine Freunde, Bekannten und jeden einzelnen Angehörigen der Crew. Zugleich war es ein Versuch, von dem er hoffen konnte, er würde funktionieren. Sicher sein konnte er bei weitem nicht. Wenn die Heukonen die Wahrheit dachten, würde die demnächst – sobald sie ausreichend hoch beschleunigt hatten – stattfindende Transition sie zu den Zielkoordinaten eines Sternensystems bringen, in dem sie eine neue Heimat gründen konnten. Je nachdem, wie weit dieser Wiedereintauchpunkt nach dem Sprung war, würde sich dann zeigen müssen, ob die Sendereichweite der »Wanze« groß genug war, um Rückschlüsse zu gestatten. Jarvis wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Aber er wusste auch, dass er so handeln musste. Er misstraute den Treymor mehr als jeder anderen Spezies, auf die sie in Sternentiefen getroffen waren, und er traute ihnen jede Teufelei zu. Unbemerkt von allen entließ er den Verbund der Nanostrukturen aus seinem Körper. Als unsichtbare Wolke schwebten sie durch das Prallfeld des Floßes und hefteten sich an die Unterseite der schwebenden Plattform. Dort verdichteten sie sich zu dem Apparat, den Jarvis programmiert und für den er einen vernachlässigbaren Teil seiner Masse geopfert hatte. Er wagte keinen Systemcheck, weil er Seshas Wachsamkeit fürchtete, sobald er in Kommunikation mit dem Modul trat. Aber das Modul wusste, was zu tun war. Und es war in der Lage, Situationen eigenständig zu bewerten. Mit etwas Glück ging alles glatt. Wenn er allerdings Pech hatte, war es ein Schuss in den Ofen; dann würde er nie mehr etwas von seinem Ableger hören …
5. Das Dorf der Angks zeichnete im milden Licht einer Spätsommersonne ein Idyll, das nicht existierte. Nicht außerhalb der RUBIKON jedenfalls, nicht einmal über die Grenzen der Siedlung innerhalb des Raumschiffs hinaus. Jarvis materialisierte in dem kleinen Park, den Jelto auf Bitten der Angks angelegt hatte und dessen Bäume binnen kürzester Zeit bereits respektable Höhen erreichten und kühlende Schatten auf die Grasflächen dazwischen warfen. Während Assur zusammenfuhr, zeigte Cloud keinerlei Anzeichen von Überraschung. Gemeinsam mit seiner Partnerin hatte er entschieden, die Hauptmahlzeit des Tages in Picknick-Form auf einer eigens mitgebrachten Decke zu sich zu nehmen. Jarvis kam wenige Schritte von ihnen entfernt aus der Transition, zu der sein Kunstkörper im Stande war – auch wenn er sich an Bord normalerweise eigentlich nie auf diese Weise fortbewegte. Cloud führte es auf die erkennbare Erregung des Freundes zurück, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen. Immerhin: Die RUBIKON operierte gegenwärtig im Einsteinuniversum. Die Frage, was geschehen wäre, hätte Jarvis die persönliche Transition während des Aufenthalts im übergeordneten Reisemedium – dem Hyperraum – ausgeführt, war folglich rein theoretischer Natur. Vielleicht hätte es keinerlei Auswirkungen auf die Nanohülle des ehemaligen GenTec gehabt – vielleicht aber auch katastrophale. »John!« »Hallo, Jarvis. Was führt dich her? Woher weißt du, wo ich bin? Ich hatte Sesha ausdrücklich gebeten, nur in dringenden Fällen diesbezügliche Auskunft zu erteilen. Ist es ein dringender Fall?« »Tu nicht so scheinheilig.« Assurs Miene versteinerte. Die gute Stimmung dieses virtuellen Sommersonnentages war schlagartig dahin.
Unausgesprochen die Frage: »Was hast du jetzt schon wieder angerichtet, Liebling?« »Ach, das meinst du …« Cloud stand mit einer fließenden Bewegung auf, trat Jarvis entgegen. In seinem Mundwinkel klebte noch etwas Saft von den süßen Beeren, mit denen Assur ihn zuvor gefüttert hatte. »Was meint er, John?« Kühl der Ton Assurs. »Ich meine den Funkspruch, den er in Endlosmodus an den Aquakubus abstrahlen lässt – seit die Heukonen ausgeschleust wurden und ihre Fahrt wieder aufnahmen.« »Wir strahlen einen Spruch ab – zu den Treymor?« Jetzt erhob auch sie sich. Das dünne Sommerkleid flatterte in einer imaginären Brise. »Dazu habe ich mich entschieden, ja.« Cloud räumte es freimütig ein. »Damit lässt sich für die Treymor der Aufenthaltsort der RUBIKON problemlos eruieren«, hielt ihm Jarvis vor. »Der Endlosspruch ist wie eine Einladung, und der Inhalt … Entschuldige, John, aber das bringt das Fass zum Überlaufen. Wenn noch alles mit dir in Ordnung wäre, würdest du niemals –« »Ich bin also in deinen Augen krank?« »Wie lautet der Inhalt der Sendung, die nach Tovah'Zara abgestrahlt wird?«, fragte Assur, bevor Jarvis auf Clouds Frage etwas erwidern konnte. »John reicht den Treymor darin die Hand zu Verhandlungen – zur Aussprache. Er glaubt, so formuliert er es jedenfalls, dass die zurückliegenden Aggressionen, die entweder die RUBIKON direkt trafen oder aber deren Zeuge die RUBIKON wurde, letztlich auf einem großen Missverständnis beruhen. Dieses will er ausräumen … und Frieden mit den Käfern schließen. – Habe ich das sinngemäß einigermaßen korrekt wiedergegeben?« Cloud nickte. »Durchaus, danke.« Er wandte sich an Assur. »Siehst du darin auch einen neuerlichen unverzeihlichen Alleingang?« Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Deshalb schwieg sie,
kniff die Lippen zusammen. »Wie bist du nur auf so eine Schnapsidee gekommen? Wach auf, John! Wach auf, bevor es für uns alle zu spät ist!« Aus dem Off meldete Sesha: »Soeben erreicht uns ein Funkspruch der Treymor. Sie willigen in Verhandlungen ein. Der RUBIKON wird freies Geleit zugesichert. Die Koordinaten für eine Zusammenkunft wurden ebenfalls übermittelt. Sie liegen innerhalb des Aquakubus. – Soll ich antworten? Und wenn ja, was, Commander?« Clouds Augen funkelten. Jarvis seufzte resigniert. Assur umfasste den Kragen ihres Kleides und drehte ihn betroffen in der Faust. »Ich komme in die Zentrale«, kündigte Cloud der KI an. »Lies mir unterwegs den originalen Wortlaut der Treymor-Antwort vor.« Er blickte zu Jarvis und Assur. »Kommt ihr mit?« »Gleich«, sagte Jarvis dumpf. »Ich komme nach.« »Ich auch.« Assurs Gesicht war maskenhaft starr. »Ich räume hier nur noch zusammen.« »Das können auch die Bots übernehmen …« »Nein. Ich erledige das. Bis später.« Schulterzuckend entfernte sich Cloud aus dem Park. Als er außer Sichtweite war, wucherte kurz Chitin über seinen Körper. Er sah an sich herab und lächelte. Nicht mehr lange … Nicht mehr lange, und er durfte heimkehren. Heim! Wie er dieses Zuhause vermisst hatte …
»Wir müssen ihn stoppen!« »Das wäre Meuterei.« »Er ist eine Gefahr für Schiff und Besatzung.« »Er ist unser Freund.« »Wenn ich das nicht schon die ganze Zeit über berücksichtigen würde, sähe meine sogenannte ›Meuterei‹ aber mal ganz anders aus!«, grunzte Jarvis.
»Ich bin absolut loyal.« »Lobenswert. Aber wie steht es mit seiner Loyalität uns gegenüber?« »Er ist anders geworden, das stimmt. Aber es fehlt der unumstößliche Beweis, dass er nicht mehr Herr über seine Entscheidungen ist oder seine Psyche sich tatsächlich krankhaft verändert hat.« »Er will in den Kubus fliegen. Offen einfliegen.« Assur nickte betrübt. »Ich weiß. Aber Schiffskommandanten fällen in der Realität nicht immer demokratisch untermauerte Entscheidungen.« »Das hat er sonst immer getan – zumindest hat er den Anschein erweckt, dass ihm auch die Meinung anderer wichtig ist und sie Einfluss auf seinen Entscheidungsprozess hat.« »Was sollen wir tun?« Jarvis gab zu: »Ich weiß es auch nur bedingt. Wenn wir uns hinter Johns Rücken gegen ihn verbünden, hat das schon mehr als nur den Ruch der Meuterei … Aber ich habe bereits Maßnahmen eingeleitet, die uns anderen dabei helfen können zu beurteilen, was mit ihm los ist. Und ich betone ausdrücklich: Ich gehe nicht in Opposition zu John, weil ich ihm schaden will. Falls sich meine Befürchtungen bestätigen, war die Begegnung mit dem Heukonenfloß die reinste Farce. Und sollte ich dafür Beweise bekommen, hieb- und stichfeste Beweise, und John sich vernünftiger Argumentation weiter versperren, müssen wir handeln.« »Was hast du getan? Was für Maßnahmen sind das? Wovon redest du?« »Das werde ich gerne offen legen – aber lass uns Scobee, Jiim und die anderen hinzuziehen, die von Johns Vorgehensweise ebenso überrascht sind.« Assur überlegte kurz. Schließlich nickte sie, obwohl es ihr sichtlich schwer fiel. »Ob er mir das jemals verzeihen wird?« Dieselbe Frage hatte Jarvis sich in den vergangenen Stunden schon mehr als ein Dutzend Mal gestellt.
Das Floß der Heukonen war nach seinem Austritt aus der RUBIKON von den X-Schiffen nur kurz angeflogen und in Augenschein genommen worden. Kein Zweifel, dass die Treymor nun wussten, wie es zum abrupten zeitweiligen Verschwinden der Exilanten gekommen war … und wer hinter ihrer »Rückführung« steckte. Erkennbare Konsequenzen gab es für die Passagiere des Floßes nicht. Jarvis hatte gehofft, eigentlich auch erwartet, dass die Treymor jetzt die Maske der »Gutmenschen« fallen lassen und ihr wahres Gesicht zeigen würden. Natürlich hoffte er es nicht, um den Heukonen-Flüchtlingen zu schaden – aber als drastisches Mittel, um John die Augen zu öffnen, wäre es ideal gewesen. Stattdessen ließen die X-Schiffe das Floß nach nur Minuten dauerndem Austausch von Funksprüchen ziehen. Es hatte im Rahmen seiner Möglichkeiten beschleunigt und würde in Kürze – jetzt!, registrierte Jarvis mit dem Teil seiner optischen Segmente, die auf die Holosäule gerichtet waren – transitieren. »Strukturerschütterung«, meldete Sesha. »Floß ist gesprungen.« »Ist der Rematerialisierungspunkt zu orten?« Die KI bestätigte. Sie gab die Koordinaten durch. Rund sieben Lichtjahre, wiederholte Jarvis das Gehörte für sich selbst. Das war verdammt weit für seinen kleinen Sender. Andererseits handelte es sich um Technologie der Foronen, wie sie sie in der Blüte ihres Imperiums zu schaffen vermochten. Und die Nanowanze stand zudem in besonderer Beziehung zu Jarvis' Körper … Während Cloud letzte Vorbereitungen für den Einflug in den Kubus traf, begann für Jarvis – und alle anderen Eingeweihten – ein nervenzerfressendes Warten. Würde er jemals Nachricht von seinem Ableger erhalten? Und wenn ja, welcher Art würden die gesendeten Informationen sein? »Du bist so schweigsam, alter Junge – immer noch sauer auf mich?«
Dass John ihn ansprach, noch dazu so jovial, als stünde nichts zwischen ihnen, brachte Jarvis mehr in die Bredouille, als er geglaubt hätte. »Darüber reden wir ein andermal. Willst du deine Entscheidung noch einmal diskutieren?« »Ach, Jarvis …« Mehr als dieses fast herablassende »Ach, Jarvis« kam nicht. Die RUBIKON nahm Fahrt auf. Schon bald füllte die ozeanische Sonne die gesamte Breite der Holosäule aus. Die in der Nähe befindlichen X-Schiffe machten keine Anstalten, die RUBIKON am Einflug zu hindern. Auch das bedauerte Jarvis. Aber zugleich machte es für ihn deutlich, wie durchtrieben die Käfer waren. Jedes offene Gefecht wäre ihm lieber gewesen, als Willkommensund Verhandlungsbekundungen, die er keinen Moment ernst nahm. Es musste im Fiasko enden.
Die RUBIKON flog dem hinter einem grellen Lichtschild verborgenen Tovah'Zara mit zwei Prozent LG entgegen. In drei Minuten würde sie die Korona durchstoßen … und in die Wasserwelt eintauchen. Drei Minuten. Jarvis zog sich unter einem Vorwand aus der Zentrale zurück, um in kein Gespräch verwickelt zu werden. Er wollte sich mit allem, was er zur Verfügung hatte, auf etwaige Signale konzentrieren, die von außerhalb des Schiffes für ihn eintrafen. Signale seiner Wanze. Von Sesha ließ er sich ebenso wie die Zentralebesatzung den Countdown herunterzählen. Zwei Minuten … Anderthalb … In diesem Moment traf ihn der harte Impuls konzentrierter Datenpakete, die sich sofort entpackten. Nur Jarvis hatte den entsprechenden Schlüssel zur Dechiffrierung. Selbst wenn Sesha den Impuls ebenfalls bemerkte, würde sie sich
die Zähne daran ausbeißen – es sei denn, Jarvis stellte ihr den Dechiffrier-Code ebenfalls zur Verfügung. Eine Minute. Jarvis hatte sich alle Informationen verinnerlicht und stürmte … Dreißig Sekunden. … die Zentrale. Gleichzeitig nahm er Kontakt zu Sesha auf, überließ ihr den Schlüssel, nachdem die KI ihm den Empfang der Daten bestätigt hatte. Auf dem Kommandostand waren alle Augen auf die falsche Sonne gerichtet. Filter waren zwischengeschaltet. Niemand musste fürchten, geblendet zu werden oder sich gar irreparable Schädigungen des Augenlichts zuzuziehen. »STOPP!« Nach Jarvis' dröhnendem Schrei war ihm die Aufmerksamkeit aller sicher. Kein Gesicht, das sich ihm nicht zuwandte. »John! Stoppe den Vorstoß! Sie lügen und betrügen! Du kannst ihnen nicht vertrauen!« Näher und näher glitt die RUBIKON auf die ozeanische Sonne zu. »Ach, Jarvis …«, setzte Cloud erneut an. Sein Gesicht verriet seine wahren Regungen nicht, dessen war Jarvis sich mittlerweile sicher. Ebenso wenig wie die »Chitinfratze« es wagte, ihn in diesem Stadium ein weiteres Mal in Erklärnot zu bringen; sie blieb verborgen. Aber wenn Jarvis den alten Freund ansah, hatte er das Gefühl, als lauerte sie regelrecht unter dessen Haut, bereit, jederzeit hervorzubrechen. »Was ist, Jarvis? Rede!«, ergriff Scobee das Wort. Sie stemmte sich aus dem Kommandositz, kam ihm entgegen … so wie er ihr entgegen ging. »Ist es das, worauf du gewartet hast?« »Genau das. John – ich habe den Beweis für die Heimtücke der Treymor! Die Heukonen auf dem Floß … es war nur initiiert – für uns. Um dich und uns andere zu täuschen. Um dich zur Verhandlung zu ermuntern – und den Rest der Crew ruhig zu halten. Nichts sollte deine Bereitschaft, sich mit den Treymor zu treffen, gefährden. Aber das ist alles eine verdammte Farce! Sie –«
Kontakt. Das Ende des Countdowns war erreicht. Die RUBIKON tauchte in die falsche Sonne. »Gib den Befehl zur Umkehr, John!«, verlangte Jarvis eindringlich. »Wo sind deine sogenannten Beweise?« »Schaut in die Holosäule. Okay, es sind Störungen drin. Die Entfernung war für meinen Spion, den ich ans Floß heftete, etwas groß, aber man sieht genug – mehr als genug …« Jarvis zeigte ins Holo. Dort erschienen die Bilder, die Sesha mit dem erhaltenen Code dechiffriert hatte. Bilder, die den Weltraum zeigten, einen Ausschnitt des Floßes, den die Optik des Nanospions gerade noch erfasste … und ansonsten die Umgebung des Vehikels. Plötzlich tauchte im Bild ein X-Schiff auf. Ohne viel Federlesen nahm es das Floß mit den Heukonen an Bord. Kurz darauf erschienen Treymor im Innern des Hangars, in den das Floß gezogen worden war. Real durchstieß die RUBIKON in diesem Moment die Lichtmembran, die den Aquakubus vor den Augen Unbefugter verbarg. Die RUBIKON stieß in ein anderes Medium vor. Wasser. Schlagartig änderte sich die Wiedergabe des Außenbereichs. Die Ortungssysteme erfassten mehrere X-Schiffe, die offenbar bereits auf die RUBIKON warteten und ihr sofort entgegenstoben. »Zurück!«, keuchte Jarvis. »Du siehst, was passiert ist: Die bedauernswerten Heukonen waren manipuliert, ohne es selbst zu wissen. Sie wurden nach dem Sprung wieder eingesammelt – sieh hin! – und werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Kubus zurück gebracht! Begreife es endlich, John! Die Treymor sind keine Gesegneten, keine Wohltäter. Sie tun im Kubus, was wir von Anfang an befürchteten: Sie versklaven die Ureinwohner, beuten sie aus!« Cloud sah ihn schweigend an, sah auch ins Holo, wo die Bilder der Heukonen noch kein Ende gefunden hatten. »Woher hast du das?« »Spielt das eine Rolle? Befiehl den Rückzug, John. Sofort. Sonst –« »Sonst?« Seltsam kalt kam die Frage. Chitin wucherte über Gesicht
und Körper des Mannes, der das, was ihn beherrschte, nicht mehr leugnete. Assur zuckte zurück, ebenso Scobee. Andere, wie Jarvis, demonstrierten Gefasstheit. »Ich wusste es …« »Was?«, fragte Cloud. Spielte er immer noch auf Zeit? »Sesha, Kurs beibehalten, bis ich etwas anderes befehle. Keine andere Autorität als mich anerkennen. Jegliche Kursänderung muss von mir legitimiert werden.« Eines der X-Schiffe setzte sich in Fahrtrichtung vor die RUBIKON und passte sich deren Geschwindigkeit an. »Dem Lotsenschiff folgen.« Nun war es ausgesprochen – und kein Argument der Freunde, die sich gewünscht hätten, John immer noch vertrauen zu können, vermochte noch die traurige Gewissheit entkräften, die Einzug in ihre Hirne gehalten hatte: Der Commander paktierte mit dem Feind. John Cloud war übergelaufen.
6. Mingox spielte auf der Klaviatur der Partikelsteuerung wie ein juwanischer Wasserflötenspieler, der sein Instrument in Perfektion beherrschte und ihm Töne zu entlocken vermochte, die ein Durchschnittsluure nicht einmal für möglich gehalten hätte. Ein treffender Vergleich, wie Mingox fand, denn in gewisser Weise war die Steuerungskonsole tatsächlich ein Ding, mit dem man dem »Instrument«, auf das es justiert war, Reaktionen entlocken konnte, die denen einer Melodie gar nicht so unähnlich waren. Das Instrument war jener Mensch, den die Steuerung angepeilt hatte, sodass sie seit geraumer Zeit in der Lage war, auf ihm zu spielen. Mingox berücksichtigte die Wünsche der Gesegneten bis in kleinste Nuancen. Exakt nach deren Maßgabe ließ er Johncloud handeln. Ein Handeln, das sich nicht allein auf die Physis erstreckte, sondern bis in die Gedankenwelt des Akteurs hinein wirkte. Immer fehlerfreier ging dieser Transfer der Wünsche vonstatten. Zusammen mit den ins Spiel gebrachten vermeintlichen Flüchtlingen ergab sich so nach und nach die ideale Konstellation, um das Mythenschiff dazu zu bringen, neuerlich Kurs auf Tovah'Zara zu nehmen. Diesmal aber wurde es erwartet. Mingox stellte die letzten Weichen im Sinne der Gesegneten. Dann informierte er Farrak über den Vollzug. »Johncloud ist auf uns programmiert?«, erkundigte sich der Erleuchtete. »Er kann sich aus der Konditionierung nicht mehr befreien?« »Er wird ganz im Sinne der Gesegneten handeln und sich gegebenenfalls auch den eigenen Artgenossen widersetzen. Er, sie und das Schiff als solches befinden sich in einer unentrinnbaren Schlinge.« »Das hast du gut gemacht. Jetzt geh und kümmere dich um die
Aufgabe, für die wir dich eigentlich wählten. Du weißt, was du zu tun hast. Sei sorgfältig. Der Erfolg zählt – nicht die Geschwindigkeit, in der er erzielt wird.« Mingox bedankte sich für das Lob. »Darf ich zuvor noch kurz in mein Heim bei den Protowiesen? Ich habe mich entschieden, es aufzugeben und mich in dem Objekt einzurichten, das ihr mir zur weiteren Vollendung anvertraut habt. So kann ich rund um die Uhr daran arbeiten.« »Du beweist uns mehr und mehr, dass wir keine bessere Wahl hätten treffen können.« Farrak unterbrach die Verbindung. Mingox wandte sich der Transferweiche zu, die ihn ein letztes Mal heim bringen würde. An John Cloud verschwendete er kaum mehr einen Gedanken. Die auf ihn wartende Herausforderung überstrahlte selbst die Faszination des Legendären, der aus fernster Vergangenheit aufgetaucht war. Mingox trat durch die Weiche. Aber er kam nie bei den Protowiesen an. Irgendwo unterwegs … blieb er hängen.
Ein Mann verwandelte sich. Vor den Augen derer, die bis zu diesem Moment geglaubt hatten, ihn zu kennen. Ein Mann wurde zum Käfer. Der Mann hieß Johncloud, und er dachte, während sich seine Wahrnehmung ebenso verschob wie sein optisches Erscheinungsbild: Endlich! Endlich war er wieder dort, wo sich ETWAS in ihm seit Jahren hinsehnte. Er hatte seine Anwesenheit als so natürlich hingenommen, dass es ihm gar nicht mehr bewusst geworden war. Und auch beim ersten Vorstoß vor ein paar Tagen war die Sehnsucht noch nicht in ihm erwacht; erst später, nach dem Rückzug in den Ortungsschatten der Sonne, die inzwischen nur noch als ausgebrannter Schlackenhaufen existierte.
Er sah Gestalten von sich zurückweichen. Gestalten, an deren Namen er sich nicht mehr oder nurmehr verschwommen erinnerte, während in ihm andere Namen, andere Bilder aufstiegen und die verwaisten Plätze einnahmen. Nicht lange, und er war ganz allein in dem Raum, von dem aus er das Schiff führte. Das Schiff, das dem Lotsen folgte, der es tiefer und tiefer – näher und näher dem Ziel der Sehnsucht – dem Kern Tovah'Zaras entgegenführte. Das, was eins mit ihm geworden war, gewann mehr und mehr die Oberhand. Johncloud wusste nicht, noch ahnte er, dass auch dieses ETWAS nur Mittel zum Zweck und Werkzeug war. Die Fäden, über die er, die Marionette, gelenkt wurde. Er kauerte in dem Sitz, der nie für einen wie ihn gemacht worden war. Sein Körper eckte überall an. Dennoch blieb er halb liegend, halb sitzend in der Schale des Sarkophags. Die Holosäule zeigte ihm, was immer er sehen wollte. Und die Stimme in ihm verriet ihm, dass die Erfüllung nah sei. Er würde belohnt werden für seinen Gehorsam. Der Käfer Johncloud gab Laute von sich, zu denen der Mensch John Cloud nicht fähig gewesen wäre. Korallenüberwucherte Weltenkugeln drifteten vorbei. Faszinierende Fahrzeuge, faszinierende Wesen. Die Sehnsucht klang langsam, aber stetig in ihm ab. Aber die Euphorie schwoll an, je näher er den Gesegneten kam …
»Sesha! Beende diesen Wahnsinn! Du siehst selbst, was aus ihm geworden ist. Der Commander ist nicht mehr klaren Verstands – er wird uns alle ins Verderben stürzen!« Scobees eindringlicher Appell verhallte gehört, aber nicht akzeptiert. Die Bord-KI demonstrierte einmal ihre bedingungslose Unterordnung, was die Autorität desjenigen anging, der sie vor langer Zeit dazu brachte, ihn als alleinige Instanz mit absoluter Befehlsgewalt zu akzeptieren.
Dazwischen hatten auch Phasen gelegen, in denen Cloud vom ursprünglichen Befehlshaber des Rochenschiffes, Sobek, in dieser Rolle abgelöst worden war. Aber aktuell war er wieder derjenige, der das Sagen hatte – was er der KI noch einmal als Absolutum hinter die Ohren geschrieben hatte, bevor die RUBIKON zum Zentrum Tovah'Zaras aufgebrochen war. Nirgendwo sonst lag das Ziel des Lotsenraumers, dessen waren sich Scobee und ihre »Mitverschwörer« einig. Niemand empfand Genugtuung darüber, dass sich ihre Prophezeiung so komplett und zum Nachteil der Crew erfüllt hatte. Clouds Verwandlung und Geisteshaltung übertraf sogar die schlimmsten Befürchtungen. »Sesha?« »Keine Autorisierung«, kam es lapidar aus dem Off. »Ich wurde angewiesen, diesbezügliche Versuche zu ignorieren. – Dies ist meine letztmalige Äußerung in dieser Sache.« Und die KI machte ernst. Jeder weitere Versuch, auch nur mit ihr in Kontakt zu treten, scheiterte. »John hat uns den Hahn zugedreht«, knurrte Jarvis. »Ich überlege, was geschehen würde, wenn ich ihn mir ganz altmodisch schnappe.« »In seiner jetzigen Verfassung rate ich davon dringend ab«, sagte Assur. »Ich weiß nicht, wo seine Grenzen liegen. Momentan fürchte ich eher, er hat keine mehr, keine Grenzen und keine Hemmungen.« Ihre Worte verrieten, wie es in ihr aussah. »Dann sind uns also die Hände völlig gebunden?«, fragte Jarvis. »Sollen wir tatenlos zusehen, wie er uns den Treymor ans Messer liefert?« »Vielleicht gibt es noch einen Ausweg.« Wieder war es Assur, die das Wort ergriff. »Aber ich kann nichts versprechen. Es wäre … ein Versuch.« »Was hast du vor?«, fragte Scobee. »Darüber kann ich nicht sprechen – weil ich fürchte, John könnte Sesha auch angewiesen haben, jeden ausformulierten Plan, ihn kaltzustellen, zu unterbinden.« Jarvis legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte »Psst!« –
bevor er ihr zuraunte: »Falls dem so wäre, würdest du jetzt schon Gefahr laufen, von Sesha präventiv aus dem Verkehr gezogen zu werden.« Assur erbleichte. Sie nahm die Bemerkung ernst – womit sie recht hatte. Jarvis scherzte gern, in diesem Fall jedoch äußerte er nur seine ehrlichen Bedenken. »Komm«, sagte er. »Ich mime deinen Bodyguard. Wenn's dir recht ist, natürlich nur. Wohin soll ich dich begleiten?« »Ins Dorf«, sagte sie. »Zu den anderen Angks.« Obwohl Scobee weit davon entfernt war, die Gedanken anderer lesen zu können, begann es ihr doch zu dämmern, was Assur beabsichtigen könnte. »Ich komme auch mit«, entschied sie. »Zwei Beschützer sind besser als einer. Irgendwelche Einwände?« Assur schüttelte den Kopf. Allmählich bekam ihr Gesicht wieder Farbe. »Wir sollten uns aber beeilen«, sagte sie. Zu dritt brachen sie im Eilschritt ins Dorf der Angks auf.
»Sie planen etwas, Commander.« Sesha störte sich nicht an Clouds verändertem Äußeren. »Was können sie schon anrichten?« »Wenn ich die belauschten Gespräche richtig interpretiere, erhoffen sie sich Hilfe bei den Angks, um mich zu stürzen.« »Dich? Nimmst du dich nicht ein bisschen zu wichtig?« »Ich bin die Gewalt, die zwischen ihren Interessen und deinen steht. Wenn sie mich ausschalten könnten, wäre der Weg frei, in die Geschicke der RUBIKON einzugreifen.« »RUBIKON?« Johncloud sah fragend zur Decke der Zentrale, als säße Sesha dort oben in einer Art Spinnennetz, von dem aus sie das gesamte Schiff überwachen konnte. Die KI schwieg irritiert. Schließlich sagte sie: »Dein Schiff.« »Ah … Natürlich. – Was schlägst du vor zu tun, um ihr Vorhaben zu vereiteln beziehungsweise schon im Keim zu ersticken?«
»Wie drastisch darf es denn sein?« »Von mir aus kannst du sie vorbeugend töten. Ich habe keine Verwendung mehr für sie.« »Das wäre eine immense Vergeudung von Ressourcen.« »Ressourcen?« »Die Angks sind längst zu Bestandteilen des Schiffsbetriebs geworden. Sie zu beseitigen, würde die RUBIKON enorm schwächen. Sämtliche neuen Errungenschaften, von den Bractonen spendiert, wären davon betroffen. Nur im Zusammenspiel mit den Angks sind sie verfüg- und einsetzbar.« »Bractonen?« »Die Schöpfer unseres Universums.« »Hm.« Johncloud überlegte. »Für mich nicht relevant. Ich stehe unmittelbar vor der Erfüllung. Ich brauche das Schiff nicht mehr lange. Dich übrigens auch nicht. Von mir aus kannst du sie alle auslöschen. Präventiv.« Die KI schwieg. Johncloud vergaß, was er gerade mit ihr besprochen hatte. Aber Sesha vergaß nichts. Sie fühlte sich nur … in der Zwickmühle. Die Äußerungen des Commanders waren mehr als befremdlich. Aber letztlich musste sie ihnen folgen.
Als sie unbehelligt das Angkdorf erreichten, keimte in Assur leise Hoffnung auf. Sie traf sich sofort mit Rotak, ihrem Expartner und zugleich der gewählte Sprecher der Angkgeborenen an Bord. Rotak war eine völlig andere Persönlichkeit als Johncloud, aber sie hatte einmal große Gefühle für ihn gehabt, und sie beide waren in einem Konsens auseinander gegangen, in dem Eifersüchteleien oder andere negative Empfindungen keinen Platz hatten. Sie schätzte ihn noch immer – vor allem als Vater ihrer gemeinsamen Tochter. Rotak hatte, wie alle anderen Angks des Dorfes, den neuerlichen Vorstoß in den Kubus mitbekommen. Nur die dahinter verborgene Tragik war ihm neu.
Assur und ihre beiden Begleiter informierten ihn so knapp wie möglich, dabei aber auch so umfassend wie nötig. Über den eigentlichen Plan Assurs verloren sie kein Wort. Das war auch nicht nötig. Rotak hatte sofort begriffen, welche gemeinsame Anstrengung gefragt war. Auch als sich nach und nach alle Dorfbewohner zusammenfanden, schritt Sesha – schritt John Cloud – nicht ein. Schweigend lastete ihre Präsenz dennoch wie ein Damoklesschwert über den Sonderbegabten der Angkwelten. Jeden Moment konnte sich die Lage verschärfen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die spezielle Gefahr herumgesprochen, und wortlos hatte jeder begriffen, was dagegen getan werden musste. Eine Garantie für Erfolg gab es nicht. Aber dies war der Moment, in dem sie nachdrücklicher als jemals zuvor beweisen konnten, wie wertvoll sie für die Schiffsgemeinschaft waren. Ein wenig haftete ihnen gegenüber der Altcrew immer noch der Makel des Außenseitertums an. Assur selbst empfand dies nicht so stark, was wohl an ihrer innigen Verbindung (bei den Vätern, würde es jemals wieder so werden?) zu John liegen mochte. Aber aus Gesprächen mit den anderen Angks wusste sie, dass es für manchen ein Problem war, das seiner Lösung noch harrte. Assur tauschten einen unsicheren Blick mit Scobee, die nur zwei Schritte von ihr entfernt in der Menge stand. Schaudernd stellte sie fest, dass die Frau, die vor ihr Johns engste Vertraute an Bord gewesen war, offenbar auch nicht daran glaubte, dass die friedliche Atmosphäre anhalten könnte. Auch sie rechnete mit Johns Intervention – über seinen wertvollsten Verbündeten: Sesha. »Wie wollt ihr vorgehen?«, hörte Assur in diesem Moment die charakteristische Stimme von Jarvis, den sie wie jeder Angk »nackt« und ungeschönt sah. Aus irgendeinem Grund versagte die »Kosmetik«, die der ERBAUER Kargor ihm verpasst hatte, bei den Angks. Die Illusion, die vorgab, einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, hielt den Augen der Angks nicht stand. Und so sah Assur auch, dass Jarvis' Worte nicht vom Mund der grob humanoiden künstlichen Hülle geformt wurden, sondern einfach aus dem
Körper heraustraten. Rotak machte eine Geste, die alle Angks verstanden. Assur winkte Scobee und Jarvis kurz zu – dann setzte auch sie sich zu ihrem Haus in Bewegung. In den vier Wänden ihrer Quartiere würde ihnen der Zusammenschluss, der sie zum Kollektiv formte und ihnen schrankenlosen Zugang zum Schiff ermöglichte, am besten gelingen. Das Problem war nur, dass dies auch der Moment war, in dem Sesha ihre Zurückhaltung aufgab. »Bleibt stehen!«, forderte sie die Angks aus dem Off heraus auf. Nur noch wenige Schritte trennten die Ersten von ihren Häusern. »Weiter. Geht ruhig weiter. Ihr wisst, was zu tun ist.« Das war Rotak. »Scheiße«, zischte Jarvis, der zu Scobee trat. »Das geht ins Auge. Denkst du das auch?« Noch ehe sie etwas erwidern konnte, bestätigte die KI seine Ahnung auf brutalste Weise. »Ich habe Weisung, euch zu eliminieren«, erklärte sie emotionslos. »Ich werde den Befehl in dem Moment ausführen, in dem der Erste durch die Tür seines Quartiers tritt.« »Sie spaßt nicht«, schnappte Jarvis. »John ist endgültig übergeschnappt. Wer außer ihm mag ihr das wohl befohlen haben?« »Ein Massaker?« Scobee schüttelte den Kopf, obwohl sie es besser wusste. »Dazu wäre er nie –« »Nicht unser John, nein. Aber der, zu dem er geworden ist!« Jarvis Körper schien zu beben. »Ich breche den Versuch ab. Niemand soll sinnlos sterben.« Er trat ein paar Schritte von Scobee weg und brüllte dann in ohrenbetäubender Lautstärke: »Bleibt stehen! Vergesst den gut gemeinten Plan! Sesha spaßt nicht – es ist gut, wir werden … einen anderen Weg finden!« Aber die Angks reagierten nicht auf seinen Zuruf. Wie in Trance schritten sie weiter. Das eigene Leben schien ihnen nichts zu bedeuten. Sie waren entschlossen, dem Schiff zu helfen. »O mein Gott«, entfuhr es Scobee, als sich die ersten Türen vor den Herannahenden öffneten. »Sie werden alle sterben.«
»Verdammt, es gibt noch eine Möglichkeit – ich versuch's. Aber halt's mir später nicht vor!« Jarvis hob beide Arme, die für Scobee immer noch menschlich aussahen. Die Hände ballte er scheinbar zu Fäusten, und aus diesen Fäusten … schoss plötzlich grelles Leuchten, das jeden, auf den es traf, zu Fall brachte. Der Maskenträger mähte Angk um Angk nieder. Und noch während er das tat, geschah anderswo nicht minder Unerwartetes …
7. Johncloud tastete, während sein Blick in die Holosäule vertieft blieb, über seinen Oberkörper, der sich seltsam … weich anfühlte und dem widersprach, was das Auge ihm zeigte, sobald er es darauf richtete. Eine sonderbarer Begriff – Fleisch … – huschte durch sein Denken. Aber konnte nichts (und etwas in ihm wollte auch nicht) damit anfangen. Sein Verstand verlief in anderen Spuren, berief sich auf andere Erfahrungen. Hart. Er hatte hart sein müssen. Die Sensoren des Schiffes (RUBIKON?) zeigten an, dass er sich dem Innersten Bezirk näherte, wo ein gewaltiges energetisches Geflecht eine Vakuumzone vom Rest Tovah'Zaras abgrenzte. In jener Zone warteten die Gesegneten, um ihn bei sich aufzunehmen. Die Gesegneten waren wie er, sahen so aus und dachten wie er. Er gehörte zu ihnen, und allein diese Erkenntnis setzte einen Strom von Glückshormonen in Johncloud frei. Wo war er nur all die Zeit gewesen? Wo hatte er sie – die Zeit – verschwendet? Das Lotsenschiff stoppte an der Grenze des rubinrot leuchtenden Geflechts, dessen Maschen groß genug waren, ein Schiff wie das seine passieren zu lassen. Es waren keine Löcher oder Lücken im eigentlichen Sinn, sondern mehr hauchdünne, ebenfalls energetische Membranen, die der Haut ähnelte, die ganz Tovah'Zara umspannte, das Wasser darin hielt. Hier sperrte es das Wasser aus. Dahinter lag die Silberstadt. Auch dieser Begriff mutete Johncloud seltsam an. Doch er sträubte sich nicht dagegen, denn dort lebten und warteten die Gesegneten. Er befahl der KI, die RUBIKON (!) ebenfalls zu stoppen. Im Grenzgebiet schwebte sie wenig später in direkter Nachbarschaft zu dem Lotsenschiff, von dem in diesem Moment ein Spruch eintraf, der Johncloud aufforderte (ihn ganz persönlich, nicht die … RUBIKON
als Ganzes), ihm durch eine bestimmte Masche zu folgen. Johncloud bestätigte in einer Sprache, die er wie selbstverständlich benutzte. Der Lotse nahm Fahrt auf, und Johncloud veranlasste alles Nötige, um sich in dessen Kielwasser zu setzen, als … … als …? Er spürte eine seltsame Erschütterung, die ihn veranlasste, seinen Blick aus dem Holo zu lösen. Eine Erschütterung, die nicht das Schiff durchlief, sondern … ihn selbst. Sein Innerstes. Als hätte er seismische Fähigkeiten entwickelt, die auf das kleinste Beben in seiner unmittelbaren Umgebung ansprachen. Er drehte den Kopf. Waren sie zurückgekommen? Die, die er … einmal »Freunde« nannte? Zu seiner Verwunderung sah er sich mit etwas völlig Fremdem konfrontiert. Und noch während er hinsah, erschienen wie aus dem Nichts weitere dieser Gestalten, die ihm noch nie zuvor unter die Augen gekommen waren. Er reagierte instinktiv – wollte Alarm auslösen, Abwehrmaßnahmen einleiten … Aber da traf ihn auch schon der Strahl aus einer der Waffen, die jedes der unbekannten Echsenwesen in Händen hielt. Schlagartig senkte sich finsterste Nacht über Johncloud und seinen Geist. Er wusste nicht, ob er starb oder nur bewusstlos wurde. Alles, was er wusste, war, dass er plötzlich entsetzliche Angst hatte. Angst, den Gesegneten nun doch nicht zu begegnen.
Jarvis war irritiert, als der schrille Ton des Intern-Alarms an seine Hörsensoren drang. War das die Art, wie Sesha auf sein Vorgehen reagierte? Würde
sich gleich ein Heer von Spinnenbots (die ausführenden Organe der KI) aus verborgenen Schleusen ergießen und über ihn herfallen? »Aufhören!«, hörte er Scobee rufen. Aber er stellte das Feuer erst ein, als es keinen einzigen Angk mehr gab, der nicht von den Lähmschüssen getroffen und zu Boden gegangen war. Auch Assur hatte es erwischt. Jarvis drehte sich zu Scobee um. »Ich weiß, was du sagen willst – aber meinst du, ich hätte es gern getan? Es war die einzige Möglichkeit, um Sesha vielleicht doch noch daran zu hindern –« »Schon gut, darum geht es gar nicht. Deine Reaktion und die Idee dahinter war grandios. Ich bin froh, dass du es getan hast. Nur …« »Nur?« »Der Alarm.« »Du meinst, er ist nicht unsertwegen?« »Würde das Sinn machen?« »Vermutlich nach rein logischen Gesichtspunkten nicht.« »Und die sollte man Sesha zugestehen – zumindest, wenn sie auf der Höhe ist.« Scobee sah sich um. »Was steckt dann dahinter?« »Fragen wir sie.« »Sesha?« Jarvis bestätigte, indem er sich an die KI wandte: »Sesha: Gibt es eine neue Situation? Warum wurde interner Alarm ausgelöst?« »Eindringlinge.« Kurz und bündig die Erwiderung. Jarvis und Scobee tauschten Blicke. Aus dem Augenwinkel bemerkte Scobee eine Bewegung. Zuerst glaubte sie, einer der Angks habe nur eine kleine Dosis Paralysestrahlen abbekommen und hätte sich wieder erhoben. Doch dann sah sie, dass die Gestalt wenig Ähnlichkeit mit einem Angk – einem Menschen – hatte. Noch bevor ihr Zuruf Jarvis aufmerksam machen konnte, hatte der ehemalige GenTec bereits selbst bemerkt, was um sie herum vorging. An verschiedenen Orten des freien Platzes inmitten des Dorfes materialisierten ungefähr zwei Meter zwanzig große, breitschultrige Echsenwesen, die keine einheitliche Monturen trugen, aber definitiv
Kleidung, und mit Gegenständen hantierten, bei denen es sich zweifelsfrei um Waffen handelte. Die grauledrige Haut der Geschöpfe sonderte permanent einen übelriechenden Schleim ab, der sie wie in Öl getaucht aussehen ließ. Jarvis hob spontan die Arme. Aber bevor er auch nur einen Schuss abgeben konnte, trafen ihn bereits grüne Blitze aus mindestens acht Waffen und von ebenso vielen Positionen. Sekunden später wankte er und brach zusammen. Im Fallen erlosch die Illusion, die ihm sein früheres Aussehen schenkte. Scobee sah, dass sie hier nichts ausrichten konnte, wollte sich abwenden und fliehen, aber auch sie wurde von einem Treffer eingeholt, der ihren Körper in zwei Hälften zu spalten schien. Das war's dann, dachte sie. Basta, Ende, aus.
Sesha überprüfte ihre Systeme. Jene Systeme, die die eigene kybernetische Persönlichkeit erzeugten, schützten und einer ständigen Funktionsüberwachung unterzogen. Dass die KI keinen Fehler fand, beunruhigte sie umso mehr. Denn es musste Fehler geben. Zumindest an den Schnittstellen zwischen allgemeiner Schiffshardware und KI-Software, denn … … die RUBIKON wurde geentert! Die Besatzung wurde – Un-mög-lich! Sesha verschärfte den Grad ihrer Intern-Inspektion. Und wurde immer verstörter. Woher kamen die Eindringlinge? Wie hatten sie den Schild durchbrochen, der das Rochenschiff umgab? Und wieso war nicht spätestens im Moment ihres Durchbruchs Alarm ausgelöst worden? Hilflos musste sie mit ansehen, wie die Fremden nach Belieben ein- und ausgingen. Und versuchten, Zugriff auf die Speicherbänke zu erlangen. Das wiederum konnte Sesha verhindern – weil es auf der Prioritätenliste für den Fall einer Kaperung mit ganz oben stand. Ohne das Bedauern, das ein menschliches Wesen vielleicht befal-
len hätte angesichts ihres Handelns, löschte die KI ihre sämtlichen Datenbestände. Die Fremden gingen … … um von anderen Fremden abgelöst zu werden. Neue Trupps enterten das Schiff, Treymor diesmal. Auch sie erwiesen sich als unangreifbar. Eine allumfassende Lähmung hinderte Sesha an einer gewaltsamen Verteidigung der RUBIKON. Nie zuvor hatte die KI bei vollem Bewusstsein eine solche Ohnmacht gefühlt.
»Ein unerwarteter Zwischenfall, Herr.« Der Treymor, der wie eine Urgewalt in Farraks Privatbereich einbrach, wusste, dass er riskierte, nicht mehr lebend wegzukommen. Farrak liebte keine Störungen. »Kannst du dich nicht anmelden?«, blaffte er. »Ich habe es versucht, Herr, aber Euer Kommunikator …« Farraks Blick huschte zu der Konsole, auf der er den silbrig schimmernden Fühleraufsatz abgelegt hatte – der Bequemlichkeit halber. Und da der Kommunikator nur in direktem Kontakt mit seinem Körper funktionierte … Farrak akzeptierte, wenn eine Fehlleistung ihren Ursprung bei ihm selbst hatte. Er gab dem Eingetretenen mit knapper Gestik zu verstehen, dass er entschuldigt sei. Dessen Aufatmen war unübersehbar. »Und der Grund?« »Das Schiff, Herr. Das fremde Schiff, das zur Silberstadt gelotst werden sollte.« »Sollte?« In die Facetten von Farraks Augen trat ein Glanz, der die Erleichterung des niedrigrangigen Treymor augenblicklich wieder durch kreatürliche Panik ersetzte. »Unmittelbar vor der Grenze zum Inneren Raum kam es … kam es zu einem Zwischenfall, für den wir noch eine plausible Erklärung suchen.« »Eine plausible Erklärung wofür?«
»Wir wissen, wie wichtig Euch das Schiff –« »Nicht nur das Schiff! Auch seine Besatzung!« »– ist«, fuhr der Treymor eingeschüchtert fort, »und das Schiff ist auch nach wie vor in unserer Gewalt. Nur …« »Nur die Besatzung nicht? Konnte sich der Kommandant unserem Einfluss entziehen?« »Möglicherweise.« »Was – genau – heißt – das?« Farrak stand kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Einheiten aus dem Lotsenschiff haben übergesetzt und durchkämmen seither jeden Winkel des Legendenschiffs.« »Mit welchem Resultat?« »Die ehemalige Besatzung ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.« Farraks Blick schien den Treymor sezieren zu wollen. »Willst du weiterleben?« »Na-natürlich.« »Dann lüg mich nicht an!« »Es ist … keine Lüge. Unsere Kräfte sind mit modernstem Gerät unterwegs. Ihnen dürfte nichts entgehen. Aber außer ein paar pflanzlichen Lebensballungen konnte nichts gefunden werden. Das Schiff ist leer.« Farraks Atem ging rasselnd. »Das betrifft auch … den Menschen, der vollkommen unter unserer Kontrolle stehen müsste?«, fragte er. Der Treymor bestätigte. Farrak zog seine Handwaffe und machte seiner Enttäuschung Luft. Er drückte ab. Eigenhändig schleifte er den Toten zum Entsorgungsschacht und kippte ihn hinein. Abfall. Was sollte nur aus der stolzen Rasse der Treymor werden, bei all dem nutzlosen Abfall …?
Mingox erkannte sofort, dass etwas schief gegangen war. Das war nicht das Gebiet der Protowiesen, nicht der Ort, an dem
er die meiste Zeit seines Lebens zugebracht hatte, viele Statuseinheiten davon als Erster Verwerter. Im ersten Moment glaubte er, dass Farrak oder ein anderer Gesegneter die Transitweiche umjustiert hatte, sodass sich ein anderes Ziel für ihn ergab. Aber niemand erwartete ihn in dieser wasserlosen Höhle, deren Boden, Decke und Wände lückenlos geschlossen schienen. Die Weiche erlosch, und Mingox war allein. Helligkeit strömte aus dem porösen Material, das ihn umgab. Der Schock, auf dem Trockenen zu sein, war längst keiner mehr. Er hatte sich daran gewöhnt, denn die Silberstadt der Gesegneten war nicht anders angelegt. Sein Körper, vor allem die selten beanspruchten Lungen, hatte sich ausgezeichnet darauf eingestellt. Mittlerweile fiel ihm der Wechsel von Wasser zu Luft oder umgekehrt extrem leicht, er nahm die Übergänge kaum mehr bewusst wahr. Eine Stimme drang von allen Seiten auf ihn ein. Sie beherrschte seine Sprache und demonstrierte es mit schnörkelloser Befragung. »Bist du Mingox?« Der Luure bejahte zögernd. Er wollte selbst eine Frage stellen – mehr als nur eine –, aber die Stimme kam ihm zuvor. »Du dienst den Eroberern?« Mingox wusste, dass damit die Gesegneten gemeint waren, aber er war versucht, sich dumm zu stellen. »Die …?« »Du schadest dir nur selbst, wenn du nicht wahrheitsgemäß antwortest. Dies ist eine Prüfung. Von ihrem Ergebnis hängt ab, wie wir weiter mit dir verfahren. Dass du schon einmal hier warst, wurde aus deinem Gedächtnis gelöscht. Aber wir hätten auch alles aus dir löschen und nur deine Hülle zurückschicken können. Wäre dir das lieber?« Mingox schauderte. »N-nein.« Schlagartig fiel ihm die Ungereimtheit auf, die sich kurz nach seiner Abberufung aus den Protowiesen ergeben hatte. Lomax hatte ihn darauf gestoßen, dass er um ein Vielfaches länger bei den Gesegneten gewesen war, als er selbst wahrgenommen hatte. Und nun behauptete diese Stimme, er sei schon einmal hier gewesen?
»Noch einmal: Du dienst den Eroberern?« »Wenn die Gesegneten gemeint sind: ja, das tue ich. Mit vollstem Herzen.« »Du heißt also gut, was sie den Bewohnern Tovah'Zaras antaten und weiter antun?« Plötzlich glaubte Mingox zu verstehen. Eine Prüfung – natürlich. Die Gesegneten stellten ihn auf die Probe. Er sollte sich bedingungslos zu ihnen bekennen, anderenfalls würden sie – »Du hast nicht unendlich Zeit, auf die Fragen zu antworten. Musst du so lange überlegen?« »Ich heiße gut, was die Gesegneten in unserer Welt begonnen haben und fortsetzen. Ich bin stolz, von ihnen nicht nur zum Ersten Verwerter berufen, sondern seit kurzem auch für noch höhere Aufgaben betreut worden zu sein. Nichts ist mir wichtiger, als die Erleuchteten mit meinem Schaffen zu unterstützen!« »Und diese neuen, höheren Aufgaben … fallen dir leicht?« »Ich mache mich immer besser mit ihnen vertraut. Aber Ihr wisst, dass ich vorübergehend mit einem speziellen Auftrag gebunden war, der mich davon abhielt, bereits tiefer in die Natur des Organismus –« Wie selbstverständlich sprach er zu der Stimme mittlerweile wie zu einem Gesegneten. Aber plötzlich stockte er, weil Angst seine Zunge lähmte. Angst, einen Fehler begangen zu haben. »W-wer spricht denn nun zu mir? Der Gesegnete Farrak?« Etwas wie ein herablassendes Lachen drang auf ihn ein. Er spannte sich an. »Wer?«, wiederholte er mühsam. »Warum solltest du es nicht erfahren? Du wirst es ohnehin niemandem mehr verraten können: Nein. Hier spricht kein sogenannter ›Gesegneter‹ – wir nennen sie übrigens Mörder –, sondern jemand, der die Eroberer lieber heute als morgen aus Tovah'Zara wieder hinauswerfen würde. Und vielleicht gelingt uns das ja in gar nicht allzu ferner Zukunft … mit deiner Hilfe.« Meiner Hilfe?, dachte Mingox leichenblass. »Ihr scherzt«, brach es röchelnd aus ihm heraus. »Bitte, erlöst mich. Ich akzeptiere jede Prüfung, weil ich mir nichts vorzuwerfen
habe. Aber … treibt dieses böse Spiel nicht länger mit mir. Gebt Euch zu erkennen!« Die Stimme schwieg. Sie meldete sich für eine lange Zeit nicht mehr. Irgendwann begann Mingox, sein Gefängnis zu untersuchen. Aber nichts, was einer Tür auch nur ähnlich gesehen hatte, war zu entdecken. Eine tiefe Verzweiflung überkam ihn. Was hatte er nur getan? Warum wurde er so grausam behandelt und bestraft? Nach einer Zeit kam ihm der Gedanke, dass tatsächlich kein Gesegneter zu ihm gesprochen haben könnte. Die Stimme hatte eher nach einem … einem Feind der Gesegneten geklungen. Aber wie sollte das möglich sein? Doch wenn dem so wäre, wie würde Farrak auf das Verschwinden seines Beauftragten reagieren? Die schlimmste aller Reaktionen wäre, befand Mingox, dass der Gesegnete die Uhr anhalten würde. Mingox' Lebensuhr. Ganz starr und kalt vor Furcht bereitete er sich auf das Ende vor.
8. Farraks persönliche Leibwache durchstreifte das Legendenschiff, das immer noch außerhalb der Ewigen Stätte kreuzte. Verlassen und aufgegeben von seiner Besatzung … … oder hatte sie sich dem Zugriff der Treymor auf obskure Weise entzogen? Weilte sie immer noch an Bord, nur den Blicken des Kaperkommandos verborgen? »Wir haben versucht, Kontakt zur Künstlichen Intelligenz an Bord herzustellen«, meldete Osmon, der Leiter der Operation direkt in die Kommando Sphäre der Silberstadt, direkt an Farrak und die neun anderen Oberen, »aber sie reagiert nicht. Entweder sie wurde vernichtet, oder es gelingt ihr, sich tot zu stellen.« »Ihr habt Mittel und Wege …«, erinnerte Farrak den Leibgardisten, der hohes Ansehen bei ihm genoss. »Korrekt, Herr. Aber sie versagen. Die KI ist unauffindbar. Sämtliche Datenspeicher, die uns Aufschluss über die Geschehnisse an Bord geben könnten, die dem Exodus vorausgingen, sind gelöscht.« »Bemüht euch um Rekonstruktion!« »Wir sind schon dabei …« »Johncloud?« »Ebenso spurlos verschwunden wie alle anderen. Bis auf ein paar Gärten und die darin befindliche Vegetation gibt es an Bord kein Leben mehr – nicht nach treymorschem Ermessen jedenfalls.« »Ich vertraue und danke dir.« Der Leibgardist salutierte, indem er die Fühler überkreuzte. Farrak beendete die Verbindung, nachdem er die Garde angewiesen hatte, das Legendenschiff zur Silberstadt zu überführen. Dann wandte er sich an die Versammlung der anderen Befehlshaber. »Ich kümmere mich persönlich um die Suche nach den Verschwundenen. Immerhin haben wir mit Johncloud einen Verbünde-
ten wider Willen, dessen Spur sich finden lassen muss.« »Er hätte überhaupt nicht verschwinden dürfen – stand er nicht bereits völlig unter dem Einfluss unseres Steuergeräts?«, warf ein anderer Oberer, Solax, ein. »Diese und andere Fragen werde ich mithilfe von Mingox beantworten. Offenbar war es vorschnell, ihn für die andere Aufgabe abzustellen. Ich werde ihn umgehend kontaktieren. Er bat mich, persönliche Dinge aus seinem Heim holen zu dürfen. Danach wollte er sich der gestohlenen Residenz zuwenden. Dem darin befindlichen … Gigahirn, wie die Bewohner der Hohlwelt es nannten.« »Verliere keine Zeit.« Solax war für seine unverblümte Art bekannt. Farrak hatte keinen Grund, Groll gegen ihn zu hegen. Er fühlte sich durch die Aufforderung nicht mehr gedrängt als von der eigenen Ungeduld. Er trat an eine virtuelle Apparatur innerhalb der Kommandosphäre und wählte Mingox direkt an. Als er auch beim vierten Versuch keine Antwort erhielt, begann ihm zu dämmern, dass das unerklärliche Verschwinden der Legendenschiffbesatzung möglicherweise nur ein Aspekt von vielen Rätseln war, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten. Seit die RUBIKON in den Gewässern Tovah'Zaras aufgetaucht war, lief nichts mehr optimal. Habe ich die Menschen unterschätzt? Mit diesem Gedanken leitete Farrak die Fahndung nach Mingox ein.
Scobee hatte das Gefühl, eine überspannte Saite in ihrem Kopf reißen zu hören – davon erwachte sie. Zögernd kehrte die Erinnerung zurück, während sie sich mit steifen Muskeln aufrichtete und umsah. Sie war in fremder Umgebung, die kaum irgendwo an Bord der RUBIKON zu finden sein würde, und lag auf einem Boden aus porösem Stein. Es gab Helligkeit, die an die Dämmerung eines Erdta-
ges erinnerte, und überall um sie herum lagen oder hockten andere Gestalten, Hunderte, Tausende … Die Höhle, in der sie sich wiederfand, hatte die Ausmaße eines Stadions. Ein steinerner Himmel spannte sich darüber. Der Fels dort unterschied sich von dem, auf dem Scobee saß. In ihm »schwammen« fluoreszierende Partikel, von denen offenbar das Licht ausging, mit dessen Hilfe sich Scobee grob orientieren konnte. Jemand trat zu ihr. Es war Rotak. Er wirkte mindestens so verkatert wie sie. »Wo sind wir? Weißt du, was passiert ist?«, fragte er stockend. Er wirkte desorientiert in einer Weise, die weit über räumliche Verirrungen hinaus ging. Scobee überlegte, ob sie Rotak die brutale Wahrheit sagen sollte (falls er es nicht noch selbst mitbekommen hatte) – dass Jarvis ihn und die anderen Angks paralysiert hatte. Immerhin war das Motiv löblich. »Zu deiner ersten Frage: nein«, sagte sie und stand auf. Rotak war etwas größer als sie, aber auch nicht muskulöser. »Zum zweiten: ein wenig. Jarvis und ich sahen Fremde im Dorf auftauchen. Wahrscheinlich von den Treymor geschickt. Sie schossen auf uns. Dann gingen die Lichter bei mir aus.« »Wo ist Jarvis?« »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich richtig umzusehen.« »Wenn sie gemerkt haben, dass er kein Lebewesen ist …« »Und das haben sie«, erinnerte sich Scobee. »Auf ihn schossen sie mit einer anderen Strahlenart als auf mich. Anderenfalls hätte er sich fraglos absetzen können.« »Woher wussten sie, dass er kein lebender Organismus ist?« Scobee zuckte die Achseln, während sie sich in der Höhle nach Jarvis umsah. »Ihr durchschaut seine Maske doch auch. Offenbar hält der Schein nicht jedermanns Blicken stand.« Rotak nickte. Auch sein Blick glitt über die Gestalten ringsum. Nach einer Weile fragte Scobee: »Ich finde ihn nicht. Hattest du mehr Glück?« »Ich suche nicht nach ihm. Ich suche nach Winoa. Und Assur …
Da! Dort drüben ist meine Tochter – und bei ihr ist dieses Mädchen, ihre Freundin, Aylea.« Scobee folgte seinem Fingerzeig. Ganz in der Nähe der beiden Mädchen entdeckte sie Cy, der zusammen mit Jelto, Jiim und Yael eine kleine Gruppe bildete. Etwas weiter entfernt regte sich gerade Algorian. »Verdammt, Jarvis fehlt tatsächlich. Ich hoffe nicht, dass sie ihn …« Sie zögerte. »… erledigt haben?«, fragte Rotak. Sie nickte, was ihr schwer fiel. »Der Commander ist auch nicht unter uns.« »Hattest du das erwartet?« Sie erschrak über die Heftigkeit ihrer Reaktion. Auch Rotak schien irritiert über ihren Ton. »Ist er nicht immer noch ebenso wichtig wie beispielsweise Jarvis … oder irgendein anderes Mitglied der Besatzung? Nur weil er von den Treymor in uns unbekannter Weise manipuliert wird?« Sie fühlte sich schlecht – weil er recht hatte. Was warf sie ihm eigentlich vor? Sollte sie sich nicht viel eher Gedanken darum machen, wie man ihn von dem unseligen Einfluss befreien konnte? Falls das überhaupt möglich war. »Wir müssen eine Zählung vornehmen – bevor wir irgendetwas anderes tun. Kümmerst du dich darum, Rotak? Und mit Zählung meine ich, dass am Ende hundertprozentig klar ist, wer von der Crew noch fehlt.« »Das ist mir klar.« »Dann los.« Während Rotak die Angks und sonstigen Mannschaftsmitglieder zu sich rief und ihnen die Problematik erklärte, entfernte Scobee sich zur Wand der riesigen Höhle. Sie suchte minutenlang nach einer verborgenen Tür, während Rotak die Zählung durchführte und Namen entgegennahm, die nach Meinung anderer Crewangehöriger fehlten … was sich in den meisten Fällen schnell aufklären und widerlegen ließ. Am Ende blieben tatsächlich nur drei Personen übrig, die auch nach intensiver Suche und Befragung unauffindbar blieben: John
Cloud, Jarvis und … ein beinahe schon Vergessener … Darnok! Darnok war für Scobee keine Überraschung. Er lag vermutlich immer noch unentdeckt im Stasisblock auf der RUBIKON. Ebenso wenig wirklich erstaunlich war Johns Fehlen. Was Jarvis anging, wuchs Scobees Unbehagen jedoch von Minute zu Minute. Sie rechnete mit dem Schlimmsten, und die Vorstellung, dass der Freund nun seinen zweiten und endgültigen Tod gefunden hatte, nahm sie über die Maßen mit. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die restliche Crew war hier in der Höhle. Offenbar waren die von Jarvis präventiv Paralysierten von den Echsenwesen eingesammelt und von Bord geschafft worden. Echsenwesen, die Scobee nie zuvor über den Weg gelaufen waren. Söldner in Diensten der Treymor? Geklonte Soldaten? Willfährige Mitläufer, die sich im Dunstkreis der Käferartigen aufhielten, um in bescheidenem Maße auch zu profitieren? Erklärungsmöglichkeiten gab es zuhauf, allein, es fehlten die unumstößlichen Fakten. »Wir werden Probleme bekommen«, wandte sie sich an Rotak und senkte dabei die Stimme. »Wir werden sie bekommen, wenn sich unsere Entführer melden – aber erst recht, wenn sie uns hier schmoren lassen. Wer weiß, wie lange wir bewusstlos waren. Ich spüre Hunger und Durst. Irgendwann werden wir unsere Notdurft verrichten müssen – und das alles auf vergleichsweise engem Raum ohne jegliche Privatsphäre.« Rotak unternahm keinen Versuch, die Lage herunterzuspielen. Jiim und Yael kamen zu ihnen. Sie wirkten bekümmert, hatten aber auch keinen Vorschlag, der sie weiterbrachte. Scobee rief nach Algorian, der hängenden Kopfes zu ihnen kam. »Du musst uns helfen«, versuchte sie, Einsatzwillen in ihm zu entfachen. »Espere die Umgebung hinter dem Fels. Kannst du uns etwas sagen, das uns vielleicht hilft, einen Weg hier heraus zu finden?« »Ich habe es bereits versucht – mehrfach«, beteuerte der Aorii. »Aber es ist, als läge ein Panzer um die Höhle, der alles mental ab-
schirmt, was sich außerhalb befindet und denkt.« »Rosige Aussichten«, kommentierte Jelto, dessen Aura aus unerfindlichem Grund leicht entflammt war – unerfindlich zumindest, bis Scobee bemerkte, dass sich Cy bei ihm befand. Der Aurige, rein äußerlich an einen dicht verzweigten Strauch erinnernd, sah so schlecht aus, wie Scobee es noch nie bei ihm erlebt hatte. Sofort drängte sie an Jelto vorbei zu ihm. »Was ist mit dir, Cy?« Zunächst kam gar keine Antwort. Dann raschelte es wie zufällig, aber ohne dass Wind im Spiel war, aus dem Gezweig: »Weiß … es … nicht.« Jelto hatte offenbar mit Spannung selbst abgewartet, ob der Aurige sich artikulierte. Nun sprang er ihm bei. »Er wurde offenbar ebenso von den Echsen erwischt wie wir. Sie tauchten ja überall auf, wo sich ein Besatzungsmitglied aufhielt. Auch Cy wurde von ihnen offenbar als das eingestuft, was er ist: intelligent – und damit ein potenzieller Gegner. Aber bei ihm hat der Treffer, den er einstecken musste, offenbar ärgere Folgen als bei allen anderen. Ich kümmere mich schon um ihn, hoffe ihn, wieder aufpäppeln zu können. Aber er zeigt deutliche Zeichen des …« Er sprach es nicht aus, aber was er meinte, war offensichtlich. Des Verwelkens, dachte Scobee beklommen. Laut sagte sie: »Das kriegst du hin – Cy, Jelto … das kriegt ihr hin.« »Ich wünschte, wir hätten Sesha an der Seite«, hörte sie Jelto noch murmeln, als sie sich bereits wieder Rotak und Algorian zuwandte. An den Aorii gerichtet, fragte sie: »Wirklich keine Chance?« Der Telepath verneinte betrübt. Ein Geräusch erklang. Es kam aus einer der felsartigen Wände. Ein Rumoren, als nähere sich ein rumpelndes Fahrzeug, dessen Gewicht jede Unebenheit während seiner holpernden Fortbewegung in knirschendes Geräusch umsetzte und dabei sogar den Boden zum Vibrieren brachte. Die Crew rückte enger zusammen, nachdem Scobee sie so weit wie möglich von der Wand weg dirigiert hatte, aus der das Geräusch kam.
»Das hört sich nicht gut an«, seufzte Jiim, einen der Flügel halb um seinen Sprössling Yael gelegt, der zwar über noch weitgehend unerforschte Fähigkeiten verfügte, momentan aber ebenso niedergeschlagen und verkatert wirkte wie alle anderen. Er war der beileibe Jüngste von ihnen, und Scobee war froh, dass er sich überhaupt so gefasst gab. Etwas weiter entfernt entdeckte sie Assur, die sich um ihre Tochter Winoa und deren Busenfreundin Aylea kümmerte. Es war bedrückend zu sehen, in welcher Verfassung all die lieb gewonnenen Personen waren, die an Bord der RUBIKON mehr und mehr zur Gemeinschaft zusammengeschweißt worden waren. Im schlimmsten Fall würde das für immer vorbei sein. Im schlimmsten Fall werden wir alle elend hier krepieren – wie immer dieses Hier auch sein mag, dachte Scobee. Im selben Moment verstummte der Lärm aus der Wand. Dafür bildete sich eine Öffnung, und etwas kam zu ihnen herein.
Im Herz der Silberstadt, der Kommandosphäre, nahmen die Irritationen zu. Erstaunliches kam zutage. »Die Transitweiche, mit der Mingox zu den Protowiesen aufbrechen wollte, wurde manipuliert«, ließ Solax das Ergebnis seiner Nachforschungen verlauten. Ein Raunen ging durch die Führungsriege der Treymor. Nur Farrak hielt seine Gefühle im Zaum. »Manipuliert?«, fragte er. »In welcher Weise – und von wem?« »Sie wurde umgestellt – auf ein anderes Ziel. Aber das bringt uns nicht weiter, weil sich dort, wo es liegt, nichts befindet außer Wasser.« »Kein Objekt?« »Nicht mehr zumindest.« »Du hast die Frage nach dem Wer noch nicht beantwortet.« »Weil es darauf keine Antwort gibt. Uns ist niemand bekannt, der unsere Technologie gegen unseren Willen in seinem Sinn modifizieren könnte.«
»Die Besatzung des Legendenschiffs? Johncloud?« »Der Schluss läge nahe, denn auch sie sind verschwunden, haben sich unserem Zugriff in bislang unbekannter Weise entzogen. Allerdings …« Solax zögerte. Die anderen drängten ihn zu sagen, was er zu sagen hatte. »Allerdings tendiere ich persönlich eher zu der Einschätzung, dass eine uns völlig unbekannte Partei hinter den gehäuften ominösen Vorfällen steckt. Jemand, der Mingox und die Legendenschiffbesatzung in seine Gewalt gebracht hat.« »Du redest doch nicht … von ihnen?« Selbst Farrak rang in diesem Moment um seine Fassung. »Wir hätten es längst gemerkt, wenn sie uns auf die Spur gekommen wären.« »In den Speicherbänken des verwaisten Schiffes, die nicht gelöscht wurden, fanden sich eindeutige Hinweise darauf, dass die Besatzung häufigen Kontakt zu ihnen hatte. Mehr noch – der überwiegende Teil der Mannschaft wurde Johncloud von ihnen zur Verfügung gestellt.« Das mischte die Karten völlig neu, dessen war sich auch Farrak bewusst. »Du hältst es für denkbar, dass sie uns einen Köder vorwarfen, den wir arglos schluckten – und dass damit keine andere Absicht bezweckt wurde, als in unseren geheimsten Bereich vorzustoßen?« Die sich daraus ergebenden Konsequenzen – so die Befürchtung zutraf – waren niederschmetternd. Aber Farrak wäre nicht Farrak gewesen, hätte er sich nicht unverzüglich wieder der Fesseln lähmender Agonie entledigt. »Solange es dafür keinen Beweis gibt, ziehen wir bei der Fahndung nach den Verschwundenen beide Möglichkeiten in Betracht: sowohl, dass sie dahinterstecken, als auch etwas uns noch völlig Unbekanntes, das wir bislang auf keiner Rechnung hatten.« Dafür erntete er allgemeine Unterstützung. Aber noch nie, so weit er zurückdenken konnte, war die Stimmung in der Silberstadt derart schlecht gewesen.
»Mingox!« Der Luure fuhr zusammen. Die Stimme, von der er sich zuletzt verhöhnt gefühlt hatte, klang wieder auf, und sie rief ihn beim Namen. Dumpf brütend kauerte er am Boden seiner Zelle. »Ich weiß, dass du mich hörst. Ich werde dich töten, wenn du keinen Respekt zeigst.« Respekt? Mingox' Blut geriet in Wallung. Fast hätte er den Unsichtbaren angeschrien und ihm die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf geworfen. »Ich merke«, fuhr die Stimme nach einer Weile fort, »der Tod schreckt dich gar nicht. Vielleicht sollte ich lieber damit drohen, ihn dir dauerhaft vorzuenthalten. Vielleicht willst du lieber bis in alle Ewigkeit in diesem Verlies schmoren. Ich habe die Macht, das zu tun. Du wirst unsterblich, dabei aber auch lebendig begraben bleiben. Was hältst du von dieser Aussicht, Mingox, der den Eroberern diente?« »Ich … diene ihnen immer noch – nur sind es die Gesegneten. Ich lasse mich nicht versuchen. Hättest du Ehre, wer immer du bist, würdest du mir gegenübertreten.« Er schauderte, weil er nie vermutet hätte, dass er zu solch einer Erwiderung den Mut aufbringen könnte. Zumal immer noch nicht restlos geklärt war, ob die Gesegneten nicht selbst hinter allem steckten, ihn nur testen wollten. Plötzlich rollte ein dunkles Lachen durch die Kammer. »Weißt du, was? Langsam beginne ich Gefallen an deinem Starrsinn zu finden. Ich schätze Leute, die loyal sind. Schade nur, wenn sie sich für die falsche Seite entscheiden. Die Seite, die nichts als Leid und Elend sät.« »Wer bist du? Meinen Namen kennst du. Erfahre ich auch den deinen?« Er rechnete nicht damit, umso überraschter war er, als die Stimme ruhig sagte: »Ich bin der Große Erl.« Für einen Moment war Mingox zu verblüfft, um überhaupt irgendetwas zu erwidern. Dann aber spottete er: »Der Große … so, so. Ich
habe nie von dir gehört. Du bist kein Gesegneter!« »Das behüte der Kubus! Aber das habe ich auch nie behauptet.« »Erl bedeutet in der Sprache Tovah'Zaras ›der Fürsorgliche‹ – hast du dir den Namen selbst gegeben?« Je dreister er mit dem Unsichtbaren umging, desto besser fühlte er sich. Er stand auf und ging in seinem Kerker auf und ab. »Nein, andere gaben ihn mir. Andere, die die Natur begünstigte und davor bewahrte, sich vom schönen Schein der Mörder täuschen zu lassen.« »Hör auf damit, du kannst mich nicht … nicht umdrehen. Ich weiß, dass du mich gegen die Gesegneten aufbringen willst. Aber das wird nicht gelingen. Ich habe ihnen alles zu verdanken. Dein Gerede beeindruckt mich nicht. Sie sind kein Joch, sie sind der pure Segen für Tovah'Zara. Seit sie hier sind –« »– seit sie hier sind, sterben die Ursprungsvölker des Kubus langsam, aber sicher aus«, unterbrach ihn der Große Arto alles andere als fürsorglich. Vielmehr schwang erstmals offen Zorn in seiner Stimme. Mingox duckte sich unwillkürlich, weil er spürte, zu weit gegangen zu sein. »Wie kann man so verblendet sein?«, grollte die Stimme. »Der Einfluss müsste allmählich nachlassen. Selbst bei einem wie dir, der zeitlebens ihre Täuschung inhalierte und assimilierte. Wir halten dich von den betrügerischen Substanzen fern. Du müsstest allmählich erwachen aus deinem Traum, aber du verschanzt dich weiter hinter falschen Vorbildern und Unwahrheiten.« Die Vorwürfe des Großen Arto perlten an Mingox ab. »Du bist ein schwieriger Patient. Aber ich bin geduldig. Und du bist zu wertvoll, gerade jetzt, um dich vorzeitig abzuschreiben …« Patient?, dachte Mingox empört, der nun seinerseits wütend wurde ob der überheblichen Art des Großen Erl. »Noch einmal«, sagte er laut. »Zeig dich mir. So lange du nicht einmal wagst, mir leibhaftig entgegenzutreten, kann ich keinen Respekt für dich aufbringen. Dein Spiel wird ohnehin bald aus und vorbei sein. Die Gesegneten lassen sich nicht hintergehen. Sie suchen längst nach mir – und mei-
nem Entführer. Ich habe nichts zu befürchten von ihnen – im Gegensatz zu dir.« »Ein jeder in Tovah'Zara sollte sie fürchten, denn sie sind die Pest – und um dir die Augen zu öffnen, zeige ich dir, wie ich zu diesem Urteil kam. Sieh hin. Sieh nur ganz genau hin – und dann entscheide selbst, ob du dir weiter Sand in die Augen streuen lässt!« Mingox wollte dem Disput eine weitere Nuance hinzufügen. Doch dann machte der Große Arto seine Ankündigung wahr. Sämtliche Wände des Kerkers verwandelten sich in monitorartige Flächen, auf denen Bilder entstanden, die … Mingox krümmte sich innerlich. … das Schrecklichste zeigten, was der Luure jemals hatte mit ansehen müssen. Gnädigerweise blieben die Bilder stumm. Aber auch so transportierten sie ein nie für möglich gehaltenes Grauen in seine Vorstellungswelt und vergifteten sein Gemüt. Mit dem, was der Unsichtbare die Wahrheit über die Gesegneten nannte …
Die Öffnung war doppelt so groß wie ein Kabinenschott auf der RUBIKON. Wie sie genau entstand, welcher Mechanismus dahintersteckte, war selbst bei genauem Hinsehen nicht erkennbar. Im einen Moment war die Wand noch geschlossen – dann klaffte der Durchgang darin, und durch ihn kam ein lokomotivartiges Gefährt, vor dem sich Schienen aus dem Boden herausbildeten. Bis zu der Stelle, wo es stoppte. Höhe und Breite des Vehikels schlossen lückenlos mit Höhe und Breite des Durchgangs ab. An der einen Flanke des schlanken Gefährts, das bis zur gegenüberliegenden Wand vorgefahren war, öffneten sich Luken, aus denen Schalen glitten, die bis zum Rand mit einer Substanz gefüllt waren, die einen appetitweckenden Duft verströmte. Gleichzeitig taten sich auf der anderen Zugseite Türen auf, durch die flaschenartige Behälter gelöscht wurden.
»Essen und Trinken«, murmelte Scobee spontan. »Zumindest will man uns offenbar nicht verhungern und verdursten lassen.« Blieb das Problem der Notdurft. Und die Frage, ob die Essenslieferung für die Inhaftierten überhaupt genießbar und verdaulich war. Nachdem die Nahrungsausgabe beendet war, öffneten sich im Zug andere Türen, in die manch ein Angk neugierig den Kopf steckte. Und schon bald war klar, worum es sich in den dahinter liegenden Kabinen handelte. »Man denkt an alles, prima«, ätzte Jelto. »Toiletten und Waschgelegenheiten inklusive. Dafür ist es ein bisschen enger geworden in unserem Kerker.« »Du denkst, der Zug bleibt?«, raschelte Cy matt und genoss das Wasser, das der Pflanzenhüter ihm aus einer der Flaschen zuführte, nachdem Jelto offenbar entschieden hatte, dass es unbedenklich sei. Nach und nach griffen auch die übrigen Crewmitglieder zu. Aber es dauerte lange, bis der Erste es wagte, sich in einer der Zugkabinen zu erleichtern. Dann jedoch schien der Bann gebrochen. »Nur wissen wir immer noch nicht, wer für all das verantwortlich ist«, relativierte Scobee das gute Zeugnis, das Rotak ihren Aufsehern im Gespräch mit ihr ausstellte. »Die Treymor«, sagte der Angk. »Wer sonst? Sie haben die RUBIKON überfallen und uns zwangsevakuiert.« »Und warum?«, hielt sie skeptisch dagegen. »Via John waren wir doch bereits fest in ihrer Hand. John diktierte Sesha, was zu geschehen hatte, und die erkannte keinen anderen als ihn als Chef an – das hatten wir schon des Öfteren, nicht wahr?« Er zuckte die Achseln. »Wer sollte sonst ein Interesse daran haben, uns zu überfallen und gefangen zu nehmen?« »Wenn ich das wüsste, wäre ich schlauer.« Er grinste. Sie sah genauer hin. Irgendwie war er ihr noch nie sonderlich aufgefallen, weder im Guten noch im Schlechten. In diesem Augenblick, irgendwann während einem ihrer vielen Gespräche,
war es plötzlich anders, und es kam ihr vor, als sähe sie ihn zum ersten Mal wirklich. Als nehme sie ihn zum ersten Mal bewusst wahr. Vergiss es, ermahnte sie sich impulsiv. Denk nicht mal dran, Lady. Hey, wie kompliziert ginge es denn noch? John ist mit Assur zusammen, und wenn ich mich jetzt auf ein Techtelmechtel mit deren Ex einließe … heiliges Kanonenrohr, so viel vorprogrammierter Stress muss nicht sein, nein danke! Verrückt, wie weit voraus sie bereits dachte – einer bloßen Anwandlung wegen. Die auch schon wieder vorüber war. Oder? Immerhin, er hatte hübsche Augen und ein gar nicht so schlechtes Lächeln. Wenn er denn mal lächelte. Wie jetzt zum Beispiel. Sie biss sich auf die Unterlippe. Für eine Weile liefen sie stumm nebeneinander her, schlenderten nur den Zug entlang. Manchmal winkten ihnen Freunde und Bekannte zu, und sie wechselten ein paar Worte mit ihnen, ohne miteinander zu sprechen. Trotzdem blieb die ganze Zeit ein Wohlgefühl, das Scobee veranlasste, sich zu fragen, wann zuletzt sie sich in der Nähe eines Mannes mit diesem leichten Schwebegefühl bewegt hatte. Sie machte einen Fehler, sie wusste es. Aber es war wie ein Hindernis, auf das man mit einem Tempo zuraste, das es einem unmöglich machte, noch rechtzeitig davor zu bremsen. WOAMMM! Sie berührte die Außenwand des Zuges, und endlich gelang es ihr, ihre Gedanken wieder in nüchternere Bahnen zu lenken. Rotak seinerseits gab durch nichts zu erkennen, ob er möglicherweise ähnliche Anwandlungen zu bewältigen hatte. »Das Material fühlt sich sonderbar an. Weder Metall noch Stein«, sagte sie. »Irgendwie weckt es Assoziationen, aber ich weiß nicht mehr, woran.« »Ihr wart schon mal im Kubus. Vielleicht kennst du es von damals.« Sie überlegte, schloss die Augen. Ja, dachte sie. Von damals … Aber jedes Mal, wenn sie meinte, den Erinnerungsfaden greifen zu
können, driftete er wieder davon. Ein Grollen wie von fernem Donner, der langsam näherkam, klang auf. Alle Gespräche ringsum verstummten nach und nach. Scobee sah die Sorge in Rotaks Gesicht. Die Türen des Zuges schlossen sich plötzlich leise zischen, und er setzte sich in Bewegung, zog sich wieder in die Wandöffnung zurück, aus der er gekommen war. Hinter ihm bildeten sich die Schienen im Boden zurück. Aber bevor der Zug ganz verschwand, stoppte er noch einmal. Eine dröhnende Stimme sagte: »Scobee. Steig ein. Nur du. Alle anderen warten. Sie werden mit allem versorgt, was sie brauchen.« Scobee sah erst zur Decke, dann auf den Rest des Zuges, der noch aus der Wand ragte. Erst jetzt bemerkte sie, dass eine Tür noch offen stand. Rotak schien zu erraten, was in ihr vorging. »Nein! Tu es nicht. Wir dürfen uns nicht trennen lassen.« Ruhig wandte sie sich an ihn, und in den Tiefen ihrer Brust rührte sich Freude, dass er offenbar um ihr Wohl besorgt war. »Du vergisst, dass die, die uns herbrachten, auch längst hätten töten können, wenn sie dies wollten. Genau genommen können sie es immer noch jederzeit. Wir sind hier zusammen, aber wir sind nicht sicher. Die einzige Chance, die wir haben, vielleicht noch einmal in die Freiheit zu gelangen, ist, so viel Wissen wie nur möglich zu sammeln. Ich gehe. Natürlich werde ich gehen. Nicht, weil ich besonders mutig bin, sondern weil ich keine Alternative sehe.« Auch andere wollten sie zurückhalten. »Ich gehe!«, rief Jelto. »Nein. Du kümmerst dich weiter um Cy. Siehst du nicht, wie er unter deinem Aurenlicht aufblüht. Er sieht schon fast wieder gesund aus. Mach weiter, damit hilfst du uns allen mehr. Wer immer gerade sprach, er will mich. Vielleicht erfahre ich von ihm etwas über Jarvis' Schicksal. Oder was mit John ist …« »Wenn es die Treymor sind, werden sie alles tun, nur nicht die Wahrheit sagen. Glaub ihnen nicht. Sag ihnen, dass wir lieber alle zugrunde gehen, als uns von ihnen für irgendwelche dubiosen Ziele
einspannen zu lassen!« Selten hatte sie Jelto so entschlossen reden hören. Aber obwohl seine Worte keinen eigentlichen Trost bargen, taten sie ihr gut und halfen ihr, den Abschied etwas leichter zu ertragen. Ohne sich noch einmal umzuschauen, legte sie die Distanz zum Zug zurück und stieg in das offene Abteil. Hinter ihr schloss sich die Tür. Der Zug nahm Fahrt auf.
9. Cleery arbeitete im Krankenstock des Korallengebirges, als ein Nebelvaare nach ihr rief. Ein Sammler hatte ihn erwischt und ihm die Hälfte seiner kaum gefestigten Pseudopodien ausgerissen. Im letzten Moment hatte er von einem Aufgebot an Ausgewachsenen verjagt werden können. Aber die feinen Fäden blieben in seinem Magen. Rindoor, wie das Nebeljunge hieß, würde für immer verkrüppelt bleiben, wenn sich nach seiner Reife kein Spender fand, der ihm, selbst dem Tode nah, noch einige seiner Körperteile vermachte. Die andere Möglichkeiten, zu den Wiesen zu gehen und sich vom Ersten Verwerter Prothesen zu erbitten, schied in Rindoors Fall aus. Er gehörte der Xoon-Kaste an, die es strikt ablehnte, Fremdgewebe zu Heilzwecken anzunehmen. Rindoors weiterer Lebensweg würde hart werden. Aber Cleery, die in ihrer Pflegearbeit im Stock aufging, war so angetan von der Persönlichkeit des Nebeljungen, der noch viele Statuseinheiten zur vollständigen Reife brauchen würde, dass sie sich fest vorgenommen hatte, sich auch noch um ihn zu kümmern, wenn er den Krankenstock verließ. Er hatte keine Familie. Die war vom Sammler noch vor Rindoor attackiert und komplett verschlungen worden. Dieses Trauma musste ein Nebelvaare erst einmal verkraften. Cleery seufzte schwer in sich hinein, während sie sich dem Jungvaaren näherte. »Was ist, Rindoor? Hast du Schmerzen?« »Keine körperlichen«, wiegelte der Nebeljunge ab. »Aber es schmerzt … da drinnen …« Seine verbliebenen Pseudopodien krümmten sich und wiesen auf den Kopf. »In meinen … Gedanken.« Er sprach oft seltsame Dinge. Deshalb mochte sie ihn auch so. »Was heißt das, Rindoor?« »Du weißt, dass ich Dinge voraussehe.« »Manchmal … nein, oft schon lagst du völlig richtig mit deinen Weissagungen.« Das war tatsächlich der Fall. Rindoor hatte ein Talent, wie es selten vorkam. Und noch seltener geschah es, dass sich die Vorhersagen von Vaaren,
die sich selbst seherische Kräfte zusprachen, auch tatsächlich erfüllten. Bei Rindoor hingegen waren schon mehrere Prognosen auch haargenau wie beschrieben eingetreten. Cleery hätte eigentlich das Königshaus informieren müssen. Talente wie das von Rindoor waren rar gesät. Die Herrscherin hätte ihre Macht damit festigen können, zumindest hätte sie es versucht. Aber Cleery war eine insgeheime Kritikerin der vaarischen Monarchie. Außerdem wollte sie nicht, dass der Nebeljunge ins Räderwerk der Mächtigen geriet und darin umkam. »Leider. Es ist nicht angenehm, die Zukunft zu kennen.« Wenn er so sprach, wirkte er entsetzlich abgeklärt und altklug. Cleery mochte es lieber, wenn er sich wie ein Vaare seines Alters benahm und artikulierte. Aber gleichzeitig hatte sie gelernt, dass diese abgehobenere Sprechweise auch stets Rindoors Nervosität widerspiegelte. An diesem Tag war er aufgewühlter, als sie ihn jemals erlebt hatte. »Du klingst, als hättest du schlechte Nachrichten.« »Mehr als schlechte. Ich sah … uns untergehen.« »Uns?« Cleery erschrak ob der Ernsthaftigkeit und Eindringlichkeit seines Tons. »Dich und mich?« »Alle Vaaren.« Diesmal war ihr wirklich, als treibe jemand einen Korallensplitter durch ihr Hirn. Ein leiser Schrei entfloh ihr – sowohl akustisch, als auch mental. Aus den Nachbarparzellen klangen verstörte Rufe auf. Die dortigen Patienten hatten den Schrei aufgeschnappt und gerieten in Aufruhr. »Ich muss mich um sie kümmern«, seufzte Cleery. »Ich komme später wieder. Dann reden wir ausführlich über deinen … deinen Traum.« Sie schaffte es nicht, seine Parzelle zu verlassen. Seine Worte holten sie ein. »Es war kein Traum, keine Einbildung, und du weißt es. Ich bin niemand, der sich wichtig macht oder Befriedigung darin findet, andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Nein, es wird geschehen. Ich war mir noch bei keiner Vision so sicher wie bei dieser.« »Was wird geschehen, Rindoor, was?« »Böse Wesen kommen. Wesen, die nicht in Tovah'Zara geboren wurden. Sie werden uns unterwerfen. Niedermetzeln.« Sie schrie erneut auf, hatte sich nicht in der Gewalt. Auch dieser Schrei schürte die Unruhe und Angst nebenan und in den
nahegelegenen Stöcken. »Wer sollte so stark sein, das zu schaffen? Wir Vaaren sind ein stolzes, wehrhaftes Volk. Nicht umsonst gebieten wir über alle anderen Rassen des Wassers.« Rindoor sank etwas in sich zusammen. Seine wenigen Pseudopodien leuchteten fiebrig. Erst jetzt fiel Cleery auf, wie erschöpft er war. Hatte ihn seine fluchbeladene Gabe so sehr mitgenommen, ausgelaugt? In diesem kurzen Moment, da ihr sein Zustand bewusst war, entwickelte Cleery eigene seherische Fähigkeiten – und sie sah einen Todgeweihten vor sich. Der arme Nebeljunge würde sterben, bald. Dieser Eindruck brannte sich in ihr Denken und machte sie selbst ganz krank. Das darf nicht sein. Ich liebe ihn wie meinen eigenen Jungen. Nein. Es ist nur eine dunkle Eingebung, sie wird sich nicht erfüllen. Ihr war ganz übel. Sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Sie wollte sich übergeben, aber es gelang ihr nicht. Vielleicht hätte es ihr Erleichterung verschafft. »Wir halten uns für stark. Aber die Macht der Vaaren … ist nichts gegen die derer, die da kommen werden!« Rindoors Stimme war nurmehr ein Hauch. »Wann? Wann werden sie kommen?« »Das … weiß ich nicht. Heute, morgen … irgendwann in der Zukunft. Ich sehe nur eins: den Untergang der Selbstgefälligen.« Dass er das Volk der Vaaren meinte, die seit undenklichen Zeiten über Tovah'Zara herrschten, dabei nicht gerade zimperlich vorgingen, war unstrittig. Cleery versuchte es dennoch, als Fehleinschätzung abzutun. Auch Rindoor hatte sich schon geirrt. Oder es würde in so ferner Zukunft geschehen, dass weder er noch sie es noch erlebten. »Schlaf jetzt, ich gebe dir ein Mittel, das die dunklen Träume bannt.« »Ach, Cleery …« In dieser Schlafphase starb er. Und der Moment, da Cleery es entdeckte, war auch der Moment, in dem der Alarm durch ganz Tovah'Zara hallte. Schiffe der Vaaren, Schiffe der Ordnungsmacht, wurden angegriffen und zerstört. Fremde Objekte stürmten die Wasserwelt. Und binnen kürzester Frist entbrannte die Schlacht um den Thron.
Einen gnadenloseren Feind als die Eroberer gab es vermutlich im ganzen Universum nicht … Mingox stöhnte unter den Bildern, die auf ihn einstürmten. Das glaube ich nicht!, schrien seine Gedanken. Das ist die Unwahrheit. Niemals würden die Gesegneten auf diese Weise vorgehen. Sie kamen, ja. Sie übernahmen die Herrschaft, sicher! Aber sie taten es kraft ihrer natürlichen Autorität und Überzeugungskraft. Sie brauchen keine rohe Gewalt. Sie sind – »Mörder«, sagte die Stimme. »Kaltblütige Massen- und Völkermörder.« Mingox schrie, bis er keinen Ton mehr hervorbrachte.
Der Zug rollte dahin. Scobee hätte sich ein Fenster gewünscht, wenigstens ein einziges, um nach draußen zu sehen und herauszufinden, wo sie sich bewegte. Wohin sie und die anderen verschleppt worden waren. Existierte die RUBIKON überhaupt noch, oder hatten die Angreifer sie nach der Evakuierung zerstört? In fatalistischen Momenten stellte Scobee sich das Schlimmste vor, obwohl sie im Grunde ihres Wesens eine durch und durch optimistische Frau war. Anders hätte ich all die Nackenschläge und Extrem Situationen der Vergangenheit auch kaum ertragen. Sie war immer wieder aufgestanden, egal wie heftig manche Niederlage, manches Scheitern ausgefallen war. Schlussendlich waren immer Freunde da gewesen, die sie seelisch und moralisch aufgefangen hatten – so wie sie auch stets versuchte, anderen Beistand zu leisten. Das war die normalste Sache der Welt, fand sie. Nicht normal war Johns dramatische Veränderung. Sie zerbrach sich immer wieder den Kopf darüber, wodurch sie ausgelöst worden sein mochte. Wieso hatte er sich nicht schützen können, wieso hatte niemand es rechtzeitig gemerkt? Grübelnd saß sie in ihrer Kabine. Die Bewegung des Zuges war spürbar, ganz anders als in den Fahrzeugen, die sie seit langem ge-
wohnt war. In hypermodernen Raumschiffen übertrug sich der Andruck der Beschleunigung nicht auf Dinge oder Insassen. Und in einem Zug hatte sie lange nicht mehr gesessen. Die Kabine, in die sie gestiegen war, maß gerade drei mal zwei Meter im Grundriss. Es gab eine seitliche Sitzbank, auf der Scobee Platz genommen hatte. Und das einzige Geräusch, das sie hörte, wenn sie sich darauf konzentrierte, war das ihres Atmens. Anfangs war das Gefühl, die anderen zu verlassen, niederschmetternd gewesen, obwohl sie es natürlich nicht gezeigt hatte. Inzwischen war sie wieder gefasster. Innerlich sammelte sie sich für die Begegnung mit wem oder was auch immer. Wenigstens tat sich etwas. Nichts war schwerer erträglich als ereignisloses Warten. Du könntest gerade deinem Henker entgegenfahren, hielt sie sich vor Augen. Treymor waren nicht gerade als zimperlich bekannt. Aber es waren keine Treymor gewesen, die auf die RUBIKON kamen. Echsenwesen, humanoid zwar, aber keinesfalls auch nur vage menschlich. Immer noch besser als Käfer, spendete sie sich Trost. Der Zug hielt. Scobee umfasste unwillkürlich die Kante des harten Sitzes. Aber es bestand keine Gefahr zu fallen. Die Außentür öffnete sich wieder. Scobee stand auf. Zwei, drei Schritte und sie konnte hinausschauen. Insgeheim hatte sie sich eine Landschaft mit einem sonnendurchfluteten Himmel gewünscht, doch das wurde ihr nicht erfüllt. Auch die vage Hoffnung, sich nicht länger im Aquakubus aufzuhalten, zerstob. Die Umgebung sprach eine deutliche Sprache. Die Wände der großen Halle, in der der Zug gestoppt hatte, sahen aus wie trocken gelegte Korallenstöcke, die aber wenigstens ihre bunten Farben behalten hatten. Und ihr Leuchten, mit dem sie alles ringsum erhellten. »Willkommen«, sagte das seltsame kleine Ding zu ihren Füßen.
»Ich wurde geschickt, dich abzuholen. Tu mir nichts, ich bin ganz brav.« Eine Art Kichern entwich der an einen unterarmlangen Fisch, der die Beinchen eines Tausendfüßlers hatte, erinnernden Kreatur. »Das war ein Scherz. Der Kleine Arto mag Scherze. Du auch?« Während er mit hoher Fistelstimme sprach, waren seine Beinchen in ständiger Bewegung. Ohne Scobees Antwort abzuwarten, brabbelte er bereits munter weiter. »Bist kein Wassertier. Das ist gut. Der Kleine Arto mag Wasser auch nicht. Ist froh, auf dem Trockenen zu sein. Schön, schön. Zauberhaft. Komm jetzt. Reden können wir auch unterwegs. Wie heißt du?« Wieder das Kichern. »Haha. Sko-bi. Ich weiß, ich weiß. Wurde instruiert. Kapiere schnell, hab's drauf. Solche wie dich gibt's sonst nicht bei uns. Anders hässlich als Luuren oder Heukonen oder die Unwos. Aber – leider – trotzdem nicht sehr ansehnlich. Komm aber jetzt nicht. Nicht so viel Zeit verplempern, sonst wird der Kleine Arto gescholten. Und das war nicht gut, nein, wär's überhaupt nicht. Komm, komm, unhübsche Sko-bi.« Das musste sie erst einmal verdauen. Nicht, dass dieser hässliche kleine Fisch auf mehr als zwei Dutzend Beinen sie hässlich fand (das war ihr völlig egal), sondern seinen Redeschwall. Heilige Galaxis, wohin war sie nur geraten. Wenn alle so meschugge waren wie der Kleine, der geschickt worden war, sie ans eigentliche Ziel zu bringen – na, dann gute Nacht, Freunde! Sie trat auf den »Bahnsteig« und setzte dabei den Fuß absichtlich nur Zentimeter von dem Ding auf. Der Kleine Arto stob zur Seite. »Aufpassen, he! Du bist schwer wie eine Tonne! Ich will nicht zermatscht werden! Was das für eine Mühe wär, mich wieder neu zu machen! Böse … das war hinterlistig, feig und böse!« Endgültig überzeugt, einen aus einer kubusansässigen Klapsmühle Entflohenen vor sich zu haben, fragte Scobee: »Du bist sicher, dass du mich hier abholen sollst?« Hinter ihr fuhr der Zug in diesem Moment wieder an. »Nein. Überhaupt nicht. Sollte dich besser da lassen. Kannst ja sehen, wie du ihn findest. Kannst ja sehen!«
Der Kleine Arto klang wie ein schmollendes Kleinkind. Kopfschüttelnd sah Scobee dem Zug nach. »Krieg dich ein. Sag mir lieber, wohin er fährt. Ich wollte eigentlich wieder mit ihm zurück. Oder war das gerade eine Reise ohne Rückfahrkarte?« »Rückfahrkarte? Völlig verrückt, die Andershässliche, völlig verrückt! Komm jetzt, oder bleib. Mir egal. Na ja, nicht ganz vielleicht. Der Kleine Arto kriegt Ärger, wenn er dich nicht bei sich hat, nachher bei ihm.« »Zu wem bringst du mich? Zu den Treymor?« Die Vorstellung schien den Kleinen Arto zu amüsieren. Hastig setzte er sich in Bewegung. Scobee folgte ihm kopfschüttelnd. Irgendwie verzerrte und verniedlichte dieses absurde kleine … Ding die brutale Realität. Eine Realität, die nicht einmal ansatzweise komisch war und in der es um die Leben Tausender ging.
10. Osmon hielt sich mit seinen Leuten noch immer an Bord des verlassenen Schiffes auf, durchkämmte jeden Winkel, jeden Raum, jeden Korridor. Sein Befehlshaber Farrak hatte den Auftrag klipp und klar formuliert: sicherstellen, dass sich nirgends eine böse Überraschung verbarg. Farrak hatte vor, das »Legendenschiff«, wie er es mehrfach genannt hatte, in den Inneren Bereich zu holen. Dafür aber musste sichergestellt sein, dass es sauber war. Und dafür würde Osmon sorgen. Farrak wusste, dass auf ihn Verlass war, und dieses Vertrauen wollte der Treymorsoldat nicht enttäuschen. Eher sterben. Das hatte er bei seiner Ernennung zum Chef der persönlichen Leibwache des Oberen geschworen. Und es kostete ihn keine Überwindung, dies bei Bedarf auch zu tun. Treymor starben leichter als andere intelligente Spezies, hieß es in seinem Volk, und darauf war er stolz. Geschöpfe, die den Tod über die Maßen fürchteten, wurden von diesem Gefühlskorsett stranguliert und waren nicht zu Anstrengungen fähig, die bis an die Grenzen der Selbstaufgabe gingen. Treymor hingegen akzeptierten das Sterben als Teil des immerwährenden Kreislaufs, der ihr Volk von Generation zu Generation vervollkommnete. Kein Fortschritt, keine Evolution ohne die Triebfeder des drohenden Todes. Nur das Bewusstsein um die Endlichkeit seiner Existenz – und die Akzeptanz dieses ohnehin unumstößlichen Naturgesetzes – kitzelte aus einem Lebewesen an Leistungsbereitschaft heraus, was da war. Osmon hatte diesbezüglich keinerlei Beschränkungen. Er würde sterben.
Eines Tages. Er wollte sterben. Wenn es sich zu sterben lohnte. Und es lohnte zu sterben, wenn dadurch das Volk der Treymor als Ganzes einen – wenn auch nur winzig kleinen – Schritt nach vorne, in eine noch blühendere Zukunft machte. Über Funk erreichte ihn die Nachricht eines der vielen Trupps, die das Schiff durchkämmten. Er wurde namentlich gerufen und zögerte nicht, sich zu melden. »Was ist, Kerrk?« »Ein Fund, Dona.« Dona bedeutete in ihrer Hierarchie so viel wie Anführer. »Welcher Art – und wo?« Kerrk, Soldat durch und durch und einer der verlässlichsten Kämpfer, die Osmon unterstellt waren, gab die Koordinaten durch, die Osmon sofort nach Beendigung des Gesprächs an die Bord-KI weitergab. »Eine Verbindung!«, befahl er dem dienstbaren Geist des Schiffes, das beim ersten Zusammentreffen versucht hatte, die Treymor anzugreifen. Aber widerspenstige KIs zu zähmen, kostete die Eindringlinge kaum Anstrengung. Seither gehorchte sie ihnen, als wäre sie eigens für Treymor-Benutzer geschaffen worden. Ein skurriler Gedanke, wie Osmon fand. Trotzdem überantwortete er sich ohne Zögern dem nächstgelegenen, für ihn justierten Türtransmitter, dem bordüblichen Verkehrsmittel. Als er am Ziel heraustrat, war er für einige Atemzüge hoch beeindruckt. Der Ort, den Kerrk entdeckt hatte, atmete Charismatisches aus – so stark, wie noch kein anderer, den Osmon an Bord betreten hatte. Dominiert wurde er von einem Quader, der aussah, als bestünde er aus gefrorenem milchigem Wasser. Er war doppelt so lang wie breit und hoch. In seinem Innern eingeschlossen ruhte ein seltsames Wesen. Es erinnerte Osmon an ein Organ, wie es für Säugetiere typisch war und das deren Blut durch das Aderwerk ihrer Körper
pumpte. Die Extremitäten waren auffallend kurz, sowohl die, die offenbar zum Greifen dienten, als auch jene, die das Wesen zum Gehen nutzte. Mechanisch richtete Osmon sein Diagnosegerät, das er immer mit sich führte und das nur fühlerdünn und -lang war, auf den Körper. »Viele Augen«, murmelte er. »Dutzende von ihnen über die gesamte Rumpffläche verteilt. Momentan mit Häuten geschlossen.« Kerrk trat zu ihm. »Seltsam, oder, Dona?« »Ich beglückwünsche dich«, erwiderte Osmon. »Die Oberen werden erfreut sein, dass wir ihn gefunden haben.« »Sein Vitalwerte liegen bei Null. Es scheint eine Begräbnisstätte zu sein. Die Oberen werden nicht sonderlich an einem Toten interessiert sein.« Osmon genoss es, wenn er seinen Untergebenen in Sachen Wissen einen Schritt voraus war. »Kerrk, Kerrk, du hast noch viel zu lernen … Wer sagt, dass er tot ist?« Kerrk mochte die plötzliche Hochstimmung seines Dona spüren, aber er war zu erfahren, um den Bogen mit allzu vielen Fragen zu überspannen. Ruhig wartete er, bis Osmon von sich aus Informationen preisgab. Der schaute auf die Werte seines Diagnosestabs und wies dann auf das Wesen im Block. »Wie es scheint, ist er der Einzige, der die Räumung verschlafen hat.« »Verschlafen?«, wiederholte Kerrk nun doch zaghaft. »Ihr meint …?« Osmon grunzte verschlagen. Dann nahm er Verbindung zur Kommando Sphäre auf. Wie nicht anders erwartet, war Farrak interessiert.
Mingox wälzte sich im Entzug, der ihm das Innerste nach außen zu stülpen drohte. Kalter Schleim brach aus den Poren. Stinkender, kalter Schweiß. Er hatte weder Hunger noch Durst. Aber in ihm SCHRIE es nach etwas, das seine Sehnsucht stillte. Wieder Harmonie
in seine Gefühlswelt brachte. Die innere Mitte zurück in die Balance lenkte. Alles war grau und sinnlos. Die Ge-seg-ne-ten – selbst in Gedanken vermochte er sie kaum noch so zu nennen – hatten sich als der nackte Horror entpuppt. Mingox hatte gesehen, erlebt, gefühlt und geschmeckt, wozu sie wirklich gekommen, wozu sie wirklich fähig waren. Sie kannten keine Schranken und kein Erbarmen. Luuren, Heukonen, Vaaren … nur Dreck in ihren Augen, Ungeziefer, das zertreten wurde, wo es keinen Nutzen mehr hatte. So waren die Vaaren ausgerottet worden. Und so würde es den Heukonen und Luuren auch ergehen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber eines Tages würden auch sie das wahre Gesicht der Invasoren zu sehen bekommen! Mingox krümmte sich keuchend. Noch immer hallten die Bilder in ihm nach, die ihm gezeigt worden waren und die er – natürlich – anfangs für gezielte Propaganda des wahren Feindes gehalten hatte. Eines Feindes der die Ge- (wie er das Wort hasste!) … der die Invasoren in Verruf bringen wollte. Aber immer neue Szenen waren ihm gezeigt worden, und irgendwann hatte er gespürt, dass sie echt, nicht inszeniert waren. Er hatte es ab dem Moment gespürt, da sein Körper und seine Psyche seltsame Ausfallsymptome zeigten. Er hatte zu zittern begonnen, zu schwitzen. Das kleinste Geräusch hatte ihn in Tobsuchtsanfälle gestürzt. Bis auch diese Phase vorbei war. Und irgendwann hatte die Stimme erklärt: »Du findest langsam zu dir selbst. Das ist gut. Ich habe dich von allem isoliert, was dein Leben lang an Täuschung auf dich einprasselte. Du musst wissen, dass sie mit speziellen Lockstoffen arbeiten. Das tun sie, seit sie nach Tovah'Zara kamen. Und damit haben sie auch die Vaaren so lange in Sicherheit gewiegt, bis sie sie anstrengungsfrei ausrotten konnten. Es sind biochemische Stoffe, so ›programmiert‹, dass dein Hirn denjenigen, der sie aussendet und den du als Quelle unterbewusst erkennst, für das anbetungswürdigste Ideal von einem Geschöpf hält.
So haben die Eroberer sich zu dem gemacht, als das sie heute angebetet werden – von allen Unterjochten der Wasserwelt.« Heiser hatte Mingox hervorgestoßen: »Und du? Bist du ihnen nicht auch auf den Leim gegangen? Und wenn nein, warum nicht?« Nach einer kurzen Pause hatte der Unsichtbare geantwortet: »Weil ich anders bin. Ich besitze natürliche Immunität, die sich aus meiner Herkunft erklärt. Aber darüber will ich jetzt nicht sprechen. Wichtig ist, dass du begonnen hast, die Wahrheit zu erkennen. Begonnen hast, die ›Gesegneten‹ als das zu durchschauen, was sie immer waren: skrupellose Invasoren.« Seither schwieg der, der sich selbst immun gegen die Anfechtungen der Eroberer nannte. Die Eroberer … Mingox hatte Einblicke in alte Aufzeichnungen der Vaaren erhalten, ebenso in Augenzeugenberichte von Heukonen und Luuren, die über den Moment sprachen, als die Treymor – so nannten die Invasoren sich offenbar selbst – in Tovah'Zara erschienen und rigoros gegen alles und jeden vorgingen, der sich ihren Plänen in den Weg stellte. Ihre Pläne … Was waren das für Pläne? Mingox war noch zu sehr in seine Entzugsqualen verstrickt, um darauf nachhaltig Antworten zu fordern. Er schlief viel in dieser Phase. Sein Körper forderte den Tribut für all die Anstrengung, all den psychischen Raubbau, den Mingox – unfreiwillig – mit ihm betrieb. Doch irgendwann war es vorbei. Er lebte wieder auf. Doch je klarer seine Gedanken wurden, desto stärker fiel der alte Schatten über ihn, die alte Furcht, die Treymor könnten auf die Idee kommen, das Uhrwerk, das ihn am Leben hielt, zu stoppen. Irgendwann konnte er nicht mehr an sich halten und flehte den Unsichtbaren an, ihm zu helfen – falls er dazu in der Lage war. Vielleicht hatte der auf der anderen Seite, der jenseits der Wände nur auf diesen Moment gewartet. Denn viel zu schnell, viel zu glatt kam die Zusage: »Du bist hier vor den Machenschaften der Feinde sicher. Und es liegt allein an dir, ob ich dir noch länger Gastfreundschaft … und Schutz … gewähre. Nur an dir.«
Wie erholt Mingox war, zeigte sich an der Schnelligkeit, mit der er die Bedingung verstand, die hinter dieser Bemerkung stand. »Was … muss ich dafür tun? Was erwartest du von mir?« »Du bist bereit?« »Ich bin bereit. Weil ich mein altes, verblendetes Leben hasse – und mir nicht vorstellen kann, jemals dahin zurückzukehren.« »Ich glaube dir.« Mingox schwieg. Wartete. Eine Tür öffnete sich, eine Gestalt trat ein. Und zum ersten Mal durfte der Luure sehen, wer die ganze Zeit über ihn gewacht, die ganze Zeit zu ihm gesprochen hatte. Aber der bloße Anblick brachte keine neue Erkenntnis. Mingox hatte dieses Wesen nie zuvor gesehen. Sicher war nur: Er war kein Treymor. Auch kein Vaare, Heukone oder Artgenosse von Mingox. Aber … wer dann? »Ich zeige dir, wie du dir dein Leben unter meiner schützenden Hand verdienen kannst«, sagte der Unbekannte. »Es ist keine schwere Aufgabe – nicht für einen Meister seines Fachs wie dich.«
Plötzlich wich der korallenartige, vielfarbige Fels einer Oberfläche, die Scobee vertrauter war – weil sie an das Leben auf der RUBIKON erinnerte. Oder andere Bauten, wie viele Spezies, die zwischen den Sternen reisten, sie bevorzugten. Das Baumaterial war Stahl. Und es begann mit einem Tor, das vor dem Kleinen Arto aufglitt. Dahinter gähnte Dunkelheit – für einen winzigen Moment, bis Scobees Augen umschalteten und sich auf Infrarotsicht versteiften. Sofort fühlte die GenTec sich wohler. »Da hinein?«, wandte sie sich an den Fisch auf Beinen. »Oja, oja, fürchte die Dunkelheit nicht, denn sie ist mein Element, und ich bin auch dort dein verlässlicher Lotse!«, krähte das Ding. Scobee entschied, dass er es nicht verdient hatte zu erfahren, dass sie keineswegs so hilflos in der Dunkelheit war, wie er vermutete.
Dazu war er eine Spur zu großmäulig. »Ich danke dir, ich danke dir«, äffte sie seinen leiernden Ton nach, besann sich aber sofort wieder. Auf diese Stufe wollte sie sich nicht hinablassen. Der Kleine Arto huschte in die Schwärze, die keine war. Scobee sah fast so viel wie bei Tageslicht. »Willst du eines meiner Händchen halten?«, fragte ihr Führer. Sie wollte verneinen, als sie sah, wie der Fisch sich im Laufen veränderte. Keine drei Sekunden, und ein kleinwüchsiges – etwa kniehohes – menschenartiges Geschöpf dort, wo gerade noch der Kleine Arto marschiert war. Die kindliche Gestalt streckte den Arm hoch, und Scobee tat überrascht, als sich plötzlich eine Hand in die ihre schob. »Huch!« »Erschrocken!« Der Kleine Arto wieherte vor Vergnügen. Seine Stimme war das Einzige, was keine Verwandlung vollzogen hatte. Im nächsten Moment brach Licht aus seiner Haut, und Scobee musste so tun, als würde er gerade erst sichtbar. »He! Wieso –« »Da staunst du, was? Bin Kleiner Erl, hab's aber ganz tierisch drauf. Bin mal dies und mal das. Wie gefällt dir das?« »Nicht ganz so gut wie dies«, gab sie trocken zurück. »Deine Beinchen vorher hatten was. Und auch das Fischige. Jetzt wirkst du fast schon zu normal.« »Nicht dein Ernst, oder?« Sein Körperlicht flackerte. »Haha!« Scobee lachte theatralisch. »Reingefallen! Klar bist du jetzt anders. Anders hässlich!« Wieder prustete sie übertrieben. Den Kleinen Arto brachte das ganz aus der Fassung. »Böse«, ächzte er und zog seine Hand zurück. »Sehr, sehr böse! Sieh zu, wie du ohne mich zurechtkommst. Ärger, den ich krieg, hin oder her. Ich mach jetzt das Licht aus!« Er versank im Dunkel. Aber nur, bis sich Scobees Augen wieder auf die neuen Verhältnisse eingestellt hatten. Der jetzt kindlich, aber auch unfertig wirkende Kleine Arto trippelte lautlos von ihr weg.
Scobee folgte ihm mühelos. Das überraschte den Sonderbaren nicht nur, es missfiel ihm auch sichtlich. Zehn Schrittchen entfernt krächzte er: »He! Wie machst du das? Bleib. Bleib stehn. Ich mag nicht, dass du –« Die Geschwindigkeit, die Scobee entwickelte, konnte nur jemanden überraschen, der noch keine Auseinandersetzung mit einer GenTec gehabt hatte. Scobee war schneller neben dem Kleinen Erl, als der »Baff!« sagen konnte. Sie überholte ihn sogar, weil sie dreißig Meter voraus eine Tür gesehen hatte am Ende dieses absichtlich dunkel gehaltenen Korridors. Plärrend kam das Pseudokind hinter ihr hergerannt. »Halt! Böse Frau. Ich führe. Du folgst.« »Mach dir nicht in die Hose.« Scobee zwinkerte ihm herausfordernd zu. »Was sagst du da?« »Schon gut. Du hattest sicher noch nie eine Hose – aber auch nichts, was sich lohnen könnte, darunter versteckt zu werden. Ab jetzt. Ich hab's eilig. Deine Trödelei geht mir auf den Senkel.« Offenbar war das die Ausdrucksweise, die der Kleine Arto verstand. Und die ihn beeindruckte. Wenn auch nicht nachhaltig. »Böse Frau«, keuchte er zwischen einem Husten, bei dem Scobee den Eindruck hatte, etwas löse sich aus seinem Mund und fliege wie eine Wolke davon. »Kleiner Arto wird sich beschweren. Warte nur, warte nur. Das wird ihm nicht gefallen. Wirst schon sehen, was du davon hast. Böse Frau …« Scobee, die davon ausging, dass die entscheidende Begegnung unmittelbar bevorstand, war fest entschlossen, ihrem neuen Kosenamen alle Ehre zu machen. Wer immer hier auf sie wartete und sie antreten ließ – er sollte merken, dass sie Rückgrat hatte. Sie würde nicht vor ihm buckeln, vor niemandem. Und auch nicht um ihr Leben betteln. Vor ihnen war eine Biegung, und dahinter öffnete sich ein museumsartiger Raum, in dem tatsächlich Ausstellungsvitrinen standen –
falls Scobee es nicht missinterpretierte. »Stopp!«, rief sie dem Kleinen Arto zu, der komplett zu ignorieren schien, was sich ihnen hier darbot. Dabei … … war es ein so makabres Panoptikum, dass Scobee Mühe hatte, ihre Fassung zu wahren. »Bleib stehen, verdammt! Was ist das? Wo sind wir hier?« Der Kleine Arto schien es sich doch noch anders zu überlegen und mimte nicht länger den Tauben. Missmutig wuselte er zu Scobee zurück. »Sieht man doch!« »Sieht man eben nicht – und frau erst recht nicht.« Das kapierte der Kleine Arto nicht. Scobee genoss kurz seine Verwirrung, dann drängte sie: »Sag schon. Was hat das zu bedeuten?« Sie zeigte auf Dutzende Foronen hinter Glas. »Ist das eine Art Friedhof oder Ehrenhalle? Ich kenne die Spezies nur zu gut … und jetzt sag nicht, dass sie hinter allem stecken. Dass du mich zu ihnen bringst.« Der Kleine Arto folgte ihr, als sie auf die nächstgelegene Vitrine zuging. Sie war mit Flüssigkeit gefüllt, und in ihr schwamm … oder hing … ein Forone. Wie im Übrigen in jedem der anderen Behältnisse auch. Unverkennbar war die Physis mit dem knöchernen Schädel, der auch dort, wo das »Gesicht« angedeutet war, so wenig Fleisch aufwies wie am Hinterkopf. Es hatte den Anschein, als spanne sich dickledrige Haut über puren Knochen, ohne Gewebe, das als »Polster« dazwischen fungierte. Statt Nase und Mund gab es eine kreisförmige Membran, die nicht nur zum Sprechen (Foronen waren halbe Telepathen, konnten mit ihren Artgenossen in mentale Verbindung treten, wenn sie Körperkontakt zu ihnen hatten, aber sie kommunizierten auch über ganz banale Lautsprache), sondern auch zur Aufnahme lebenswichtiger Stoffe diente, die sie der Luft entnahmen. Statt Augen waren Sehrezeptoren über die gesamte »Gesichts«fläche verteilt. Dennoch schienen zwei Einbuchtungen unter der Stirnpartie degenerierte Augenöffnungen zumindest anzudeuten.
Der Kleine Arto schien entweder mit dem Begriff Foronen nichts anfangen zu können, oder er wollte Scobee schlicht nichts verraten. Jedenfalls schwieg er. Starrte sie nur an. Konnte offenbar gar nicht verstehen, dass die Vitrinen und deren Inhalte sie so stark beeindruckten. Sie stutzte. Etwas, wurde ihr klar, stimmte nicht an dem »eingelegten« Foronen vor ihr. Die Vitrine besaß keine eigene Beleuchtung, und der Raum, in dem sie angelangt waren, bot nicht gerade eine Festbeleuchtung. Leicht verschwommen nur war der Forone zu erkennen, und dennoch … »Er scheint verletzt. Verstümmelt. Wurde er Opfer von Gewalt? Sein Brustkorb … sieht deformiert aus. Und der Kopf ist … seltsam groß für die schmächtigen Schultern. Die Proportionen … ja, jetzt sehe ich's deutlich: Die Proportionen stimmen nicht …« Sie wandte sich einer der anderen Vitrinen zu. »Da! Bei dem hier auch. Und die Farbe seines Körpers … es mag am Licht liegen, aber … sie wirkt komisch. Hat die Flüssigkeit das bewirkt? Die Art der Konservierung, die hier offenbar betrieben wird? Erl, verdammt, mach den Mund auf! Die böse Frau und Andershässliche zeigt dir gleich, wozu eine gekränkte Lady fähig ist … Also?« Sie bezweifelte, dass er wirklich von ihrer Drohgebärde eingeschüchtert war. Dennoch plapperte er: »Komm weiter. Was willst du mit denen. Sind Brüder. Nichts geworden. Ausschuss.« Unverständliches vor sich hinbrabbelnd, ließ er Scobee stehen und setzte den unterbrochenen Weg fort. »Ihn lässt man nicht warten – schon gar nicht wegen … so was! Komm jetzt. Komm! Bin zu bedauern. Warum krieg immer ich diese blöden Jobs?« Scobee zögerte. Sie hätte zu gern erfahren, was es mit den ausgestellten Foronen auf sich hatte. Und warum nannte der Kleine Arto sie »Brüder«? Es gab keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihnen. Er hätte es sich vielleicht gewünscht, aber realistisch war diese Einschätzung nicht. Sie eilte ihm hinterher. Sein Vorsprung war gewaltig. Offenbar wollte er sie wirklich zurücklassen, weil sie ihn – seiner Meinung nach zumindest – vollkommen respektlos behandelte.
»Mach langsam. Ich komme ja schon.« Sie holte auf. Und fast gleichzeitig huschten sie durch die Tür, die in einen weiteren Gang führte, dessen Wände erstmals … bebildert waren. Und schon wieder kam Scobee sich wie in einem Museum vor, einer Ausstellung. Keiner gewöhnlichen, natürlich nicht. Damit rechnete sie gar nicht erst, und so konnte sie auch nicht enttäuscht oder schockiert werden. Es berührte sie dennoch. Die Motive. »Erl! Scheiße, du aufgeblasener Ignorant! Warum hängen hier nur Bilder von … Toten? Gewaltsam Umgekommenen?« Heukonen … Luuren … Vaaren … Zermalmte, aufgeschlitzte, von Geschossen zerfetzte oder Laserstrahlen verbrannte Opfer, von denen manche … noch zuckten, hörbar schrien, wenn Scobees Blick auf ihnen ruhte. Es waren mehr als bloße Bilder. Filme. Die dann in Gang kamen, wenn Blicke darauf gerichtet wurden … Wie krank ist das denn? »Mahnmale«, schnappte der Kleine Erl. »Bilder sind Mahnmale. Sollen erinnern. Im Gedächtnis halten.« »Wen?« »Siehst du doch. Opfer.« »Und wer hat sie umgebracht? Dein … Herr? Oder die Treymor?« »Wirst's schon erfahren. Aber nicht von mir. Handel mir mächtig Ärger ein, wenn rauskommt, dass ich alles rausposaune … Tu ich aber nicht. Musst schon ihn fragen. Ihn.« Als die nächste Tür aus Stahl aufglitt, huschte der Kleine Arto hindurch, als wollte er vor der ihm Anvertrauten fliehen. Scobee folgte blitzschnell, weil sie eine neue Arglist erwartete. Stattdessen prallte sie mit der Gestalt zusammen, die, umgeben von technischen Finessen, die in Scobee ein erstaunliches Déjà-vu auslösten, hier auf sie gewartet hatte. »Verschwinde!«, fauchte sie dem Konstrukt zu, das sich gerade wieder vom geschlechtslosen Humanoiden zum Tausendfüßlerfisch zurückbildete. Scobee hatte keine Augen dafür. Sie wich vor dem Humanoiden
zurück, der wie das um ein Vielfaches vergrößerte Vorbild des Kleinen Arto aussah. Wie von selbst rann die Frage über Scobees Lippen, die sie angesichts dieses Geschöpfes nicht länger zurückhalten konnte. »Du …?«
11. Wie lange war es her? Real ein paar Jahre – absolut aber viel, viel länger, zog man die Zeit ins Kalkül, die seither für ihn vergangen sein musste. Für ihn, wie für den Rest der von Darnok gegeißelten Milchstraße … »Taurt …« Scobee stand da wie betäubt. Taurt, das Protogeschöpf, in den Diensten der Foronen. Taurt, der – ja, was traf es am ehesten? Bauleiter, dachte Scobee, er war der für die Fertigstellung des Kubus verantwortliche Bauleiter der Foronen, als diese sich schon längst in ihre Stasisgräber zurückgezogen hatten. Taurt überwachte und koordinierte, was Heukonen und Luuren, wahrscheinlich auch die Vaaren, an Leistungen zur Entstehung Tovah'Zaras erbrachten. Stumm und gelassen starrte das Kunstwesen sie an. Sein Schweigen wurde mehr und mehr erdrückend. Weil Scobee mehr und mehr begriff, dass sie einen Feind vor sich hatte. Taurts Loyalität zu den Foronen hatte Jahrzehntausende nicht zur Debatte gestanden, und sie würde auch weitere Jahrzehntausende – die in der Milchstraße seit ihrer letzten Begegnung, und nur dort, verstrichen waren – schadlos überdauert haben. Als sie sich zuletzt gegenüber gestanden hatten, war Scobee eine Gefangene Sobeks gewesen, des Höchsten unter den Hohen Sieben, die mit ihrer Sternenarche aus Samragh geflohen waren, um hier, im Schutz des Aquakubus, bessere Zeiten abzuwarten. Zeiten, in denen sie vor der Verfolgung der Virgh sicher sein konnten … Alles war anders gekommen, aber dieses Bild musste Taurt, dem sie das perfekte Gedächtnis zubilligte, auch jetzt noch in sich tragen: sie, die Gefangene seines Schöpfers. Seines Herrn, der seit kurzem … tot war.
Was nicht gerade zur Entspannung ihres Verhältnisses beitragen würde. Arschkarte, würde Jarvis das nennen. Ich habe wohl gerade die totale Arschkarte gezogen …
Lomax sah zu, wie Heerscharen von Luuren über die Protowiesen strichen und die Zyklus-Ernte einbrachten. Sie war über alle Erwartungen gut ausgefallen, und Lomax war sich durchaus bewusst, dass das Hauptverdienst daran noch Mingox trug. Er hatte fantastische Arbeit geleistet. In seine Fußstapfen zu treten, würde schwer werden. Und schon jetzt lastete der Erfolgsdruck auf seinem Nachfolger, die Angst zu versagen. Lomax fragte sich, ob Mingox auch jemals solche Selbstzweifel gehabt hatte. Anzumerken war ihm dergleichen jedenfalls nicht. Vor kurzem hatte Lomax eine sehr kurze, aber auch sehr persönliche Nachricht von seinem Vorgänger erhalten. Darin hatte er seinen endgültigen Umzug von den Protowiesen in die Umgebung der Gesegneten verkündet und Lomax alles Gute für die Zukunft gewünscht. Lomax hatte das Gefühl gehabt, Mingox meine es ernst, und es beschämte ihn im Nachhinein, dass er oft Neid und Missgunst für ihn empfunden hatte, als er noch jenes Amt bekleidete, das nun sein Ressort war … und das ihm jetzt, da er ihm genügen musste, gleich mehrere Nummern zu groß vorkam. Wie lange würde es noch dauern, bis die Gesegneten dies auch merkten? Und was wären die Konsequenzen? Er lauschte in sich hinein. Seine Lebensuhr, so hatte man ihn wissen lassen, sei in dem Moment neu aufgezogen worden, da er die Nachfolge antrat. Aber spüren konnte er davon nichts. Er war nicht vitaler als zuvor, und als Mingox noch ab und zu zum Plaudern bei ihm vorbeigekommen war, hatte der ihn beruhigt, dass dies bei ihm nicht anders gewesen sei. Allerdings hatte Lomax auch dies nur halbherzig geglaubt. Weil er
selbst allzu oft die Un- oder zumindest nicht volle Wahrheit Mingox gegenüber gesagt hatte. So fielen die eigenen Sünden nun auf ihn zurück. Die eigenen Schwächen. Sie waren es, die täglich lauter in ihm rumorten und Unzufriedenheit sowie Ängste schürten, obwohl er eigentlich alles erreicht hatte, was er jemals hatte erreichen wollen. Er wusste, dass das nicht richtig war. Er wusste, dass er auf Dauer nur sich selbst zerfleischte und damit aufhören musste. Aber statt sich auf die Arbeiten in den Wiesen zu konzentrieren, zog Lomax sich schon früh in sein Haus zurück, das ebenso angenehm luxuriös ausgestattet war wie das, das Mingox bewohnt hatte, aber praktisch am entgegengesetzten Ende der Protofelder stand. Er vernachlässigte schon jetzt seine Aufgaben, das war ihm bewusst, und er hasste sich dafür, weil er zu schwach war, dagegen anzukämpfen und seinen Pflichten Genüge zu tun. Und das schon nach so kurzer Zeit. Lomax gestand es sich ungern ein, aber war die Arbeit an Mingox' Seite – als sein Helfer und Assistent – nicht ungleich lebenswerter gewesen, als sein jetziges Dasein? Mingox, Mingox, Mingox … Auch nach dessen Weggang drehte sich sein ganzes Denken nur um ihn! Seit ihm dies bewusst geworden war, suchte Lomax eine Lösung, seine Frustration abzubauen und so vielleicht doch noch einmal in die eigene Spur zu kommen. Sich zusammenzureißen und nach eigenen Erfolgen zu streben, ohne im viel zu langen Schatten seines Vorgängers zu verkümmern. Er schloss seine Tür sorgsam hinter sich ab, wollte nicht gestört werden. Die Erntearbeiter wussten, was zu tun war, wussten, wie sie mit der Protomaterie zu verfahren hatten, die sie schnitten. Sie würden zu den Formern gebracht werden, um zu den tausend Dingen gemacht zu werden, die in Tovah'Zara gebraucht wurden. (Wurden sie das? Die Nachfrage, so viel hatte selbst Lomax im Laufe der Zeit begriffen, ging stetig zurück; es hieß, weil auch die Populationen innerhalb Tovah'Zaras beständig schrumpften.) Rasch bewegte sich Lomax in den hintersten Bereich seines Hau-
ses, wo der von ihm zweckentfremdete Andachtsraum lag, in den es ihn immer öfter und mit fast schmerzlicher Intensität zog. Er glitt hinein und schloss auch hier die Tür hinter sich, obwohl niemand ins Haus kommen konnte, wenn er es nicht wollte. In einem schalenartigen Gefäß in der Mitte des nur spärlich möblierten Zimmers lag der Klumpen, der es Lomax angetan hatte. Ein Batzen Protomaterie vom Allerfeinsten. Die beste Qualität, die er den Wiesen hatte abtrotzen können. Denn auch sein Vorhaben war anspruchsvoll. Mehr als das. (Es ist wahnsinnig! Du musst damit aufhören! Du ruinierst dich, wenn du dir nicht endlich helfen lässt. Es gibt Mediker. Du musst dich nur an sie wenden. Sie sind diskret. Sie werden an niemanden weitertragen, unter welchen Problemen du leidest – tu es, sonst bringt es dich noch um!) Er hörte nicht auf die warnende Stimme seines Unterbewusstseins, das mittlerweile klarer dachte als sein eigentliches Ich. Mit einem Seufzer entlud sich alle Anspannung, als seine Hände in die Masse tauchten und sein Hirn die stimulierenden Impulse aussandte, die zusammen mit seiner Fingerfertigkeit Struktur in den Klumpen brachte, der immerhin schon vage andeutete, zu was er einmal werden sollte. Aber obwohl alles in ihm nach einem schnellen Resultat schrie, bezähmte sich Lomax, weil er nach Perfektion strebte. Nach dem Bestmöglichen. Sonst hätte er gar nicht damit anfangen dürfen. Noch besaß der Klumpen kaum Ähnlichkeit mit einem Luuren, geschweige denn mit Mingox – aber wenn er geduldig daran formte und all sein Wollen hineinlegte, würde er zu Mingox werden. Zu einem Ebenbild des Grandiosen, an den ohnehin alles in den Wiesen erinnerte. Der allgegenwärtig war, weil Lomax ihn nicht vergessen konnte. Und je länger er mit ihm lebte, mit dem Unfehlbaren, desto mehr schwoll die Abscheu vor ihm an. Abscheu und Hass. All das, was die Puppe, die er hier formte, eines Tages, nach ihrer Vollendung, würde büßen müssen. Oh, wie er sich danach sehnte. Wie er – »Lomax!«
Eingetaucht in den Protoklumpen, erstarrte der Erste Verwerter zunächst. Langsam zog er seine Arme aus der Masse und drehte sich in die Richtung, aus der der Ruf erklungen war. Zuvor aber schon spürte er, wer ihn besuchte. Ihm wurde heiß und kalt in immer schnellerem Rhythmus. Er suchte nach Ausflüchten, aber ihm war klar, dass er einen Gesegneten nicht betrügen konnte. Völlig in sich gesunken sah er den Eindringling vor sich stehen. Unweit von ihm flimmerte eine Transitweiche. So war er also hereingekommen. »Geseg-« »Schweig. Und reinige dich. Ich nehme dich mit.« Bittersüß die Stimme. Immer noch voller Güte, aber auch mit hörbarem Unmut. Lomax torkelte auf den Erleuchteten zu. »Tötet mich gleich. Ich bin unwürdig. Ich –« »Mich interessiert nicht, welchen kranken Beschäftigungen du privat nachgehst. Ich habe eine Aufgabe für dich. Und das Problem, dass du nach Mingox' Ausscheiden der Beste bist, der zur Verfügung steht.« Der Beste. Irgendetwas in Lomax sprang um. Wie ein klickendes Relais, das sein Denken und Fühlen schlagartig in andere Bahnen lenkte. Neues Selbstbewusstsein erwachte wie angeknipst. »Ich fühle mich geehrt …« »Ich bin Farrak. Du hast von mir gehört?« »Natürlich, Gesegneter. Mingox –« Wie Galle schlüpfte der Name, den zuvor auch der Erleuchtete ausgesprochen hatte, auf seine Zunge. Er verstummte. »Gut. Und jetzt tu, was ich dir sagte: Reinige dich. Wir brechen unverzüglich auf.« Lomax wagte nicht zu fragen, wohin. Im Nu hatte er sich gesäubert – von allen Spuren der Protomaterie, der Mingox' Ruch anhing, befreit – und wandte sich dem Gesegneten zu, der bereits neben der Transitweiche stand. »Du gehst zuerst«, befahl er.
Lomax schlüpfte hinein. Auf der anderen Seite erwartete ihn ein Raum mit einem riesigen Panoramafenster – und der Schock, den auch Mingox schon hatte durchleben müssen. Trockenheit. Lomax war verblüfft, wie schnell seine Atmung sich auf die neuen Erfordernisse einstellte. Hinter ihm glitt der Erhabene in den Raum. Erst jetzt bemerkte Lomax, dass ihn ein Feld umgab, das er jetzt abschaltete und das ihn offenbar vor dem Wasser geschützt hatte. Die Gesegneten hatten keine Kiemen. »Du weißt, wo wir sind?« Farrak kam ohne Umschweife zur Sache. Lomax' Blick hing an den Scheiben, die den Raum gegen das Draußen abschirmte. Das Draußen war ein gigantischer Abgrund aus Leere, wie es schien, doch es gab auch Staunenswertes zu sehen. Schimmernde, vielfach verschachtelte Bauten, die zusammen nur eines darstellen konnten … »Die sagenumwobene Silberstadt«, hauchte er. Seine Augen und die Schleimhäute seines Mundes trockneten rasch aus. Hier brauchte die Umstellung offenbar etwas länger. Lomax beachtete es jedoch kaum. Gebannt nahm er die Bilder in sich auf, die seine neue Umgebung ihm bescherte. Hierher also war Mingox abberufen worden … Mingox! Schlagartig wurde ihm bewusst, was Farrak vorhin gesagt hatte. »Gesegneter …« »Du hast Fragen, ich weiß. Viele Fragen. Aber ich muss dir sagen, dass ich in keiner sehr gelösten Stimmung bin. Zu viel ist geschehen. Mingox ist eines der Probleme, mit denen ich und die anderen Gesegneten kämpfen. Also begnüge dich damit, dass er verschwunden ist … und dass du eine Aufgabe übernehmen sollst, die sonst er ausgeführt hätte. Ich habe vollstes Vertrauen in dich. Enttäusche es nicht.« »Was … soll ich tun, Erleuchteter?«
Farrak führte ihn zu einem seltsamen Apparat. »Weißt du, was das ist?« Lomax verneinte wahrheitsgemäß, aber ganz offenbar passte der Gegenstand nicht wirklich harmonisch in diese Umgebung. Er war aus dem Stoff gemacht, der auf den Protowiesen wuchs und von den früheren Herren, den Vaaren, sogar für Schiff- und Waffenbau genutzt worden war. Die Gesegneten verwendeten andere Materialien. Heutzutage fand Protomaterie nur noch bei den verbliebenen Ureinwohnern Tovah'Zaras Verwendung. »Mingox hat es gebaut. Damit half er uns, ein Objekt in unseren Besitz zu bringen, das seit Jahrzehntausenden durch die Geschichte der Treymor geistert … und auch in euren Annalen zu finden ist. Kennst du es?« Farrak führte eine Bewegung aus, und vor ihm entstand aus dem Nichts ein dreidimensionales Bild. Es zeigte ein Objekt, das entfernte Ähnlichkeit mit den Schiffen der Vaaren hatte, die schon lange nicht mehr durch Tovah'Zara reisten. »Leider nicht.« Lomax schluckte. »Wo ist dieses … Objekt jetzt? Ein Fahrzeug, nicht wahr?« »Ein Raumschiff. Du weißt, dass es jenseits der Wasser das Weltall gibt?« »Woher auch die Gesegneten kommen?« »Woher auch die Gesegneten kommen«, bestätigte Farrak. Klang er amüsiert? »Und mit … Mingox' Apparatur habt Ihr das Raumschiff zu Euch holen können.« Farrak schwieg kurz, dann unterrichtete er Lomax über die Komplikationen, die dabei aufgetreten waren. »Derjenige, den Ihr mit dem Apparat ansprechen und beeinflussen konntet, verschwand ebenso wie der Rest der Besatzung?« »Spurlos«, bekräftigte Farrak. »Aber ich habe Hoffnung, mit deiner Hilfe die Spur von Johncloud wieder aufzunehmen.« »Johncloud …« »Der Name desjenigen, der das Legendenschiff befehligte. Mingox
beeinflusste ihn über Protopartikel, die in seinem Körper kreisen, seit er dereinst … du würdest überrascht sein, von welchen Zeiträumen ich spreche … schon einmal in Tovah'Zara war. Damals wurden ihm die Partikel eingeimpft, um ihn an die neue Umgebung anzupassen. Sie veränderten seinen Metabolismus. Offenbar wurde ein Großteil später wieder beseitigt, der alte Zustand wiederhergestellt. Doch das, was in ihm verblieb, reichte Mingox, Johncloud anzuwählen … und nach und nach gefügig zu machen.« »Ich verstehe. Aber wieso konnte er verschwinden? Wohin? Mit all den anderen …« Lomax legte die Finger in die Wunde. Er begriff es zu spät. Aber Farrak war entgegen seiner eigenen Aussage heute sehr geduldig. Und überaus nachsichtig. »Das ist die Frage, die sich die Gesegneten stellen, seit es geschah … und auch Mingox verloren ging. Wir glauben nicht an Zufall. Vielmehr sind es deutliche Hinweise darauf, dass Tovah'Zara trotz aller Bemühungen, es den Blicken Fremder zu entziehen, in den Fokus von mächtigen Feinden gerückt sein könnte.« »Feinde …«, hauchte Lomax. »Es wäre sinnlos, es dir erklären zu wollen«, wiegelte Farrak ab. »Die, von denen ich spreche, haben ihre Fußstapfen an vielen Orten im Kosmos hinterlassen. Wir kennen sie seit dem Denkwürdigen Tag. Wo immer wir können, fügen wir ihnen Schaden zu. Denn auch sie richten Schreckliches an. Wo die Treymor sind, ist kein Platz für Bractonen … Aber ich rede zu viel. Mach mich stolz, Lomax, stolz auf dich. Du bist ein Erwählter. Du darfst mir dienen. Traust du dir zu, Mingox' begonnene Arbeit fortzusetzen, dich in seinen … Apparat einzufühlen und die Fährte des Verschwundenen aufzunehmen?« »Ja, o Meister, o Gesegneter, ich traue es mir zu. Ihr macht mich glücklich.« Für einen Moment sah es so aus, als wollte Farrak zynisch erwidern: »Deine Befindlichkeit ist mir egal. Für mich zählt nur, was ich dir aufgetragen habe.« Aber der Gesegnete lächelte lediglich, lächelte, wie nur ein Er-
leuchteter es vermochte. Und Lomax wurde ganz warm ums Herz. Mit Inbrunst stürzte er sich auf die Apparatur, die Mingox erschaffen hatte. Wäre Lomax noch in der Verfassung von vor Farraks Erscheinen gewesen, hätte ihn die Genialität und Perfektion von Entwurf und Ausführung endgültig niedergeschmettert. So aber war er dankbar um die wunderbare Vorlage. Um ein Instrument, mit dem es ein Kinderspiel sein würde, Farraks Wunsch zu erfüllen. Schneller als erwartet, hatte er sich eingearbeitet und begann mit der Jagd. Das Gerät war auf individuelle Partikel geeicht, die nur einmal in Äonen geformt worden waren. Damals, in sagenumwobener Zeit … Lomax verlor sich völlig in seiner Suche. Er merkte gar nicht, wie Farrak den Raum verließ. Wie im Rausch eilte sein Geist durch die Weiten Tovah'Zaras … und spürte dem Verlorengegangenen nach. Johncloud. Kein Zweifel, er würde ihn finden. Für den Gesegneten. Und um der eigenen Zukunft willen …
12. »Ich weiß, was passiert ist«, sagte das alte Protowesen, von dem Scobee niemals vermutet hätte, dass es noch in irgendeinem Winkel des Aquakubus hauste. »Ich weiß alles über das Schicksal meiner Erschaffer. Eure Schiffsspeicher sind ein unbezahlbarer Wissenspool. Meine Streiter brachten mir, was sie in der Kürze der Zeit überspielen konnten.« Mit Streiter meinte er zweifellos die Echsenartigen, die Scobee bei früheren Besuchen des Kubus nie irgendwo bemerkt hatte. Zugleich bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Taurt hatte Kenntnis von Sobeks Tod erhalten, von dessen wie auch dem Tod der übrigen Mitglieder des foronischen Septemvirats. Es gab nur eine einzige Überlebende – und die hatte der Milchstraße den Rücken gekehrt, versuchte gerade in der Großen Magellanschen Wolke Mecchits Erbe anzutreten und die dortigen Foronen in eine bessere Zukunft zu führen. Zwischen Siroona und der RUBIKON-Crew hatte es Frieden gegeben. Wusste und respektierte Taurt das auch? »Du bist … Taurt, oder? Seinerzeit gab es nur ein Wesen, das aussah wie du. Normalerweise wärst du jetzt mein Feind – der Feind aller, die du aus der RUBIKON hast holen lassen.« »RUBIKON … ja, so nennt ihr die SESHA von damals. Die Arche, für deren Flüchtlinge all das …« Seine Geste schloss zweifelsfrei den gesamten Kubus ein. »… überhaupt gebaut wurde. Und noch einmal: Ja, du hast recht, normalerweise wärt ihr Feinde. Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Tovah'Zara hat sich gewandelt. Und letztlich habe auch ich mich verändert. Ich bin … darf man das über sich selbst sagen? … reifer geworden. Weiser. Nenn es meinetwegen altersmüde. Aber das Gute an dieser Art von Müdigkeit, die daher kommt, dass man kaum etwas noch nicht gesehen, erlebt oder erlit-
ten hat … ob nun eigene Anschauung oder Berichte anderer … das Gute an ihr ist, dass man aufhört, vorschnelle Urteile zu fällen, vorschnell zu handeln. Einigen wir uns darauf: Einst waren wir Feinde, weil die Umstände es erforderten. Was wir heute sind, wird sich erst noch zeigen müssen. Ich jedenfalls bin geneigt, dir und den deinen vorbehaltlos gegenüberzutreten – mit der gebotenen Vorsicht, versteht sich.« Scobee starrte die eindrucksvolle Gestalt an, die damals nackt gewesen war, nun aber Kleidung, eine locker fallende Tunika aus rubinrotem Stoff, trug, gerade so, als hätte sie über die Jahrzehntausende Scham entwickelt. Alles war möglich. Aber … durfte sie den Aussagen Taurts trauen? Welchen Grund hätte er, dich zu belügen? Du bist in seiner Hand. Er hat euch von der RUBIKON geholt, sonst wärt ihr den Treymor in die Hände gefallen. Nun, da du das weißt, müsstest du ihm eigentlich dankbar sein. Und dies auch zeigen. Eine andere Sache war ihr jedoch zunächst wichtiger. »Wo ist Jarvis? Der, der eher dir als mir vergleichbar wäre. Er war damals schon dabei: ein Freund, den die Umstände in die ehemalige Rüstung eines Foronenführers zwangen, um wenigstens als Bewusstsein weiterexistieren zu können.« Taurt bemerkte ihre Erregung. Er machte eine beschwichtigende Geste, wie Scobee sie oft bei Foronen beobachtet und die sich offenbar bei ihm festgesetzt hatte. »Niemand wurde nachhaltig verletzt oder gar getötet. Sie sind alle … vom Schiff genommen worden. Bevor die Unwos, wie mein Junges sie schimpft, es tun konnten.« »Unwos? Und was meinst du mit … Junges? Du hast doch nicht …?« »Leider nicht so, wie ich es mir wünschen würde. Ein eher missglückter Versuch der Reproduktion, das muss ich zugeben. Aber ich liebe ihn trotzdem, mit all seinen Fehlern, die dir bestimmt nicht entgangen sind. Und er ist mir tausendmal lieber als meine ersten diesbezüglichen Versuche … für die ich mir die Foronen zum Vor-
bild nahm … Ein Fiasko. Keine der Schöpfungen funktionierte auch nur annähernd zufriedenstellend. Außerdem war es ein zunehmend befremdlicheres Gefühl, diese Form wählen zu wollen. Inzwischen habe ich mich von ihnen distanziert – was ich dem Kleinen Arto niemals antun könnte.« Erst in diesem Moment begriff Scobee, von wem der Kleine Arto mit deutlichem Respekt gesprochen hatte. Und wer der Tausendfüßlerfisch in Wahrheit war. Taurts … Spross? Und die Foronen in den Vitrinen … waren deshalb »Brüder« des Kleinen Erl, weil Taurt auch mit ihnen einmal versucht hatte, sich Gesellschaft oder tatsächlich Nachwuchs zu schaffen … Irgendwie war das einen Tick zu bizarr für ihr Empfinden. »Die Unwos«, sagte das Protogeschöpf, »sind laut meinem Kleinen die ›Unheimlichen Wohltäter‹ – in Anspielung darauf, dass sie selbst sich von den geknechteten Völkern als Heilsbringer feiern lassen.« »Die Treymor.« »Ihr nennt sie so, ja, die Treymor.« »Unser«, tastete sich Scobee langsam vor, »wie ich hoffe, gemeinsamer Feind.« »Darüber lässt sich reden.« »Wo ist Jarvis jetzt? Und … was wurde aus John? Befindet er sich noch auf der RUBIKON … und inzwischen bei den Treymor? Er war von ihnen zuletzt völlig umgedreht worden, geistig wie körperlich.« »Jarvis ist ganz in der Nähe – Johncloud nicht. Genau der Umstand, den du ansprichst, machte es erforderlich, ihn von euch zu trennen.«
Farrak trat in das Stadtsegment, in das Osmon den Fund hatte bringen lassen, den einer seiner Leute an Bord des Legendenschiffes gemacht hatte. »Wurden die gelöschten Datensätze aus den Speicherbänken des Schiffes inzwischen wiederhergestellt, rekonstruiert?«, wandte er sich an den Anführer seiner Leibwache, einer Elitetruppe von Trey-
mor, wie jeder der neun Oberen sie sein Eigen nannte. »Du hattest Weisung, dich darum zu kümmern.« Osmon wirkte so nervös, wie Farrak ihn noch nie erlebt hatte. »In Teilen konnten sie bereits wiederhergestellt werden, ja – und die wieder lesbar gemachten Fragmente enthalten auch Informationen über dieses Wesen hier.« »Es wurde konserviert.« »In gewisser Weise. Die Vorrichtung, die Ihr hier seht, Herr, versetzt seinen Körper in Stasis. Das heißt, für das Wesen vergeht innerhalb des Blocks keinerlei Zeit. Solange die Aggregate, die wir als Ganzes herausgeschnitten und abtransportiert haben – ihre Versorgung ist autark –, funktionieren, kann es ewig in diesem Zustand gehalten werden.« »Kann man es daraus lösen?« »Wir sind dabei, das Verfahren zu studieren, um das sich an Bord keine detaillierten Pläne finden ließen. Und auch die KI gab vor, keine zu besitzen.« »Vielleicht befanden sie sich auf den gelöschten Partitionen, die die Bord-KI, wie im Grunde alles an Information, bei unserem Eindringen vorsätzlich unbrauchbar gemacht hat.« Osmon bestätigte dies. Dabei nestelte er an seinem Gürtel. Irgendetwas beschäftigte ihn. Er war nicht er selbst. Farrak ignorierte und tolerierte es. Noch. Stattdessen trat er näher an den Block heran, der wie aus einer Eismasse herausgeschnitten wirkte. Nur strahlte er keinerlei Kälte aus. »Eine beeindruckende Technologie«, murmelte er. »Sind wir zu solchem auch in der Lage?« »Es wird uns nicht schwer fallen, die Konstruktion zu durchschauen – und somit werden wir in Kürze dazu in der Lage sein.« Farrak wusste nicht genau, ob ihn diese Antwort zufrieden stellte. Das Eigentliche, was hinter seiner Frage stand, hatte Osmon nicht beantwortet. Für eine lange Zeit hatten die Treymor davon profitiert, Technologien anderer Völker zu übernehmen. Eigenentwicklungen waren erst spät hinzugekommen.
Wo wären wir heute ohne das Wissen anderer? Es missfiel ihm, dass selbst ein so altes Schiff wie das nun sichergestellte, noch Überraschungen wie die Stasisvorrichtung bereit hielt. »Zurück zu dem Wesen«, sagte er, den Blick über das verschwommen sichtbare Etwas streifen lassend, das in den Block aus Wasauch-immer eingesperrt war. »Was hast du über es herausgefunden? Wer ist es? Warum befindet es sich in diesem todesähnlichen Zustand? War es krank? Hoffte man auf Zeitgewinn, um es in ferner Zukunft heilen zu können?« »Es ist … viel weitreichender in seiner Konsequenz, Herr. Ich war erschüttert, als ich es erfuhr – und bin es noch. Niemand konnte ahnen, auf ihn zu stoßen. Niemand wusste, dass er in Verbindung mit denen stand, die dieses Schiff bewohnten …« So aufgelöst hatte Farrak seinen Dona tatsächlich noch nie gesehen. »Fasse dich. Was geht hier vor? Du brauchst mir nur die nüchternen Fakten zu liefern. Um eine Bewertung kümmere ich mich schon selbst!« Osmon zuckte zusammen. Aber offenbar hatte er diese Rüge gebraucht, denn endlich kehrte seine sonst so vorbildliche Selbstbeherrschung zurück. »Unsere Vorfahren waren mit ihm konfrontiert – ohne seinen Namen zu kennen. Sie kämpften gegen den Effekt, den er heraufbeschworen hatte … lokalisierten sogar den Ort, von dem aus er wütete … Aber zu Gesicht bekamen sie ihn nicht.« Farrak überlegte, was die kryptischen Worte bedeuten mochten. Bevor er Osmon erneut anfahren konnte, fuhr dieser bereits fort. »In den Datensätzen wird er Darnok genannt.« »Darnok«, wiederholte Farrak. Ein Name, der ihm nicht das Geringste sagte und auch nicht Osmons Verhalten erklärte. Erst recht nicht entschuldigte. »In unsere Annalen ist er als der Große Verheerer eingegangen. Als derjenige, der den Untergang unzähliger Zivilisationen heraufbeschwor, weil er diese Galaxie mit Kräften geißelte, die alle Hoch-
technik versagen ließ. Zerstörte. Ihr wisst, Herr, was ich meine – und somit wisst Ihr auch, von wem ich spreche.« Farrak starrte ihn ungläubig an. Darnok. Darnok war … die Geißel der Galaxis? Ohne … ohne Hilfe … hätten die Treymor jene Zeit so wenig überstanden wie die anderen Völker, die daran zerbrochen waren! »Du musst dich irren. Du musst die Daten missverstanden oder fehlinterpretiert haben. Osmon … überprüfe sie. Geh noch einmal alles durch.« »Das ist längst geschehen, Herr. Mehrfach. Ich würde Euch niemals einem solchen … Schock aussetzen, wenn ich nicht zweifelsfrei wüsste –« »Nichts schockt mich, Unwürdiger! Merk dir das für alle Zukunft!« Osmon neigte das Haupt. »Ich bin unwürdig. Ich habe mich vergessen. Bestraft mich, Herr.« »Du bist nicht unwürdig. Du bist nur schwatzhaft wie eine BrutAmme! Kontrolliere das, dann bleiben wir einander zugetan. Ich schätze dich. Ich würde ungern einen Nachfolger ernennen.« Das war schon fast zu viel des Zuspruchs für einen niederen Treymor, erkannte Farrak. Aber gesagt, war gesagt. Osmon beruhigte sich wieder. Farrak trug ihm auf: »Bleib vor Ort. Informiere mich, sobald der Weckvorgang durchgeführt werden kann.« »Ja, Herr.« Osmons Blick fiel auf den Verheerer im Inneren des Blocks. »Und wenn Ihr ihn töten wollt, Herr – sobald Ihr seiner überdrüssig werdet –, ich würde mich geehrt fühlen, es für Euch tun zu dürfen.« »Ich denke an dich, Osmon. Zu gegebener Zeit komme ich vielleicht auf dein Ansinnen zurück …«
13. Für Jarvis waren die letzten Stunden (oder waren es Tage?) eine einzige Aneinanderreihung von Niederlagen gewesen. Wie oft hatte er versucht, seinen Körper neu zu stabilisieren, wieder in die Form zu bringen, die er nicht nur bevorzugte, sondern schlicht brauchte, um sich annähernd wie ein Mensch zu fühlen. Ein auf Prothesen angewiesener Mensch zwar, aber immerhin. Nur als Pfütze aus Nanoteilchen dazuliegen und um die Kontrolle über die angeschlagenen Teilchen zu ringen, war kein Leben, nicht einmal ein Dasein. Irgendwann war es ihm wenigstens gelungen, rudimentäre Form anzunehmen. Und von da an hatte er stetig Fortschritte gemacht. Aber als sich die Tür seines Kerkers öffnete, war dieser Zustand noch sehr frisch. Er war noch ganz mit sich beschäftigt und eigentlich nicht in der Stimmung, sich bereits mit der Lage als solcher auseinander zu setzen. Doch darauf nahm die Frau, die hereinstürmte, natürlich keine Rücksicht. Es wäre nicht die echte Scobee gewesen, wenn sie ihn nach seinen Bedürfnissen gefragt hätte. »Jarvis! Alter Simulant! Ich hörte bereits, wie du dich in deiner Unpässlichkeit suhlst …« Das war die Höhe. Drohend wandte er sich gegen die Frau, die zu sehen ihn insgeheim mehr als nur ein bisschen erleichterte. »Scob … Unkraut vergeht nicht, was?« »Sieht man ja an dir.« Sie grinste. »Woher kommst du? Oder anders gefragt: Wo sind wir? Das ist nicht das Schiff. Zuletzt waren da die hässlichen Echsen, die so unfreundlich waren, auf uns zu ballern …« »Das ist eine längere Geschichte.« »Schieß los.«
»Ich dachte, genau davon hättest du dein Nanonäschen voll.« »Du weißt, was ich meine. Dass du so entspannt hier reinstiefelst, kann eigentlich nur Gutes bedeuten.« »Halbwegs.« Er trat ihr leicht schwankend entgegen. »Wie seh ich aus?« »Könntest mal wieder ein Styling vertragen.« Er nickte düster. »Ich weiß. Die Schuppe, die ich von Kargor bekam, funktioniert nicht mehr.« »Mir wurde versichert, dass das nur ein temporäres Problem ist.« »Und wer will das so genau wissen?« »Ein alter Bekannter.« Sie überlegte. »Ein uralter Bekannter.« Und mit diesen einleitenden Worten brachte sie ihn auf den Wissensstand, den sie selbst hatte.
Die Reise zu seinem Ziel, auf das er sich mit seinem Entführer geeinigt hatte, war unvergleichlich langwieriger als der Schritt durch eine Transitweiche. Taurt, wie der Feind der Gesegneten (Gesegnete, pah!, dachte Mingox und schauderte) sich nannte, hatte ihn in die Obhut von Kriegern gegeben, die Mingox nicht kannte. Dass solche wie sie innerhalb Tovah'Zaras lebten, war ihm vollkommen neu. Aber sie behandelten ihn gut. Und irgendwann erreichten sie die Station in einem der kleineren Weltenkugeln, die innerhalb des Wasserwürfels trieben. Von außen sah der Brocken unbewohnt aus. Aber die Kriegereskorte geleitete Mingox ins Innere des Felsens. Dort gab es eine versteckte Station, wiederum wasserfrei gehalten. Und in ihr untergebracht war der Grund von Mingox' Rekrutierung. Der Luure trat in den eigens auf die Bedürfnisse des ruhig gestellten Patienten abgestimmte Kammer, fast im Kern des treibenden Felsens. Er sah völlig anders aus als ein Treymor, Luure oder sonstiges Lebewesen, das sich in Tovah'Zara aufhielt. Am ehesten ähnelte er noch demjenigen, der Mingox hierher geschickt hatte.
»Mensch«, hatte Taurt sie genannt. Taurt. Mingox rief sich die Unterhaltung mit dem absonderlichen Wesen in Erinnerung, die den aufklärerischen Bildern folgte. Taurt hatte ihm so viel Schlimmes über die Treymor verraten, dass es Mingox ein Würgegefühl bereitete, wenn er an die Begegnungen mit Farrak zurückdachte. Oder an das, was er in dessen Auftrag getan hatte. Du bist also der arme Johncloud, dachte Mingox und trat dicht neben das gelgefüllte Bett, in dem der Humanoide lag. Im Grunde war es eine Wanne, deren Umrandung aber nur etwa die Spanne einer der Hände des bewusstlosen Mannes hoch war. Das Gel diente seiner Ruhigstellung. Gleichzeitig führte es der Haut Wirkstoffe zu, die den Muskelabbau verhinderten. Mingox wusste nicht genau, wie lange Johncloud hier schon untergebracht war. Aber sein Zustand war gut. Er hatte sowohl die Strapazen des Transports, als auch die Einwirkungen des Apparats, mit dem Mingox ihn im Auftrag der Eroberer drangsaliert hatte, gut überstanden. Als der Luure eine Weile auf den Schlafenden starrte, bemerkte er eine flüchtige Verformung, die dessen Äußeres erfasste. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als würde Chitin Hautpartien ersetzen und der Kopf sich zur Fratze eines Treymor verformen. Nachwehen der Manipulationen, die Mingox ausgelöst hatte. So friedlich wirkte der Ruhende. Aber war er es tatsächlich? Was wusste Taurt über ihn? Genug, um seinem Urteil trauen zu können? »Du weißt, was du zu tun hast?«, knarzte einer der Krieger, die ihn begleiteten. Es klang ungeduldig, wie um Mingox zu drängen, endlich aktiv zu werden. »Wenn du weißt, was deine Aufgabe ist«, gab der Luure zurück. »Ihr seid mitgekommen, um mich zu beschützen. Nicht, um mir zu sagen, was ich wann wie zu erledigen habe.« »Vielleicht«, erwiderte der martialisch aussehende Krieger. »Vielleicht aber auch nicht. Taurt vertraut uns. Taurt ist unser Herr. Wir wissen, dass du bis vor kurzem noch nach der Pfeife des Terrors ge-
tanzt hast. Es wird Zeit, dass du Taten sprechen lässt, die beweisen, wie ernst es dir mit dem Seitenwechsel ist. Die Tyrannen können jeden Augenblick auf uns aufmerksam werden. Nur wer schnell und klug ist, überlebt unter ihrem Regime, ohne von ihnen wahrgenommen, verfolgt und besiegt zu werden!« Einen so wortreichen Vortrag hätte Mingox den Soldaten Taurts nach der fast schweigend verlaufenden Reise gar nicht zugetraut. »Geschwafel!« Er machte eine barsche Bewegung und verlangte: »Her mit meinem Koffer!« Der »Koffer« war eine große Truhe, die zwei der muskelbepackten Krieger ins Innere des Felsens getragen hatten, bis hierher in die versteckte Station. Der Inhalt der Truhe war von Mingox persönlich aus dem Arsenal zusammengestellt worden, das Taurt für ihn geöffnet hatte. Unglaublich, was dieses Wesen in den Tiefen seiner Basis hortete. Und noch unglaublicher, dass sich darunter Gerät befand, das fraglos der Kunstfertigkeit meisterhafter Luuren entsprungen war und bisweilen alles in den Schatten stellte, was Mingox selbst jemals erschaffen und gestaltet hatte. Der Moment, in dem er sich in dem Arsenal mit Nützlichem versorgte, hatte ihm die Augen geöffnet, dass die Luuren-Gesellschaft der Gegenwart nur ein jämmerlicher Abklatsch dessen war, was die Luuren in ferner Vergangenheit – in der Blütezeit ihrer Kultur – dargestellt hatten. Wehmut und Traurigkeit schlich sich in Mingox' Herz. Dann wandte er sich dem Wesen Johncloud zu … und tat alles, was in seiner Macht stand, um ihn von dem verderblichen Erbe, das ebenfalls aus jener Vergangenheit stammte, zu befreien. Aber er war noch nicht halbwegs damit erfolgreich, als Taurts Schutztrupp Alarm schlug.
Lomax arbeitete sich akribisch durch die Raster, in die das Suchgerät Tovah'Zara unterteilte. Es war speziell auf die individuelle Ausstrahlung von Johnclouds Protopartikeln sensibilisiert. Die entspre-
chenden Werte hatten die Gesegneten in alten Aufzeichnungen gefunden. Mehr hatte Lomax nicht darüber erfahren. Mehr interessierte ihn auch nicht. Ein Nebeneffekt des Scanvorgangs, den Lomax so nie beabsichtigt hatte, war jedoch, dass er – fast beiläufig – auf eine schreckliche Wahrheit stieß, die ihn vorübergehend aus der Bahn zu werfen drohte. Gleichwohl das von Mingox gefertigte Gerät auf einen ganz bestimmten Proto-Träger justiert war und dessen Fühler nur bei ihm mit Macht ausschlagen würden, reagierte es durchaus auch auf jeden Luuren innerhalb Tovah'Zaras. Denn auch Luuren wurden durch ihren permanenten Umgang mit Protomaterie und ihre Arbeit mit diesem Rohstoff zu Partikelträgern. Partikel, die keinem bestimmten Nutzen folgten, keine Funktion hatten, aber latent in ihren Adern kreisten. Und so erfuhr Lomax, als er den von Luuren preferierten Sektor innerhalb von Tovah'Zara durchleuchtete, etwas, was er zunächst gar nicht glauben konnte. Es widersprach der landläufigen Lehre und allem, was den Bestellern der Protoweiden von Seiten der Obrigkeit vermittelt wurde. Lomax war sicher, dass selbst Mingox daran geglaubt hatte. Und womöglich glaubte er, wo immer er jetzt war, auch heute noch daran, denn er musste nicht zwangsläufig auf das gestoßen sein, was Lomax gerade entdeckt hatte. Er war so aufgewühlt, dass er seine Suche kurz unterbrechen musste, weil er aus der Trance gerissen wurde, in die er verfallen war. Er zog den Kopf aus der dafür vorgesehenen Einbuchtung in Mingox' Konstruktion, und seine Blicke suchten nach Farrak, um den Gesegneten zur Rede zu stellen. Zur Rede zu stellen. Er erschrak über die Vehemenz des eigenen Gedankens. Der Gesegnete war nicht im Raum. Niemand war da.
Lomax löste sich von dem Konstrukt und trat an das große Panoramafenster. Der Blick in den Abgrund, der Blick auf Teile der Silberstadt und die ringsum gähnende Leere, hielt ihm seine eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen. Er kehrte zur Maschine zurück und versuchte, den unterbrochenen Faden wieder aufzunehmen. Seine Gedanken aber weilten noch lange bei den Luuren – die da nicht mehr waren. Konnte es wirklich sein, dass die Protowiesen, über die er, Lomax, nach Mingox' Ablösung gebot, die einzigen noch von Luuren bevölkerten Gebiete Tovah'Zaras waren? Dass die Zahl der heute lebenden Luuren so gering war? Andererseits … wenn es tatsächlich nur dieses eine Gebiet mit Luurenpopulation gab, aus dem Lomax und Mingox stammten, wurde es schlagartig nachvollziehbarer – und auch glaubwürdiger –, dass erst Mingox, dann Lomax vom Ruf der Gesegneten ereilt worden waren. Mingox war der Beste, ich offenbar tatsächlich in der Rangliste direkt hinter ihm … Deshalb war Lomax nun dabei, für Mingox einzuspringen und Johncloud für die Gesegneten aufzuspüren. Eine Weile war er niedergeschlagen und wusste nicht mehr, wie er all dies zu bewerten hatte. Warum wurde den Luuren vermittelt, dass sie reich an Zahl waren und Ehrgeizlinge – wie Lomax – irgendwann die Chance hatten, als Erste Verwerter von anderen Gebieten aufzusteigen? Lomax wurde abgelenkt, weil … … weil sein Suchen jähen Erfolg hatte. Treffer! Die Muster der Partikel, die er über das Scannersystem sah, waren eindeutig. Sofort zeichnete Lomax die Koordinaten auf und zog sich aus der Apparatur zurück. Diesmal war Farrak da, als hätte er es geahnt. »Ich beglückwünsche dich«, sagte er, nachdem Lomax ihm wie
geistesabwesend den Erfolg meldete. »Gesegneter …« »Ja?«, fragte Farrak gütig, während er die Koordinaten entgegennahm. Es schnürte Lomax die Kehle zu. Er wollte, aber er konnte nicht über die Luuren sprechen, sein Volk. »Nichts«, krächzte er, dem Bann des Wesens erliegend, das vor ihm stand, »es ist nichts, Gesegneter – gar nichts …«
»Wo ist John?« Jarvis' Gedanken waren klar zentriert. Nachdem er selbst aus dem schlimmsten Schlamassel heraus war, kreiste sein Denken nur noch um den, der es nicht in Taurts Basis geschafft hatte. Über das Warum erhielt er von Scobee Auskunft. »Taurt hat irgendwie spitz gekriegt, wie die Treymor John manipulieren. Deshalb hat er ihn vorsorglich weit von hier entfernt untergebracht. Aber er kümmert sich um ihn. Er hat bereits alles arrangiert, um John von seinem Fluch zu befreien.« »Seinem Fluch, aha. Wie pathetisch. Und auf welche Weise erfolgt die Beeinflussung?«, fragte Jarvis nur leidlich beruhigt. »Via Protopartikel – du erinnerst dich sicher an unseren ersten Aufenthalt im Kubus, und wie wir alle damals von den Luuren präpariert wurden, um unter Wasser überleben zu können. Später wurden uns die aus spezieller Biomasse hergestellten Wandler wieder entfernt – nur bei einem gelang das nicht oder nicht in vollem Umfang.« »John.« »Genau.« »Aber wer soll das heute noch wissen? Zur Erinnerung: Für uns sind ein paar Jährchen seit damals vergangen – für die Kubusbewohner inklusive der Treymor aber Jahrzehntausende. Ich glaube, die neueste Schätzung liegt bei rund dreißigtausend Jahren.« »Die Treymor sind sehr umtriebig. Offenbar sind sie auf alte Aufzeichnungen gestoßen. Damit identifizierten sie unser Raumschiff,
und von da an zu John und seinem Handicap war es nicht mehr weit.« Jarvis schluckte die Erklärung. Kurz darauf platzte Taurts »Junges« – der Kleine Arto – in ihre traute Zweisamkeit. »Dumme Sache!«, schrillte er. »Riesig dumme Sache! Euer Freund sitzt in der Patsche. Gerade kam die Nachricht, dass die Station, in der euer Freund untergebracht ist, von den Unwos angegriffen wird.« Jarvis richtete sämtliche visuellen Systeme seines Kunstkörpers gleichzeitig auf den Tausendfüßlerfisch. »Was, bei den Helliotischen Bollwerken, ist denn das für einer?« »Der Kleine Erl. Sprössling des Großen … Ich erklär's dir später.« Der Überbringer der schlechten Nachricht hatte bereits kehrt gemacht, und Scobee heftete sich an seine Flossen. »Geht's bei dir? Oder soll ich dich stützen?« »Du würdest dir nur weh machen. Ich kann verdammt schwer sein.« »Schwer von Begriff?« Sie lachte. »Das zahle ich dir heim – sobald es mir und meiner Schuppe wieder besser geht.« Er meinte Kargors Kristall, der ihm die täuschend echte Nachbildung von Lebewesen ermöglichte, vorrangig seinen verlorenen Originalkörper. Aber eben nicht nur. »Dann geb ich mich bei den Angks als dich aus und mach mal ordentlich auf Rufschädigung!« »Das trau ich dir zu.« Wahrscheinlich klangen sie in diesem Moment für den Kleinen Arto ebenso kindisch, wie sie es ihm vorwarfen. Aber der Kleine Arto war offenbar deutlich toleranter, denn er ließ ihr Geplänkel ganz und gar unkommentiert.
Farrak eilte durch eine Weiche in die Kommandosphäre. Die anderen acht waren in die Operation vertieft, die Farrak gestartet hatte, nachdem es Lomax gelungen war, die Koordinaten her-
auszufinden, bei denen sich der entwichene Johncloud gegenwärtig aufhielt. Wahrscheinlich befand sich dort auch der Rest der Besatzung. »Ein ehemaliger Asteroid, der irgendwann in den Kubus integriert wurde«, empfing Solax ihn. »Ein ganzes Geschwader ist auf dem Weg und steht kurz vor der Ankunft. Nicht mehr lange, und wir haben den, den du dachtest, vollkommen zu kontrollieren.« Solax hatte Gefallen daran gefunden, Farrak zu kritisieren. Über das Motiv brauchte Farrak nicht lange zu grübeln. Rivalität im Kreise der Oberen war nichts Neues. Es gab immer Machtkämpfe, mal mehr, mal weniger verkappt. »Wie groß?«, fragte er. Die Daten wurden ins Sphärenraster eingespielt. »Platz genug für ein Versteck«, kommentierte Farrak. »Vielleicht sollten wir nicht nur diesen Brocken, sondern alles, was im Kubus treibt, endlich genauer unter die Lupe nehmen.« »Wir hätten es längst tun sollen, dann blieben uns unliebsame Überraschungen, die nur die Spitze des Eisbergs sein dürften, erspart.« Der Einwand kam ausnahmsweise nicht von Solax, sondern von Asgarn, der im Allgemeinen eher Mitläuferqualitäten demonstrierte. »Wir waren zu sehr auf die bahnbrechenden Umwälzungen konzentriert«, räumte Farrak freimütig ein. »Aber letztlich wird sich das als richtig erweisen. Uns trennen nur noch wenige Hürden vom Durchbruch. Sobald die kleine Störung, wie ich es immer noch nenne, behoben ist, widmen wir unsere Aufmerksamkeit wieder ungeteilt dem, was unser Volk auf eine neue Ebene heben wird. Zweifelt daran jemand ernsthaft?« Nicht einmal Solax meldete sich daraufhin. »Gut«, schnarrte Farrak. »Dann zur Operation Johncloud. Nicht mehr lange, und wir wissen, wer hinter seinem und dem Verschwinden all der anderen steckt. Und wehe, es sind die Bractonen. Sie werden sich wünschen, uns niemals gereizt zu haben. Wir werden ihnen die Lektion erteilen, die sie nie für möglich hielten!« Seine Leidenschaft wirkte ansteckend. Plötzlich verfielen alle in
hektische Betriebsamkeit. Die Kommandosphäre leitete jeden Befehl an die kleine Flotte weiter, die den Asteroiden inzwischen komplett eingekesselt hatte. Und wartete nur noch auf das Signal, Bodentruppen abzusetzen. Farrak besprach die Strategie kurz mit seinen Artgenossen. Dann brandete die Angriffswelle los. Eine Flut von wendigen Jägern löste sich aus den X-Schiffen, deren formspezifischen Nachteile bei der Wasserverdrängung durch entsprechend günstige Prallfelder ausgeglichen wurde. Wie Heuschrecken fielen sie über den zerklüfteten, völlig harmlos und verlassen wirkenden Felsbrocken her.
Yael fand keine Ruhe. Der Jungnarge bekam klaustrophobische Zustände in der Höhle, in der er zu sich gekommen war. Wahrscheinlich lag es daran, dass er nicht wusste, wo er war. Denn selbst in deutlich kleineren Räumen auf der RUBIKON waren ihm derlei Anwandlungen bislang fremd. Wenngleich er nicht verhehlen konnte, dass er ein Freund von Weite war. Pseudokalser – diese Illusion der von ihm sosehr geliebten Großzügigkeit – half ihm dabei, sein Ego zur Entfaltung zu bringen. Nichts ging über vermeintliche Ausflüge bis zur Toten Stadt und darüber hinaus. Nichts ging übers Fliegen. Es kribbelte ihn in den Flügeln. Aber hier wollte er sie nicht entfalten. Es hätte die anderen erschrecken können. Obwohl Angks im Allgemeinen nicht sonderlich schreckhaft waren. Er blieb stehen. In einiger Entfernung sah er seinen Elter bei Jelto und Cy stehen und gestenreich diskutieren. Es war für sie alle schwer, die momentane Lage zu akzeptieren. Erst recht, nachdem Scobee gegangen war. Gefahren, sie ist nicht gegangen, sondern gefahren, korrigierte er sich selbst. Und schmunzelte. »Hallo.« Er unterbrach seine unstete Wanderung. Wenige Schritte entfernt stand Winoa, Assurs und Rotaks Tochter. »Hallo.« Er sah sich um. »Du suchst bestimmt Aylea. Ich habe sie vorhin –«
Kopfschüttelnd erwiderte sie: »Ich weiß, wo meine Freundin ist. Ich wollte mich nur … ein bisschen mit dir unterhalten. Aber wenn ich störe.« Irgendwie blieb seine Spontanität auf der Strecke. Winoa hatte sich schon wieder halb zum Gehen gewandt, bis ihm endlich über die Lippen kam: »Du störst nicht. Wobei auch? Wir sind doch hier … zum Nichtstun verdammt, richtig?« Sie drehte sich ihm zu. »Ich weiß nicht. Du auch?« Er verstand nicht, was sie meinte. »Ich meine«, sagte sie. »Du hast doch deinen … na ja, deinen komischen Freund eben. Hast du nicht daran gedacht, ihn vielleicht mal nach dem rechten schauen zu lassen?« Jeder an Bord wusste inzwischen von Yaels »unsichtbarem Freund« – der für Angks alles andere als unsichtbar war. Von Anfang an hatten sie ihn wahrgenommen. Yael spürte etwas wie Sodbrennen durch die Brust rinnen. Charly war ein ganz spezielles Thema geworden, seit der Freund sich zunehmend zum Albtraum gemausert hatte. »Das wäre, glaub ich, keine so gute Idee.« »Warum?« Winoa setzte sich einfach neben ihm auf den Boden und sah zu ihm hoch. »Weil es nicht funktionieren könnte?« Er schüttelte den Kopf – die Gesellschaft der Menschen prägte. Nargen hatten eigentlich ihre ureigene Gestik, aber je länger Yael mit den Angks zusammen war und Umgang mit ihnen pflegte, desto mehr färbte menschliches Gehabe auf ihn, wie auch auf seinen Elter, ab. »Eher«, sagte er, »weil es funktionieren könnte.« »Verstehe.« Er sah sie verwirrt an. »Wirklich?« »Klar. Offenbar war es in der Vergangenheit nicht immer gut, was du durch ihn erfahren hast.« Er nahm umständlich neben ihr Platz. »Ganz genau«, sagte er wortkarg. »Ich wollte dich auch nicht zu was drängen, was du nicht willst. Hat mich nur mal interessiert.«
»Und deshalb bist du gekommen.« »Nö.« »Sondern?« »Na, um hallo zu sagen.« Sie lachte. Irgendetwas an ihr gefiel ihm. »Wenn du irgendwann mal Lust hast … und falls wir jemals wieder zur RUBIKON kommen … kannst du mich ja mal mit … deiner Freundin zuhause besuchen …« Ihr Gesicht leuchtete. »Ehrlich. In diesem … abgefahrenen Raum, den ihr Kalser nennt?« »Jep.« »Klar! Das mach ich … machen wir. Aylea war bestimmt schon dort.« »Nicht bei mir.« »Echt?« »Echt.« »Vielleicht hat sie ja auch gar keine Lust, sich sowas anzusehen.« »Möglich.« »Wär's dann okay, wenn ich ohne sie käme?« »Klar.« »Dann: abgemacht.« »Abgemacht.« Er fasste zaghaft nach ihrer Hand, die sie ihm hinhielt. Ob es für sie komisch aussah, dass seine Hand unmittelbar mit dem Flügel verwachsen war? Sie schien es gar nicht zu beachten. »Du bist nett«, sagte sie. »Wusste ich gleich.« »Wie willst du das denn vorher schon gewusst haben?« »Du siehst halt nett aus.« »Danke, du auch.« »Weiß.« Er musste lachen. Sie stand auf. »Ich geh mal wieder.« »Hm.« »Wir sehn uns.« »Hm.« »Und was ich ganz besonders an dir schätze …«, sagte sie zum
Abschied. »Ja?« »Deine Wortgewandtheit.« Er wusste, dass sie ihn nur veralberte. Aber ihr nahm er das nicht übel. Er war erstaunt, dass ihm noch nie aufgefallen war, wie freundlich und … interessant sie war. Hoffentlich hatte dieses Trauerspiel ihrer Verschleppung bald ein Ende. Hoffentlich konnten sie bald wieder auf das Schiff zurück … Letztlich war es dieser Wunsch, der Yael veranlasste, sich noch ein bisschen weiter von den anderen zum Höhlenrand zu entfernen. Soll ich wirklich?, dachte er. Vielleicht wäre es besser, erst einmal mit seinem Elter oder Scobee zu sprechen … Nein, entschied er. Ich probier's. Er hatte ihn lange nicht mehr beschworen. Vielleicht ging es gar nicht mehr. Seit er Charlys Verquickung mit den Ganf kannte, wusste er nicht mehr so recht mit ihm umzugehen. Ihr »Verhältnis« hatten gelitten. Charly materialisierte so klein, wie noch nie zuvor in seiner Nähe. Verblüfft fragte Yael: »Warum bist du nur so groß wie eine Hand?« »Daran bist du schuld.« »Ich?« »Je länger du mich schneidest und ignorierst, desto mehr schrumpfe ich. Sobald du meiner ganz überdrüssig geworden bist, kann ich gar nicht mehr erscheinen.« »Ist das wahr?« »Quatsch! Du glaubst auch jeden Mist!« Zumindest verhaltensmäßig war er wieder ganz der Alte. »Ich will was versuchen«, sagte Yael. »Mit deiner Hilfe.« »Klar, ohne mich geht's mal wieder nicht.« »Vielleicht geht's auch nicht mit dir. Ich wollte es eben probieren.« »Und was?« »Ob du hier raus und dich ein bisschen umsehen kannst. Niemand von uns weiß, wo wir uns eigentlich befinden. Scobee wurde von einem Zug abgeholt und weiß vielleicht schon mehr, wir anderen fischen aber immer noch im Trüben.«
»Wenn's weiter nichts ist. Bin gleich wieder da.« Der handspannenkleine Charly, der einem winzigen Nargen ähnelte, verschwand. Fast im selben Atemzug kehrte er wieder zurück. »Nix zu machen, sorry.« Yael sah ihn ungläubig an. »Wirklich? Was war?« »Komme nicht durch.« »Wo kommst du nicht durch?« »Durch den Stein.« Charly zeigte zur Felswand. »Und warum nicht?« »Weil's kein Stein ist. Muss was anderes sein. Vergiss es. Bin müde. Hat mich erschöpft, der kleine Ausflug. Könntest dich ruhig mal bedanken. Immerhin hat's weg getan. Ungefähr so, als würdest du mit vollem Karacho mit der Birne gegen die Wand schlagen.« »Das tut mir leid.« »Sollte es auch. Bis dann.« Charly löste sich auf. »War er das?« Erst jetzt merkte Yael, dass Winoa noch einmal zurückgekommen war. Er nickte unfroh. »Ja. Aber eine große Hilfe war er nicht.« »Komischer Kerl.« »Da sagst du was …« »Lust, mitzukommen?« »Wohin?« »Dort, zu den anderen. Die meinen auch, du sollst dich nicht so abkapseln.« Mit einem letzten Gedanken an Charly, dem er nicht glaubte, dass er nicht durch die Wand durch gekommen war, folgte er Winoa zu der Gruppe, mit der sie sich zu verstehen schien. Er wurde freundlich begrüßt. Aber die ganze Zeit, die er mit den anderen redete, scherzte oder schwermütige Gedanken wälzte, ging ihm Charly nicht aus dem Sinn. Es war ein Fehler gewesen, ihn zu beschwören. Manche Dinge ließ
man besser ruhen … sonst raubten sie einem die Ruhe. Blöder Mistkerl!, dachte er.
14. Der Treymor Adanbar leitete den Vorstoß der Bodentruppen. Eine Hundertschaft war zuvor von einem der X-Schiffe auf der schroffen Oberfläche des Asteroiden abgesetzt worden, nachdem die Ortungssysteme einen Zugangskanal ausfindig gemacht hatten. Dona Adanbar hatte Erfahrung in Extremeinsätzen – und als solchen stufte er die aktuelle Mission ein. Seine direkte Verbindung zur Kommandosphäre in der Silberstadt verriet endgültig die Brisanz des Unternehmens. Wenn die Neun höchstpersönlich in Kampfhandlungen involviert waren, konnte an deren Wichtigkeit kein Zweifel mehr bestehen. Adanbar fühlte sich dennoch wie bei jedem anderen, x-beliebigen Einsatz. Deshalb war er zum Anführer ernannt worden: weil er jedem Einsatz die gleiche hohe Priorität zubilligte. »Sind im Schacht«, meldete er der Führung unter Farrak. »Dringen vor. Setzen Destruktorgranaten zur späteren Zündung ab.« Das beinhaltete auch, in ausweglos erscheinender Lage – womit er nicht rechnete –, die Sprengsätze schon vor dem eigenen Rückzug zu aktivieren. In diesem Fall würde seine Einheit mit den subversiven Elementen untergehen, die sich in dieser Ödnis verkrochen hatten. Farrak bestätigte. Noch war die Verbindung aufrechtzuerhalten, aber schon wenig später dämpfte der Fels und die darin eingelagerten Mineralien die Kommunikation so stark, dass sie abgebrochen werden musste. Die Hundertschaft blieb jedoch auch weiterhin untereinander in Verbindung. Adanbar hatte die Spitze übernommen. Er schätzte es nicht, von anderen Risiken tragen zu lassen, die er selbst auf sich nehmen konnte. Bislang war er gut damit verfahren. In regelmäßigen Abständen deponierten seine Untergebenen die
tückischen Destruktoren. Sie würden eine Kettenreaktion auslösen, die – einmal in Gang gesetzt – von nichts und niemandem mehr gestoppt werden konnte. Ganze Planeten hatten Destruktoren größeren Kalibers schon zerfressen, in unbewohnbare Höllen verwandelt. Johncloud, hieß das Missionsziel. Ihn zu den Oberen in die Silberstadt zu schaffen, darum und um nichts anderes ging es. Aber Johncloud würde hier nicht allein auf sie warten. Alles sprach für eine Verschwörergruppe, die das Erscheinen des Legendenschiffes zum Anlass genommen hatte, gleich auf mehreren Schlachtfeldern aktiv zu werden und loszuschlagen. Viel wusste Adanbar darüber nicht. Zu viel Wissen wäre nur unnötiger Ballast gewesen. Aber auch in Soldatenkreisen machte man sich Gedanken über den Sinn und Zweck eines Unternehmens. Gemunkelt wurde von den Bractonen, dass sie hinter der Verschleppung stecken könnten. Die Bractonen. Ein Adrenalinschub lief durch Adanbars Körper. Noch beherzter, noch entschlossener drang er in die Tiefen vor. Dann … wich der natürlich gewachsene Fels der Bestätigung, keiner Fehlortung erlegen zu sein. Ein stählernes Schleusentor versperrte den Weiterweg. Auch hier kam eine abgespeckte und abgewandelte Version des Destruktors zum Einsatz – mit dem Ergebnis, dass es kurz darauf kein Tor mehr gab. Die freigesprengte Öffnung füllte sich sofort mit Wasser, und Adanbar begriff. Das Versteck war offenbar kein kubustypischer Ort, sondern wasserfrei, wie auch Treymor es bevorzugten. Adanbar kämpfte nicht gern in den plumpen Monturen, die eigenes für den Einsatz unter Wasser entwickelt worden waren. Der freigelegte Raum entpuppte sich endgültig als Schleuse. Er war groß genug, um die Hälfte der Einheit aufzunehmen, die andere sollte als Reserve zurückbleiben, entschied der Dona. Dann ließ er die freigesprengte Öffnung mit einem mobilen Prallfeldgenerator verschließen. In der Zwischenzeit hatte sich ein Spezialist bereits mit
der Technologie des zweiten Schleusentors befasst und einen Weg gefunden, es kurzzuschließen. Als es aufglitt, spülte es Adanbar und seine Leute regelrecht in den inneren Stationsbereich. Alles, was sie bislang angetroffen hatten, deutete auf Luuren hin. Die verarbeiteten Materialien basierten ausnahmslos auf Protomaterie. Eine wertvolle Information, sprach sie doch gegen die BractonenThese. Allerdings war Adanbar nicht bereit, vorschnelle Analysen zu treffen. Denkbar war auch, dass die Bractonen sich Zugang zu einer alten, aufgegebenen Station verschafft hatten, die ursprünglich von Luuren gefertigt und hier integriert worden war. Falls ihr Einbruch einen Alarm ausgelöst hatte, dann musste es sich um einen stillen handeln. Keine Sirene, nichts verbreitete bedrohliche Stimmung. Genau das machte Adanbar misstrauisch. Er blieb stehen. Der Schleusengang mündete in einen Raum, der völlig leer war. Der ganze Bereich erweckte nicht den Eindruck, als sei er in letzter Zeit benutzt worden, auch wenn Licht brannte. Seine Männer sahen Adanbar fragend an. Sie vertrauten ihm. Lautlos signalisierte er ihnen, dass Funkverkehr nur noch in wichtigen Fällen erlaubt sei und dass sie sich in zwei- bis vier Mann starke Trupps aufteilen sollten, um die Station zu durchkämmen. Er selbst wählte sich drei Begleiter, die er als absolut verlässlich kannte, und wählte einen von sieben abzweigenden Gängen. Ob es Zufall, Fügung des Schicksals oder einfach nur Pech war, würde für immer ungeklärt bleiben – jedenfalls erreichte ausgerechnet Adanbar eine Kammer, in der der mitgebrachte Protospürer anschlug. Eine Kammer, in der ein wannenartiger Gegenstand dominierte, in dem noch Spuren einer klebrigen Substanz von dickflüssiger Konsistenz zu erkennen waren. Aber auch eine Kammer, in der offen und unverblümt etwas stand, das in jeder Kultur, mochte sie auch sonst noch so verschieden und fremdartig sein, irgendwie immer gleich aussah.
Eine Bombe. Deren Bewegungsmelder auf das Eindringen von Adanbars Gruppe sensibel und verlässlich reagierte. Die vier Treymor, die darauf vorbereitet waren, im Einsatz auch das Leben verlieren zu können, erstarrten. Mit einem Blick wussten sie, dass jeder Versuch, das Desaster zu verhindern, scheitern musste. Dann badeten sie auch schon in strahlend hellem Licht, das den Asteroiden in eine, wenn auch nur kurzlebige, Miniatursonne verwandelte.
Bis zuletzt bestätigte Lomax über seine Suchapparatur die Position des Asteroiden als den Ursprungsort der Johncloud-Ortung. Der Untergang des gestürmten Verstecks kam für alle Beteiligten unerwartet. Nachdem die X-Schiffe, die den Asteroiden angesteuert hatten, dessen völlige Vernichtung bestätigt hatten, ordnete Farrak halbherzig eine Untersuchung der verbliebenen Rückstände an. An verwertbare Spuren glaubte er angesichts der Schwere der Explosionen nicht. »Damit hat sich dieses Thema erledigt«, befand Solax. »Wenden wir uns endlich den wichtigen Dingen zu. – Was soll mit dem gekaperten Schiff passieren? Eine Besatzung hat es ja nun nicht mehr.« »Verschrotten«, äußerten mehrere der Neun lapidar. Farrak verweigerte sich diesem Ansinnen. »Zu wertvoll«, befand er. »Denkt nur an den Verheerer, den wir dort fanden – völlig überraschend. Nein, dieses Schiff ist für weitere Überraschungen gut. Es wird gerade komplett durchleuchtet. Sämtliche gelöschten Datenbänke wurden inzwischen wieder rekonstruiert. Sie werden nach Hinweisen auf die Bractonen durchkämmt, und es wurden auch schon erste Funde der Analysten gemeldet.« Damit waren selbst die größten Skeptiker zu überzeugen. Bractonen. Es gab kein wertvolleres Wild im ganzen Kosmos.
»Das«, sagte John Cloud zur gleichen Zeit anderswo, »war in allerletzter Minute. Bei wem … bei wem habe ich mich zu bedanken?« Ein lurchartiges Wesen löste sich aus der Deckung eines der Echsenwesen, die sich mit ihnen in dem umfunktionierten Rochenschiff der Vaaren befanden. »Mir – glaube ich.« »Wer bist du?«, fragte Cloud, der sich erst wieder in der Realität – und Normalität – zurechtfinden musste. »Mingox«, sagte der Luure – der die unverkennbaren Merkmale eines solchen hatte. »Ich bin … war der Erste Verwerter der …« »Protowiesen?«, vollendete Cloud für ihn. »Genau.« »Und wie …« Er blickte skeptisch von bis an die Zähne bewaffnetem Echsensoldat zu Echsensoldat. »… hast du mich aus diesem Albtraum herausgeholt?« »Du weißt nicht, wie du manipuliert wurdest?« »Keinen blassen Schimmer.« Mingox klärte ihn auf. Und betonte abschließend: »Ich kann mich gut in dich hineinfühlen. Mir … ging es ein Leben lang ähnlich. Auch ich wurde seit meiner Geburt manipuliert und getäuscht. Erst Taurt öffnete mir die Augen. Seither weiß ich um die Gräuel der Treymor, die sich in Tovah'Zara als ›die Gesegneten‹ anbeten lassen.« »Taurt.« Das war eine echte Überraschung. Doch sofort folgte die Skepsis. »Aber es ist so lange her … Wie sollte er …« Gerade er, korrigierte er sich. Er war nie ein normalsterbliches Geschöpf aus Fleisch und Blut. Die Foronen haben ihn mithilfe der Luuren erschaffen. Mithilfe deren Gabe, die es ihnen ermöglicht, fast alles aus diesem urtümlichen Stoff herzustellen – kraft ihres Geistes, der darauf einwirkt wie … wie Jeltos Aura auf Pflanzen. »Du hast die Sporen … nein, Protopartikel heißt es wohl, aus meinem Organismus herausgefiltert. Teilchen, über die es den Treymor offenbar gelang, massiv auf mich Einfluss zu nehmen, sowohl kör-
perlich als auch geistig.« Mingox bestätigte es. »Woher wusstest du, was zu tun ist?« »Taurt trug es mir auf.« »Aber er war hoffentlich nicht … irgendwo in einem anderen Teil der Station, die gerade explodiert ist?« Sie hatten die Schockwelle mit den Ortungssystemen des VaarenRochens aufgefangen. Kurz vor Eintreffen der X-Schiffe hatten sie sich unbemerkt aus dem Asteroiden zurückziehen können. Und von Mingox hatte Cloud gerade erfahren, dass es auf Messers Schneide gestanden hatte – in mehrerlei Hinsicht. Mingox verneinte und fügte hinzu: »Auch ich erlag der Anziehungskraft des Bösen, das mir als solches nicht bewusst war. Auch ich wurde beeinflusst, wie ich heute weiß, mein Blick, mein Denken wurden verstellt. Bis Taurt mich gesunden ließ. Zuvor aber stand ich ganz auf Seiten der Verführer. Ich war es, der dich über eine eigens konstruierte Maschine anpeilte und gefügig machte im Sinne der Tyrannen. Nun stehe ich auf eurer Seite, will die Eroberer bekämpfen, wo immer ich kann. Taurt schickte mich zu dem Versteck, das er für dich wählte. Um dir zu helfen, um wiedergutzumachen, was ich dir zuvor im Namen der Treymor antat. – Fast hätte ich es nicht geschafft, dich komplett zu befreien von der Seuche, in die die Protopartikel sich für dich verwandelt hatten. Wenn ich zu grob war, verzeih. Aber es hat sich gelohnt, wie man sieht.« »Was ist aus den Teilchen geworden?« Cloud war beeindruckt, wie offen Mingox mit den Untaten, die er sich zu Schulden hatte kommen lassen, umging. »Ich band sie in der Gelmasse, auf der du gelegen hattest.« Mingox erklärte kurz, in welcher Lage sie ihn angetroffen hatten. »Danke nochmals.« Cloud lauschte in sich hinein. Dann starrte er in eine Spiegelfläche, die ihm sein Konterfei zeigte, wie es aussehen sollte – keinesfalls die insektoide Fratze eines Treymor. »Wohin bringt ihr mich jetzt?« »Zu einer weiteren Quarantäneposition«, meldete sich eines der Echsenwesen zu Wort, das bislang stumm und reglos dem Dialog
der beiden beigewohnt hatte. »Ich bin Quarsolen. Ich bringe dich hin und bin für deine Unversehrtheit verantwortlich.« »Quarsolen«, wandte Cloud sich dem Echsenkrieger sogleich zu. »Welcher Spezies gehörst du an? Und was genau bedeutet Quarantäneposition?« Die erste Frage überhörte Quarsolen offenbar geflissentlich. Zur zweiten meinte er mit kehliger Stimme: »Unser Herr will erst sichergehen, ob es dem Luuren tatsächlich gelungen ist, dich in vollem Umfang von den verräterischen Teilchen zu befreien. Sobald wir diese Sicherheit haben, darfst du zu ihm – und deinesgleichen.« So weit war Cloud noch gar nicht gekommen, obwohl ihm die Frage nach seinen Freunden längst unter den Nägeln brannte. »Wer aus der Crew ist bei ihm? Und was wurde aus der übrigen Mannschaft? Den Angks?« Offenbar wussten weder Mingox noch Quarsolen etwas mit dem Begriff »Angks« anzufangen. Der Echsenkrieger versicherte jedoch: »Dein Schiff wurde von meinen Leuten komplett evakuiert. Sogar den Künstlichen nahmen wir mit.« »Den Künstlichen?« Quarsolen beschrieb, was er damit meinte. »Jarvis!« Cloud war erleichtert. »Hast du eine ungefähre Zahl der Evakuierten?« Quarsolen sagte: »Viertausendachthundertsiebenundsechzig.« Die komplette Besatzung, dachte Cloud, froh, dass sein Erliegen jenes unseligen Einflusses offenbar keine Opfer gekostet hatte. Bis auf das eine – von der RUBIKON getrennt worden zu sein. Wie Sesha die Trennung wohl verkraftete? Wie fühlte sich eine KI, die plötzlich mutterseelenallein an Bord war? »Wie konntet ihr uns überhaupt von Bord holen? Wie gelang es euch, die Sicherheitsmaßnahmen außer Kraft zu setzen und –« »Später«, unterbrach ihn Quarsolen brüsk. »Warum später? Du kannst mir nicht weismachen, du hättest jetzt gerade kein Minütchen übrig für ein bisschen informative Kommunikation!« »Später deshalb, weil ich nicht befugt bin, über Details einer Ope-
ration Auskunft zu geben. Wenn einer es darf, dann unser Herr. Er wird entscheiden.« »Taurt also. Aber zuerst geht's wieder ab in die Quarantäne …« Cloud verzog missmutig das Gesicht. Eine solche Vorgehensweise war nicht nach seinem Geschmack. Allerdings räumte er ein, dass Taurt seine guten Gründe hatte, erst einmal auf Nummer sicher zu gehen. »Und wo liegt diese … andere Quarantäneposition?« »Dort«, antwortete Quarsolen, »wo die Tyrannen sie hoffentlich nicht vermuten: nah an ihrem Machtzentrum.« »Die Ewige Stätte?« Quarsolen bestätigte dies. Der Vaaren-Rochen glitt diesem Ziel weiter entgegen, offenbar unbehelligt von treymorschen Streitkräften. »Wieso werden wir nicht entdeckt und gestellt?«, wollte Cloud noch wissen, bevor er sich mit Mingox in einen Winkel des Schiffes zurückzog. »Später!«, kanzelte Quarsolen ihn erneut ab. »Verstehe. Das wäre wohl dann auch wieder eines der Details, über die du nicht sprechen darfst.« Quarsolens Augen funkelten eisig. Irgendwie, so hatte Cloud das dumpfe Gefühl, verstand die Echse keinen Spaß. Ihr fehlte auch der kleinste Funken Humor.
15. Selbst Farrak wollte es zunächst nicht glauben. Sein Gespür trog ihn selten – aber mit einem solchen Resultat hatte nicht einmal er gerechnet, als er den Befehl gab, die korrumpierten Datenbänke des Legendenschiffs zu rekonstruieren. »Es könnte eine Finte sein«, mahnte Solax. »Dagegen spricht jede Logik. Die mutmaßlich verstorbene Besatzung konnte nicht damit rechnen, dass ihr Schiff von uns aufgebracht würde.« »Aber sie konnten diese Weitsicht gehabt – und auf entsprechende Fälschungen bestanden haben.« »Das wäre denkbar, tatsächlich.« »Es wird ein Leichtes sein, die Koordinaten zu überprüfen.« Farrak glaubte an keine Fälschung, aber er war gewillt, den berechtigten Einwand der anderen gelten zu lassen. Auch ihm war daran gelegen, die erlangten Informationen mit der Realität abzugleichen. »Ein Schiff wird sofort zu den Koordinaten aufbrechen und unverzüglich Bericht erstatten!« So geschah es. Und es dauerte nicht lange, bis die Meldung eintraf, dass bei den Koordinaten etwas existierte – und zwar genau das, was die wiederhergestellten Dateneinträge im Logbuch der RUBIKON aussagten. »Ihre Heimat. Wir haben tatsächlich ihre so lange gesuchte Heimat, ihr Zentrum, gefunden!« »Sie haben es jedem Zugriff entzogen. Offenbar ahnten sie, dass dieser Tag kommen würde.« »Nicht jedem, Solax. Wir mögen den Schild, den sie darum errichtet haben, nicht durchdringen können – aber du zweifelst nicht ernsthaft, dass sie es schaffen?« Nein, daran zweifelte selbst Solax nicht. »Aber zuerst einmal müssen sie davon erfahren«, erklärte er.
»Und das sollen sie. Ich werde die Nachricht so klar und schnörkellos formulieren, wie es dem historischen Moment geziemt. Du, Solax, kümmerst dich um die Ausrichtung der Sendeanlage.« Solax ließ sich von Farraks Enthusiasmus mitreißen wie selten. In der Kommandosphäre der Silberstadt war die Hochstimmung fast greifbar. Noch hatte niemand so recht begriffen, wie alles gekommen war – wie ihnen ein solcher Schatz in die Hände hatte fallen können. Aber letztlich nahmen sie es als Bestätigung dafür, dass die Treymor ein gesegnetes Volk waren. Kein anderes zwischen den Sternen war der Vollendung so nah – abgesehen von ihnen natürlich. Deren Lohn den Treymor sicher war …
»Er hat es ganz sicher überstanden? Er ist nicht mit der Station im Asteroiden hochgegangen?« Scobees Stimme war dunkel gefärbt. Sie fürchtete Taurts Antwort, fürchtete, dass er ihre Hoffnungen zunichte machen könnte. Aber das Protogeschöpf bejahte, dass John sich rechtzeitig mit dem Luuren, der ihn heilen sollte, und den abgestellten Echsenkriegern hatte absetzen können. »Wohin wenden sie sich? Kommen sie hierher? Wo ist überhaupt ›hier‹? Wohin wurden wir gebracht?« Ihr Redeschwall schien Taurt nicht zu missfallen. Er blieb freundlich – was Wunder genug war. Scobee konnte immer noch nicht recht glauben, dass der Foronendiener ihr so gewogen war, nachdem er aus den Schiffsbüchern der RUBIKON hatte erfahren müssen, dass Sobek und fast alle anderen Hohen, die Tovah'Zara einst initiierten, aus dem Leben geschieden waren. Eigentlich musste er den Menschen eine Mitschuld daran geben. Aber er tat es nicht. Nicht erkennbar zumindest. Oder wog er nur für sich ab, ob die Entführten für ihn noch einmal das Zünglein an der Waage in seinem Partisanenkrieg gegen die Treymor sein konnten? Scobee hätte ihm dieses Kalkül nicht verübeln können. »Sie kommen nicht hierher, nein. Dazu ist es zu früh. Es wäre un-
klug, ein so immenses Risiko einzugehen, ehe nicht garantiert werden kann, dass Mingox auf ganzer Linie erfolgreich war.« »Nicht hierher?« Scobee zeigte ihre Enttäuschung. Doch bei genauem Nachdenken musste sie Taurts konsequentes Sicherheitsdenken Anerkennung zollen. Wäre das Protogeschöpf nicht über die Jahrtausende so weitsichtig gewesen, wie er es auch jetzt demonstrierte, gäbe es vermutlich keinerlei Widerstand mehr im Kubus. »Wissen die Treymor eigentlich von dir und deinen … Aktivitäten? Seid ihr jemals offen zusammengerasselt?« »Noch nie. Und sie wissen auch jetzt nichts, können allenfalls Vermutungen über eine existierende Gruppierung anstellen.« »Was macht dich so sicher?« Eine Art Lachen huschte über seine Züge. »Dass sie noch nicht da sind, um uns zu massakrieren?« »Klingt vernünftig.« Scobee stimmte ihn das Lächeln ein. Wieder ernst geworden, fragte sie: »Wenn John nicht zu uns darf, dürften wir dann … zu ihm?« »Es wäre ratsamer, in meiner Festung zu bleiben.« »So nennst du diese Anlage – Festung?« »Was überrascht dich daran?« Darauf hatte sie keine Antwort. »Also?«, drängte sie. »Dürften wir?« »Es ist euer Leben.« »Wir bräuchten ein Fahrzeug.« »Mehrere – falls ihr alle gehen wolltet.« »Darüber muss ich mit den anderen sprechen.« »Ich habe Zugriff auf alte Schiffshangars der Vaaren. Die Rochen darin sind noch vollkommen einsatzklar. Über die Zeiten habe ich sie modifiziert, nachdem ich die Ortungssysteme der Eroberer analysieren konnte. Sie bieten höchstmöglichen Schutz vor Entdeckung, solange sie sich außerhalb der optischen Beobachtungsreichweite der X-Schiffe oder anderen Treymor-Einheiten aufhalten. Die Oberflächen leiten die Ortungsstrahlen so um, als gäbe es keine reflektierenden Flächen.« Scobee war beeindruckt. »Es operieren noch andere Schiffstypen
im Kubus als die uns bekannten X-Raumer?« Taurt bejahte. »Seit der Invasion experimentieren sie ständig mit Variationen. Offenbar sind sie auf der Suche nach der Idealform noch nicht fündig geworden. Allerdings hege ich den Verdacht, dass bei dem angestrebten Ideal weniger die Form als der Inhalt wichtig ist.« »Was meinst du damit?« »Ich meine damit, dass ich glaube, sie rüsten nicht für den Kubus auf, sondern …« »Sondern?« »… für den Weltraum. Die Galaxie, die ihr Menschen Milchstraße nennt – Bolcrain nannten die Foronen sie.« Scobee nickte. »Ich weiß.« Sie ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Sag mir eins und sag es nach Möglichkeit ehrlich.« »Nur der Schwache flüchtet sich in Lügenkonstrukte. Hältst du mich für schwach?« »Nein.« »Gut.« »Sag mir: Warum gibst du uns überhaupt eine Chance – und du bist klug genug zu wissen, wie meine Frage gemeint ist.« »Ich weiß, was du meinst.« »Und?« »Die Zeit reift das Geschöpf. Als die Herren von einst, meine Erschaffer, fern blieben, sich nicht kümmerten nach jener ersten Wiederkehr, bei der du Zeuge unserer Begegnung warst, musste ich andere Ziele, andere Lebensinhalte finden. So gesehen halfen die Tyrannen, die Treymor, mir mit ihrem Erscheinen. Sie forderten mich heraus, rissen mich aus der Agonie, die jedem Wesen droht, das nicht sterben kann, es sei denn, es würde selbst die Hand gegen sich erheben oder von anderen umgebracht.« »Du bist wahrhaftig unsterblich?« »Ehrlich: Ich weiß es nicht.« »Wie … ist es, so lange zu sein? Ich kann es mir nicht vorstellen. Die dreißigtausend Jahre seit unserer letzten Begegnung erlebte ich ja nicht wirklich. So alt zu werden wie du und nicht einmal diese
Welt verlassen zu können … das muss hart sein.« Zu ihrem Erstaunen widersprach Taurt. »Sterben ist hart – glaube ich. Leben, überleben ist stets die bessere Alternative.« Sie fühlte sich angenehm berührt von seiner positiven Einstellung. Und das sollte eine Foronenschöpfung sein? Wenn sie sich den Zynismus eines Sobeks oder Mecchits ins Gedächtnis rief … »Du hast die Ankunft der Treymor erlebt. Du hast erlebt, wie sie sich im Kubus festsetzten …« »… und ihm ihren Stempel aufzudrücken begannen – ja. Ja, ich habe all das erlebt. Aus meinen Verstecken heraus. Sie sahen mich nie – aber ich sie. Gleich bei ihrer Ankunft dachte ich noch, ich könnte Maßnahmen gegen sie ergreifen. Du weißt, welche Rolle mir von Anbeginn an zugedacht war: die des Hüters über das gewaltige Projekt der Foronen. Aber diese Spezies … ging so rigoros und so gezielt vor, dass ich immer einen Schritt zu spät kam. Manchmal dachte ich, sie hätten Tovah'Zara ersonnen und würden sich darin wie in ihrer Westentasche auskennen.« Sie spürte die Verzweiflung wegen des Versagens in Taurts Worten, als durchlebe er sein Scheitern noch einmal. »Und kaum hatten sie die wichtigsten Positionen besetzt, begannen sie die Vaaren, die noch Widerstand leisteten, aber bereits erheblich dezimiert waren, systematisch auszurotten. Sie überfielen die Korallenstädte und meuchelten, wen sie antrafen. Aber das reichte ihnen immer noch nicht.« »Wie meinst du das?« »Du weißt, dass die Vaaren Züchtungen der Foronen sind?« Sie nickte. »Ich erinnere mich.« »Die Treymor brauchten nicht lange, um den genetischen Kode der Züchtungen zu knacken. Dann veränderten sie die Wasserzusammensetzung – nur minimal. Aber exakt um den Wert, den die Vaaren nicht vertrugen, andere Spezies wie Heukonen oder Luuren aber schon.« »Du meinst, sie haben das Wasser toxisch für die Vaaren gemacht? Vergiftet?« »Unwissenschaftlich gesprochen: ja.«
»Und damit hatten sie ganz offenbar Erfolg auf ganzer Linie.« »Es lief perfekt. Für sie. Weniger für die einstige Ordnungsmacht des Kubus. Nur wenigen gelang es, sich in Bereiche zurückzuziehen, die vom Wasser des Kubus abschottbar waren. Ich schickte der amtierenden Königin eine Warnung, und ich glaube, sie beherzigte sie. Bunkerartige Anlagen wurden in die Paläste geschlagen und den Blicken der Treymor verborgen. Dort überlebte eine winzige Anzahl von Vaaren und vermehrte sich sogar über viele Generationen. Möglich, dass auch heute noch welche in irgendwelchen Katakomben hausen …« Ja, dachte Scobee. Ich glaube auch, dass das so ist. Sie wusste von einer Begegnung, die – Taurt wurde plötzlich hektisch, und Scobee unterbrach ihre Grübelei. »Was ist? Neue Nachrichten? Schlechte Nachrichten?« »Ich … weiß es nicht. Noch kann ich nicht deuten, was dahintersteckt. Meine Kontrollbojen, die ich überall in Tovah'Zara bis zu den äußersten Rändern verteilt habe, melden mir einen in dieser Form noch niemals angemessenen, unglaublich energiereichen Funkimpuls, der von den Kantenstationen des Würfels, die von den Treymor völlig überarbeitet wurden, abgestrahlt wird.« »Abgestrahlt wohin in der Milchstraße?« »Das ist es ja – das Signal scheint senkrecht mit der Achse der Spiralgalaxie nach oben zu gehen – in den Leerraum. Kein Stern der Milchstraße kreuzt seinen Weg.« »Vielleicht ein Raumschiff.« »Dafür wäre so viel Sendeleistung nicht nötig, sondern die reinste Verschwendung.« »Die Mentalität der Treymor ist anders als unsere.« »Das ist sie gewiss. Dennoch …« »Konntest du das Signal aufzeichnen und entschlüsseln?« »Es durchläuft gerade meine Rechner. Allerdings habe ich Zweifel, ob ihre Kapazität ausreicht, den Spruch zu entschlüsseln. Die Treymor haben sich auch hier Mühe gegeben wie niemals zuvor.« »Du befürchtest, dass das ein schlechtes Omen ist?« »Wir sollten jedenfalls noch stärker auf der Hut sein, als ohnehin
schon.« »Wenn kein Stern in der Abstrahlrichtung des gerafften Impulses liegt … gibt es eine Galaxie, auf die er zielen könnte?« »Auch diese Analyse läuft. Es gibt noch kein Ergebnis.« »Dann dürfte es zumindest keine nahe Galaxie sein.« »Richtig.« Scobee merkte, dass sie sich von Taurts Besorgnis anstecken ließ. Ein Signal der Treymor an einen unbekannten Empfänger außerhalb der Milchstraße – und wahrscheinlich in keiner der nah angrenzenden Galaxien beheimatet. Wer mochte das sein? Kamen die Treymor ursprünglich von dort? Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass etwas anderes dahintersteckte. Etwas, das die Milchstraße erschüttern konnte. Und ausgerechnet jetzt waren die Bractonen unerreichbar geworden …
Scobee blickte aus der offenen Tür des Zugs, der gerade gehalten und sie zurück zu der Höhle gebracht hatte, in der die restliche RUBIKON-Crew untergebracht war. Assur, Rotak, Jiim, Jelto, Aylea … Sie alle standen Spalier, als sie ihnen zuwinkte und ausstieg. »Schön, dass du wieder da bist! Wie ist es dir ergangen. Los, erzähl, erzähl!«, drängten sie. Dann trat hinter ihr Jarvis aus dem Waggon – und Jubel brandete los. Sonst nicht so leicht in Verlegenheit zu bringen, schien der begeisterte Empfang selbst den GenTec aus der Gefühlsreserve zu locken. »He, was soll das? Man könnte meinen, ihr dachtet, ich hätte euch für immer verlassen.« Damit lag er nicht einmal so falsch. Denn er hatte viel heftiger auf den Beschuss reagiert, der ihn eigentlich nur kurz außer Gefecht setzen sollte, als die Echsenkrieger von Taurt es erwartet hatten. Da die Angks ihn ohnehin stets ohne Maskerade sahen, machte es jetzt keinen Unterschied, dass seine Hightech-Kosmetik noch immer streik-
te. Die beiden Ankömmlinge wurden von der begeisterten Menge fast vom Zug weggetragen – fort, zu einem etwas abseits gelegenen Plätzchen. »Wir dachten nur, die nächste Fütterung begänne gleich«, frotzelte Jiim. »Mit euch haben wir nicht gerechnet.« »Ich bin froh, wieder hier zu sein«, betonte Scobee. »Denn ich habe … nun ja, ich glaube, man kann es so sagen … gute Nachrichten.« Sofort sank der allgemeine Lärmpegel auf Flüsterlautstärke. Assur drängte nach vorne und fragte: »Gute Nachrichten? Wisst ihr etwas über Johns Verbleib?« Scobee nickte und machte eine beruhigende Geste. »Er wurde ebenso von Bord geholt wie wir – und definitiv nicht im Auftrag der Treymor.« Sofort stieg wieder die allgemeine Unsicherheit. Wildeste Spekulationen schossen ins Kraut. Erst Rotaks eindringliche Aufforderung, Ruhe zu wahren, fruchtete. »Lasst Scobee sprechen«, forderte er. »Wir wollen doch alle erfahren, was sie herausgefunden hat – und wem sie begegnet ist. Wie Jarvis wieder an ihre Seite kam …« Der Appell zeigte nachhaltig Wirkung. Scobee dankte Rotak mit einem Nicken, und wie schon einmal vor gar nicht langer Zeit wurde ihr bewusst, dass dieser Mann etwas hatte, das sie anzog. Ob ihm selbst das auch klar war, wusste sie nicht. An Assur gewandt, aber auch für jeden anderen in der Höhle sagte sie: »John wurde aus gutem Grund anderswo untergebracht als wir …« Und sie erzählte, was Taurt ihr offenbart hatte. Wie die Manipulation des Commanders erfolgt – und wie der aktuelle Stand diesbezüglich war. »Die Protopartikel!«, keuchte Aylea. »Ich habe darüber im Log der RUBIKON gelesen! Auch du, Scobee, und du, Jarvis, hattet diese Teilchen in euren Körpern, oder? Sie wurden euch aber wieder herausgenommen. John nicht?« »Nicht umfassend genug, Kleines. Aber jetzt … jetzt ist hoffentlich die Nachlässigkeit von damals behoben. Taurt will nur sichergehen,
dass John nicht immer noch von den Treymor zu orten ist. Die benutzen dazu ein spezielles Gerät, das nur Luuren bedienen können – der, der es baute, ist mittlerweile auch auf unserer Seite. Aber er wurde längst ersetzt, sodass wir kein Risiko eingehen dürfen.« »War Taurt nicht ein bedingungsloser Diener der Foronen?« Wieder war es Aylea, die ihre Belesenheit demonstrierte. Scobee lächelte ihr zu. »Sag mal, machst du eigentlich zwischendurch auch mal was anderes, als deine Nase in uralten Berichten zu vergraben?« »Klar. Ich quatsche mit meiner besten Freundin.« Sie zeigte auf Winoa, Assurs und Rotaks Tochter, die verlegen wegschaute. »Na, dann wäre das ja auch geklärt«, seufzte Jarvis. »Jedenfalls hat Taurt eine Entwicklung durchgemacht – in den letzten dreißigtausend Jahren. Ich hatte das Gefühl, dass man ihm trauen kann. Jarvis?« Jarvis nickte. »Ich auch. Absolut. Ohne sein Zutun wäre ich kaum wieder und erst recht nicht so schnell auf die Beine gekommen.« »Und wo ist John jetzt?«, ließ Assur nicht locker. »Bei einer weiteren Quarantäneposition. Das erste Versteck wurde von den Treymor zerstört – oder Taurts Elitesoldaten haben es selbst hochgehen lassen, ehe sie mit John flüchteten.« »Elitesoldaten … Diese Echsen, die uns vom Schiff verschleppten?« »Genau die.« »Woher hat er sie. Ich meine, die stammen doch nicht aus dem Kubus, oder?« Wer anders als Aylea hätte diese Frage stellen sollen? »Nein. Aber über ihre Herkunft hüllt er sich in Schweigen. Noch. Er deutete nur an, dass sie etwas mit den Treymor zu tun haben – im weitesten Sinne.« »Warum macht er ein Geheimnis daraus?«, fragte Jelto misstrauisch. »Vielleicht findet er es verfrüht, uns alles zu offenbaren. Immerhin geht er Risiken ein. Wenn wir von den Treymor geschnappt werden, können wir jetzt schon einiges über den Widerstand innerhalb Tovah'Zaras verraten, was ihnen völlig neu wäre. Jedenfalls behauptet
Taurt steif und fest, die Käfer hätten bislang noch keinerlei Wind vom Aufbau seiner geheimen Organisation bekommen.« »Ist das glaubhaft?«, warf Jiim ein. Scobee zuckte die Achseln. »Ich hatte den Eindruck, er meint es ehrlich. Aber ich bin kein Hellseher.« »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Assur. »Wann kommt John wieder zu uns? Er ist geheilt, sagtest du. Zumindest von seinem Wahn, den Treymor in die Hände spielen zu müssen.« »Ich habe mit Taurt vereinbart, dass wir nicht warten, bis er zu uns kommt«, sagte sie. »Gesetzt den Fall, alle sind damit einverstanden.« Ihre Wortwahl war missverständlich. »Scobee!« Assur sah sie empört an. »Entschuldige«, korrigierte sie sich sogleich. »Ich meinte damit nicht, wir sollten ihn sich selbst überlassen, sondern Taurt will uns ehemalige Vaaren-Rochen, so präpariert, dass sie durch die Maschen der Treymor-Ortung schlüpfen, bereitstellen, mit denen wir zu ihm können. Dadurch wird vermieden, dass die Treymor im Extremfall die Koordinaten von Taurts Hauptquartier bekommen. Denn wir können sie auch im Falle einer Gefangensetzung nicht nennen. Und die Rochen sind offenbar so präpariert, dass auch ihre Navigationssysteme und Besatzungen nichts Verräterisches preisgeben können. – Was haltet ihr davon?« Sie sah Assurs Augen leuchten, ihre Wangen erröten. »Wollen wir gleich darüber abstimmen? Umso schneller kommen wir hier weg. Falls ihr euch von eurem Höhlenapartment mit fahrbarem Mittagstisch und mobilem Toilettendienst losreißen könnt …«
16. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Cloud hätte nicht sagen können, woran er diese Einschätzung festmachte. Aber da war dieses Kribbeln. Das Kribbeln, das stets Unheil verhieß. Mitten im Gespräch mit Mingox, der ihn gerade noch einmal auf Rückstände der Protopartikel untersucht hatte – mit negativem Befund im Sinne von: nichts gefunden –, wandte er sich dem Kommandanten der Echsentruppe an Bord des Rochengleiters zu. »Quarsolen?« »Johncloud?« Der Sauroide wirkte alles in allem für Johns Geschmack fast schon zu menschenähnlich. Wären nicht die eindeutig echsenartigen Bezüge gewesen, er hätte glatt in einer nur von Menschen bewohnten Stadt spazieren gehen können, ohne großartig aufzufallen. Zumindest in einer der Städte, wie John sie aus seiner frühen Vergangenheit auf der Erde noch aus eigenem Erleben in Erinnerung hatte: New York zum Beispiel, bevor es zu Newyork, einer Metrop der Keelon, geworden war. Dort, in den weniger wohlhabenden Vierteln hatten einst alle Sorten von Menschen ihr Dasein gefristet, Menschen jeder Hautfarbe, ob tätowiert oder gepierct, ob äußerlich gesund oder verkrüppelt. Sie frequentierten seinerzeit die Großstädte einer Menschheit, die es noch nicht weiter als zum Mars geschafft hatte. Und selbst das nur mit äußerster Anstrengung … … und geringem Erfolg, beendete John den gedanklichen Ausflug, der nicht ohne Wehmut verlief. »Wie lange müssen wir hier bleiben? Mingox hat gerade noch einmal bestätigt, dass sich in mir keine Rückstände jenes Stoffes mehr ausfindig machen lassen, der den Treymor offenbar meine Position verraten konnte. Demnach könnten wir bereits jetzt zu deinem Auftraggeber gehen. Ich habe es doch richtig verstanden – dort warten meine Leute auf mich? Sie alle wurden vor den Treymor in Sicherheit gebracht … und ich vor ihnen, damit ich sie nicht mit ins Ver-
derben reiße?« »Wie bleiben noch auf dieser Position«, beschied ihm Quarsolen, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Augen dominierten das schlangenartig gemusterte Gesicht, ihr Rot hatte John beim ersten Betrachten eine Gänsehaut über den Rücken gejagt, und auch jetzt fühlte er sich unter den Blicken des Soldaten unwohl. »Warum?« »So lauten meine Befehle.« »Die du von Taurt erhältst?« Quarsolen bestätigte dies. Für Cloud war es immer noch ein kleines Wunder, dass das Protogeschöpf der Foronen hinter dem offenbar einzig aktiven Widerstand innerhalb Tovah'Zaras steckte. Nach all der Zeit, die hier vergangen war … »Kannst du dich mit ihm in Verbindung setzen? Von hier aus, meine ich, unserer gegenwärtigen Position?« Der Rochengleiter hatte sich in die Tiefen eines verlassenen Vaaren-Stocks zurückgezogen. Eine riesige, labyrinthartig verschachtelte Stadt, deren breite Straßen es dem Rochen problemlos erlaubten, fast bis zur Mitte des beeindruckenden Bauwerks vorzustoßen. Hier, so hatte Quarsolen verkündet, wollten sie ausharren, bis Entwarnung gegeben werden konnte. Bis sicher war, dass ihnen keine weitere gezielte Verfolgung drohte, nur weil er, John, bei ihnen war. »Damit würden wir dem Feind in die Hände spielen. Wir müssen davon ausgehen, dass er Funk abhören und Sendungen zu ihrer Quelle zurückverfolgen kann – aber ich bin sicher, das weißt du selbst, Johncloud.« Hatte John den Sauroiden anfangs noch für einen tumben Söldner mit wenig Grips gehalten, so hatte er diese Meinung im Laufe ihres Beisammenseins revidieren müssen. Die Echsenartigen waren alles andere als geistig schwache Befehlsempfänger. Gerade Quarsolen ließ immer wieder aufblitzen, dass er mehr im Kopf hatte als kämpfen. Er machte einen blitzgescheiten Eindruck, vor allem, wenn er kleine Spitzen setzte, wie gerade eben. »Vielleicht überschätzt du mich.«
»Vielleicht überschätzt Taurt dich.« John lächelte, obwohl das schlechte Gefühl noch immer da war. »Wo hat er euch eigentlich aufgegabelt – oder wie seid ihr zu ihm gekommen? Oder ist die Frage zu … indiskret?« »Es liegt an Taurt, dir das zu sagen. Fest steht, wir sind ihm unendlich dankbar für das, was er für uns tat. Und diese Dankbarkeit verpflichtet uns zu absoluter Treue. – Kennt man das bei deiner Spezies auch, Johncloud?« »Kennen ja, aber die Wenigsten halten sich an diesen Kodex, leider.« Offenbar kam so viel Offenheit bei Quarsolen an. Sofort nahm er eine etwas entspanntere und weniger ablehnende Haltung an. »Noch einmal: Wir haben Taurt alles zu verdanken. Ohne ihn gäbe es uns nicht mehr. Das muss dir fürs Erste genügen. – Ist das für dich akzeptabel?« Cloud nickte. »Auch ich habe euch ja mittlerweile mein Leben zu verdanken. Was ich nicht vergesse. Weder auf euch noch auf ihn …« Er nickte zu Mingox hin. »… bezogen. Ich hoffe, ich kann mich irgendwann einmal dafür revanchieren.« In diesem Moment ahnte er noch nicht, wie nah dieses »Irgendwann« bereits war. Und wie kläglich er beim Versuch, sein Versprechen wahr zu machen, scheitern würde.
Die Annäherung an die Quarantäneposition erfolgte mit aller gebotenen Vorsicht. Offenbar verließen sich die Tayaner, wie Taurt die Echsenartigen nannte, ohne weiter auf ihre Herkunft eingegangen zu sein, nicht blind auf den Ortungsschutz, mit dem die Rochengleiter ausgestattet waren. Ein Ortungsschutz, der in erster Linie aus einer hauchdünnen Schicht pechschwarzer, speziell aufbereiteter Protomaterie bestand. Sieben schwarze Schiffe glitten mit insgesamt 4867 Passagieren an Bord auf die Koordinaten zu, bei denen John auf sie warten sollte.
Er wusste nichts von ihrer Annäherung. Taurt hatte den Tayanern, in deren Obhut der Commander sich befand, klare Instruktionen erteilt, mied aber seither jeden Funkkontakt mit ihnen. Erst unmittelbar vor Ort würde der Kleine Arto ausgeschleust werden, der die Reise mitmachte, und als Vorbote in den Vaarenstock eindringen, um Quarsolen darüber zu informieren, dass es Planänderungen gegeben hatte. Und dass die Ankömmlinge einen der Vaarengleiter zur freien Nutzung erhalten würden, während die restlichen im Vaarenstock ausharren sollten, bis deren Mission erfüllt war. Die Mission … Wenn Scobee daran dachte, sträubten sich ihr unwillkürlich die Nackenhaare. Zusammen mit Taurt hatten sie einen Plan zur Rückeroberung der RUBIKON ausgearbeitet, der aber erst nach erfolgreicher Wiedervereinigung mit John in Kraft treten würde. Zumal auch er noch sein Okay dazu geben musste. Scobee fieberte dem Wiedersehen entgegen. Ihnen allen war versprochen worden, dass sie ihren Commander so antreffen würden, wie sie ihn in bester Erinnerung hatten aus der Zeit vor der Beeinflussung. »Wie lange noch?«, wandte sie sich an den Kleinen Erl, der wieder die Gestalt eines zwergenhaften Menschen angenommen hatte und sich darin wohler zu fühlen schien als in der des Tausendfüßlerfischs. Außerdem hatte er sich seit dem Start aus Taurts Hauptquartier absolut manierlich benommen, sodass Scobee sich fragte, ob sein »Vater« ihn sich vor dem Aufbruch noch einmal zur Brust genommen hatte. »Eine Stunde eurer Zeit.« Eine Antwort ohne jedes »schmückende« Beiwerk – so ließ Scobee sich die Zusammenarbeit gefallen. »Ist schon etwas zu sehen?« Sie blickte zu den Wandbildschirmen, in denen bislang nur das grün erhellte Einerlei des Aquakubus geschimmert hatte. »Gleich«, behauptete der Kleine Erl. »Da. Die ersten Umrisse. Wir halten genau darauf –«
Er brach ab. Der Rochengleiter stoppte, und zwar so jäh, dass sämtliche Insassen durcheinander gewürfelt wurden. Niemand verletzte sich ernsthaft, aber Scobee wusste sofort, dass etwas Außerplanmäßiges passiert war. Der Tayaner Quinux drängte sich zum Kleinen Arto vor, der als Erster wieder auf den Beinen war – Scobee glaubte sogar beobachtet zu haben, dass er während des Bremsmanövers felsenfest an seinem Platz stehen blieb, als Einziger im ganzen Schiff. »Herr!« Quinux sprach den Kleinen Arto wahrhaftig mit »Herr« an. »Wir müssen sofort abdrehen.« »Warum?«, fragte der Zwerg. »Deshalb.« Der Tayaner zeigte auf den größten der Bildschirme, auf dem sich die verlassene Korallenstadt inzwischen klar ersichtlich abzeichnete. Ebenso klar wie das unmittelbare Umfeld, das nicht halb so verlassen war. Im Gegenteil. Die Wasser rings um den Stock, dessen Oberfläche mindestens vierzig Quadratkilometer maß und dessen Gesamtvolumen bei geschätzten hundert Kubikkilometern lag, brodelten regelrecht, aufgewühlt von einer ganzen Flotte X-Schiffen. »Aber«, keuchte Scobee, »wir können nicht abdrehen! John …« Nur Sekunden nach diesem Ausruf demonstrierten die Treymor, dass jedes andere Verhalten als Umkehr und Flucht einem Selbstmord gleichkam. Die Geschütze der X-Schiffe nahmen den gigantischen Korallenstock unter Feuer, fraßen sich tief ins kalkige Fleisch der uralten Stadt …
Die Hölle öffnete ihre Tore ohne jede Vorwarnung. Der Rochengleiter erbebte. Quarsolen brüllte mehrere Befehle in rascher Abfolge. Aber keiner davon änderte etwas an der Tatsache, dass ein unheimlicher Lärm durch das Schiff tobte, der Cloud
schlagartig klar machte, dass alles Wunschdenken seinerseits durch die brutale Realität eingeholt worden war. Mingox musste sich geirrt haben. Es gab noch immer eine Spur, die unübersehbar überall dorthin führte, wo Cloud sich gerade aufhielt! Der Luure kauerte verängstigt unterhalb einer Wandkonsole, über der sich ein Bildschirm spannte. Ab und zu entschlüpfte ihm ein panisches Kreischen, das aber im allgemeinen Geräuschpegel fast unterging. »Wir müssen weg hier! Bevor alles um uns herum zusammenstürzt!«, schrie Cloud in Quarsolens Richtung, der einen kleinen Mittelsteg entlang zur Steuerkanzel des Rochens eilte. Dort saßen zwei Piloten in ständiger Bereitschaft. Cloud warf einen Blick auf Mingox, der aber nicht in unmittelbarerer Gefahr schwebte als alle anderen Insassen. Dann folgte er Quarsolen, dessen Leute erstaunlich ruhig blieben, während das Schiff in allen Nähten (gab es die überhaupt?) ächzte und man jeden Moment fürchten musste, dass es auseinander riss. Cloud holte Quarsolen in dem Moment ein, da dieser die Tür zum Cockpit aufhebelte. Er hörte, wie der Sauroide Anweisungen erteilte … die aber offenbar für seinen Geschmack zu zögerlich befolgt wurden, denn er beugte sich über den Pilotensitz und zerrte den darin befindlichen Tayaner einfach heraus. Dann zwängt er sich selbst in den Sitz, während der Pilot sich ohne Protest nach hinten entfernte. Am liebsten wäre Cloud mit dem zweiten Piloten ebenso verfahren und hätte mitgemischt. Es war ein unerträgliches Gefühl, tatenlos zuzusehen, wie rings um den Vaarengleiter selbst im Wasser glutende Trümmer an ihnen vorbeischrammten, hier und da auch den Rumpf des Fahrzeugs trafen und Schaden anrichteten, über dessen Tragweite sich momentan noch nichts sagen ließ. Quarsolen startete den Antrieb des Rochen. Und ging dabei nicht zimperlich vor. Vor ihm erschien ein Navigationsraster auf der glasartigen Scheibe, die freien Blick nach draußen ermöglichte, in die zugleich aber auch permanent Daten eingespielt wurden.
Cloud musste einsehen, dass er sich mit dieser Art von Steuerung niemals auf die Schnelle hätte zurechtfinden können. Aber Quarsolen vermittelte ohnehin nicht den Eindruck, als wäre er bereit, die Kontrolle an jemanden wie Cloud abzutreten. Er wäre auch ein kompletter Narr gewesen, befand John. Seine Finger krallten sich in die obere Kante der Rückenlehne beider Sitze, und geduckt spähte er durch dasselbe Fenster, das auch Quarsolen und sein Kopilot, der sich damit begnügte, irgendwelche Systemwerte aufzusagen, benutzten. Kaum war der Antrieb gestartet, glitten die Hindernisse mit atemberaubender Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Die korridorartigen Straßen, die sie benutzt hatten, um in die Stadt zu gelangen, existierten weitenteils gar nicht mehr – jedenfalls nicht mehr als durchlässige Routen. Quarsolen war ein ums andere Mal gezwungen, die Bordgeschütze anzufeuern, um im letzten Moment eine blockierte Passage doch noch befahrbar zu machen. Indes trieben weiterhin glühende Gebilde an ihnen vorbei, die keinen Zweifel daran ließen, was gerade geschah: Die Stadt wurde unter Beschuss genommen. Mit schwerstem Kaliber. Und dahinter konnten nur die Treymor stecken. Minutenlang, die sich eine Ewigkeit anfühlten, stand der Rochengleiter mehrfach vor der völligen Vernichtung, weil er immer wieder mit gigantischen Trümmerstücken zusammenzustoßen drohte. Quarsolen erwies sich als Pilot mit überragenden Reflexen. »Wir schaffen es!«, entfuhr es Cloud, als die Passagen, in die der Tayaner den Gleiter lenkte, zunehmend unversehrter wirkten, so als hätte er inzwischen Bereiche der Stadt erreicht, die dem Treymorfeuer noch nicht ausgesetzt waren. Quarsolen grunzte etwas Unverständliches, aber Cloud schrieb es sich hinter die Ohren, weil er wusste, was es zu bedeuten hatte: Der Tayaner verbat sich jeden verfrühten Optimismus – und jede Störung. Doch eine halbe Minute später … durchstieß der Rochen tatsächlich die letzte Krustenstruktur des Korallenstocks und schoss in offe-
nes Gewässer. Geschaf-, setzte Cloud innerlich zum Freudenschrei an. Doch der erstickte ihm in der Kehle, bevor auch nur ein Laut über die Lippen kam. Von allen Seiten kamen sie heran. X-Schiffe, Dutzende, Hunderte … Sie kesselten den Vaarengleiter mit unglaublicher Präzision ein, und superstarke Traktorfelder fixierten ihn in der Schale, die die Raumschiffe bildeten. Selbst bei Volllast schaffte der Antrieb des Rochens es nicht, sich gegen die von außen wirkenden Kräfte zu behaupten. Schließlich schaltete Quarsolen ihn ab. Es war totenstill an Bord geworden. Nicht einmal mehr Mingox' Jammern war zu hören. Der Tayaner saß wie eine Statue im Sitz. Und auch der Kopilot regte sich kaum. »Verdammt«, quetschte Cloud einen Fluch durch die Zähne. »Fast hätten wir's geschafft. Du warst toll, Tayaner. Absolut fantastisch.« Das Lob rührte den Sauroiden nicht. Hatte er resigniert? Doch dann bewies Quarsolen doch noch Kampfgeist. Er stemmte sich aus dem Sitz, schob Cloud beiseite und eilte nach hinten zu seinen Männern, denen er eindeutige Befehle zubellte. Sie sollten sich bereit machen, verstand Cloud, bereit zum Kampf. Welchem Kampf?, dachte er. Da durchlief nach längerer Pause doch wieder eine Erschütterung den Rochen. »Leck!«, schrie ein Tayaner und gab die genaue Position durch, zu der sich alle Augen richteten. Viele, bevor der Ruf überhaupt erklungen war. Weil das Aufplatzen der Hülle mit einem sofortigen Wassereinbruch verbunden war, der … erstaunlicherweise kurz darauf wieder aufhörte. Etwas flimmerte über den gezackten Rändern der herausgesprengten Öffnung. Cloud begriff, worum es sich handelte. »Eine Waffe!«, rief er Quarsolen zu. »Ich brauche eine Waffe! Achtung! Sie kommen gleich durch!«
Das schienen die Tayaner bereits vor ihm erfasst zu haben. Ihre Handwaffen klickten aus den Gürtelbefestigungen. Läufe ruckten hoch. Mündungen glommen in unheilvollem Licht. Fast lautlos glitt der erste Treymor durch die membranartige Energieabdichtung, die die Käferartigen mutmaßlich nur für sich selbst angebracht hatten. Wasser war nicht ihr Metier. Brutales Vorgehen dafür umso mehr, wie Cloud hautnah erleben musste. Angesichts der Bilder legte sich die vage Erinnerung, die er aus der Zeit seiner Beeinflussung mitgenommen hatte, wie ein eisiger Schatten über sein Gemüt. Diesen Bestien hatte er Vertrauen geschenkt? Der Treymor wurde noch im Herabsinken (er fiel nicht, offenbar benutzte er ein Antigravaggregat) von mehreren Schüssen aus den Waffen der Tayaner getroffen. Erst der zwanzigste oder dreißigste Treffer durchschlug seinen Körperschild und stanzte ein Loch in den Chitinpanzer. Was den Eindringling aber nicht daran hinderte, seinerseits das Feuer aus einem martialisch geformten Gewehr zu eröffnen und drei Tayaner niederzustrecken, bevor auch ihn endlich ein finaler Schuss traf, der ihn in sich zusammensacken ließ. Dabei kam eine seiner Gliedmaßen offenbar an den Schalter des A-Gravs. Der Leichnam gelangte nicht bis zum Deck des Rochenschiffs, sondern blieb einfach einen halben Meter darüber in der Luft hängen. Indes folgten aber bereits Treymor zwei bis vier – und die hatten offenbar den Tod ihres Artgenossen registriert, zumindest eröffneten sie das Feuer auf die Insassen des Rochens noch vehementer als der Erste es getan hatte. Erstaunlich dabei: Ihre Waffen richteten verheerenden Schaden unter den Tayanern an, aber kaum am Rochenschiff selbst. Entweder sie waren begnadete Schützen, oder ihre Waffen waren speziell auf bewegliche Ziele programmiert. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Tayaner, die sich am gewandtesten durch den Schiffsbauch bewegten und gegen die Treymor vorrückten, erwischte es zuerst. Cloud versuchte zu Quarsolen vorzudringen und ihm seine Beobachtung mitzuteilen. Aber bis es ihm gelang, lag bereits die Hälfte
der Tayaner niedergemetzelt auf dem Decksboden. »Möglichst nicht bewegen«, raunte Cloud Quarsolen zu und erklärte ihm seine Beobachtung mit nicht mehr als zehn Worten. Der Tayaner machte eine kurze Geste, die vielleicht Dank ausdrücken sollte, dann instruierte er seine Leute noch knapper. Sofort erstarrte die Szene – zumindest, was die Tayaner anging. Erstaunlich, wie diszipliniert sie augenblicklich von absoluter Agilität auf absolute Starre umschalteten. Die einzige Bewegung vollführten fortan die Läufe ihrer Waffen, die den inzwischen gelandeten Treymor Tod und Verderben entgegenspien, dabei auch öfter mal fehl gingen und Lecks in die Schiffshülle rissen. Winzige Lecks, durch die fontänenartig Wasser einbrach, die aber dem immensen Außendruck dennoch nicht nachgaben und sich unkontrollierbar erweiterten. Die gelandeten Treymor fielen nach und nach unter dem Trefferhagel der Tayaner. Doch der Nachschub an neuen Kämpfern schien unerschöpflich. Cloud musste erkennen, dass sie nur einen Pyrrhussieg errungen hatten. Spätestens in dem Moment, als neben ihm … Quarsolen fiel. Nein!, zuckte es durch Clouds Gehirn. Verdammt – nein! Aber die Realität ließ sich von seinem inneren Aufschrei nicht biegen. Sie blieb grausam und erschütternd. Quarsolen rührte sich nicht mehr, für ihn kam jede Hilfe zu spät. Ein Schuss hatte ihn mitten in den Kopf getroffen, und diesen Kopf gab es nun nur noch in rudimentären Ansätzen. Stattdessen pulsierte dunkelrotes Blut aus der Wunde und verteilte sich über den Decksboden. Als wäre dies ein Signal an seine Männer gewesen, ein Signal von lähmender Aussagekraft, geriet deren bislang entschlossener Widerstand abrupt ins Stocken. Nacheinander fielen auch sie. Kein einziger Tayaner wurde von den Treymor verschont. Ungläubig hatte sich Cloud längst die Waffe aus der Faust des toten Quarsolen geschnappt und damit zu schießen begonnen. Doch er richtete kaum etwas aus. Zwei Treymor kamen auf ihn zu. Einer
schlug ihm mit dem Schaft seines Gewehrs auf den Handrücken, und die Waffe wurde davongeschleudert. Gleißender Schmerz fraß sich durch Clouds Arm. Ob etwas gebrochen war, wusste er nicht. Der nächste Hieb traf ihn am Kopf und er wurde rücklings zu Boden geschmettert. Der Schlag war nicht heftig genug gewesen, um ihm das Bewusstsein zu rauben. Aber er genügte, um ihn benommen zu machen, daran zu hindern, zur neuerlichen Gegenwehr anzusetzen. Und so sah er, wie sie Mingox aus der Deckung der Konsole herauszerrten. Erstaunlicherweise kreischte der Luure nicht, sondern starrte seine Peiniger nur aus glasigen, entsetzlich geweiteten Augen an. »Lasst – ihn …«, presste Cloud hervor. »Ihr habt mich, was wollt ihr –« Weiter kam er nicht. Einer der Treymor setzte die Mündung seines Gewehrs in den Nacken des Luuren. Als er abdrückte, kamen Knochensplitter, Knorpel, Fleisch und Blut gegen den Boden geschossen. Es sah aus, als übergebe Mingox sich in fürchterlichster Weise. Sein Körper erlahmte im Griff der Treymor. Clouds Benommenheit wich einer Leere, wie er sie kaum jemals zuvor erlebt hatte. »Ihr feigen Mörder!«, flüsterte er. Die Treymor zeigten sich davon unberührt. Sie kamen auf Cloud zu, und fast hoffte er, sie würden ihre Waffen auch in sein Genick setzen und abdrücken. Aber das taten sie nicht. Sie zerrten ihn auf die Beine und schwebten dann, einer rechts, einer links, mit ihm zur Decke, wo sie ihn hindurchschoben und er draußen schon von anderen Treymor erwartet wurde, die ihn durch einen Schlauch aus Prallenergie zu einem riesig über dem Rochen schwebenden X-Schiff hinauftrugen. Als er oben ankam, wurde ihm mit eisiger Klarheit bewusst, dass all die Geschöpfe im Rochengleiter nur seinetwegen gestorben waren. Er schloss die Augen und hörte auf, sich von den Treymor drang-
salieren zu lassen. Ihre Schläge und Tritte erreichten sein Bewusstsein nicht mehr. Für eine lange Zeit sah, hörte und fühlte er nichts, gar nichts mehr.
Der Kleine Arto war unterwegs. Der Kleine Arto machte sich noch kleiner, als sonst, noch unauffälliger, und schlüpfte durch das Raster der feindlichen Ortung. Näher und näher kam er den über der Korallenstadt kreisenden Schiffen der Unwos. Der Kleine Arto blieb so lange, wie die Unwos blieben. Nachdem sie verschwunden waren, tauchte er in das zurückgelassene einstige Vaaren-Schiff, erschrak ob der Szenen, die ihn dort erwarteten, zeichnete aber auch hier alles akribisch auf … und kehrte dann zu denen zurück, die auf seine Bilder warteten.
»Ich beglückwünsche dich«, sagte der Gesegnete und trat so dicht an Lomax heran, dass dem Luuren fast das Herz stehen blieb. »Du bist ein würdiger Nachfolger desjenigen, der offenbar zum Feind überlief. Ich danke dir für deinen Einfall, der letztlich zum Erfolg führte. Dass wir Johncloud in unsere Gewalt bekommen haben, ist zuallererst dein Verdienst, Lomax.« Lomax spürte eine tiefe innere Befriedigung … und weigerte sich, der Betroffenheit Raum zu schenken, die ebenfalls irgendwo in ihm existierte. Ja, er hatte den Gesegneten darauf hingewiesen, dass sich das Protospürgerät vielleicht doch noch als wertvoll erweisen könnte – auch wenn davon ausgegangen werden musste, dass Johncloud selbst nicht mehr unter den Lebenden weilte. Aber vielleicht … Vielleicht?, hatte Farrak ihn gedrängt. … ließe sich damit der Abtrünnige aufspüren, Mingox, von dem keinesfalls klar war, wohin er eigentlich verschwunden war. Damit ließe sich zugleich vielleicht auch ein geheimer Verschwörerstützpunkt finden, von dem in diesen Zeiten immer häufiger die Rede unter den Gesegneten war.
Farrak war sofort Feuer und Flamme gewesen. Luuren, so hatte Lomax argumentiert, trugen in ihren Körpern ebenfalls Protorückstände, die sich vielleicht mit dem Spürer finden ließen. Man musste nur die Gebiete abseits der Regionen absuchen, die von Luuren bewohnt wurden. (Inzwischen wusste Lomax ja, wie dünn gesät seine Art in Tovah'Zara nur noch war – aber er hatte noch nicht den Mut gefunden, die Gesegneten darauf anzusprechen.) Gesagt, getan. Farrak unterstützte Lomax, wo immer er konnte – drängte aber auch, nicht die Aufgabe zu vergessen, die Lomax ebenfalls von Mingox geerbt hatte: das seltsame Gehirn, das zu immenser Größe gewuchert war und ein Objekt ausfüllte, das die Gesegneten zur Silberstadt hatten schaffen lassen. Auch Lomax fieberte der Arbeit daran entgegen. Doch er wollte auch Mingox Verbleib klären. Ob aus Sorge, der verloren gegangene Luure könne eines Tages zurückkehren und seine Position zurückfordern, oder aus tatsächlicher Anteilnahme am Schicksal seines Lehrmeisters, wusste er selbst nicht zu sagen. Fakt war: Er hatte ihn gefunden. Und dort, wo Mingox war, hatte eine noch größere Sensation gewartet: Johncloud war gar nicht in der Station umgekommen, die von Sprengsätzen zerstört worden war! »Was wird mit Mingox geschehen?«, fragte Lomax noch schnell, als er merkte, dass Farrak sich zurückziehen wollte. Der Gesegnete drehte sich noch einmal zu ihm um. »Sagte ich das nicht?« »Was?« »Mingox kam bedauerlicherweise bei dem Einsatz, der Johncloud gefangen setzte, um. Ein bedauerliches Unglück, ich hätte ihn gern mit offenen Armen wieder aufgenommen. Aber vielleicht …« Der Blick aus Farraks Augen schien bis auf den Grund von Lomax' Seele hinab zu reichen und dort Wahrheiten zu entdecken, von denen möglicherweise nicht einmal Lomax selbst alles wusste. »… ist es besser so. Nicht wahr, Lomax?«
Lomax krächzte eine Bestätigung und schämte sich dafür. Aber Scham dauerte nicht ewig. Schon bald nach Farraks Weggang vergaß oder verdrängte der Luure Mingox' Schicksal und wandte sich dem Objekt zu, das die Gesegneten ihm ans Herz gelegt hatten. Irgendwo in der Silberstadt warteten schon die Bioniker, mit denen er zusammenarbeiten sollte. Um etwas völlig Neues zu erschaffen. Etwas nie Dagewesenes und … Über-Mächtiges …
Epilog Farrak hatte Vilgamasch hinzugezogen, um die Anlage zu erforschen, die in der Lage zu sein schien, ein Lebewesen quasi aus dem Zeitfluss herauszuschälen und in vollkommene Stasis zu versetzen. Und Vilgamasch hatte tatsächlich das an Ideengut beisteuern können, was noch fehlte, um den Gerätekomplex binnen kürzester Zeit zu bedienen. Der Heukone war ein »Intuitivtechniker«. Er erspürte Zusammenhänge selbst bei fremdartigster Bauweise. »Du bist dir deiner Sache sicher?« »Ich habe Euch nie enttäuscht, Gesegneter, und werde es auch in diesem Fall nicht. Gebt mir das Zeichen, und ich starte den Auflösungsprozess.« Farrak wusste, was Vilgamasch damit meinte: Nicht der Inhalt des Blocks würde sich auflösen, sondern lediglich das Stasisfeld, das ihn konservierte. Er warf einen letzten Rundblick auf die bereitstehenden Waffenträger, die klare Anweisung erhalten hatten: Beim geringsten Anzeichen von Gefahr würden sie den Erweckten sofort eliminieren. Gleichzeitig war ein Fesselfeld auf die Stelle gerichtet, wo gleich das Eis der Stasis schmelzen würde. »Ich vertraue dir.« »Danke, Gesegneter.« »Fang an.« Vilgamasch nahm ein paar Einstellungen an dem Geräteverbund vor, der zusammen mit dem Quader aus dem Legendenschiff in die Silberstadt verbracht worden war. Die Farbe des Blocks begann sich sogleich zu verändern. Das eisige Grau wich einem zarten Blauton. Die Festigkeit des Quaders geriet ebenfalls ins Wanken. Aus greifbarer Masse wurde … ja, was? Licht?
Alles ging viel schneller, als Farrak es erwartet hatte. Die Stasisenergie »taute«, als wäre es tatsächlich Eis, das der Hitze eines Hochofens ausgesetzt wurde. Ins Rötliche rutschte das Spektrum des Lichts. Dann … erlosch es. Der Körper, der an ein Säugetierorgan erinnerte, blieb weiter in der Schwebe. Antigravitation hielt ihn dort. Farrak warf einen Blick auf die Vitalanzeige seines Diagnosestifts, den er unwillkürlich gezogen und auf den Schwebenden gerichtet hatte. Schlagartig stiegen die Werte von Null auf kraftstrotzende Werte. Auch das ging Farrak fast zu schnell. Im Nachhinein wurde ihm klar, dass er nicht unbedingt daran geglaubt hatte, dass die Erweckungsprozedur Erfolg haben würde. Funktionieren könnte. Aber sie tat es. Der Verheerer schlug alle über seine Haut verteilten Augen gleichzeitig auf. Er blinzelte nicht einmal. Farrak wusste, dass das Fesselfeld aktiviert war. Alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen waren getroffen. Notfalls würde ein Schuss das verderbte Leben dieses Monsters beenden. Dieses ungeheuer faszinierenden Monsters, von dem Farrak sich einiges versprach. Selbst wenn es jetzt sterben sollte … Er wollte gerade die Stimme erheben, um den Stasisschläfer im Hier und Jetzt zu begrüßen, als es geschah. Das Wesen namens Darnok schien zu flackern. Als wäre er nur eine Holografie, die gerade einem Störfeuer ausgesetzt wurde. »Was –« Farraks Blick suchte Vilgamasch, dessen erregte Korrekturen an den Gerätekontrollen überdeutlich machte, dass etwas aus dem Ruder lief. Und dann … hörte das Flackern so plötzlich wieder auf, wie es begonnen hatte. Was aber kein Grund zur Entwarnung an. Farrak hörte einen schrillen Schrei aus, von dem er erst im Nach-
hinein merkte, dass er aus ihm selbst gekommen war. Ein Schrei, der all das dokumentierte, was in diesem Moment in ihm vorging. »Sofort alle raus hier. Sektion komplett mit Gammastrahlung fluten, sobald wir draußen sind. Komplett!« Wenigstens dieser Prozess verlief reibungslos. Dennoch – der Verheerer, der sich einfach vor ihren Augen aus ihrer Wahrnehmung verabschiedet hatte, blieb verschwunden. Auch mörderischste Strahlung brachte ihn nicht wieder zum Vorschein. Was nur eins bedeuten konnte, dachte Farrak düster. Dass er nicht mehr in der Kammer ist, sondern irgendwo. Irgendwo im Labyrinth der Silberstadt … Ein Schauder durchrann ihn. Was habe ich nur … getan?
Epilog II Zurück in Taurts Stützpunkt brachte der Rebell gegen das Regime der Treymor in Tovah'Zara sein Bedauern über die fehlgeschlagene Zusammenführung mit John Cloud zum Ausdruck. Scobee spürte einmal mehr die tiefe Aufrichtigkeit dieses Geschöpfes, dem es offenbar gelungen war, sich ganz und gar vom Schatten seiner Schöpfer zu befreien. Taurt machte einen mehr als integeren Eindruck. Er fand tröstende Worte, die in dem Versprechen mündeten: »Euer Freund ist nicht aufgegeben. Lasst uns gemeinsam besprechen, wie wir ihn finden, befreien und die, die ihn unter großem Blutvergießen in ihre Gewalt gebracht haben, dafür büßen lassen können!« Aber noch während er dies sagte, sagte ihre Intuition Scobee, dass sich Taurts Körpersprache und auch sein Tonfall auffällig verändert hatten. Spontan fragte sie: »Hast du vielleicht auch noch eine Hiobsbotschaft zu vermelden?« An der Art und Weise, wie er sich straffte, dabei ertappte, zu viel von seinem Innersten in sein Äußeres hatte einfließen lassen, erkannte sie sofort, dass ihr Schuss ins Blaue voll ins Schwarze getroffen hatte. »Du hast recht. Eine Hiobsbotschaft – das könnte der treffende Ausdruck dafür sein, was mir meine Assistenten während eurer Abwesenheit eröffneten.« »Worum geht es?«, fragte Scobee. Sie wollte es nicht auf die lange Bank schieben – wenn es auch sie betraf, wollte sie es lieber gleich wissen. »Um das Signal, von dem ich dir erzählte. Das von den Kantenstationen des Kubus in die Tiefe des Weltalls abgestrahlt wurde.« »Konnte es entschlüsselt werden?« Taurt bejahte. »Nicht nur das. Wir konnten auch ein mögliches Ziel ausmachen.« »Wie lautete die Nachricht – und wohin ging sie eurer Meinung
nach. Befindet sich der Empfänger am Ende doch in der Milchstraße oder der direkten Nachbarschaft?« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.« »Sondern?« »Du kennst das ungefähre Alter des Universums?« »13,7 Milliarden der Jahre, in denen Menschen rechnen.« »Das klingt vernünftig«, sagte Taurt und ließ dabei offen, ob er es humorig meinte. »Das Ziel, das wir errechneten und mit der Drift der Galaxien – wie du weißt, expandiert das Weltall unaufhörlich – abglichen, liegt im normaloptischen Bereich nicht in der Richtung, in die der Strahl ging. Aber rechnerisch ließ sich eine Galaxie zuordnen – du verstehst?« »In etwa. Aber du klingst, als wäre es ein unvorstellbar weit entferntes Ziel.« »Was unvorstellbar ist, kommt auf den an, der es sich vorstellen soll – bei dir und mir glaube ich, es bleibt vorstellbar.« »Wo?«, fragte Scobee nur, ohne ihn in diesem Glauben bestärken oder widerlegen zu wollen. »Eleyson.« »Was ist das?« »So wird die Galaxie im Sternenverzeichnis der Foronen genannt. Es ist eine der ältesten Galaxien des Kosmos. Sie entstand schon vor rund … nun, dreizehn Milliarden eurer Jahre. Mit einem optischen Teleskop betrachtet, befindet sie sich an einer völlig anderen Stelle als der, in die das Treymor-Signal ging. Aber real ist sie das einzige Objekt, das seine Bahn absolut exakt kreuzt.« »Eleyson … Aber dreizehn Milliarden Jahre …« »Vielleicht interessiert dich ein Detail, das ich bislang verschwiegen habe.« »Immer.« Scobee verzog das Gesicht. Eigentlich hatte sie genug. Längst genug. Andererseits siegte letztlich doch die Neugier. »Das Signal, das die Treymor abstrahlten, hatte eine Geschwindigkeit und Stabilität, die nahe legt, dass es selbst eine Entfernung wie die genannte fast in Nullzeit zurücklegt.« »In Nullzeit? Was für eine Technologie soll das sein?«
»Das«, bekräftigte Taurt, »wüsste ich auch gern. Sie übersteigt meines Erachtens – und ich berufe mich auf Langzeitbeobachtungen – das eigentliche Vermögen der Treymor bei weitem.« »Es wird immer mysteriöser. Aber wie lautet denn nun die Nachricht an sich?« »Sie ist so knapp und fast nichtssagend, dass man nur betroffen sein kann ob des Aufwands, der für die betrieben wurde. Sie lautet: ›Kommt. Sie sind hier.‹« »Du scherzt.« »Sehe ich so aus?« Scobee schüttelte den Kopf. Kommt. Sie sind hier. Das war nichts. Das war noch nicht einmal eine echte Nachricht. Aber gleichzeitig strahlten die vier Worte eine Bedrohlichkeit aus, die sich nicht erklären ließ. Noch nicht. »Sie haben jemanden gerufen, so viel ist klar«, murmelte sie. »Nur wen?« Taurt antwortete ebenso verhalten: »Wir werden es erfahren. Fürchte ich. Und vielleicht wäre es für dich und deine Freunde besser, wenn ihr vorher den Mann befreit hättet, an dem die Treymor offenbar größtes Interesse haben.« »Glaubst du, ›sie sind hier‹ bezieht sich auf uns?« Taurt schüttelte in menschlicher Manier den Kopf. Es war das erste Mal, dass sie es bei ihm sah. »Nein. Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, ihr solltet fort sein, wenn das kommt, was gerufen wurde.« »Wirst du davor fliehen?« »Wie könnte ich? Tovah'Zara ist alles, was ich habe. Und es beherbergt so viele unschuldig Verfolgte, die nur mich als Hoffnung haben – auch wenn sie noch nicht einmal das wissen.« »Du bist ein merkwürdiges Geschöpf, Taurt. Aber ich mag dich.« Sie erwartete eine Erwiderung. Aber Taurt sah sie nur stumm und melancholisch an. Erst nach einer Weile sagte er: »Und jetzt höre, was ich vorzuschlagen habe, damit ihr euer Schiff wiederbekommt – und euren Commander …« ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobil gemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins AngkSystem gebracht. Wo sie mit Prosper Mérimée und dessen Leuten über eine »Energiestraße« auf die
Oberfläche eines der dortigen Planeten gelangt. Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt. Yael Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksystem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er … anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte … Charly Ein rätselhaftes Geschöpf, das offenbar von Yael ins Leben gerufen wurde, wie genau, weiß noch niemand – eine Art »unsichtbarer Freund«, der jedoch durchaus physischer Natur ist. Er kann von anderen nur wahrgenommen werden, wenn Yael das will. Und nicht selten kommt er aufwieglerisch daher wie ein moderner »Karlsson vom Dach«. Er ist der geborene Anstifter … Das Erste Reich Auch Angk-System. Sieben fast identisch wirkende Planeten teilen sich dieselbe Umlaufbahn um einen Fixstern. Untereinander verbunden sind diese Welten über ein Netz sogenannter Energiestraßen,
für die man allerdings eine Legitimation braucht, um sie benutzen zu können. Im Ersten Reich lebten laut Kargor einst – vor und seit einer Zeit, die er nicht näher spezifiziert – seine Artgenossen, die von den Gloriden als ERBAUER verehrten Schöpfer der CHARDHIN-Perlen.
Vorschau Die Graue Eminenz von Manfred Weinland
Der Aquakubus ist seit jeher ein tückisches Gewässer, erst recht, seit die Treymor dort das Sagen haben. Doch welche Ziele verfolgen sie wirklich und warum wurde der Kubus für sie zur idealen Basis. Um den Antworten darauf näherzukommen, will, nein muss die RUBIKON-Crew noch einmal ins Herz von Tovah'Zara vorstoßen, zur Silberstadt. Denn dorthin wurde ihr Raumschiff verschleppt – und ihr Commander …