Rudolf Huebener | Heinz Lübbig Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt
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Die Physikal...
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Rudolf Huebener | Heinz Lübbig Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt
Rudolf Huebener | Heinz Lübbig
Die PhysikalischTechnische Reichsanstalt Ihre Bedeutung beim Aufbau der modernen Physik POPULÄR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Prof. Dr. Rudolf Huebener promovierte1958 an der Universität Marburg im Fach Experimentalphysik. Nach einer Forschungstätigkeit in Karlsruhe und New York arbeitete er 12 Jahre am Argonne National Laboratory in Illinois, USA. 1974 übernahm er einen Lehrstuhl für Experimentalphysik an der Universität Tübingen mit dem Schwerpunkt Festkörperphysik, den er bis zu seiner Emeritierung 1999 behielt. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zusammen mit C. C. Tsuei 1992 den Max Planck Forschungspreis und 2001 den Cryogenics Prize. Rudolf Huebener hat mehrere Bücher veröffentlicht, beispielsweise Magnetic Flux Structures in Superconductors, 2. Ausgabe (2001), Electrons in Action (2005), Walther Nernst: Pioneer of Physics and of Chemistry (2007 zusammen mit H.-G. Bartel) und A Focus of Discoveries (2008 zusammen mit H. Lübbig). Dr. Heinz Lübbig Direktor und Professor a. D. bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, promovierte mit einem Thema aus der mathematischen Physik an der Technischen Universität Berlin; nach mehrjähriger Lehrtätigkeit war der wesentliche Teil seiner Forschungstätigkeit der Arbeit der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt an makroskopischen Quantenphänomenen gewidmet. Schwerpunkte bildeten die mikroskopische Dynamik in supraleitenden Systemen (Werthamer Theorie) sowie das Inverse Problem der Tomographie mittels biomagnetischer Signale. Neben zahlreichen Originalbeiträgen hat er u. a. die sechsbändige internationale Standardreihe Superconducting Quantuminterference Devices and their Applications (1976 - 1991) als Co-Editor publiziert und ein Buch über The Inverse Problem (1994) herausgegeben. – Der Artikel „Max Plancks natürliche Maßeinheiten und das konstitutive Junktim von Maß und Messen“ (in: Max Planck und die moderne Physik, D. Hoffmann (Hrsg.), Heidelberg 2010) spricht die Rückführung der Basiseinheiten auf Fundamentalkontanten an.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ulrich Sandten | Kerstin Hoffmann Vieweg+Teubner Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.viewegteubner.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-8348-1390-9
Geleitwort zur deutschen Ausgabe Die Geschichte der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) und ihrer Vorgängerinstitution, der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR), reicht weit zurück - bis ans Ende des 19. Jahrhunderts - und überdeckt somit große Epochen der Physik. Epochen, in denen sich die Physik ausdehnte und mächtige Modelle für die Beschreibung der Welt entwarf. Die Physik erweitert und präzisiert die Weltbeschreibung dabei stets auf zwei methodischen Wegen: durch Theorie und Experiment, durch Berechnung und durch Messung. Für das Messen mit höchstmöglicher Genauigkeit steht heute die PTB und stand früher die PTR. So stehen Präzisionsmessungen der Strahlung des Schwarzen Körpers, die Ferdinand Kurlbaum, Otto Lummer und Ernst Pringsheim im optischen Laboratorium in der frühen PTR durchführten, am Beginn der Quantenmechanik. Diese Messungen legten die experimentelle Basis für Max Planck, der im Jahr 1900 den revolutionären Mut besaß, Strahlung zu quanteln, und der so sein Strahlungsgesetz aufstellte. Schöner lässt sich die fruchtbare Verknüpfung von präziser Messung und theoretischem Modell kaum demonstrieren. Von solchen Verknüpfungen handelt dieses Buch, indem die Autoren eine Auswahl wissenschaftlicher Meilensteine der PTR in den Blick nehmen und sie dem Leser auch mit Hilfe zahlreicher Originaldokumente nahebringen. Die Entdeckung des Meissnereffekts in Supraleitern gehört hier ebenso dazu wie die Entdeckung des Elements Rhenium durch Ida Tacke und Walter Noddack oder die grundlegenden Beiträge von Hans Geiger, Walther Bothe und Werner Kolhörster zur Messung der Strahlung beim radioaktiven Zerfall. Und auch Albert Einstein und seine intensiven Beziehungen zur Reichsanstalt sind ein Thema dieses Buches. Sein einziges physikalisches Experiment führte der große Theoretiker Einstein mit Wander Johannes de Haas an der PTR durch: Messungen zu Amperes Molekularstrom-Hypothese. Die Geschichte der PTR und der PTB ist gespickt mit solchen Ergebnissen der “Messkunst” – Ergebnisse, die neue Erkenntnisse und technologische Fortschritte erbracht haben. Die Geschichte wird dabei nicht jetzt und auch nicht beim 125. Geburtstag der PTB im Jahr 2012 enden. Die Möglichkeiten der Präzisionsmessungen sind längst nicht ausgeschöpft. Die Geschichte der Physik und die Geschichte der Metrologie werden fortgeschrieben.
Braunschweig, August 2010
Ernst O. Göbel
Prof. Dr. Ernst O. Göbel, Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), Braunschweig und Berlin
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Vorwort Wenn man heute in Berlin aus der U-2 am Ernst-Reuter Platz aussteigt und die U-Bahn Station in nördlicher Richtung verlässt, dann stösst man nach wenigen hundert Metern an der Ecke Marchstrasse/Fraunhoferstrasse auf ein grosses, von einer beeindruckenden Mauer begrenztes Gelände, auf dem sich eine Reihe von schönen und achtunggebietenden Gebäuden befindet. Es handelt sich um das Institut Berlin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), die Nachfolgerin der im Jahr 1887 gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR). Das Gelände hat damals der Wissenschaftler und Unternehmer Dr. Werner Siemens dem Staat mit der Auflage geschenkt, dort ein vom Staat zu finanzierendes Forschungsinstitut zu errichten. Die Reichsanstalt wurde dann der weltweite Vorläufer aller anderen nationalen Institute für Metrologie. Um die vorletzte Jahrhundertwende und wenige Jahre danach wurden an der Reichsanstalt hochwichtige wissenschaftliche Ergebnisse erzielt, die die Physik des vergangenen Jahrhunderts entscheidend geprägt haben. Hier erwähnen wir nur, dass die durch Max Planck geschaffene Quantentheorie ihren Ursprung in Experimenten hatte, die an dieser Institution durchgeführt worden waren. Ferner hat Walther Meissner an dieser Stelle den anschliessend nach ihm benannten Effekt entdeckt, der zu einem Wendepunkt auf dem Gebiet der Supraleitung geführt hat. Heute befindet sich der grössere Teil der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, etwa 200 km westlich von Berlin, wo die PTB nach dem 2. Weltkrieg neu aufgebaut wurde. Das vorliegende Buch hebt auf der einen Seite die Anlässe hervor, die zur Gründung der Reichsanstalt geführt haben. Diese Begründungen aus der Vorgeschichte lassen sich kaum besser verdeutlichen als durch eine Reihe von Denkschriften, die verschiedene Persönlichkeiten damals für die Regierung angefertigt haben. Aus diesem Grund werden in einem gesonderten Kapitel fünf Denkschriften, zum Teil in abgekürzter Form, wiedergegeben. Grundsätzlich sind diese Denkschriften auch heute noch aktuell, wenn auch in veränderten Zusammenhängen. Auf der anderen Seite lag uns daran, die physikalischen Hintergründe und Fortschritte für einige besonders glanzvolle ausgewählte Beispiele zu schildern. Hierbei beschränken wir uns überwiegend auf die Zeit vor etwa 1933. Eine lückenlose, vollständige Darstellung der Entwicklungen in der PTR war keineswegs unsere Absicht. Hierzu liegen bereits ausgezeichnete Monographien vor, die im Literaturverzeichnis zusammengestellt sind. Ein herausragender Name ist in diesem Zusammenhang David Cahan vom Department of History der University of Nebraska in Lincoln, Nebraska, USA. Wir präsentieren dieses Buch zum 125-jährigen Jubiläum der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und ihrer Vorgänger Institution, der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Es handelt sich hier um die deutsche Ausgabe unseres 2008 beim Verlag World Scientific erschienenen Buches “A Focus of Discoveries”. Neben wenigen kleinen Ergänzungen haben wir am Ende als ein neues Kapitel einen aktuellen Beitrag über Quantennormale angefügt. Ferner wurde das Literaturverzeichnis ergänzt. Wie auch schon bisher sind wir Herrn Dr. Wolfgang Buck vom Institut Berlin der PTB für seine aktive Unterstützung zu besonderem Dank verpflichtet. Dem Verlag World Scientific danken wir für die grosszügige Einwilligung in die deutsche Ausgabe und Dr. Christian Gürlich, Tübingen, für die Erstellung der elektronischen Version des Manuskripts. Tübingen und Berlin, Juni 2010
Rudolf Huebener
Heinz Lübbig
Inhaltsverzeichnis Geleitwort zur deutschen Ausgabe Vorwort
V VI
1 Die Gründung und die Schlüsselrolle von Werner Siemens
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2 Fünf Denkschriften zum Anfang
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
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4 Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt als Vorbild
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
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6 Kältelabor und die Entdeckung des Meissner Effekts
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7 Chemisches Labor und die Entdeckung von neuen Elementen
69
8 Laboratorium für Radioaktivität
79
9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein
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10 Zählen und Messen - Quantenstatistik und Quanteneinheiten
107
11 Fundamentalkonstanten - Die bestmögliche Information über die Natur
115
12 Die Meterkonvention - für die globale Konsistenz der Messdaten
123
13 Die Präsidenten der Reichsanstalt bis 1933
131
14 Die Reichsanstalt unter der NS Diktatur und der Neuanfang
143
15 Das elektromagnetische Quantendreieck - Quantennormale aus der Perspektive des Ohm’schen Gesetzes
149
Literatur
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Personenverzeichnis
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1 Die Gründung und die Schlüsselrolle von Werner Siemens Während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts erlebte die deutsche Industrie ein starkes Wachstum, das besonders durch die grossen Fortschritte in den Naturwissenschaften und der Technik ausgelöst wurde. Diese Entwicklungen führten zur Gründung einer Reihe von neuen Industriezweigen in Deutschland, die auf Hoch-Technologie beruhten. Als Beispiele nennen wir die Stahl und Metall Gewinnung, die Kältetechnik, den modernen Eisenbahn- und Schiffsbau, Feinmechanik und Maschinenbau, Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, Chemie, Optik, Elektrotechnik, und später die Luftfahrt. Während dieser Zeit des starken industriellen Wachstums in Richtung von Produkten der Hoch-Technologie wurden an zahlreichen deutschen Universitäten neue Physikalische Institute gebaut und in Betrieb genommen. Berühmte Beispiele sind die Institute in Berlin, Leipzig, Heidelberg und Strassburg. Diese Institute dienten aber hauptsächlich nur der Lehre und hatten nur eine sehr geringe Bedeutung für die physikalische Forschung. Zwischen den industriellen Entwicklungen und den Möglichkeiten für physikalische Grundlagenforschung bestand offenbar eine grosse Lücke. Als einer der ersten erkannte Werner Siemens die institutionsbedingten Mängel der physikalischen Forschung an den Universitäten, und er ergriff die Initiative. Als industrieller Unternehmer war er selbst Wissenschaftler, der seine technisch-wissenschaftliche Ausbildung an der Vereinigten Ingenieur- und Artillerieschule in Berlin erhalten hatte. Somit besass er nicht die herkömmliche akademische Ausbildung und hatte auch keinen besonderen gesellschaftlichen Rang - er wurde erst später geadelt. In einer Denkschrift vom April 1883 bemerkte er, dass die deutschen Hochschulen zwar viele gut vorbereitete wissenschaftliche Lehrer ausbilden, dass es aber an angemessenen Laboratorien, Geräten und Gelegenheiten für die physikalische Forschung mangelt. Da die bisher eingerichteten Physikalischen Universitäts-Institute in erster Linie der Lehre und nicht der Forschung dienten, müsse ein neuer Institutstyp geschaffen werden, dessen Mitarbeiter von allen Lehrverpflichtungen frei sein sollten. Wie gelang es Siemens, seine Idee zu verwirklichen und eine Institution zu schaffen, die sich ganz der physikalischen Grundlagenforschung widmen konnte? Schon 1872 hatten sich in Preußen einige Wissenschaftler zusammengetan mit dem Ziel, den Stand der Präzisionstechnik im Land zu verbessern. Die Gruppe bestand aus dem Astronomen Wilhelm Foerster, dem Physiologen und Physiker Hermann von Helmholtz, dem Gymnasiallehrer für Naturwissenschaften und Mathematik Karl Schellbach und Werner Siemens. Bei ihrer Zielsetzung hatte man die Herstellung von Teleskopen, Mikroskopen, Komparatoren, Photometern, Spektralgeräten, Thermometern, Barometern, sowie geodätischen und nautischen Geräten im Visier. Diese Bestrebungen wurden von Kaiser Wilhelm I. und Kronprinz Friedrich unterstützt. Im gleichen Jahr gab die Gruppe die sogenannte Schellbach-Denkschrift heraus, die den Stand der Präzisionstechnik in Preußen darstellte und staatliche Unterstützung bei der Errich-
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_1, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Die Gründung und die Schlüsselrolle von Werner Siemens
Abbildung 1.1: Werner Siemens, 1887
tung eines Instituts verlangte, das naturwissenschaftliche und feinmechanische Untersuchungen fördern sollte. Diese Denkschrift wurde dem preußischen Kultusministerium unterbreitet, das sie dann zur Prüfung an die Preußische Akademie der Wissenschaften weiterleitete. Die Akademie war aber für ihre konservative Haltung und ihre feindliche Einstellung gegenüber der Technik bekannt und lehnte im März 1873 die Einrichtung der vorgeschlagenen Anstalt kategorisch ab. Daraufhin wandte sich Foerster an die Preußische Landestriangulation und bat um Unterstützung. Die Letztere unterstand direkt dem Chef des Generalstabes, Helmuth von Moltke, einem Freund der Naturwissenschaften, der den militärischen Nutzen der Präzisionstechnik erkannt hatte. Er veranlasste die Bildung eines Ausschusses, um den Stand der Präzisionstechnik in Preußen
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zu untersuchen. Schon im Dezember 1873 berichtete dieser Ausschuss dem Preußischen Landtag, dass nur durch eine staatliche Anstalt die Präzisionstechnik verbessert werden könne. Der Ausschuss verlangte daher die Einrichtung eines gut ausgestatteten Ïnstituts für wissenschaftliche Mechanik", das die Feinmechanik, Astronomie, Geodäsie, Physik, Chemie usw. fördern sollte. Als eine technische Forschungsanstalt ohne Lehraufgaben sollte dieses Institut an ein geplantes neues Gebäude der Gewerbeakademie angebaut werden. 1875 billigte das Preußische Kultusministerium die in dem Bericht enthaltenen Erkenntnisse und Empfehlungen. Es machte allerdings die Pläne von dem Schicksal der Gewerbeakademie abhängig. In den folgenden sieben Jahren schob der Preußische Landtag die Abstimmung über die erforderlichen finanziellen Mittel für das Gebäude immer wieder auf. Er beriet unter anderem über das Wesen der höheren Bildung in technischen Fächern und über die erwünschte Errichtung eines Polytechnikums und beschloss schliesslich, die Gewerbeakademie und die Bauakademie zur Technischen Hochschule Charlottenburg zusammenzulegen. Bis November 1882 war der Bau des neuen Gebäudes für die Technische Hochschule jedoch nicht sehr weit fortgeschritten. Insbesondere waren die Räume oder die Finanzmittel für die Mechanische Anstalt noch nicht bewilligt worden. In dem genannten Zeitraum veränderte sich der Stand der Präzisionstechnik grundlegend. So verbesserte er sich beispielsweise in Preußen ab Mitte der 70er Jahre merklich. Andererseits verlangte die aufblühende Elektroindustrie sichere Grundlagen für elektrische Einheiten und Normale, und schliesslich sollte die französische Vorherrschaft auf dem Gebiet der Metrologie gebrochen werden. Dies alles stellte neue Aufgaben für eine mögliche mechanische Anstalt des Deutschen Reiches. Ende 1882 begannen daher die preußischen Initiatoren, ihren Plan in dieser Richtung zu überdenken. Während der anschliessenden achtzehn Monate beriefen Moltke und der preußische Kultusminister Gustav von Goßler einen Ausschuss ein, um erneut über die geplante Anstalt für wissenschaftliche Mechanik zu beraten. In diesem Ausschuss war Siemens die wichtigste Persönlichkeit. Er wollte ebenso wie die wissenschaftlichen Mitglieder, aber im Gegensatz zu den Technikern des Ausschusses, keine Anstalt, die nur kurzfristig technische Ergebnisse erarbeitet. Er argumentierte “Es sei wünschenswert, den wissenschaftlichen Grössen, mit denen für Unterrichts- und Veranstaltungszwecke eine wahre Verschwendung getrieben würde, wie auch talentvollen jungen Gelehrten eine Stätte zu schaffen, wo sie ungestört durch andere Pflichten nur der Wissenschaft dienen können.” Siemens erkannte die Naturwissenschaften als die Grundlage der Technik und strebte danach, diese Grundlagen abzusichern und die Wissenschaft selbst zu unterstützen. Den Wissenschaftlern sollte ein für moderne Forschungen gut ausgestattetes Institut gegeben werden, wobei sie von Lehr- und Verwaltungspflichten befreit bleiben. Der Bericht des Ausschusses an den Deutschen Bundesrat verlangte daher eine Anstalt, deren Zweckbestimmung über die einfache Förderung der Technik selbst hinausging. Er hob den dringenden Bedarf an einer Institution hervor, die sich der “exacten Naturforschung” widmete, und so das leistete, was die Universitäten nicht erfüllten oder was nie ihre Aufgabe war, nämlich die “freie experimentelle Forschung” zu betreiben und die Präzisionstechnik weiterzuentwickeln. Ferner warnte der Bericht vor der Gefahr des ausländischen Wettbewerbs: In Frankreich, Großbritannien und Rußland fördere der Staat sowohl die reine Wissenschaft als auch die Technik und damit die Wirtschaft. Insgesamt forderte der Bericht ein physikalisch-mechanisches Institut, das sich der wissenschaftlichen und technischen Forschung auf den Gebieten Optik, Elektrizität, Mechanik, Metallkunde usw. sowie der allgemeinen Prüfung und Beglaubigung aller Arten von physikalischen Geräten, Werkstoffen und Erzeugnissen widmen sollte.
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1 Die Gründung und die Schlüsselrolle von Werner Siemens
Siemens fasste seine Ideen zur Einrichtung eines physikalisch-mechanischen Instituts in zwei Denkschriften vom April 1883 und von März 1884 zusammen, die wir in Kapitel 2 zusammen mit drei anderen Dokumenten präsentieren. Im April 1883 formulierte er sein häufig zitiertes Prinzip zur Bedeutung der Grundlagenforschung: “Die naturwissenschaftliche Forschung bildet immer den sicheren Boden des technischen Fortschritts, und die Industrie eines Landes wird niemals eine führende Stellung erwerben oder sich erhalten können, wenn dasselbe nicht gleichzeitig an der Spitze des naturwissenschaftlichen Fortschritts steht.” Für Siemens waren diese Auffassung von den Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Staat und der Plan für ein Institut, an dem sowohl die reine Physik als auch die Technik mit Erfolg betrieben und sich gegenseitig befruchten würden, das Ergebnis einer lebenslangen Erfahrung in der Welt der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft. Er selbst hatte sein multinationales Unternehmen, Siemens & Halske, zum grossen Teil durch Verträge mit dem preußischen Militär und verschiedenen europäischen Regierungen aufgebaut. Er war fasziniert von der Elektrizität und ihrem grossen technischen Potential. Im Jahr 1849 übermittelte der Telegraph von Siemens wichtige Entscheidungen des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche per Kabel nach Berlin. In den späten 1860er Jahren installierte die Firma Siemens & Halske eine telegraphische Verbindung über 11 000 km Entfernung zwischen London und Kalkutta. Werner Siemens erfand und entwickelte den elektrischen Generator für die Umwandlung von mechanischer in elektrische Energie. 1879 stellte er die erste elektrische Eisenbahn vor. Im Jahr 1888, ein Jahr bevor er sich aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzog, wurde er vom Deutschen Kaiser geadelt. Zu dieser Zeit beherrschte sein Unternehmen den Niederspannungsbereich der deutschen Elektroindustrie und, zusammen mit Emil Rathenaus Allgemeiner ElektricitätsGesellschaft (AEG), auch den Hochspannungsbereich. Über die technische Aktivität als Ingenieur hinaus kümmerte sich Siemens stets um die wissenschaftlichen Grundlagen. In seinen Memoiren schrieb er: “Meine Liebe gehörte stets der Wissenschaft als solcher, während meine Arbeit und Leistungen meist auf dem Gebiete der Technik liegen.” Er förderte die Wissenschaft um ihrer selbst willen, und die Freunde, die er am meisten schätzte, waren nicht Geschäftsleute oder Politiker, sondern Wissenschaftler und insbesondere Physiker. Im Jahr 1845 hatte er an der Gründung der “Berliner Physikalischen Gesellschaft” mitgewirkt (aus der später die “Deutsche Physikalische Gesellschaft” hervorging). Er war selbst ein vorzüglicher Experimentalphysiker. Seine Arbeiten über die Festlegung absoluter elektrischer Einheiten und die Entwicklung von Meßnormalen, seine Untersuchungen über die elektrostatische Induktion und die optimalen Bedingungen für den elektrischen Stromfluss und die Leistung von Magneten sowie über die Leitfähigkeit von Metallen und ihre Beeinflussung durch die Temperatur, schliesslich seine Entdeckung des selbsterregten Dynamos und seine Mitarbeit an der Entwicklung des Galvanometers und anderer wissenschaftlicher Geräte sind grossartige Beiträge zur reinen Physik. Die Physikalisch-Mechanische Anstalt des Reiches sollte die Krönung der Arbeit und der Interessen darstellen, die Siemens sein Leben lang verfolgt hatte. Daher nahm er im Frühjahr 1883 ihre Gründung persönlich in die Hand. In einem Schreiben an den preußischen Kultusminister von Goßler erinnerte er an die kürzlich geführten Gespräche über ihre Einrichtung. Er war besorgt, dass es der Anstalt innerhalb der Technischen Hochschule Charlottenburg an den erforderlichen Räumlichkeiten und Geldmitteln "für die rein wissenschaftliche Abtheilung"fehlen
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würde, und wies darauf hin, dass er Grundstücke in der Nähe der Hochschule besäße, die “für exacte wissenschaftliche Versuche” geeignet wären. Er offerierte daher 12000m2 seines Grundbesitzes als Baugrund (laut Schenkungsurkunde vom 12. November 1885 waren es am Ende 19800m2 , siehe Abb. 1.2 und Kapitel 3), wenn Preußen bereit sei, entsprechende Gebäude “zu erbauen, auszustatten und dauernd zu erhalten.” Sein Schreiben vom 7. Juli 1883 gab einem schwerfälligen und kleinlich geplanten Projekt Schwung und Antrieb, zumal er im Januar 1884 sein Angebot erneuerte und Gelder, die er von seinem kürzlich verstorbenen Bruder Wilhelm geerbt hatte, für den Bau des Forschungsgebäudes zur Verfügung stellte. Im März änderte er seinen Vorschlag jedoch wieder und übertrug das Angebot nun von Preußen auf das Reich. Er bot “eine halbe Million Mark in Grundwerth oder Kapital zur Begründung des geplanten Instituts” an, um “meinem Vaterlande einen Dienst zu leisten und meine Liebe zur Wissenschaft, der ich mein Emporkommen im Leben ausschließlich verdanke, zu bethätigen”. Mit der Übertragung an das Reich hoffte Siemens, der “nationalen Bedeutung” der Anstalt Rechnung zu tragen und mehr Geld für Bau und Ausstattung zu bekommen. Auf Bismarcks Ersuchen legte Siemens zusammen mit Reichsbeamten und einigen Mitgliedern der früheren Ausschüsse noch 1884 die Zwecke der Anstalt genauer dar und arbeitete einen Organisations- und Finanzierungsplan aus, um das Parlament von der Notwendigkeit und Dienlichkeit der Anstalt zu überzeugen. Das Aufgabengebiet der Reichsanstalt wurde auf zwei Abteilungen (die “Physikalische” und die “Technische Abteilung”) verteilt. Ihre Organisation, ihre Anlage und ihre physikalischen Einrichtungen wurden geplant. Ebenso wurden die Natur der zu untersuchenden wissenschaftlichen und technischen Probleme, die personelle Ausstattung, die Zusammensetzung des Kuratoriums, das Budget und die Art ihrer Verwaltung festgelegt. So umriß der Ausschuss unter der Leitung von Siemens bis Ende des Jahres die gesamte Struktur und das gesamte Aufgabengebiet der künftigen Anstalt. Trotz dieser intensiven Bemühungen stellten sich dem Projekt besonders im Jahr 1886 erhebliche Widerstände entgegen, die von Bismarck, dem Reichsparlament und technischen Kreisen vorgebracht wurden. Der Reichskanzler weigerte sich beispielsweise vorübergehend, finanzielle Unterstützung zu gewähren, weil er fürchtete, das Parlament könne sein Vorhaben blockieren, ein Gesetz über das Branntwein-Monopol (an dem er finanziell beteiligt war) durchzubringen, wenn er gleichzeitig die Reichsanstalt fördere. Andererseits stand der “Verein deutscher Ingenieure” (VDI), die mächtigste und einflussreichste Vertretung deutscher Ingenieursinteressen, der Reichsanstalt zunächst feindlich gegenüber. Er verwarf vor allem die Physikalische Abteilung als ein privates Vorhaben von Siemens und machte Einwendungen gegen die Technische Abteilung, die in ihrer Zielsetzung zu eingeengt und falsch geplant wäre. Da sich der VDI mit angewandter Mechanik, nicht aber mit Präsisionstechnik befasste, wollte er, dass die Reichsanstalt etwa auf den Gebieten Flüssigkeits- und Feststoffmechanik Forschung betrieb, statt sich der Präzisionstechnik zu widmen. Ferner bat er den Bundesrat, die Technische Abteilung der Reichsanstalt mehr auf die Bedürfnisse der Maschinenbauingenieure auszurichten, die Anzahl der Ingenieure im Kuratorium zu vergrössern und einen geeigneten Direktor für die Technische Abteilung einzusetzen. Auch die “Deutsche Gesellschaft für Mechanik und Optik” zweifelte in einem Brief an Bismarck vom November 1886 an Siemens’ Entwurf der Reichsanstalt: die Physikalische Abteilung habe “nur einen mittelbaren Einfluss” auf ihren Industriezweig, wohingegen bei der Technischen Abteilung die Gefahr bestünde, dass sie ausschliesslich mit Prüfungen und Beglaubigungen be-
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1 Die Gründung und die Schlüsselrolle von Werner Siemens
Abbildung 1.2: Von Werner Siemens am 12. November 1885 unterzeichnete Schenkungsurkunde. “Ich Endesunterzeichneter erkläre hierdurch, daß ich das in dem beiliegenden Situationsplane mit a b c d umzeichnete, von der March-Straße, den projektierten Straßen 4 und 5 und der mit der March-Straße parallelen Linie b c begrenzte Grundstück mit der Grundfläche von 19800 Quadratmeter dem Deutschen Reiche zum Bau einer Reichsanstalt für experimentelle Naturforschung schenkungsweise überlasse, unter der Bedingung, daß das Reich die Kosten für Bau und Einrichtung und die Dotation der geplanten physikalischtechnischen Reichsanstalt übernimmt.”
fasst sein könne, “während präzisionstechnische Forschungsarbeiten, mit welchen das früher geplante mechanische Institut sich in erster Linie befassen sollte, nunmehr in den Hintergrund treten würden”. Die Technische Abteilung müsse daher neben der Physikalischen Abteilung eine
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angemesseene Stellung und “die notwendige Verbindung mit der Praxis der Mechanik und der dieser nahestehenden Hülfsgewerbe” erhalten. Sie solle darüber hinaus ihre Ergebnisse in einer Zeitschrift veröffentlichen, die von in der Praxis tätigen Mechanikern und Optikern gelesen würde (womit die Gesellschaft ihre “Zeitschrift für Instrumentenkunde” meinte), und als Direktor einen Kenner der feinmechanischen und optischen Industrie erhalten. Besonders die Einwendungen dieser Technikerverbände, die eigene Interessen verfolgten, trugen dazu bei, die Reichsanstaltspläne von Siemens zu verzögern, und drohten sie zu verhindern. Im Reichstag stand das entsprechende Verfahren vor grossen Schwierigkeiten. Bei der Anhörung der Haushaltskommission waren der Reichsanstalt nur die Sozialdemokraten günstig gesinnt, während die Liberalen sich dem Projekt als einem unbefugten Eindringen der Regierung in die wirtschaftliche Sphäre, die Konservativen als einer “übermäßigen Verhätschelung der Industrie” und das Zentrum als einer Verletzung des ausschließlichen Rechts der Einzelstaaten, wissenschaftliche Forschung zu betreiben, widersetzten. Als Folge bewilligte die Kommission zwar die für die Technische Abteilung beantragten 160 000 Mark, ließ aber die Physikalische Abteilung insgesamt wegfallen und machte an zwei Sitzungstagen im Januar 1887 drei Jahre Arbeit von Siemens und seinen Gefährten zunichte. Die verhängnisvollen Empfehlungen der Kommission veranlassten Siemens, Foerster und Kronprinz Friedrich, ihre Bemühungen für das ursprüngliche Konzept zu verdoppeln. Besonders der Kronprinz wirkte auf Gegner der Physikalischen Abteilung ein. Im März 1887 bewilligte ein neu konstituierter Reichstag 700 000 Mark für Siemens’ Reichsanstalt einschliesslich der Physikalischen Abteilung. Das Parlament wurde weitgehend durch Appelle an das Nationalbewusstsein und durch den Hinweis auf den Wettbewerb anderer in der Industrialisierung begriffener Nationen gewonnen. Letzten Endes sollte die Physikalische Abteilung ja der deutschen Industrie wirtschaftlichen Nutzen bringen, denn weder Reichsregierung noch Parlament dachten daran, eine der reinen Wissenschaft dienende staatliche Anstalt um ihrer selbst willen zu fördern. In auffallendem Gegensatz zu den Technikern hatten sich die Physiker kaum an der Gründung der Reichsanstalt beteiligt. Sie kam daher für die meisten deutschen Physiker als ein überraschendes fait accompli. Ausser Ernst Abbe, der gleichermaßen Industrieller und Physiker war, hatte sich nur Hermann von Helmholtz um die Vorbereitung bemüht. Die Techniker und die Fachleute aus Süddeutschland unterstellten deshalb gelegentlich, dass Siemens die Reichsanstalt, und insbesondere ihre Physikalische Abteilung, als Geschenk seinem Freund Helmholtz zudachte. Die Einrichtung der Reichsanstalt erfolgte ohne die Mithilfe der an den Universitäten und Technischen Hochschule tätigen Physiker. Sie stellte geradezu eine stillschweigende Kritik dar an der Unfähigkeit der deutschen Universitäten, hauptamtlich wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Mit der Reichsanstalt begann die deutsche Wissenschaft einen neuen Rahmen ausserhalb der Universitäten und Technischen Hochschulen zu suchen. Es war sein Interesse an der reinen Wissenschaft, sein Wunsch auf eine wissenschaftliche Untermauerung der Technik, und seine Vaterlandsliebe, welche Siemens veranlasst haben, die Errichtung der Reichsanstalt in die Hand zu nehmen. Hierbei waren seine physikalisch-technische Zukunftsvision, seine Grosszügigkeit und sein politischer Weitblick wichtige Elemente.
2 Fünf Denkschriften zum Anfang Vor der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt im Jahr 1887 wurden mehrere Denkschriften verfasst, die auf die dringende Notwendigkeit der Einrichtung eines staatlich finanzierten Forschungsinstituts hinwiesen. Aufgabe einer solchen staatlichen Einrichtung waren insbesondere experimentelle Untersuchungen von Problemen, die sich durch die damaligen industriellen Entwicklungen gestellt hatten. Besonders deutlich wurde diese Notwendigkeit im Zusammenhang mit den physikalischen Eigenschaften der Gläser, sowie der Metalle und Legierungen. Die Präzisionsinstrumente für die Landvermessung lieferten hierfür wichtiges Anschauungsmaterial. Die gute Beherrschung der Eigenschaften von Gläsern spielte eine wichtige Rolle beispielsweise bei thermometrischen Glasrohren, bei gläsernen Wasserwaagen, sowie bei den ständig steigenden Anforderungen der Instrumente für die Astronomie. Es war damals erkannt worden, dass die privaten Anstrengungen einzelner Personen nicht ausreichen können, um die anstehenden physikalischen Probleme zu lösen. Während die staatliche Förderung der Astronomie schon länger als Normalfall angesehen wurde, hatte die Bearbeitung von anderen wissenschaftlichen Zielen eine solche Unterstützung nicht erhalten. Eine besondere wirtschaftliche Notlage der Präzisionstechnik hatte sich bereits abgezeichnet, der abgeholfen werden musste. Diesbezügliche Anstrengungen in England, Frankreich und auch in Russland hatten zusätzlichen Druck für die entsprechenden Massnahmen in Deutschland erzeugt. Um den historischen Hintergrund zu schildern, stellen wir eine Auswahl von Entdeckungen und Erfindungen zusammen, die in der Zeit nach der Gründung der Firma Siemens & Halske im Jahr 1847 bis 1883 gemacht wurden: 1847 1849 1850 1854 1856
1858 1859 1861 1866 1869
Helmholtz: Prinzip der Energieerhaltung Telegraphenverbindung zwischen Berlin und Frankfurt/Main Bunsen: Gas-Brenner Clausius: Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik Geissler und Plücker: Elektronische Entladungsröhre Joule - Thomson: Abkühlung durch adiabatische Expansion eines Gases Helmholtz: Handbuch der Physiologischen Optik König und Clausius: Molekulartheorie von Gasen Bessemer: Konverter für die Stahlerzeugung Plücker: Kathodenstrahlen Bunsen und Kirchhoff: Spektralanalyse Reis: Telefon Abbe: Mikroskopie Siemens: Selbsterregter Generator (dynamo-elektrisches Prinzip) Hittorf: Ablenkung von Kathodenstrahlen im Magnetfeld Mendelejew und Meyer: Periodisches System der Elemente
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_2, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
10 1873 1876 1877 1879
2 Fünf Denkschriften zum Anfang Maxwell: Abhandlung über Elektrizität und Magnetismus Linde: Ammoniak Kältemaschine Boltzmann: Entropie als Maß der Wahrscheinlichkeit eines Zustands Edison: Kohlefaden-Lampe
Grundsätzlich sind die Denkschriften auch mehr als 120 Jahre später noch aktuell. Daher wollen wir im folgenden grosse Teile von fünf Denkschriften wiedergeben, die zwischen April 1883 und März 1884 verfasst wurden. Die damalige Schreibweise haben wir beibehalten. Insbesondere waren es Werner Siemens und Hermann von Helmholtz, die sich energisch für die Einrichtung einer staatlichen Forschungsinstitution eingesetzt haben.
Votum des Herrn Geheimen Regierungsraths Dr. Werner Siemens (April 1883) Kein Land der Welt hat soviel für den wissenschaftlichen und technischen Unterricht gethan wie Deutschland und besonders Preußen. Es ist dies auch überall anerkannt und das deutsche Unterrichtswesen dient in allen Ländern als Vorbild. Deutschland hat darin sogar bei alleiniger Rücksicht auf sein materielles Interesse vielleicht zu viel gethan, denn deutsche Gelehrte und in noch höherem Maße deutsche Techniker sind in der ganzen Welt verbreitet und verschärfen durch ihre anerkannte Tüchtigkeit die der deutschen Industrie durch die fremde gemachte Konkurrenz. Auch die im Inlande verbleibenden hochgebildeten Gelehrten und Techniker finden nur zum geringen Theile eine ihren Kenntnissen entsprechende Thätigkeit. Nach der Zahl und Bildung seiner Gelehrten und Techniker sollte Deutschland ohne Frage an der Spitze des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschrittes stehen, wenn auch die Gründe, warum seine Industrie hinter der anderer Länder zurückgeblieben ist, vielfach auf anderen Gebieten zu suchen sind. Der Grund, warum diese Erwartung sich im Allgemeinen nicht erfüllt hat, liegt offenbar darin, daß sowohl für die wissenschaftliche Forschung wie für die technisch-inventorische Arbeit der Boden für die im Übermaß vorhandenen Kräfte nicht günstig war. Für die Technik hat sich dies ungünstige Verhältniß wesentlich gebessert seit dem Erlasse des deutschen Patentgesetzes. Seit durch dasselbe die Erfindungen unter wirksamen Schutz gestellt sind, können Erfinder und Fabrikanten Mühe und Kosten auf die gründliche Durcharbeitung neuer Erfindungen verwenden, in der - oft trügenden - Hoffnung auf künftigen großen Gewinn, da nicht mehr wie früher der Nachahmer gleich berechtigt zur Anwendung derselben ist, ohne durch vorherige mühevolle Arbeit und Kosten belastet zu sein. Es ist wohl unzweifelhaft, daß der offenbare Aufschwung der deutschen Industrie in den letzten Jahren wesentlich als eine Wirkung des jetzt vorhandenen Patentschutzes aufzufassen ist. Die Erfindungen und Verbesserungen werden nicht mehr wie früher zunächst nach dem Auslande gebracht, wo sie Patentschutz erhielten, zum großen Nachtheile der deutschen Industrie, die dadurch überall den Vorsprung verlor und sich mit der Nachahmung begnügen mußte und dadurch mehr und mehr an Ansehen in der Welt verlor. (Nach einer kurzen Diskussion der Probleme, die häufig durch falsche Einschätzungen ohne eine Patentierung auftraten, fuhr Siemens fort): Dieser Gefahr kann nur vorgebeugt werden durch kräftigere Entwickelung der wissenschaftlichen Forschung bei gleichzeitiger größerer Beschränkung der Patentfähigkeit. Die naturwissenschaftliche Forschung bildet immer den si-
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cheren Boden des technischen Fortschrittes, und die Industrie eines Landes wird niemals eine internationale leitende Stellung erwerben und sich erhalten können, wenn dasselbe nicht gleichzeitig an der Spitze des naturwissenschaftlichen Fortschritts steht! (Hervorhebung durch die Autoren). Dieses herbeizuführen, ist das wirksamste Mittel zur Hebung der Industrie. Die deutsche Naturwissenschaft hat stets eine achtunggebietende Stellung eingenommen. Man wird auch nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß es nur dem hohen Stande der naturwissenschftlichen Bildung in Deutschland zu verdanken ist, daß die deutsche Industrie trotz ihrer ungünstigen Lage ihre Stellung einigermaßen zu behaupten vermochte. Andererseit muss man aber zugeben, daß der naturwissenschaftliche Fortschritt bei uns noch lange nicht dem Umfange unserer wissenschaftlichen Bildung entspricht. ...Es ist dies offenbar auf einen Mangel unserer staatlichen Einrichtungen zurückzuführen. Die Wissenschaft ist bei uns noch in derselben Lage, in welcher die Technik sich vor Einführung des Erfindungsschutzes befand. Der Staat hat seine ganze Kraft mit unzweifelhaftem Erfolge der Förderung des wissenschaftlichen Unterrichts zugewandt. Seine Unterrichtsanstalten erzeugen eine große Zahl hochgebildeter Naturforscher, deren Lebensberuf fast immer wieder der Unterricht ist. Die wissenschaftliche Forschung selbst ist nirgends Lebensberuf in der staatlichen Organisation, sie ist nur eine geduldete Privatthätigkeit der Gelehrten neben ihrem Berufe, der Lehrthätigkeit. Einzelne Versuchsstationen, die durch spezielle dringende Bedürfnisse hervorgerufen sind, und auch die Akademien, die zwar der wissenschaftlichen Forschung gewidmet, aber nur nebenamtlich besetzt und nicht mit den erforderlichen Einrichtungen zur Ausführung von Experimental-Untersuchungen versehen sind, ändern hierin nichts wesentliches. Die Berufsgelehrten der Akademien sind fast durchgängig neben dem ihnen obliegenden Unterricht noch mit gelehrten Geschäften derartig überbürdet, daß sie - nach dem Ausspruche eines unserer ersten Naturforscher - aufhören müssen Gelehrte zu sein! ... Es muss aber als eine Vergeudung nationaler Kraft bezeichnet werden, daß hochbegabte Forscher, Talente wie sie nur selten zum Vorschein kommen, mit Berufsarbeiten, die Andere vielleicht sogar noch besser ausführen würden, schwer belastet sind und dadurch der Wissenschaft selbst größtentheils entzogen werden, der sie unberechenbare Dienste leisten würden, wenn sie sich ihr ganz hingeben könnten. Doch noch schwerer fällt ins Gewicht, daß so viele talentvolle und hochgebildete jüngere Gelehrte keine Gelegenheit finden, wissenschaftliche Arbeiten auszuführen. Die Laboratorien der Universitäten und Schulen stehen ihnen in der Regel nur so lange offen, bis sie ihre wissenschaftliche Ausbildung vollendet haben. Diese Anstalten sind ja auch für den Unterricht bestimmt und eingerichtet und für feinere und umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen in der Regel gar nicht geeignet. Die traurige Folge ist in der Mehrheit der Fälle, daß wissenschaftliche Arbeiten, welche ganze Lebensgebiete neu beleben und befruchten würden, ungethan bleiben, und daß Talente im Kampfe ums Dasein nicht zur Entwicklung kommen oder unerkannt zu Grunde gehen, die unter günstigeren Verhältnissen Großes hätten leisten können zur Ehre und zum materiellen Nutzen des Landes. Es gilt dies namentlich von der Experimental-Physik. Die Chemie steht in innigerem Konnex mit der Industrie, welche vielen gebildeten Chemikern lohnend Beschäftigung und Gelegenheit zu Forschungsarbeiten gewährt. Es wird dies dadurch begünstigt, dass die Lokale und Einrichtungen für chemische Untersuchungen weit leichter zu beschaffen sind, wie die für umfangreiche physikalische ExperimentalUntersuchungen erforderlichen. Die deutsche chemische Industrie hat sich daher auch stets auf derjenigen wissenschaftlichen und technischen Höhe erhalten können, die dem deutschen Bil-
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dungsstande entspricht. Leider läßt sich dies nicht von der Experimental-Physik sagen. Hier hat England durch seinen in weiten Kreisen vorhandenen Reichthum und die Vorliebe der Engländer für wissenschaftliche Beschäftigung ein entschiedenes Uebergewicht erlangt. Wohlhabende Engländer haben Privatlaboratorien in großer Zahl errichtet, in welchen sie selbst eifrig arbeiten und tüchtigen Fachgelehrten Gelegenheit zur Ausführung größerer Arbeiten geben. Trotz der in England verhältnißmäßig viel weniger verbreiteten wissenschaftlichen Bildung hat dies Land aus diesen Gründen doch Großes geleistet und unverhältnißmäßig viel Talente ersten Ranges entwickelt. In neuerer Zeit haben England, Frankreich und Amerika, die Länder, die im KonkurrenzKampfe unsere gefährlichsten Gegner sind, die große Bedeutung der wissenschaftlichen Superiorität für die materiellen Interessen erkannt und sind eifrig bestrebt, durch Verbesserung ihres Unterrichts die naturwissenschaftliche Bildung zu erhöhen und Einrichtungen zu schaffen, welche den wissenschaftlichen Fortschritt begünstigen. ... Frankreich hat dem naturwissenschaftlichen Unterricht immer grosse Fürsorge zugewandt. Die Verhältnisse liegen in diesem Lande im Uebrigen ähnlich wie bei uns. Obschon in Frankreich der wissenschaftliche Unterricht gut organisirt und naturwissenschaftliche Kenntnisse weit verbreitet sind, und obschon man im conservatoire des arts et métiers ein Institut besitzt welches im Wesentlichen wissenschaftlich technischen Untersuchungen dienen soll, so hat man doch neuerdings für nothwendig befunden, ein neues großes Institut zu begründen, welches ausschließlich für wissenschaftliche Untersuchungen bestimmt ist. Es ist daher zu befürchten, daß der Vorsprung, den wir bisher noch haben, den des besser organisirten naturwissenschaftlichen Unterrichts und der weiter verbreiteten wissenschaftlichen Bildung, bald verloren geht, und daß wir uns auch künftig nicht mehr an der Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts erhalten können, wenn derselbe nicht auch bei uns durch staatliche Organisation unterstützt wird. Solche Organisationen hätten den doppelten Zweck zu erfüllen, die naturwissenschaftliche Forschung überhaupt zu fördern und die Industrie durch Lösung der wissenschaftlich technischen Probleme und Fragen, die ihre Entwickelung wesentlich bedingen, zu unterstützen. Es müßten neben den Universitäten und technischen Unterrichtsanstalten Laboratorien errichtet werden, welche unter der Leitung hochbegabter Männer ständen und mit allen Hülfsmitteln in reichem Maße ausgerüstet wären, um Experimental-Untersuchungen aller Art mit größtmöglicher Präzision ausführen zu können. Zur Arbeit in diesen Instituten dürfen nur besonders befähigte, vollständig wissenschaftlich gebildete Leute zugelassen werden zur Ausführung von bestimmten Untersuchungen, die sie selbst vorzuschlagen hätten oder die ihnen zur Bearbeitung überwiesen würden. ... Wie schon hervorgehoben, ist diese Kombination von wissenschaftlicher Forschung und technischer Ausnutzung bei der chemischen Fabrikation viel leichter realisirbar, und es ist wesentlich diesem Umstande die schnelle Entwickelung der chemischen Industrie in Deutschland und die dominirende Stellung, welche sie augenblicklich noch in der Welt einnimmt, zu verdanken. Ungleich ungünstiger ist aber die Lage der auf mechanischer Grundlage ruhenden Gewerbe. Physikalische exakte Untersuchungen bedingen weit kostspieligere Instrumente und besonders geeignete Räume, sie sind daher weit kostspieliger und zeitraubender und erfordern außerdem einen viel größeren Umfang der Kenntnisse und Befähigung der die Untersuchungen ausführenden Kräfte. Es wird daher viel seltener bei Industriezweigen, die auf mechanischer Grundlage ruhen, ein solches für den Fortschritt günstiges Zusammentreffen der Theorie und Praxis vorhanden sein. ... Betrachtet man unsere augenblickliche Lage, so ergibt sich aus derselben so recht schla-
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gend die Nothwendigkeit eines solchen staatlich organisirten Forschungs- und UntersuchungsInstituts. Die Präzisionsmechanik hatte ihre frühere Superiorität vor einem Decennium in sehr bedenklichem Grade verloren. Die zu Tage getretenen Uebelstände waren so groß und bedenklich, daß damals von den Staatsanstalten, die ihren Bedarf an Präzisionsinstrumenten nicht mehr im Inlande befriedigen konnten, der Anstoß zur Begründung einer staatlichen Organisation zur Unterstützung und Hebung der heimischen Präzisionsmechanik gegeben wurde. Seitdem ist zwar eine wesentliche Besserung hierin eingetreten, aber ihre frühere hohe Stellung wird sie nicht wieder erlangen, wenn nicht die damals geplante Hülfe wirklich eintritt. Es handelt sich um lange Reihen von Experimental-Untersuchungen über die Zusammensetzung, und die Herstellungsmethoden der verschiedenen zu optischen, thermometrischen, elektrischen und anderen Zwecken nöthigen Gläser, über die physikalischen Eigenschaften derselben und die exakte Bestimmung ihrer Konstanten. Es fehlen höchst nothwendige ähnliche Experimental-Untersuchungen über die Eigenschaften der Metalle und ihrer Legirungen, über die allmäligen Aenderungen dieser Eigenschaften durch äußere Einwirkungen (Temperaturwechsel, Erschütterungen, elektrische Wirkungen etc.), über die Elastizitäts- und Reibungsverhältnisse. Es fehlen eingehende Untersuchungen über die spezifische Leitungsfähigkeit der Metalle, über die Induktionskonstanten der Nichtleiter und deren Isolationskonstanten bei verschiedenen Temperaturen und bei hohen elektrischen Spannungen. ... Doch noch viel wesentlichere Erfolge sind von den eigentlichen Forschungsarbeiten zu erwarten, die mit dem früher geplanten Institut für die Hebung der Präzisionsmechanik zu verbinden wären. Betrachtet man den Gang der Entwickelung neuer Industriezweige oder wesentlicher Umgestaltung bestehender, so sieht man, daß dieselbe gewöhnlich sprungweise eintritt. Sie knüpft in der Regel an neue wissenschaftliche Errungenschaften an, durch welche der Insustrie neue Zielpunkte oder neue Hülfsmittel gegeben werden. Als Beispiele der neuen Zeit braucht man hierfür nur zu nennen: Die gänzliche Umgestaltung der ganzen Pyrotechnik durch das regenerative Heizsystem, der Stahlindustrie durch den Bessemer Prozess, die ganz unschätzbare Werthvermehrung der deutschen meist phosphorhaltigen Eisenlager durch den Thomas’schen Entphosphorungsprozess, die Anilin- und Alizerinfabrikation, welche auf die internationale Handelsbilanz Deutschlands mächtig zu seinen Gunsten eingewirkt hat. Eine ähnliche umgestaltende Wirkung wird auf die mechanische Industrie die Möglichkeit der billigen Erzeugung von starken elektrischen Strömen durch die Dynamo-Maschine ausüben. Zur Schnelligkeit der Fortpflanzung elektrischer Wirkungen, welche schon so mächtig umgestaltend auf unser Kulturleben eingewirkt hat, ist jetzt die Uebertragung großer Arbeitsleistungen durch die Elektrizität und deren Verwendung an andern Orten zu den verschiedensten technischen Leistungen gekommen. Gerade an diesem Falle kann man so recht unzweifelhaft die Nothwendigkeit staatlicher Organisation für wissenschaftliche Experimental-Untersuchungen erkennen. Obgleich das Prinzip der Dynamo-Maschine in der Berliner Akademie schon im Januar 1867 publizirt und dabei auf die grossen technischen Konsequenzen hingewiesen war, zu welchen es führen würde, verging doch mehr wie ein Jahrzehnt, bis es der Thätigkeit der Industrie aller Länder gelang, dies Prinzip so weit durchzuarbeiten, daß es sich mit Erfolg im praktischen Leben bethätigen konnte. ... Gar nicht zu übersehen sind bisher die technischen Konsequenzen, welche sich durch die Verwendung beliebig starker elektrischer Ströme in den verschiedensten Industriezweigen ergeben werden. Das Land, welches sie zuerst zieht, wird aber dadurch einen großen Vorsprung vor den übrigen Ländern erhalten. Es sind daher gewichtige Fragen der Volkswirthschaft, um die es sich
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bei der staatlichen Unterstützung des wissenschaftlichen Fortschrittes auf diesem Gebiet handelt. Dazu kommt, daß sich durch die Anwendung der Elektrizität im großen Maßstabe die Nothwendigkeit der Feststellung bestimmter elektrischer Maaße für den Verkehr und ständiger Einrichtungen für die Kontrole der zur Verwendung kommenden Maaße schon unabweislich herausgestellt hat. Obgleich diese Maaße theoretisch und praktisch zuerst von Deutschland aufgestellt und angewendet sind, so fehlte es doch an einer Organisation, um die schwierigen wissenschaftlichen Arbeiten in der für die praktische Anwendung nöthigen Vollständigkeit durchzuführen, und wir laufen Gefahr, daß uns England und Frankreich auch hierin den Rang ablaufen. Schon diese brennende Frage der elektrischen Maaßeinheiten machen die möglichst beschleunigte Herstellung einer Organisation für wissenschaftliche Experimental-Untersuchungen mit geeigneten Lokalitäten und Einrichtungen zur unabweislichen Nothwendigkeit. Dem unberechenbaren Nutzen, den eine solche gut dotirte und mit geeigneten Kräften ausgerüstete Organisation voraussichtlich bringen wird, gegenüber dürften die darauf zu verwendenden Geldmittel kaum in Betracht zu ziehen sein. (An dieser Stelle ist folgende Bemerkung angebracht. Viele der bedeutendsten Pioniere der modernen Physik, deren Wirken wir in diesem Buch behandeln, wurden im Zeitraum von nur fünf Jahrzehnten in der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren und ausgebildet, gerade als sich die Welt der klassischen Physik entwickelte: Maxwell 1831, Boltzmann 1844, Faraday 1845, Röntgen 1845, Becquerel 1852, Michelson 1852, Lorentz1853, Planck 1858, Lenard 1862, Nernst 1864, W. Wien 1864, Rubens 1865, Mme Curie 1867, Rutherford 1871, Einstein 1879, O. Hahn 1879, v. Laue 1879, N. Bohr 1885 und Schrödinger 1887.)
Votum des Chefs der trigonometrischen Abtheilung der Königlichen Landesaufnahme, Herrn Oberstlieutenant Schreiber (Mai 1883) Die Abhängigkeit der Königlichen Landesaufnahme von den Fortschritten auf dem Gebiete der Präzisionstechnik. Die Königliche Landesaufnahme hat ausgedehnte Messungen mit einem jährlichen Etat von rund anderthalb Millionen Mark auszuführen und zu verarbeiten. Sie hat daher ein hervorragendes Interesse an der allgemeinen Hebung der Präzisionstechnik. ... Die Landesaufnahme hat den preußischen Staat mit einem Netz von trigonometrischen Punkten zu überziehen, welches den Verwaltungsbedürfnissen vollständig genügt. Es sollen jährlich 200 Quadratmeilen triangulirten Gebietes mit 10 Punkten pro Quadratmeile fertig gestellt, also 2000 Punkte alljährlich bestimmt werden. Sämmtliche Punkte sind auch ihrer Höhe nach zu bestimmen. Zu diesem Zwecke sind alljährlich 31 Universal-Instrumente und Theodolite und 5 NivellirInstrumente in Thätigkeit, die sämmtlich mit Fernrohr und gläserner Wasserwaage (die UniversalInstrumente und Theodolite überdies mit Mikroskopen) versehen sind und zu den vorzüglichsten ihrer Art, zum Theil sogar zu den Instrumenten ersten Ranges gehören. Diesen trigonometrischen Arbeiten folgen die topographischen auf dem Fuße. Es werden alljährlich 200 Quadratmeilen im Maaßstabe von 1 zu 25 000 topographisch aufgenommen, wozu mehr als 100, gleichfalls mit Fernrohr und gläserner Wasserwaage versehene Instrumente verwendet werden. Endlich werden auch zur Vervielfältigung der topographischen Aufnahmen und zahlreicher sons-
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tiger Karten viele Präzisions-Instrumente und -Apparate gebraucht, unter denen hier besonders die photographischen Apparate in Betracht kommen. Es folgt hieraus unmittelbar, dass die in der Denkschrift angeführten Mängel des Glases bezüglich seiner Verwendung zu optischen Zwecken und zur Herstellung von Wasserwaagen nicht nur die empfindlichsten Hemmungen in den Arbeiten der Landesaufnahme herbeiführen, sondern auch die Qualität derselben herabdrücken müssen. Es kommen alljährlich Fälle vor, dass Wasserwaagen während der Feldarbeiten ohne erkennbaren Grund in der Zuverlässigkeit ihrer Angaben nachlassen und selbst ganz unbrauchbar werden. Mit einem solchen Fall ist stets ein erheblicher Zeitverlust verbunden, weil die Glasröhre durch eine neue ersetzt und diese bezüglich des Werthes und der Genauigkeit ihrer Angaben untersucht werden muß. Wenn aber der Uebelstand nicht frühzeitig bemerkt wird, so bleiben entweder die dadurch erzeugten Inkorrektheiten in der bereits geleisteten Arbeit zurück, oder diese muß verworfen und wiederholt werden. Was die Fernrohre und Mikroskope anbelangt, so haben zwar die Eigenschaften des dazu verwendeten Glases Störungen so empfindlicher Art, wie bei den Wasserwaagen, bisher nicht erzeugt, es kommen aber Trübungen von Objektiven, die den Ersatz derselben durch neue nothwendig machen, öfters vor. Der weitaus größte Gewinn, den die Landesaufnahme für ihre Arbeiten aus der Verbesserung des optischen Glases ziehen würde, liegt jedoch in dem Umstand, daß es dadurch möglich wird, die Leistung der Fernrohre zu erhöhen, ohne ihre Dimensionen zu vergrößern. Den letzteren sind nämlich durch die Forderung der Transportleichtigkeit der Instrumente ziemlich enge Grenzen gesetzt, die hinwiederum ihre Helligkeit und Vergrößerung auf ein bestimmtes Maaß beschränken, das nur im Wege der Glasverbesserung überschritten werden kann. Die Erhöhung der Leistung der Fernrohre in diesen Beziehungen ist aber ein, jedem Beobachter sich fortwährend aufdrängendes Bedürfniß, und würde für die Leichtigkeit und den schnellen Fortgang nicht nur der Arbeiten der Landesaufnahme, sondern überhaupt aller geodätischen Messungen ein unschätzbarer Vortheil sein. ... Der Bestimmung einer grossen Zahl von Punkten auf einem ausgedehnten Gebiet muß stets die Herstellung eines festen Rahmens vorhergehen, der das ganze Gebiet mit zusammenhängenden Ketten möglichst großer Dreiecke überspannt. Dieser feste Rahmen ist das Hauptdreiecksnetz, und ein solches hat demnach die Landesaufnahme über den ganzen preußischen Staat zu legen. Neben dem hieraus sich ergebenden praktischen Zweck des Hauptdreiecksnetzes soll dasselbe - dem Organisationsstatut der Landesaufnahme zufolge - auch den Anforderungen der Wissenschaft vollständig genügen. Für die Wissenschaft ist die Genauigkeit Selbstzweck; es versteht sich daher von selbst, dass die Landesaufnahme für den wissenschaftlichen Theil ihrer Aufgabe den höchsten Grad der Genauigkeit erstreben muß. Es fällt hier aber besonders ins Gewicht, daß die größte zur Zeit erreichbare Genauigkeit der Hauptdreiecksmessungen viel mehr noch für den praktischen Zweck der letzteren geboten erscheint. So wenig Schwierigkeiten es nämlich auch darbietet, ein Areal von einigen hundert Quadratmeilen mit einem Dreiecksnetz zu überziehen, in welchem nirgends Fehler von störender Größe zu Tage treten, so schwer sind solche zu vermeiden, wenn das zu triangulirende Gebiet mehrere tausend Quadratmeilen beträgt, und die Resultate nicht blos wissenschaftlichen, sondern vorwiegend praktischen Zwecken dienen sollen. Für wissenschaftliche Zwecke hat man sich nämlich bisher damit begnügt, große Triangulationen vorläufig in einzelnen Theilen (Ketten) zu berechnen, und das genaue Aneinanderpassen derselben der Zukunft vorzubehalten. Aber gerade bei
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diesem Aneinanderpassen traten die weitaus größten Fehler in Folge allmäliger Anhäufung hervor, und sie werden noch erheblich vergrössert, wenn man nicht damit warten kann, bis das Ganze fertig ist, sondern alle 2 bis 3 Jahre das Gemessene berechnen und dem bereits Feststehenden anpassen muss, wie es bei jeder für praktische Zwecke bestimmten Triangulation unerläßlich ist. In dieser ungünstigen Lage befindet sich die Landesaufnahme bezüglich des praktischen Theils ihrer Aufgabe, und hier erweist sich derjenige Grad von Genauigkeit, welcher heutzutage als für wissenschaftliche Zwecke völlig genügend angesehen wird, keineswegs als hinreichend, um übergroße Winkelverzerrungen mit Sicherheit zu vermeiden. So kommt es, daß in den einzelnen Ketten, wie sie von der Landesaufnahme zur Benutzung zu wissenschaftlichen Zwecken bereit gestellt werden, nur sehr wenige Winkelkorrektionen von mehr als 1 Sekunde und nur eine einzige von mehr als 2 Sekunden vorkommt, während in Folge der Zwangsbedingung des Aneinanderpassens sogar 10 Sekunden überschritten werden mussten. Noch mehr als die angeführten Mängel des Glases kommt bei den Hauptdreiecksmessungen ein anderer auf dem Gebiete der Präzisionstechnik bestehender Uebelstand in Betracht, der seit mehr als 10 Jahren eine wirkliche Nothlage für die Landesaufnahme bildet. Es ist dies die Unsicherheit, welche in der Bestimmung der Temperatur und der von dieser abhängigen Länge von Metallstäben, insbesondere von Basismeßstangen besteht. (Anschliessend an eine Diskussion der Probleme im Zusammenhang mit den verschiedenen Metallen, die als Metallthermometer benutzt werden, fährt Schreiber fort): Wenn es nun auch nicht zweifelhaft erscheint, daß das Zink eines von den am unregelmäßigsten sich ausdehnenden Metalles ist, so steht doch noch keineswegs die Frage fest, ob und welche zwei Metalle ein besseres Metallthermometer liefern, als Zink und Eisen. Denn es ist hierbei wesentlich, daß es zwei solche seien, die sich möglichst verschieden stark ausdehnen, indem lediglich der Unterschied ihrer Ausdehnungen das Maaß der Stangenlänge bildet. Da nun Zink sich weit stärker ausdehnt als irgend ein anderes Metall, so ist es fraglich, ob dieser Vortheil den Nachtheil der gößeren Unregelmäßigkeit nicht wieder ausgleicht. Man hat allerdings andere Metalle zur Konstruktion von Basismeßstangen bereits angewendet, jedoch bis jetzt keineswegs festgestellt, ob sie besseres leisten, als Zink und Eisen. Das Mißtrauen gegen die Metallthermometer überhaupt hat vielmehr in einigen Ländern schon zur Rückkehr zu Quecksilberthermometern geführt, von denen man ihrer Ungenauigkeit wegen ehemals zu Metallthermometern übergegangen war. Die praktische Seite der jetzigen Lage dieser Sache ist die, daß man eine trigonometrische Grundlinie nicht genauer, als auf den zweimalhunderttausendsten Theil ihrer Länge messen kann, während diese Genauigkeit sich sofort auf das 10 bis 20 fache steigert sobald die Frage der Wärmeausdehnung der Stangen gelöst ist. Die Landesaufnahme hat schon seit 12 Jahren das dringende Bedürfniß, einen neuen Basisapparat zu besitzen, da der Bessel’sche abgängig und im Vergleich zu den in neuerer Zeit konstruirten immerhin primitiver Art ist. So lange aber die in Rede stehende Schwierigkeit nicht überwunden ist, leistet der schlechteste Apparat an Genauigkeit ebensoviel, wie der beste, und die übrigen Vortheile eines neuen Apparates lohnen weder Zeit noch Kosten seiner Konstruktion und Ausführung. Die Landesaufnahme hat sich daher genöthigt gesehen, ihre Basismessungen, deren in den letzten 12 Jahren drei stattgefunden haben, nach wie vor mit dem Bessel’schen Apparat auszuführen.
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Votum des Herrn Geheimen Regierungs-Rates, Prof. Dr. von Helmholtz (Juni 1883). Ueber die Aufgaben der wissenschaftlichen Abtheilung des in Aussicht genommenen physikalisch-mechanischen Instituts. In der Denkschrift und den zugehörigen Voten, welche in der letzten Sitzung der zur Berathung der Organisation eines physikalisch-mechanischen Instituts vom Hohen Ministerium eingesetzten Kommission vorgelegt wurden, sind, soweit ich sehe, die Gesichtspunkte, welche sich auf die Förderung der Präzisionstechnik beziehen, im Wesentlichen vollständig hervorgehoben, und es ist eine durchaus zweckmäßige Organisation des Instituts für diese Zwecke vorgeschlagen worden. Ich möchte mir nur noch erlauben, die wesentliche Bedeutung auch der wissenschaftlichen Abtheilung dieses Instituts nicht nur für die weitere Entwickelung der eigentlichen Wissenschaft, sondern auch für die Beförderung der Präzisionsmechanik eingehender hervorzuheben. Es liegen auch für die rein wissenschaftliche Forschung eine Reihe wichtiger Aufgaben vor, die nicht mit den Privatmitteln einzelner Beobachter oder durch die zum Zwecke des Unterrichts gegründeten Laboratorien unserer Universitäten gelöst werden können, weil sie zu ihrer Bewältigung theils kostbarer Hülfsmittel an Instrumenten und Lokalitäten, theils auch freiere Arbeitszeit erfahrener und urtheilsfähiger Beobachter erfordern, als der Regel nach ohne Unterstützung aus öffentlichen Mitteln zu beschaffen sein werden. Bisher ist es fast ausschließlich die Astronomie gewesen, deren Pflege der Staat in eigenen vorzugsweise der wissenschaftlichen Forschung und nur in zweiter Linie dem Unterricht gewidmeten Instituten, den Sternwarten übernommen hat. ... Abgesehen davon, daß die Astronomie, durch die Vorstellungen, welche sie uns vom Bau des Weltsystems giebt, eine totale Revolution in unserer ganzen Weltanschauung hervorgebracht hat, hängt unsere Schifffahrt, die Sicherung der bürgerlichen wie der historischen Zeitrechnung wesentlich von ihr ab, auch die Kunst der praktischen Optik, der höheren Uhrmacherei, sowie alle Verfeinerungen der Längen- und Winkelmessungen haben sich direkt an den von ihr gestellten Aufgaben entwickelt. ... In den der Kommission vorgelegten Schriftstücken ist schon eingehend besprochen worden, was für die astronomischen und die diesen verwandten geodätischen Untersuchungen nothwendig ist. Die der Präzisionsmechanik für diese Zwecke zu stellenden Aufgaben und zu leistende Hülfe sind darin klar und vollständig verzeichnet. Diese beiden Richtungen wissenschaftlicher Tätigkeit haben aber bereits ihre rein wissenschaftlichen Institute und Organisationen, und was sie als Mangel fühlen, beschränkt sich deshalb auf die nicht zureichende technische Unterstützung ihrer Arbeiten durch die Kunst der Mechanik. Es liegen aber in den anderen Zweigen der Naturforschung, namentlich der Physik, eine Reihe durchaus ebenso wichtiger Aufgaben vor, die bisher entweder nur sehr ungenügend gelöst sind, oder die, den zunehmenden Kenntnissen der Wissenschaft entsprechend, von Zeit zu Zeit mit verbesserten Methoden wieder in Angriff genommen werden müssen und zu ihrer Durchführung erheblicher äußerer Mittel bedürfen. Auf meine Anregung ist zwar die Denkschrift in dieser Hinsicht etwas vervollständigt worden, indessen hat die Kommission geglaubt, daß einige eingehendere Bemerkungen über diese Seite der Sache von Vortheil sein würden.
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Um zunächst einige physikalische Aufgaben zu erwähnen, die mit den astronomisch-geodätischen Aufgaben in engem Zusammenhang stehen, führe ich folgende an: 1. Die genaue Bestimmung der Intensität der Schwere und Vergleichung dieser Intensität an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche. Die internationale Kommission für die europäische Gradmessung hat diesen Gegenstand in den letzten Jahren vielfach berathen, da er eine wichtige Kontrolle der geodätischen Nivellements ergeben und für die Bestimmung der lokalen Unregelmäßigkeiten der Erdoberfläche von hervorragender Wichtigkeit sein würde. Bisher aber fehlt es noch an einem Laboratorium, wo die Vorversuche über die wünschenswerthe größere Verfeinerung der Beobachtungsmethoden ausgeführt werden können. 2. Die absolute Messung der Gravitation, oder die Bestimmung der mittleren Dichtigkeit der Erde. Hierbei ist bisher nur ein mäßiger Grad von Genauigkeit erreicht worden. Durch diese Bestimmung würden die Massen der Himmelskörper auf dasselbe Maaß wie die irdischen zurückgeführt werden, ebenso wie man die Längenmessungen des Meridians und die Beobachtung der Venusdurchgänge gebraucht, um die kosmischen Entfernungen auf irdisches Längenmaaß zu reduziren und die Größe der Gravitation genau zu bestimmen. Die letztere Bestimmung ist für die allgemeine Physik und für die Gewinnung eines von der wahrscheinlich veränderlichen Drehung der Erde unabhängigen Zeitmaaßes von hervorragender Wichtigkeit. 3. Die Geschwindigkeit des Lichtes kann in irdischen Entfernungen bestimmt werden und, wie die bisher ausgeführten Messungen zeigen, mit einer Genauigkeit, die hinter der mittels der Venusdurchgänge wahrscheinlich erreichbaren nicht zurückbleiben dürfte. Diese Bestimmung ist ebenfalls geeignet, die kosmischen Entfernungen auf irdisches Längenmaaß zu reduziren, und wäre es, da in den nächsten hundert Jahren kein Venusdurchgang mehr stattfindet, durchaus zu empfehlen, die Arbeit in der angegebenen Richtung fortzusetzen. 4. In der Lehre von den magnetischen Wirkungen der elektrischen Ströme spielt eine der Lichtgeschwindigkeit, wie es scheint, genau gleiche Geschwindigkeit, von W. Weber als die kritische bezeichnet, eine fundamentale Rolle. Ihre Gleichheit mit der Lichtgeschwindigkeit scheint eine wesentlich innere Verwandtschaft zwischen den optischen und den elektrischen Vorgängen anzuzeigen. Die Einsicht in die räthselhaften Seiten namentlich der elektromagnetischen Erscheinungen scheint hier einen leitenden Faden gewonnen zu haben, der uns wahrscheinlich zum tiefsten Grunde desselben führen wird. Für die Elektrotechnik ist die genaue Kenntniß dieser Weberschen Geschwindigkeit von großer praktischer Wichtigkeit, so oft elektrische Strömungen und elektrische Ladungen gleichzeitig in Wirkung treten. 5. Hieran schließen sich die schon vielfach in Angriff genommenen Untersuchungen über die elektrischen Maaßeinheiten. Dieselben sind von den beiden Pariser Congressen der letzten Jahre berathen worden. Ihre definitive Feststellung steht jedoch noch aus, weil die Mehrzahl der darüber geführten Untersuchungen mit unzureichenden äußeren Hilfsmitteln geführt werden mußten. 6. Die Lehre von der Thermodynamik, von den Kraftwirkungen, die mittels der Wärme gewonnen werden können, hat die Messungen über Druck und Dichtigkeit der Gase und Dämpfe bei verschiedenen Temperaturen und die Messung der dabei verbrauchten Wärmemengen zu ihrer thatsächlichen Unterlage. Die zuverlässigsten Bestimmungen dieser Art, die wir bisher besitzen, sind durch V. Regnault gegeben. Er konnte für diese Arbeiten die Hilfsmittel der Porzellanfabrik zu Sèvres, deren Direktor er war, unter Konnivenz der französischen Regierung ausbeuten, späterhin, als nach 1848 die Geldmittel
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stockten, wurden ihm von England aus sehr bedeutende Summen aus Privatmitteln zur Förderung dieser Arbeiten zur Verfügung gestellt. Es hat vor ihm und nach ihm Niemand mit ähnlichen Mitteln arbeiten können, und da er ein sehr ausgezeichneter und intelligenter Beobachter war, so sind seine Leistungen auf diesem Gebiete von hervorragendem Werth. Aber jetzt schon könnte man einige Theile dieser Untersuchung mit verbesserten Methoden wiederholen, neu entdeckte Fehlerquellen vermeiden; außerdem werden durch dieselben eine Reihe von Fragen nicht beantwortet, deren Offenbleiben bei dem Einfluß der Thermodynamik auf fast alle Kapitel der Physik sich bereits als sehr störende Lücke fühlbar macht. Diese Unzulänglichkeiten werden sich immer bemerklicher machen, und eine Wiederholung der Regnaultschen Untersuchungen wird demnächst dringend nothwendig sein. Die ganze Entwickelung unserer neueren Technik beruht auf der Anwendung der Wärmekraftmaschinen, sei darin nun Dampf, heiße Luft oder Gas angewendet, diese Fragen sind somit auch von hoher ökonomischer Bedeutung. Dieses sind einige der wichtigsten Probleme, wie sie jetzt gerade vorliegen; zweifelsohne wird jedes Jahrzehnt deren neue, nicht minder wichtige und von ähnlichem Karakter aufwerfen. ... Aus den hier angeführten Motiven hat auch die Akademie der Wissenschaften bei Gelegenheit der an sie vom Hohen vorgesetzten Ministerium ergangenen Anfrage über die Bestimmung der galvanischen Widerstandseinheit einen Antrag auf Errichtung eines den Sternwarten ähnlich organisirten physikalischen Observatoriums zu empfehlen sich erlaubt. Die Verbindung eines solchen Observatoriums mit einem Institut zur Förderung der Präzisionsmechanik würde eine verhältnißmäßige enge und natürliche sein. ... Aus vorstehenden Erwägungen scheint mir hervorzugehen, daß ein Institut für physikalische Präzisionsmessungen nicht nur an sich nothwendig ist und immer mehr werden wird, sondern auch, daß das geplante Institut für Präzisionsmechanik sich bei Weitem fruchtbarer und sicherer wird entwickeln können, wenn ihm durch seine Organisation selbst fortdauernd neue große Aufgaben gestellt werden, als wenn es in dieser Beziehung ganz von den Anforderungen abhängig bleibt, die ihm von außen zugehen, und deren Zahl und Richtung sich namentlich für das Anfangsstadium schwer berechnen läßt. Eben deshalb scheint es mir von Wichtigkeit zu sein, daß gleich von Anfang an die wissenschaftliche Abtheilung mit der technischen verbunden werde.
Denkschrift betreffend die Begründung eines Instituts für die experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und der Präzisionstechnik. (Phyikalisch-mechanisches Institut) Vom 16. Juni 1883 I. Allgemeines. Bei den Verhandlungen der von dem Central-Direktorium der Vermessungen im Preußischen Staate gegen Schluß des Jahres 1873 berufenen Subkommission, von welcher im Jahre 1874 die “Vorschläge zur Hebung der wissenschaftlichen Mechanik und Instrumentenkunde” aufgestellt worden sind, sowie in denjenigen Schriftstücken, welche diesen Verhandlungen zum Ausgangspunkt gedient haben, ist bereits hervorgehoben worden, daß zwar damals eine besondere
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wirthschaftliche Nothlage der Präzisionstechnik den dringendsten Anlaß zu der Herbeiführung einer staatlichen Fürsorge für die bezüglichen gewerblichen und wissenschaftlichen Interessen bildete, daß jedoch überhaupt in den Aufgaben und den Grundbedingungen des Betriebes der Präzisionstechnik gerade mit steigender wirthschaftlicher und wissenschaftlicher Entwickelung, auch abgesehen von jedem vorübergehenden Nothstande, sehr ernste Aufforderungen für den Staat enthalten seien, in Zukunft der Pflege der Präzisionstechnik nicht blos gelegentlich, sondern vielmehr systematisch seine Aufmerksamkeit zu widmen. Es wurde insbesondere darauf hingewiesen, daß der unentbehrlichen und vielversprechenden Weiterentwickelung der Präzisionstechnik immer mehr solche Aufgaben und Probleme entgegentreten, deren Bearbeitung privatwirthschaftlich nicht rentabel ist, indem sie bei großen Schwierigkeiten und Kosten keinerlei unmittelbaren finanziellen Erfolg und keinerlei unmittelbare Steigerung der Leistungsfähigkeit in Aussicht stellt, während andererseits, wie bei vielen der abstraktesten wissenschaftlichen Forschungen, deren staatliche Unterstützung als selbstverständlich gilt, die höchste Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden ist, daß die Bearbeitung der betreffenden Aufgaben und Probleme in folgerichtigem Verlaufe der späteren Entwickelung reichsten Gewinn und Erfolg bringen muß, oder daß wenigstens ihre gründliche Verfolgung unumgänglich ist, um entscheidende Hindernisse weiterer gedeihlicher Entwickelung zu beseitigen und durch positive oder negative Resultate neue Aussichten für wahrhaft produktive Arbeit zu eröffnen. ... Die Präzisionstechnik findet endlich immer größere Schwierigkeiten, die strengeren Anforderungen, welche sie an die Qualität und an die Beständigkeit ihrer Materialien zu stellen hat, zuverlässig erfüllt zu sehen; denn bei der steigenden Massenproduktion vieler für sie unentbehrlichen, aber zugleich dem allgemeinen Bedarf dienenden Materialien haben die besonderen Anforderungen, welche der letztere Bedarf stellt, bereits begonnen, zu einem unverkennbaren Verfall vieler für die Präzisionstechnik sehr wichtiger Eigenschaften der Materialien zu führen. ... Es waren eine Zeit lang neben einzelnen hervorragenden Geodäten und Physikern fast nur noch die Sternwarten, von welchen längere und gründlichere Reihen von Untersuchungen über die Genauigkeit der Instrumente und die Leistungen der Messungsmethoden angestellt werden konnten, weil diesen wissenschaftlichen Instituten noch die größte Freiheit von unmittelbaren Aufgaben und Pflichten gewährt war, und weil gerade bei den von der Natur der astronomischen Probleme bedingten, längere Zeiträume umfassenden Massenarbeiten der erwähnte Gewinn an Oekonomie, welcher durch vollständigere Untersuchung der Instrumente und Messungsmethoden zu erzielen ist, deutlicher hervortrat. Aber auch die Sternwarten, zumal die deutschen, haben jetzt begonnen, unter der Zunahme der Lehraufgaben und unter der wachsenden Heranziehung ihres Personals zu allen Arten von wissenschaftlichen Mitwirkungen bei den exakteren Aufgaben der Verwaltungen (öffentlicher Zeitdienst, Zeitsignale an den Küsten, nautische Vorausberechnungen, Vermessungswesen, meteorologischer und magnetischer Dienst, Maaß- und Gewichtsdienst etc.) sehr merkliche Einschränkungen ihrer freieren experimentellen und auch größeren Problemen der Zukunft bestimmungsmäßig zugewandten Thätigkeit zu erfahren. In Preußen ist es hiernach auf diesem Gebiete schon rathsam erschienen, gerade in völlig isolirter Lage und vollkommen frei von allen unmittelbaren Lehraufgaben und von allen anderweitigen dienstlichen Verpflichtungen ein eigenartiges Institut, das Observatorium zu Potsdam, zu begründen, welches im Verlaufe seiner Entwickelung immer ausdrücklicher die Aufgabe erhalten hat, den tieferen experimentellen Aufgaben und den Jahrhunderte umfassenden Messungsproblemen der Astronomie und Astrophysik ohne Rücksicht auf ephemeren Erfolg und unmittelbaren Nutzen ausschließlich zu dienen.
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Ganz in demselben Sinne, aber in noch höherem Maße erscheint es nunmehr neben der Fürsorge für die Präzisionstechnik dringend erforderlich, daß für das Gesammtgebiet der exakten Naturforschung in Preußen auch durch ein physikalisches Observatorium wenigstens der Kern einer Institution geschaffen wird, durch welche den erwähnten Unvollkommenheiten der bestehenden Organisation rechtzeitig Abhülfe gewährt wird, bevor empfindlichere Nachtheile in Gestalt von geistigem Verfall aus denselben hervorgehen, und bevor vielleicht zu den bedeutenden geistigen Anstrengungen, welche für die Schaffung und Durchführung bsonderer, ausschließlich der freien experimentellen Forschung und gleichzeitig der höheren Entwickelung der Präzisionstechnik dienender Institutionen erforderlich sein werden, die geeigneten Kräfte zu fehlen beginnen. ... Wie sehr übrigens neuerdings auch in anderen Ländern die Nothwendigkeit anerkannt wird, der experimentellen Forschung und der mit ihr verbundenen Präzisionstechnik, ohne Einschränkung durch Erziehungs- und Verwaltungszwecke mit den Mitteln und Wegen des Staates zu Hülfe zu kommen, ergibt sich aus zahlreichen öffentlichen Anregungen und aus entsprechenden Bewilligungen, z. B. in England aus den vor einiger Zeit der Royal Society zur Vertheilung überwiesenen Fonds für experimentelle Untersuchungen von allgemeinem Interesse, sowie aus ähnlichen vorübergehend und noch ziemlich planlos getroffenen Maßregeln, deren Gesammtzweck mit dem Schlagwort “Dotation der Forschung” (endowment of research) bezeichnet wird. Auch gibt es im Auslande bereits einzelne Institutionen, welche zwar nicht völlig und ausschließlich den oben erörterten Aufgaben dienen, aber doch so dotirt sind, daß sie auch der experimentellen und theoretischen Unterstützung der Präzisionstechnik bestimmungsmäßig dienen können, z. B. das durch kritische Behandlung zahlreicher einschlagender Untersuchungen berühmt gewordene Conservatoire des Arts et Métier in Paris, wo unter Arts im Gegensatze zu den Beaux Arts ausschließlich die Arts de Précision gemeint sind, ferner das physikalische Centralobservatorium zu St. Petersburg, in welchem Kupffer seiner Zeit für die Präzisionstechnik höchst wichtige Untersuchungen ausgeführt hat. In größtem Styl wird neuerdings in Frankreich für die besondere Pflege der experimentellen Forschung und Technik durch die Begründung eines bedeutenden Staatsinstituts Fürsorge getroffen, welches aus den durch die elektrotechnische Ausstellung in Paris entstandenen Anregungen hervorgegangen und zunächst mit den von derselben verbliebenen Ueberschüssen fundirt worden ist, aber nun dauernd mit großen Mitteln weiter entwickelt werden soll. Bei uns ist vielleicht der hervorstechendste Zug der Entwickelung in dieser ganzen Zeit die Vervollkommnung unserer Lehrorganisation gewesen. Und wenn es begründet ist - wofür in der That einige Anzeichen sprechen - , daß wir neuerdings gegen andere Nationen in eigentlich erfinderischen, originalen Leistungen auf den in Rede stehenden Gebieten der Forschung und Technik merklich zurückgeblieben sind, so würde dies gewiß zum Theil in dem bereits oben hervorgehobenen zu starken Druck der Lehrfunktionen auf die Forschungsthätigkeit seine Erklärung finden. ... Besonders der Zustand der Glasfabrikation bereitet zur Zeit der Präzisionstechnik sehr erhebliche Unsicherheiten und materielle Verluste. Die Richtung auf den augenblicklichen Erfolg, auf das unmittelbar Zweckentsprechende unter Hintansetzung solcher ökonomischer Erwägungen, welche auch das Element der Dauer gehörig mit in Rechnung ziehen, hat, gerade in der Fabrikation dieses Materials, dessen Dauer überhaupt prekär ist, einen, längere Zeit hindurch überwiegenden, Einfluss gewonnen. Es sind - abgesehen von einem Anlauf, der gerade zur Verstärkung
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der bloßen Dauerhaftigkeit dieses Materials selbst auf Kosten anderer Eigenschaften genommen worden ist - in den chemischen Zusammensetzungen des Glases allmälig Veränderungen eingeführt worden, welche sich in Betreff der Wohlfeilheit der Herstellung, sowie der Leichtigkeit und Sicherheit der Formung als unzweifelhafte Fortschritte, dagegen hinsichtlich des Verhaltens gegen die Temperatur, sowie hinsichtlich der Beständigkeit gegen Lufteinflüsse und dergl. als Rückschritte der bedauerlichsten Art herausstellen. Es kommt immer öfter vor, daß optische Gläser, auf deren sorgfältigste Schleifung viele Mühen und Kosten verwandt worden waren, sich an der Luft schon nach wenigen Jahren mit einer erschreckenden Leichtigkeit und Schnelligkeit trüben, mitunter nur vorübergehend, aber doch schon in solchem Maße, daß bei den erforderlichen wiederholten Reinigungen die Vollkommenheit der Oberflächengestaltung immer empfindlicher leidet, mitunter sogar eine Wiederherstellung unmöglich wird. Thermometrische Glasröhren, welche aufs Vollkommenste kalibrirt sind, zeigen sich so abhängig von den Nachwirkungen der Temperaturänderungen, daß aus ihren Angaben die augenblickliche Temperatur nur durch Rechnungen, welche auch den Einfluß der vorangegangenen Temperaturen mitberücksichtigen, abgeleitet werden kann, mitunter auch dieses nicht einmal mit hinreichender Schärfe möglich ist. Auch scheint es schon vorzukommen, daß Ausschwitzungen der Glasflächen an den inneren Röhrenwänden störende Hemmungen und Verfälschungen der thermometrischen Bewegungen des Quecksilbers verursachen. Auf ähnliche Zustände der Glasflächen ist vermuthlich auch ein Theil der seit einiger Zeit häufiger vorkommenden gröberen Störungen barometrischer Messungen durch Anomalien der Kapillarität zurückzuführen. Gläserne Wasserwaagen, d. h. Glasröhren, deren inneren Wandungen man durch sehr genaues Ausschleifen Gestaltverhältnisse gegeben hat, welche sie zu unschätzbaren Hilfsmitteln für die Messung von Neigungswinkeln gegen die Ebene des Horizonts machen, versagen immer häufiger den Dienst, indem sich an den Wänden Ausschwitzungen bilden, welche zuerst in schwer erkennbarer und deshalb umso gefährlicherer Weise die Bewegungen der Luftblasen gegen die Skaleneintheilung stören, später ganz große Hemmungen dieser Bewegungen verursachen, so daß die auf den Schliff dieser Wasserwaagen verwandte große Arbeit mitunter total verloren geht. ... Auf dem Gebiete des optischen Glases besteht außerdem noch eine eigenthümliche Nothlage, nicht nur insbesondere für die deutschen Astronomen, sondern auch überhaupt für die zukünftige Entwickelung des bewaffneten Sehens. Deutschland besitzt zwar eine bedeutende Fabrikationsstelle für optisches Glas in München, aber seine Präzisionstechnik ist, da diese Stelle im Wesentlichen nur für die von ihrem Besitzer herzustellenden Fernröhre etc. arbeitet, für ihren allgemeineren Bedarf auf zwei ausländische Fabrikationsstellen optischen Glases zu Paris und Birmingham angewiesen. An diesen beiden Stellen ist dieser Fabrikationszweig, welcher ganz besondere Einrichtungen und Erfahrungen verlangt, fast monopolisirt, und man ist dort natürlich weder sehr geneigt, noch auch in der Lage, zum Zwecke weiterer Verbesserungen optischen Glases schwierige und kostspielige Experimente von unsicherem Erfolge anzustellen. Und doch sind solche Verbesserungen und die dazu unumgänglichen chemischen und physikalischen Untersuchungen, ganz abgesehen von den oben bereits erwähnten Mißständen, eine der dringendsten Forderungen für die Oekonomie und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung. Der gegenwärtige Zustand charakterisirt sich dadurch, daß - statt einer rationellen
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Untersuchung und Verbesserung der noch bestehenden Unvollkommenheiten optischen Glases - zu einer weiteren Steigerung seiner Licht sammelnden, aber zugleich die Lichtwirkung trennenden und individualisirenden Leistungen kolossale Steigerungen der Größe der Licht empfangenden Flächen gefordert und ausgeführt werden. Und durch diese Steigerung der Dimensionen der optischen Gläser wird einestheils die Kostspieligkeit und Schwerfälligkeit der Apparate in bedeutendem Maße vermehrt, anderntheils gerade in der astronomischen Praxis eine Reihe von Uebelständen, welche mit den Ungleichheiten und Schwankungen der Temperatur der umgebenden Luft zusammenhängen, so erheblich vergrößert, daß in vielen Fällen der mit enormen Geldmitteln erlangte Gewinn der Leistung der Gläser ganz illusorisch gemacht oder sogar in das Gegentheil umgewandelt wird. Die früheren Versuche, durch Verbesserungen gewisser für die beste Lösung des Abbildungsproblems wesentlicher Eigenschaften des optischen Glases und durch unzweckmäßige Steigerung der bloßen Dimensionen der Gläser gesteigerte Wirkungen mit geringerer Abhängigkeit von unvermeidlichen äußeren Verhältnissen und mit angemessenerem Geldaufwande zu erreichen, sind zwar bisher in den Händen von Privaten mehrfach bis an die Schwelle wenigstens theilweisen Erfolges gelangt, aber die Erreichung einer vollständigeren, alle Seiten der Aufgabe umfassenden, auch auf die Dauer fest zu haltenden und vor erneutem Verfall zu behütenden Verbesserung der Leistungen optischen Glases hat sich dabei zweifellos als eine Aufgabe erwiesen, deren Lösung, wenn nicht unberechenbarer Zufall dabei zu Hilfe kommt, sich nur dann mit einiger Sicherheit erwarten läßt, wenn bedeutende Geldmittel hierfür in sichere Aussicht gestellt werden, was ja im Hinblick auf die Größe der Sache und die eminent produktive Bedeutung eines solchen Fortschrittes auch gar nicht befremden kann. Für Deutschland liegt diese Sache zur Zeit so, daß die deutschen Astronomen, wenn sie sich nicht weiteren schweren Vorwürfen eines vermeintlichen Zurückbleibens ihrer Leistungen gegen diejenigen anderer Nationen aussetzen wollen, demnächst gezwungen sein werden, zu beantragen, daß wenigstens auf dem Observatorium zu Potsdam ein Kolossalfernrohr von denselben Dimensionen, wie sie Washington, Wien und Pulkowa bereits besitzen oder demnächst besitzen werden, errichtet werde, und daß dafür viele hunterttausend Mark, welche zu einem großen Theile an einen bedeutenden Optiker in Nordamerika zu zahlen sein würden, bewilligt werden, wenn es nicht in nächster Zukunft, wofür bei geeigneter Veranstaltung schon mit viel geringeren Geldmitteln alle Hoffnung gehegt werden kann, gelingt, durch Fabrikation besseren optischen Glases als des zu diesen Kolossalfernröhren verwendeten, die Aussicht zu eröffnen, daß man den letzteren mit Gläsern von bedeutend geringeren Dimensionen aber besseren Qualitäten für die meisten Forschungsaufgaben den Vorrang abgewinnen kann. Es wird sich hierbei nicht darum handeln, etwa von Seiten des Staates eine Fabrikation optischen Glases einzurichten und auf die Dauer zu betreiben, sondern es wird nur erforderlich sein, daß man an geeigneter Stelle besonders kompetenten Personen, welche sich mit Studien und Untersuchungen entsprechender Art bereits beschäftigt haben, die Hoffnung eröffnet, daß ihnen bei Vorlegung werthvoller Ergebnisse auf diesem Gebiete in irgend einer geeigneten Form, z. B. derjenigen eines Honorars, einer Prämie und dergl., eine ansehnliche materielle Förderung zu Theil werden wird, daß man ferner hierzu ein für mechanisch-physikalische Forschungen ausschließlich zu begründendes Staatsinstitut mit Prüfungen solcher Ergebnisse und mit der Ausführung aller derjenigen Experimente und Messungen betraut, welche die Entwickelung einer solchen Fabrikation etc. unterstützen können, und daß man endlich später, wenn der betreffende Fabri-
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kationszweig ohne staatliche Prämiirung und dergleichen wirthschaftlich betriebsfähig ist, die Qualität und Gleichmäßigkeit seiner Leistungen durch Vermittelung derselben Staatsinstitution aufrecht erhält. Zu letzterem Zwecke aber wird es erforderlich sein, daß man ebenso wie für Thermometer, ein Prüfungs-Amt für optisches Glas und für Systeme optischer Gläser einrichtet, welches den Interessenten der Wissenschaft und Technik gegen mäßige Gebühren alle diejenigen Sicherheiten zu gewähren hat, die sie auf die Dauer nicht entbehren, aber sich innerhalb der wirthschaftlichen Bedingungen ihrer Thätigkeit nicht selber beschaffen können. Um ganz ähnliche Verbesserungen und Sicherungen wird es sich bei allen anderen Verwendungen des Glases zu Präzisionszwecken, insbesondere auch bei seiner Anwendung für elektrische Isolirungen und dergl. handeln. Auch die Spannungserscheinungen der Gläser werden eingehendster Prüfung bedürfen. Andere große Uebelstände bestehen zur Zeit in analoger Weise auf dem Gebiete der Metallindustrie. Das an sich ganz naturgemäße Streben aller dieser Fabrikationen nach Erleichterungen und Verbesserungen ökonomischer Art bringt ebenso wie auf dem Gebiete des Glases neben mannigfachen Fortschritten gewisse Verminderungen gerade solcher Eigenschaften der Materialien hervor, deren beständige und gleichmäßige Erhaltung für die Präzisionstechnik meistens wichtiger ist als die mit unablässiger Variation der Zusammensetzung und Struktur dieser Materialien verbundene sonstige Verbesserung. Auf dem Gebiete der Bronzen ist es insbesondere die steigende Verwendung des Zink gewesen, welche diese Unsicherheiten und Uebelstände vermehrt hat, aber auch in der Fabrikation des Eisens und des Stahles befindet sich die Präzisionstechnik in Betreff des thermischen Verhaltens, in Betreff der Oberflächenbeschaffenheit, der Elastizität u.s.w. der von ihr zu benutzenden Materialien, bei den starken Schwankungen der Fabrikation in einer üblen Lage; fast nirgends kann sie z.B. gegenwärtig mit einigermaßen gesicherter Kenntniß der thermischen Ausdehnungsverhältnisse ihrer Materialien arbeiten. Wärmekompensationen von Pendeln und Chronometern können fast gar nicht mehr nach Rechnung, sondern nur noch hin und her probirend ausgeführt werden, da insbesondere die Ausdehnungsverhältnisse der dabei wesentlich zur Anwendung kommenden Materialien - Stahl, Zink, Messing und Bronzen fast von Stück zu Stück gleichbenannten Materials verschieden sind, je nach der vorangegangenen metallurgischen Behandlung und der unsäglich variirenden Zusammensetzung derselben. Die großen Anomalien, welche insbesondere die Ausdehnung des Zink und auch in gewisser Beziehung des Stahles und des Eisens immer deutlicher erkennen läßt, beeinträchtigen auch alle feineren Längenmessungen in empfindlicher Weise, so daß unsere Landesvermessungen auch in dieser Beziehung mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die nicht nur enorme Aufwände an Mühen und Kosten verursachen, sondern auch lähmende Unsicherheiten und Streitigkeiten innerhalb der fachmännischen Kreise hervorrufen, ja sogar, indem durch solche Streitigkeiten die Autorität der von den Staatsbehörden ausgeführten bezüglichen Messungen herabgesetzt wird, materielle und moralische Unsicherheiten in weite Kreise derartig hineintragen, daß sehr bedeutende Anwendungen von Staatsgeldern auch nach diesen Richtungen hin eines Theils der beabsichtigten Wirkung verlustig gehen. ... Die Hülfe der Maaß- und Gewichts-Institutionen, welche gegen Uebelstände der letzterwähnten Art bereits mannigfach in Anspruch genommen und in thunlichstem Umfange, z.B. von der Normal-Aichungs-Kommission durch Maaßvergleichungen und Ausdehnungsbestimmungen, dargeboten worden ist, kann doch nicht in dem vollen Umfange des Bedarfs gewährt werden, wenn nicht die bestimmungsmäßige Thätigkeit dieser Behörden für die zwar verwandten, jedoch eigenartigen Aufgaben, denen sie zunächst zu dienen haben, dabei leiden soll.
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Für unmittelbare Zwecke des Maaßwesens werden wesentlich auch nur die Untersuchungen der Metalle auf ihr thermisches Verhalten in Frage kommen, während doch nach vielen anderen Richtungen hin, z.B. auch in Betreff der für möglichst störungsfreie magnetische Instrumente geeignetsten Metalllegierungen, in Betreff der Härtungen, in Betreff des elastischen Verhaltens (Nachwirkungen) und des Verhaltens gegen chemische Einflüsse der verschiedensten Art, in Betreff der Homogenität und Beständigkeit der Struktur u.s.w. , endlich auf dem Gebiete der Reibungsversuche und dergleichen dringliche und wichtige Aufgaben vorliegen. Von den Ergebnissen gewisser Elastizitätsuntersuchungen werden z.B. auch wesentliche Fortschritte in der Chronometrie bedingt sein. Experimente zur Unterstützung der Herstellung der geeignetsten metallischen Materialien für Präzisionszwecke, sowie die systematische Prüfung und Beglaubigung solcher Materialien und die Aufrechterhaltung einer gewissen Beständigkeit und Gleichmäßigkeit ihrer Herstellung werden somit ganz in demselben Sinne, wie die Glastechnik, wichtige und dringliche Aufgaben eines vom Staate zu unterhaltenden Instituts bilden. Auf dem Gebiete der physikalischen Forschung sind zunächst fundamentale elektrische Maaßbestimmungen dringend erforderlich. ... (Anschliessend an einige allgemeine Bemerkungen wird die Denkschrift fortgesetzt): Für eine solche Behandlung der Aufgabe ist aber Deutschland und ist speziell Berlin als ein Mittelpunkt großer elektrotechnischer Arbeiten besonders geeignet, und es ist zu hoffen, daß, wenn hier in der nächsten Zeit mit einer Organisirung und Ausführung jener fundamentalen Messungen vorgegangen wird, auch die Wissenschft und Technik anderer Länder späterhin nach einem anderen Versuchs- und Prüfungsamt elektrotechnischen Karakters nicht verlangen und den hiesigen Institutionen zu ansehnlichem wirthschaftlichen Vortheil der deutschen Präzisionstechnik sich zuwenden wird. Mit diesen elektrischen Arbeiten würden unter Anderem auch Untersuchungen über die sogenannte Webersche oder "kritische"Geschwindigkeit zu verbinden sein, welche für die Lehre von den magnetischen Wirkungen des elektrischen Stromes fundamental ist. Von anderen physikalischen Untersuchungen, für welche jetzt geeignete Institutionen bei uns gänzlich fehlen, wären hervorzuheben eine dringend nothwendige Erneuerung und Verschärfung der überaus wichtigen thermo-dynamischen Messungen über Druck und Dichtigkeit der Gase und Dämpfe bei verschiedenen Temperaturen u.s.w., ferner absolute Bestimmungen der Gravitation oder der mittleren Dichtigkeit der Erde, fundamentale Bestimmungen der Geschwindigkeit des Lichtes u.s.w. Es folgt ein zweiter Teil von mehreren Seiten über “Nähere Vorschläge, betreffend die Einrichtung eines physikalisch-mechanischen Instituts in Berlin”, den wir hier aber nicht wiedergeben. Am Ende heißt es: ... Die Unterzeichneten haben die feste Überzeugung, daß das physikalisch-mechanische Institut auf obiger Grundlage sich zu einer Schöpfung entwickeln kann, welche nicht nur Bedeutendes zu leisten, sondern einen wahren Kernpunkt nationaler Prosperität zu bilden verspricht. Berlin, den 16. Juni 1883
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Oberstlieutenant Schreiber, Chef der trigonometrischen Abtheilung der Königlichen Landesaufnahme
Geheimer Regierungsrath, Professor Dr. von Helmholtz, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften
Geheimer Regierungsrath, Professor Dr. Landolt,
Geheimer Regierungsrath Dr. Werner Siemens, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften
Major von Goessel, à la suite des Generalstabes der Armee
Geheimer Regierungsrath, Professor Reuleaux.
Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften
Professor Dr. Vogel,
Professor Dr. Paalzow.
Direktor des Königlichen Observatoriums zu Potsdam
Professor Dr. Doergens.
C. Bamberg, Mechaniker und Optiker
R. Fueß,
Professor Dr. Foerster,
Mechaniker und Optiker
Direktor der Königlichen Sternwarte
Denkschrift betreffend die Errichtung einer “physikalisch–technischen Reichsanstalt” für die experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und der Präzisionstechnik Die ersten Vorschläge zur Errichtung eines der Förderung der exakten Wissenschaften und der Präzisionstechnik zu widmenden Staatsinstituts sind unter dem 30. Juli 1872 von Herrn Professor Dr. Schellbach hierselbst, unterstützt durch die Herren von Helmholtz, Du Bois-Reymond, Paalzow, Bertram und Foerster, aufgestellt worden und haben damals die lebhafte Unterstützung Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit des Kronprinzen gefunden. ... In weiterer Folge hatte der Geh. Regierungsrath Herr Dr. Werner Siemens dem Königl. preußischen Herrn Unterrichts-Minister gegenüber das Anerbieten schenkungsweise Ueberlassung einer Grundfläche von 12 000 qm an den preußischen Staat gemacht, wenn der letztere zur Erbauung, Ausstattung und Unterhaltung der nöthigen Laboratorien und sonstigen Gebäude für die mit fundamentalen wissenschaftlichen Forschungen zu betrauende Abtheilung des projektirten Instituts sich verpflichten würde. Hingewiesen auf die zur Erfüllung der gestellten Bedingung
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erforderliche Genehmigung des preußischen Landtages, erklärte Herr Dr. Werner Siemens demnächst, daß er auch die Kosten der Errichtung der erforderlichen Baulichkeiten tragen und, damit nicht ein volles Baujahr verloren gehe, auf eigene Gefahr vorgehen wolle, ohne von dem preußischen Staate eine Garantie wegen Einstellung von Mitteln in den Etat für 1885/86 zu verlangen. Auf seinen Wunsch wurde der bautechnische Rath im Königl. preußischen UnterrichtsMinisterium ermächtigt, ihm bei dem Entwurfe und der Ausführung der Bauanlagen behülflich zu sein. In diesem Stadium befand sich die Sache, als Herr Dr. Werner Siemens im Hinblick auf die nationale Bedeutung des Planes und in der Hoffnung auf eine Durchführung desselben in größerem Umfange und mit reicheren Mitteln den Entschluß faßte, daß Preußen gemachte Anerbieten auch dem Reiche zu machen. Der preußische Herr Unterrichts-Minister erklärte sich hiermit einverstanden: sein lebhaftester Wunsch gehe nur dahin, daß es überhaupt gelingen möge, das bedeutsame Institut ins Leben zu rufen. Herr Dr. Werner Siemens hat hiernach sich bereit erklärt, dem Reiche, behufs Gründung eines Instituts zur Ausführung naturwissenschaftlicher Forschungen für technische Zwecke, eine Schenkung von einer halben Million Mark in Grundwerth oder Kapital zu machen, und in dem bezüglichen Schreiben seine Ansichten über die Bedeutung und die Ziele eines solchen Instituts, wie folgt, zusammengefaßt: (Hier folgt das von Werner Siemens verfasste Dokument. Im ersten Teil diskutiert er ausführlich den Stand der Ausbildung und der Naturwissenschaften in Deutschland und in anderen Ländern sowie die Notwendigkeit einer von der Regierung unterhaltenen Forschungseinrichtung. Dann fährt er fort): Diese Betrachtungen hatten in dem Unterzeichneten schon vor längerer Zeit den Entschluß hervorgerufen, der hiesigen Königl. Akademie der Wissenschaften durch testamentarisches Legat eine größere Geldsumme zur Begründung eines Laboratoriums, welches wissenschaftlichen Fundamentaluntersuchungen gewidmet werden sollte, zu vermachen. Als aber im verflossenen Jahre bei Gelegenheit komissarischer Berathungen über die Organisation einer in den Räumen des Königl. Polytechnikums zu errichtenden technischen Versuchsanstalt die betonte Nothwendigkeit einer ähnlichen, ausschließlich der naturwissenschaftlichen Forschung dienenden Versuchsanstalt von Sr. Excellenz dem Herrn Minister Dr. v. Goßler anerkannt wurde, der Ausführung jedoch, außer finanziellen Bedenken namentlich die Schwierigkeit der Beschaffung eines passend gelegenen Bauterrains entgegentrat, erbot ich mich, dem Staate ein solches, in der Marchstraße in Charlottenburg gelegenes, durchaus geeignetes Grundstück von ca. 1 Hektar Flächeninhalt unter der Bedingung zur Verfügung zu stellen, daß der Staat es auf seine Kosten zu dem genannten Zwecke bebaute und die Anstalt angemessen dotirte. Ich erbot mich ferner, auch den Bau der Arbeitsräume selbst übernehmen zu wollen, in der Hoffnung, dadurch weiteren Zeitverlust zu verhindern. ... Ich bemerke schließlich, daß ich mit dem Angebote eines Beitrages von ½ Millionen Mark in Grundwerth oder Kapital zur Begründung des geplanten Instituts nur den Zweck im Auge habe, meinem Vaterlande einen Dienst zu leisten und meine Liebe zur Wissenschaft, der ich mein Emporkommen im Leben ausschließlich verdanke, zu bethätigen. Berlin, den 20. März 1884 Dr. Werner Siemens, Geh. Regierungsrath
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... Eine physikalisch-technische Reichsanstalt mit den weiter unten des Näheren dargelegten Aufgaben und Einrichtungen würde sich von den physikalischen oder sonstigen naturwissenschaftlichtechnischen Instituten, Laboratorien und Observatorien der Landesuniversitäten, der technischen Hochschulen und sonstigen Fachschulen der einzelnen Bundesstaaten und von den mechanischtechnischen oder chemisch-physikalischen Versuchsanstalten u. dergl., welche an die technischen Hoch- und Fachschulen einzelner Bundesstaaten angeschlossen sind, außer durch die wichtige, von Herrn Dr. Werner Siemens hervorgehobene Bestimmung, daß von der Reichsanstalt jegliche Verbindung mit Lehraufgaben fernzuhalten wäre, wesentlich durch die Größe der Aufgaben und die entsprechende Beschaffenheit der Einrichtungen unterscheiden. Den vorerwähnten, in den einzelnen Ländern bestehenden wissenschaftlich-technischen Institutionen würden durch die Reichsanstalt weder Aufgaben noch Mittel entzogen werden; denn keine der großen Aufgaben, welche nach Ausweis der nachfolgenden Arbeitspläne den beiden Abtheilungen der Reichsanstalt gestellt werden sollen, ist bisher in einer der Besonderheit der Probleme irgend entsprechenden Weise von einer der erwähnten Landesanstalten in Angriff genommen worden, während die letzteren alle das größte Bedürfniß nach einer gründlichen und vollständigen Bearbeitung der bezüglichen Aufgaben haben. ... Auch mit Rücksicht darauf, daß das Reich in mehreren seiner größten und umfassendsten Dienstzweige - der Telegraphie, der militärischen und nautischen Wissenschaft und Technik - an einer tieferen Grundlegung und Förderung vieler physikalisch-technischen Untersuchungen sehr nahe betheiligt ist, wird eine Institution wie die in Rede stehende, nicht als Landes-, sondern als Reichsanstalt zu begründen sein. Hierzu kommt als ein wesentliches Moment für die Behandlung grundlegender naturwissenschaftlich-technischer Institutionen als Reichsangelegenheit die gewerbliche und wirthschaftliche Interessengemeinschaft innerhalb des ganzen deutschen Reiches. Bei der ersten neuerdings zur Ausführung gelangten Maßregel staatlicher Förderung der Präzisionstechnik, nämlich bei einer von der Königlich preußischen Staatsregierung den Herren Professor Dr. Abbe und Dr. Schott in Jena gewährten Unterstützung für wissenschaftliche Arbeiten zur tieferen Begründung der Glastechnik, zunächst zu optischen und thermometrischen Zwecken, hat sich auch bereits die Nothwendigkeit ergeben, über die preußischen Landesgrenzen hinauszugreifen. Die physikalisch-technische Reichsanstalt würde zur Lösung der vorstehend in ihren allgemeinen Zügen erörterten Aufgaben sich zunächst in zwei Hauptabtheilungen gliedern, deren erste, in besonderem Sinne als die “wissenschaftliche” zu bezeichnende Abtheilung sich lediglich der Forschung auf den betreffenden Gebieten zu widmen hätte, während die zweite, in besonderem Sinne als die “technische” zu bezeichnende Abtheilung die Aufgabe hätte, die Ergebnisse der Forschung nach der technischen Seite hin weiter zu bilden und für die wissenschaftliche Technik nutzbar zu machen. Zu diesem Behufe würde diese Abtheilung selbständige technische Untersuchungen zu machen, ferner mit den verschiedenen Zweigen der einschlägigen Technik dauernde Verbindung zu unterhalten haben, endlich in gewissem Sinne eine Analogie zu den technischen Versuchsstationen der Landesanstalten bilden, aber von diesen sich nicht nur durch die möglichst hoch entwickelte Normalität der Einrichtungen und die Größe der Aufgaben, für welche die Geldmittel eben nur an einer Stelle im Reiche flüssig gemacht werden können, sondern auch dadurch unterscheiden, daß sie auf Grund ihrer engen Verbindung mit der wissenschaftlichen Abtheilung der Anstalt und deren eminenten geistigen und experimentellen Hülfsmitteln die Wahrung der Einheitlichkeit der Prüfungen und Beglaubigungen auf physikalisch-technischem
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Gebiete zu einer ihrer Hauptaufgaben zu machen hätte, in ähnlicher Weise, wie die technischen Arbeiten der Kaiserlichen Normal-Aichungskommission sich zu denjenigen der Aichungsbehörden und Aichungsämter der einzelnen Länder verhalten. Ohne die Schaffung eines derartigen Mittelpunktes für die Sicherung der Grundlagen physikalischer Messungen, sowie für die geordnete und entscheidende Ausgleichung vorkommender Differenzen würde in der That die Gefahr nahe liegen, daß die Ergebnisse der einzelnen Versuchsanstalten, statt zu einer Verminderung, zu einer Vermehrung oder wenigstens zu einer Verschärfung der Unsicherheiten insofern führen könnten, als ein Widerstreit der Ergebnisse verschiedener öffentlicher Versuchsanstalten für die Betheiligten besonders bedrängend ist.
(Es folgen noch zahlreiche Seiten, die die Aufgaben der ersten (wissenschaftlichen) und der zweiten (technischen) Abteilung zum Gegenstand haben und die von Dr. von Helmholtz bzw. von Dr. Foerster ausgearbeitet waren. Ferner folgt ein detaillierter Organisationsplan, der das Kuratorium, die baulichen Einrichtungen, das Personal, sowie die sachlichen Unterhaltskosten erläutert. Diesen besonders ausführlichen Teil der Denkschrift wollen wir hier nicht wiedergeben.)
3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz Die Regierung übertrug dem Reichsamt des Innern die Aufsicht über die neue Reichsanstalt. Diese Aufsicht stand jedoch weitgehend nur auf dem Papier. Eine staatliche Kontrolle der Arbeit der Reichsanstalt erfolgte im wesentlichen nur über die Fortsetzung ihres Haushaltsplans. Eine direkte Aufsichtsfunktion besaß das Kuratorium. Es setzte sich zusammen aus 24 Fachleuten auf dem Gebiet der Physik oder Präzisionstechnik, die aus dem Universitäts- oder Industriebereich und aus Regierungskreisen ausgewählt wurden. Es trat jährlich zusammen, um die Tätigkeiten der Reichsanstalt vom vorhergehenden Jahr und ihre Pläne für das neue Jahr zu prüfen. Da die Vertreter der staatlichen Stellen, der Industrie und der Technischen Hochschulen eine Dreiviertelmehrheit (18 der 24 Sitze) besaßen, wurden vor allem die praktische und die technische Seite begutachtet. Der Präsident der Reichsanstalt war der oberste Vorgesetzte in wissenschaftlichen und Verwaltungsangelegenheiten. Seine weitreichenden Befugnisse erstreckten sich auf alle Aspekte der Organisation und Arbeit der Reichsanstalt. Er leitete als Direktor die Physikalische Abteilung, beaufsichtigte den Direktor der Technischen Abteilung und war für alle Personalangelegenheiten verantwortlich. Im Gegensatz zu den Physikalischen Instituten der Universitäten und Hochschulen, an denen die Forschung überwiegend von allein arbeitenden Einzelpersonen betrieben wurde, arbeitete an der Reichsanstalt eine Gemeinschaft in Arbeitsgruppen zusammen. Ihr wissenschaftliches und technisches Personal widmete sich Fragen, deren Lösung einen langen Zeitraum erforderte. Die Arbeitsgruppen waren zwar klein - üblicherweise zwei bis vier Personen. Die Physikalische Abteilung hatte zwei generelle Zielsetzungen. Einerseits sollten wissenschaftliche Arbeiten durchgeführt werden, die einen grösseren Aufwand an Zeit, Geräten, Material und Arbeit erforderten als von den Physikalischen Instituten der Universitäten und Hochschulen erwartet werden konnte. Auf der anderen Seite suchte die Physikalische Abteilung Probleme zu lösen, die sich bei der Arbeit der Technischen Abteilung ergaben. Die Ziele der Technischen Abteilung waren genauer definiert: (a) “die Präzisionsmechanik und, soviel thunlich, auch andere Zweige der deutschen Technik in ihren Arbeiten zu fördern”; (b) alle Meß- und Regelgeräte (außer solchen, die auf dem Gebiet der Maße und Gewichte verwendet wurden) zu beglaubigen; (c) für staatliche Stellen Meß- und ähnliche Geräte herzustellen, die die Privatindustrie nicht lieferte; (d) bei Bedarf Geräteteile für die Industrie zu bauen, wenn die Industrie selbst dazu nicht in der Lage war. Kurz gesagt bestand die Zielsetzung der Technischen Abteilung darin, anderen staatlichen Stellen und der deutschen Industrie zu helfen. Sie sollte aber nicht mit letzterer konkurrieren. Die Bedeutung der Reichsanstalt für Deutschland drückte sich in ihren grossen und aufwendigen Bauten aus. Der Berliner Stadtteil Charlottenburg bot sich als der natürliche, ja einzig mögliche Standort für die Reichsanstalt an. Werner Siemens stiftete für die Reichsanstalt in der
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_3, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
Abbildung 3.1: Übersicht über die PTR, 1887 – 1896.
Abbildung 3.2: Lageplan der PTR (PTB Archiv).
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Nähe der Technischen Hochschule Charlottenburg ein grosses Areal - insgesamt 19 800 m2 mit einem geschätzten Wert von 566 157 Mark - und zwar für die Physikalische Abteilung unter der Bedingung, dass das Reich ein Gebäude für die Physik und einen Sitz für den Präsidenten baue und ausstatte. Für die Technische Abteilung kaufte das Reich 1892 von Siemens weitere 14 389 m2 angrenzender Grundstücke, die 373 106 Mark kosteten. 1893 besaß damit die Reichsanstalt 34 189 m2 , nach Abzug unentgeltlich abzutretenden Strassengeländes 25 739 m2 Grund und Boden mit einem Wert von ca. 939 263 Mark. Vor 1920 war dies eines der grössten, wenn nicht sogar das grösste Gelände für physikalische Forschung in der Welt. Zwischen 1887 und 1896 entstand aber ein grossartiger Gebäudekomplex aus zehn Einzelgebäuden, je fünf für beide Abteilungen. Ausser einem 1889 in Ilmenau in Thüringen errichteten kleinen Thermometer-Prüflaboratorium und einem Laboratorium für störungsfreie Untersuchungen zum Magnetismus, das 1913 in der Nähe von Potsdam gebaut wurde, befanden sich alle Einrichtungen der Reichsanstalt in Charlottenburg. Der Bau und die Ausstattung der fünf Gebäude der Physikalischen Abteilung - das Observatorium (oder Hauptgebäude), der Sitz des Präsidenten, das Verwaltungsgebäude, das Magnethaus und das Maschinenhaus - kosteten insgesamt 959 064 Mark. Neben den Physikalischen Instituten der Universitäten von Berlin und von Leipzig stellte die Physikalische Abteilung der Reichsanstalt die teuerste physikalische Einrichtung im kaiserlichen Deutschland dar. Der Komplex von fünf Gebäuden für die Technische Abteilung bestand aus dem Laboratoriumsgebäude, einem Maschinen- und Kesselhaus, dem Haupt- oder Technischen Gebäude, einem kleinen Ventilatorgebäude oder “Lufthäuschen” und dem Sitz für den Direktor der Technischen Abteilung. Bis zum Haushaltsjahr 1897/98 hatte das Reich 2 713 296 Mark für den Kauf von Grundstücken und für die Errichtung und Ausstattung der Technischen Abteilung ausgegeben. Die für die Gebäude und Einrichtungen der Reichsanstalt zur Verfügung gestellte Gesamtsumme von 3 672 360 Mark übertraf die Ausgaben der von den Vereinigten Staaten von Amerika bis 1903 für den Bau des National Bureau of Standards ausgegebenen 1 500 000 Mark um mehr als das Zweifache, und die von England bis 1902 für das National Physical Laboratory ausgegebenen 600 000 Mark um das Sechsfache. Hermann von Helmholtz wirkte als der erste Präsident der Reichsanstalt. Als er dieses Amt im März 1888 übernahm war er 66 Jahre alt. Hinter ihm lag die reiche 44jährige akademische Laufbahn eines der produktivsten Physiologen und Physikers des 19. Jahrhunderts. In Kapitel 13 präsentieren wir eine kurze Zusammenfassung seiner Biographie. Helmholtz hatte in seiner Laufbahn die abstraktesten mathematischen und theoretischen Probleme behandelt und auch gezeigt, dass er die Theorie und Praxis physikalischer Messungen ausgezeichnet beherrschte. Bei der Errichtung des neuen Physikalischen Instituts der Universität Berlin in den 70er Jahren und dessen Leitung hatte er zudem wertvolle organisatorische und administrative Erfahrungen sammeln können. Er setzte sich für eine humanere soziale und politische Ordnung ein und unterhielt enge Beziehungen zum kaiserlichen Hof und zum Militär. Dies und sein unübertroffenes Ansehen im Ausland machten ihn zum idealen und tatsächlich einzigen Anwärter auf die Stellung des Präsidenten der Reichsanstalt. Er war bereit, die neue Aufgabe zu übernehmen, die ihm die Behörden einstimmig antrugen. Ähnlich wie Werner Siemens war Helmholtz überzeugt, dass die technischen Entwicklungen nur auf der Basis solider Grundlagenforschung möglich sind. Während der ersten Jahre seiner Präsidentschaft widmete sich Helmholtz intensiv vor allem der administrativen Arbeit, wobei er auch den Bau der Reichsanstalt zu überwachen hatte. Be-
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
Abbildung 3.3: Das Observatorium (PTB Archiv).
Abbildung 3.4: Hermann von Helmholtz im Jahr 1889 (Siemens Museum, München).
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merkenswert ist, dass Helmholtz von 1888 bis 1894 nicht nur die Reichsanstalt baute und verwaltete, sondern darüber hinaus auch noch seine eigenen Untersuchungen auf dem Gebiet der theoretischen Physik fortsetzte, ein Seminar an der Universität leitete, und zahlreiche öffentliche Ämter ausübte. Diese grosse Arbeitsleistung konnte er bewältigen, weil er Aufgaben an die fähigen jungen Wissenschaftler übertrug, die er aufgrund seiner Persönlichkeit als Assistenten gewann. In der deutschen Physik galt Helmholtz nahezu als Halbgott. Michael Pupin, der bei Helmholtz studierte, bemerkte, wie “die ganze wissenschaftliche Welt Deutschlands oder vielmehr die ganze geistige Welt Deutschlands ehrfürchtig lauschte, wenn der Name der Exzellenz von Helmholtz ausgesprochen wurde”, und stellte fest: “Neben Bismarck und dem alten Kaiser galt er zu jener Zeit (1885) als der hervorragendste Mann im Deutschen Reich.” Sein wissenschaftliches Format und seine Autorität spornten auch die jungen Mitarbeiter der Reichsanstalt an, mit denen er sich umgab.
Abbildung 3.5: Wohnsitz des Präsidenten, gebaut im Jahr 1889, im Zweiten Weltkrieg zerstört und später abgerissen (PTB Archiv).
Von Anfang an sorgte Helmholtz dafür, dass die neuesten Ergebnisse der Reichsanstalt, offizielle Erklärungen über gesetzliche technische Normen, und die gesamte jährliche Tätigkeit der Reichsanstalt in mehreren grösseren wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Auch veranlasste ihn das langfristige umfassende, verschiedenen Erscheinungen gewidmete Meßprogramm der Physikalischen Abteilung, ein eigenes Veröffentlichungsorgan für die Reichsanstalt zu schaffen: die “Wissenschaftlichen Abhandlungen”, die ausserdem Ergebnisse der Technischen Abteilung brachten, soweit diese Methoden bleibenden Wert hatten. Auch die “Annalen der Physik” veröffentlichten die von der Reichsanstalt auf dem Gebiet der reinen Wissenschaft erzielten Ergebnisse schnell. Diese Zeitschrift wurde (1877 bis 1899) von Gustav Wiedemann, einem Mitglied des Kuratoriums der Reichsanstalt und alten Freund von Helmholtz, herausgegeben, und Helmholtz diente ihm als Gutachter eingereichter Manuskripte.
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
Für die Mitteilung der von der Technischen Abteilung erzielten Ergebnisse wählte Helmholtz eine entsprechend verbreitete Zeitschrift, nämlich die “Zeitschrift für Instrumentenkunde”, das offizielle Organ der “Deutschen Gsellschaft für Mechanik und Optik”, die diese Zeitschrift zusammen mit und finanziell unterstützt durch die Reichsanstalt herausgab. 1885 bis 1911 diente sogar ein Mitglied der Reichsanstalt, Stephan Lindeck, als Herausgeber, gefolgt von Friedrich Göpel, einem weiteren Mitglied. Das dritte Publikationsanliegen von Helmholtz, nämlich ein Sprachrohr für die Veröffentlichung der offiziellen Bekanntmachungen der Reichsanstalt - beispielsweise der gesetzlich festgelegten elektrischen Normen und Einheiten - zu finden, konnte einfach erfüllt werden: diese Rolle übernahm das “Centralblatt für das deutsche Reich”. Zusätzlich veröffentlichte die Reichsanstalt offizielle Bekanntmachungen (insbesondere bezüglich Prüf- und Beglaubigungsnormen) oft auch in speziellen wissenschaftlichen Zeitschriften wie der “Zeitschrift für Instrumentenkunde” oder dem ”Journal für Gasbeleuchtung”. Helmholtz brauchte fast sechs Jahre, bis er das Personal und die erforderlichen Sachmittel zur Verfügung hatte, um seine und Siemens’ ursprünglichen Pläne für die Physikalische Abteilung zu erfüllen. ( Noch weitere vier Jahre benötigte sein Nachfolger Kohlrausch, um den Bau der neuen Gebäude der Technischen Abteilung zu überwachen.) Die Physikalische Abteilung bestand zum Anfang aus drei Laboratorien - für Wärme, für Elektrizität und für Optik. Im Folgenden schildern wir kurz die damaligen Aktivitäten dieser drei Laboratorien. Das Wärmelaboratorium war das grösste Laboratorium der Physikalischen Abteilung. Es wurde von Max Thiesen geleitet und verfolgte drei Ziele: die Entdeckung besserer Werkstoffe für Thermometer, die Durchführung immer genauerer Temperaturbestimmungen bei immer höheren Temperaturen und die Bestimmung des Einflusses von Temperatur, Druck und anderen Parametern auf die Arbeitsweise von Wärmekraftmaschinen. Ein wichtiges Thema war die Erstellung einer zuverlässigen absoluten thermodynamischen Temperaturskala für alle Wärmemessungen. Zu diesem Zweck bearbeitete das Laboratorium eine Reihe besonderer Probleme der Thermometrie und verwandter Gebiete. Dabei wurde die relative Ausdehnung von Wasser und Quecksilber in verschiedenen Glasarten sowie die Verwendung einer neuen, von den Zeiss- und Schott-Werken in Jena entwickelten Glasart für die Herstellung von Thermometern untersucht. Ferner bestimmte man die Ausdehnungskoeffizienten mehrerer fester Materialien wie Glas und Porzellan, die für Wärmemeßeinrichtungen verwendet wurden. Zur Messung von Temperaturen bis zum Schmelzpunkt von Platin wurden pyrometrische Versuche durchgeführt, einerseits um den Einfluss der “Härtungstemperatur” auf die Magnetisierung von Stahl zu erkennen, andererseits um zur Definition der Lichteinheit beizutragen. Diese Arbeiten erforderten eine genaue Bestimmung hoher Temperaturen und wurden auf Wunsch der deutschen Industrie unternommen. Das Elektrizitätslaboratorium wurde von Wilhelm Jäger geleitet. Mit teilweiser Unterstützung von Ludwig Holborn versuchte er, die grundlegenden elektrischen Einheiten (Strom, Widerstand und Spannung) zu bestimmen und die dafür erforderlichen Meßeinrichtungen zu bauen. Man wollte die Vorherrschaft der französischen Meßtechnik auf dem Gebiet der Elektrizität brechen und selbst in diesem Bereich der internationalen Metrologie dominieren. Auf dem Internationalen Elektrizitätskongress 1893 in Chicago verzeichnete das Laboratorium seinen ersten grösseren Erfolg in der Herstellung elektrischer Normale für das Ampere und das Ohm. Weiterhin führte das Elektrizitätslaboratorium Untersuchungen zum Magnetismus von Eisen und Stahl durch. Die
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Abbildung 3.6: Hauptgebäude, Siemens Bau (PTB Archiv).
Arbeiten über die magnetischen Nebenwirkungen und den Induktionsvorgang in verschiedenen Eisen- und Stahlsorten hatten für die deutsche Elektro- und Stahlindustrie entscheidende Bedeutung. Schließlich bat die Kaiserliche Marine die Reichsanstalt um Unterstützung bei der Lösung des Problems der Abweichung der Marinekompasse, die durch die Verwendung grosser Mengen von Eisen beim Bau von Schiffen und Torpedobooten verursacht wurde. Eisensorten frei von Restmagnetismus und geeignete Kompasse waren zu finden. Das Optiklaboratorium wurde von Otto Lummer geleitet, der auch die Leitung des entsprechenden Laboratoriums der Technischen Abteilung hatte. Seine Mitarbeiter waren: Ernst Gumlich (der seine Zeit zwischen dem Wärme- und dem Optiklaboratorium aufteilte), Wilhelm Wien und Ferdinand Kurlbaum. Hauptarbeitsgebiet war die Photometrie. Der “Deutsche Verein für Gas- und Wasserfachmänner” hatte die Reichsanstalt 1888 gebeten, bei der Berechnung des allgemein anerkannten Lichtmaßes mitzuwirken und ein international akzeptables Hauptlichtnormal herzustellen. “Wissenschaftliche Kreise und technische Vereine” in England, Frankreich und USA wie auch in Deutschland suchten damals nach einem Normal für die Messung der Lichthelligkeit, und Helmholtz unterstützte diese Suche mit Begeisterung. Ausserdem interessierte sich die deutsche Marine besonders für die Verbesserung ihrer photometrischen Einrichtungen und die Überwindung von Problemen der Helligkeitsverluste, die bei Schlechtwetterbedingungen auftraten. Die “wichtigste und schwierigste Aufgabe” des Optiklaboratoriums war die Schaffung eines
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
physikalischen oder wissenschaftlichen Lichtnormals, d. h. eines gut definierten reproduzierbaren Normals höchstmöglicher Genauigkeit. Die Leuchtkraft eines solchen Normals sollte als Maß für die Leuchtkraft aller Lichtquellen und damit auch als Grundlage für die Messung der Temperatur aller strahlenden Körper dienen. Nach der Entbindung von seinen Pflichten als Leiter des Optiklaboratoriums der Technischen Abteilung (1894) schloss sich Lummer seinem Freund und Kollegen Ferdinand Kurlbaum an. Sie wollten ein Bolometer entwickeln, das empfindlich genug war, um das physikalische Normal zu liefern. “Das Bolometer sollte in den Dienst der Photometrie treten”. Bald konnten sie erste Erfolge berichten, nämlich die Herstellung eines Hauptlichtnormals, das innerhalb von einem Prozent zuverlässig war. Auf dem Gebiet der Strahlungsforschung sollte die Reichsanstalt zukünftig noch weit grössere Erfolge erzielen. In Kapitel 5 werden wir hierauf ausführlich zurückkommen. Neben photometrischen Untersuchungen führte das Optiklaboratorium polarimetrische Untersuchungen durch. Die deutsche Zuckerindustrie und die deutsche Zollverwaltung legten besonderen Wert auf die Prüfung und Beglaubigung von Polarisationsgeräten zur Messung der sogenannten optischen Aktivität. Der “Deutsche Verein für Rübenzucker-Industrie” hatte die Reichsanstalt ursprünglich um Unterstützung bei der Verbesserung ihrer Polarimeter gebeten. Es bestand die Hoffnung, dass ein Normal-Quarzmaterial entwickelt werden könnte, das den Zuckergehalt und damit auch die Preise zu bestimmen erlaubte. Wie die Photometrie, so benötigte auch die Polarimetrie ein Normal, um Vergleiche durchführen zu können. Das Optiklaboratorium untersuchte deshalb das optische Drehvermögen von Normal-Quarzplatten. Während der Präsidentschaft von Helmholtz bestimmte eine Mischung wissenschaftlicher und industrieller Interessen die Arbeit der Physikalischen Abteilung. Allerdings dienten die Forschungsarbeiten zur Herstellung von Normalen in erster Linie industriellen Zwecken und nur in zweiter Linie der reinen Wissenschaft. Ausserdem baute oder verbesserte die Physikalische Abteilung auf Bitten der Industrie und staatlicher Stellen eine Reihe von Meßgeräten. Sie widmete sich also weniger der Erschließung neuer wissenschaftlicher Gebiete als der Förderung einer auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Technik. Der organisatorische Aufbau der Technischen Abteilung glich dem der Physikalischen Abteilung. Während der Zeit von Helmholtz und auch danach unterstanden dem Direktor der Technischen Abteilung, Leopold Löwenherz (1887 - 1892) und Ernst Hagen (1893 - 1918), vier Laboratorien: Feinmechanik, Wärme und Druck, Elektrizität und Optik. Darüber hinaus leitete er das “Chemische Laboratorium” und die Werkstatt. Diese Einrichtungen sollten die Technische und die Physikalische Abteilung unterstützen. Im allgemeinen entwickelten, verbesserten oder normierten die Mitarbeiter der Abteilung die Geräte und Verfahren, die bei den Routineprüfungen und Beglaubigungen eingesetzt wurden. Arnold Leman leitete das Feinmechaniklaboratorium von dessen Gründung im Jahr 1887 bis zu seinem Tod im Jahr 1914. Für die Physikalische Abteilung wurde beispielsweise die Stärke von Quarzplatten, die man bei der Herstellung von polarimetrischen Normalen verwendete, genau vermessen. Gyrometer zur Bestimmung der Winkelgeschwindigkeit, ein Gegenstand von “grosser Bedeutung” für die deutsche Kraftfahrzeugtechnik, wurden erprobt und geprüft. Nach der Annahme der Normen der Reichsanstalt für ein einheitliches Schraubengewinde durch die Industrie (1892) wurden (für die Rüstungs- und Elektroindustrie und für den Maschinenbau) regelmäßig Gewinde geprüft und beglaubigt. Ferner setzte man die Messungen der Wärmeausdehnung von Metallen, insbesondere von Aluminium, fort und testete die Verwendbarkeit von
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Nickel-Kupfer- und Aluminium-Legierungen für Präzisionsgewichte. Auf Ersuchen des Militärs und des Kultusministeriums schuf man Normen für Stimmgabeln. Die weitaus meisten Prüfungen hatte das von Hermann Wiebe geleitete Wärme- und Drucklaboratorium durchzuführen, nämlich die von Thermometern. Diese Prüfungen waren schon 1889 so umfangreich und routinehaft geworden, dass die Reichsanstalt in Ilmenau, dem Mittelpunkt der deutschen Glas- und Thermometerindustrie, eine Prüfstelle eröffnete. Die Arbeit des Wärmeund Drucklaboratoriums schloss auch Vorarbeiten für technische Pyrometer und Temperaturmessungen an den Temperöfen von drei verschiedenen thüringischen Glasfabriken ein. Eine Reihe anderer Geräte, wie Kalorimeter, Barometer, Manometer, Ölprüfer und Viskosimeter wurden untersucht. Das Elektrizitätslaboratorium unter der Leitung von Karl Feußner arbeitete hauptsächlich für die deutsche Elektroindustrie. Es verbesserte vor allem die Normale und Meßeinrichtungen. Mit Hilfe des Feußnerschen Kompensators oder Potentiometers, das ein wichtiges Werkzeug für die gesamte zukünftige Arbeit auf dem Gebiet der elektrischen Meßtechnik wurde, führte das Laboratorium umfangreiche Präzisionsmessungen der elektrischen Stromstärke und Spannung durch. Eine grosse Zahl von beglaubigten elektrischen Geräten, wie Normalzellen, Kondensatoren, Galvanometern, Spannungsmessern, Akkumulatoren und Batterien wurden geprüft. Zu diesen Leistungen für die Industrie wurden zahlreiche Prüfungen für die Laboratorien der Reichsanstalt und für staatliche Stellen im In- und Ausland vorgenommen. Beispielsweise testete und beglaubigte man die elektrischen Strommeßgeräte für die Kunden der Berliner Elektrizitätswerke. Unter Helmholtz leitete Otto Lummer das Optiklaboratorium der Technischen Abteilung. Das Laboratorium beschäftigte sich mit Problemen der deutschen Beleuchtungsindustrie, die einen stark angestiegenen Bedarf für die Lichterzeugung sowohl innerhalb als auch ausserhalb von Gebäuden erlebte. Arbeiten des Optiklaboratoriums auf dem Gebiet der Photometrie umfassten den Bau eines tragbaren und trotzdem verlässlichen photometrischen Gerätes für die Gasbeleuchtungstechnik (im Auftrag des “Vereins für Gas- und Wasserfachmänner”), die Prüfung von Bogenlampen als Strassenbeleuchtung (für die Berliner Stadtverwaltung), die laufende Untersuchung von elektrischen Gas- und Kerosinlampen, die Arbeiten an einem Schiffspositionslicht, die photometrische Analyse verschiedener Petroleumsorten und der Vergleich von Farblichtquellen. Mitte der 90er Jahre stellte die Reichsanstalt ein blühendes wissenschaftliches Unternehmen dar. Sie beschäftigte insgesamt 65 Personen, darunter mehr als ein Dutzend deutscher Physiker. Ihre Wissenschaftler und Techniker veröffentlichten in wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften zahlreiche Beiträge und sprachen regelmäßig über die von ihnen erreichten Ergebnisse vor der Berliner Physikalischen Gesellschaft, der sie als hochgeachtete Mitglieder angehörten. Die Reichsanstalt war mit Erfolg dem Bedarf der deutschen Industrie bezüglich der Herstellung notwendiger Normale und der Prüfung von Geräten nachgekommen. Als Helmholtz im Jahr 1894 starb, im Anschluss an einen Unfall mit schweren Kopfverletzungen im Jahr zuvor, galt seine Reichsanstalt als ein Triumph deutscher Wissenschaft und Technik.
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3 Der Anfang unter der Präsidentschaft von Hermann von Helmholtz
Chemiegebäude
Werkstatt
Hochstrom-Gebäude
Hauptgebäude
Kältelabor
Observatorium
Wohnsitz des Direktors
Verwaltung
Wohnsitz des Präsidenten
Abbildung 3.7: Luftbild der PTR aus dem Jahr 1937 (PTB Archiv).
4 Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt als Vorbild Schon bald nach der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wurde es offensichtlich, dass es sich hierbei um ein vielbeachtetes Erfolgsmodell handelte. Die Reichsanstalt war wohl weltweit das erste staatliche Forschungszentrum, dessen Mitarbeiter im Gegensatz zu Universitäten und Hochschulen vollständig von Lehrverpflichtungen befreit blieben. Besonders im Ausland beobachtete man mit grossem Interesse die Entwicklungen an der Berliner Reichsanstalt. So lässt sich ihre Rolle als Vorbild beispielsweise bei der Gründung des National Physical Laboratory (NPL) in England und des National Bureau of Standards (NBS) in den USA klar erkennen. In England begann Douglas Galton, der damalige Präsident der British Association for the Advancement of Science, im Jahr 1895 sich für ein nationales physikalisches Laboratorium einzusetzen, um auf diese Weise die physikalische Messtechnik und die Qualität von Präzisionsinstrumenten zu unterstützen. So wollte er verhindern, dass britische Wissenschaftler zum Eichen ihrer Präzisionsinstrumente nach Paris oder Berlin gehen mussten. Bei seinen Überlegungen legte er sogar detaillierte Baupläne und den organisatorischen Aufbau der Berliner Reichsanstalt zugrunde. Zusammen mit einer Gruppe hervorragender britischer Wissenschaftler forderte er eine wissenschaftliche Institution für das Vereinigte Königreich ähnlich wie die Reichsanstalt für Deutschland. 1898 erhielten diese Pläne die Zustimmung des Finanzministeriums, und ein Jahr später konnte das National Physical Laboratory in Teddington seinen Betrieb aufnehmen. Auch in den USA verfolgte man mit grossem Interesse die Entwicklungen bei der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt. Schon 1836 war dort das Office of Standard Weights and Measures gegründet worden, um den Bedarf auf dem Gebiet der Metrologie zu erfüllen. Jedoch zählte das Office auch noch 1897 nur fünf Beschäftigte, sodass keine ausgedehnten Arbeiten über Maße und Eichfragen durchgeführt werden konnten. Daher mussten sich die Amerikaner häufig bei Fragen der Eichung und der Normale an die Berliner Reichsanstalt wenden. Schliesslich wurde der Physiker Samuel W. Stratton engagiert, um die Arbeit des Office kritisch zu beurteilen und einen Plan für seine Erweiterung nach dem Vorbild der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt zu entwickeln. Stratton besuchte dann die Reichsanstalt und Laboratorien in England und Frankreich. Weitere Besuche der Reichsanstalt von amerikanischen Physikern folgten. Auf diese Weise wurde es immer klarer, dass die amerikanische Regierung eine Institution wie die Reichsanstalt einrichten sollte. Nachdem auch wichtige Personen im Kongress und in der Regierung überzeugt werden konnten, verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten im März 1901 ein Gesetz zur Errichtung des National Bureau of Standards. Der erste Präsident des NBS wurde Samuel W. Stratton. Schon bald besuchte er Berlin, um die Reichsanstalt noch einmal zu inspizieren.
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_4, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt als Vorbild
Im Jahr 2007 gab es insgesamt 51 metrologische Staatsinstitute in ebensovielen Ländern. Die führenden Institute sind: Istituto Nazionale di Ricerca Metrologica (INRIM, Italien) Laboratoire National de Métrologie et d’Essais (LNE, Frankreich) National Metrology Institute of Japan (NMIJ) National Institute of Standards and Technology (NIST, USA) National Physical Laboratory (NPL, England) Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB, Deutschland) Ferner gibt es noch assoziierte Einrichtungen in 22 Ländern. Zusammengefasst sind alle Institute und Einrichtungen im Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) mit Sitz in Sèvres bei Paris.
5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie Die aufkommende elektrische Beleuchtung innerhalb und auch ausserhalb von Gebäuden war einer der Hauptgründe für das rasche Wachstum der Elektroindustrie in den Jahren nach 1870. Die Entwicklung von Einrichtungen zur Erzeugung, Übertragung und Nutzung von elektrischer Energie erhielt damals eine herausragende Bedeutung. In einem kurzen Überblick zur Geschichte der Lichterzeugung im 19. Jahrhundert ist zu bemerken, dass in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts neuartige künstliche Lichtquellen in Gebrauch kamen: die Petroleumlampe, die Gasbeleuchtung sowie die elektrische Lichtquelle. Der Durchbruch der elektrischen Lampen erfolgte aber erst nachdem Werner Siemens 1867 das elektrodynamische Prinzip für die Stromerzeugung entdeckt hatte. 1879 konstruierte Thomas Alva Edison die erste Kohlefadenlampe, und 1881 baute er die erste Glühlampenfabrik in Menlo Park. Ein Jahr später gründete Emil Rathenau in Deutschland eine Gesellschaft, welche die Verbreitung der Erfindung von Edison zum Ziel hatte. Aus ihr ging 1887 die Allgemeine Deutsche Elektrizitätsgesellschaft (AEG) hervor. Zu dieser Zeit setzte die Firma Siemens ausschliesslich auf die Herstellung von Bogenlampen, sodass die erste deutsche Fabrik für Glühlampen 1884 von Rathenau’s Gesellschaft in der Schlegelstrasse in Berlin eröffnet wurde. Auch Walther Nernst beteiligte sich damals an der Entwicklung einer Technologie für die elektrische Beleuchtung. Das Ergebnis war die “Nernst Lampe”, die von Nernst 1897 zum Patent angemeldet wurde. Die Nernst Lampe enthielt einen Glühkörper aus einem Oxidgemisch, der mit elektrischem Strom geheizt wurde. Damit der Stromfluss erzielt werden konnte, musste der Glühkörper allerdings durch eine separate Heizvorrichtung aufgeheizt werden. Hierdurch wurde der Betrieb der Nernst Lampe relativ kompliziert, sodass sich dies Prinzip langfristig nicht durchsetzen konnte. Allerdings gelang es Nernst noch frühzeitig, sein Patent an die AEG zu verkaufen. Man schätzt, dass für etwa ein halbes Jahrzehnt mehrere tausend Exemplare der Nernst Lampe pro Tag bei der AEG produziert wurden. Mit der sich rasch ausbreitenden künstlichen Beleuchtung hängt auch die Motivation zur Einrichtung des optischen Labors an der PTR zusammen. In Kapitel 3, das vom Aufbau der Reichsanstalt unter Präsident Hermann von Helmholtz handelt, haben wir bereits die hauptsächlichen Aufgaben des optischen Labors angedeutet: die Verbesserung der Photometrie sowie die Entwicklung eines allgemein anerkannten Lichtmaßes und eines genau reproduzierbaren Lichtnormals. Als Helmholtz 1888 die Präsidentschaft der PTR übernahm, hatte er Otto Lummer die Leitung des optischen Labors übertragen. Lummer hatte 1884 unter Helmholtz promoviert. Bis 1887 blieb er dessen Assistent an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin und wechselte dann mit Helmholtz an die Reichsanstalt. Auch Lummers Mitarbeiter waren frühere Studenten von Helmholtz. Wir nennen hier insbesondere Wilhelm Wien und Ferdinand Kurlbaum, die 1886 bzw. 1887 bei Helmholtz promoviert hatten. Ernst Pringsheim hatte 1882 ebenfalls bei Helmholtz promoviert und arbeitete von 1893 bis 1904 als Gast im optischen Labor an der Reichsanstalt. In
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_5, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
Abbildung 5.1: Labor für Strahlungsmessungen in der PTR um 1900.
der Physik der von heissen Körpern emitierten Strahlung hatte es um 1860 wichtige Fortschritte gegeben. Damals formulierte Gustav Kirchhoff sein Strahlungsgesetz, nach dem für jeden Körper bei jeder Wellenlänge und in jeder Richtung das Emissionsvermögen für thermische Strahlung proportional zu seinem Absorptionsvermögen ist. Kirchhoff war 1854 als Professor für Physik von Breslau (heute Wroclaw) an die Universität in Heidelberg gewechselt. In enger Zusammenarbeit mit Robert Bunsen führte er in Heidelberg spektroskopische Untersuchungen durch. Im Jahr 1862 prägte Kirchhoff den Begriff des “Schwarzen Körpers” als idealisierten hypothetischen Körper, der die auf ihn treffende (elektromagnetische) Strahlung bei jeder Wellenlänge vollständig absorbiert. Ein Schwarzer Körper oder auch Schwarzer Strahler ist eine ideale thermische Strahlenquelle und dient als Grundlage für theoretische Betrachtungen sowie als Referenzquelle für praktische Untersuchungen elektromagnetischer Strahlung. Seine technische Realisierung ist allerdings eine keineswegs triviale Aufgabe. 1879 hatte der österreichische Physiker Josef Stefan experimentell nachgewiesen, dass die gesamte von einem Schwarzen Körper emittierte Leistung W proportional zur vierten Potenz seiner Temperatur ansteigt: W = σ · T 4. Eine theoretische Begründung lieferte Luwig Boltzmann 1884. Das Gesetz wurde bald als StefanBoltzmann’sches Gesetz bekannt, und der Faktor σ als Stefan-Boltzmann Konstante. Im Jahr 1893 hatte Wilhelm Wien sein berühmtes Verschiebungsgesetz für die Abhängigkeit der Strahlungsintensität eines Schwarzen Körpers von der Temperatur formuliert. Nach diesem Gesetz ist das Produkt aus der Temperatur T und der Wellenlänge λm maximaler Emission im
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Abbildung 5.2: Otto Lummer (Deutsches Museum München).
Abbildung 5.3: Willy Wien (Deutsches Museum München).
Abbildung 5.4: Ferdinand Kurlbaum (Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg).
Abbildung 5.5: Ernst Pringsheim.
Spektrum der Strahlung konstant:
λm · T = konst.
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
Wien zeigte, dass die Strahlung im Hohlraum eines Schwarzen Körpers “als Zustand des stabilen Wärmegleichgewichtes” definiert werden kann. Falls die spektrale Energieverteilung eines Schwarzen Körpers für irgendeine Temperatur bekannt ist, können dann auch die Energieverteilungen für alle anderen Temperaturen daraus abgeleitet werden. Wien hatte mit seinem Verschiebungsgesetz einen wichtigen Schritt für das Verständnis der thermischen Strahlung getan. Auf der anderen Seite fehlte aber noch die theoretische Beschreibung der spektralen Energieverteilung eines Schwarzen Strahlers. Dieser Schritt gelang Wien im Jahr 1896 mit seinem Gesetz zur spektralen Energieverteilung: −C2 . E = C1 · λ −5 · exp λT Hierbei sind C1 und C2 Konstanten. Er hatte dieses Gesetz mit Hilfe einer Reihe von Hypothesen und aufgrund der damals verfügbaren experimentellen Daten gefunden. Eine strengere Ableitung dieses Gesetzes erfolgte anschliessend durch Planck. Nach seinem Eintritt in die PTR im April 1891 widmete sich Ferdinand Kurlbaum dem Gebiet der Strahlung, dem er in seinem ganzen weiteren Leben treu bleiben sollte. Zusammen mit Lummer arbeitete er bald an der Entwicklung eines hochempfindlichen Bolometers zum Strahlungsnachweis. Es gelang Kurlbaum, neuartige Flächenbolometer herzustellen, bei denen die elektrische Widerstandsänderung von extrem dünnen Metallbändern aufgrund der Absorption von Strahlung ausgenutzt wird. Durch Auswalzen von Platin Folien zwischen Silberblechen war er in der Lage, Folien mit einer Dicke von nur 1 μ m oder noch darunter zu produzieren. Durch die Geometrie eines mäanderförmigen Streifens erreichte er ein deutlich gesteigertes Signal bei der elektrischen Widerstandsmessung. Durch den Vergleich der elektrischen Widerstandsänderung ΔR aufgrund von Joule’scher Erwärmung mit der durch die Wärmestrahlung bewirkten Änderung ΔR konnte eine Absolutmessung der Strahlungsleistung erzielt werden. Die Schwärzung des Streifens erforderte zahlreiche Versuche, zunächst unter Verwendung des Russes einer Petroleumflamme. Dies führte jedoch nur zu ungleichmässigen Schichten. Erst der Überzug der Platinstreifen mit Platinschwarz hatte das erwünschte Ergebnis. 1898 erschien die berühmte Mitteilung von Kurlbaum zusammen mit Lummer über den elektrisch geglühten, absolut Schwarzen Körper, die lange Zeit als Grundlage für alle Messungen der Licht- und Wärmestrahlung bei hohen Temperaturen diente. Ihre Messungen der Gesamtstrahlung des Schwarzen Körpers lieferten zum ersten Mal zuverlässige Werte für die Stefan-Boltzmann Konstante. Die Fertigstellung des verwendeten Schwarzen Strahlers hatte nicht weniger als 3 Jahre beansprucht. Die hohen Anforderungen ergaben sich neben der möglichst perfekten räumlichen Homogenität der Wandtemperatur des Schwarzen Hohlraums aus der gewünschten Zuverlässigkeit bis zu Temperaturen von 1900 K. Zur gleichen Zeit führte Ferdinand Kurlbaum mit Heinrich Rubens in dessen Laboratorium an der Technischen Hochschule in Charlottenburg Messungen der Strahlungsintensität des Schwarzen Körpers im Bereich langer Wellen bis oberhalb 20 μ m durch, die den letzten Anstoss zur Aufstellung der Planck’schen Strahlungsformel und somit zur Entstehung der Quantentheorie lieferten. Im Herbst 1904 folgte Kurlbaum einem Ruf an die Technische Hochschule in Charlottenburg als Nachfolger von Adolf Paalzow. Otto Lummer ging 1904 als Ordinarius für Experimentalphysik an die Universität Breslau. 1905 folgte ihm dorthin Ernst Pringsheim als Professor für
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Theoretische Physik. Wilhelm Wien hatte die Reichsanstalt schon 1896 verlassen und eine ausserordentliche Professur an der Technischen Hochschule Aachen angenommen. In den folgenden Jahren war er Professor der Physik in Giessen, Würzburg und München.
Abbildung 5.6: Heinrich Rubens.
Max Planck hatte sich gegen Ende der 1890er Jahre intensiv mit der Entropie und der Temperatur der strahlenden Wärme beschäftigt und dabei die neuen experimentellen Beobachtungen zur Verteilung der Strahlungsenergie genau verfolgt. (Annalen der Physik 1, 69 (1900); 1, 719 (1900)). Wir zitieren aus seiner letztgenannten, bei den Annalen der Physik mit Eingangsdatum vom 22. 3. 1900 erschienen Arbeit: “... Obschon nun ein Conflict zwischen Beobachtung und Theorie wohl erst dann als zweifellos constatirt gelten kann, wenn die Zahlen der verschiedenen Beobachter miteinander hinreichend übereinstimmen, so bildete die zwischen den Beobachtern schwebende Frage doch auch für mich eine Anregung, die theoretischen Voraussetzungen, welche zu dem oben erwähnten Ausdruck der Strahlungsentropie führen, und an denen also jedenfalls etwas geändert werden müsste, wenn das W i e n’ sche Energieverteilungsgesetz sich nicht als
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
allgemein gültig erweisen sollte, übersichtlich zusammenzustellen und einer geschärften Kritik zu unterziehen. Das Wesentliche davon möchte ich hier in Kürze mitteilen ... ”. In der denkwürdigen Sitzung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 19. 10. 1900 hatte Kurlbaum zunächst über die Ergebnisse seiner mit Rubens durchgeführten Strahlungsmessungen im Gebiet sehr grosser Wellenlängen berichtet. Es konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass die Wien’sche Gleichung im Gebiet langer Wellen und hoher Temperaturen völlig versagte. Planck hatte von diesen Messergebnissen schon vorher Kenntnis erhalten und darauf hin nach einem theoretischen Ansatz gesucht, der für die beiden Grenzfälle grosser und kleiner Wellenlängen die experimentellen Beobachtungen beschreiben konnte. In der Sitzung vom 19. 10. 1900 konnte er im Anschluss an Kurlbaum’s Bericht sein berühmtes Strahlungsgesetz schon vorschlagen und seine Überprüfung anregen. Die Diskussion im Anschluss an Planck’s Vortrag muss sehr motivierend gewesen sein, denn noch in derselben Nacht wurde seine Bitte um eine Überprüfung der Formel erfüllt. Planck berichtete in seiner Selbstbiographie: “Am Morgen des nächsten Tages suchte mich der Kollege R u b e n s auf und erzählte, dass er nach Schluss der Sitzung noch in der nämlichen Nacht meine Formel mit seinen Messungsdaten genau verglichen und überall eine befriedigende Übereinstimmung gefunden habe.” Planck’s neue Formel für die spektrale Energieverteilung lautete: E=
C1 · λ −5 . exp λCT2 − 1
Hierbei sind C1 und C2 die gleichen Konstanten wie in Wien’s Gesetz der Energieverteilung. Wir sehen, dass im Grenzfall C2 /λ T >> 1 (kleine Wellenlängen) Planck’s Formel in das Gesetz von Wien übergeht. Andererseits ergibt sich im umgekehrten Grenzfall C2 /λ T << 1 (grosse Wellenlängen) die Energieverteilung C1 T E= . C2 λ 4 In diesem Fall steigt die spektrale Energie umgekehrt proportional zur vierten Potenz der Wellenlänge λ an, oder direkt proportional zur vierten Potenz der Frequenz ν . Dieser Grenzfall wird auch als das Rayleigh-Jeans Strahlungsgesetz bezeichnet. Das Gesetz von Stefan-Boltzmann sowie das Verschiebungsgesetz von Wien sind als wichtige Sonderfälle im Planck’schen Strahlungsgesetz enthalten. In den darauf folgenden Wochen hat Planck über die Begründung seines vorgeschlagenen Strahlungsgesetzes viel nachgedacht und in der Sitzung vom 14. 12. 1900 das Ergebnis seiner Überlegungen vorgetragen. Planck war es gelungen, die Konstanten C1 und C2 auf universelle Naturkonstanten zurückzuführen. Dabei machte er eine grosse physikalische Entdeckung: er fand die neue universelle Naturkonstante h, das Wirkungsquantum. Er konnte folgende Identifikationen herleiten: C1 = 2hc2 C2 = (hc)/kB . Hier bezeichnet h das Planck’sche Wirkungsquantum, c die Lichtgeschwindigkeit und kB die Boltzmann Konstante. Planck hatte als erster erkannt, dass es notwendig ist, die Energie der elektromagnetischen Strahlung “nicht als eine stetige, unbeschränkt teilbare, sondern als eine
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Abbildung 5.7: Protokoll der Versammlung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 14. Dezember 1900 (Physikalische Blätter 4, 156 (1948)).
discrete, aus einer ganzen Zahl von endlichen gleichen Teilchen zusammengesetzte Grösse aufzufassen” und “dass das Energieelement ε proportional der Schwingungszahl ν sein muss, also ε = hν .” (Zitat aus M. Planck, Annalen der Physik 4, 553(1901)). Hiermit hatte Planck die Quantisierung der Energie gefordert. Wir zitieren Planck vom Anfang der Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zu der Sitzung vom 14. 12. 1900 (Verhandl. der Deutschen Physikal. Gesellsch. 2, 237 (1900)): “M. H.! Als ich vor mehreren Wochen die Ehre hatte, Ihre Aufmerksamkeit auf eine neue Formel zu lenken, welche mir geeignet schien, das Gesetz der Verteilung der strahlenden Energie auf alle Gebiete des Normalspectrums auszudrücken, gründete sich meine Ansicht von der Brauchbarkeit der Formel, wie ich schon damals ausführte, nicht allein auf die anscheinend gute Uebereinstimmung der wenigen Zahlen, die ich Ihnen damals mitteilen konnte, mit den bisherigen Messungsresultaten, sondern hauptsächlich auf den einfachen Bau der Formel und insbesondere darauf, dass dieselbe für die Abhängigkeit der Entropie eines bestrahlten monochromatisch schwingenden Resonators von seiner Schwingungsenergie einen sehr einfachen logarithmischen Ausdruck ergibt, welcher die Möglichkeit einer allgemeinen Deutung jedenfalls eher zu versprechen schien, als jede andere bisher in Vorschlag gebrachte Formel, abgesehen von der WIEN’schen, die aber durch die Thatsachen nicht bestätigt wird.” In diesem Vortrag zeigte Planck wie man mit Hilfe “einer einzigen Naturkonstanten die Vertei-
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
Abbildung 5.8: Verteilung der Energie im Spektrum des Schwarzen Körpers (O. Lummer und E. Pringsheim, Annalen der Physik IV, Bd. 6, 192 (1901)).
lung einer gegebenen Energiemenge auf die einzelnen Farben des Normalspectrums, und dann mittels einer zweiten Naturkonstanten auch die Temperatur dieser Energiestrahlung zahlenmässig berechnen kann.” Die erste Naturkonstante wird heute als das Planck’sche Wirkungsquantum h bezeichnet. Die zweite Naturkonstante ist die Boltzmann Konstante kB . Kurz darauf hat Planck diese Gedanken zusätzlich in seiner Arbeit “Ueber das Gesetz der Energieverteilung im Normalspektrum” mit Eingangsdatum vom 7. 1. 1901, Annalen der Physik 4, 553 (1901), fixiert. Wir zitieren noch einmal aus dem Anfang dieser Arbeit: “Die neueren Spectralmessungen von O. L u m m e r und E. P r i n g s h e i m und noch auffälliger diejenigen von H. R u b e n s und F. K u r l b a u m, welche zugleich ein früher von H. B e c k m a n n erhaltenes Resultat bestätigen, haben gezeigt, dass das zuerst von W. W i e n aus molecularkinetischen Betrachtungen und später von mir aus der Theorie
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der elektromagnetischen Strahlung abgeleitete Gesetz der Energieverteilung im Normalspectrum keine allgemeine Gültigkeit besitzt. Die Theorie bedarf also in jedem Falle einer Verbesserung, und ich will im Folgenden den Versuch machen, eine solche auf der Grundlage der von mir entwickelten Theorie der elektromagnetischen Strahlung durchzuführen.” In dieser Arbeit gibt Planck auch seine berechneten Zahlenwerte für die genannten Naturkonstanten an: h = 6.55 · 10−27 erg · sec und kB = 1.346 · 10−16 erg/deg. Diese Werte unterscheiden sich nur um 1 - 2 % von den heute akzeptierten Werten. In Abb. 5.9 verdeutlichen wir noch einmal das Rayleigh-Jeans Gesetz bzw. das Wien’sche Gesetz als Grenzfälle des Planck’schen Strahlungsgesetzes für grosse bzw. für kleine Wellenlängen.
Abbildung 5.9: Die Strahlungsgestze für den Schwarzen Körper nach Planck, Wien, sowie Rayleigh und Jeans.
Wie so oft verlief auch diese höchst entscheidende Entwicklung nicht ohne Kontroversen bzw. ohne Streit um Prioritäten. Es war insbesondere Friedrich Paschen, seinerzeit an der Technischen Hochschule in Hannover tätig, der detaillierte bolometrische Experimente zum Energiespektrum der Strahlung des Schwarzen Körpers durchgeführt hat. Hierbei drehte es sich vor allem um die Frage, ob im Bereich grösserer Wellenlängen und höherer Temperaturen Abweichungen von dem Wien’schen Gesetz auftraten. An derartige Abweichungen hatte Paschen zunächst nicht geglaubt und deshalb die Aussagen und die Messergebnisse der Mitarbeiter der Reichsanstalt deutlich kritisiert. Wir zitieren einige Passagen aus dieser Auseinandersetzung. In den Sitzungsberichten der königlichen preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von 1899 finden wir einen Beitrag “Über die Vertheilung der Energie im Spectrum des schwarzen Körpers bei höheren Temperaturen” von Paschen, in dem er am Ende (S. 959) bemerkt: “Es folgt also aus den Versuchen bei höheren Temperaturen ein etwas grösserer Werth als bei niederen. Bedenkt man aber die grossen Schwierigkeiten der Versuche bei hohen Temperaturen, vor Allem die nicht sehr vollkommene Anordnung der Strahlung und ferner auch die nach den Versuchen von Holborn und Wien und Anderen doch ziemlich erheblichen Ungenauigkeiten, welche bei der Bestimmung
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
einer höheren Temperatur möglich scheinen, so wird man geneigt sein, den bei höheren Temperaturen gefundenen Werthen ... kein allzu grosses Gewicht zu geben. ... wird man meiner Meinung nach auch den bei niederen Temperaturen mit verhältnismässig vollkommenen Anordnungen gefundenen Werth ... als den sichereren anzusehen haben.” Dem entgegneten Otto Lummer und Ernst Pringsheim in einem Artikel “Kritisches zur schwarzen Strahlung” in den Annalen der Physik 6, 192 (1901) mit Eingangsdatum vom 2. 7. 1901: “Schon in unseren ersten spectrobolometrischen Arbeiten haben wir systematische Abweichungen zwischen den für die schwarze Strahlung beobachteten Energiecurven und der W i e n ’schen Spectralgleichung gefunden, ohne jedoch die Frage zu entscheiden, ob die Gleichung auf Grund dieser Abweichungen zu verwerfen sei. Erst in der Arbeit über die Strahlung des schwarzen Körpers für lange Wellen konnten wir mit Sicherheit aussagen, dass die W i e n ’sche Spectralgleichung kein allgemein gültiges Naturgesetz darstellt. Dieses experimentelle Resultat stand im Widerspruch mit den Versuchen von F. P a s c h e n und den Theorien von W. W i e n und M. P l a n c k, welche auf ganz verschiedenem Wege die W i e n ’sche Spectralgleichung hergeleitet hatten.” Zur Prioritätsfrage äusserten sich beide anschliessend: “Wir wenden uns zunächst kurz gegen die Einleitung P a s c h e n ’s; in ihr wird der Eindruck erweckt, als ob unsere Versuche am schwarzen Körper erst eingegriffen hätten, nachdem P a s c h e n das gleiche Gebiet seit langem bearbeitet und im wesentlichen erschöpft hatte. So wird der Beginn der P a s c h e n schen Versuche über die Schwarze Strahlung bis in das Jahr 1892 zurückdatirt, die Besprechung unserer Arbeiten dagegen eingeleitet durch die Worte: ’In letzter Zeit haben die Herren L u m m e r und P r i n g s h e i m denselben Gegenstand bearbeitet’.” Zu den beobachteten Abweichungen vom Wien’schen Gesetz erläuterten Lummer und Pringsheim in derselben Arbeit: “Was die Abweichungen auf dem absteigenden Ast anbetrifft, wo λ T den Wert 3000 überschreitet (hier ist die Wellenlänge λ in μ m und die absolute Temperatur T in Kelvin zu nehmen), so hätten wir vielleicht auch ihnen anfangs keine Bedeutung beigemessen und sie ohne weiteres als Versuchsfehler angesprochen, wenn es uns nicht gelungen wäre, sie als systematisch zu erkennen. Nach der W i e n ’schen Gleichung müssen die Isochromaten in der Form log E = f (1/T ) vollkommene Gerade sein und aus jeder von ihnen muss sich für die “Constanten” C und c der gleiche Wert ergeben. In dem untersuchten Gebiet waren diese Isochromaten thatsächlich nahe gerade Linien, während die aus ihnen berechneten Werte von C und c einen deutlichen Gang zeigten. Dieses systematische Wandern von C und c veranlasste uns, den Abweichungen näher nachzugehen, die Versuche mit dem Flussspatprisma unter verbesserten Bedingungen zu wiederholen und mit Hülfe eines Sylvinprismas die Untersuchungen auf das Wellenlängengebiet von 12 − 18 μ auszudehnen. Beide Untersuchungen bestätigten die Richtigkeit der von uns hervorgehobenen Abweichungen. Diese wachsen ganz systematisch mit steigender Temperatur und Wellenlänge an und erreichen Werte von 50 Proc. und darüber.” (Die hier genannten Konstanten C und c entsprechen den oben angegebenen Konstanten C1 und C2 ). Am Schluss dieser Arbeit stellten Lummer und Pringsheim zusammenfassend fest: “Wir glauben hierdurch genügend dargethan zu haben, dass die neueste Arbeit P a s c h e n ’s nicht als Stütze für die Gültigkeit der P l a n c k ’schen Gleichung gelten kann."
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Die Kontroverse ging aber noch weiter. In einem Beitrag zu den Annalen der Physik 6, 646 (1901) mit dem Eingangsdatum vom 27. 9. 1901 entgegnete Paschen noch einmal: “Die von den Herren L u m m e r und P r i n g s h e i m neulich angezeigte Beleuchtung meinerArbeiten ist nun erschienen. Allein ich kann mit ihren Auseinandersetzungen in keiner Weise einverstanden sein. Es mögen im Folgenden nur einige Punkte besprochen werden, welche mir entweder besonders unrichtig von den Verfassern dargestellt oder welche mir wichtiger erscheinen; doch bemerke ich im übrigen, dass ich fast jedem Satze ihrer langen Ausführungen widersprechen müsste.” Am Ende setzten sich jedoch die Messungen aus der Reichsanstalt durch. Nur etwas mehr als 10 Jahre waren nach der Gründung der Reichsanstalt vergangen, als mit dem entscheidenden experimentellen Hinweis ihrer Mitarbeiter für die Quantentheorie schon der vielleicht grösste Erfolg dieser Einrichtung insgesamt gelungen war. Nachdem Planck in seinem Strahlungsgesetz von 1900 die Quantisierung der Energie von Licht- und Wärmestrahlen gefordert hatte, wurde im Jahr 1905 von Albert Einstein die Energiequanten-Hypothese von Planck zum ersten Mal konsequent auf die Ausbreitung von elektromagnetischen Strahlen angewendet und das Konzept der Lichtquanten oder Photonen geschaffen. Mit diesem Konzept konnte Einstein überzeugend den sogenannten photoelektrischen Effekt erklären. Einsteins Lichtquanten-Hypothese ist später durch eine grosse Anzahl von weiteren Experimenten bewiesen worden. Nur ein Jahr später hat Einstein 1906 die zunächst für die elektromagnetischen Wellen eingeführte Quantisierung der Energie auch auf die Schwingungen im Kristallgitter übertragen. Als erster hat er so die Quantentheorie der Festkörper eingeleitet. Er schlug vor, dass jeder Gitterbaustein mit ein und derselben Frequenz, der Einsteinfrequenz νE , schwingt, und dass die Schwingungsenergie wiederum in der Form von quantisierten Einheiten ε = hνE vorliegt. Hier ist h wieder das Planck’sche Wirkungsquantum. Die Quanten der Schwingungsenergie im Kristall werden als Phononen bezeichnet. Das Einstein Modell konnte zum ersten Mal die Abnahme der spezifischen Wärme von Kristallen bei tiefen Temperaturen qualitativ erklären. Diese Abnahme bei tiefen Temperaturen ist eine deutliche Abweichung von dem klassischen Gesetz von Dulong und Petit, nach dem die spezifische Wärme einen von der Temperatur unabhängigen, konstanten Wert haben sollte. Die Messung des Energieinhalts und genauer die der spezifischen Wärme der festen Stoffe war damals auch von Walther Nernst als wichtiges Forschungsgebiet erkannt worden. Zu diesem Zweck konstruierte er im Jahr 1910 einen Verflüssiger für Wasserstoff, mit dem dann tiefe Temperaturen bis herunter auf 21 K unter Normaldruck und noch darunter durch Abpumpen erreicht werden konnten. In den Jahren 1910 - 1915 wurden im Berliner von Walther Nernst geleiteten Institut für Physikalische Chemie mit zahlreichen Mitarbeitern viele Arbeiten über den Wärmeinhalt von Festkörpern bei tiefen Temperaturen durchgeführt. Als Schüler von Nernst spielte hier vor allem Arnold Eucken eine wichtige Rolle. Bei dieser Ausweitung seiner Experimente auf tiefe Temperaturen war Nernst stets an raschen Ergebnissen interessiert und hat bei der Apparateentwicklung nur soviel Aufwand getrieben wie unbedingt notwendig. Auf der anderen Seite hat er die grosse Bedeutung der neuen Quantentheorie klar erkannt. So kam es auch dazu, dass Nernst die berühmte Erste Solvay Konferenz vom 30. Oktober bis 3. November 1911 in Brüssel organisierte, auf der die wichtigsten damaligen Vertreter der Physik die neuen Quantenkonzepte und ihre Folgerungen diskutierten. Zur Finanzierung dieser Konferenz war es Nernst gelungen, die Unterstützung durch den belgischen Wissenschaftler und Geschäftsmann Ernest Solvay zu
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5 Optisches Labor und die Geburt der Quantentheorie
gewinnen. Während das Einstein Modell schon eine qualitative Überseinstimmung mit der gemessenen Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme zeigte, waren beim quantitativen Vergleich noch deutliche Abweichungen zwischen Theorie und Experiment zu erkennen. Im Jahr 1911 schlug daher Nernst zusammen mit seinem Schüler Frederick Alexander Lindemann eine empirische Formel für die Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme vor, die eine bessere Übereinstimmung mit den experimentellen Daten erzielte als das Modell von Einstein. Die endgültige Antwort lieferte dann im Jahr 1912 der Holländer Pieter Debye. Im Gegensatz zu dem Modell von Einstein mit nur der einen Schwingungsfrequenz νE der Gitterbausteine, berücksichtigt das Debye Modell das gesamte Spektrum der Phononen im ganzen Frequenzbereich zwischen Null und einer charakteristischen Maximalfrequenz. Auf diese Weise konnte Debye zum ersten Mal die Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme der Gitterschwingungen in Kristallen bei tiefen Temperaturen quantitativ erklären. Dabei hat er auch das berühmte T 3 Gesetz in exzellenter Übereinstimmung mit dem Experiment gefunden.
6 Kältelabor und die Entdeckung des Meissner Effekts Schon seit den ersten Jahren nach ihrer Gründung waren die Materialeigenschaften bei hohen und bei tiefen Temperaturen ein wichtiges Thema für die Reichsanstalt. Damals wurden die Dampfmaschinen mehr und mehr durch Verbrennungsmotoren ersetzt. Die quantitative Erforschung des Verhaltens von Gasen bis zu hohen Temperaturen und Drucken bekam daher eine grosse Bedeutung. In diesem Zusammenhang bestand ein aktuelles Interesse an Messdaten zur spezifischen Wärme von Gasen, inbesondere für die Vorgänge beim Verbrennungsprozess. In Sitzungen des Kuratoriums der Reichsanstalt in den Jahren 1902 und 1903 wurde hierüber ausführlich diskutiert. Es war insbesondere Carl von Linde, Mitglied des Kuratoriums von 1895 bis 1921, der damals die grosse technisch-wissenschaftliche Relevanz dieser Fragen hervorhob. Unterstützt wurde er hierbei von Wilhelm Conrad Röntgen, ebenfalls Kuratoriumsmitglied von 1897 bis 1920. Carl von Linde war es auch, der systematische Forschungen bei niedrigen Temperaturen und die Einrichtung eines Kältelabors an der PTR anregte. Er hatte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich Maschinenbau studiert. Rudolf Clausius war hier einer seiner Lehrer. Nach einem bei BORSIG in Berlin abgeleisteten Volontärjahr trat er 1865 in die Lokomotivfabrik KRAUSS in München ein. Bereits als junger Ingenieur beschäftigte er sich mit Problemen der technischen Thermodynamik. Schon 1868 wurde er zum Ausserordentlichen Professor an der Ingenieurschule in München ernannt. Bald danach wurde er Ordinarius für Mechanische Technologie an der Technischen Hochschule in München, und konnte dann 1872 die Einrichtung eines eigenen Maschinenlaboratoriums für Lehre und Forschung durchsetzen. Linde wandte sich bald den Verfahren zur Kälteerzeugung zu. Dies belegen auch seine 1870 erschienen Arbeiten über “Mechanische Verfahren, Wärme bei niedriger Temperatur abzuführen” und “Verbesserte Eis- und Kühlmaschinen”. Schon 1874 baute er den ersten Ammoniak-Kolbenverdichter für eine Kälteanlage. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Hochschullehrer bat er den Rektor der Technischen Hochschule in München, ihn von seinen Lehrverpflichtungen zu entbinden. Er übernahm dann die Geschäftsleitung der 1879 in Wiesbaden gegründeten Gesellschaft für Lindes Eismaschinen. Das Geschäft war schnell erfolgreich. Abnehmer der Kältemaschinen waren Brauereien, Schlachthöfe und Kühlhäuser in ganz Europa. Lindes überragendes Verdienst für die Kältetechnik stellt das von ihm erfundene Verfahren zur Verflüssigung tiefsiedender Gase dar, mit dem er 1895 als erster flüssige Luft herstellen konnte. Die Erfindung beruht auf der Kombination des Joule-Thomson Effekts, der bei einer isenthalpischen Entspannung von Gasen eine geringe Temperaturabsenkung bewirkt, mit dem schon 1857 von Werner Siemens vorgeschlagenen Gegenstrom-Wärmetauscher. Bei diesem Linde Verfahren wird die hochkomprimierte Luft im Wärmetauscher beim Durchströmen durch das zurückfliessende Gas zusätzlich abgekühlt, bis seine Kondensationstemperatur erreicht ist. Dieses Verfahren
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_6, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Kältelabor und die Entdeckung des Meissner Effekts
bildet auch das Grundprinzip bei der Verflüssigung von Neon, Wasserstoff und Helium in dem Bestreben, noch tiefere Temperaturen zu erzielen. Das wissenschaftliche Interesse, an der PTR ein Tieftemperaturlaboratorium einzurichten, wurde durch den damaligen Präsidenten Emil Warburg entscheidend gefördert. Er übte das Amt des Präsidenten in der Zeit 1905 - 1922 aus. Die Materialeigenschaften bei tiefen Temperaturen waren nach dem Aufkommen der Quantentheorie und des Wärmesatzes von Nernst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Im Zusammenhang mit dem Kältelabor an der PTR spielte Walther Meissner die führende Rolle.
Abbildung 6.1: Walther Meissner.
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Meissner hatte in der Zeit 1901 - 1904 an der Technischen Hochschule Charlottenburg Maschinenbau studiert und hatte von 1904 bis 1906 noch ein Studium der Physik und Mathematik angeschlossen. Im Jahr 1907 promovierte er bei Max Planck mit einer Arbeit “Zur Theorie des Strahlungsdruckes”. 1908 trat Meissner in das Laboratorium für Pyrometrie der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt ein. Seine Tätigkeit erstreckte sich auf Fragen der Thermometrie, sowie der Druck-, Zähigkeits- und Flammpunktsmessung. 1913 wechselte Meissner in das elektrische Forschungslaboratorium der Reichsanstalt mit dem speziellen Auftrag von Präsident Warburg, eine Wasserstoffverflüssigungsanlage einzurichten. Hierbei konnte er sicherlich schon von seiner Ausbildung zum Ingenieur für Maschinenbau profitieren. Zu Beginn des Jahres 1913 wurde ein verbesserter, auf der Konstruktion von Walther Nernst basierender Verflüssiger in Betrieb genommen. Damit wurden Messungen bis herunter auf 14 K möglich, wobei dieser tiefste Wert durch Abpumpen des Wasserstoffs unter Normaldruck erreicht werden konnte. Die Forschungsarbeiten von Meissner befassten sich in dieser Zeit mit elektrischen Widerstandsmessungen bei tiefen Temperaturen. Durch den 1. Weltkrieg wurden diese Entwicklungen unterbrochen. Anschliessend, in den Jahren 1918 - 1922 beschäftigte sich Meissner besonders mit der Vergrösserung der Wasserstoffverflüssigungsanlage. In dieser Zeit wurde es aber immer deutlicher, dass der experimentell zugängliche Temperaturbereich noch weiter nach unten ausgedehnt werden sollte: nämlich durch einen Verflüssiger für das Edelgas Helium. Dem Holländer Heike Kamerlingh Onnes war es 1908 in Leiden zum ersten Mal gelungen, Helium als das letzte und das bei der niedrigsten Temperatur siedende Edelgas zu verflüssigen. Flüssiges Helium siedet unter Normaldruck bei 4,2 K, und unter reduziertem Druck kann der Siedepunkt bis deutlich unter 2 K noch weiter abgesenkt werden. Somit konnten damals Experimente bei wesentlich tieferen Temperaturen durchgeführt werden als es vorher möglich gewesen war. Schon im Jahr 1911 machte Kamerlingh Onnes die völlig überraschende Entdeckung der Supraleitung. Er wollte herausfinden, wie sich der elektrische Widerstand von Metallen in dem damals zum ersten Mal zugänglichen tieferen Temperaturbereich ändert. Beim Abkühlen einer in eine dünne Glaskapillare gefüllten Quecksilberprobe fand der mit dieser Aufgabe von Kamerlingh Onnes betraute Student Gilles Holst, dass der elektrische Widerstand von Quecksilber bei 4,2 K unmessbar klein wird. Nachdem anfänglich noch Probleme mit der elektrischen Schaltung vermutet worden waren, konnte das praktische Verschwinden des elektrischen Widerstands von Quecksilber bei 4,2 K aber sicher bestätigt werden. Damit war die neue Erscheinung der Supraleitung von Kamerlingh Onnes und Gilles Holst entdeckt. Das Phänomen der Supraleitung wurde dann anschliessend noch in zahlreichen Metallen, Legierungen und metallischen Verbindungen gefunden. Die Temperatur, unterhalb der der elektrische Widerstand verschwindet, wird als die kritische Temperatur Tc bezeichnet. Schon bald hatte Kamerlingh Onnes aber auch herausgefunden, dass für das Auftreten der Supraleitung nicht nur die Temperatur unter ihren kritischen Wert Tc abgesenkt werden muss, sondern dass auch ein äusseres Magnetfeld einen bestimmten Wert nicht überschreiten darf. Die Stärke des Magnetfelds, bei der die Supraleitung verschwindet, wird als das kritische Magnetfeld HC (T ) bezeichnet. Unterhalb der kritischen Temperatur Tc wächst HC mit abnehmender Temperatur von Null bei T = Tc monoton an und erreicht seinen Höchstwert bei T = 0. Es war genau dieses Gebiet der Supraleitung, auf dem Walther Meissner etwas später seinen grössten wissenschaftlichen Erfolg erzielen sollte.
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6 Kältelabor und die Entdeckung des Meissner Effekts
Schon im Jahr 1920 hatte sich Meissner ernsthaft mit der Möglichkeit für die Einrichtung einer Anlage zur Verflüssigung von Helium auseinandergesetzt. Seine Pläne und Entwürfe konnten dann in der Zeit 1922 - 1925 realisiert werden. Am 7. März 1925 wurde in der Reichsanstalt zum ersten Mal Helium verflüssigt. Dabei wurden etwa 200 cm3 flüssiges Helium erhalten. Weltweit war die Reichsanstalt der dritte Platz, an dem mit flüssigem Helium experimentiert werden konnte, nach Leiden als erstem und ab 1923 Toronto in Kanada als zweitem Platz.
Abbildung 6.2: Wasserstoff-Kompressor im Kältelabor (PTB Archiv).
Die gesamte Heliumverflüssigungsanlage bestand aus drei hintereinander geschalteten Verflüssigern. Die erste Stufe erzeugte dabei flüssigen Stickstoff, mit dem der Wasserstoff für die zweite Stufe vorgekühlt wurde. Mit dem in der zweiten Stufe hergestellten flüssigen Wasserstoff wurde das Heliumgas im Gegenströmer der dritten Stufe zur Heliumverflüssigung vorgekühlt. Von einer solchen Kaskadenanordnung aus drei hintereinander geschalteten Verflüssigern ist man aber schon wenig später abgerückt, indem die Heliumverflüssigung in nur einer einzigen Stufe erfolgte. (Zur Erzielung einer höheren Verflüssigungsrate ist auch noch heute die Vorkühlung mit flüssigem Stickstoff als Option vorgesehen). Wichtige Teile der Verflüssiger hat Meissner in enger Kooperation mit der Firma Linde konzipiert. Linde hat auch einen grossen Teil der gesamten Anlage geliefert und dabei nur einen Bruchteil der normalen Kosten berechnet. Trotzdem überstiegen die Kosten die Finanzmittel der Reichsanstalt. Die Finanzierung konnte Meissner aber durch die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft erreichen. In seinen ersten veröffentlichten Mitteilungen zum Betrieb der neuen Anlage erwähnt Meissner Einzelheiten. Zur Aufnahme von Proben für Experimente im Temperaturbereich des flüssigen
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Abbildung 6.3: Der Helium-Verflüssiger (PTB Archiv).
Heliums befand sich direkt im Verflüssiger ein Gefäss mit 400 cm3 Inhalt für flüssiges Helium. Insgesamt standen 700 Liter Heliumgas zur Verfügung, dem bei vollständiger Verflüssigung etwa 1 Liter flüssiges Helium entspricht. Vorläufig wurde nicht daran gedacht, das flüssige Helium aus dem Verflüssiger in andere Gefässe abzufüllen. Die Beschaffung von einer ausreichenden Menge an Heliumgas bereitete allerdings grosse Schwierigkeiten. Wir zitieren Meissner (Die Naturwissenschaften 13, 695 (1925)): “In der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wurde die Einrichtung einer Heliumverflüssigungsanlage von mir im Jahre 1920 nach verschiedenen Vorarbeiten
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6 Kältelabor und die Entdeckung des Meissner Effekts
angeregt. Allerdings kam die Nachahmung der Leidener Anlage nicht in Frage, da hierzu Mittel und Hilfskräfte nötig gewesen wären, wie sie in der Reichsanstalt nicht annähernd zur Verfügung stehen. Vielmehr musste eine möglichst einfach zu handhabende Apparatur geschaffen werden. Erschwerend war ferner, dass nicht, wie in Kanada, reines Helium zur Verfügung stand ... . Trotz vielfacher Bemühungen gelang es nicht, Helium aus den gewaltigen Vorräten der Vereinigten Staaten zu beschaffen. Die Ausbeute der bisher untersuchten heliumhaltigen deutschen Gasquellen ist nicht lohnend. Es kam daher trotz des ausserordentlich geringen Heliumgehaltes der Luft [weniger als 0,0005 Volumen-Prozent] nur die Gewinnung aus der Luft in Betracht. Sie wurde ermöglicht durch das Vorhandensein der grossen Sauerstoffwerke der Gesellschaft Linde, in denen Neon-Helium-Gemisch als Nebenprodukt abgeschieden wird. Dieses musste allerdings von mir erst mühselig mit Hilfe von flüssigem Wasserstoff getrent werden. ... Auf diese Weise sind von April 1924 bis Januar 1925 etwa 3 cbm Neon-Helium-Gemisch getrennt und etwa 700 l Helium gewonnen worden. Das reine Neon wurde zum größten Teil an die Linde A.-G. zurückgegeben.” Das Kältelaboratorium war zunächst in behelfsmässigen Räumen untergebracht. In den Jahren 1925 - 1927 wurde jedoch ein Neubau auf dem Gelände der Reichsanstalt hinter dem Hauptgebäude nach den Plänen von Meissner errichtet und 1927 in Betrieb genommen. Der Neubau bestand aus einem Werkstattgebäude, einem grossen Maschinenraum mit den Verflüssigern für Stickstoff und Wasserstoff, einem kleinen Maschinenraum für den Heliumverflüssiger und einem zweistöckigen, unterkellerten Gebäude mit Büros, Laboratorien und vier Räumen für die Unterbringung von Gastwissenschaftlern, die Tieftemperaturexperimente durchführen konnten. Vom Kellergeschoss führte ein begehbarer Schacht zum Hauptgebäude. Da das Deutsche Reich und die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft die wesentlichen Mittel für den Bau des Kältelaboratoriums und für seine Einrichtungen zur Verfügung gestellt hatten, bestand die Auflage, dass das Labor als eine Art nationales Kältelabor auch Gastwissenschaftler aufnehmen sollte, die dort eigene Forschungen betreiben konnten.
Abbildung 6.4: Plan des Kältelabors (PTB Archiv).
Die Experimente Meissner’s in dem zugänglich gewordenen Bereich noch tieferer Tempera-
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turen erstreckten sich zunächst auf elektrische Widerstandsmessungen an zahlreichen Metallen (Gold, Zink, Cadmium, Platin, Nickel, Eisen und Silber). Der Restwiderstand wurde bis herunter zu 1,3 K gemessen. Natürlich spielte auch die Suche nach neuen Supraleitern eine wichtige Rolle. Bis dahin waren fünf supraleitende Elemente bekannt: Blei, Quecksilber, Zinn, Thallium und Indium. Nachdem Meissner mit seinen Mitarbeitern bereits eine Vielzahl von Elementen auf Supraleitfähigkeit untersucht hatte, gelang ihm 1928 die Entdeckung eines weiteren supraleitenden Elements: Tantal mit einer kritischen Temperatur von 4,4 K. Tantal war der sechste Supraleiter und zugleich der erste aus der V. Gruppe des periodischen Systems. Während der darauf folgenden beiden Jahre entdeckte Meissner Supraleitung noch in Thorium, Titan und Niob. Unter den reinen Metallen ist Niob dasjenige mit der höchsten kritischen Temperatur von 9,2 K. Ferner fand Meissner Hinweise auf die Supraleitfähigkeit von Vanadium. Darüber hinaus beobachtete er Supraleitung in einer Reihe von Verbindungen und Legierungen. Als erste supraleitende Verbindung hatte er Kupfersulfid entdeckt. In seinen Untersuchungen zur Existenz neuer Supraleiter war Meissner stets bemüht, Aufschlüsse über die Grundlagen der Supraleitung zu bekommen. Hier versprach er sich vor allem neue Erkenntnisse von Experimenten, die sich auf die elektrischen Ströme in Supraleitern konzentrierten. Eine wichtige Frage war: Ist die Supraleitung ein Volumeneffekt, oder fliessen die Ströme nur an der Oberfläche oder in dünnen Stromfilamenten? Zu solchen Fragen gab es damals noch keine Antworten. Wir zitieren Meissner (Physikalische Zeitschrift 29, 897 (1928)): “... Es war m. E. noch nicht einmal sicher, ob die Supraleitfähigkeit ein Volumeneffekt oder ein Oberflächeneffekt ist; es schien nicht ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich, dass der supraleitende Strom von Elektronen in der Grenzschicht Metall-Isolator geführt wird”. Die letztgenannte Möglichkeit wurde von Meissner durch eine Versuchsreihe ausgeschlossen. An der gleichen Stelle heisst es dann: “... Ein weiterer Versuch bezog sich darauf, ob der supraleitende Strom durch quantenmässig bedingte Ketten von Elektronen zustande kommt, die von einem Atom zum anderen in den Quantenbahnen der äussersten Elektronenschale übergehen ... ”. Beispielsweise hatte Albert Einstein die Idee, dass die Supraleitung durch molekulare Leitungsketten zustande kommt. In seiner Gedenkrede auf Kamerlingh Onnes im Jahr 1923 diskutierte Einstein den supraleitenden Zustand folgendermassen (Het Naturkundig Laboratorium der Rijksuniversiteit te Leiden in de Jahren 1904 - 1922, Leiden 1922, S. 429: Theoretische Bemerkungen zur Supraleitung der Metalle): “ ... Es scheint also unvermeidlich, dass die Supraleitungsströme von geschlossenen Molekülketten (Leitungsketten) getragen werden, deren Elektronen unablässig cyclische Vertauschungen erleiden. Kamerlingh Onnes vergleicht daher die geschlossenen Ströme in Supraleitern mit den Ampère’schen Molekularströmen. ... Es mag als unwahrscheinlich anzusehen sein, dass verschiedenartige Atome Leitungsketten miteinander bilden können. Vielleicht ist also der Übergang von einem supraleitenden Metall zu einem anderen niemals supraleitend.” Diese Bemerkung von Einstein hebt den Kontakt zwischen zwei räumlich zunächst getrennten Supraleitern besonders hervor und führt uns auch zur Sitzung des Kuratoriums der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt vom März 1926. Im Protokoll zu dieser Sitzung findet sich eine Notiz über eine weitere Bemerkung Einsteins zum Kontaktverhalten zwischen zwei Supraleitern: “Herr Einstein: Von besonderem Interesse ist die Frage, ob die Berührungsstelle zwischen zwei Supraleitern supraleitend wird.” Einstein war Kuratoriumsmitglied in der Zeit 1917 - 1932. Der Kontakt zwischen zwei Supraleitern war dann Gegenstand von Experimenten, die Meiss-
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ner zusammen mit Ragnar Holm, einem Mitarbeiter des Forschungslaboratoriums des Siemens Konzerns in Berlin, im Jahr 1932 durchführte (Z. Physik 74, 715 (1932)). Die Untersuchungen wurden an supraleitendem Zinn (Sn) und Blei (Pb) durchgeführt, wobei Sn-Sn, Pb-Pb und Sn-Pb Kontakte geprüft wurden. Wir zitieren das Ergebnis aus dieser Arbeit: “... Zwischen Supraleitern aus gleichem oder verschiedenem Material ist ein supraleitender Kontakt ohne Verschweissung der Materialien möglich. Bei Eintritt der Supraleitfähigkeit verschwindet auch der Widerstand der Störschicht.” - Somit wurde gezeigt, dass das von Einstein vorgeschlagene Modell der molekularen Leitungsketten für die Supraleitung nicht zutrifft. Hier wurde zum ersten Mal, angeregt durch die Bemerkungen von Einstein, das später so grosse Bedeutung erlangende Gebiet der dünnen Kontakte bzw. Mikrobrücken zwischen zwei Supraleitern angesprochen. Es war aber erst im Jahr 1962, also 30 Jahre später, als der Engländer Brian Josephson die exakte Theorie für das physikalische Verhalten derartiger Kontakte vorschlug und so das sich anschliessend rasch entwickelnde Gebiet der Josephson Effekte und der Josephson Elektronik einleitete. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war auch der im Jahr 1960 von dem aus Norwegen stammenden Ivar Giaever in den Laboratorien von General Electric durchgeführte experimentelle Nachweis des quantenmechanischen Tunneleffekts zwischen zwei Supraleitern. Vor diesen Ereignissen der 1960er Jahre hatten allerdings grosse Fortschritte in der Theorie der Supraleitung stattgefunden. Nach diesem Hinweis auf viel spätere Entwicklungen wenden wir uns wieder Walther Meissner zu. Der elektrische Stromfluss in Supraleitern sollte mit ihrem magnetischen Verhalten zusammenhängen, da elektrische Ströme und Magnetfelder eng miteinander gekoppelt sind. Im Hinblick auf derartige theoretische Fragestellungen pflegte Meissner enge Kontakte mit Max von Laue. Meissner hatte von Laue schon während seiner Doktorarbeit bei Planck kennen gelernt, da von Laue damals Assistent bei Planck gewesen war. Auf die Rolle von Max von Laue an der Reichsanstalt wollen wir kurz eingehen. Es war Walther Nernst, Präsident der Reichsanstalt in den Jahren 1922 - 1924, der in der Kuratoriumssitzung vom 20. März 1923 die Einstellung eines Theoretikers, evtl. auch im Nebenamt, beantragt hatte. Das Kuratorium und besonders Max Planck und Wilhelm Wien unterstützten diesen Antrag. In der Sitzung vom 12. März 1924 konnte Nernst dann dem Kuratorium mitteilen, es sei gelungen “Herrn Professor von Laue nebenamtlich als Theoretiker für die Reichsanstalt zu gewinnen.” Ab 24. März 1925 war Max von Laue offiziell als theoretischer Physiker in der Reichsanstalt tätig. Einen Tag in der Woche übte er neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Berlin seine Beratertätigkeit für die Reichsanstalt aus. Hierbei trat er jedoch mit grosser Bescheidenheit niemals als Mitautor auf. Andererseits zeigt der Antrag zur Einstellung eines Theoretikers und die anschliessende Gewinnung von Max von Laue eindrucksvoll das empfindliche Gespür von Walther Nernst für wichtige neue Entwicklungen und für die hierzu notwendigen Massnahmen. Wie wichtig die neuen Entwicklungen im Fall des Walther Meissner waren, wollen wir im Folgenden erläutern. Zur Klärung der Frage nach demVerhalten von Supraleitern in einem schwachen Magnetfeld hatte Max von Laue vorgeschlagen, das Magnetfeld in unmittelbarer Nähe der Oberfläche eines Supraleiters oberhalb und unterhalb der kritischen Temperatur genau zu messen. Ebenfalls schien eine Anordnung interessant, bei der das Magnetfeld zwischen zwei eng benachbarten stromdurchflossenen Supraleitern gemessen wird. Zur Durchführung der Versuche konnte von Laue in seiner Eigenschaft als Gutachter erreichen, dass ein zusätzlicher Mitarbeiter, Robert Ochsenfeld, zur Verfügung gestellt wurde. Ochsenfeld kam Ende 1932 an die Reichsanstalt. Er
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Abbildung 6.5: Robert Ochsenfeld.
wurde durch ein Förderprogramm unterstützt, das jungen Akademikern während der Weltwirtschaftskrise eine Möglichkeit zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung geben sollte. Für die Experimente wurden supraleitendes Blei und Zinn verwendet. Die Versuche zeigten, dass sich beim Unterschreiten der kritischen Temperatur in beiden Fällen die magnetische Flussdichte in der äusseren Umgebung der Supraleiter ändert und einen Wert annimmt, der auf eine vollständige Verdrängung des Magnetfelds aus dem Innern der Supraleiter hinweist. Offenbar zeigten die Supraleiter perfekten Diamagnetismus. In einer Versuchsanordnung wurden zwei im Abstand von 1,5 mm parallel zueinander verlaufende einkristalline Zinndrähte mit 3 mm Durchmesser von einem elektrischen Strom in entgegengesetzter Richtung durchflossen. Durch die entgegen-
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gesetzte Stromrichtung wurde erreicht, dass sich die von beiden Strömen erzeugte magnetische Flussdichte im Gebiet zwischen den Drähten addiert. Das Experiment zeigte eindeutig, dass die magnetische Flussdichte in dem Gebiet zwischen den stromdurchflossenen Drähten im supraleitenden Zustand grösser war als im nomalleitenden, ganz entgegen der ursprünglichen Erwartung. Wenn ein äusseres Magnetfeld angelegt wurde, war dieser Effekt noch verstärkt. Das Magnetfeld wurde offenbar aus dem Innern der supraleitenden Drähte verdrängt. Meissner und Ochsenfeld publizierten ihre Ergebnissse 1933 in den “Naturwissenschaften” (21, 787 (1933)). Ihr Beitrag hatte den verheissungsvollen Titel “Ein neuer Effekt bei Eintritt der Supraleitfähigkeit”. Im folgenden Jahr wiederholte Meissner den Versuch zusammen mit F. Heidenreich. Wieder zeigte sich, dass das Magnetfeld unterhalb der kritischen Temperatur des Supraleiters aus dem Innern des Supraleiters herausgedrängt wird. Schon bald war dieser magnetische Verdrängungseffekt als Meissner-Ochsenfeld Effekt oder auch abgekürzt als Meissner Effekt bekannt. In der Form des “schwebenden Magneten” wird der Effekt schon seit langem zu Demonstrationszwecken benutzt. Bei den vor einiger Zeit entdeckten Hochtemperatur-Supraleitern genügt hierbei schon eine Abkühlung mit flüssigem Stickstoff, um den Effekt vorzuführen.
Abbildung 6.6: Meissner Effekt. (Linke Seite) Im Normalzustand oberhalb seiner kritischen Temperatur wird der kugelförmige Supraleiter von dem äusseren Magnetfeld durchsetzt. (Rechte Seite) Unterhalb seiner kritischen Temperatur verdrängt der Supraleiter das Magnetfeld vollständig aus seinem Inneren solange sein kritisches Magnetfeld nicht überschritten wird. Die Feldverdrängung wird durch elektrische Ströme verursacht, die ohne Verluste entlang der Oberfläche um den Supraleiter fliessen und das Innere des Supraleiters gegen das Magnetfeld abschirmen.
Sehr treffend schildert Fritz London in seinem Buch “Superfluids, Volume I, Macroscopic Theory of Superconductivity” (John Wiley & Sons, 1950) die damalige Situation. Wir zitieren London (in deutscher Übersetzung): “Tatsächlich hat vor 1933 niemals eine Person das Magnetfeld in unmittelbarer Nähe eines Supraleiters richtig gemessen. Die Angelegenheit schien durch die Theorie des perfekten Leiters vollständig geklärt, nachdem diese Theorie offenbar durch die Dauerstrom-Experimente bestätigt worden war. Umso grösser war dann die Überraschung als Meissner und Ochsenfeld ... über Ergebnisse berichteten, die in krassem Gegensatz zu dieser akzeptierten Meinung standen.”
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Abbildung 6.7: Skizze und numerische Abschätzung von Walther Meissner zum Magnetfeld zwischen zwei stromdurchflossenen Drähten.
In den Worten von Max von Laue bedeutete die Entdeckung des Meissner Effekts einen Wendepunkt in der Geschichte der Supraleitung. Das Verschwinden der magnetischen Flussdichte im Innern eines Supraleiters wird durch supraleitende Abschirmströme bewirkt, die verlustfrei, d. h.
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ohne elektrischen Widerstand, nahe der Oberfläche des Materials fliessen. Die Abschirmströme erzeugen dabei ein Magnetfeld, das ein im normalleitenden Zustand vorhandenes Magnetfeld im Innern exakt kompensiert. Würden die elektrischen Abschirmströme nicht verlustfrei fliessen, dann könnte der supraleitende Zustand im Magnetfeld nicht beliebig lange bestehen bleiben. Somit ist der Meissner Effekt auch eindeutig grundlegender als das Verschwinden des elektrischen Widerstands oder als die unendliche elektrische Leitfähigkeit. Aus der Existenz des Meissner Effekts folgt nämlich unmittelbar, dass elektrische Ströme ohne elektrischen Widerstand fliessen, während in der umgekehrten Richtung von dem Verschwinden des elektrischen Widerstands noch nicht auf die Existenz des Meissner Effekts geschlossen werden kann. Diese entscheidende Rolle des Meissner Effekts haben Georg Bednorz und Karl Alex Müller bei ihrer Entdeckung der Hochtemperatur-Supraleitung im Jahr 1986 auch berücksichtigt, als sie sich über die Supraleitung der neuartigen Verbindungen erst sicher waren, nachdem sie die Existenz des Meissner Effekts bestätigen konnten.
Abbildung 6.8: Demonstration des Meissner Effekts. Ein kleiner Würfel, der aus einem HochtemperaturSupraleiter angefertigt und auf die Temperatur des flüssigen Stickstoffs abgekühlt ist, schwebt über einer ferromagnetischen Scheibe. Eine Abstossungskraft wirkt zwischen dem Ferromagnet und den Abschirmströmen im Supraleiter, die durch den Meissner Effekt verursacht werden.
Die experimentelle Entdeckung des Meissner Effekts hat anschliessend die Theorie der Supraleitung entscheidend geprägt. Als wichtigster Punkt ist hier die Tatsache zu nennen, dass aufgrund der Existenz des Meissner Effekts der supraleitende Zustand generell ein Gleichgewichtszustand ist, der unabhängig davon ist, auf welchem Weg man ihn durch Veränderung des Magnetfelds und der Temperatur erreicht hat. Am Ende muss die Temperatur nur kleiner als die kritische Temperatur Tc und das Magnetfeld nur kleiner als das kritische Magnetfeld HC (T ) sein. Auf diese Tatsache haben damals die beiden Holländer Cornelis Jacobus Gorter und Hendrick B. G. Casimir als erste hingewiesen. Ausserdem haben sie gezeigt, dass die Geltung des Meiss-
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ner Effekts die Möglichkeit eröffnet, den Energieunterschied zwischen dem normalleitenden und dem supraleitenden Zustand genau zu berechnen. Dieser Energieunterschied ist proportional zum Quadrat des kritischen Magnetfelds, HC2 (T ) : fn (T ) − fs (T ) = (1/8π )HC2 (T ). Hier bezeichnen f n (T ) und f s (T ) die freie Energiedichte bei Abwesenheit eines Magnetfelds im normalleitenden und im supraleitenden Zustand. Jetzt konnte man den Energiegewinn für die Elektronen zum ersten Mal angeben, der ihren supraleitenden Zustand begünstigt. Aufbauend auf der Existenz des Meissner Effekts haben die Brüder Fritz und Heinz London im Jahr 1935 eine phänomenologische Theorie der Supraleitung vorgeschlagen. Ihre Theorie erklärte insbesondere den Meissner Effekt und die genaue räumliche Abhängigkeit der elektrischen Abschirmströme in der Nähe der Oberfläche eines Supraleiters. Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen entwickelte Fritz London damals auch seine sich als besonders fruchtbar erweisende Idee der Supraleitung als makroskopisches Quantenphänomen. Die Bedeutung von Max von Laue bei diesen Entwicklungen zu den magnetischen Eigenschaften von Supraleitern kann nicht überschätzt werden. Er war der entscheidende Motivator, der Walther Meissner zu den wichtigen Experimenten überredet hat. Auf der anderen Seite hat er es aufgrund seiner grossen Bescheidenheit nicht zugelassen, dass sein Name auf den relevanten Veröffentlichungen erschien. Walther Meissner hat niemals aus seiner Abneigung gegen den Nationalsozialismus in Deutschland einen Hehl gemacht. So verliess er auch schon bald die Reichsanstalt, nachdem im Jahr 1933 Friedrich Paschen durch Johannes Stark als Präsident der Reichsanstalt abgelöst wurde. Stark hatte ihm aus politischen Motiven die Übernahme einer Honorarprofessur an der Berliner Universität untersagt. Die Professur war Meissner besonders auf Wunsch von Planck und von Laue angeboten worden. 1934 folgte Meissner einem Ruf an die Technische Hochschule in München als Nachfolger von Jonathan Zenneck. Auch Max von Laue bekam den neuen politischen Wind zu spüren. Im Dezember 1933 kündigte Stark ihm seine Stellung als theoretischer Berater der Reichsanstalt. In seiner Gedenkrede am 15. Oktober 1960 über den wenige Monate zuvor verstorbenen Max von Laue hat Walther Meissner in Berlin bei der Trauerfeier der Max-Planck-Gesellschaft diese Ereignisse noch einmal in Erinnerung gerufen. Wir zitieren aus dieser Gedenkrede von Meissner (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, 1960, S. 101): “Aber lassen Sie mich zu den Kämpfen Laues kommen, zu seinem Auftreten gegen den Nationalsozialismus und gegen andere Gewalten ... . Lassen Sie mich beginnen mit der denkwürdigen Physikertagung in Würzburg im September 1933. ... Und dann hielt er die grosse Rede, in der er gegen die Unterdrückung der Freiheit der Wissenschaft durch den Nationalsozialismus, besonders auch durch Johannes Stark, der damals Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt war, auftrat. ... Das Vorgehen Starks gegen die theoretische Physik, besonders gegen die Plancksche Quantentheorie und gegen die Einsteinsche Relativitätstheorie empörte Laue so, dass er im Dezember 1933 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften scharf gegen die Wahl Starks zum ordentlichen Akademiemitglied auftrat und sie so verhinderte. Zwei Tage später wurde ihm die Stelle als theoretischer Berater der Reichsanstalt von Stark gekündigt.” - Max von Laue war es dann besonders, der nach 1945 und nach
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dem Ende des Nazi Regimes den Neuanfang der Reichsanstalt in Braunschweig als PhysikalischTechnische Bundesanstalt stark und mit grossem Erfolg unterstützt hat. Nach dem 2. Weltkrieg hat Walther Meissner mit grossem Pflichtbewustsein zahlreiche Ämter übernommen. Im Jahr 1946 war er Direktor von zwei experimentellen Instituten der Technischen Hochschule München, Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Präsident der Bayerischen Physikalischen Gesellschaft, Vorstandsmitglied des Deutschen Museums und Vorsitzender der Kommission für Tieftemperaturforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Das seit 1967 in Garching bei München bestehende Zentralinstitut für Tieftemperaturforschung wurde im Jahr 1982 in Walther-Meissner-Institut umbenannt. Neben seinen zahlreichen veröffentlichten wissenschaftlichen Originalarbeiten hat Meissner auch schon früh der kritischen Darstellung seines Arbeitgebiets und dem zusammenfassenden Überblick seine Arbeitskraft gewidmet. Herausragend ist in diesem Zusammenhang sein Beitrag, den er in den Jahren 1932 - 1935 für das Handbuch der Experimentalphysik unter Mitwirkung von M. Kohler und H. Reddemann verfasst hat. Die Herausgeber dieses Handbuchs waren W. Wien und F. Harms. Der von Meissner erstellte Band (Band 11, Teil 2, Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig, 1935) mit dem Titel “Elektronenleitung, Galvanomagnetische, Thermoelektrische und Verwandte Effekte” hat einen Umfang von insgesamt 547 Seiten. Wir müssen ausserdem Meissner’s Beiträge zum Handbuch der Physik erwähnen, das von Hans Geiger und Karl Scheel herausgegeben wurde. In Band XI mit dem Titel “Anwendung der Thermodynamik” (Springer, Berlin, 1926) wurde Kapitel 7 “Erzeugung tiefer Temperaturen und Gasverflüssigung” (Seite 272 - 339) von Meissner verfasst. Eine genaue Beschreibung der Heliumverflüssigungsanlage an der Reichsanstalt findet man auf den Seiten 321 - 325, während die dortige Wasserstoffverflüssigungsanlage auf den Seiten 316 - 319 erläutert wird. Schliesslich stammt von Meissner auch Kapitel 6 ”Telephon und Mikrophon” von Band XVI des gleichen Handbuchs. Der Titel dieses Bandes lautet “Apparate und Messmethoden für Elektrizität und Magnetismus” (Springer, Berlin, 1927).
7 Chemisches Labor und die Entdeckung von neuen Elementen Das chemische Laboratorium wurde bereits im Gründungsjahr der Reichsanstalt, 1887, eingerichtet. Seine Leitung wurde dem damals 33-jährigen Franz Mylius übertragen, der diese Funktion dann bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1919 ausüben sollte. In der Anfangszeit bestand nicht die Absicht, ein anspruchsvolles, neues chemisches Forschungsprogramm zu entwickeln. Vielmehr sollten die chemischen Arbeiten die anderen Abteilungen der PTR unterstützen. So konzentrierten sich die Arbeiten lange Zeit auf die Widerstandsfähigkeit von vielen Glassorten gegenüber chemischen Substanzen, eine Frage, die bei vielen Laborgeräten eine wichtige Rolle spielte. Als eine Schlüsselfigur für die damalige rasante Entwicklung der deutschen optischen Industrie (Optische Werkstätte Carl Zeiss & Co. in Jena) und der deutschen Glasindustrie wirkte damals Otto Schott. Um 1890 produzierten die Jenaer Glaswerke Schott & Söhne mehr als achtzig verschiedene Glassorten. Hinzu kamen für die PTR Forschungen zur Darstellung reiner Metalle. Beispielsweise benötigte man hochreines Antimon, da dessen Schmelzpunkt als ein Fixpunkt bei der Temperaturskala diente. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen an der PTR lohnt sich ein kurzer Blick auf einige andere Schritte in Berlin zur damaligen Zeit in Richtung einer Verstärkung der Forschung auf dem Gebiet der Chemie. Nur wenige Jahre nach der Gründung der PTR hatte der Gedanke, auch eine entsprechende Einrichtung auf dem Gebiet der Chemie zu schaffen, wachsende Unterstützung gefunden. Es waren vor allem Wilhelm Ostwald, Walther Nernst und Emil Fischer, die sich hierfür einsetzten. Schon im Dezember 1903 hatte Ostwald in seinem Tagebuch vermerkt, dass er die Einrichtung einer "Chemie-Reichsanstalt"nach dem Vorbild der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt angeregt hat. Die Bezeichnung wurde später in ”Chemische Reichsanstalt” (CRA) abgeändert. Im Juli 1905 hatte Ostwald einen von ihm erarbeiteten Plan einer Chemischen Reichsanstalt an Nernst übergeben, der sofort grosses Interesse zeigte. Zusammen mit Fischer hat Nernst diese Pläne leicht geändert und ergänzt, und im August an Ostwald zurück geschickt. Am 14. Oktober 1905 fand ein von Ostwald, Fischer und Nernst organisiertes Treffen von Interessenten in Berlin statt, auf dem der Vorschlag zur Gründung einer Chemischen Reichsanstalt diskutiert wurde. Am 7. März 1908 wurde dann der “Verein Chemische Reichsanstalt” gegründet. Als Präsident der CRA wurde Ernst Beckmann, zur damaligen Zeit Ordinarius für Angewandte Chemie in Leipzig, vorgesehen. In der Zwischenzeit wurde damals im Preußischen Ministerium der Geistlichen Unterrichtsund Medicinalangelegenheiten auf Initiative des Ministerialdirektors und Leiters der Abteilung für Universitäten und Höheren Schulen, Friedrich Althoff, auch die Idee zur Gründung einer “Königlich Preußischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften” entwickelt, um besonders die Naturwissenschaften zu unterstützen. Eine Hauptrolle spielte hierbei auch Adolf Harnack, Theologe und Professor für Kirchengeschichte an der Berliner Universität. Grosse Unterstützung erhielt Althoff ferner durch seine Mitarbeiter Friedrich Schmidt-Ott und Hugo Andres Krüss. Der
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_7, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Deutsche Kaiser Wilhelm II. war mit diesen Plänen einverstanden. Man einigte sich aber darauf, dass eine Finanzierung durch das Deutsche Reich ausgeschlossen werden sollte, und statt dessen private Spenden und der Staat Preußen heranzuziehen seien. Im Mai 1910 trafen sich Vertreter des Handels, der Wirtschaft, der Industrie und des Bankwesens im Berliner Kultusministerium, um die Gründung der neuen von Adolf Harnack anvisierten Gesellschaft zu besprechen. Auch Leopold Koppel, der schon als tatkräftiger Förderer der Naturwissenschaften bekannt war, war als Vertreter der Banken hierbei anwesend. Leopold Koppel wurde in Dresden in einer Familie aus der Unterschicht geboren und hatte “durch seine eigene Leistung und Aktivität” ein grosses Vermögen verdient. Nach einer Lehre im Bank Geschäft gründete er 1890 die eigene Finanz Firma Koppel & Co., mit der er ein Jahr später nach Berlin wechselte. In einer Zusammenstellung des Einkommens und Vermögens sämtlicher Millionäre in Preußen aus dem Jahr 1912 heißt es: “Es gibt wohl nur wenig Leute in Berlin, die in den letzten 20 Jahren so viel Geld verdient haben wie Leop. Koppel.” Am 17. September 1910 kündigte dieser Leopold Koppel an, dass er das Geld für ein eigenständiges Institut für Physikalische Chemie stiften wolle. Das neue Institut sollte an die Stelle der von Ostwald, Fischer und Nernst geplanten entsprechenden Abteilung der “Chemischen Reichsanstalt” treten. Koppel’s einzige Bedingung war, dass bis zum 100-jährigen Jubiläum der Universität von Berlin der Kaiser garantiert, dass der Staat pro Jahr den Betrag von 35 000.- Mark für das Gehalt des Direktors und für bestimmte fixe Kosten übernimmt. Während dieser Jubiläumsfeier am 11. Oktober 1910 rief der Kaiser zur Einrichtung von neuen Forschungsinstituten auf und bat um Spenden. Er erklärte ferner sein Einverständnis darüber, dass eine Gesellschaft mit seinem Namen und unter seiner Schirmherrschaft gegründet wird. Somit wurde die “KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften” (KWG) etabliert. Als am 11. Januar 1911 die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft begann aktiv zu werden, wurden anstelle einer Chemischen Reichsanstalt zwei Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) geschaffen: ein Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie mit Fritz Haber als Direktor, sowie ein Institut für Chemie mit Ernst Beckmann als Direktor. Adolf Harnack (1914 geadelt) wurde der erste Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Der ursprüngliche Gedanke der Gründung einer Chemischen Reichsanstalt im Sinn von Wilhelm Ostwald wurde endgültig aufgegeben. Nach dem 1. Weltkrieg wurde im Jahr 1920 als Nachfolgeeinrichtung der “Militärtechnischen Versuchsanstalt” (Berlin-Plötzensee) die “Chemisch-Technische Reichsanstalt” (CTR) gegründet. Sie wurde nach dem 2. Weltkrieg in das 1904 in Berlin-Lichterfelde angesiedelte “Materialprüfungsamt” integriert, und der 1954 gegründeten “Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung” (BAM), einer Schwester-Institution der PTB, angeschlossen. Nach diesen Bemerkungen zur Forschungssituation in Berlin auf dem Gebiet der Chemie kehren wir zur PTR zurück. Die Nachfolge in der Leitung des Chemischen Labors bei der Pensionierung von Franz Mylius im Jahr 1919 gestaltete sich schwierig. Ein möglicher Nachfolger, Erich Groschuff, der seit 1901 an der PTR tätig war, starb schon 1921 nach schwerer Krankheit. In dieser so entstandenen Phase eines notwendigen personellen Neuaufbaus des Chemischen Laboratoriums übernahm im Jahr 1922 Walther Nernst das Amt des Präsidenten der PTR. Allein wegen seiner besonders engagierten Rolle bei den am Ende erfolglosen Bemühungen für die Einrichtung einer Chemischen Reichsanstalt verwundert es nicht, dass sich Nernst als Präsident besonders um die weitere Entwicklung des Chemischen Laboratoriums kümmerte. Es begann damit, dass er einen seiner Schüler, Walter Noddack, mit an die Reichsanstalt brachte.
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In der darauffolgenden Zeit von etwa einduzend Jahren sollte Walter Noddack zusammen mit seiner Frau Ida durch ihre Arbeiten Berühmtheit erlangen. Walter Noddack hatte nach seinem Abitur 1912 mit dem Studium der Chemie, Physik und Mathematik an der Berliner Universität begonnen. Durch den Ersten Weltkrieg, an dem er als Kriegsfreiwilliger teilnahm, wurde sein Studium unterbrochen. 1918 konnte er das Studium fortsetzen und promovierte später bei Nernst mit einer Arbeit über das “Einsteinsche photochemische Äquivalenzgesetz”, ein Thema, dem sich auch schon Emil Warburg nach seiner Amtsübernahme als Präsident der PTR gewidmet hatte. Nach einer zweijährigen Tätigkeit als Assistent bei Nernst am Berliner Institut für Physikalische Chemie wechselte Noddack zusammen mit Nernst an die PTR. Dort übernahm Noddack nach dem Ausscheiden von Franz Mylius 1923 die Leitung des Chemischen Laboratoriums. Die wissenschaftlich bedeutendsten Forschungsarbeiten von Walter Noddack an der PTR befassten sich mit der Suche nach den neuen Elementen der siebten Hauptgruppe des Periodischen Systems der Elemente. Diese Zielrichtung hatte Noddack schon am Institut für Physikalische Chemie zusammen mit seiner Mitarbeiterin, Ida Tacke, die er 1926 heiratete, verfolgt. Ida Tacke hatte ab 1915 an der Technischen Hochschule in Charlottenburg als eine der ersten Frauen Chemie studiert. 1919 erhielt sie das Diplom, und zwei Jahre später promovierte sie zum Dr. Ing. . Im Jahr 1924 kam sie als Gastwissenschaftlerin an die Reichsanstalt, um hier an der Suche nach den neuen Elementen teilzunehmen. Zur Motivation für diese Arbeiten zitieren wir aus einer Veröffentlichung von Walter Noddack und Ida Tacke aus dem Jahr 1925 (Die Naturwissenschaften 13, 567 (1925)): “Von den wenigen noch vorhandenen Lücken im periodischen System der chemischen Elemente ist die interessanteste die unter dem Mangan, da hier zwei Elemente fehlen: das Ekamangan mit der Ordnungszahl 43 und das Dwimangan mit der Ordnungszahl 75. Es hat daher seit der Erkenntnis der Lücken nicht an Versuchen gefehlt, diese beiden Elemente aufzufinden oder wenigstens den Ort ihres Vorkommens vorauszusagen. In den letzten Jahren, seit man in der Röntgenspektroskopie ein einfaches Reagens auf neue Elemente besitzt, hat das Suchen nach denselben neu eingesetzt.” Die genannten Bezeichnungen “Ekamangan” (Element 43) und “Dwimangan” (Element 75) stammten bereits von Dimitri Iwanowitsch Mendelejew, der im Jahr 1869 gleichzeitig mit und unabhängig von Lothar Meyer anhand der Atommassen und der Ähnlichkeit der chemischen Eigenschaften das Periodische System der chemischen Elemente aufgestellt hat. Obwohl sich seit der Aufstellung des Periodischen Systems der Elemente schon viele Forscher dem Nachweis der noch nicht entdeckten, aber theoretisch erwarteten Elemente gewidmet hatten, waren alle Versuche erfolglos geblieben. Daher waren auch Zweifel an der Existenz dieser noch nicht gefundenen Elemente aufgetaucht. Wir zitieren noch einmal aus dem Anfang einer Arbeit von Ida und Walter Noddack aus dem Jahr 1927 (Zeitschrift für Physikalische Chemie 125, 264 (1927)): “Das Problem der Ekamangane hat seit der Aufstellung des periodischen Systems (1869) viele Forscher beschäftigt, da das Fehlen von zwei Elementen unter dem Mangan eine besonders auffallende Lücke des Systems war, die immer aufs neue zu Untersuchungen und zu Spekulationen anregte. Die Zahl derartiger Arbeiten verminderte sich erst, als man erkannte, dass weder chemische noch physikalische Methoden irgendeinen Anhalt für das Vorhandensein der Ekamangane lieferten. An die Stelle des Suchens nach diesen Elementen traten Betrachtungen, die ihre Nichtexistenz auf der Erdoberfläche zeigen sollten.” Die Aufgabe, die sich Walter Noddack und Ida Tacke gestellt hatten, war also keineswegs
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7 Chemisches Labor und die Entdeckung von neuen Elementen
Abbildung 7.1: Walter Noddack
einfach. Nur eine sorgfältig ausgewählte Strategie konnte daher zum Erfolg führen. So mussten die Ausgangsmineralien ausgesucht werden, die im Hinblick auf das Vorkommen der gesuchten Elemente am aussichtsreichsten waren. Die Bemühungen konzentrierten sich dann hauptsächlich auf die Erdenmineralien wie beispielsweise Columbit, Gadolinit, Alvit und ähnliche. Für den analytischen Nachweis bot sich die Methode der Röntgenspektrographie an, deren Empfindlichkeitsgrenze bei optimalen Bedingungen bei einer Konzentration von etwa 2 · 10−4 lag. Schon seit längerer Zeit wurde damals im Physikalischen Laboratorium des Wernerwerks M der Siemens & Halske A.G. in Berlin unter der Leitung von Otto Berg an der Entwicklung der qualitativen und quantitativen Röntgenspektralanalyse nach verschiedenen Methoden gearbeitet.
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Abbildung 7.2: Ida Noddack, geb. Tacke
Zu dieser Zeit war die Vermutung entstanden, dass die Wolframmineralien unbekannte chemische Elemente enthalten. Man entschloss sich daher, nach den Elementen 43 und 75, den Ekamanganen, mit Hilfe der Röntgenspektralanalyse systematisch zu suchen. Nachdem man bei Siemens & Halske von den Arbeiten von Noddack und Tacke an der PTR erfahren hatte, wurde die Arbeit zur schnelleren Förderung des Problems gemeinsam fortgesetzt. Für den röntgenspektroskopischen Teil war Otto Berg verantwortlich. Für den Nachweis der beiden Elemente 43 und 75 war ihre systematische und deutliche Anreicherung auf chemischem Weg über ihre geringe vorhandene Menge hinaus erforderlich. Schliesslich konnte im Juni 1925 der Nachweis der beiden Elemente angekündigt werden. Die Entdecker
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schlugen für die neu entdeckten Elemente folgende Namen vor: für das Element 43 den Namen Masurium und für das Element 75 den Namen Rhenium. Bei dieser Benennung war die Herkunft der beiden Forscher ausschlaggebend gewesen: die Vorfahren von Walter Noddack stammten aus den Masuren in Ostpreußen, während Ida Noddack im Rheinland geboren war. Es stellte sich heraus, dass der Rheniumgehalt der verschiedenen Erdenmineralien in günstigen Fällen 10−5 bis 10−6 beträgt. Um 1 Gramm Rhenium zu gewinnen, mussten somit 100 bis 1000 kg Material verarbeitet werden. Hierbei konnte später noch eine erhebliche Erleichterung in der Aufsuchung rheniumhaltiger Materialien erzielt werden als gefunden wurde, dass einige der Linien der Röntgenspektroskopie des reinen Rheniums so deutlich sind, dass sie selbst bei Rheniumkonzentrationen von 10−7 noch sichtbar bleiben. In einem ersten Schritt konnten bis zum Herbst 1927 eine Menge von 120 mg Rhenium hergestellt werden. Hören wir die Schilderung von Ida und Walter Noddack in ihrer Veröffentlichung mit dem Titel “Die Herstellung von einem Gramm Rhenium” (Zeitschrift für Anorganische Chemie 183, 353 (1929)): “Zur Herstellung von Rheniummengen, die ein genaues Studium seiner chemischen und physikalischen Eigenschaften gestatten, ist daher selbst bei den günstigsten Materialien die Aufarbeitung von mehreren 100 kg nötig. Die Möglichkeit zur Verarbeitung solcher Mengen wurde uns zum ersten Male durch die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gegeben. Sie stellte uns für mehrere Studienreisen nach Norwegen und zur Beschaffung von Mineralien einen Kredit von insgsamt 30 000.- Mark zur Verfügung. ... Mit Hilfe dieser Mittel konnten wir etwa 120 mg reines Rhenium herstellen und eine Reihe seiner Eigenschaften untersuchen.” Die hergestellte Menge von 120 mg Rhenium war jedoch für die Untersuchung der elastischen, thermischen, elektrischen und magnetischen Eigenschaften noch zu gering. Daher wurde als nächster Schritt die Herstellung von einem Gramm Rhenium angepeilt. Hierbei war eine enge Zusammenarbeit mit der Firma Siemens & Halske entscheidend, die für die Kosten aufkommen wollte und für dieses Projekt zwei Arbeiter und die Räume in ihrer Tantalfabrik für zwei Monate zur Verfügung stellte. Als besonders aussichtsreich mit einem relativ hohen Rheniumgehalt hatten sich einige Molybdänglanze erwiesen. Von den besten der untersuchten Vorkommen (in Japan) konnten allerdings keine grösseren Mengen beschafft werden. Es war aber gelungen, verschiedene norwegische Vorkommen ausfindig zu machen, die nach der Analyse einen Rheniumgehalt von 2 bis 4 · 10−6 hatten, und von diesen etwa 660 kg zu kaufen. Diese Menge bildete das Ausgangsmaterial für die Herstellung von 1 Gramm Rhenium. Es folgte dann ein eindrucksvoller Arbeitsprozess. Zu dem angewandten Anreicherungsverfahren zitieren wir wieder aus der o. g. Arbeit von Ida und Walter Noddack: “Der Molybdänglanz, der meist in Stücken von 20 - 50 g bestand, wurde mit einer Scheibenmühle gemahlen und das erhaltene Pulver durch ein Sieb von 200 Maschen pro cm2 gesiebt. Für den Aufschluss benutzten wir 8 Porzellanschalen von je 30 Liter Inhalt. Zur Verarbeitung einer Tagescharge wurden 4 Schalen in einen grossen Abzug gestellt. Jede Schale erhielt 5 kg Molybdänglanzpulver, nach und nach wurden zu diesen 25 Liter Salpetersäure (d = 1,40) gegeben. Die Reaktion setzte bald ein und führte zu einer so starken Wärmeentwicklung, dass eine äußere Erhitzung der Schalen überflüssig war. Drohte bei zu starker Reaktion die Masse überzulaufen, so wurden einige Liter Wasser zugesetzt. Die in grosser Menge entstehenden Dämpfe von salpetriger Säure wurden durch einen Ventilator abgesaugt und in zwei Bleikammern durch einen Sprühregen von 10%iger Natriumcarbonatlösung absorbiert. Gewöhnlich wurde die Reaktion am Morgen eingeleitet und die gesamte Säure bis zum Abend zugegeben, dann die Schalen über Nacht sich selbst überlassen.
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Am nächsten Morgen wurden die abgekühlten Schalen zur weiteren Verarbeitung aus dem Abzug genommen und durch vier neue ersetzt. Der Aufschluss der 660 kg Molybdänglanz dauerte mit Einschluss des noch zu besprechenden zweiten Aufschlusses 40 Tage, dabei wurden etwa 4000 kg Salpetersäure verbraucht.” Es folgen weitere Details, die wir hier aber nicht wiedergeben. Als letzter Schritt musste noch die völlige Reinigung des Rheniums vorgenommen werden. Die Menge des Endprodukts, die bis zum Sommer des Jahres 1928 erzielt wurde, betrug 1,042 g. Im darauffolgenden Jahr wurden mit Unterstützung der Notgemeinschaft weitere 1,7 g Rhenium gewonnen. Damit wurden genaue Untersuchungen der Eigenschaften des Rheniums an der Reichsanstalt möglich. Im Jahr 1933 veröffentlichten Ida und Walter Noddack eine Monographie mit dem Titel “Das Rhenium” (Verlag von Leopold Voss, Leipzig). Wir zitieren aus ihrem Vorwort: “Das Rhenium hat in wenigen Jahren den Weg vom umstrittenen Milligrammpräparat zum technischen Produkt zurückgelegt. Zahlreiche Forscher haben in jüngster Zeit das Studium seiner Eigenschaften mit dem ganzen Rüstzeug der modernen Physik und Chemie in Angriff genommen, so daß das Rhenium in vieler Hinsicht heute schon besser erforscht ist als manches andere, längst bekannte Element. Über diese Arbeiten liegt bereits eine grosse Zahl von Veröffentlichungen vor und es ist vorauszusehen, daß viele weitere folgen werden, die das Bild seines chemischen Charakters vervollständigen.” In ihrem Buch berichten die beiden Autoren unter anderem über das Vorkommen, die Gewinnung, die metallischen Eigenschaften, sowie den qualitativen und quantitativen analytischen Nachweis des Rheniums. Im Gegensatz zur Reindarstellung des Rheniums gelang es dem Ehepaar Noddack trotz intensiver Bemühungen in der Folgezeit nicht, auch das zweite neue Element mit der Ordnungszahl 43 in reiner Form darzustellen. Die künstliche Darstellung des Elements 43 gelang im Jahr 1937 Carlo Perrier und Emilio Segrè durch Bestrahlung von Molybdänfolie im Zyklotron von Berkeley in Californien. Sie gaben diesem Element den Namen “Technetium”, der sich dann auch durchsetzte. Die von Otto Berg, Walter Noddack und Ida Tacke früher behauptete Entdeckung des Elements 43 in natürlich vorkommenden Mineralien konnte von anderen Gruppen nicht bestätigt werden und wird daher bis heute angezweifelt. Hinzu kommt, dass alle bekannten Isotope dieses Elements instabil sind und zerfallen. Alle Einzelheiten dieser Kontroverse konnten allerdings bisher noch nicht endgültig aufgeklärt werden. Bevor wir dieses Kapitel beenden, wollen wir noch ein anderes höchst interessantes Thema aufgreifen. Im Jahr 1934 veröffentlichte Ida Noddack einen Artikel mit dem Titel “Über das Element 93” (Angewandte Chemie 47, 653 (1934)), in dem sie sich mit den noch bestehenden Lücken im Periodischen System der Elemente und der Möglichkeit für die Entdeckung von Transuranen, die als Elemente im Periodischen System auf das Uran folgen, beschäftigte. In diesem Zusammenhang diskutierte sie jüngste Experimente von Enrico Fermi zur induzierten Radioaktivität, die möglicherweise durch die Einwirkung von Neutronen verursacht wurde. Fermi hatte spekuliert, dass durch die mit Neutronen induzierte Radioaktivität das Element mit der Ordnungszahl 93 erzeugt worden sein könnte. Ida Noddack kritisierte die Beweisführung Fermi’s, wobei sie besonders die von ihm benutzte chemische Fällungsmethode für nicht stichhaltig hielt. In dem entscheidenden Punkt ihrer Ausführungen brachte sie einen vollständig neuartigen Gedanken ins Spiel. Wir zitieren diese wichtigsten Sätze: “Man kann ebensogut annehmen, dass bei dieser neuartigen Kernzertrümmerung durch Neutronen erheblich andere “Kernreaktionen” stattfinden, als man sie bisher bei der Einwirkung von Protonen- und α -Strahlen auf Atomkerne beobachtet hat. Bei den letztgenannten Bestrahlungen findet man nur Kernumwandlungen unter
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Abgabe von Elektronen, Protonen und Heliumkernen, wodurch sich bei schweren Elementen die Masse der bestrahlten Atomkerne nur wenig ändert, da nahe benachbarte Elemente entstehen. Es wäre denkbar, dass bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere g r ö s s e r e Bruchstücke zerfallen, die zwar Isotope bekannter Elemente, aber nicht Nachbarn der bestrahlten Elemente sind.” Wie wir diesen zitierten Sätzen von Ida Noddack entnehmen können, hat sie schon 4 Jahre vor dem endgültigen experimentellen Nachweis durch Otto Hahn und Fritz Strassmann im Jahr 1938 die Möglichkeit der Kernspaltung ernsthaft ins Auge gefasst. Dieser Gedanke war damals jedoch so neuartig, dass er kaum auf Resonanz stiess und von den meisten Fachleuten für unmöglich gehalten wurde. Ida Noddack selbst war anschliessend in dieser Frage auch nicht weiter aktiv. Ihr Vorschlag wurde daher praktisch vollständig ignoriert. Etwa 20 Jahre später erklärte Emilio Segré, damals einer der engsten Mitarbeiter von Fermi: “We were completely blind to the possibility of fission, although, remarkably this was called specifically to our attention by Ida Noddack who sent to us an article in which she clearly predicted the possibility of fission.” Als Otto Hahn später auf seine Nichtbeachtung des Vorschlags von Ida Noddack angesprochen wurde, sagte er, er habe Frau Noddacks absurd erscheinende Hypothese nicht einmal zu zitieren gewagt, weil er sonst um seinen guten Ruf als Wissenschaftler hätte bangen müssen. In seinem Vortrag in Stockholm am 13. Dezember 1946 zur Verleihung des Nobel Preises in Chemie (für das Jahr 1944) kam Otto Hahn noch einmal auf die Angelegenheit des frühen Hinweises von Ida Noddack auf die Möglichkeit der Atomkernspaltung zu sprechen: “ ... Fermi inferred the production of so-called “transuraniums”, representatives of the element 93 which is not known naturally, and possibly even of the still higher element 94. Fermi’s proofs were not accepted everywhere. ... From another direction (Ida Noddack) the objection was raised that all the elements of the Periodic System must first be excluded before it was possible to draw the conclusion that an element 93 had been obtained. This objection was not taken seriously as it appeared to be in opposition to all physical views of nuclear physics.” Hahn wies dann darauf hin, dass zur damaligen Zeit Fermi’s Behauptung richtig sein musste, und fuhr fort: “We should point out here that other possibilities did not occur to anyone at that time. Since the discovery of the neutron and the application of artificial sources of radiation, a large number of most unusual nuclear reactions had been discovered; the products were always either isotopes of the irradiated substances, or their next, or at most next-but-one, neighbours in the Periodic System; the possibility of a breakdown of heavy atomic nuclei into various light ones was considered as completely excluded.” Neben den ausführlicher geschilderten chemischen Arbeiten im Zusammenhang mit der Suche nach neuen Elementen wurde in der PTR die Röntgenspektroskopie auch zunehmend für andere Prüftätigkeiten weiterentwickelt und eingesetzt. Untersuchungen von Mineralien und Erzen hatten hierbei einen wichtigen Anteil. Ferner wurde ein altes Arbeitsgebiet von Walter Noddack weiterhin bearbeitet: die Photochemie und die Grundlagen der Photographie. Beispielsweise wurde die Empfindlichkeit von photographischen Platten in die Prüftätigkeit aufgenommen. Schliesslich wurden auch die ursprünglichen Aufgaben des Chemischen Laboratoriums, nämlich die Untersuchung von Gläsern und Metallen, weiterhin wahrgenommen. Im Jahr 1935 verliess Walther Noddack die Reichsanstalt und folgte einem Ruf auf den Lehrstuhl für Physikalische Chemie an der Universität Freiburg. Seine Frau wurde dort wieder seine Mitarbeiterin. Während der Zeit, in der Walter Noddack das Chemische Laboratorium leitete,
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hatte die Forschung auf dem Gebiet der Chemie in der Reichsanstalt stark zugenommen. So betrug die Zahl der Mitarbeiter bis zum Jahr 1922 nur 3 bis 4, während sie kurz nach Noddack’s Weggang auf 18 angestiegen war.
8 Laboratorium für Radioaktivität Ähnlich wie bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen war auch die Entdeckung der Strahlung durch natürliche Radioaktivität das Ergebnis eines Zufalls. Wilhelm Conrad Röntgen hatte die nach ihm benannte Strahlung gegen Ende des Jahres 1895 völlig unerwartet entdeckt, als er in Würzburg Experimente mit Gasentladungsröhren durchführte. Mit diesen Experimenten wollte er neue Erkenntnisse über die Elektrizitätsleitung in Gasen gewinnen. Am Abend des 8. November 1895 beobachtete er in dem vollständig abgedunkelten Zimmer wie ein mit Bariumplatincyanür bestrichenes Papier, das neben der von einem schwarzen Karton eingehüllten Entladungsröhre auf dem Tisch lag, bei jeder Entladung hell aufleuchtete (fluoreszierte). Der Durchgang von sichtbarem Licht konnte den Effekt nicht verursachen, da die Abschirmung der Röhre für Licht undurchdringlich war. Röntgen hatte “eine neue Art von Strahlen” entdeckt, wie er im Titel seiner diesbezüglichen Veröffentlichung formulierte. Die Nachricht von der Entdeckung durch Röntgen wurde an vielen Orten mit grösstem Erstaunen und Interesse aufgenommen. In Paris führte sie schon bald darauf zur Entdeckung der natürlichen Radioaktivität durch Antoine Henri Becquerel. Hören wir seine Schilderung in seinem Vortrag zur Verleihung des Nobelpreises in Physik in Stockholm am 11. Dezember 1903: “Am Anfang des Jahres 1896, genau an dem Tag als die Nachricht von den Experimenten von Röntgen und von den aussergewöhnlichen Eigenschaften der Strahlen, die von den phosphoreszierenden Wänden einer Crookes’schen Röhre emittiert werden, Paris erreichte, überlegte ich Untersuchungen durchzuführen, um herauszufinden, ob alle phosphoreszierenden Stoffe ähnliche Strahlen emittieren. Die Ergebnisse des Experiments haben diese Idee nicht bestätigt, aber während dieser Untersuchungen bin ich auf ein unerwartetes Phänomen gestossen” (hier in deutscher Übersetzung). Becquerel hatte von seinem Vater Mineralien geerbt, an denen dieser schon die Erscheinung der Fluoreszens und der Phosphoreszens studiert hatte. So konnte Henri Becquerel sogleich damit beginnen herauszufinden, ob fluoreszierende Stoffe als Quelle für die gerade entdeckten neuartigen Strahlen dienen. Für seine ersten Experimente benutzte er Kalium-Uranylsulfat (K2UO2 (SO4 )2 ). Er legte dieses Material auf photographische Platten, die in schwarzes Papier eingehüllt waren, und setzte es für mehrere Stunden hellem Sonnenlicht aus. Nachdem die Platten entwickelt waren, zeigten sie ein Abbild des benutzten uranhaltigen Kristalls. So konnte Becquerel zunächst schliessen, dass die fluoreszierende Substanz Strahlung emittiert, welche das für Licht undurchlässige Papier durchdringt. Er vermutete, dass der uranhaltige Stoff durch die Absorption des Sonnenlichts in die Lage versetzt wird, ähnliche Strahlen zu emittieren, wie sie Röntgen entdeckt hatte. Am 26. und 27. Februar 1896 mussten weitere Experiments verschoben werden, da der Himmel über Paris wolkenverhangen war und die uranhaltige Substanz dem Sonnenlicht nicht ausgesetzt werden konnte. Henri Becquerel legte deshalb die mit dieser Substanz schon versehene, aber mit schwarzem Papier umhüllte Photoplatte zurück in eine Schublade. Als er dann am 1. März
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_8, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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die photographische Platte entwickelte, erwartete er nur eine sehr geringe Schwärzung. Zu seiner grossen Überraschung zeigten die Photoplatten jedoch deutliche und klare Bilder. Offenbar emittierte das Uran die Strahlung auch ohne äussere Einwirkung durch das Sonnenlicht. Becquerel hatte die spontane Emission von Strahlung, nämlich die natürliche Radioaktivität, entdeckt. Becquerel zeigte anschliessend, dass die von dem Uran emittierte Strahlung teilweise ähnliche Eigenschaften hat wie die Röntgenstrahlen. Auf der anderen Seite wurde die Strahlung teilweise aber auch durch ein Magnetfeld abgelenkt und musste daher aus elektrisch geladenen Teilchen bestehen. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass der letztgenannte Anteil aus zwei Komponenten besteht, die heute als α -Strahlen und β -Strahlen bezeichnet werden. Die α -Strahlen sind zweifach positiv geladene Helium Atomkerne. Die β -Strahlen sind Elektronen oder Positronen. Der Anteil der Strahlung mit ähnlichen Eigenschaften wie Röntgenstrahlen wird als γ -Strahlen bezeichnet und besteht aus hochenergetischen Photonen. Neben dem Entdecker Henri Becquerel haben in Paris zunächst vor allem zwei Personen die natürliche Radioaktivität untersucht: Marie Curie und ihr Mann Pierre Curie. Marie Curie war in Warschau geboren und führte den Mädchennamen Maria Sklodowska. Als Studentin gehörte sie in Warschau einer revolutionären Organisation an. Für sie war es daher vorteilhaft, diesen russisch dominierten Teil Polens zu verlassen und nach Krakau zu wechseln, das zu der Zeit unter österreichischer Herrschaft stand. 1891 ging sie im Alter von 24 Jahren nach Paris, um an der Sorbonne ihr Studium der Physik und Mathematik fortzusetzen. 1893 legte sie die Prüfung in Physik als die beste ihres Jahrgangs ab und ein Jahr später die Prüfung in Mathematik als die zweitbeste des Jahrgangs. In dieser Zeit lernte sie Pierre Curie kennen, der acht Jahre älter als sie war, und den sie im Jahr 1895 heiratete. Pierre Curie war damals schon ein international bekannter Physiker. Mit seinem Bruder Jacques hatte er schon mit 21 Jahren den piezoelektrischen Effekt in Kristallen entdeckt. Später hat er sich dem Magnetismus zugewandt. Im Jahr 1895 hatte er sein berühmtes Curie’sches Gesetz publiziert, das besagt, dass in einem paramagnetischen Material die magnetische Suszeptibilität umgekehrt proportional zur Temperatur ist. Es war dies zum ersten Mal, dass ein Gesetz auf dem Gebiet des Magnetismus der Stoffe formuliert worden war. Curie’s Publikation mit mehr als einhundert Seiten fasste die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprogramms zusammen, in dem zahlreiche Substanzen in grossen Bereichen von Magnetfeld und Temperatur untersucht worden waren. Becquerel’s Entdeckung hatte nicht sofort besonders grosse Aufmerksamkeit erregt. Es war dann Marie Curie, die den Entschluss fasste, die geheimnisvollen “Uran Strahlen” systematisch zu untersuchen und mit diesem Forschungsthema ihre Doktorarbeit durchzuführen. Schon bald stellten sich Ergebnisse ein. Marie Curie fand heraus, dass Thorium die gleiche Strahlung emittiert wie Uran. Ferner kam es offenbar bei der Intensität der Strahlung nur auf die Menge an Uran oder Thorium in dem betreffenden Material an, während die molekulare Anordnung der Atome keinen Einfluss hatte. Das Innere der Atome schien das Wesentliche zu sein. Als nächstes studierte Marie Curie anhand zahlreicher Proben aus unterschiedlichen Fundorten natürlich vorkommende Erze, die Uran oder Thorium enthielten. Dabei stellte sie fest, dass ein bestimmtes Erz, die sogenannte Pechblende, vier bis fünf mal stärkere Radioaktivität zeigte als von seinem Urangehalt zu erwarten war. Daher entwickelte sich bei ihr der Verdacht, dass möglicherweise ein neues noch unbekanntes Element, das in sehr geringer Konzentration in dem Erz vorhanden war, diese starke Radioaktivität verursachte.
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Ab diesem Zeitpunkt vereinten Pierre und Marie Curie ihre Kräfte. Pierre gab seine Forschung über Kristalle auf und schloss sich ganz dem Projekt seiner Frau an. Die durchgeführten Messungen und chemischen Untersuchungen zeigten, dass es mindestens zwei stark strahlende Substanzen geben müsse. Die eine stellte sich im Periodischen System der Elemente als der rechte Nachbar von Bismut heraus. Pierre und Marie Curie schlugen vor, dass die Substanz Polonium genannt wird “nach dem Namen des Vaterlandes von einem von uns”. Die andere Substanz erhielt die Bezeichnung Radium und ist im Periodischen System der Elemente unterhalb von Barium angeordnet. Im Zusammenhang mit den beiden diesbezüglichen Veröffentlichungen aus dem Jahr 1898 wurde vom Ehepaar Curie zum ersten Mal die Bezeichnung “Radioaktivität” verwendet. Die nächste Aufgabe bestand damals darin, die beiden neuen Elemente in nachweisbarer Menge chemisch rein darzustellen. Hierzu mussten mehrere Tonnen billiger Erzrückstände aus der Mine der Uranfarbenfabrik Joachimsthal in Böhmen beschafft und verarbeitet werden. Zu diesem Zeitpunkt begann die legendäre Periode, während der Pierre und Marie Curie in mehrjähriger, heroischer und mühevoller Anstrengung riesige Mengen an Erzrückständen reinigten und chemisch weiter verarbeiteten, um schliesslich aus dieser Masse die äusserst geringen Spuren an radioaktiver Substanz herauszulösen. Erst im Jahr 1902 waren sie soweit. Sie hatten es geschafft, 0.1 Gramm reines Radiumchlorid (RaCl2 ) zu gewinnen und daraus das Atomgewicht von Radium mit seinem Wert 225 zu bestimmen. Mit diesem Resultat konnte Marie Curie am 25. Juni 1903 ihre Doktorarbeit abschliessen. In dieser Frühzeit des Umgangs mit radioaktiven Substanzen waren die Schäden durch die Strahlung dieser Stoffe für den menschlichen Körper noch völlig unbekannt. Die gesundheitlichen Schäden bekamen Pierre und Marie Curie aber schon bald deutlich zu spüren. Beide litten ständig unter Müdigkeit, und ihre Hände zeigten starke Verletzungen. Pierre hatte häufig grosse Schmerzen. Schliesslich war die Intensität der Strahlung des Radiums etwa einmillion mal stärker als die des Urans. Ein freudiges Ereignis war im Jahr 1903 die Verleihung des Nobelpreises in Physik an Henri Becquerel für seine Entdeckung der spontanen Radioaktivität, sowie an Pierre und Marie Curie für ihre gemeinsame Erforschung der von Becquerel entdeckten Strahlungsphänomene. Knapp drei Jahre später wurde Marie Curie von einem schweren Schlag getroffen, als Pierre Curie am 19. April 1906 beim Zusammenstoss mit einem Pferdewagen in Paris tötlich verunglückte. Marie Curie wurde anschliessend zur Nachfolgerin im Amt ihres Mannes ernannt und war so die erste Frau, die an der Sorbonne gelehrt hat. Im November 1906 hielt sie ihre erste Vorlesung, und 1908 wurde sie zur Professorin ernannt. Im Jahr 1911 erhielt sie ihren zweiten Nobelpreis, diesmal in Chemie, für “ihre Beiträge zum Fortschritt der Chemie durch die Entdeckung der Elemente Radium und Polonium, durch die Isolierung von Radium und das Studium der Eigenschaften und der Verbindungen dieses bemerkenswerten Elements”. Die spektakulären Strahlungseigenschaften des Radiums versprachen interessante Anwendungen, insbesondere in der Medizin. In den USA wurde daher mit dem Bau von Fabriken zur Produktion von Radium in grossem Massstab begonnen. Pierre und Marie Curie hatten ihre Erkenntnisse beim Prozess zur Gewinnung von Radium der Industrie freizügig zur Verfügung gestellt, ohne an einen Patentschutz zu denken. So wurde der Verkauf von Radiumpräparaten allmählich angekurbelt. Zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass sich auch die Physikalisch-Technische Reichsanstalt mit der Radioaktivität befassen sollte. Seit 1910 hatte die Reichsanstalt Anträge auf Prüfung radioaktiver Substanzen erhalten. Im Jahr 1911 beantragte daher Präsident Emil Warburg zusammen mit dem Kuratorium die finanziellen Mittel für eine neue Stelle, die mit ei-
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nem Experten auf dem Gebiet der Radioaktivität besetzt werden sollte. Der Antrag wurde vom Ministerium bewilligt. Nur wenig später konnte Präsident Warburg Hans Geiger für die Leitung eines neuen Laboratoriums für Radioaktivität gewinnen. Im Oktober 1912 trat Hans Geiger sein neues Amt an der Reichsanstalt an.
Abbildung 8.1: Hans Geiger.
Im Anschluss an seine Ausbildung in der Schule hatte Geiger an der Universität in München das Studium der Physik und Mathematik aufgenommen. Für die Durchführung seiner Doktorarbeit ging er an die Friedrich-Alexanders Universität in Erlangen, wo er im Physikalischen Institut ein experimentelles Thema bearbeitete, das die elektrischen Entladungen in einer evakuierten Röhre mit einer speziellen Wehnelt Kathode zum Gegenstand hatte. Im Jahr 1906 konnte er seine Doktorarbeit abschliessen. Mit dieser Arbeit war schon die wesentliche Richtung der gesamten späteren Forschertätigkeit von Hans Geiger vorgezeichnet, bei der es sich stets um den Nachweis von bzw. um Messungen an einzelnen elektrisch geladenen Teilchen handelte. Nach seiner Promotion erhielt Geiger die Möglichkeit, 1907 mit einem Stipendium an die
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Universität von Manchester in England zu gehen, wo er schon bald ein enger Mitarbeiter von Ernest Rutherford wurde. Aus dieser Zusammenarbeit resultierten dann grundlegende und richtungweisende Beiträge zur Atom- und Kernphysik. So konnte Geiger durch seine Experimente in Manchester wichtige Fortschritte bei der Aufklärung der Radioaktivität erzielen. 1910 zeigte er zusammen mit Rutherford, dass bei dem radioaktiven Zerfall von Uran α -Teilchen emittiert werden. Kurz zuvor hatte Rutherford im Jahr 1908 schon experimentell nachgewiesen, dass es sich bei den Teilchen der α -Strahlung um Helium-Atomkerne handelt. Als besonders folgenreich stellten sich die Streuexperimente von α -Teilchen an Gold- und Platinfolien heraus, die Geiger zusammen mit Ernest Marsden ab 1911 durchführte, und die den entscheidenden Hinweis auf den positiv geladenen, winzigen Atomkern lieferten. Aufgrund ihrer Ergebnisse hat Rutherford damals sein planetarisches Atommodell vorgeschlagen, mit dem schweren positiv geladenen Atomkern im Zentrum und den äusseren Elektronenbahnen. Aus dem Jahr 1911 stammt die von Geiger und John Mitchell Nuttall entdeckte Regel, die sich mit der Reichweite der α -Strahlung befasst. Die Geiger-Nuttall Regel besagt, dass zwischen der Reichweite der α -Strahlen (in Luft) bzw. der Energie der α -Teilchen und der radioaktiven Zerfallsrate ein einfacher Zusammenhang besteht. Schon seit 1908 hatte sich Geiger in Manchester mit elektrischen Zählmethoden zum Nachweis von einzelnen elektrisch geladenen Teilchen befasst. Diese Arbeiten führten zu dem berühmten Geiger-Zähler, dessen erstes Exemplar bereits 1908 von Geiger fertig gestellt war. Anschliessend hat der Geiger-Zähler noch viele Entwicklungsschritte durchlaufen und wurde eine Zeit lang das wichtigste Nachweisgerät der Kernphysik. Der prinzipielle Aufbau des Geiger-Zählers besteht aus einer länglichen Glasröhre, in die ein Draht eingespannt ist. Die Röhre ist mit einem inerten Gas wie beispielsweise Argon gefüllt, dem noch ein weiteres Gas, meistens Methan, zugemischt ist. Beim Betrieb des Zählers wird der Draht bis nur wenig unterhalb der Durchbruchsfeldstärke elektrisch aufgeladen. Falls ein energiereiches atomares Teilchen die Röhre passiert, werden die Gasmoleküle in der Röhre durch Stösse mit dem Teilchen ionisiert, und der elektrische Durchbruch wird in Form einer Ionenlawine ausgelöst. Mit einer geeigneten Messelektronik können die resultierenden elektrischen Pulse gezählt werden. Das zweite zugemische Gas wirkt hierbei als Löschgas und sorgt dafür, dass die Entladung möglichst schnell nach ihrer Entstehung wieder abreisst. Auf diese Weise wird die Verarbeitung grosser Zählraten ermöglicht. Die Anfänge des Laboratoriums für Radioaktivität in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, dessen Leitung Hans Geiger übernommen hatte, waren zunächst bescheiden. Im Tätigkeitsbericht für das Jahr 1912 heisst es: “Es sind zunächst zwei Arbeitsräume im magnetischen Häuschen in Gebrauch genommen und dort eine Reihe von Apparaten für radioaktive Messungen aufgestellt worden, unter anderem eine Anordnung zur genauen Gehaltsbestimmung von Radiumpräparaten und Vorrichtungen für die häufig wiederkehrende Aufgabe, Radioemanation von Radium abzutrennen und zu konzentrieren. Ausserdem gelangte eine Hochspannungsbatterie von 2000 Volt zur Aufstellung.” Die Tätigkeit Geigers teilte sich in Prüfungs- und Forschungsarbeiten auf. Noch in den letzten Monaten des Jahres 1912 wurden elf radioaktive Präparate geprüft. Im folgenden Jahr war es schon mehr als die zehnfache Anzahl. Der Tätigkeitsbericht von 1913 erläutert die Situation: “Erfolgreiche Versuche bei der Verwendung von Radium- und Mesothor-Präparaten zu Heilzwecken haben von Juli 1913 an eine äusserst lebhafte Nachfrage nach radioaktiven Präparaten
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verursacht. Dies machte sich in einer starken Zunahme der Prüfungsanträge bemerkbar. Um den stetig steigenden Anforderungen in dieser Richtung nachkommen zu können, wurden zwei Räume im Kellergeschoss des Laboratoriumgebäudes ausschliesslich zu Prüfungszwecken eingerichtet. Die Arbeitskräfte wurden durch Einstellung eines Assistenten und eines Mechanikers entsprechend vermehrt.” Da die Prüftätigkeit schnell zunahm, wurde so 1913 der Personalbestand des Laboratoriums vergrössert. Als besonderer Glücksfall stellte sich die Einstellung von Walther Bothe heraus. Hinzu kamen im Oktober 1913 der Engländer James Chadwick, ein Mitarbeiter von Rutherford in Manchester, sowie im April 1914 Werner Kolhörster, beide als Gastwissenschaftler. So hatte sich das Laboratorium in Berlin neben dem Laboratorium von Marie Curie in Paris rasch zu einem der beiden damals in der Welt führenden Laboratorien für Radioaktivität entwickelt. Bothe hatte von 1908 bis 1912 an der Berliner Universität Physik, Mathematik, Chemie und Musikwissenschaft studiert, und 1914 bei Max Planck mit einer Arbeit über das Thema “Beiträge zur Theorie der Brechung und Reflexion” promoviert. Kolhörster hatte im Anschluss an das Studium der Naturwissenschaften in Berlin, Marburg und Halle im Jahr 1911 bei Erich Dorn mit der Arbeit “Beiträge zur Kenntnis der radioaktiven Eigenschaften des Karlsbader Sprudels” promoviert. Während des Ersten Weltkriegs wurden die Arbeiten in der Reichsanstalt auf dem Gebiet der Radioaktivität unterbrochen. Nur die Prüftätigkeit wurde mühsam aufrecht erhalten. Geiger und Bothe wurden zum Militär eingezogen. Kolhörster arbeitete während des Krieges für verschiedene militärische Stellen. 1915 geriet Bothe in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1920 zurückkehrte. Der Engländer James Chadwick wurde im Zivilgefangenenlager Berlin-Ruhleben interniert und konnte erst nach Kriegsende 1919 nach England zurückkehren. (Dort wurde er sogleich wieder Mitarbeiter von Ernest Rutherford, der mittlerweile von Manchester an das Cavendish Laboratory in Cambridge gewechselt hatte. Im Jahr 1932 gelang Chadwick die fundamentale Entdeckung der Existenz der Neutronen. Hierfür wurde er 1935 mit dem Nobelpreis in Physik ausgezeichnet). Die Forschungstätigkeit von Hans Geiger zunächst in Manchester und anschliessend in Berlin wird auch durch ein 1920 im Friedrich Vieweg Verlag in Braunschweig erschienenes Buch illustriert, das Geiger zusammen mit W. Makower verfasst hat. Das Buch hat den Titel “Messmethoden auf dem Gebiet der Radioaktivität” und beschreibt Versuche, die ursprünglich für einen an der Universität Manchester von Rutherford eingerichteten Elementarkursus ausgearbeitet und dort von Studenten erprobt waren. Eine englische Ausgabe des Buches war schon 1912 erschienen. In den Jahren 1924/25 publizierten Bothe und Geiger zwei berühmte Arbeiten, die sich auf den ein Jahr zuvor von dem Amerikaner Arthur Holly Compton entdeckten und anschliessend auch nach ihm benannten Effekt bezogen. Compton hatte herausgefunden, dass bei der Streuung von Röntgenstrahlen an den nahezu freien Elektronen in Materie eine Vergrösserung der Wellenlänge der Röntgenstrahlen auftritt, wobei diese Vergrösserung vom Streuwinkel abhängt. Somit hatten die Röntgenstrahlen einen vom Streuwinkel abhängigen Energieverlust erfahren. Hierbei erinnern wir uns an die von Max Planck entdeckte und in Kapitel 5 diskutierte Beziehung ε = hν zwischen der Quantenergie ε und der Frequenz ν der Strahlung. Ferner ist dabei zu beachten, dass die Wellenlänge und die Frequenz zueinander umgekehrt proportional sind. Compton’s Experimente hatten ferner gezeigt, dass der Verlust an Energie und Impuls bei einem Quant der
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Abbildung 8.2: Walther Bothe (Historisches Archiv der Max Planck Gesellschaft).
Röntgenstrahlung von dem bei der Streuung involvierten Rückstoss-Elektron exakt aufgenommen wird. Die Erhaltungssätze für Energie und Impuls sind demnach auch bei diesen atomaren Prozessen gültig. Die weitere Diskussion dieses Sachverhalts führte damals aber noch zu einer Kontroverse, indem in einer neuen Theorie von Niels Bohr, Hendrik Kramers und John Slater behauptet wurde, die Erhaltungssätze für Energie und Impuls wären bei derartigen atomaren Prozessen nur im statistischen Mittel gültig. Diese Theorie wich daher deutlich von der ursprünglichen Vor-
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Abbildung 8.3: Werner Kolhörster.
stellung von Compton ab. Auch Pieter Debye hatte sich Compton’s Vorstellung damals bereits angeschlossen. Genau an dieser Stelle setzte das Experiment von Bothe und Geiger an, wobei eine von beiden benutzte Koinzidenz-Methode den Schlüssel lieferte. Schon 1914 hatte Geiger herausgefunden, dass ein und dasselbe Teilchen mit zwei hintereinander geschalteten Spitzenzählern detektiert werden konnte. Bei der von Bothe und Geiger damals verwendeten Koinzidenz-Methode lässt man ein Teilchen zwei oder mehr Geiger Zähler passieren und nutzt die Tatsache aus, dass die resultierenden elektrischen Pulse aller Zähler zeitlich koinzident auftreten. Die zeitlich koinzidenten Pulse werden dann von einer speziellen elektronischen Koinzidenzschaltung gezählt. Auf diese Weise lassen sich beispielsweise durch
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spezielle geometrische Anordnungen der Geiger Zähler Teilchen mit einer bestimmten Richtung ihrer Bewegung selektieren. Bei ihren Experimenten zum Compton Effekt haben Bothe und Geiger zwei Zähler verwendet, von denen der eine die gestreuten Röntgenquanten und der andere die Rückstoss-Elektronen gezählt hat. Sie konnten dann zeigen, dass die Pulse in beiden Zählern praktisch gleichzeitig (genauer innerhalb von 10−4 s unter Berücksichtigung der Messgenauigkeit) auftraten. Somit war die strenge Gültigkeit der Erhaltungssätze für Energie und Impuls beim elementaren Streuprozess bewiesen und die statistische Theorie von Bohr, Kramers und Slater widerlegt. Wir zitieren die Schlussbemerkungen aus der Arbeit von Bothe und Geiger (Zeitschrift für Physik 32, 639 (1925)): “Die beschriebenen Versuche sind mit der Bohrschen Deutung des Comptoneffekts nicht vereinbar. Sie beweisen zwar nicht streng, dass im Elementarprozess Energie- und Impulssatz Gültigkeit haben, denn hierzu wäre es nötig gewesen, einen Teil der Streustrahlung und den nach der Comptonschen Theorie dazugehörigen Teil der Rückstossstrahlen der Richtung nach auszublenden. Man kann aber wohl kaum daran zweifeln, dass auch unter diesen verschärften Bedingungen, deren Realisierung weitaus schwieriger wäre, die Koinzidenzen auftreten würden. Es empfiehlt sich daher bis auf weiteres, die ursrüngliche Vorstellung von Compton und Debye beizubehalten. Aber nicht nur hinsichtlich des Comptoneffekts, sondern auch allgemein für Bohrs neue Theorie der Strahlung scheint das hier gewonnene Ergebnis sehr grosse Schwierigkeiten zu bieten, denn die Deutung des Comptoneffekts ist bei Bohr, Kramers und Slater aufs engste verknüpft mit der dieser Theorie zugrunde liegenden statistischen Auffassung vom Energie- und Impulssatz. Man muss daher doch wohl annehmen, dass der Begriff des Lichtquants einen höheren Wirklichkeitsgehalt besitzt, als in dieser Theorie angenommen wird.” Somit haben diese Experimente von Bothe und Geiger besonders die Vorstellungen von Albert Einstein damals deutlich unterstützt. Im nächsten Kapitel kommen wir hierauf noch einmal zurück, wenn wir die Rolle von Einstein im Zusammenhang mit der PTR ausführlicher erörtern. Für Geiger war dies die letzte wissenschaftliche Arbeit an der PTR. Er hatte sich 1924 an der Berliner Universität habilitiert und 1925 einen Ruf als Ordinarius an die Universität von Kiel angenommen. Die weitere Laufbahn als Hochschullehrer führte Geiger 1929 von Kiel nach Tübingen und 1936 an die Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg, wo er bis 1945 gewirkt hat. Als Leiter des Laboratoriums für Radioaktivität wurde Walther Bothe der Nachfolger von Geiger. An dieser Stelle ist es angezeigt, einen kurzen Abschnitt zu zitieren, in dem Walther Bothe den Arbeitsstil von Hans Geiger beschrieben und den er anlässlich der Verleihung seines Nobelpreises in Physik im Jahr 1954 geschrieben hat: “ ... Im Juni 1913 wurde ich Geigers Assistent. Das Laboratorium für Radioaktivität bestand damals nur aus zwei Räumen; später, als die Prüfungen radioaktiver Substanzen zunahmen, wurde es auf vier Räume erweitert. Schon dieser geringe Raumbedarf - Geiger hat wiederholt erklärt, er wolle kein Rieseninstitut haben - ist bezeichnend für den Grundzug in Geigers ganzer wissenschaftlicher Persönlichkeit: das Streben nach einer Ökonomie der wissenschaftlichen Arbeit. Dabei hat zweifellos der einzigartige Einfluss Rutherfords nachgewirkt, ebenso sicher begegnete sich dieser Einfluss auch mit einer natürlichen Anlage. Jedenfalls ist ja bekannt, dass die Experimente von Geiger und Marsden über die Zerstreuung von Alphastrahlen am Anfang der gesamten neueren experimentellen Atomphysik stehen. Ich glaube von Geiger hauptsächlich gelernt zu haben, aus einer grossen Zahl möglicher und wohl auch nützlicher Experimente immer dasjenige auszuwählen, das im Augenblick als das vordringlichste erscheint, und dieses dann mit einer möglichst einfachen, daher durchsichtigen und wandlungsfähigen Apparatur durchzuführen.”
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Auch Bothe verband ähnlich wie Geiger Prüftätigkeit an radioaktiven Präparaten mit Forschungsarbeiten. Nachdem Geiger die PTR verlassen hatte, erzielte besonders die Zusammenarbeit Bothes mit Werner Kolhörster herausragende Ergebnisse. Kolhörster arbeitete seit 1920 als Studienrat an verschiedenen Berliner Schulen und kam 1922 wiederum als Gastwissenschaftler an die Reichsanstalt. Sein wissenschaftliches Hauptinteresse galt der kosmischen Strahlung (“Höhenstrahlung”). Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1912 durch Viktor Franz Hess bei Ballonaufstiegen hatte diese Strahlung jedoch noch kein allzu grosses Interesse gefunden. Es wurde aber mit der Zeit klar, dass diese Strahlung von oben her in unsere Atmosphäre eindringt, wobei die Sonne als direkte Quelle ausgeschlossen werden konnte. Die kosmische Strahlung musste daher einen astrophysikalischen Ursprung haben. Kolhörster hatte sich 1913 diesen Fragen zugewandt und verfolgte das Ziel, die Messinstrumente für den Nachweis der Höhenstrahlung weiter zu verbessern. Aus diesem Grund war für ihn die Tätigkeit als Gastwissenschaftler an der PTR besonders attraktiv. Schon 1914 konnte Kolhörster mit einer erreichten Höhe bis zu 9300 m seine Ballonaufstiege fast bis auf den doppelten Wert derjenigen von Hess steigern. Auch Walther Nernst, Präsident der Reichsanstalt in den Jahren 1922 - 1924, interessierte sich schon als Student für astrophysikalische und kosmologische Fragen. Er selbst gibt dafür das Jahr 1886 an, in dem er noch in Graz studierte. Damals hatte ihn die Antrittsrede von Ludwig Boltzmann an der Wiener Akademie besonders fasziniert, in der Boltzmann den Wärmetod des Universums als unausweichliche Folge des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik diskutierte. Seitdem hatte das starke Interesse an astrophysikalischen Fragen Nernst nicht mehr verlassen. Daher verwundert es auch nicht, dass Nernst während seiner Zeit als Präsident der PTR dem Thema der Höhenstrahlung seine besondere Aufmerksamkeit widmete. Nernst hatte insbesondere die Notwendigkeit für grundlegende systematische Untersuchungen erkannt. Damals wurde die Existenz der Höhenstrahlung noch häufig angezweifelt. An der Reichsanstalt wurden Versuche begonnen, Richtung, Ursprung und Natur der Strahlung aufzuklären. Die hierzu erforderlichen apparativen und messtechnischen Entwicklungen wurden in Angriff genommen. Kolhörster untersuchte insbesondere die periodischen zeitlichen Änderungen der Strahlung. Die Arbeiten wurden durch Hochgebirgsmessungen in den Alpen ergänzt. Im Sommer 1923 hielt Kolhörster sich deshalb zusammen mit Nernst und Geiger auf dem Jungfraujoch auf. Eine weitere Messkampagne von Kolhörster auf dem Jungfraujoch folgte 1924. So wurde die Existenz der kosmischen Strahlung allmählich auch in der Fachwelt akzeptiert. Auch bezüglich der Messtechnik für die Untersuchungen der Höhenstrahlung gab es Fortschritte. Bis 1927 wurde hierfür nur das Ionisationskammerverfahren verwendet. Dabei handelt es sich um ein Elektrometer in einem mit Gas gefüllten Gefäss. Die Ionisation der Gasfüllung durch die Höhenstrahlung konnte auf dem Elektrometer abgelesen werden. Ab 1925 wurde in der Höhenstrahlenforschung auch die Wilsonsche Nebelkammer verwendet. Ein wichtiger Schritt war dann 1928 die von Geiger, jetzt in Kiel, zusammen mit seinem Schüler Walther Müller erreichte deutliche Steigerung der Empfindlichkeit mit einem neuen Zählrohrtyp (Geiger-Müller Zählrohr). Bothe und Kolhörster haben schliesslich das empfindlichere Geiger-Müller Zählrohr mit der Koinzidenz-Methode kombiniert. Durch Zählen der Koinzidenzen von zwei hintereinander angeordneten Geiger-Müller Zählrohren konnten sie die genaue Richtung der einfallenden Teilchen
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bestimmen. Durch eine geignete Anordnung von Absorberplatten mit unterschiedlicher Dicke konnten weitere Informationen über die Natur der Strahlung gewonnen werden. Die Experimente von Bothe und Kolhörster können als der Beginn der modernen Erforschung der Höhenstrahlen angesehen werden. Sie waren ferner eine wichtige Stufe auf dem Weg zu den späteren Experimenten mit grossen Beschleunigern. Auch bei den weiteren Forschungsarbeiten Bothes spielte die Koinzidenz-Methode eine zentrale Rolle. Wir nennen als Beispiel seine Untersuchungen der Umwandlungsprozesse von Atomkernen beim Beschuss mit α -Strahlen. Sein Studium verschiedener Kernreaktionen führte zu den ersten Ergebnissen auf dem Gebiet der Kernspektroskopie. Im Jahr 1930 reiste Bothe mit einer Expedition nach Spitzbergen, um die geographische Intensitätsverteilung der Höhenstrahlung zwischen Hamburg und der Eisgrenze am 81. Breitengrad zu messen. Dies war damals auch das letzte wissenschaftliche Projekt Bothes als Mitarbeiter der PTR. 1925 hatte sich Bothe bei Max Planck an der Universität von Berlin mit der Arbeit “Über den Elementarprozess der photoelektrischen Elektronenauslösung” habilitiert. 1929 wurde er Privatdozent und ausserordentlicher Professor an der Universität Giessen und wurde dort 1930 zum ordentlichen Professor ernannt. In Giessen gelang Bothe die Entdeckung angeregter Energieniveaus in Atomkernen. 1932 folgte Bothe einem Ruf an die Universität Heidelberg als Nachfolger von Philipp Lenard. Infolge der Regierungsübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 trat er jedoch von seinem Ordinariat zurück. 1934 wurde er zum Leiter des Instituts für Physik des Kaiser-Wilhelm-Instituts für medizinische Forschung (heute Max-Planck-Institut für Kernphysik) in Heidelberg ernannt und behielt dieses Amt bis 1957. Im Jahr 1954 erhielt er den Nobelpreis in Physik “für die Koinzidenz Methode und seine damit erzielten Entdeckungen”. Werner Kolhörster hatte schon kurz vor Walther Bothe seine Tätigkeit an der PTR beendet. 1928 wurde er Observator des Meteorologisch Magnetischen Observatoriums in Potsdam. 1930 wurde er Leiter eines eigenen Laboratoriums in Potsdam, wo er die Weiterentwicklung moderner Zählmethoden betreiben konnte. Im Jahr 1935 wurde Kolhörster ordentlicher Professor für Strahlenphysik an der Universität Berlin und Direktor des Instituts für Höhenstrahlenforschung in Berlin. Besonders durch Hans Geiger, Walther Bothe und Werner Kolhörster war es dem Laboratorium für Radioaktivität gelungen, einen Spitzenplatz in der Welt zu erobern. Diese internationale Spitzenposition konnte nach dem Weggang der drei genannten Personen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Hier zeigt sich eine charakteristische Schwierigkeit der PTR, dass es nur in seltenen Fällen möglich war, höchst erfolgreiche Mitarbeiter langfristig an sich zu binden. Wir hatten dies auch schon in den Fällen des optischen Labors und des Kältelabors gesehen. Hinzu kommen allerdings noch die politischen Umwälzungen durch die Regierungsübernahme der Nationalsozialisten 1933 und der damit verbundene generelle Niedergang der Forschung in Deutschland.
9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein Einsteins Ankunft in Berlin und die Vorgeschichte Als Albert Einstein im April des Jahres 1914 die Berliner Szene der Physik betrat, trug das Jahr 1905, das in dichter Folge vier seiner bedeutungsschweren Arbeiten hervorgebracht hatte, noch nicht den Nimbus der Faszination eines revolutionären Umbruchs, den man heute mit dem “annus mirabilis” der Physik verbindet. Es sind gerade die Berliner Jahre, die entscheidend zur Entfaltung seiner Ideen beitrugen. In den Jahren 1902 bis 1904 hatte er eine Reihe von Arbeiten zu den Grundlagen der Thermodynamik veröffentlicht, die ein tiefgehendes Studium der physikalischen Grundlagen in Ludwig Boltzmanns Vorlesungen über Gastheorie (1896) erkennen lassen, und die in der statistischen Methodik Josiah Willard Gibbs’ Abhandlung “Elementary Principles in Statistical Mechanics” (1902) vergleichbar sind. Diese Arbeiten machen Albert Einsteins Bemühen deutlich, die physikalischen Grundvorstellungen, die der mathematischen Formulierung vorangehen, ausführlich zu diskutieren. Man kann sie als eine Vorbereitung für die zweite der vier berühmten Arbeiten des Jahres 1905 (Mai) lesen. Sie beschäftigte sich mit der erstmalig im Jahr 1827 beobachteten Brownschen Bewegung und führte die irreguläre Bewegung kleiner Staubteilchen unmittelbar auf die Stoßwirkung einzelner Atome zurück. Drei Jahre später bestätigte Jean Perrin die von Einstein und 1906 von Maryan Smoluchowski aufgestellte Theorie im Experiment; und dies war der erste konkrete Nachweis einer direkten Einwirkung mikroskopischer atomarer Teilchen auf einen makroskopischen Körper. Es kann spekuliert werden, dass Ludwig Boltzmann, nach Woldemar Voigt “das unbestrittene Haupt der theoretischen Physik in Deutschland” zu jener Zeit, die Ergebnisse über die Brownsche Bewegung bereits 1896 aus seinen Überlegungen zur Kinetischen Gastheorie hätte folgern können; gleichwohl ist es eher unwahrscheinlich, dass er Einsteins Arbeit in seinem letzten Lebensjahr (1905/06) besonderes Interesse zugewandt hat. Auch die erste der Arbeiten des Jahres 1905 (März) war der Evidenz einer atomaren Größe gewidmet; aber hier handelte es sich nicht um das Atom, sondern um ein - im strengen Sinne des griechischen ατ oμ oζ - wirklich unteilbares Teilchen: das Photon. Einstein führte dieses "Lichtteilchen", das seine Energie auf ein gestoßenes Elektron im Elementarakt übertragen kann, als unmittelbar beobachtbare physikalische Größe ein, und er konnte mit der LichtquantenHypothese den lichtelektrischen Effekt vollständig erklären. Dieser Effekt - das Auftreten einer elektrischen Spannung in einem mit ultraviolettem Licht bestrahlten Metall - war als ein Nebenresultat erstmalig 1887 von Heinrich Hertz beobachtet und in der Folge von Wilhelm Hallwachs, Philipp Lenard, Joseph John Thomson, Julius Elster und Hans Friedrich Geitel experimentell untersucht worden. Hoffte Max Planck seit der Aufstellung der Formel für die Wärmestrahlung im Jahr 1900, eine tiefer (als die Quantentheorie) liegende Theorie würde eine Begründung für den durch das Wirkungsquantum h bestimmten kleinsten Wert der Photonenenergie ( ε = hν ist der kleinste Energiewert der Strahlung der Frequenz ν ) ergeben, so führte Einstein 1905 die Photo-
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_9, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein
nen als eigenständige Lichtkorpuskel ein. Diese Arbeit brachte ihm den Nobelpreis für Physik des Jahres 1921 ein; und dies wohl auch deshalb, weil sie im Rahmen seiner vier Arbeiten des Jahres 1905 eine direkte technische Anwendung verhieß - wie es die Bedingungen des Stifters Alfred Nobel vorsehen. Das Wort Quantum trat im Rahmen der modernen Physik erstmalig wohl im Titel einer Arbeit von Ludwig Boltzmann aus dem Jahr 1883 auf, und es erhielt in der Gestalt des Lichtquants erstmalig einen konkreten physikalischen Inhalt in der Photonentheorie Albert Einsteins - als das Ergebnis der Erkenntnisse der Generationenfolge Boltzmann - Planck - Einstein. Die dritte der Arbeiten des Jahres 1905 (Juni), die vielleicht am häufigsten genannte, beinhaltet die Spezielle Relativitätstheorie. Sie gründet sich auf die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum als die Maximalgeschwindigkeit für die räumliche Ausbreitung von Information. In dieser Form definiert sie physikalisch die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, und bestimmt damit die Kausalität von Ursache und Wirkung. Auch sie sollte weitreichende Konsequenzen für die Gestaltung der Grundlagen der Physik haben. Nämlich, dass (1) die RaumZeit ein geometrisches Ganzes ist, (2) physikalische Größen lokalisierbar sind, d.h., dass sie in kleinsten Bereichen räumliche Freiheitsgrade besitzen, (3) der Wert einer physikalischen Größe an einer vorgegebenen Stelle schon dann bestimmt ist, wenn man ihn in einem Bereich der Umgebung kennt. Wir werden auf die Geschichte der Speziellen Relativitätstheorie im Kapitel 12 in dem Zusammenhang der Messung von Ort und Zeit kurz eingehen. Die vierte Arbeit des Jahres 1905 (September) enthält mit der berühmten Formel E = mc2 die Aussage, dass die physikalischen Größen Energie und Masse einander äquivalent sind. Das wohl bekannteste Beispiel für die Anwendung dieser Formel ist die Energiegewinnung durch Kernzertrümmerung. Die Frage, was eigentlich diese Äquivalenz physikalisch bedeutet, d.h. in welchem Sinn die Größen Masse und Energie als gleichberechtigt - oder gar als ununterscheidbar - betrachtet werden können, erhellt ein ganz aktuelles Ergebnis der Elementarteilchenphysik in eindrucksvoller Weise: Es handelt sich um den Versuch, die Masse von Protonen und Neutronen, die bekanntlich 99% der sichtbaren Materie ausmachen, mit Hilfe (einer speziellen Version) der Quantenelektrodynamik zu berechnen. Diese, seit den 1970er Jahren entwickelte Theorie führt zu der Einsicht, dass die Größe Masse nur als das Äquivalent derjenigen Energie repräsentiert wird, die in der Bewegung von masselosen (!) subatomaren Teilchen - den Gluonen - enthalten ist, die gemeinsam mit Quarks die Elementarteilchen unter der Wirkung der starken Kraft zusammenhalten. Die Physik-Nobelpreise des Jahres 2004 wurden für diese Ergebnisse an Frank Wilczek, David J. Gross und H. David Politzer vergeben. Das Schlagwort von “Masse ohne Masse” hatte John A. Wheeler schon 1962 geprägt. Sollte sich dies auf breiterer Grundlage bestätigen, so würde es bedeuten, dass die Größe Energie die formale Energie/Masse-Äquivalenz dominiert. - Man kann hier eine gewisse Verbindung zu dem Titel der vierten Arbeit aus dem Jahr 1905 “Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?” herstellen. Ferner kann man auf die - wenn auch weitentfernte - Analogie hinweisen, die zwischen den masselosen Photonen als Vermittler der elektromagnetischen Kraft (die bestimmend ist für die Struktur der Atomhülle) und den masselosen Gluonen als Vermittler der starken Kraft (die den Atomkern zusammenhält) besteht. Der letztgenannte Hinweis ist geeignet, aus moderner Sicht deutlich werden zu lassen, wie mutig Einsteins Einführung von masselosen Photonen als Teilchen, die den Gesetzen der Mechanik genügen sollen, gewesen ist. Die weittragenden Konsequenzen der vier Arbeiten des Jahres 1905 konnten sich freilich erst
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im Zuge des Aufbaus der modernen Physik entfalten, und es verwundert daher nicht, dass den frühen Arbeiten Einsteins in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch mit einer gewissen Skepsis begegnet wurde. Um an den eingangs erwähnten Terminus “annus mirabilis” anzuknüpfen: mirabilis kann als wunderbar, erstaunlich, aber in der Form eines Substantivs auch als “wunderliche Meinung” übersetzt werden. Wie tiefgehend Einsteins Konzeptionen das physikalische Denken um die Jahrhundertwende berührten, wird an dem folgenden Zitat deutlich: “Zusammenfassend kann man sagen, daß es unter den großen Problemen, an denen die moderne Physik so reich ist, kaum eines gibt, zu dem nicht Einstein in bemerkenswerter Weise Stellung genommen hätte. Daß er in seinen Spekulationen gelegentlich auch über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie z. B. in seiner Hypothese der Lichtquanten, wird man ihm nicht allzuschwer anrechnen dürfen; denn ohne einmal ein Risiko zu wagen, läßt sich auch in der exakten Naturwissenschaft keine wirkliche Neuerung einführen.” Dieses Zitat stammt aus dem am 12. Juni 1913 von Max Planck verfassten Wahlvorschlag für Albert Einstein zur Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Akademie der Wissenschaften - und dieser trägt die Unterschriften Planck, Nernst, Rubens, E. Warburg. (AAW Berlin, II-IIIa - Bd. 19, Bl. 86-87; Inventar A Nr. 1). Sie alle zählten zu den Pionieren der aufkommenden modernen Physik im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts. Deshalb ist der konservative Tenor des Zitats eher als Ausdruck intensiver und kritischer Auseinandersetzung mit dem Neuen zu verstehen und spricht für den Mut zu einer bis in die heutigen Tage einmaligen Forschungsinitiative. Hören wir in einen Bericht von Hans-Jürgen Treder (1979) über den genius loci und die Eckpunkte der entstehenden Quantenphysik im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts: “Für Einsteins Forschungen zur Quantentheorie in seinen ersten Berliner Jahren von 1914 - 1925 war bedeutungsvoll, daß Berlin, das Physikalische Institut der Universität, das Physikalisch-Chemische Institut und die Physikalisch-Technische Reichsanstalt seinerzeit führende Zentren in den experimentellen Forschungen zur frühen Quantentheorie waren. Die Entwicklung der frühen Quantentheorie ist in Berlin nicht nur durch Planck inauguriert worden, sondern Berlin war im 1. Viertel unseres Jahrhunderts eine der Stätten, an denen die Quantentheorie bis zur Quantenmechanik vorangetrieben wurde. Nach Plancks fundamentaler Entdeckung des Wirkungsquantums begründete W. Nernst durch seine Forschungen im Physikalisch-Chemischen Institut den sogenannten 3. Hauptsatz der Thermodynamik, das Nernstsche Wärmetheorem. Dieses Theorem ist tatsächlich der erste Nachweis eines makrophysikalischen Quanteneffekts, und seine quantentheoretische Deutung und Implikation waren wegweisend für Plancks und Einsteins Arbeiten zur Quantenstatistik. Schließlich war es für Einstein 1924 das entscheidende Argument für die Berechnung der Interferenzterme seiner Quantenstatistik des idealen Gases, daß nur durch diese Terme die Verträglichkeit der Zustandsgleichung idealer Gase mit dem Nernstschen Wärmesatz besteht.” (Albert Einstein in Berlin - 1913-1933, Teil I, bearbeitet von Christa Kirsten und Jürgen Treder, Akademie-Verlag Berlin 1979). Dementsprechend gerät der Versuch, eine Auswahl der wissenschaftlichen Arbeit Albert Einsteins an Fragestellungen der Metrologie und der Tätigkeit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt im Zusammenwirken mit den Instituten der Universität zu reflektieren, zu einem Spiel zwischen (i) grundlegenden Prinzipien der Physik, (ii) Modellen als idealisierte Nachbildungen konkreter Objekte und (iii) der Erfindung technischer Anordnungen für die Evidenz physikalischer Gesetzmäßigkeiten in konkreten Situationen. Drei Referenzpunkte aus der Atomund Quantenphysik sollen hier und im folgenden Kapitel erläutert werden: (1) Der magneto-
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9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein
Abbildung 9.1: (oben) Das Institut für Physikalische Chemie in der Bunsenstrasse, in dem Walther Nernst 1905 auf seinen Lehrstuhl berufen wurde (K. Mendelssohn, Walther Nernst und seine Zeit, Weinheim 1976). (Mitte) Das Physikalische Institut der Universität von Berlin, Reichstagsufer ( Zeichnung von P. Schick). (unten) Das Observatorium der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg, Abbestrasse (PTB).
mechanische Parallelismus des Elektrons (Einstein - de Haas Experiment 1915) und (2) der Nachweis der Energieerhaltung im quantenmechanischen Elementarakt (Koinzidenzexperiment von Geiger und Bothe 1925); und (3) - in Kapitel 10 - der Verzicht auf die Individualität der Elementarteilchen (Quantenstatistik von Bose-Einstein (1924) und Fermi-Dirac (1926)). Das Kapitel 11 ist einem allgemeineren Thema gewidmet: einer als sehr merkwürdig anmutende Ansicht Einsteins von Fundamentalkonstanten, die im Licht moderner Vorstellungen über die Selbstkonsistenz der Fundamentalkonstanten und die Einheitlichkeit der Quantennormale als durchaus folgerichtig erscheint.
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Das Einstein - de Haas Experiment 1915 Bald nach seiner Ankunft in Berlin erbrachte Einstein gemeinsam mit Wander Johannes de Haas mit einem Resonanzexperiment im magnetischen Labor der PTR den Nachweis der sogenannten Ampère’schen Molekularstrom-Hypothese. Diese besagt, dass die Ursache des Magnetismus in materiellen Körpern in der Existenz von molekularen Elementarmagneten in Form kreisender elektrischer Ladungen besteht, die - als Wirkung des Kreisstromes - ein zur Kreisebene senkrecht orientiertes Magnetfeld erzeugen. Die Idee des Einstein - de Haas Experiments besteht darin, die Vorstellung der Ampère’schen Molekularstrom-Hypothese auf den experimentellen Nachweis eines um eine Achse rotierenden Elektrons zu reduzieren. Nach der klassischen Vorstellung besitzen Elementarmagnete sowohl ein magnetisches Moment μorbit als auch einen mechanischen Drehimpuls Lorbit ; und dies schafft eine Verbindung zwischen dem Bild eines kontinuierlichen elektrischen Stromes und der Vorstellung von der elektrischen Ladung als ponderables Partikel. Die klassische Theorie verlangt die Parallelität von magnetischem Moment und mechanischem Drehimpuls: μorbit = g(e/2me )Lorbit (e < 0 Ladung eines Elektrons; me seine Masse). Die Zahl g wird später gyromagnetisches Verhältnis oder Landéscher g-Faktor heißen und eine zentrale Bedeutung in der Physik des Atoms und der Elementarteilchen erlangen. Das Design des Einstein - de Haas Experiments (siehe Bild 9.2) ist von genialer Einfachheit: Es beruht allein auf der Umsetzung des resultierenden magnetischen Moments μ der durch An in der Probe ausgerichteten Elementarmagnete auf das resultierende legen eines Magnetfeldes H Drehmoment L der Probe als Messgröße. Werden die magnetischen Momente des metallischen Zylinders, der von dem frei drehbar aufgehängten, anfänglich ruhenden, Quarzfaden getragen wird, durch Anlegen eines Magnetfeldes plötzlich geordnet, so erhält der Faden mit dem resultierenden magnetischen Moment (des Zylinders) zugleich einen resultierenden mechanischen Drehimpuls. Dieser muss aber von dem Faden kompensiert werden, weil der Drehimpuls des ganzen Systems (den wir als verschwindend angenommen hatten, da der Faden beim Einschalten des Magnetfeldes in Ruhe war) eine Erhaltungsgröße ist. Deshalb reagiert das System auf das Einschalten des Magnetfeldes mit dem Anfachen einer Torsionsschwingung des Quarzfadens. Fast 100 Jahre hatte die Molekularstrom-Hypothese Ampère’s unbewiesen im Raum gestanden. Als Motiv für die Durchführung des Experiments wird Einstein in einer Rückschau aus dem Jahr 1930 auf seine Tätigkeit im Patentamt in Bern und seine Erfahrungen mit Gyroskopen und Kreiselkompassen verweisen: “I was led to the demonstration of the nature of the paramagnetic atom through technical reports I had prepared on the gyromagnetic compass.” [Einstein to E. Meyerson, 27.01.1930, Einstein Archiv Jerusalem]. Das Gyroskop ist ein Gerät zum Nachweis der Wirkung einer äußeren Kraft auf einen rotierenden Kreisel. Der Kreisel ist ein sich schnell drehender Körper, dessen Drehachse in einem Rahmen so gelagert ist, dass er in drei orthogonalen Richtungen frei rotieren kann, und - da der Drehimpuls eine Erhaltungsgröße ist - auf die Einwirkung einer äußeren Kraft mit einer Kippung der Lagerung reagiert. Die Bezeichnung Gyroskop wurde von Léon Foucault im Jahr 1851 eingeführt. Er nutzte das Gyroskop 1878 zum Nachweis der Erdrotation. Mit g = 1.02 entsprach das experimentelle Ergebnis den theoretischen Erwartungen für einen paramagnetischen Probekörper. Damit war der Parallelismus prinzipiell bewiesen. Indessen war das Experiment nicht mit einer paramagnetischen, sondern mit einer ferromagnetischen Probe ausgeführt worden, - und in dieser ist nicht der Bahndrehimpuls (Lorbit ) des kreisenden Elek-
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9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein Der magneto-mechanische Parallelismus
Die Idee: Elementarmagnete haben: ein magnetisches Moment morbit
r
einen mechanischen Drehimpuls Lorbit
und
e, me
I
r m orbit
r Lorbit r
r
Die klassische Theorie verlangt ihre Parallelität: m orbit = g (e 2me )Lorbit
Das Experiment: Quarzfaden frei drehbar
mit Magnetfeld
ohne Magnetfeld
Probe
H
Li ch tz ei ge r
To rs
ion ssc hw ing un g
Abbildung 9.2: Die magneto-mechanische Parallelität und das Schema des Einstein - de Haas Experiments (PTB).
trons, sondern sein Eigendrehimpuls oder Spin (Lspin =:s) für den Magnetismus verantwortlich. Der Wert g = 2 hätte erwartet werden sollen. Der Grund für die Diskrepanz des Faktors 2 zwischen Theorie und Experiment besteht in der sogenannten “halbzahligen Quantisierung” des (um die eigene Achse) rotierenden Elektrons im Unterschied zur “ganzzahligen Quantisierung” des (auf einer Bahn) umlaufenden Elektrons, - eine fundamentale Differenz, welche die gesamte Atomphysik durchzieht. Aber das war 1915 noch nicht bekannt. Erst mit der Theorie des Ferromagetismus von Werner Heisenberg aus dem Jahr 1928 verstand man den Zusammenhang. Tatsächlich führten empfindlichere Wiederholungen des Experiments zu g ≈ 2. Der g - Faktor ist ein wichtiger Parameter der Theorie der gyromagnetischen Effekte und des anomalen Zeeman Effekts; - es sollte bis in die 1940er Jahre dauern, bis man verstand, dass er nicht exakt gleich 2 ist. Wie eine Ironie kann der Fehlschlag des Einstein - de Haas Experiments erscheinen: Verstellt sich doch die Natur, indem sie in der originalen Ausführung des Experiments den
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(klassischen) Anschein g ≈ 1 erweckt, und gleichzeitig mit den Zweifeln an der experimentellen Korrektheit in der Wiederholung die Entdeckung der wirklichen Verhältnisse mit g ≈ 2 provoziert, und (letztlich) einer theoretischen Aufklärung zuführt. Denn trotz des experimentellen Irrtums war das Ergebnis des Einstein - de Haas Experiments die prinzipielle Bestätigung des magneto-mechanischen Parallelismus, und es erbrachte erstmalig die gyroskopische Evidenz des Spins, - und damit war es zugleich der erste physikalische Ansatz für die weitverbreitete Technik der Magnetoresonanz in der Tomografie. Der Nachweis der Molekularstrom-Hypothese Ampère’s durch das Einstein - de Haas Experiment führt zurück in die Geburtsstunde des Elektromagnetismus in den frühen 1820er Jahren. Es war eine dramatische Periode: André Marie Ampère lehrte damals gemeinsam mit Amedeo Avogadro, dem Begründer des Atomismus in der Chemie, am Eccole Polytechnique in Paris. Ein Bericht von Dominique Francois Arago in der Académie de Science am 4. September des Jahres 1820 über die wenige Monate zuvor von Oersted in Kopenhagen entdeckte magnetische Wirkung des elektrischen Stromes hatte Ampère zur Aufstellung der Molekularstrom-Hypothese angeregt. Bereits am 25. September 1820 trug er über die Theorie in der Académie vor. Sie verband zwei grundlegende Aspekte des Magnetismus miteinander: (1) Der Magnetismus der Materie wird von elektrischen Kreisströmen erzeugt, und (2) magnetische Quellen besitzen somit den Charakter von Dipolen. Beide Aussagen widersprachen - ebenso wie das Oerstedsche Gesetz - der berühmten These Coulomb’s aus den 1780er Jahren, dass zwischen Elektrizität und Magnetismus keinerlei Wechselbeziehung bestehe. In wenigen Wochen war die Idee des Elektromagnetismus geboren; aber ein Jahrhundert lang sollte die Aussage als Hypothese im Raum stehen. Erst das Bohrsche Atommodell und dann das Ergebnis des Einstein - de Haas Experiments ergaben eine Bestätigung. - Das sollte allerdings nur für die sehr kurze Zeitspanne bis zur Entdeckung des Eigendrehimpulses des Elektrons, oder Spins, und seiner Bedeutung für den Magnetismus ohne Einschränkungen gelten. Das Ergebnis formuliert man in heutiger Schreibweise als das gyromagnetische Verhältnis oder den Landé-Faktor g , der im Bild 9.3 definiert ist. Das Einstein - de Haas Konzept beruhte auf der Annahme, dass der gesamte Drehimpuls J durch den Bahndrehimpuls L gegeben ist: J = L. Die Existenz des Spins war noch unbekannt, also S = 0. Als Ergebnis musste demnach g = 1 erwartet werden; und gemessen wurde im ersten Experiment (1915) g = 1.02 ± 0.10. Nach Aufstellung der quantenmechanischen Theorie (1928) wurde für eine ferromagnetische Probe L = 0 und J = S, d.h. g = 2 erwartet. Die Abbildung 9.3 zeigt die Entwicklung der Messungen des gyromagnetischen Verhältnisses zwischen 1915 und 1962. De Haas - er hatte im Jahr 1912 mit der Arbeit “On the Compressibility of Hydrogen Gas at Low Temperatures” bei Heike Kamerlingh Onnes in Leiden promoviert - kehrte nach Abschluss des Experiments nach Holland zurück, zunächst als Assistent von Hendrik Antoon Lorentz im Teyler Institute in Haarlem, später als Professor für Physik in Delft (1917), in Groningen (1922), und er lehrte von 1924 bis 1948 Physik in Leiden als Nachfolger von Kamerlingh Onnes. Die kurzfristige Abreise von de Haas aus Berlin stand wohl auch im Zeichen sich verstärkender patriotischer Haltungen in Deutschland. Einstein stand in enger Verbindung mit Kamerlingh Onnes und Hendrik Antoon Lorentz, dem Schwiegervater von de Haas. Aus der Forschungstätigkeit von de Haas heben wir zwei Arbeitsrichtungen hervor, die beide mit Arbeiten an der PTR und später an der PTB in enger Beziehung stehen. Das ist zunächst die Supraleitung. Max von Laue berichtet 1951 in seiner Autobiographie (Gesammelte Schriften und Vorträge, Braunschweig 1961)
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9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein r L
r
Magneto-mechanischer Faktor := m
r m : magnetischesr Moment eines Atoms, Kerns oder Elementarteilchens r r oder Spinmoment Lspin L : Drehimpuls Lorbit r r mspin = nhe 2m m orbit = e w r 2 2 r r Lspin = nh 2 L orbit = m w r 2 Landéscher g-Faktor:
g :=
r r m L e 2m
=1+
J ( J + 1) + S ( S + 1) - L( L + 1) 2 J ( J + 1)
J , S , L Quantenzahlen des resultierenden Bahndrehimpulses, Spindrehimpulses und Gesamtdrehimpulses
g
B
2,2 CHATTOCK, BATES ARVIDSSON
2,0
SUCKSMITH, BATES
STEWART
B
SCOTT
B
B
B
BECK
1,8
1,6 DH
B= E= DH =
1,4
1,2
DH
1,0
E, DH
BARNETT EINSTEIN DE HAAS
B DH
1908
15
17
19
21
23
25
33
62
Jahre
Abbildung 9.3: Das gyromagnetische Verhältnis und experimentelle Werte (1915 - 1962). (P. Galison, Historical Studies in the Physical Sciences 12, 285 (1982)).
über die experimentelle Bestätigung seiner Berechnung des magnetischen Feldes in supraleitenden Drähten: “Mehrere Jahre hindurch - [von 1925] bis 1934 - war ich theoretischer Berater der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und kam in persönlichen und wissenschaftlichen Kontakt mit Walther Meissner, den ich übrigens schon aus den Planckschen Übungen kannte. Er war seitdem zum Mitglied der Reichsanstalt und Leiter ihres Kältelaboratoriums aufgerückt. Ihn interessierte besonders die Supraleitung, jenes merkwürdige Verschwinden des elektrischen Widerstandes, welches manche Metalle bei Abkühlung auf Heliumtemperaturen zeigen. Man wußte, daß ein hinreichend starkes Magnetfeld sie wieder aufhebt; doch zeigten die Messungen eine unverstandene Abhängigkeit der dazu nötigen Feldstärke von der Richtung des Feldes gegen die Achse des Drahtes; nur in dieser Form untersuchte man damals die Metalle. Da fiel mir ein, daß der supraleitende Draht ja seinerseits das Feld verzerrt, und zwar in dem Sinne, daß an seiner
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Oberfläche erheblich größere Feldstärken auftreten, als man in einiger Entfernung von ihm mißt. Meine Vermutung, daß tatsächlich immer die gleiche Feldstärke zur Aufhebung der Supraleitung erforderlich sei, ließ sich nun leicht quantitativ fassen und auf andere Körperformen, z. B. supraleitende Kugeln, übertragen. Dies trug ich 1932 auf der Physikertagung zu Bad Nauheim beim Empfang der Planck-Medaille vor. Und die daraufhin angestellten Messungen von W. J. de Haas und Mitarbeitern im Kältelaboratorium zu Leiden erbrachten in den folgenden Jahren die volle Bestätigung. Später habe ich mich dann noch mit der Thermodynamik der Supraleitung und, anschließend an Fritz und Heinz London, mit einer Erweiterung der Maxwellschen Theorie befaßt, welche die Supraleitung mit einschließen soll.” Eine andere Arbeitsrichtung von de Haas betrifft das anomale Verhalten des elektrischen Widerstandes von Metallen und Halbleitern, die einem starken orthogonalen Magnetfeld ausgesetzt sind. Diese Erscheinungen, der “de Haas - van Alphen Effekt” und der “Shubnikov - de Haas Effekt” waren auch Schwerpunkt der Arbeiten von Gottfried Landwehr und seinen Mitarbeitern Erich Braun und Leender Bliek in der PTB in den 1960er Jahren. Auch Klaus von Klitzing war in dieser Zeit in diesem Labor als Gast tätig, gut zehn Jahre bevor er im Jahr 1980 in Grenoble die sensationelle Entdeckung des (ganzzahligen) Quanten-Hall Effekts machte, die ihm den Nobelpreis für Physik des Jahres 1985 eintrug. Albert Einstein wandte sich nach Abschluss des Experiments wieder intensiv den Fragen der Allgemeinen Relativitätstheorie zu. In einem Brief schrieb er 1915: “Diese magnetische Arbeit hätte z. B. jeder Lump machen können. Aber die allgemeine Relativität ist von anderer Sorte. Dies Ziel nun wirklich erreicht zu haben, ist die höchste Befriedigung meines Lebens, wenn auch kein Fachgenosse die Tiefe und Notwendigkeit dieses Weges bis jetzt erkannt hat. Eine der beiden wichtigen experimentellen Konsequenzen wurde übrigens schon glänzend bestätigt ... nämlich die Verschiebung der Spektrallinien durch das Gravitationspotential.” (zitiert nach M. Flückinger: Albert Einstein in Bern, Bern 1974, S. 164). Mit Schreiben vom 22. März 1916 wird dem deutschen Kaiser die Berufung Albert Einsteins in das Kuratorium der PTR in Vorschlag gebracht. Darin heißt es: “..., daß er auch als Experimentator sich betätigt und insbesondere in der Reichsanstalt vor kurzem in einer höchst wichtigen Arbeit einen experimentellen Beweis für die Existenz der Ampère’schen Molekularströme im Magneten geliefert hat. Er interessiert sich auch für praktische Fragen, so daß man sich von seiner Mitwirkung an den Arbeiten der Reichsanstalt besonders viel versprechen kann.” (Bundesarchiv, RMdI Nr. 13148, Bl. 231). Dieser Text stammt vermutlich aus der Feder des Präsidenten Emil Warburg, und der Hinweis auf Fragen praktischer Bedeutung mag in diesem Zusammenhang befremden. Immerhin stellt die Anstalt seit der Präsidentschaft von Friedrich Kohlrausch das Kompendium ihrer Messtechnik unter den Titel "Praktische Physik". Seit der ersten Auflage 1870 von Kohlrausch’s “Praktischer Physik” sind bis in die Gegenwart umfangreiche Neuauflagen erschienen, im Jahr 1944 beispielsweise die 19. Auflage mit einem neuen Herausgeber. Auch ist die PTR/PTB das einzige der Nationalen Metrologie Institute, das Technik und Physik als Ausdruck der Verknüpfung von Erfinden und Entdecken gleichwertig im Namen trägt, - wenngleich Emil Warburg in jener Zeit das Wortpaar noch stärker im Sinne von τε χνη und ϕβ νσ ιζ : Messkunst und Natur, interpretiert haben mag als das heute möglich ist. Albert Einstein hat in seiner Tätigkeit im Kuratorium der PTR und durch seine wissenschaftliche Arbeit allgemein zahlreiche Anregungen zum Thema Messkunst und deren Prinzipien gegeben. Der folgende Abschnitt erläutert dies an einem
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9 Die Reichsanstalt und Albert Einstein
Beispiel aus der (frühen) Quantenphysik, dem von ihm vorgeschlagenen Koinzidenzexperiment als Nachweis der Einhaltung der Erhaltungssätze im atomaren Elementarakt. Im anschliessenden Kapitel besprechen wir als ein weiteres Beispiel die Einführung der Quantenstatistik als eine Voraussetzung für die Verwendung von Quanteneinheiten und deren Abzählung in der Messtechnik.
Das Koinzidenzexperiment von Geiger und Bothe 1925 In der Berliner Zeit Albert Einsteins formierte sich die frühe Quantentheorie Niels Bohrs als eine Modelltheorie für Atome und Moleküle und für deren Ordnungsschema in Gestalt des Periodensystems der Elemente. Das Bohr’sche Atommodell konnte die Balmer-Serie des Wasserstoffspektrums (1885) und das Resultat des Franck-Hertz Versuchs (1912) vollständig erklären, und es setzte sich damit rasch durch. Man grenzt diese Entwicklung zeitlich ein zwischen der Aufstellung des ersten quantitativen Atommodells: N. Bohr : “Über die Konstitution der Atome und Moleküle” (1913) und einer Arbeit von N. Bohr, H. A. Kramers und J. C. Slater: “Über die Quantentheorie der Strahlung” (1924) [Z. Phys. 24, 69 (1924)], welche die Grenzen der Modellbildung aufzeigte und eine gewisse Krisis sichtbar werden ließ. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre wurde nämlich die Dualität des Wellen- und Teilchencharakters des Lichts manifest, und es wurde damit sichtbar, dass eine Reflexion auf derartige Zusammenhänge der frühen Atomtheorie fremd ist. Zugleich zeigte die Krisis, dass ein Übergang von der Form einer Modelltheorie zum Typ einer Prinzipientheorie (der quantenphysikalischen Dynamik) den weiteren Weg weisen könnte, - wie er dann im Aufbau der modernen Quantentheorie, der Quantenmechanik Heisenbergs (1925) und der Materiewellentheorie Schrödingers (1926), Gestalt annahm. Bereits die Überschriften der Schlüsselarbeiten: “Über quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen” (Heisenberg) und “Quantisierung als Eigenwertproblem” (Schrödinger) machen den strukturellen Wandel deutlich. An der Wende von der frühen zur modernen Quantentheorie stand das Koinzidenzexperiment von Bothe und Geiger in der PTR; es sollte das experimentum crucis für die Entscheidung der Frage sein, ob die Erhaltungssätze für die Energie und den Impuls in der Wechselwirkung zwischen Licht und materiellen Teilchen beim einzelnen Elementarakt oder nur im statistischen Mittel einer Gesamtheit vieler Elementarakte gültig sind. Die Physik der Strahlung hat beim Aufbau der frühen Quantentheorie Pate gestanden, wie die folgende Liste der einschlägigen Arbeiten zeigt.
1900 1905 1916 1917 1917 1919
M. Planck: Zur Theorie der Energieverteilung im Normalspektrum A. Einstein: Über einen die Erzeugung und Umwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt A. Einstein: Strahlungs-Emission und -Absorption nach der Quantentheorie A. Einstein: Quantentheorie der Strahlung N. Bohr: On the quantum theory of line spectra A. Sommerfeld: Atombau und Spektrallinien
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1923 1924 1924 1924 1925
A. H. Compton: A Quantum Theory of the Scattering of X-Rays by Light Elements (gemeint ist hier die Streuung von Röntgenstrahlen an quasifreien Elektronen) S. N. Bose: Plancks Gesetz und die Lichtquantenhypothese N. Bohr, H. A. Kramers, J. C. Slater: Über die Quantentheorie der Strahlung W. Bothe, H. Geiger: Ein Weg zur experimentellen Überprüfung der Theorie von Bohr, Kramers und Slater W. Bothe, H. Geiger: Über das Wesen des Comptoneffekts: ein experimenteller Beitrag zur Theorie der Strahlung
Die Kopenhagener Quantentheorie der Strahlung trägt die Handschrift von Bohr, Kramers und Slater. Als Hendrik Anthony Kramers - er hatte in Leiden bei Paul Ehrenfest, dem Nachfolger Hendrik Antoon Lorentz’s, theoretische Physik studiert - im September des Jahres 1916 nach Kopenhagen kam, war Niels Bohr gemeinsam mit J. C. Slater damit beschäftigt, auf der Basis seiner Quantentheorie des Atoms eine Theorie der Strahlung zu entwickeln. Der aus den Vereinigten Staaten stammende John Clarke Slater war zu jener Zeit Forschungsstudent Bohrs, - er ist später mit bedeutenden Beiträgen zu den Grundlagen der Vielteilchentheorie, zum Bändermodell des Festkörpers und zur Physik der Mikrowellen hervorgetreten. In der quantentheoretischen Formulierung der Strahlungstheorie der Kopenhagener Schule sollte die Wellennatur der Strahlung die beherrschende Rolle haben. Dieser Absicht stand jedoch ein Kernproblem entgegen, das letztlich zu der tiefen Krisis der frühen Quantentheorie führen sollte: Die Frequenz ν der vom Atom - der Bohr’schen Bedingung hν = En − Em entsprechend ausgesandten Strahlung konnte nicht mit den kinetischen Frequenzen des in den Bahnen (der diskreten Energieniveaus En , Em ) umlaufenden Elektrons in eine unmittelbare Verbindung gebracht werden; - ein Konflikt zwischen der (kinetischen) Umlauffrequenz eines materiellen Teilchens und der (optischen) Frequenz der emittierten Lichtwelle. Bohr versuchte diese Schwierigkeit durch sein berühmtes Korrespondenzprinzip zu überwinden - oder doch wenigstens abzuschwächen: Die Frequenz der Strahlung sollte ein Mittelwert der kinetischen Frequenzen des Elektrons auf den Umlaufbahnen sein, die sich bei Annäherung an große Quantenzahlen - also auf den äußeren Bahnen der Atomhülle - einander nähern. Auch nahm er an, dass die Polarisation und die Intensität der Strahlung bei großen Quantenzahlen durch die Fourierkomponeten des Umlaufs bestimmt sind, und ferner, dass man daraus auch einen Hinweis auf die Verhältnisse bei kleinen Quantenzahlen gewinnen könne. Kramers entwickelte in seiner Thesis, die er in Leiden im Jahr 1919 vorlegte, die mathematischen Methoden für diese Vorstellung. Bohr, Kramers und Slater veröffentlichten diese Theorie im Januar des Jahres 1924. Einsteins Lichtquanten kamen darin nicht vor. - Hören wir dazu eine Passage aus dem Nobel-Vortrag “Die Koinzidenzmethode” von Walther Bothe aus dem Jahr 1954, in dem er einleitend der Forscherpersönlichkeit von Hans Geiger, der 1945 verstorben war, eine beeindruckende Würdigung widmete: “In dieser Arbeit [gemeint ist die Arbeit von Bohr, Kramers und Slater des Jahres 1924] wurde auf eine Möglichkeit hingewiesen, den Dualismus Welle-Korpuskel in der damaligen Beschreibung der Eigenschaften des Lichts zu deuten. Darunter ist die experimentelle Tatsache zu verstehen, dass Licht aller Wellenlängen sich bei der reinen Ausbreitung wie ein Wellenvorgang verhält (Interferenz), dagegen bei der Umsetzung in andere Energiearten wie Teilchen (Licht-
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quanten, Photoeffekt, Compton-Effekt). Die neue Idee bestand darin, dem Energie-Impulssatz seine strenge Gültigkeit abzusprechen. Im Einzel- oder Elementarprozess, solange nur ein einzelner Emissionsakt im Spiele war, sollten die Erhaltungssätze nur statistisch erfüllt sein. Erst für eine makroskopische Gesamtheit von sehr vielen Elementarvorgängen sollten die Erhaltungssätze sich einspielen, so dass mit vorliegenden Erfahrungstatsachen kein Widerspruch entstand. Es war sofort klar, dass diese Frage experimentell entschieden werden musste, bevor ein sicherer Fortschritt erzielt werden konnte. ... Die Frage an die Natur, die es experimentell zu beantworten galt, hiess also: wird im Elementarprozess jeweils genau ein Streuquant und ein Rückstoßelektron gleichzeitig ausgesandt, oder besteht nur eine statistische Kopplung zwischen beiden?” Das Experiment, von Albert Einstein vorgeschlagen, wurde unverzüglich an der PTR von Bothe und Geiger in Angriff genommen. Im Juni des Jahres 1924 erschien die erste der beiden oben genannten Arbeiten von W. Bothe und H. Geiger. (W. Bothe, H. Geiger, Ein Weg zur experimentellen Nachprüfung der Theorie von Bohr, Kramers und Slater, Z. Phys. 26, 44 (1924)). Walther Bothe, Doktorand von Planck, war im Jahr 1913 als Assistent von Hans Geiger zur PTR gekommen. Das Kapitel 8 ist einer ausführlichen Darstellung der Arbeiten des Laboratoriums für Radioaktivität gewidmet. Eine bemerkenswerte Charakteristik der Ökonomie der wissenschaftlichen Handschrift Geigers, die auch ein Licht auf die PTR insgesamt wirft, gibt Bothe in der zuvor erwähnten Einleitung seines Nobel-Vortrags: “Ich glaube von Geiger hauptsächlich gelernt zu haben, aus einer grossen Zahl möglicher und wohl auch nützlicher Experimente immer dasjenige auszuwählen, das im Augenblick als das vordringlichste erscheint, und dieses dann mit einer möglichst einfachen, daher durchsichtigen und wandlungsfähigen Apparatur durchzuführen.” In der genannten Arbeit wird eine Versuchsplanung diskutiert: “Nach den bisherigen Vorstellungen über den Vorgang der Streuung (Compton, Debye) ließe sich eine Versuchsanordnung denken, durch welche das gleichzeitige Auftreten je eines gestreuten Strahlungsquants und des zugehörigen Rückstoßelektrons nachgewiesen werden könnte. Es bedeute hν das primäre, hν ’ das gestreute Strahlungsquant und e das Rückstoßelektron. Bringt man in den Weg von hν und e je eine quantitativ arbeitende Zählvorrichtung, so müssen beide stets gleichzeitig ansprechen. Nach den neuesten Anschauungen von Bohr, Kramers und Slater könnte ein solcher zeitlicher Zusammenhang nicht bestehen.” Am 25. April des folgenden Jahres wurde das Ergebnis in der zweiten der oben genannten Arbeiten eingereicht. (W. Bothe, H. Geiger, Über das Wesen des Comptoneffekts; ein experimenteller Beitrag zur Theorie der Strahlung, Z. Phys. 32, 639 (1925)) Darin heißt es: “Das Wesentliche der Anordnung läuft darauf hinaus, mit zwei Spitzenzählern (e-Zähler und hν -Zähler) die Rückstoßelektronen und die Streustrahlung eines sehr kleinen Volumens Wasserstoff getrennt zu registrieren und zu untersuchen, ob Koinzidenzen zwischen den registrierten Ausschlägen auftreten. Die Versuche ergaben, dass etwa jeder elfte hν - Ausschlag mit einem e - Ausschlag zeitlich zusammenfiel. Dies ist nach der Bohrschen Vorstellung nicht verständlich, ist aber nach der älteren Vorstellung zu erwarten, wenn man die nicht zu vermeidende Unvollkommenheit der Versuchsbedingungen in Betracht zieht.” Der seit 1908 von Geiger aus dem Rutherford’schen Kugelzähler entwickelte Spitzenzähler, der nicht nur auf schwere Teilchen, sondern auch auf Elektronen ansprach, war eine notwendige Voraussetzung für die Untersuchung des Compton Effekts. Mit diesem experimentellen Ergebnis war die Frage zu Gunsten der Interpretation des Compton Effekts entschieden, - und, wie Max
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von Laue in seinem Nachruf auf Hans Geiger 1950 ausführte, “die Physik war vor einem Irrweg bewahrt”. Bei dem erwähnten Compton Effekt handelt es sich um die Streuung von Röntgen-Strahlung an freien Elektronen. Andrew Ainslie Compton hatte dieses Experiment im Jahr 1922 an der Washington University in St. Louis ausgeführt. Er benutzte eine monochromatische RöntgenStrahlung, deren Winkelstreuung er mit Hilfe eines Bragg Kristall-Spektrometers sehr empfindlich bestimmen konnte. Die Interpretation, die er, und unabhängig von ihm Pieter Debye, im Jahr 1923 gaben, behandelte den Streuvorgang als Stoß des freien Elektrons mit einem Strahlungsquant, dem die Energie ε = hν und der Impuls p = hν /c zugeschrieben wurden. Die Gesamtenergie und der Gesamtimpuls sollten bei der Wechselwirkung zwischen Strahlungsquant und Elektron erhalten bleiben. Der geniale Zugriff bestand in der Einführung des quantenmechanischen Impulses der Photonen (p = hν /c). Zwar war Compton gewiss mit Einsteins Theorie des Photoeffekts aus dem Jahr 1905 vertraut - sein Bruder Karl hatte über das photochemische Äquivalenzgesetz gearbeitet - , es ist aber bemerkenswert, dass er Einsteins Arbeit aus dem Jahr 1917 nicht erwähnt, wird doch darin der Impuls des Photons erstmalig behandelt. Erst in Schrödingers Arbeit über den Doppler Effekt bei der Streuung im Jahr 1922 sollte dieser Einsteins Arbeit zitieren. (Beachtet man die Beziehung c = λ ν , so folgt hier unmittelbar p = h/λ , die de Broglie-Beziehung aus dem Jahr 1924.) Die Koinzidenzmethode sollte noch in einer anderen Frage der Alternative Welle - Teilchen eine Entscheidung herbeiführen. Es handelt sich um die Frage, ob die Emission der Strahlung bei einem atomaren Quantensprung in Form einer Kugelwelle oder auf der diskreten Bahn eines Photons erfolgt. Einstein hatte in seiner ersten größeren Arbeit zur Strahlungstheorie, über die er im Jahr 1916 in der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin vortrug, eine Verbindung der Vorstellungen des Bohr’schen Atommodells und des Planck’schen Strahlungsgesetzes hergestellt. Dazu behandelte er die Wechselwirkung zwischen Atom und elektromagnetischem Feld mit statistischen Methoden und führte den Begriff der spontanen Emission ein. Das ist die - durch einen Quantensprung des Elektrons nach sehr kurzer Verweilzeit in einem höheren Energiezustand ausgelöste Aussendung eines Photons, ohne dass ein äußerer Anlass dafür vorliegt. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Theorie bestand darin, dass der Strahlung nicht nur beim Absorptionsakt, sondern auch beim Elementarakt der Emission eine bestimmte Richtung zuzuordnen ist. Diese Erkenntnis veranlasste Einstein, die emittierte Strahlung “Nadelstrahlung” zu nennen, und damit die Alternative zur Kugelförmigkeit einer Emission im Sinne der klassischen Wellentheorie deutlich werden zu lassen. Er war sich der Unvereinbarkeit der beiden Aspekte bewusst, und auch des statistischen Charakters, der die Nadelstrahlung - aufgrund der A-priori-Wahrscheinlichkeit der spontanen Emission - hinsichtlich ihrer zeitlichen und örtlichen Ausbreitung prägt. Er setzte seine Hoffnung darauf, diesen Zusammenhang durch Experimente der von Kanalstrahlen ausgesendeten Strahlung zu erforschen. Kanalstrahlen - erstmalig im Jahr 1883 von Eugen Goldstein beobachtet, später von Wilhelm Wien, der nach seiner Tätigkeit an der PTR nach Würzburg gegangen war, näher untersucht - sind Strahlen positiver Ionen, die in einer Gasentladung durch Wechselwirkung von Elektronen und Strahlung entstanden, durch einen Kanal in der Kathode aus der Entladungsröhre austreten. Einstein diskutierte komplizierte Versuchsanordnungen seit 1921 mit Emil Warburg, Bothe und Geiger. Ein von Geiger und Bothe ausgeführtes Experiment konnte technisch den Anforderungen Einsteins genügen und entsprach in seinen Ergebnissen den von Einstein unter der Annahme von Nadelstrahlung durchgeführten
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Rechnungen. Allerdings konnten Paul Ehrenfest und auch Max von Laue bald darauf zeigen, dass das Experiment auch auf der Basis der Wellentheorie des Lichts verstanden werden konnte. Es gab keinen messbaren Unterschied in der Ausbreitung des Lichts nach der NadelstrahlungsHypothese und der Wellentheorie. Einstein akzeptierte dieses Resultat in einer Akademievorlage 1922. So groß die Enttäuschung Einsteins für diesen scheinbar negativen Ausgang des Experiments gewesen sein mag, es war der erste vollinhaltlich und streng diskutierte Fall der Dualität von Welle und Teilchen (!). Wir zitieren hier noch einmal eine Rückschau Walther Bothe’s aus seinem Nobel-Vortrag (1954): “Nur kurze Zeit sollte das Welle-Korpuskel-Problem offen bleiben. In dieser Zeit hatte ich das besondere Glück, dieses Problem mit Einstein laufend diskutieren zu können. Einige auf Einsteins Anregung durchgeführte Experimente brachten aber nichts entscheidend Neues. Die (mindestens formale) Lösung kam von Seiten der Wellenmechanik; sie liegt einfach in der Annahme beschlossen, dass die Schrödinger-Welle eines aus Teilchen bestehenden Systems eine Welle im n-dimensionalen “Konfigurationsraum” ist.”
Dezember 1932 - ein bedrückender Epilog Im Dezember des Jahres 1932 verlässt Albert Einstein Deutschland und wird es nicht wieder betreten. Die politischen Umstände sind in der Literatur ausführlich behandelt worden. Die Atmosphäre in der damaligen PTR wurde stark vom Geist der so genannten Deutschen Physik geprägt. Die ablehnende Haltung von Gegnern der Vorstellungen und von Zweiflern der Ergebnisse der Relativitätstheorie hat Dieter Hoffmann kürzlich in sehr lebhafter Form anhand der Sammlung von Zeitungsausschnitten des renommierten Physikers Ernst Gehrcke, Direktor der Abteilung Optik der PTR, in einer Arbeit unter dem Titel “Ein Experimentalphysiker als antitheoretischer Sammler” (D. Hoffmann, Ein Experimentalphysiker als antitheoretischer Sammler, in: Kaleidoskopien, Heft 4 (2002)) erörtert, auf die wir hier verweisen möchten. Der Charakter der akademisch-wissenschaftlichen Atmosphäre in der PTR zu Einsteins Berliner Zeit gibt ein Zitat aus einer autobiographischen Darstellung von Walter Bothe wieder, die im Jahr 1946 in Heidelberg verfasst wurde. (W. Bothe, Lebensbeschreibung, MPG-Archiv, Bothe Nachlass (Abt. III, Rep. Oo6), Mappe 1). Bothe, der der PTR von 1913 bis 1930 angehört hatte und, nach einem zweijährigen Aufenthalt als Ordinarius in Gießen, im Jahr 1932 die Nachfolge von Philipp Lenard in Heidelberg antrat, schrieb: “... Im Heidelberger Physikalischen Institut herrschte damals schon ein Geist parteimäßger Engstirnigkeit und des Kampfes gegen die modernen Fortschritte der Wissenschaft, die kurzerhand als “jüdisch” abgetan wurden. Der Gegensatz zu dem freien Forschergeist in Berlin, der durch Leute wie Planck, Einstein, von Laue u.s.w. bestimmt wurde, konnte nicht größer sein ...”. Abschließend geben wir eine bewegende Passage aus einem Brief Emil Warburgs an Albert Einstein aus der Zeit sich verstärkenden Antisemitismus’ wieder. Emil Warburg stand in einem ganz besonderen Verhältnis zu Albert Einstein. Zunächst an der Berliner Universität und später in der PTR hatte er die Grundlagen der Photochemie gelegt, die von Einsteins Photonentheorie verallgemeinert und von dem von ihm und Johannes Stark unabhängig voneinander in der Zeit zwischen 1908 und 1912 aufgestellten photochemischen Äquivalenzgesetz in einen größeren Zusammenhang gesetzt wurden. Es wird auch berichtet, dass Warburg im April 1912 Einstein bei einer Unterredung mit Haber, Nernst und Rubens in Berlin eine Position an der PTR angebo-
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ten habe. Das Einstein-de Haas Experiment von 1915 ging direkt auf eine Einladung Warburgs zurück, und die Anregung Warburgs während der Kuratoriumssitzung im März 1922, bei der von Einstein vorgeschlagenen erneuten Überprüfung des Experiments selbst mitzuwirken, wurde nicht realisiert, weil Einstein am 9. Oktober 1922 zu einer Japanreise aufbrach. Am 9. November 1922 erfuhr Einstein auf der Reise von der Verleihung des Nobelpreises für Physik des Jahres 1921. Im selben Jahr (1922) übergab Emil Warburg die Präsidentschaft an Walther Nernst. Die Abbildung 9.4 zeigt das Portrait Albert Einsteins aus dieser Zeit. Es ist eine Radierung des in Prag geborenen, dem Münchner Jugendstil der 1890er Jahre nahestehenden, und seit 1905 in Berlin lebenden Graphikers und Malers Emil Orlik (1870-1932). Der Brief, aus dem wir die folgende Passage mit freundlicher Genehmigung von Herrn PeterGottfried Meyer-Viol, einem Urenkel Emil Warburgs, wiedergeben, stammt vom 16. November 1923: “Sie wissen, wieviel mir daran liegen muß, daß Sie bei uns bleiben, da Sie der einzige der Kollegen sind, mit welchem ich ein näheres persönliches Verhältnis und ersprießlichen wissenschaftlichen Verkehr habe. Trotzdem, und wenn ich noch so wenig Einfluß auf Ihre Entschließungen habe, erschiene es mir verantwortungslos Ihnen zuzureden wieder nach Berlin zu gehen. Die Verhältnisse spitzen sich hier mehr und mehr zu, ferner lehrt der Fall Rathenau, was man auch sagen mag, dass der Aufenthalt in Deutschland für Sie, und wie ich hinzufügen muss, für jeden patriotisch denkenden Deutschen nicht ohne Gefahr ist. Denn wenn Ihnen hier auch nur das Geringste passieren sollte, so würde das Ansehen Deutschlands unter den Kulturnationen, welches schon bedenklich zurückgegangen ist, den Todesstoß erhalten. Jedenfalls lassen Sie mich hoffen, dass wir weiter im Verkehr bleiben werden. Mit meiner Tochter Käte, die kürzlich hier war, habe ich etwas musiziert, sie sang das schöne Schubert’sche Lied, in welchem es heißt: “Die Welt wird schöner mit jedem Tag.” Damit ist es jetzt vorbei.” Noch im Juli 1923 hatte Einstein seinen Nobelvortrag in Göteborg gehalten. Im Juni 1924 wurde der Einstein-Turm in Potsdam fertiggestellt, und Einstein wurde zum Vorsitzenden des Kuratoriums des “Einstein-Instituts” auf Lebenszeit bestellt. Im Januar 1925 formulierte er gemeinsam mit Satyendra Nath Bose die Bose-Einstein Statistik und sagte das Bose-Einstein Kondensat voraus. Die Liste der wichtigen Beiträge Albert Einsteins zu den Grundfragen der Metrologie könnte an dieser Stelle enden, wäre da nicht die unscheinbare Notiz im Protokoll des Kuratoriums vom März 1926: “Herr Einstein: Von besonderem Interesse ist die Frage, ob die Berührungsstelle zwischen zwei Supraleitern supraleitend wird.” Wie bereits im Kapitel 6 ausgeführt, zeigt das Experiment von Holm und Meissner aus dem Jahr 1932, dass die Berührungsstelle supraleitend wird: die erste Evidenz des Josephson Effekts, der erst 1962 von Brian D. Josephson theoretisch vorhergesagt und, auf der Grundlage der Bardeen-Cooper-Schrieffer Theorie der konventionellen Supraleitung von 1956, interpretiert werden sollte. Es scheint müßig zu sein zu fragen, warum dieses Experiment nicht fortgesetzt wurde, hätte doch die Verbindung mit der Aussage des Meissner-Ochsenfeld Effekts zu interessanten Hinweisen auf die makroskopische Quantisierung des magnetischen Flusses führen können. (Vermutlich ist das Holm-Meissner Experiment als Test für ein von Einstein aufgestelltes Modell der Supraleitung gedacht gewesen; eine Antwort, die negativ ausfiel, s. Kapitel 6.) Indessen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich in den Diskussionen der 1920er Jahre über die physikalische Bedeutung des Vektorpotentials (und seiner integralen Version, des magnetischen Flusses) - sowohl im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie wie auch in den Vorstellungen über die Transporterscheinungen der Supraleitung - die Quelle der Physik der makroskopischen
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Abbildung 9.4: Portrait von Albert Einstein, Radierung von Emil Orlik, 1923. (Mit freundlicher Genehmigung des Leo Baeck Instituts, New York).
Phasenkohärenz verborgen hält. Diese sollte in der Quantenmetrologie mittels der makroskopischen Quantenphänomene des Josephson Effekts und des (ganzzahligen) Quanten-Hall Effekts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle gewinnen. Diese Entwicklung ist in den Arbeiten von Hermann Weyl und Albert Einstein (die Maßstabsinvarianz 1919/Einsteins Atomuhren-Einspruch 1920), von Erwin Schrödinger (Quantenphase 1922) und von Fritz London (Ansätze einer phänomenologischen Theorie der Supraleitung 1929), um nur einige zu nennen, angelegt. Auch was die physikalische Bedeutung der modernen Eichtheorien anbetrifft, führt der Ariadnefaden in diese spannende Zeitphase zurück, - was wir hier nicht weiter verfolgen können.
10 Zählen und Messen - Quantenstatistik und Quanteneinheiten Die Zweiteilung des Teilchenbegriffs In der Mitte der 1920er Jahre stand an der Wende von der frühen zur modernen Quantentheorie die Erkenntnis, dass die Physik quantisierter Zustände eine besondere Form der Statistik erfordert. Diese “Quantenstatistik” musste die Unterscheidbarkeit für atomare Teilchen aufgeben, und damit die Vorstellung von “individuellen” Teilchen, die der klassischen Maxwell-Boltzmann Statistik zugrunde gelegen hatte. Die Auswirkung dieses Bruches zeigte sich zunächst in der Änderung der klassischen Abzählmethoden für die möglichen Besetzungen der Zustände mit Teilchen. Aus methodischen Gründen stellt man die möglichen Zustände als Besetzung einer Gesamtheit von Zellen im “Phasenraum” dar. Der Phasenraum wird aus den Orts- und Impulskoordinaten aller Teilchen des betrachteten Systems gebildet, und er gestattet die vollständige Beschreibung seines Zustandes. Bei der Abzählung ununterscheidbarer Teilchen zeigte es sich, dass es nur zwei Klassen von Elementarteilchen geben kann: Eine Klasse, die solche Teilchen enthält, die eine Zelle in beliebiger Anzahl besetzen können, - und eine solche Klasse von Teilchen, die nur einzeln eine Zelle besetzen können. Zur erstgenannten Klasse gehören die Photonen, die α Teilchen (Heliumkerne) und die Cooper-Paare, - letztere sind die in den 1950er Jahren entdeckten Träger der Supraleitung. (Die Teilchen dieser Klasse haben verschwindenden oder ganzzahligen Spin; sie werden zusammengefasst heute als “Bosonen” bezeichnet.) Hauptvertreter der zweitgenannten Klasse sind die Elektronen und Nukleonen. (Die Teilchen dieser Klasse haben einen halbzahligen Spin und werden heute zusammengefasst als “Fermionen” bezeichnet.) Die Statistiken dieser beiden Klassen von Teilchen wurden im Jahr 1924 in Form der Bose-Einstein Statistik (für Bosonen) und zwei Jahre später als Fermi-Dirac Statistik (für Fermionen) theoretisch manifest. - Damit war die (in der klassischen Physik uneingeschränkt geltende) Vorstellung von im Einzelnen unterscheidbaren Teilchen an dem Charakter derjenigen Abzählmethoden gescheitert, die dem Teilchenbegriff der Quantenphysik angemessen sind.
Schrödingers quantenstatistisches Gleichnis Im Jahr 1950 hat Erwin Schrödinger in einer kritischen Untersuchung (Was ist ein Elementarteilchen?, Endeavour, Juli 1950, S. 109) den Wandel der Anschauungen über die Merkmale von Teilchen und Wellen zwischen klassischen und modernen Positionen - wesentlich an den Arbeiten von Werner Heisenberg und Louis de Broglie aus den 1920er Jahren orientiert - beschrieben, und dabei auch den Aspekt der Individualität oder “Dasselbigkeit” beim Teilchenbegriff beleuchtet. Zu diesem Zweck gab er das folgende sehr einfache Beispiel des täglichen Lebens für die überhaupt möglichen Abzählmethoden für Elementarteilchen an: Drei Schüler - Hans, Heinz, Kurt -
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_10, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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10 Zählen und Messen - Quantenstatistik und Quanteneinheiten
sollen belohnt werden, und dazu stehen drei unterschiedliche Arten von Preisen zur Verfügung (siehe Bild 10.1). Zwei (unterschiedliche) Gedenkmünzen, zwei (gleichartige) österreichische Schillinge und zwei (gleichartige) Trikots mit dem Logo eines Sportvereins. Der Lehrer möchte sich zunächst eine Übersicht über die Anzahl möglicher Verteilungen verschaffen; welche er dann wählt, ist hier ohne Belang. Es gibt drei unterscheidbare Verteilungen; sie sind in Bild 10.1 dargestellt: Wenn die Preise unterscheidbar sind - wie im Fall der beiden Gedenkmünzen - , dann gibt es 9 verschiedene Möglichkeiten der Verteilung auf die drei Schüler. Sind die Preise dagegen miteinander vertauschbar - wie in den Fällen der beiden Schillinge oder der beiden Trikots - , dann kommt es darauf an, ob die Schüler je einen oder auch beide Preise bekommen können. Zwei Schillinge darf jeder besitzen, zwei Trikots dagegen nicht, weil sie die Mitgliedschaft im Verein anzeigen, und Doppelmitgliedschaft bei einem Sportverein keinen Sinn hat. Deshalb haben wir insgesamt 6 verschiedene Verteilungen für die Schillinge, jedoch nur 3 für die Trikots. In der Projektion auf die Physik stellen die Preise Teilchen und die Schüler Zustände dar, in denen sich die Teilchen befinden. Die Abzählverfahren des Beispiels sind natürlich und eindeutig, und die Projektion auf den physikalischen Teilchenbegriff ist unanfechtbar (wenngleich auch intermediäre Formen von Statistiken gelegentlich diskutiert werden). Die physikalische Erfahrung lehrt, dass Elementarteilchen ausschließlich den beiden letztgenannten Abzählverfahren genügen; das erstgenannte Abzählverfahren entspricht der Teilchenvorstellung der klassischen Physik. Die Geschichte der Bose-Einstein Statistik hat ihren Ursprung in einem Brief des indischen Physikers Satyendra Nath Bose an Albert Einstein vom Juni 1924, in dem Bose um die Kommentierung eines beigefügten Artikels bat; Einstein übersetzte den Artikel und gab das Manuskript unverzüglich an die “Annalen der Physik” weiter. Es ging um die statistische Begründung der Planck’schen Strahlungsformel. Einstein selbst berichtete darüber in der Akademie, und eine Mitteilung vom Januar 1925 enthält die grundlegende Unterschiedlichkeit der Quantenstatistik und der klassischen Statistik sowie die unterschiedlichen Konsequenzen der Photonenstatistik und der Quantelung des Phasenraumes: Während die erstgenannte zum Planck’schen Strahlungsgesetz führe, habe die letztgenannte lediglich die Konsequenz des Wien’schen Gesetzes. Auch die Vorhersage eines neuen Aggregatzustandes, der sich bei sehr tiefer Temperatur einstellen sollte - er wird später als das Bose-Einstein Kondensat bezeichnet werden - , und seine vermutete Verwandtschaft mit dem supraleitenden Zustand, wurden hier bereits diskutiert. Die Übereinstimmung der Gesetze, denen die Fermi-Dirac Statistik zugrunde liegt, mit den Eigenschaften der Elektronen, erkannte als Erster Wolfgang Pauli, der dies in Form des Ausschließungsprinzips formulierte, das eine wesentliche Rolle im Schalenmodell beim Aufbau des Periodischen Systems der Elemente sowie in der Sommerfeld’schen Elektronentheorie der Metalle spielt.
Elektrische Quanteneinheiten Abzählmethoden bilden gleichartige und ununterscheidbare physikalische Objekte auf natürliche Zahlen durch Abzählen ab. Sie werden angewendet, um (i) zwei Objekte zu vergleichen, (ii) sie zu berechnen oder (iii) sie zu vermessen: (i) Der Vergleich zweier Längen durch Abzählen der auf sie entfallenden Längeneinheit ist gewiss das älteste Abzählverfahren. (ii) Die oben erwähn-
109 Schrödinger's Statistiken-Gleichnis Drei Schüler - Hans, Heinz, Kurt - sollen belohnt werden. Zwei unterschiedliche Arten von Preisen stehen zur Verfügung:
zwei Münzen verschiedener Währungen
oder zwei östereichische Schillinge oder zwei Sporthemden der gleichen Art Es gibt drei Verteilungen:
unterscheidbare Preise (Teilchen) Ha
He
Ku
ununterscheidbare Preise (Teilchen) Ha
He
Ku
Ha
He
Ku
Fermi-Dirac-Statistik (1926/27) 3 Zustandsverteilungen
Bose-Einstein Statistik (1924/25) 6 Zustandsverteilungen
Boltzmann-Statistik 9 Zustandsverteilungen
Abbildung 10.1: Schrödingers quantenstatistisches Gleichnis. Die verschiedenen möglichen Verteilungen sind übereinander angeordnet.
te Statistik im Phasenraum berechnet die so genannte thermodynamische Wahrscheinlichkeit durch Abzählen der Realisierungsmöglichkeiten der Zustände eines Ensembles bei gegebener Teilchenzahl und Gesamtenergie. (iii) Eine Abzählung durch Vermessung liegt dann vor, wenn ein Strom im Experiment nach der Anzahl der transportierten Teilchen aufgelöst wird. Dies kann durch elektrische Zählung von Ladungsträgern, durch Zählung von Szintillationen oder durch Einfangen in einer Zählkammer erfolgen. Die Rückführung des Messens auf das Zählen ist das Thema der Arbeit “Zählen und Messen - erkenntnistheoretisch betrachtet” von Hermann von Helmholtz aus dem Jahr 1887, die mit den Worten beginnt: “Obgleich Zählen und Messen die Grundlagen der fruchtbarsten, sichersten und genauesten wissenschaftlichen Methoden sind, die wir überhaupt kennen, so ist über die erkenntnistheoretischen Grundlagen derselben doch verhältnismäßig wenig gearbeitet worden”. (Philosophische Vorträge und Aufsätze, S. 301, Berlin 1971). Gut einhundert Jahre später hät-
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te man den beiden darin genannten Attributen der “Sicherheit” und “Genauigkeit” der Methode physikalischen Zählens (in heutiger Sprachweise: Stabilität und geringe Messunsicherheit) das Attribut “Universalität” hinzugefügt. Das hängt mit den Fortschritten der Metrologie elektrischer Maßeinheiten zusammen, die seit der Entdeckung zweier makroskopischer Quantenphänomene, des Tunneleffekts in Supraleitern durch Brian D. Josephson (1962) und des (ganzzahligen) Quanten-Hall Effekts durch Klaus von Klitzing (1980), erzielt werden konnten. Es wurde erkennbar, dass deren messtechnische Anwendung eine hochstabile, hochgenaue und zugleich universale Darstellung elektrischer Einheiten (des Volt sowie des Ohm) durch Rückführung auf zwei Kombinationen der Fundamentalkonstanten e und h, nämlich KJ = 2e/h sowie RK = h/e2 , ermöglicht. Bei den beiden Effekten handelt es sich um quantenmechanische Transportphänomene von (diskreten) Ladungsträgern, die den beiden eingangs erläuterten Statistiken gehorchen. Das phasenkohärente Tunneln von Cooper-Paaren (Bosonen) durch eine sehr dünne isolierende Schicht zwischen zwei Supraleitern wurde im Jahr 1962 von Brian D. Josephson theoretisch vorhergesagt und wenig später experimentell bestätigt. Von der Paarbildung in Supraleitern kann man sich in einem vereinfachenden Bild vorstellen, dass die Bewegung eines Elektrons durch das supraleitende Metall in der Nähe seiner Bahn die positiven Atomrümpfe des Kristallgitters durch Anziehung in elastische Schwingungen versetzt. Aufgrund der mechanischen Trägheit des Gitters (die Atomrümpfe tragen fast die ganze Masse des Kristalls) besteht diese Schwingung auch dann noch, wenn ein nächstes Elektron diese Stelle passiert; d.h. dieses spürt noch die Wirkung des voranfliegenden Elektrons, und diese (retardierte) Wechselwirkung bindet die beiden Elektronen (unter geeigneten Bedingungen) zu einem Cooper-Paar mit der zweifachen Elementarladung zusammen, - und veranlasst damit den Aufbau einer sich über makroskopische Längen erstreckenden einheitlichen Wellenfunktion (Ψ) des supraleitenden Kondensats.Wenn man einem stromgeführten Josephson Kontakt zusätzlich eine Mikrowelle der Frequenz f aufprägt, so kann die Phasendifferenz ϕ der Wellenfunktionen Ψl und Ψr der beiden über den Kontakt verknüpften supraleitenden Kondensate (ϕ = argΨl − argΨr ) von der induzierten Mikrowelle mitgenommen werden. Sidney Shapiro hat diesen Effekt, der sich in der Sequenz senkrechter Stufen bei den Gleichspannungen UJ (n) = n f KJ in der Strom-Spannungskennlinie ausbildet, im Jahr 1963 als Erster beobachtet. Die Shapiro-Stufen (Bild 10.2) können dazu dienen, die Spannungseinheit Volt (bei bekannter Frequenz f ) unmittelbar an den Wert der Josephson-Konstante KJ = 2e/h anzuschließen. Der quantisierte Hall Effekt des Magnetotransports von Einzelelektronen (Fermionen) wurde erstmalig 1980 von Klaus von Klitzing in einer nur wenige Nanometer (10−9 m) dicken, metallischen Schicht in der Grenzfläche zwischen Silizium und Siliziumoxyd eines MOSFET (Metal Oxide Semiconductor Field Effect Transistor) unter der Wirkung einer senkrechten magnetischen Flussdichte von B = 18 T (kurz “orthogonales Magnetfeld”) bei einer Temperatur von T = 1,5 K (unerwartet) entdeckt. Seither ist er auch in anderen Heterostrukturen gefunden und in detaillierter Form analysiert und theoretisch interpretiert worden. Das Bild 10.3 zeigt das Ergebnis eines Experiments an einer GaAs/GaAlAs-Struktur. Wenn die eingezeichnete, schematisch dargestellte zweidimensionale Heterostruktur mit “Source-” und “Drain-Elektroden” versehen ist, so kann ein Strom ISD zwischen ihnen fließen, und damit verknüpfte elektrische Spannungen können zwischen den Ports an den Längskanten der Folie gemessen werden. Als Hall-Spannung UH bezeichnet man die Querspannung an der Folie, etwa zwischen den Ports 2 und 5. (Die anderen Ports dienen der Messung anderer elektrischer Grö-
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Abbildung 10.2: Spannungs - Strom Kennlinie eines Josephson Kontakts bestehend aus Nb-PdAu-Nb ohne (links) und mit (rechts) Mikrowellen Bestrahlung (f = 10 GHz). Im linken Bild ist der Kontakt zwischen den beiden Supraleitern angedeutet. Im rechten Bild sind die Shapiro Stufen zu sehen. (J. Niemeyer, PTB-Mitt. 110, 169 (2000)).
ßen.) Das Experiment zeigt, dass der Hall-Widerstand RH , definiert als Quotient aus der HallSpannung und dem (aufgeprägten) Strom (RH = UH /ISD ), und aufgetragen in Abhängigkeit von der magnetischen Flussdichte, eine Sequenz von Plateaus aufweist, auf denen RH die Werte RH = (1/n)RK mit RK = h/e2 (n = 1, 2, ...) - unabhängig von der magnetischen Flussdichte und der Probengeometrie - annimmt. Die untere Kurve zeigt, dass der in Längsrichtung der Folie gemessene Widerstand in den Plateaubereichen exakt verschwindet. Diese vereinfachte Beschreibung vernachlässigt Wechselwirkungen zwischen den Ladungsträgern in dem nicht-idealen (wenn auch geringfügig ungeordneten) zweidimensionalen Elektronengas. Dies erfordert subtile Theorien, die zeigen, dass das zweidimensionale System die Ladungen in eindimensionalen Kanälen am Rand der Probe führt. Wir möchten hier zur weitern Information auf die ausführliche Darstellung “25 Jahre Quanten-Hall-Effekt” von Klaus von Klitzing, Rolf Gerhardts und Jürgen Weis (Physik Journal 4, 37 (2005)) hinweisen. Die beiden diskutierten Quanteneffekte liefern heute die Grundlage für die gesetzlich festgelegte Definition der Einheit für die elektrische Spannung und den elektrischen Widerstand. So liest man in den Amtlichen Bekanntmachungen (PTB-Mitteilungen 99, 47 (1989)): Aufgrund von §4, Nr. 5 des Gesetzes über Einheiten im Messwesen in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Februar 1985 (BGBl I, S. 408) wird bekannt gemacht: Gemäß internationaler Vereinbarung wird 1. für die Josephson-Konstante KJ der Wert 483597,9 GHz/V ( GHz/V = 109 Hz pro Volt) exakt festgelegt und mit KJ−90 bezeichnet. Dieser neue Wert wird ab 1. Januar 1990 von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt für die Weitergabe des Volt, der Einheit der elektrischen Spannung, benutzt. 2. für die von Klitzing-Konstante RK der Wert 25812,807 Ω (Ω= Ohm) exakt festgelegt und mit RK−90 bezeichnet. Dieser neue Wert wird ab 1. Januar 1990 von der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt für die Weitergabe des Ohm, der Einheit des elektrischen Wi-
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10 Zählen und Messen - Quantenstatistik und Quanteneinheiten
Abbildung 10.3: Der quantisierte Hall Widerstand (RH ) und der Widerstand in longitudinaler Richtung (RXX ) der Schicht eines zwei-dimensionalen Elektronengases in einer GaAs/GaAlAs Heterostruktur in Abhängigkeit des äusseren Magnetfelds (magnetische Flussdichte B) bei der Temperatur T = 300 mK. (J. Gallop, Phil. Trans. Roy. Soc. A 363, 2221 (2005)).
derstandes, benutzt. Braunschweig, 21. Dezember 1988 Der Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Diese Neudefinitionen der Einheiten Volt und Ohm bedeuten (i) einen grundsätzlichen Wandel in der Methode physikalische Einheiten zu konstituieren, und sie stellen (ii) die Helmholtz’sche Devise vom Zählen und Messen auf eine universale Basis: i. Der mit der Bekanntmachung sichtbar werdende Wandel besteht darin, dass die Messung der elektrischen Größen Spannung und Widerstand sich (unmittelbar) auf numerische Werte KJ−90 und RK−90 als Quantenmaße bezieht. Hatte noch Max Planck (1900) und später David Hilbert (1920) für die Definition der physikalischen Einheiten durch Fundamentalkonstanten selbst plädiert (wir kommen in den beiden nächsten Kapiteln kurz darauf zurück), so werden hier die Einheiten durch (nach bestem Wissen) vereinbarte numerische Werte der Konstanten definiert. ii. Das jeweils beste Wissen über die (zu vereinbarenden) numerischen Werte kann nur durch eine gesamtheitliche Bewertung aller zur Verfügung stehenden experimentellen Informationen ermittelt werden, - und die bei der Messung abzuzählenden “Maßstäbe” repräsentieren
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damit das jeweils (insgesamt) verfügbare Wissen über alle relevanten Teilbereiche der Physik. (Wir kommen darauf am Ende des folgenden Kapitels kurz zurück.) In Bezug auf den erkenntnistheoretischen Aspekt der Helmholtz’schen Devise deutet sich demnach in der Neudefinition der elektrischen Maßeinheiten ein Übergang des Strebens nach dem Nachweis der Wirklichkeit physikalischer Theoriebildung zu einem Prinzip der am besten verfügbaren physikalischen Information an. Die gemeinsame metrologische Relevanz der beiden makroskopischen Quantensysteme wird trotz ihrer grundsätzlich unterschiedlichen Natur - gemeinsam mit einem dritten makroskopischen Quanteneffekt, der Zählbarkeit des Tunnelns einzelner Elektronen (SET: Single Electron Tunneling), der eine quantenmechanische Darstellung des Ampere, der Einheit des elektrischen Stroms, ermöglicht - in dem phänomenologischen Rahmen des “elektrischen Quanten-Dreiecks” (J. Gallop, The quantum electrical triangle, Phil. Trans. Royal Soc, A 363, 2221 (2005)) beschrieben. In Kapitel 15 werden wir auf die Entwicklungen zum Quanten-Dreieck noch einmal zurückkommen.
11 Fundamentalkonstanten - Die bestmögliche Information über die Natur Ein Planck-Einstein Disput So merkwürdig es auch klingen mag, Fundamentalkonstanten, wie die Gravitationskonstante oder die elektrische Elementarladung, spielen eine eher geheimnisumwobene Rolle in der Physik; auch dies gehört in das Umfeld der Entstehung der Quantentheorie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zwar erscheinen sie beim ersten Hinsehen als zeitlich und örtlich unveränderliche Größen, die unabhängig sind von spezifischen Eigenschaften physikalischer Objekte und als verbindlich gelten für alle Teilgebiete der Physik; sie repräsentieren damit in ihrer Gesamtheit gewissermaßen die Vollständigkeit der physikalischen Naturbeschreibung. Indessen zeigt eine genauere Betrachtung, dass es keinen physikalischen Grund dafür gibt anzunehmen, diese “fundamentalen Konstanten” seien zeitlich und örtlich konstant. Und es hat bis in die Gegenwart hinein immer wieder sehr ernsthafte Versuche gegeben, die Veränderlichkeit der Fundamentalkonstanten im Experiment nachzuweisen; nach allgemeiner Auffassung ist dies aber bisher nicht gelungen. - Ja, es ist noch nicht einmal bekannt, in welchem Sinne das durch Fundamentalkonstanten repräsentierte physikalische Weltbild vollständig zu nennen wäre. D. h., die Annahme der Konstanz (und Universalität) von Fundamentalkonstanten hat, wenn man es ganz ernst nimmt, den Charakter einer Arbeitshypothese. Eine der wichtigsten und zugleich geheimnisvollsten Fundamentalkonstanten ist die von Arnold Sommerfeld bei der Analyse des Wasserstoffatoms mit 137 als dimensionslos eingeführte (reziproke) Feinstrukturkonstante α −1 = 2h/ μ0 ce2 . Sir Arthur Stanley Eddington hatte den Wert als streng ganzzahlig betrachtet, tatsächlich gilt nach gegenwärtigem Kenntnisstand α −1 = 137.036. In den Entstehungsjahren der Quantentheorie hat sich eine gewisse Mystik um die Bedeutung der Feinstrukturkonstante entfaltet. Wie Charles P. Enz in einem Aufsatz “Rationales und Irrationales im Leben von Wolfgang Pauli” (1995) berichtet, entspricht sie dem Wort Kabbala, jener jüdischen Zahlenmystik, wenn es in Hebräisch von rechts nach links ohne Vokale HLBQ geschrieben wird und man beachtet, dass im Hebräischen jedem der Buchstaben eine Zahl zugeordnet ist: Q = 100, B = 2, L = 30, H = 5 : HLBQ = 137 (!). (C. P. Enz, in: H. Atmanspacher, H. Primas, E. Wertenschlag-Birkenhäuser, (eds), Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft). Es kann daher nicht verwundern, dass sich um die Bedeutung der Fundamentalkonstanten Spekulationen ranken, und dass so fundamentale Denker wie Max Planck und Albert Einstein hier ein Grundlagenproblem vermutet haben. Abgesehen von der Problematik, dass Fundamentalkonstanten von den Theorien gesetzt werden und nur im Rahmen dieser Theorien Geltung haben, hatte die Rolle dieser Konstanten in der Physik zu einem tiefgreifenden Disput zwischen Planck und Einstein geführt. Dies hing mit der Abhängigkeit ihrer Zahlenwerte von den willkür-
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_11, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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11 Fundamentalkonstanten - Die bestmögliche Information über die Natur
lich gewählten Einheiten zusammen, in denen sie definiert werden. Planck betrachtete die Naturkonstanten als eine Art letzter Wesenheiten und sah darin die Möglichkeit, die Maßeinheiten auf Basiselemente der Naturbeschreibung zurückzuführen. (Wir gebrauchen hier Fundamentalkonstante und Naturkonstante als synonyme Bezeichnungen.) Einstein hatte dagegen einen eher technisch-methodologischen Standpunkt, der in der Beschreibbarkeit der Natur durch die Mathematik gründete. Wir wollen deshalb hier über den Disput zwischen Albert Einstein und Max Planck berichten, weil er im Kern auf die Frage der Einheitlichkeit der physikalischen Messtechnik abzielt. (1) Zunächst die Position von Albert Einstein: Er wollte nur reine Zahlen als Naturkonstanten zulassen. In einem Brief an Frau Rosenthal-Schneider vom 13. Mai 1945 kann man lesen: “... Sie haben in der Frage der universellen Konstanten eine der interessantesten Fragen aufgeworfen, die man stellen kann. Es gibt deren zweierlei: scheinbare und wirkliche. Die scheinbaren kommen einfach von der Einführung willkürlicher Einheiten, sind aber eliminierbar. Die wahren sind echte Zahlen, die Gott gewissermaßen willkürlich zu wählen hatte, als er die Welt zu schaffen geruhte. Meine Meinung ist nun kurz gesagt, daß es solche Konstanten der zweiten Art [gemeint ist offensichtlich: der ersten Art] gar nicht gibt, und daß ihre scheinbare Existenz darauf beruht, daß wir nicht tief genug eingedrungen sind. Ich glaube also, daß derartige Zahlen nur rationaler Art sein können, wie zum Beispiel π oder e [die Basis der natürlichen Logarithmen].” (I. Rosenthal-Schneider, Begegnungen mit Einstein, von Laue und Planck - Realität und wissenschaftliche Wahrheit, Braunschweig 1988, S. 24). Es ist nicht schwer herauszufinden, warum er gerade diese beiden Zahlen ausgewählt hat, steht doch die Zahl 2π für die Periodizität zyklischer Bewegungen und die Zahl e für das exponentielle zeitliche Abklingen einer Erregung bei Dissipation, - beides Parameter eines allgemeinen Modells der dynamischen Beschreibung in allen Gebieten der Physik. (2) Dann die Position von Max Planck: Am Beginn des 20. Jahrhunderts waren nur wenige Fundamentalkonstanten bekannt: die Gravitationskonstante G, die Lichtgeschwindigkeit c und die Boltzmann Konstante kB (und dann noch die elektrische und die magnetische Feldkonstante des Vakuums, deren Produkt mit der Lichtgeschwindigkeit verknüpft ist (ε0 μ0 = 1/c2 )). Max Planck war im Jahr 1900 zwecks der Erklärung der Wärmestrahlung gezwungen gewesen, das kleinste Wirkungsquantum h als weitere Fundamentalkonstante neu einzuführen. Und damit konnte er - ganz im Sinne des cgs-Einheitensystems, das den Vorstellungen der klassischen Mechanik des 19. Jahrhunderts entsprungen war, - allein mit diesen vier Fundamentalkonstanten durch algebraische Relationen die vier Maßeinheiten von Länge (lP ), Masse (mP ), Zeit (tP ) und Temperatur (TP ) anschreiben:
lP =
Gh c3
mP =
hc G
tP =
Gh c5
TP =
hc5 . GkB2
Diese “Planck-Einheiten” spielen, als “natürliche” Einheiten, bis heute eine wichtige Rolle in der Physik. Sie bringen in äußerst prägnanter Weise den absoluten Charakter der Zielvorstellung der physikalischen Messtechnik zum Ausdruck, alle Erscheinungen der Natur in Messgrößen einzufangen, deren Maßeinheiten ausschließlich auf Fundamentalkonstanten zurückgeführt werden können. In Plancks Worten: “... und so ist selbstverständlich, daß das Weltbild in fortschreitendem Maße von allen anthropomorphen Elementen gesäubert werden muß. Es ist also gänzlich ausgeschlossen, in das physikalische Weltbild Begriffe aufzunehmen, die irgendwie mit der Kunst
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menschlicher Meßtechnik zusammenhängen.” (M. Planck, Das Weltbild der neuen Physik, Leipzig 1929) Krasser als: transzendente mathematische Konstante (π , e) vs dimensionsbehaftete physikalische Konstante (G, c, kB , h), konnte die Unterschiedlichkeit der Auffassungen von Naturkonstanten nicht ausfallen.
Wirklichkeit als maximal verfügbare Information Wie sollte sich dieser Konflikt auflösen lassen? Die Prominenz der beiden Protagonisten lässt eine tiefliegende konzeptionelle Ursache vermuten: diese ist bereits in der Definition des Begriffs “physikalische Größe” begründet. Der Begriff erscheint erstmalig als “concept of the physical quantity” bei J. C. Maxwell und F. Jenkin (1863), und wird dann 1887 von Hermann von Helmholtz im Gründungsjahr der PTR in der bereits erwähnten Arbeit “Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch betrachtet” umfassend erörtert. Dieses, bis heute unverändert und uneingeschränkt gültige Konzept, stellt jede physikalische Größe Q als das Produkt Q = {Q} [Q] einer Zahl {Q} und einer Einheit [Q] dar. Es unterscheidet zwei Arten physikalischer Größen: Solche Größen, die von einer Theorie qualitativ vollständig definiert und in ihrer Funktion in vollem Umfang beschrieben werden können, von solchen Größen, deren numerische Werte - will man die Theorie auf eine konkrete Situation in der Natur anwenden - zusätzlich durch ein Experiment ermittelt werden müssen, weil sie im Rahmen der Theorie unbestimmbar sind. Zu der zweiten Art von Größen gehören die Fundamentalkonstanten. Und diese Unterscheidung von Zahlenwert, {Q}, und Einheit, [Q], reicht schon aus, um einen Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der Auffassungen von Planck und Einstein zu geben. Wir möchten dies an zwei Beispielen demonstrieren, und wählen dazu hier zunächst die Gravitationskonstante G = {G} [G]. Mit Einführung des Gravitationsgesetzes, F = G(m1 m2 /r2 ), konnte Isaac Newton die Erscheinung des Planetenumlaufs im Rahmen seiner Theorie der mechanischen Bewegung beschreiben. Zur Berechnung der konkreten Parameter von Planetenbahnen jedoch musste der Wert der Gravitationskonstante durch astronomische Beobachtung oder durch Messungen (vorwiegend mittels der Drehwaage) bestimmt werden. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der numerischen Werte {G} (in der Einheit [G] = m3 kg−1 s−2 ; m steht hier für Meter) als Ergebnisse einiger Experimente aus der Zeit zwischen 1798 und 1930. Cavendish (1798): 6.754 · 10−11 , Jolly (1881): 6.465 · 10−11 , Eötvös (1896): 6.65 · 10−11 , Heyl (1930): 6.670 · 10−11 . Man sieht, dass die Werte schwanken. Heute gilt G = 6.6742(10) · 10−11 m3 kg−1 s−2 . Die Gravitationskonstante zählt zu den Naturkonstanten, die man nur mit relativ großer Messunsicherheit (ur = 1.5 · 10−4 ) kennt (!). Dieses Beispiel aus der klassischen Mechanik ist repräsentativ für alle Teilgebiete der Physik. Es lehrt den Unterschied zu bedenken, der zwischen der Bedeutung des Zahlenwertes einer Naturkonstante und der Bedeutung der Dimension ihrer Maßeinheit besteht, in der sie gemessen und dargestellt wird. Der empirische Gehalt der Fundamentalkonstante wird von ihrem Zahlenwert repräsentiert, während sich der konstruktive Gehalt der physikalischen Gesetze, die “Struktur” der Theorie, in der Dimension ihrer Einheit niederschlägt. Die Dimension von Maßeinheiten
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11 Fundamentalkonstanten - Die bestmögliche Information über die Natur
ist das zentrale Anliegen der “Dimensionsanalyse”, die sich seit den 1920er Jahren insbesondere im anglo-amerikanischen Raum ausgebildet hat. Als ein Beispiel aus der Zeit des Aufbaus der Allgemeinen Relativitätstheorie bietet sich hier der Schwarzschild-Radius an, der eine wichtige Rolle in der Physik des Schwarzen Lochs spielt. Karl Schwarzschild, er arbeitete an der Sternwarte in Potsdam, hatte im Jahr 1915 eine singuläre Lösung von Einsteins Feldgleichung gefunden und erkannt, dass - in heutiger Sprechweise - sich ein Schwarzes Loch bildet, sobald die Ausdehnung der räumlichen Verteilung von Teilchen mit der Masse m den “SchwarzschildRadius” lS = Gm/c2 unterschreitet. Für die Dynamik in Schwarzen Löchern ist die Überlappung von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenelektrodynamik wichtig. Während die erstgenannte Theorie durch lS charakterisiert ist, wird die zweitgenannte - sie behandelt Teilchenerzeugung und Teilchenvernichtung - durch die Comptonwellenlänge lC = h/mc skaliert. Für eine erste Beschreibung des Phänomens des Schwarzen Lochs sollte man lS = lC annehmen. Dies er gibt m = hc/G = mP und lS = lC = lP . Die Kombination der Fundamentalkonstanten in den Planck-Einheiten mP , lP führt also zu den richtigen Skalierungen der Theorie des Schwarzen Lochs: im Jargon: “relativity meets quantumphysics at the Planck scale”. Kehren wir zum Planck - Einstein Disput zurück. Was bedeutet nun die Zerlegung der Fundamentalkonstante in Zahlenwert und Maßeinheit für die Auffassung über Naturkonstanten? Das überraschende Resultat ist, dass beide Auffassungen zutreffen - nur in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Wenn es um den Entwurf einer Theorie und um deren Struktur geht, dann ist die Kombination der Fundamentalkonstanten in den Maßeinheiten die bestimmende Leitlinie für den Aufbau und die Gestalt der Theorie: Das ist der Standpunkt Plancks. Geht es aber um die Repräsentation der Einheitlichkeit der Physik insgesamt (die durch die Einheitlichkeit des Maßsystems charakterisiert wird, in dessen Rahmen alle empirischen Daten dargestellt werden), so sind die Zahlenwerte der Fundamentalkonstanten entscheidend, auf die die Einheiten zurückgeführt werden. Diese Zahlenwerte werden durch eine laufend durchgeführte Ausgleichsrechnung ermittelt, deren Resultat den jeweils besten experimentellen Erkenntnisstand darstellt. Was hat Bestand im Wandel der physikalischen Erkenntnis? Der Charakter (Dimension) und die Anzahl der Fundamentalkonstanten wohl nicht, denn neue Theorien erzeugen neue Konstanten, und ihre numerischen Werte schwanken im Rahmen der jeweils verfügbaren Messgenauigkeit. Bestand hat nur die Mathematik selbst und ihre Methoden, weil in ihrem Rahmen die Gesamtheit der jeweils besten numerischen Werte der Fundamentalkonstanten ermittelt wird. Als die “wirklichen” Konstanten der Naturbeschreibung kommen also nur die mathematischen Konstanten in Betracht. Das ist der Standpunkt Einsteins: “Die wahren sind echte Zahlen, die Gott gewissermaßen willkürlich zu wählen hatte, als er die Welt zu schaffen geruhte.” Die systematische Analyse der experimentell gewonnenen Zahlenwerte der Fundamentalkonstanten führt zurück in die 1920er Jahre. Raymond Birge hatte mit der Zusammenstellung von Tabellen der Fundamentalkonstanten einen Prozess begonnen, der mit den seit 1966 regelmäßig durchgeführten Ausgleichsrechnungen über die experimentellen Resultate zu einem in sich selbstkonsistenten System führte. Wir zitieren hier eine zusammenfassende Bemerkung aus der Veröffentlichung der aktuellen Zahlenwerte: “It has long been recognized that the significant measure of the correctness and the overall consistency of the basic theories and experimental methods of physics is the comparison of values of the constants as obtained from widely differing experiments. ... Nevertheless, throughout this adjustment, as a working principle, we assume the
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validity of the physical theory that underlies it including ... the theory of the Josephson and the quantum Hall effects, especially the exactness of the relations between the Josephson and the von Klitzing constants and the elementary charge e and Planck’s constant h.” (J. P. Mohr, B. N. Taylor, CODATA Recommended Values of the Fundamental Physical Constants, Rev. Mod. Phys. 72, 351 (2000), Zitat S. 355). Das Ausgleichsverfahren hat eine komplizierte mathematische Struktur und seine Anwendung setzt eine umfassende und detaillierte (informationstheoretische) Analyse des Begriffs der Messunsicherheit voraus; darauf können wir hier nicht in der dazu notwendigen Breite eingehen. Als ein Beispiel für die Entwicklung und den Wandel in der Bestimmung des Zahlenwertes einer Fundamentalkonstante kommen wir nochmal auf die eingangs erwähnte Feinstrukturkonstante zurück. Zur Erläuterung zeigt die folgende Tabelle die zeitliche Entwicklung der relativen Messunsicherheit ur (in der Einheit ppm = 10−6 ) bei der Ermittlung der (reziproken) Feinstrukturkonstante α −1 = 2h/μ0 ce2 , und markiert die Anwendung der beiden makroskopischen Quanteneffekte. 1929 1948 1966 ur (α −1 ) 175 73 5 Entdeckungen: Josephson ↑
1969 1.5
1973 0.8
1983 1986 0.2 0.0455 ↑ v. Klitzing
1998 0.0037
Zwar lässt sich der Planck-Einstein Disput anhand der Unterscheidung zwischen dem Zahlenwert und der Einheit einer Fundamentalkonstante ausreichend beleuchten, aber die formale Argumentation bleibt abstrakt. Um ein wenig konkreter zu werden und die Rolle des oben erwähnten Ausgleichsverfahrens noch einmal aus anderer Sicht zu schildern, werfen wir einen Blick auf einige Stationen der Ereignisgeschichte der Quantentheorie: 1912: Atommodell; 1923: Welle-Teilchen Dualismus; 1925: Spin; 1926: nicht- vertauschbare Variable; komplexe Wellenfunktion; Wahrscheinlichkeitsinterpretation; Ausschließungsprinzip; 1927: Hilbert-Raum; Feldquantisierung; 1928: Quanten-Tunneln; 1930: Spinoren; 1932: virtuelle Teilchen; 1935: verschränkte Zustände; 1936: Quantenlogik; 1941: Wegintegralmethode; 1948: Vakuumfluktuationen; 1959: Bohm-Aharonov Oszillation; 1969: Symmetrieanomalien; 1980: Quantumcomputing. Wir fragen nun: Welche der Entdeckungen oder Theoriebildungen definiert eindeutig die grundlegende Struktur der Quantentheorie, und welche haben eher den Charakter zwar wichtiger, aber doch den strukturellen Rahmen nur ausfüllender Details? Obwohl alle diese Phänomene einheitlich mit den Mitteln der Standard-Mathematik beschrieben werden können, konnte die Frage (bisher) nicht erschöpfend und einheitlich beantwortet werden. Die vorstehend skizzierte Entwicklung der Quantentheorie ergibt eine Fülle von im Einzelfall gut verstandener Phänomene, die , wendet man sie zur Ermittlung beispielsweise der Planck Konstante an, zu unterschiedlichen experimentellen Werten führen und keine einheitliche Bestimmung erkennen lassen. Was hier für den Fall der Quantentheorie (und der Planck Konstante) gesagt ist, gilt in ganzer Breite für alle Teilgebiete der Physik und die Fundamentalkonstanten insgesamt. Es bleibt dann nur die Alternative, alle verfügbaren experimentellen Ergebnisse einem (mathematischen) Ausgleichsverfahren zu unterwerfen, und in dieser Weise die Definition eines selbstkonsistenten Systems der Fundamentalkonstanten herbeizuführen. - Konsistent heißt eine Menge, wenn keine inneren Widersprüche existieren; selbstkonsistent ist die Menge dann, wenn die Konsistenz allein durch
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11 Fundamentalkonstanten - Die bestmögliche Information über die Natur
innere Korrelationen der Elemente der Menge selbst hergestellt wird. Die innere Korrelation in der Menge der Fundamentalkonstanten beruht ausschließlich auf der (einheitlichen) Bewertung aller verfügbaren experimentellen Ergebnisse mittels einer (international vereinbarten) standardisierten Angabe ihrer Messunsicherheit. Jede selbstkonsistente Darstellung des Systems der Fundamentalkonstanten ist in dieser Form eine mögliche Naturbeschreibung durch die physikalischen Theorien. Und die Rückführung der physikalischen Einheiten auf die (jeweils am besten bekannten) numerischen Werte der Fundamentalkonstanten ist (im Sinne des angewandten mathematischen Ausgleichsverfahrens) eine irreduzible Realisierung des Geltungsanspruchs der Metrologie im Rahmen der Physik als Ganzes. Noch einer anderen “Not” begegnet die Metrologie mit dieser Wendung in die ganzheitliche oder holistische Betrachtungsweise: das ist die logische Zirkularität ihrer Schlussweise. Wir zitieren hier aus dem Buch von Peter Janich “Das Maß der Dinge”: “...Die heute international gültigen Festsetzungen von Maßeinheiten und ihre technische Verfügung und Kontrolle, etwa in Deutschland durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig, bedienen sich unstrittig des jeweils besten physikalischen Wissens, um die Reproduzierbarkeit der Maßeinheiten zu sichern. Damit beruht aber diese Reproduzierbarkeit selbst auf dem Erfolg einer naturwissenschaftlichen Messkunst. Als Bestimmung des Messens ist dieser Weg definitorisch und logisch zirkulär. Methodisch gesehen darf sich eine Begründung des Messens dieser Maßeinheiten nicht bedienen. Diese Zirkularität wird von den Theoretikern der Naturwissenschaft sowenig wie von ihrer Wissenschaftstheorie bestritten. Vielmehr wird aus der Not eine Tugend gemacht, indem solche Zirkularität als Zeichen eines (bedeutungstheoretischen bzw. bestätigungstheoretischen) Holismus gedeutet werden...” (P. Janich, Das Maß der Dinge, Frankfurt/M. 1997, S. 311) An die Stelle der klassischen Vorstellung von der physikalischen “Wirklichkeit” war ein System jeweils maximal verfügbarer Information getreten. Es bleibt die Erfahrung abzuwarten, ob sich die Wendung in die holistische Betrachtungsweise bewährt und ob sich die Arbeitshypothese, physikalische Einheiten auf das selbstkonsistente System der “besten” jeweils verfügbaren numerischen Werte zurückzuführen, auch zukünftig den Forderungen an die Metrologie genügen kann.
Ein Resumé Die Metrologie beschäftigt sich nicht vornehmlich mit der Frage wie ein Tatbestand zu erklären ist, sondern mit der Frage: Was mache ich mit dem Tatbestand? Offensichtlich unterliegt die Gesamtheit der numerischen Werte von Fundamentalkonstanten anderen Gesetzmäßigkeiten als die Maßeinheiten, in denen sie definiert sind. Die Definition der Einheiten ist das Ergebnis der direkten Strategie des konstruktiven, jeweils spezifischen, physikalischen Theorieaufbaus; hingegen sind die numerischen Werte Ergebnis der inversen Strategie des deskriptiven mathematischen Ausgleichsverfahrens über alle - nach jeweiliger Messunsicherheit bewerteten - verfügbaren experimentellen Werte aller (relationalen) Fundamentalkonstanten der Physik. Mathematik ist die Sprache der Physik, und Einstein hebt in dem zitierten Brief auf die Schöpfung, und damit auf die Rolle der Sprache in der Schöpfungsgeschichte ab. Wenn man den für Einsteins Duktus nicht untypischen Wortlaut einmal ganz streng nimmt, dann ergibt sich eine
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bemerkenswerte Analogie der beiden verschiedenen Aspekte der Fundamentalkonstanten und zwei sprachlichen Gattungen: des Aphorismus als einer (scharf formulierten) Detailaussage ohne Verbindlichkeitsanspruch und des Essays als einer (anspruchsvollen) Möglichkeitserwägung mit gesamtheitlichem Anspruch. Erwin Chargaff hat die Beziehungen zwischen Aphorismus und Essay auf die Formel gemünzt: “... [dass] man aus ihnen nichts lernen kann außer alles”, und damit den gesamtheitlichen Anspruch der Metrologie in der Physik auf den Punkt gebracht. (E. Chargaff, Alphabetische Anschläge, Stuttgart 1990, S. 226) Es bleibt zu fragen, wie die Metrologie als technisch-wissenschaftliche Infrastruktur global umgesetzt wird. Mit Blick auf die Vorreiterrolle der Physik im beginnenden wissenschaftlichtechnischen Zeitalter ist es nicht verwunderlich, dass auch in diesem Fall die Wurzeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen und mit der Geschichte der PTR eng verbunden sind.
12 Die Meterkonvention - für die globale Konsistenz der Messdaten Metrologie: Wissenschaft vom Messen. - So knapp das “Internationale Wörterbuch der Metrologie” (1993) den Begriff definiert, so umfangreich und vielschichtig ist sein Geltungsanspruch. Metrologie bezeichnet die Infrastruktur der Gesamtheit von Methoden, die der experimentellen Erkundung der Natur und gleichermaßen der Konstruktion und Gewährleistung technischer Objekte und Verfahren dienen. Diese Infrastruktur beruht einheitlich auf weltweit verbindlichen Maßen, und sie umfasst sowohl theoretische wie praktische Gesichtspunkte des Messens, gleichgültig welche Genauigkeit gefordert wird und welchem Bereich von Naturwissenschaft und Technik sie entwachsen sind. Mit der Vereinbarung und weltweiten Verbreitung von Normen hält sie zugleich auch Verfahren zur Vergleichung und Normierung von Messgeräten bereit. Mit anderen Worten: Die Metrologie sorgt für die Verlässlichkeit der wissenschaftlich-technischen Struktur der modernen Welt. Sie bildet damit eine Infrastruktur, die sich hinter der Ereignisgeschichte physikalischer Entdeckungen und technischer Erfindungen verborgen hält. Gleichwohl entwickelt sich die Metrologie im Gleichklang mit den Fortschritten der Grundlagenforschung. Die Wurzeln der wissenschaftlichen Metrologie liegen in der Physik des 19. Jahrhunderts und im technisch-wissenschaftlichen Aufschwung während der ersten 50 Jahre der Tätigkeit der PTR und der anderen metrologischen Staatsinstitute an der Wende zum 20. Jahrhundert. Im Kontext der Geschichte der PTR sollen hier zwei wichtige Aspekte der messtechnischen Infrastruktur beleuchtet werden: (a) die Koordination der Einheitlichkeit physikalischen Messens im Rahmen der Meterkonvention (1875), und (b) die Bedeutung, die die Erkenntnis des Relativitätsprinzips (1905) für die universale Definition des Normals der physikalischen Größe “Länge” und die kausale Ordnung von Ort und Zeit in der Messtechnik gewinnen sollte. (a) Vereinbarungen über Maße für den Handel und die Landvermessung zählen zu den ältesten Kulturleistungen gesellschaftlicher Vernetzung, und es sind zwei unterschiedliche Bestimmungsstücke, die ihren Charakter kennzeichnen: (1) die Wahl der Maße als die zu vereinbarenden Normen, in deren Rahmen die Messergebnisse quantifiziert werden sollen, und (2) die Form der Verbindlichkeit der Übereinkunft: Vereinbarungen von Maßen verknüpfen substantielle und politische Argumente. Die am 20. Mai 1875 in Paris von 17 Staaten unterzeichnete Meterkonvention (Convention internationale du mètre) ist zunächst die Übereinkunft zur Vervollkommnung und Ausbreitung des Metrischen Systems. Die dezimale Einteilung von Skalen war von Gabriel Mouton (Lyon) schon 1670 im Zusammenhang mit dem Vorschlag, den Meridian zur Definition der Längeneinheit zu nutzen, vorgeschlagen, aber vorher bereits von Simon Stevin (Brügge) 1585 diskutiert worden. Die Aufklärung der Französischen Revolution legitimierte das Metrische System in Frankreich. Im Norddeutschen Bund wurde es 1868 und im Deutschen Reich 1872 gesetzlich eingeführt. Der zunehmenden Verbreitung des Metrischen Systems folgte die Forderung nach international vergleichbaren und einheitlichen Maßen. Hören wir Wilhelm Förster, den Direktor der Normal-
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_12, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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12 Die Meterkonvention - für die globale Konsistenz der Messdaten
Eichungs-Kommission des Norddeutschen Bundes: “Die Folgen jener Sorglosigkeit haben sich bei der weiteren Copierung solcher Copien lawinenartig gehäuft und bewirkt, daß, wenn einmal Normalmeter von verschiedenen Ländern miteinander zur Vergleichung kamen, dieselben häufig bis zu Zehntheilen des Millimeters abweichend befunden wurden.” Wilhelm Förster war einer der bedeutendsten Befürworter der Meterkonvention (Bild 12.1). Die Normal-EichungsKommission, der Wilhelm Förster von 1869 bis 1885 vorstand, wurde 1918 in Reichsanstalt für Maß und Gewicht umbenannt und 1922 in die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eingegliedert. Förster war von 1891 bis 1920 Präsident des Internationalen Komitees für Maß und Gewicht, dem leitenden Organ der Meterkonvention. Mit dem Beschluss der Meterkonvention (Bild 12.2) beginnt die eigentliche Geschichte der Metrologie als einer wissenschaftlichen Disziplin zur Förderung einheitlichen Messens in Naturwissenschaft und Technik [D. Kind, H. Lübbig, Metrology - the present meaning of a historical term, Metrologie, 40, 1 (2003)]. Im Jahr 2007 zählte die Meterkonvention 51 Mitgliedsstaaten; 22 Staaten hatten den Status von Assoziierten der Generalversammlung. Die Organe der Meterkonvention sind die höchsten Instanzen für die Definition der physikalischen Einheiten und der internationalen Verbreitung der zugehörigen Methoden der physikalischen Messtechnik. Als internationales wissenschaftliches Institut wurde gleichzeitig 1875 das Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) in Sèvres bei Paris gegründet. Seine Tätigkeitsbereiche betrafen anfänglich nur die Einheiten von Länge und Masse; die Größen der Elektrizität kamen 1927, die der Photometrie und Strahlung 1937, die der ionisierenden Strahlung 1960 hinzu; die Zeitskalen wurden erst 1988 und die Größen der Chemie 2000 in den Aufgabenbereich des BIPM integriert. Eine Reihe von Systemen physikalischer Maßeinheiten, die im Zuge der Entwicklung von Teilgebieten der Physik und Technik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden waren, wurden im Jahr 1960 durch das einheitliche “Système International d’Unités (SI)” ersetzt. Es beruht auf Basiseinheiten für 7 physikalische Größen, aus denen die Einheiten aller anderen physikalischen Größen durch einfache algebraische Operationen abgeleitet werden können. Die Basiseinheiten der gegenwärtigen Version des SI sind: das Meter für die Länge, das Kilogramm für die Masse, die Sekunde für die Zeit, das Ampere für die elektrische Stromstärke, das Kelvin für die thermodynamische Temperatur, das Mol für die Stoffmenge und die Candela für die Lichtstärke. Angesichts der bemerkenswerten Schlichtheit des Systems ist es wichtig, sich seinen umfassenden Geltungsanspruch für die Beschreibung physikalischer und technischer Zusammenhänge vor Augen zu führen. Beispielsweise wird die Erscheinungsvielfalt magnetischer Phänomene in 26 Größenordnungen der “magnetischen Flussdichte” (Vektor der magnetischen Induktion) als Ordnungsgröße zwischen 1011 T in Neutronensternen und 10−15 T bei der Nervenleitung dargestellt, - eine Messgröße, deren Werteumfang das SI in einer einzigen Einheit, dem Tesla T, einfängt. Der Begriff der “physikalischen Messung” und seine axiomatische Begründung durch Hermann von Helmholtz stand am Anfang der Geschichte der PTR: Eine Messung ordnet einer physikalischen Größe, Q, eine reelle Zahl, {Q}, zu; und zwar in der Weise, dass als Ergebnis des Messvorganges angegeben wird, wie häufig der Messwert in der für die Größe gewählten Einheit, [Q], vorkommt, d.h. Q = {Q} [Q]. Hören wir den Wortlaut, mit dem Helmholtz im Gründungsjahr 1887 die bereits mehrfach genannte Arbeit “Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch betrachtet” eingeleitet hat: “Objekte oder Attribute von Objekten, die, mit ähnlichen verglichen, den Unterschied des größer, gleich oder kleiner zulassen, nennen wir Größen (Q). Können wir sie durch eine benannte Zahl ({Q} ) ausdrücken, so nennen wir diese den Wert der Größe, das
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Abbildung 12.1: Letzte Seite des im Archiv des französischen Aussenministeriums hinterlegten Exemplars der Meterkonvention von 1875.
Verfahren, wodurch wir die benannte Zahl finden, Messung der Größe. Übrigens gelangen wir in vielen tatsächlich ausgeführten Untersuchungen nur dazu, die Messung auf willkürlich gewählte oder durch das gewählte Instrument gegebene Einheiten ( [Q] ) zurückzuführen; dann haben die Zahlen, die wir finden, nur den Wert von Verhältniszahlen, bis jene Einheiten auf allgemein bekannte (absolute Einheiten der Physik) zurückgeführt sind.” Damit war die Basis in einer zugleich mathematisch einfachen wie physikalisch sehr weitrei-
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Abbildung 12.2: Mitglieder des Comité International des Poids et Mesures vor dem ’Grande Salle’ des Pavillon de Breteuil im September 1894. Von links: B.-A. Gould, H.-J. Chaney, A. Arndtsen, R. Thalén, H. Wild, W. Foerster (Präsident), A. Hirsch (Sekretär), J.-R. Benoît, J. Bertrand, L. de Bodola, H. de Macedo, St.-C. Hepites (The Pavillon de Breteuil - A brief outline from 1672 to the present day, BIPM 1991).
chenden Art und Weise gelegt; denn die einfache Form der Verknüpfung von physikalischer Größe und Einheit besteht trotz der inzwischen sehr komplexen mathematischen Struktur der physikalischen Beschreibungsmittel auch heute noch fort. Warum sollte sich die Metrologie nach einer so einsichtigen Grundlegung zu einer eher verborgenen Wissenschaft entwickeln? Dafür gibt es zwei verschiedenartige Begründungen, eine offensichtliche und eine tieferliegende: Die passive Rolle der Metrologie bei der Gewinnung neuer Erkenntnisse über die Natur ist ein offensichtliches Argument für die mangelnde Transparenz, denn hauptsächlicher Zweck einer Messung ist ihr Ergebnis, während ihre Methodik eher zweitrangig ist. Auch ist die Kompliziertheit der metrologischen Prozeduren - beispielsweise bei der Rückverfolgung eines Messergebnisses durch eine ununterbrochene Kette von Vergleichsmessungen bis hin zu den in den Nationalen Metrologie Instituten bewahrten Normalen - wenig geeignet für öffentliche Transparenz. Ein tieferliegender Gesichtspunkt mangelnder Transparenz der Metrologie betrifft die im Verlauf der Entwicklung zunehmende Abstraktheit im Charakter der Definitionen der Einheiten. Um dies sichtbar zu machen, stellen wir zwei Formen der Definition für die Einheit der Masse, das Kilogramm, hier einander gegenüber - eine aus der Gründungszeit der PTR und eine mögliche der näheren Zukunft (P. Becker, P. De Bièvre, K. Fujii, M. Glaeser, B. Inglis, H. Luebbig, and G. Mana, Considerations on the Future Redefinition of the Kilogram, the Mole, and other Units, Metrologia 44, 1 (2007)). (1) Die heute noch gültige Definition des Kilogramm ist der im Jahr 1889 aus Platin-Iridium
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gefertigte Prototyp des Ur-Kilogramms: “Dieser Prototyp soll hinfort als Einheit der Masse betrachtet werden”; oder in angepasster Wortwahl aus dem Jahr 1901: “Das Kilogramm ist die Einheit der Masse; es ist gleich der Masse des Internationalen Kilogrammprototyps”. (2) Eine denkbare künftige Neudefinition mit Bezug auf die Masse einzelner Atome könnte lauten: “Das Kilogramm ist die Masse von 5.0184542 · 1025 freien 12 C-Atomen”. Das Kilogramm ist die einzige Basiseinheit des SI, die noch durch Etalon definiert ist. Eine Neudefinition ist u.a. auch deshalb notwendig, weil sich die Masse des internationalen Prototyps um etwa 50 Mikrogramm vermindert hat, wie Vergleichsmessungen an den 6 nationalen Kopien und der Arbeitskopie des BIPM gezeigt haben. Die Tendenz, Einheiten durch die Zahlenwerte von atomaren Größen - wie in dem obigen Vorschlag für das Kilogramm - oder durch Fundamentalkonstante zu definieren, findet man bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei James Clerk Maxwell. Die unmittelbare Begegnung der Metrologie mit den Grundlagen der Physik fand aber genau in der Geburtsstunde der Quantenphysik statt, als Max Planck im Jahr 1900 die Formel für die Hohlraumstrahlung entdeckte. Und als Raymond Birge (Berkeley) in den 1920er Jahren mit einer systematischen Analyse der Fundamentalkonstanten begann, wurde das Konzept empirisch manifest. Im Folgenden wollen wir ein Schlaglicht auf die Rolle werfen, welche die Lichtgeschwindigkeit als Fundamentalkonstante der Relativitätstheorie an der Wende zum 20. Jahrhundert in diesem Zusammenhang gespielt hat. (b) Die Bedeutung und die Tragweite der Idee, Einheiten auf Fundamentalkonstanten zurückzuführen, wird in einer Bemerkung besonders deutlich, mit der Max Planck seine berühmte Arbeit zum Strahlungsgesetz vom Dezember 1900 abschließt (M. Planck, Über irreversible Strahlungsprozesse, Mitt. Preuß. Akad. Wiss. 440 - 480 (1899)). Aus den beiden Konstanten des Strahlungsgesetzes h und kB - in heutiger Sprachweise, der Planck-Konstante h und der BoltzmannKonstante kB (bei Planck: k) - lässt sich bei Hinzufügung der Vakuumlichtgeschwindigkeit, c, und der Gravitationskonstante, G, unmittelbar ein System von Einheiten für Länge, Zeit, Masse und Temperatur bilden, das seine Bedeutung solange beibehält, ”als die Gesetze der Gravitation, der Lichtfortpflanzung im Vacuum und die beiden Hauptsätze der Wärmetheorie bleiben, sie müssen also von den verschiedenen Intelligenzen nach verschiedensten Methoden gemessen, sich wieder als die nämlichen ergeben.” Das Plädoyer Plancks, “... Einheiten aufzustellen, welche unabhängig von speciellen Körpern oder Substanzen, ihre Bedeutung für alle Zeiten und für alle, auch ausserirdischen und aussermenschlichen Culturen notwendig behalten und welche daher als “natürliche Masseinheiten” bezeichnet werden können” offenbart die Tragweite und zugleich den absoluten Charakter, den (die Gesamtheit der) Fundamentalkonstanten und universell gültigen, konstitutiven, Relationen für die Physik bereits zu jener Zeit für die Definition von Einheiten hatten. Zwar sind die natürlichen Einheiten Plancks für Länge, Masse, Zeit und Temperatur
lP =
Gh c3
mP =
hc G
tP =
Gh c5
TP =
hc5 , GkB2
nicht in das SI aufgenommen worden; sie spielen aber bis heute eine wichtige Rolle bei dem Entwurf von Theorien im Überlappungsbereich verschiedener Teilgebiete der Physik. Wir hatten in Kapitel 11 darüber berichtet.
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Kehren wir zunächst vorübergehend von der Situation in den späten 1890er Jahren, welche die Ansätze zur Quantentheorie hervorgebracht hatte, zu der Zeitspanne der Gründungsinitiativen für die PTR zurück, um einen Blick auf die Rolle der Beziehung zwischen physikalischer Grundlagenforschung und Metrologie zu werfen. Eine bemerkenswert weite Sicht finden wir in der “Begründung der Vorschläge zur Errichtung einer physikalisch-technischen Reichsanstalt für die experimentelle Förderung der exakten Naturforschung und der Präzisionstechnik” von Werner Siemens vom 20. März 1884 (siehe Kapitel 2). Er unterstreicht den grundlegenden Charakter der Aufgabenstellung und ihre Ausrichtung mit den Worten: “Je tiefer die Wissenschaft in das geheime Walten der Naturkräfte eingedrungen ist, desto schwieriger sind die zu lösenden Aufgaben geworden, desto schärfer müssen die Prüfungsmethoden sein, durch welche die Natur selbst dem Forscher die Frage nach dem sie beherrschenden Gesetze beantwortet.” Diese für die damalige Zeit sehr charakteristische Formulierung lässt zwei Ausrichtungen hervortreten. Das ist zunächst die unmittelbare Verknüpfung von Prüfmethoden und Grundlagenforschung und dann der Hinweis auf die aktive Rolle, welche die Natur selbst in dem Frage-Antwort-Spiel bei der Erweiterung des physikalischen Weltbildes spielt. Die erstgenannte Aufgabenstellung betrifft die zunehmend innige Verknüpfung industrieller und physikalischer Mess- und Prüftechniken und ihre weltweite Standardisierung. Der visionäre Charakter der zweiten Bemerkung über den Beitrag der Natur selbst wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Maßsysteme, die zur Angabe der Messergebnisse notwendig sind, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auf relativ willkürlich festgesetzten Maßen beruhten; dass die Natur also eine wesentlich passive Rolle spielte. Der seit 1889 als das Ur-Meter bekannte Prototyp wurde erst 1960 durch eine Definition mit Hilfe der Wellenlänge der Strahlung des Krypton 86, und 1983 mit Bezug auf den Wert der Lichtgeschwindigkeit ersetzt: “Das Meter ist die Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer von (1/299 792 458) Sekunden durchläuft”. (Der Quotient (1/299 792 458) ist der reziproke Wert der Lichtgeschwindigkeit.) Die physikalischen Größen für Ort und Zeit können freilich nur in der gegenseitigen Verknüpfung verstanden werden; - und so fügen wir hier der Einfachheit halber die AtomuhrFormulierung der Definition der Zeiteinheit hinzu: “Die Sekunde ist das 9 192 631 770fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nukleids 133 Cs entsprechenden Strahlung”. Die starke Betonung, die der Industrielle und Mitbegründer der PTR Werner Siemens in dem obigen Wortlaut der Rolle der Natur selbst in der Entwicklung der Metrologie gibt, lässt an die Metapher von der “invisible hand” des Ökonomen Adam Smith in seinem Buch “An Inquiry into the Nature of Wealth of Nations” (1776) denken. In einfachen Worten: Eine unsichtbare Hand steuert die Produktivität liberaler Ökonomie mit selbstregulierender Kraft im Wechselspiel mit staatlicher Regulierung. Und in der Analogie: Die Geschichte der Metrologie liefert gute Beispiele für die selbstregulierende Kraft der Fortschritte der physikalischen Grundlagenforschung im Wechselspiel mit den eher formalen Erfordernissen normativer Metrologie. Ein hervorragendes Thema dafür ist die Entschleierung der physikalischen Rolle der Lichtgeschwindigkeit am Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts und ihre spätere Nutzung als Normal für die Einheit der Länge. Nicht nur sollte die Anbindung des Normals der physikalischen Größe Länge an die Fundamentalkonstante der Relativitätstheorie das kausale Ordnungsgefüge von Ort und Zeit in der Metrologie auf eine natürliche Grundlage stellen; eine solche Festlegung des Längenmaßstabs sollte sich letztlich zugleich als Legitimation für die Anwendung optischer Me-
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thoden - wie etwa der sogenannten 3K-Hintergrundstrahlung - zur Erforschung des Geschichte des Kosmos erweisen. Um es deutlich zu sagen: Die Erkundung kosmischer Entwicklungen über Jahrmilliarden setzt einen universellen Längenmaßstab wie die Lichtgeschwindigkeit voraus. Vorschläge, die Einheiten von Länge und Zeit zu kombinieren, gehen auf Christopher Wren im Jahr 1661 und, drei Jahre später, auf Christian Huygens zurück. Die Pendellänge des Sekundenoder Halbsekunden-Pendels sollte als Längeneinheit genutzt werden: ein Längenmaß bei vorgegebener Schwingungsdauer des Pendels. Es ist bemerkenswert, dass die Bezeichnung der Anordnung als “pes horarum” durch Huygens als frühe Andeutung auf die sich später bildende Vorstellung von der kombinierten Raum-Zeit gesehen werden kann. Physikalisch verstehbar wurde der Raum-Zeit-Zusammenhang freilich erst durch die Rolle, die die zeitliche und örtliche Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, und ihre Isotropie, in der Relativitätstheorie des Jahres 1905 erhalten sollte. Bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein war die Auffassung des “Mechanismus” verbreitet, die physikalischen Phänomene sollten in Bildern der Mechanik verstehbar sein; so auch die Ausbreitung von Licht, als dessen Trägersubstanz der Äther dienen sollte. Jedoch war es nicht möglich, eine elastische Substanz mit den entsprechenden physikalischen Eigenschaften zu konstruieren. Albert Einstein hatte Vorläufer, und die Spezielle Relativitätstheorie entwickelte sich in recht markanten Teilschritten aus der Kritik an der Physik des 19. Jahrhunderts, die anders nicht aufgelöst werden konnte (F. Hund, Wer hat die Relativitätstheorie geschaffen? , Phys. Bl. 36, 237 (1980)). W. Voigt (1887) hatte bei der Untersuchung des Doppler-Effekts die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber einer raum-zeitlichen Transformation erkannt, die später den Namen Lorentz-Transformation erhalten sollte. H. A. Lorentz (1892/99) wollte begründen, dass man den Bewegungszustand des Äthers mit optischen und elektromagnetischen Methoden nicht beobachten konnte. H. Poincaré (1900/05) vermutete hinter der Nichtbeobachtbarkeit ein Relativitätsprinzip. Einstein machte sich von der Äther-Vorstellung frei und gab der Raum-ZeitStruktur in der Speziellen Relativitätstheorie den Charakter der raum-zeitlichen Kausalkette der Physik. Einsteins Publikation trägt das Eingangsdatum 30.06.1905. Poincaré hatte eine Arbeit am 05.06.1905 der Pariser Akademie vorgelegt, der Zeitschriftenartikel hat das Eingangsdatum 23.07.1905. Die Masse/Energie-Äquivalenz (Einstein 1905), der Aufbau der relativistischen Mechanik (Planck 1905/08) und die Erfindung der vier-dimensionalen Welt (Minkowski 1907/08) folgten unmittelbar. Damit war der Weg frei, in dem absoluten Wert der Lichtgeschwindigkeit des Vakuums den universellen Maßstab der physikalischen Länge zu sehen. Freilich war der Weg der Metrologie noch weit bis hin zu dem erklärten Ziel, die Normale physikalischen Messens vollständig auf die Maße der Natur selbst zurückzuführen. Auch heute ist das Ziel noch nicht klar erkennbar. Dafür gibt es tiefgreifende wissenschaftliche Gründe, aber auch solche, die die Vermittelbarkeit abstrakter Definitionen betreffen. Diese Umstände sind hier nicht zu vertiefen; die Schwierigkeit der Vermittlung findet einen markanten Ausdruck in einer Bemerkung (zur Dielektrizitätskonstante und Permeabilität des Vakuums) von B. W. Petley, einer der Pioniere moderner Metrologie, aus dem Jahr 1990: “ ... for how can we expect to convey either to school-children or to a lawcourt judge in a legal dispute, that vacuum (or competely “nothing”) can have a measurable property associated with it ?” Die vorstehende Schilderung sollte das Problem symptomatisch an der dramatischen Vorgeschichte (1887 - 1908) und den grundlegenden physikalischen Konturen der Speziellen Relativitätstheorie während der ersten Phase der PTR aufzeigen.
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Fassen wir zusammen: Die Vermessung der Welt begann als der französische Akademiker Charles-Marie La Condamine im Jahr 1744 nach der Vermessung eines Meridians in Peru das Sekundenpendel als erste internationale Längeneinheit in eine Felswand am Äquator meißelte, und das Bild mit der Unterschrift: Mensurae naturalis exemplar, utinam et universalis - oder Beispiel eines natürlichen Maßes, das gewiss auch ein universelles ist - versah. Was war mit dem Wort “gewiss” gemeint? Etwa: ein Beispiel dafür, wie man Gewissheit über die Maße der Natur (Welt) erlangen kann? - Das Hinterfragen der metrologischen Gewissheit geht weiter: Als im Jahr 1799 das mètre des archives und das kilogramme des archives als die Verkörperungen der Einheiten für Länge und Masse in Paris verbindlich deklariert werden, geschieht dies unter dem Motto: à tous les temps, à tous les peuples. - Wiederum zwei Gesichtspunkte, welche die Metrologie bis in die Gegenwart hinein bewegen! Die erste Erwähnung der Bezeichnung "Metrologie"findet man in einem Buch von A. Boeckh (Universität von Berlin) aus dem Jahr 1838: “Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Altertums in ihrem Zusammenhang”. Dies ist die Zeit des Wandels von der historisch orientierten Begriffsbestimmung zur physikalisch geprägten Wissenschaft vom Messen. Boeckh: “Keine Wissenschaft scheint trockener und dürrer als die Metrologie: Wer sollte glauben, daß sie zu Träumen und Phantasie einlade ? Und doch ist ungleich mehr geträumt und phantasiert worden.” Dem soll hier nichts hinzugefügt werden.
13 Die Präsidenten der Reichsanstalt bis 1933 Hermann von Helmholtz: Präsident 1888 – 1894 Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz wurde am 31. August 1821 in Potsdam geboren. Nachdem er dort das Gymnasium besucht hatte, studierte er am Königlichen Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelms Institut in Berlin Medizin. 1842 promovierte er dort zum Doktor der Medizin. Eigentlich hatte er Physiker werden wollen. Für das Studium der Naturwissenschaften gab es damals jedoch keine Stipendien. Daher hatte er ein Stipendium der Regierung angenommen, das an die Bedingung geknüpft war, anschliessend eine achtjährige Dienstzeit als Militärarzt abzuleisten (1842 - 1849). Seine Kenntnisse in den Naturwissenschaften hat Helmholtz im wesentlichen als Autodidakt erworben. Schon mit 26 Jahren veröffentlichte er seine richtungweisende Arbeit “Über die Erhaltung der Kraft”, in der er die zentrale Rolle des Prinzips von der Erhaltung der Energie herausstellte. (Der Begriff der “Energie” anstelle von “Kraft” hat sich allgemein erst später durchgesetzt.) Trotz dieser wichtigen frühen physikalischen Entdeckung konzentrierte sich Helmholtz während der ersten zwanzig Jahre seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auf Fragen der Optik und Akustik in der Physiologie. Als Ordinarius lehrte er an den Universitäten von Königsberg (1849 - 1855), Bonn (1855 - 1858) und Heidelberg (1858 - 1871). Er war einer der führenden Physiologen Europas geworden. Besonders herausragend ist hierbei sein dreibändiges “Handbuch der physiologischen Optik” (1856 - 1867) sowie “Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik” (1863). Besonders kennzeichnend für Helmholtz sind die zahlreichen Apparate, die er für spezielle experimentelle Untersuchungen konstruiert und entwickelt hat. Hier ist vor allem seine Erfindung des Augenspiegels im Jahr 1850 zu erwähnen. 1871 wurde Helmholtz als Ordinarius der Physik an die Berliner Universität berufen als Nachfolger des im Jahr zuvor verstorbenen Gustav Magnus. Ab diesem Zeitpunkt konzentrierte sich sein Hauptinteresse auf die Physik und dabei besonders auf Fragen zur elektrodynamischen Theorie. Aufgrund seines hohen Ansehens zog Helmholtz nicht nur Studierende, sondern auch junge Wissenschaftler als Gäste an sein Berliner Institut. Unter diesen Gästen waren Namen wie beispielsweise Ludwig Boltzmann, Henry Augustus Rowland oder Albert Abraham Michelson, die schon bald grosse Berühmheit erlangen sollten. In Berlin wurden Helmholtz zunächst Räume im Universitätsgebäude provisorisch zugewiesen. Für ihn war jedoch der Bau eines neuen Physik-Instituts vorgesehen, das er im Dezember 1876 endlich beziehen konnte. Sein Institutsbau war damals im deutschen Reich bei weitem der kostspieligste und wurde deshalb auch häufig als “Palast der Physik” bezeichnet. In seinen eigenen experimentellen Untersuchungen befasste sich Helmholtz mit den elektrochemischen Vorgängen in galvanischen Zellen. In einer Reihe von theoretischen Studien lieferte er wichtige Beiträge zur chemischen Thermodynamik. 1873 wurde Helmholtz zum Dekan der Philosophischen Fakultät und 1877 zum Rektor der Univer-
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_13, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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13 Die Präsidenten der Reichsanstalt bis 1933
Abbildung 13.1: Hermann von Helmholtz 1870 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz).
sität Berlin gewählt. Die Familie Helmholtz hatte viele gesellschaftliche Kontakte mit hohen Regierungsvertretern und berühmten Künstlern. Der Kronprinz Friedrich Wilhelm (1831 -1888), Sohn des Kaisers Wilhelm I. (1797 - 1888), und die Kronprinzessin Victoria (1840 - 1901), eine Tochter der englischen Königin Victoria (1819 - 1901), waren häufig Gäste im Haus der Familie Helmholtz. Schon früh unterstützte Helmholtz die Pläne zur Gründung einer “Physikalisch-Technischen Reichsanstalt”. Die ersten Schritte gingen auf das Jahr 1872 zurück. Bei der Gründung und dem Aufbau der Reichsanstalt waren Hermann von Helmholtz und Werner Siemens wohl die wichtigsten Personen. In den Kapiteln 1 - 3 haben wir dies ausführlich behandelt. Am 1. Oktober 1887 wurde die Reichsanstalt offiziell eröffnet. Das Amt des Präsidenten trat Helmholtz Anfang März 1888 an. Im Sommer 1893 begab sich Helmholtz für 2 Monate auf eine Reise in die USA, vor allem um als deutscher Delegierter an dem Internationalen Elektrischen Kongress in Chicago teilzu-
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nehmen. Während der Rückreise hatte er auf dem Schiff einen schweren Unfall, wobei er durch den Sturz von einer Treppe am Kopf verletzt wurde. Nach Schlaganfällen im Juni und Anfang September 1894 starb Helmholtz am 8. September 1894 in Berlin.
Friedrich Kohlrausch: Präsident 1895 - 1905 Friedrich Wilhelm Georg Kohlrausch wurde am 14. Oktober 1840 in Rinteln geboren. Sein Vater, Rudolf Kohlrausch, war selbst Physiker und lehrte an mehreren Gymnasien sowie an den Universitäten Marburg und Erlangen. Daher verwundert es auch nicht, dass sich Friedrich Kohlrausch schon in der Schule ausgezeichnete naturwissenschaftliche Kenntnisse erwarb. Nach dem Studium der Physik an den Universitäten Erlangen und Göttingen promovierte Kohlrausch 1863 bei Wilhelm Weber in Göttingen.
Abbildung 13.2: Friedrich Kohlrausch (Archiv Preußischer Kulturbesitz).
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13 Die Präsidenten der Reichsanstalt bis 1933
Nach seiner Promotion war Kohlrausch zunächst Assistent an der Göttinger Sternwarte und anschliessend Dozent beim Physikalischen Verein in Frankfurt/Main (1864 - 1866). Bis 1870 war er als Extraordinarius der Physik und Assistent von Weber wieder in Göttingen. In den folgenden Jahren lehrte Kohlrausch als Ordinarius der Physik am Polytechnikum in Zürich (1870 - 1871), an der Technischen Hochschule Darmstadt (1871 - 1875), sowie an den Universitäten Würzburg (1875 - 1888) und Straßburg (1888 - 1895). Mehrmals hatte er Rufe von anderen Universitäten abgelehnt. Kohlrausch’s Hauptinteresse galt stets der physikalischen Meßtechnik und weniger rein theoretischen Fragestellungen. Im Jahr 1870 erschien in der ersten Auflage sein “Leitfaden der praktischen Physik”. In diesem Buch wurde zum ersten Mal die physikalische Meßtechnik und die Beschreibung von Experimenten, sowie Tabellen mit Zahlenwerten von physikalischen Größen, in den Vordergrund gestellt. Mehr als 50 Jahre diente der “Leitfaden” als wichtiges und viel benutztes physikalisches Lehrbuch, das später als erweitertes “Lehrbuch der praktischen Physik” seine Fortsetzung fand. Im Jahr 1944 erlebte Kohlrausch’s “Praktische Physik” mit einem neuen Herausgeber ihre 19. Auflage. Kohlrausch’s Forschungen betrafen die Frage, wie der elektrische Stromfluss in Lösungen funktioniert. Dabei fand er heraus, daß das Ohm’sche Gesetz auch bei Elektrolyten gilt. Durch seine Untersuchungen an vielen Salzlösungen, Säuren und Lösungen von anderen Stoffen entdeckte er, daß die elektrische Leitfähigkeit durch die beweglichen Ionen bestimmt wird, unabhängig von ihrer ursprünglichen molekularen Verbindung. Für seine Experimente konstruierte er immer wieder neue und verbesserte Instrumente und Meßeinrichtungen. Als Nachfolger von Helmholtz gab es damals keinen geeigneteren als Friedrich Kohlrausch. Da er ferner dem Kuratorium der Reichsanstalt seit ihrer Gründung angehört hatte, war er mit den Aufgaben dieser Einrichtung gut vertraut. Als die Reichsregierung am Ende des Jahres 1894 ihn aufforderte der Nachfolger von Helmholtz an der Reichsanstalt zu werden, hielt er es für seine patriotische Pflicht, das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Während seiner Amtszeit musste sich Kohlrausch um eine Reihe von organisatorischen Maßnahmen für den Betrieb der noch relativ neuartigen Institution kümmern. Legendär ist sein sich über 6 Jahre hinziehender Streit mit der Stadt Charlottenburg und der Berliner Strassenbahngesellschaft, in dem er die potentielle Bedrohung der Arbeit der Reichsanstalt durch die elektromagnetischen Störungen von in der Nähe verlaufenden Strassenbahnlinien abzuwehren suchte. Am Ende einigte man sich schliesslich auf eine Reihe von Maßnahmen. Bevor jedoch die erste Strassenbahn die kritische Strecke befahren konnte, hatte man inzwischen an der Reichsanstalt ein störungsfreies (astatisches) Torsionsmagnetometer entwickelt, das gegenüber den von den Strassenbahnen erzeugten elektromagnetischen Feldern unempfindlich war. Ausserdem stand gerade rechtzeitig ein neues abgeschirmtes “Panzergalvanometer” zur Verfügung, mit dem die elektromagnetischen Präzisionsmessungen mit deutlich reduzierter Störanfälligkeit durchgeführt werden konnten. Unter der Leitung von Kohlrausch wurden an der Reichsanstalt zahlreiche Standards für Eichzwecke geschaffen. Unter ihm hatte sich die Reichsanstalt zum metrologischen Staatsinstitut entwickelt. Besonders zu erwähnen sind die verschiedenen von Kohlrausch konzipierten und nach ihm benannten Apparate für elektromagnetische Präzisionsmessungen. Gegen Ende seiner Amtszeit an der Reichsanstalt war Kohlrausch häufig krank. Im April 1905 wurde er durch seinen Nachfolger Emil Warburg abgelöst. Kohlrausch ging anschliessend an
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die Universität Marburg um sich weiterhin mit Präzisionsmesungen zu beschäftigen. In Marburg starb er am 17. Januar 1910.
Emil Warburg: Präsident 1905 - 1922 Emil Gabriel Warburg wurde am 9. März 1846 in Altona geboren. 1863 began er in Heidelberg mit dem Studium der Chemie und hörte Vorlesungen bei Bunsen, Helmholtz und Kirchhoff. Besonders die Vorlesungen von Kirchhoff veranlassten ihn zur Physik zu wechseln. 1865 setzte Warburg sein Studium in Berlin fort. Dort arbeitete er im Laboratorium von Gustav Magnus und wurde dabei von dem Assistenten August Kundt angeleitet. 1867 promovierte er in Berlin und habilitierte sich auch dort im Jahr 1870. Am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hat er als Offizier teilgenommen. Zum Wintersemester 1872/73 übernahm Warburg ein Extraordinariat für Physik an der neuen Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg, an die Kundt gerade als Ordinarius berufen worden war. Warburg sollte dort vor allem die theoretische Seite der Physik vertreten. In den anschliessenden vier Jahren gelangen Kundt und Warburg wichtige gemeinsame Arbeiten zur kinetischen Gastheorie, wodurch diese damals noch umstrittene Theorie deutlich gefestigt wurde.
Abbildung 13.3: Emil Warburg (PTB).
1876 übernahm Warburg den Lehrstuhl für Experimentalphysik in Freiburg. Dort setzte er seine Arbeiten zur kinetischen Gastheorie fort und began neue Untersuchungen, die zu einem seiner
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13 Die Präsidenten der Reichsanstalt bis 1933
bedeutendsten wissenschaftlichen Erfolge führen sollten: die Entdeckung und theoretische Deutung der magnetischen Hysterese. Ferner beschäftigte sich Warburg mit elektrischen Entladungen in Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern. Nach dem frühen Tod von August Kundt folgte Warburg 1894 einem Ruf nach Berlin. Schwierigkeiten, die sich aus der jüdischen Herkunft Emil Warburgs ergeben hatten, konnten dabei überwunden werden. 1897 wurde er Vorsitzender der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin, die 1899 in der neu gegründeten Deutschen Physikalischen Gesellschaft aufging. Bis 1905 blieb er deren Vorsitzender. Die Position als Direktor des Physikalischen Instituts der Universität von Berlin hat Warburg zehn Jahre lang ausgefüllt. Während dieser Zeit begründete er die berühmte "Warburg Schule"der Experimentalphysik. Zu seinen Studenten, die später besonders erfolgreiche akademische Lehrer wurden, zählten: James Franck (Nobel Preis in Physik 1925), Eduard Grüneisen, Robert Wichard Pohl, Erich Regener, Clemens Schaefer, Hans von Euler-Chelpin (Nobel Preis in Chemie 1929). Sein Sohn Otto Heinrich (Nobel Preis in Medizin 1931) ist hier ebenfalls zu erwähnen. Da Kohlrausch mit zunehmendem Alter Probleme mit seiner Gesundheit hatte, musste 1905 ein neuer Präsident der Reichsanstalt gefunden werden. Ein besonders geeigneter Kandidat war Emil Warburg. Er war auch bereit, das Amt des Präsidenten zu übernehmen, und trat es Anfang April 1905 an. Auch als Präsident der Reichsanstalt hat Warburg seine immer besonders vielseitigen Forschungsaktivitäten aufrecht erhalten. Zu erwähnen sind an der PTR vor allem seine photochemischen Untersuchungen und seine Pionierarbeiten zur quantitativen Photochemie. So gelang ihm die experimentelle Bestätigung des photochemischen Äquivalenzgesetzes von Einstein. Mit zu den wichtigsten Entscheidungen Präsident Warburgs gehörte es, an der Reichsanstalt ein Tieftemperatur-Laboratorium einzurichten und 1913 Walther Meissner mit dessen Leitung zu beauftragen (vgl. Kapitel 6). Ähnliches gilt für das Laboratorium für Radioaktivität, das Präsident Warburg 1911 ins Auge gefasst hatte und für dessen Leitung er 1912 Hans Geiger gewinnen konnte (vgl. Kapitel 8). Besonders gepflegt hat Warburg die Beziehungen zur Industrie. 1919 gehörte er zu den Gründern der Deutschen Gesellschaft für Technische Physik und wurde deren erster Vorsitzender. Von den 17 Jahren seiner Amtszeit war die zweite Hälfte durch den Ersten Weltkrieg, die Nachkriegs- und die Inflationszeit extrem schwierig gewesen und hatte von Warburg Ausserordentliches abverlangt. In seinem letzten Jahr als Präsident feierte Warburg seinen 76. Geburtstag. Damit war er der älteste aller Präsidenten der Reichsanstalt. Am 31. März 1922 schied er aus seinem Amt. Als wissenschaftlicher Gast war er anschliessend noch an der Reichsanstalt tätig. Bis zu seinem Tod blieb er ein aktives Mitglied des Kuratoriums. Auch behielt er seine Funktion als Mitherausgeber der Annalen der Physik. Er starb am 28. Juli 1931 auf Gut Grunau bei Bayreuth.
Walther Nernst: Präsident 1922 – 1924 Walther Hermann Nernst wurde am 25. Juni 1864 in Briesen im damaligen Westpreußen (heute Wa¸brze´zno in Polen) geboren. Sein Vater war damals Richter in Briesen. Nur wenig später zog die Familie in das nahe gelegene Graudenz (heute Grudzia¸dz in Polen), wo der Vater zum Landgerichtsrat avanciert war. In Graudenz besuchte Walther Nernst ab 1874 das Königlich Evangeli-
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sche Gymnasium. Neben den humanistischen Fächern wurden hier auch die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer besonders gepflegt. Zu Ostern 1883 machte Nernst in Graudenz Abitur, wobei er als Erster seines Jahrgangs rangierte. In seiner Kindheit und Jugend verbrachte Nernst häufig die Wochenende und Ferien auf der in der Nähe gelegenen Domäne Engelsburg, die sein Onkel, Rudolf Nerger, gepachtet hatte. Diese Besuche haben auch dazu geführt, dass Nernst zukünftig stets eine besondere Vorliebe für ein Leben in ländlicher Umgebung besaß. Im April 1883 began Nernst an der Universität Zürich mit dem Studium der Mathematik, Chemie und Physik. Schon nach dem Sommersemester verließ er Zürich, um ab Oktober 1883 sein Studium an der Friedrich-Wilhelms Universität in Berlin fortzusetzen. Im Herbst 1885 ging er an die Karl-Franzens Universität Graz mit der besonderen Absicht, Vorlesungen über theoretische Physik zu besuchen. In Graz entwickelte Nernst eine enge Zusammenarbeit und Freundschaft mit Albert von Ettingshausen, der dort neben Ludwig Boltzmann sein wichtigster Lehrer wurde. Zusammen mit Albert von Ettingshausen entdeckte Nernst eine Reihe von thermomagnetischen Effekten in Metallen, die heute nach den beiden benannt sind. Zum Wintersemester 1886/87 wechselte Nernst an die Julius-Maximilians Universität von Würzburg, wo er 1887 bei Friedrich Kohlrausch mit einer Arbeit “Über die elektromotorischen Kräfte, welche durch den Magnetismus in von einem Wärmestrome durchflossenen Metallplatten geweckt werden” promovierte. Seine Dissertation handelte von den Experimenten, die er in Graz zusammen mit von Ettingshausen durchgeführt hatte. Noch im gleichen Jahr nahm Nernst eine Stelle als Assistent von Wilhelm Ostwald in dessen neu gegründetem Institut für Physikalische Chemie in Leipzig an. Es war dann die Zusammenarbeit mit Ostwald in Leipzig, die Nernst dazu veranlasste, sich Fragen der physikalischen Chemie zuzuwenden. Aufbauend auf den Ansätzen von Jacobus Henricus van’t Hoff zum osmotischen Druck in Lösungen und der Dissoziationstheorie von Svante Arrhenius, gelang es Nernst eine Theorie des Elektrodenpotentials von Elekrolyten zu entwickeln, die zur sogenannten ”Nernstschen Gleichung” führte und Thermodynamik mit Elektrochemie verband. Diese in kurzer Zeit erzielten Ergebnisse hat Nernst 1889 in seiner Habilitationsschrift “Die elektromotorische Wirksamkeit der Ionen” dokumentiert. 1890 wechselte Nernst als Assistent an das von Eduard Riecke geleitete Physikalische Institut der Universität Göttingen. Hier setzte er seine in Leipzig begonnenen Forschungen auf dem Gebiet der Elektrochemie und der Physikalischen Chemie fort. 1891 wurde er in Göttingen Extraordinarius für Physikalische Chemie und drei Jahre später Ordinarius und Leiter des neu geschaffenen Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie. In die Göttinger Zeit fällt auch die Abfassung des Lehrbuchs “Theoretische Chemie vom Standpunkte der Avogadroschen Regel und der Thermodynamik”, das 1893 erschien und zahlreiche Neuauflagen erfuhr. 1897 veröffentlichte Nernst das von ihm schon länger geplante Buch “Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften - Kurzgefaßtes Lehrbuch der Differential- und Integralrechnung mit besonderer Berücksichtgung der Chemie”, für das er die Mitwirkung von Arthur Schönflies, seinem Kollegen aus der Mathematik, gewinnen konnte. Im Zusammenhang mit Göttingen ist auch die Erfindung der sogenannten “Nernst Lampe” zu erwähnen, die am 8. Juli 1898 für Nernst patentiert wurde. Das Patent konnte er dann an Emil Rathenau, Gründer und Vorsitzender der AEG, verkaufen. Aufgrund ihrer relativ komplizierten Betriebsweise konnte sich die Nernst Lampe gegenüber der immer wieder verbesserten Metallfadenlampe allerdings nicht durchsetzen.
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Abbildung 13.4: Walther Nernst (Zeichnung von Hermann Struck, 1922, private Leihgabe).
Nachdem Nernst in Göttingen schon Weltruhm erlangt hatte, war zu erwarten dass man versucht hat, ihn für den damaligen Spitzenplatz der Wissenschaft in Deutschland, nämlich für Berlin, zu gewinnen. Im April 1905 folgte Nernst der Berufung an die Universität von Berlin auf den Lehrstuhl für Physikalische Chemie als Nachfolger von Hans Landolt. Im August 1905 kündigte Nernst in seiner Vorlesung in Berlin seine wohl wichtigste Entdeckung an, für die er später den Nobel Preis in Chemie erhalten sollte: das Nernstsche Wärmetheorem, das schon bald als Dritter Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet wurde. Das Wärmetheorem besagt, dass die Reaktionsentropie am absoluten Nullpunkt der Temperatur verschwindet. Zur Überprüfung seines Wärmetheorems begann Nernst ein umfangreiches Arbeitsprogramm zur Untersuchung der Stoffeigenschaften bei tiefen Temperaturen und insbesondere der Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme. Einen grossen Fortschritt erzielte Nernst hierbei durch seine Entwicklung des Vakuum-Kalorimeters. 1910 konstruierte er einen Verflüssiger für Wasserstoff, mit dem dann tiefe Temperaturen bis herunter auf 21 K erreicht werden konnten. In den Jahren 1910 1915 wurden in dem von Nernst geleiteten Institut mit zahlreichen Mitarbeitern viele Arbeiten über den Wärmeinhalt von Festkörpern bei tiefen Temperaturen durchgeführt. Als Schüler von
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Nernst spielte hierbei vor allem Arnold Eucken eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit der Physik bei tiefen Temperaturen hatte Nernst die grosse Bedeutung der neuen Quantentheorie klar erkannt. So kam es auch dazu, dass Nernst die berühmte Erste Solvay Konferenz vom 30. Oktober bis 3. November 1911 in Brüssel organisierte, auf der die wichtigsten damaligen Vertreter der Physik die neuen Quantenkonzepte und ihre Folgerungen diskutierten. Zur Finanzierung dieser Konferenz war es Nernst gelungen, die Unterstützung durch den belgischen Wissenschaftler und Geschäftsmann Ernest Solvay zu gewinnen. Ein wichtiges Ereignis war im Jahr 1913 die Reise von Walther Nernst zusammen mit Max Planck nach Zürich, um Albert Einstein dafür zu gewinnen, nach Berlin zu kommen. Diese Mission war dann auch erfolgreich, und Nernst war es gelungen, einen finanziellen Stifter zur Aufstockung des Gehalts von Einstein in Berlin zu finden. Am 1. Weltkrieg hat Nernst zunächst als Mitglied des Kaiserlich Freiwilligen Automobilkorps teilgenommen. Nach 1915 war er als wissenschaftlicher Beirat des Minenwerferbataillons I tätig. Er sollte sich um die Verbesserung von Sprengstoffen kümmern. Den Einsatz von tödlichem Giftgas lehnte er ab. Schon früh hatte Nernst erkannt, dass der 1. Weltkrieg, in dem er seine beiden Söhne verlor, für Deutschland aussichtslos war. Ein möglichst rasches Ende erschien ihm daher anzustreben. Mehrfach war er zu Vorgesprächen in einer Friedensmission in Brüssel. Den uneingeschränkten U-Boot Krieg, der Anfang 1917 begann, hielt er in Einklang mit seinem Freund Walther Rathenau für falsch. Nachdem die USA 1917 in den Krieg eingetreten war, bemühte sich Nernst bei Kaiser Wilhelm II. vergeblich um rasche Friedensverhandlungen. Am 10. Dezember 1921 durfte Nernst in Stockholm den Nobel Preis in Chemie für das Jahr 1920 in Empfang nehmen. Geehrt wurde er vor allem für die Entdeckung seines Wärmetheorems. Am 1. April 1922 ernannte das Reichsministerium des Innern den Nobelpreisträger Walther Nernst zum Nachfolger von Emil Warburg. Aufgrund seines wissenschaftlichen Rufs, seiner Persönlichkeit und seinen organisatorischen Fähigkeiten kam die Berufung von Nernst zum Präsidenten der Reichsanstalt nicht unerwartet. Schon seit 1905 hatte Nernst dem Kuratorium der Reichsanstalt angehört. Gleich zu seinem Amtsantritt hatte Nernst durchgesetzt, dass eine neue Stelle zur Entlastung des Präsidenten von Verwaltungsaufgaben geschaffen wurde. Ein wichtiges Ereignis unter der Präsidentschaft von Nernst war 1922 die Vereinigung der “Reichsanstalt für Maß und Gewicht” und ihrer damals über 70 Mitarbeiter mit der PTR. Mit besonderem Erfolg kümmerte sich Nernst um die Entwicklung des Chemischen Laboratoriums. Hierzu brachte er Walter Noddack, einen seiner Schüler, mit an die Reichsanstalt (vgl. Kapitel 7). Ein weiteres Verdienst von Nernst war es, dass er die Notwendigkeit erkannte, an der Reichsanstalt einen Experten auf dem Gebiet der Theoretischen Physik zur Verfügung zu haben. Daher veranlasste Nernst, dass Max von Laue an der Reichsanstalt als theoretischer Berater tätig wurde (vgl. Kapitel 6). Die von Nernst so ungeliebte Verwaltungsarbeit und die Einschränkung seiner wissenschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten nahmen ihm aber mehr und mehr die Begeisterung für das Amt des Präsidenten. Ende Februar 1924 reichte er beim Innenministerium sein Rücktrittsgesuch ein. Am 30. April 1924 schied er aus seinem Amt und übernahm den seit 1922 durch den Tod von Heinrich Rubens verwaisten Lehrstuhl für Experimentalphysik an der Universität Berlin. Jetzt konnte sich Nernst wieder der reinen Physik zuwenden. In den anschließenden Jahren betrafen seine Forschungen das Verhalten von starken Elektrolyten sowie astrophysikalische und kosmologische Fragen.
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Im Jahr 1922 hatte sich Nernst zum dritten und letzten Mal ein Gut auf dem Land gekauft, nämlich das Gut Oberzibelle in der Stadt Zibelle (heute Niwica in Polen) in der Nähe von Bad Muskau/Oberlausitz. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1933 verbrachte Nernst vorwiegend seine freien Wochenende und die Sommerferien in Oberzibelle. Nach 1933 war das Gut der eigentliche Wohnsitz für ihn und seine Frau. Dort starb er am 18. November 1941.
Friedrich Paschen: Präsident 1924 – 1933 Friedrich Louis Karl Heinrich Paschen wurde am 22. Januar 1865 in Schwerin geboren. Dort besuchte er auch das Gymnasium Fridericianum. Nach dem Abitur und dem einjährigen Militärdienst begann er 1884 an der Universität Straßburg mit dem Studium der Physik. Nachdem er zwischendurch für ein Jahr an der Universität von Berlin gewesen war, kehrte er nach Straßburg zurück und promovierte im September 1888 dort bei August Kundt. Nach seiner Promotion war Paschen Assistent bei Wilhelm Hittorf in Münster. 1891 kam er an das Physikalische Institut der Hochschule Hannover, wo er sich 1895 habilitierte und anschliessend eine Position als Extraordinarius hatte. Während seiner 10 Jahre in Hannover entwickelte Paschen seinen Ruf als einer der führenden Spektroskopiker. Wie wir in Kapitel 5 beschrieben haben, befasste sich Paschen damals intensiv mit den experimentellen Hinweisen zum Planck’schen Strahlungsgesetz, woraus eine Kontroverse mit den entsprechenden Experten der Reichsanstalt resultierte. Als Experimentalphysiker war Paschen höchst beeindruckend. Seine Apparaturen fertigte er nach Möglichkeit selbst an, und zahlreiche spezielle Instrumente sind mit seinem Namen verbunden. Das Glasblasen beherrschte er meisterhaft. 1901 übernahm der schon damals als Spektroskopiker berühmte Friedrich Paschen in Tübingen das Ordinariat für Physik. Seit 1903 hatte er dort für seine Forschungen eines der besten Rowlandschen Konkavgitter zur Verfügung. Derartige Gitter konnten nur mit der von Henry A. Rowland an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland konstruierten Teilmaschiene hergestellt werden. Das Gitter besteht aus einem Hohlspiegel aus Spiegelmetall und ist in 110 000 regelmäßige und eng beieinanderliegende Striche geteilt. Es war Paschen nur zum Fabrikpreis des Hohlspiegels übereignet worden. Das Tübinger Gitter wurde durch die Arbeiten Paschens und seiner Schüler weltberühmt. Das Gitter sowie die zugehörigen Hilfsgeräte waren im legendären “Gitterzimmer” des Physikalischen Instituts untergebracht. Diese notwendige grosse Räumlichkeit konnte gewonnen werden, indem nach der Fertigstellung eines Anbaus für den Hörsaal im Jahr 1911 der Raum unterhalb der steil ansteigenden Sitzreihen genutzt wurde. In der Zeit von 1912 bis etwa 1930 (somit auch noch nach dem Wechsel von Paschen an die Reichsanstalt) haben die Forschungsarbeiten von Paschen und seinen Schülern in dem Tübinger spektroskopischen Laboratorium entscheidende Ergebnisse für die Entwicklung der Atom- und Quantenphysik geliefert. Wir erwähnen hier die Paschen-Serie im Wasserstoff Spektrum, den zusammen mit Ernst Back 1912 entdeckten Paschen-Back Effekt, das Ortho- und Para-Helium, die Feinstruktur von He+ , und die Präzisionsmessung der Rydberg-Konstanten. Auf den experimentellen Daten aus Paschen’s Laboratorium aufbauend, entwickelte Arnold Sommerfeld damals seine Quantentheorie des Atombaus. Nach dem Ausscheiden von Walther Nernst hatte das Reichsministerium des Innern Friedrich Paschen angeboten, die Leitung der PTR zu übernehmen. Bei namhaften deutschen Wis-
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Abbildung 13.5: Friedrich Paschen (PTB).
senschaftlern bestand die Meinung, dass Paschen das Angebot annehmen sollte. Nachdem das Ministerium Zugeständnisse gemacht hat, u. a. für zusätzliche finanzielle Mittel, für die Einrichtung eines neuen Laboratoriums für Spektroskopie, und für die Möglichkeit, dass er bis zum 70. Lebensjahr im Amt bleiben darf, gab Paschen seine Zusage. Am 1. November 1924 trat er sein Amt als Präsident der Reichsanstalt an.
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In die Zeit der Präsidentschaft von Paschen fielen bedeutende Erfolge der Reichsanstalt. Wir nennen die Experimente im Temperaturbereich des flüssigen Heliums im Kältelabor (Kapitel 6), die Entdeckung von neuen Elementen im Chemischen Labor (Kapitel 7), sowie die Strahlungsmessungen im Labor für Radioaktivität (Kapitel 8). Ein Thema das besonders in den späteren Amtsjahren viel Aufmerksamkeit von Paschen verlangte, war die Frage einer baulichen Erneuerung der Reichsanstalt und der Bereitstellung neuer Flächen. Wegen der damaligen sehr geschwächten Wirtschaftslage wurden aber keine wesentlichen Fortschritte erzielt. Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 brachten dann zahlreiche Änderungen, neben vielem anderen auch die Verdrängung von Paschen aus seinem Amt. Die treibende Kraft hierbei war der Experimentalphysiker und Nobelpreisträger (von 1919) Johannes Stark, der sich schon früh der nationalsozialistischen Partei angeschlossen hatte. Die Abneigung Friedrich Paschens gegenüber dem Nationalsozialismus wird durch folgende Geschichte veranschaulicht. Nach der ersten Reichstagswahl unter dem Regime der Nationalsozialisten hatten am 5. März 1933 begeisterte Anhänger von Hitler die Fahne mit dem Hakenkreuz auf dem Gebäude des Observatoriums der PTR gehißt. Auf Veranlassung Paschens wurde die Fahne aber schon kurz danach wieder eingezogen und in die Wohnung des Präsidenten gebracht. Schon in der Kuratoriumssitzung vom 15. und 16. März wurde mitgeteilt, dass Paschen in den Ruhestand treten werde. Am 1. Mai 1933 wurde Johannes Stark “gegen das einhellige Votum aller befragten Fachmänner zum Präsident der Reichsanstalt ernannt”, wie Max von Laue es später formulierte. Zum Ende April 1933 trat Paschen den “dauernden Ruhestand” an. Ihm wurde noch zugestanden, eigene Arbeiten an der Reichsanstalt durchzuführen. Doch auch dies endete 1937 als Präsident Stark Paschen praktisch von der PTR verwies. Anschliessend arbeitete dieser noch an der Auswertung seiner Spektralaufnahmen. Nachdem 1943 seine Berliner Wohnung bei einem Bombenangriff zerstört wurde, wobei seine sämtlichen Unterlagen verloren gingen, zog er nach Potsdam. Dort starb Friedrich Paschen am 26. Februar 1947 an den Folgen einer Lungenentzündung.
14 Die Reichsanstalt unter der NS Diktatur und der Neuanfang Der politische Umschwung, der sich am Anfang der 1930er Jahre in Deutschland vollzog, betraf die PTR in einer ganz besonderen Weise. Für die PTR bedeutete er den Versuch, einen wissenschaftspolitischen Zentralismus (“Führerprinzip”) in der Institution mit einer antisemitischen Ideologie in der Physik zu verbinden, die sich aus der schroffen Ablehnung der als “jüdisch” apostrophierten modernen Physik rekrutierte. Die Quantentheorie und die Relativitätstheorie wurden zum Gegenstand massiver, teilweise staatlich sanktionierter Polemik. Eine Verengung der wissenschaftlichen Perspektive auf die konservativen Positionen einer Ideologie und die Zurückdrängung unbefangenen Fortschrittdenkens waren die Folge. Hinzu kam die Auswirkung des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933), das die Entlassung jüdisch stämmiger Mitarbeiter aus dem Dienst der PTR erzwang. Auch wenn ernsthafte Vorbehalte und Einwände, die sich hauptsächlich gegen die Konzepte der Relativitätstheorie richteten, im wissenschaftlichen Tagesgeschehen der PTR diskutiert werden konnten - wir erwähnten in Kapitel 9 die Position von Ernst Gehrcke - , so sind es doch die extremen Einstellungen der Protagonisten der “Deutschen Physik”, Johannes Stark und Philipp Lenard, die es der nachwachsenden Generation sehr schwer - wenn nicht unmöglich - machen, die Ursachen dieser bedrückenden Entwicklung und ihre historischen Folgen für die Wissenschaft in Deutschland nachzuvollziehen. Gewiss lag eine der Ursachen in der staatstragenden Funktion, die die politischen Parteien nach dem Ende der Monarchie 1918 übernommen hatten, und die Auswirkung auf die PTR war lediglich eine konsequente Umsetzung in die Struktur eines großen wissenschaftlichen Instituts des Reiches. Umso unverständlicher ist es allerdings, dass dieser Umschlag von Persönlichkeiten getragen wurde, die selbst bedeutende Beiträge zur physikalischen Forschung erbracht hatten. In dieser Situation ist es wichtig, einem Zeitzeugen hoher persönlicher Integrität und wissenschaftlicher Kompetenz zuzuhören, dessen Wirken seit Mitte der 1920er Jahre mit der PTR eng verknüpft war und der die Geschicke der PTR/PTB und den Wiederaufbau der Metrologie im Westen Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg ganz entscheidend gefördert hat: Max von Laue. Hören wir noch einmal die Passage aus der Gedenkrede, die Walther Meissner am 15. Oktober 1960 auf Max von Laue hielt, und die wir teilweise am Ende von Kapitel 6 schon zitiert haben: “Als ich Laue im Vortragssaal [der Physikertagung in Würzburg im September 1933] traf, trug er auf der rechten Hand einen weißen Baumwollhandschuh. Ich fragte erstaunt: “Was haben Sie denn an der rechten Hand, haben Sie sich verletzt ?” Darauf flüsterte er mir ins Ohr: “i wo, es sind hier nur Verschiedene, denen ich nicht die Hand geben möchte.” Und dann hielt er die große Rede, in der er gegen die Unterdrückung der Freiheit der Wissenschaft durch den Nationalsozialismus, besonders durch Johannes Stark , der damals Präsident der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt war, auftrat. Laue nahm als Vorwand den Gedenktag des 22. Juni, an dem vor 300 Jahren der Prozeß der Inquisition gegen Galiläi mit dessen Verurteilung endete,
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_14, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sowie die legendären Worte Galiläis nach seinem Widerruf: “Und sie bewegt sich doch!” Laue verglich das Aufsehen, das die Lehre von Kopernikus erzeugte, mit der Relativitätstheorie und schloss mit den Worten: “Auch später gab es für die Wissenschaften schlechte Zeiten. Aber bei aller Bedrückung konnten sich ihre Vertreter aufrichten an der sieghaften Gewissheit, die sich ausspricht in dem schlichten Satz: Und sie bewegt sich doch. ... Das Vorgehen Starks gegen die theoretische Physik, besonders gegen die Plancksche Quantentheorie und die Einsteinsche Relativitätstheorie empörte Laue so, daß er im Dezember 1933 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften scharf gegen die Wahl Starks zum ordentlichen Akademiemitglied auftrat und sie so verhinderte. Zwei Tage später wurde ihm die Stelle als theoretischer Berater der Reichsanstalt [seit 1924] von Stark gekündigt.” (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse, 1960, S. 101). Bereits unmittelbar nachdem die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Regierung gekommen waren mit Hitler als Reichskanzler, erfuhr auch die Physikalisch-Technische Reichsanstalt einschneidende Änderungen. Am 1. Mai 1933 übernahm Johannes Stark das Amt des Präsidenten nachdem sein Vorgänger, Friedrich Paschen, zwangsweise den Ruhestand antreten musste. Stark war ein begeisterter Anhänger von Hitler und der Nazi-Bewegung geworden. Er formulierte selbst: “Als die nationalsozialistische Partei zum Entscheidungskampf um die Macht antrat, da schloß ich die Türe meines physikalischen Laboratoriums und trat ein in die Reihen der Kämpfer hinter Adolf Hitler.” (Johannes Stark, Adolf Hitler und die deutsche Forschung, Berlin, 1934). Wie in Kapitel 6 erläutert wurde, war Stark auch der Anlass, dass Walther Meissner schon bald die Reichsanstalt verließ und an die Technische Hochschule in München wechselte. Bei den meisten führenden Physikern stieß die Ernennung Starks damals auf Ablehnung. Die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der PTR (Forschung und Prüfung, 50 Jahre PhysikalischTechnische Reichsanstalt, J. Stark (Hrsg.), 1937 Berlin) beginnt mit der Erklärung ihres zentralen und gesamtheitlichen wissenschaftspolitischen Geltungsanspruchs: “Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt ist die größte staatliche Anstalt des Deutschen Reiches auf dem Gebiete der Physik und der auf diese sich gründenden Technik.” Sie verzeichnet (Oktober 1937) die Tätigkeit von 130 wissenschaftlichen Beamten und Angestellten, 179 technischen Beamten und Angestellten, 58 Beamten und Angestellten der Verwaltung und von 76 weiteren Hilfskräften. (Zum Vergleich: Anfänglich hatte das Personal der PTR aus 17 Wissenschaftlern und 8 Hilfskräften bestanden, im Jahr 1892 waren es 29 Wissenschaftler und 35 nichtakademische Mitarbeiter gewesen.) Hatte die PTR von 1887 bis 1934 zum Ressort des Reichsamts bzw. Reichsministeriums des Innern gehört, so ist sie seit 1934 dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unterstellt. Ihren Aufgaben entsprechend ist die Tätigkeit aller ihrer Laboratorien mit wissenschaftlicher Tätigkeit unterbaut; eine Anzahl ihrer Laboratorien betreibt wissenschaftliche Forschung ohne unmittelbaren Zusammenhang mit einer Prüftätigkeit. Besonders in experimenteller und technischer Hinsicht war Stark als junger Wissenschaftler hervorgetreten. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag auf dem Gebiet der elektrischen Leitfähigkeit in Gasen. Er hatte im Jahr 1904 das “Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik” gegründet, in dem auch Einsteins wichtige Arbeit “Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen” erschienen war (Jahrbuch 4, 1907, S. 411, tatsächlich am 22.01.1908 publiziert; Berichtigung 1908, S. 98). Im Jahr 1905 hatte er den Doppler Effekt in Kanalstrahlen gefunden, die von Wilhelm Wien als sehr schnell fliegende Elektronen erkannt worden waren und den ersten Nachweis des Effektes im Licht einer irdischen Quelle ermöglicht hatten. Stark
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betrachtete den Nachweis des Doppler Effekts als Bestätigung der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins (1905) und (etwas später, 1907) auch als Bestätigung der Quantenhypothese. Im Jahr 1913 hatte er die Aufspaltung der Spektrallinien im elektrischen Feld (Stark Effekt) entdeckt, wofür er 1919 den Nobelpreis in Physik erhielt. Nur wenige Monate zuvor hatte Niels Bohr die Arbeit über sein Atommodell veröffentlicht, das die Möglichkeit des Ansatzes einer Interpretation der Aufspaltung der Spektrallinien lieferte. So gesehen hätte Stark in einer Reihe mit den Entdeckern des elementaren Wirkungsquantums: Planck, Einstein, Bohr, stehen können. Indessen wandte sich Stark seit 1913 massiv gegen die Quantentheorie (was zu einem verletzenden Streit mit Arnold Sommerfeld führte) und insbesondere gegen das Konzept der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins. Angesichts dieses schwer nachvollziehbaren Bruches der wissenschaftlichen Orientierung mag es interessant sein, zwei Aspekte aus der wissenschaftlichen Biographie Max von Laues zu erwähnen, an dessen Haltung wir hier die Entwicklung in der PTR reflektieren wollen. Dieses Vorgehen könnte deutlich werden lassen, dass sich die moderne Physik aus ihren Ansätzen heraus kontinuierlich entwickelt hat und sich frei von dogmatischen Einstellungen objektivierbar referieren lässt. Max von Laue - er hatte 1903 bei Planck promoviert und war seit 1905 sein Assistent - übertrug das Entropie-Konzept Plancks auf die Optik. Hatte Woldemar Voigt (Göttingen, 1899) Laue für die Theoretische Physik begeistert, so war es wenig später Otto Lummer (PTR) gewesen, dessen Vorlesungen an der Berliner Universität Laues Interesse für die Optik weckten. Die Spezielle Relativitätstheorie trat sehr früh in Laues Blickfeld. Bereits wenige Monate nach ihrem Erscheinen (Einstein, Juni 1905) hielt Planck im Wintersemester 1905/06 ein Colloquium über die neue Theorie, und Laue veröffentlichte schon ein Jahr später die Deutung des Fizeau’schen Interferenzversuchs von 1851 auf dieser Basis. (Der Interferenzversuch von Fizeau bezweckt die Messung der Lichtgeschwindigkeit im strömenden Wasser.) Dieses Ergebnis trug ebenso wie der Michelson-Morley Versuch zur Annahme der Speziellen Relativitätstheorie bei. 1910 veröffentlichte Laue eine erste Monographie über die Relativitätstheorie; sie wurde 1919 durch Aufnahme der Allgemeinen Relativitätstheorie erweitert. Ein anderer Höhepunkt in Laues Schaffen fällt in dieselbe Zeitspanne, in die auch die oben erwähnte Entdeckung des Bohr’schen Atommodells und der Stark Effekt fallen: Am 4. Mai 1912 wurde der Bayrischen Akademie der Erfolg des von Laue (nach Diskussion mit Peter Paul Ewald) vorgeschlagenen und interpretierten, und gemeinsam mit Paul Knipping und Walter Friedrich durchgeführten Versuchs mit Röntgenstrahlinterferenzen in Kupfersulfat mitgeteilt. Das “LaueDiagramm” war der erste Nachweis des regelmäßigen Aufbaus der Kristalle aus Atomen. Max von Laue erhielt für diese Entdeckung den Nobelpreis für Physik des Jahres 1914. (Der Vater war in demselben Jahr in den Adelsstand erhoben worden.) Max von Laue kehrte nach Zwischenstationen in Zürich und Frankfurt im Jahr 1919 an die Universität in Berlin zurück. Mit besonderem Interesse hat er die Erforschung der Supraleitung verfolgt; wir berichteten darüber in Kapitel 6. Gemeinsam mit den Brüdern Fritz und Heinz London hat er eine subtile semiklassische Theorie der Supraleitung entwickelt. Mit Blick auf die ideologisierte Ablehnung der Quantentheorie durch die “Deutsche Physik” wäre es vielleicht wichtig zu bemerken, dass von Laue der “Kopenhagener Deutung” der sich in der Mitte der 1920er Jahre entwickelnden und abrundenden modernen Quantenmechanik eher reserviert gegenüberstand - wie auch Planck, Einstein, de Broglie und Schrödinger.
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Kehren wir zu Johannes Stark zurück. Der Umgang mit seinen Kollegen im Hochschulbereich entwickelte sich auf der anderen Seite zunehmend schwierig. 1922 hatte er seine Professur als Nachfolger Wilhelm Wiens in Würzburg aus Verärgerung niedergelegt. Trotz vielfacher Bemühungen blieb ihm anschliessend bis 1933 eine akademische Stellung verwehrt. Schon bald nach seinem Amtsantritt an der PTR entwickelte Stark gigantische und daher unrealistische Pläne für einen Neuaufbau der Reichsanstalt. Eine deutlich negative Auswirkung hatte die von Stark verfügte Abschaffung des Kuratoriums, nach fast einem halben Jahrhundert. Bereits 1934 wurde Stark zusätzlich auch noch Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie die vorherige Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft genannt wurde. Sein Ziel war dabei, die Kontrolle über die Physik in Deutschland zu gewinnen. Hierbei hatte er auch die Organisation des physikalischen Schrifttums sehr bewusst mit einbezogen und der PTR eine zentrale Rolle zugedacht. Wegen einer Reihe von Intrigen musste er aber 1937 von der Leitung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zurücktreten. Im Bereich der Forschung sind die von Stark an der PTR besonders geförderten akustischen Arbeiten und die Einrichtung neuer Laboratorien für Akustik zu erwähnen. Für deren Aufbau und Leitung konnte er Martin Grützmacher gewinnen. 1939 trat Stark von der Leitung der Reichsanstalt zurück nachdem er das 65. Lebensjahr vollendet hatte. Sein Nachfolger wurde Abraham Esau, der besonders auf dem Gebiet der Hochfrequenz-Physik gearbeitet hatte. Nach seinem Studium der Physik und Mathematik in Berlin, Danzig und Halle hatte Esau 1908 bei Max Wien an der Technischen Hochschule in Danzig promoviert mit einer Arbeit über das Thema “Widerstand und Selbstinduktion von Solenoiden für Wechselstrom”. Es folgten vier Jahre Assistententätigkeit, während denen Esau sich mehr und mehr der drahtlosen Telegraphie als Hauptaufgabengebiet zuwandte. 1912 trat er eine Stelle in der Firma Telefunken in Berlin an, wo er schon bald Leitungsaufgaben zu übernehmen hatte. Fragen des Funkempfangs traten in den Vordergrund. Als der 1. Weltkrieg ausbrach befand sich Esau gerade im Auftrag von Telefunken in Afrika, um in Togo die Inbetriebnahme einer Großstation für Funkverkehr zu leiten. So geriet er 1914 in französische Internierung. Nach dem Krieg konnte Esau nach Deutschland zurückkehren, wo er 1919 die Leitung sämtlicher Laboratorien von Telefunken übernahm. 1925 begann seine akademische Laufbahn. Als Professor wirkte er am Technisch-Physikalischen Institut der Universität Jena. Nach 1933 schloss er sich dem Nationalsozialismus an. Dies führte zu seinem raschen Aufstieg in seiner weiteren Karriere innerhalb der Wissenschaft. Er wurde Rektor der Jenaer Universität und 1937 Fachspartenleiter im sogenannten Reichsforschungsrat. Die Krönung war dann die Präsidentschaft der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, ein Amt, das er zum 1. Juni 1939 antrat. Von Göring, einem der höchsten Nazi Funktionäre, erhielt er später auch noch das Amt eines “Bevollmächtigten für die Hochfrequenzforschung”. Auf dem Gebiet der Hochfrequenz-Physik und -Technik war Esau eine anerkannte Kapazität. Im Bereich der Ultrakurzwellen und in der Funkmesstechnik (heute mit Radar bezeichnet) hat er große Verdienste. Ferner hat er das Verhalten von Werkstoffen bei dynamischer mechanischer Belastung als ein Spezialgebiet der Materialprüfung bearbeitet. Die Amtsperiode von Esau als Präsident der Reichsanstalt war nahezu vollständig durch den 2. Weltkrieg geprägt. Sämtliche Neubaupläne mussten wegen der Kriegsereignisse rasch aufgegeben werden. Die Kriegsanstrengungen führten auch zu wesentlichen Änderungen des Aufgabenbereichs der PTR. Seine Überhäufung mit zahlreichen Ämtern bewirkte, dass Esau immer seltener an der Reichsanstalt anzutreffen war.
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Durch die im Laufe des 2. Weltkriegs einsetzenden Luftangriffe auf Berlin erfuhren die Gebäude der Reichsanstalt schwere Zerstörungen. Ab 1943 wurde der grösste Teil der PTR aus Berlin ausgelagert, vor allem nach Thüringen. Mit dem Kriegsende im Mai 1945 endete schließlich die Aktivität der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt als metrologisches Staatsinstitut des Deutschen Reiches. Lilli Peltzer (Lehrstuhl von Arnulf Baring, Freie Universität Berlin) hat die Periode von 1945 bis 1948 vor der Wiederbegründung der institutionellen Metrologie in den beiden deutschen Teilstaaten in einer eindrucksvollen Darstellung unter dem Titel “Die Demontage deutscher naturwissenschaftlicher Intelligenz nach dem 2. Weltkrieg” (ERS - Verlag - Berlin 1993) nachgezeichnet. Nach 1945 begann auf dem Gelände der fast unbeschädigten “Luftwaffenversuchsanstalt Hermann Göring” in Völkenrode bei Braunschweig der Neuanfang, der mit der Physikalisch- Technischen Bundesanstalt (PTB) eine neue Ära einleitete. In den damaligen schwierigen Jahren hat insbesondere Max von Laue wesentlich dazu beigetragen, dass sich die PTB als die Fortsetzung der PTR etablieren konnte. Das Bild 14.1 zeigt Max von Laue im Jahr 1946 auf dem Gelände der PTB in Braunschweig.
Abbildung 14.1: Max von Laue im Jahr 1946 auf dem Gelände der PTB in Braunschweig.
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14 Die Reichsanstalt unter der NS Diktatur und der Neuanfang
Die auf dem ursprünglichen Gelände der Reichsanstalt in Berlin-Charlottenburg (als “Physikalisch-Technische Reichsanstalt”, Berlin-Charlottenburg) verbliebenen Laboratorien wurden im September 1953 durch einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik und dem Land Berlin (Bundesanzeiger Nr. 188 v. 30.09.1953) der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Braunschweig, als “Physikalisch-Technische Bundesanstalt - Institut Berlin” angeschlossen. Die Bundesanstalt hat seither ihren Sitz in Braunschweig und in Berlin. Auch das staatliche Messwesen der Deutschen Demokratischen Republik ging auf die PTR zurück. Am Ende des 2. Weltkrieges waren die Mitarbeiter der Reichsanstalt in alle Winde zerstreut. Der größte Teil der Laboratorien war 1943 nach Thüringen mit Schwerpunkt in Weida verlegt worden. Nur wenige Mitarbeiter blieben in Charlottenburg. Aus der PTR Weida entstand 1946 das “Deutsche Amt für Maß und Gewicht”, das später nach Berlin-Friedrichshagen verlegt wurde und schließlich im Jahr 1972 in das neugeschaffene “Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung” (ASMW) als dessen Abteilung Messwesen überging. Im Gefolge des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 wurde auch die institutionelle Metrologie in Deutschland wiedervereinigt. Die Physikalisch-Technische Bundsanstalt übernahm damit das wissenschaftliche Erbe und die Tradition der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Für die Bundesanstalt sind die Wegemarken und die herausragenden wissenschaftlichen Ergebnisse der Arbeit der Reichsanstalt die Grundlagen ihrer Tätigkeit und zugleich Wegweisungen für die Forschungsplanung angesichts der komplexen wissenschaftlichen und technologischen Anforderungen an die Metrologie des 21. Jahrhunderts.
15 Das elektromagnetische Quantendreieck Quantennormale aus der Perspektive des Ohm’schen Gesetzes Am Ende der Zeitspanne, der dieses Buch gewidmet ist, beschreibt Meyers Lexikon die Physikalisch-Technische Reichsanstalt als Institut, dessen Aufgaben auf dem Gebiet der reinen und der angewandten Physik liegen und teils allgemeine, die Lösung wissenschaftlicher Probleme bezweckende Untersuchungen, teils spezielle Arbeiten zur Förderung der Technik, darunter die Oberaufsicht über das Mess- und Eichwesen und die Prüfung von Messinstrumenten und dgl., umfassen. (Meyers Lexikon, Leipzig 1928). Diese Darstellung bringt die Zweigliedrigkeit der Aufgabenstellung klar zum Ausdruck: Wissenschaftliche Tätigkeit zu grundlegenden Themen von besonderer Tragweite - ausgedehnte Prüftätigkeit mit weitgehender Regulierung zwecks Steigerung der Qualität der messtechnischen Infrastruktur in Industrie und Handel. Kurz gefasst: Mitarbeit an den Highlights der Grundlagenforschung und flächendeckende Basismetrologie zwei Felder unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Charakters und unterschiedlicher Ereignisgeschichte. Zur Erläuterung dieses Zusammenhanges wählen wir hier das elektromagnetische Quantendreieck als ein konkretes Beispiel, das beide Aufgabenstellungen zusammenführt und eine historische Brücke über die Tätigkeit der Anstalt zwischen den 1890er Jahren und der Gegenwart (2010) spannt, - und das zugleich den wissenschaftstheoretischen Wandel von der klassischen Metrologie zur modernen Quantenmetrologie zu demonstrieren gestattet. In Abb. 15.1 handelt es sich um zwei symbolische Darstellungen des Zusammenhanges der Einheiten für die elektrische Spannung, den elektrischen Strom und den elektrischen Widerstand. Das große Dreieck stammt aus der klassischen Elektrodynamik des 19. Jahrhunderts und erinnert an das Ohm’sche Gesetz U = IR; aus jeweils zwei Größen kann man die dritte berechnen. Das innere Dreieck zeigt die zugeordneten quantenphysikalischen Größen, die Josephson-Konstante, 2e/h, die von Klitzing-Konstante, h/e2 , und die elektrische Elementarladung, e, - drei Fundamentalkonstanten, die zu den Elementen des in Aussicht genommenen neuen Internationalen Systems der Einheiten gehören. Deshalb kann man das Dreieck als eine Brücke zwischen den früheren Arbeiten der PTR und den aktuellen Aufgaben der PTB betrachten und zugleich als den Übergang von der konventionellen Darstellung der Basiseinheiten zu der abstrakten Form der neuen Version des SI ansehen. Georg Simon Ohm hat das Gesetz empirisch gefunden (Die galvanische Kette mathematisch bearbeitet, 1827). Die erste statistische Theorie des elektrischen Widerstandes verdankt man Paul Drude (Zur Elektronentheorie der Metalle, Ann. Phys. 1, 577 (1900)). Die PhysikalischTechnische Reichsanstalt hat in den 1890er Jahren das erste Gesetz über elektrische Einheiten in Deutschland auf der Basis des Ohm’schen Gesetzes erarbeitet; Abbildung 15.2 zeigt ein Faksimile. Dieses Gesetz kann als die erste bedeutende Dokumentation der Basismetrologie im wissenschaftlich-technischen Zeitalter verstanden werden.
R. Huebener und H. Lübbig, Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, DOI 10.1007/978-3-8348-9908-8_15, © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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15 Das elektromagnetische Quantendreieck aus der Perspektive des Ohm’schen Gesetzes
A e 2e/h
V
h/e²
W
Abbildung 15.1: Das elektromagnetische Quantendreieck. Das äußere Dreieck stellt die Einheiten der Größen des Ohm’schen Gesetzes dar, das innere Dreieck bezeichnet die drei Quantennormale: Die JosephsonKonstante, 2e/h, die von Klitzing-Konstante, h/e2 , und die elektrische Elementarladung, e.
So plausibel die Wahl der physikalischen Basis des ersten Einheitengesetzes, das Ohm’sche Gesetz, in der Perspektive des späten 19. Jahrhunderts auch erscheinen mag, als so genial muss man die Fassung des Gesetzes aus Sicht der Gegenwart (2010) empfinden, lässt es sich doch direkt auf die drei quantenphysikalischen Konstanten des inneren Dreiecks abbilden, deren Bedeutung erst durch Entdeckungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts evident wurde. Die einfache Form des linearen Zusammenhanges der Größen für die elektrische Spannung, den Strom und den Widerstand (die streng genommen nur im Grenzfall sehr kleiner Spannungen und Ströme gilt) und die weitreichende technische Anwendbarkeit erfüllen die Bedingung guter öffentlicher Vermittelbarkeit wie sie von jedem amtlichen Gesetz gefordert wird. Es entsteht dann die Frage, welcher Weg von dem (anschaulichen) äußeren Dreieck zu dem (abstrakten) inneren Dreieck führt und welche (notwendigen) physikalischen Einsichten ihn markieren. Der Weg, der zum inneren Dreieck führt, ist geprägt durch die Entwicklung des Elektromagnetismus, deren Meilensteine das Induktionsgesetz und die Einführung des Begriffs der Kraftlinien durch Michael Faraday (1831), seine Umsetzung in die mathematische Formulierung der Nahwirkung als Theorie des elektromagnetischen Feldes von James Clerk Maxwell (seit 1855/56), und die Erkenntnis der Quantennatur der Bewegung von Elektronen durch Erwin Schrödinger im Wendejahr (1921) von der Bohr-Sommerfeld’schen zur modernen Quantenphysik sind. Hinzu kommen schließlich
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Abbildung 15.2: Gesetz betreffend die elektrischen Einheiten. §1. Die gesetzlichen Einheiten für elektrische Messungen sind das Ohm, das Ampere und das Volt. §2. Das Ohm ist die Einheit des elektrischen Widerstandes. Es wird dargestellt durch den Widerstand einer Quecksilbersäule von der Temperatur des schmelzenden Eises, deren Länge bei durchweg gleichem, einen Quadratmillimeter gleich zu achtendem Querschnitt 106,3 Centimeter und deren Masse 14,4521 Gramm beträgt. §3. Das Ampere ist die Einheit der elektrischen Stromstärke. Es wird dargestellt durch den unveränderlichen elektrischen Strom, welcher bei dem Durchgange durch eine wässerige Lösung von Silbernitrat in einer Sekunde 0,001118 Gramm Silber niederschlägt. §4. Das Volt ist die Einheit der elektromotorischen Kraft. Es wird dargestellt durch die elektromotorische Kraft, welche in einem Leiter, dessen Widerstand ein Ohm beträgt, einen elektrische Strom von einem Ampere erzeugt. (Reichsgesetzblatt No. 26 (1898) S. 905)
die Methoden zur Beschreibung des kollektiven Verhaltens von Viel-Teilchensystemen in Supraleitern und diejenigen des Magnetotransports in Quanten-Hall Systemen, die während der zwei-
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15 Das elektromagnetische Quantendreieck aus der Perspektive des Ohm’schen Gesetzes
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Die Entdeckungen der beiden letztgenannten makroskopischen Quantenphänomene sollten den Durchbruch der Bemühungen zur Rückführung der Basiseinheiten auf Fundamentalkontanten erbringen; wir hatten darüber im Kapitel 11 berichtet. Damit wird für die elektromagnetischen Größen eine Definition ihrer Einheiten getroffen, die unabhängig ist von einem speziellen physikalischen Gesetz und unabhängig von einer speziellen Eigenschaft des Messobjekts ist, und somit dem holistischen Anspruch der Physik mit universellen Basiseinheiten - hier für den Fall der elektromagnetischen Größen - Rechnung trägt.
Abbildung 15.3: Zeichnung von Edwin Hall aus dem Jahr 1879. Ein von der Batterie aufgeprägter Strom produziert bei angelegtem, senkrecht orientierten Magnetfeld eine Spannung zwischen den Punkten a und b der Goldfolie; vgl. auch Abbildung 10.3. (K. P. Sopka, The Discovery of the Hall Effect: Edwin Hall’s hitherto unpublished Account, in: C. C. Chien, C. R. Westgate, (eds) The Hall Effect and its Applications, New York 1980, S. 523).
Es ist wichtig, auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen, der zwischen der Definition des Leitungswiderstandes, wie ihn das Ohm’sche Gesetz verwendet, und dem Hall-Widerstand, der im Quanten-Hall Experiment auftritt, besteht. Das Ohm’sche Gesetz basiert auf der Vorstellung des Widerstandes, den ein Transportstrom in Richtung des angelegten elektrischen Feldes E = −gradV , d. h. in Richtung des entsprechenden Spannungsabfalls U = ΔV erfährt. Davon abweichend ist der Hall-Widerstand RH definiert als der Quotient der quer zur Stromrichtung also zwischen den Punkten a und b der in Abbildung 15.3 gezeigten Anordnung des originalen (klassischen) Experiments von Edwin Hall aus dem Jahr 1879 - auftretenden Spannung Ua,b und dem Strom I, d. h. RH = Ua,b /I. (Der Aufbau dieser Spannung ist notwendig, um den von der Batterie gelieferten Strom, I, aufrecht zu erhalten und eine von dem senkrecht zum aufgeprägten Strom angelegten Magnetfeld erzeugte Drift in Querrichtung zu verhindern.) Dies macht die unterschiedlichen Topologien deutlich, die dem Ohm’schen Widerstand und dem Hall-Widerstand zugrunde liegen. Die Reduktion des Quanten-Hall Effekts auf den durch Fundamentalkonstanten definierten Widerstand h/e2 macht gerade die Universalität dieses Maßes evident. Zur Charakterisierung der Rahmenbedingungen des Internationalen Einheitensystems stellen wir im Folgenden die Definitionen der Einheit des elektrischen Stromes, dem Ampere, nach der geltenden Fassung (PTB-Mitt. 117, Heft 2, 155 (2007)) und einer möglichen Neufassung des SI (in einer Formulierung der Autoren) nebeneinander: Geltende Fassung (2010): Das Ampere ist die Stärke eines konstanten Stromes, der, durch zwei parallele, gradlinige, unendlich lange und im Vakuum im Abstand von einem Meter voneinander angeordneten Leitern von vernachlässigbar kleinem, kreisförmigen Querschnitt fließend, zwischen diesen Leitern je 1 Meter Leiterlänge die Kraft 2 × 10−7 Newton hervorrufen würde.
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Beispiel einer möglichen Neuformulierung: Das Ampere, Einheit des elektrischen Stromes, wird durch den Transport von exakt 1/(1.602176487 × 10−19 ) Elementarladungen pro Sekunde definiert. (Der Nenner des Bruches ist der Zahlenwert der Elementarladung, die gegenwärtig (2010) mit einer relativen Unsicherheit von 2.5 × 10−8 bekannt ist.) Den sich abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Festlegung physikalischer Normale hat als erster wohl David Hilbert lange vor der Einsetzung der Quantennormale in seinen Göttinger Vorlesungen 1919 - 1920 über “Natur und mathematisches Erkennen” deutlich angesprochen: “Es ist Planck gelungen, zu zeigen, dass man die Willkür der üblichen Maßeinheiten (Meter, Sekunde usw.) beseitigen kann, indem man alles durch die Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante, die Boltzmannsche Konstante k und das elementare Wirkungsquantum h ausdrückt. Der wesentliche Gedanke hierbei ist, dass man nicht wie bisher für die Festsetzung der Maßeinheiten spezielle Integrale der Differentialgleichungen (z. B. die Länge des Erdradius, die Dauer einer bestimmten Pendelschwingung) benutzt, sondern die Konstanten in den Differentialgleichungen (Hervorhebung im Original) festlegt.” (D. E. Rowe, ed., David Hilbert: Natur und mathematisches Erkennen; Vorlesungen, gehalten 1919 - 1920 in Göttingen; nach der Ausarbeitung von P. Bernays, Basel 1992, S. 99).
Literatur H.-G. Bartel, R. P. Huebener, Walther Nernst - Pioneer of Physics and of Chemistry, World Scientific Publishing Co., Singapore, 2007 J. Bortfeldt, W. Hauser, H. Rechenberg (editor), Forschen-Messen-Prüfen, Physik Verlag, Weinheim, 1987 D. Cahan, Meister der Messung, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim, 1992 D. Cahan, An Institute for an Empire, Cambridge University Press, 1989 P. F. Dahl, Superconductivity, American Institute of Physics, New York, 1989 A. Einstein, Emil Warburg als Forscher, Die Naturwissenschaften 10, 105 (1922) H. Fritsch, The Fundamental Constants - A Mystery of Physics, World Scientific, Singapore, 2005; deutsche Ausgabe: Das absolut Unendliche, Piper Verlag, München, 2005 D. Hoffmann, Between Autonomy and Accomodation: The German Physical Society during the Third Reich, Physics in Perspective 7, 293 (2005) U. Kern, Forschung und Präzisionsmessung, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim, 1994 D. Kind, Herausforderung Metrologie, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, 2002 H. Rechenberg, Hermann von Helmholtz, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim, 1994 U. Röseberg, Niels Bohr - Leben und Werk eines Atomphysikers 1885 1962, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 1992
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Personenverzeichnis Abbe, Ernst, 28 Althoff, Friedrich, 69 Ampère, André Marie, 95, 97, 99 Arago, Dominique Francois, 97 Arndtsen, A., 126 Avogadro, Amadeo, 97 Back, Ernst, 140 Bamberg, Carl, 26 Beckmann, Ernst, 69, 70 Beckmann, H., 50 Becquerel, Antoine Henri, 79–81 Bednorz, Georg, 66 Benoit, J.-R., 126 Berg, Otto, 72, 73, 75 Bertram, Heinrich, 26 Bertrand, J., 126 Bessel, Friedrich Wilhelm, 16 Birge, Raymond, 118, 127 Bismarck, Otto von, Deutscher Kanzler, 5 Bismarck, Otto von, German Chancellor, 5 Bliek, Leender, 99 Bodola, L. de, 126 Boeckh, Philipp August, 130 Bohr, Niels, 85, 87, 97, 100–103, 145 Boltzmann, Ludwig, 44, 88, 91, 92, 131, 137 Bose, Satyendra Nath, 101, 105, 108 Bothe, Walther, 84, 86–89, 100–104 Braun, Erich, 99 Bunsen, Robert, 44, 135 Casimir, Hendrick B. G., 66 Cavendish, Henry, 117 Chadwick, James, 84 Chaney, H.-J., 126 Chargaff, Erwin, 121
Clausius, Rudolf, 55 Compton, Arthur Holly, 84, 87, 101–103 Compton, Karl, 103 Condamine, Charles–Marie La, 130 Coulomb, Charles Augustin de, 97 Curie, Jacques, 80 Curie, Marie, 80, 81, 84 Curie, Pierre, 80, 81 de Broglie, Louis, 107, 145 de Haas, Wander Johannes, 95, 97, 99 Debye, Pieter, 54, 86, 87, 102, 103 Doergens, 26 Dorn, Erich, 84 Douglas, Galton, 41 Drude, Paul, 149 Du Bois–Reymond, Emil, 26 Dulong, Pierre Louis, 53 Eötvös, Loránd, 117 Eddington, Arthur Stanley, 115 Edison, Thomas Alva, 43 Ehrenfest, Paul, 101, 104 Einstein, Albert, 53, 61, 87, 91–95, 97, 99, 100, 102–105, 108, 115, 117, 118, 120, 129, 139, 144, 145 Elster, Julius, 91 Enz, Charles P., 115 Esau, Abraham, 146 Ettingshausen, Albert von, 137 Eucken, Arnold, 53, 139 Euler–Chelpin, Hans von, 136 Ewald, Peter Paul, 145 Faraday, Michael, 150 Fermi, Enrico, 75, 76
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Personenverzeichnis
Feußner, Karl, 39 Fischer, Emil, 69 Fizeau, Armand Hippolyte Louis, 145 Foerster, Wilhelm, 1, 2, 7, 26, 29, 123, 126 Franck, James, 136 Friedrich Wilhelm, Kronprinz, 1, 7, 26, 132 Friedrich, Walter, 145 Fueß, Rudolf, 26
Hirsch, A., 126 Hitler, Adolf, 144 Hittorf, Wilhelm, 140 Hoffmann, Dieter, 104 Holborn, Ludwig, 51 Holm, Ragnar, 62, 105 Holst, Gilles, 57 Huygens, Christian, 129
Göring, Hermann, 146 Galilei, Galileo, 143, 144 Gehrke, Ernst, 104, 143 Geiger, Hans, 68, 82–84, 86–89, 101–103, 136 Geitel, Hans Friedrich, 91 Giaever, Ivar, 62 Gibbs, Josiah Willard, 91 Goßler, Gustav von, 3, 4, 27 Goessel, von, 26 Goldstein, Eugen, 103 Gorter, Cornelius Jacobus, 66 Gould, B.-A., 126 Grüneisen Eduard, 136 Grützmacher, Friedrich, 146 Groschuff, Erich, 70 Gross, David J., 92
Jäger, Wilhelm, 36 Janich, Peter, 120 Jenkin, F., 117 Jolly, Philip von, 117 Josephson, Brian, 62, 105, 110, 119
Haber, Fritz, 70, 104 Hagen, Ernst, 38 Hahn, Otto, 76 Hall, Edwin, 152 Hallwachs, Wilhelm, 91 Harms, F., 68 Harnack, Adolf, 69, 70 Heidenreich, F., 64 Heisenberg, Werner, 100, 107 Helmholtz, Hermann von, 1, 7, 26, 29, 33, 35, 39, 43, 109, 117, 124, 131, 132, 134, 135 Hepites, St.-C., 126 Hertz, Heinrich, 91 Hess, Viktor Franz, 88 Heyl, 117 Hilbert, David, 112, 153
Kamerlingh Onnes, Heike, 57, 61, 97 Kirchhoff, Gustav, 44, 135 Klitzing, Klaus von, 99, 110, 119 Knipping, Paul, 145 Kohler, M., 68 Kohlrausch, Friedrich, 99, 133, 134, 136, 137 Kohlrausch, Rudolf, 133 Kolhörster, Werner, 84, 88, 89 Koppel, Leopold, 70 Krüss, Hugo Andres, 69 Kramers, Hendrik Anthony, 85, 87, 100–102 Kundt, August, 135, 136, 140 Kurlbaum, Ferdinand, 37, 38, 43, 46, 48, 50 Löwenherz, Leopold, 38 Landolt, Hans, 26, 138 Landwehr, Gottfried, 99 Laue, Max von, 62, 65, 67, 97, 103, 104, 139, 143, 145, 147 Leman, Arnold, 38 Lenard, Philipp, 89, 91, 104, 143 Linde, Carl von, 55 Lindemann, Frederick Alexander, 54 London, Fritz, 64, 67, 99, 106, 145 London, Heinz, 67, 99, 145 Lorentz, Hendrik Antoon, 97, 129 Lummer, Otto, 37, 39, 43, 46, 50, 52, 145 Müller, Karl Alex, 66 Müller, Walther, 88
Personenverzeichnis
Macedo, H. de, 126 Magnus, Gustav, 131, 135 Makower, W., 84 Marsden, Ernest, 83, 87 Maxwell, James Clerk, 99, 117, 127, 150 Meissner, Walther, 56–60, 62, 64, 67, 68, 98, 105, 136, 143, 144 Mendelejew, Dimitri Iwanowitsch, 71 Meyer, Lothar, 71 Meyer–Viol, Peter–Gottfried, 105 Michelson, Albert Abraham, 131 Minkowski, Hermann, 129 Moltke, Helmuth von, 2 Mouton, Gabriel, 123 Mylius, Franz, 69–71 Nerger, Rudolf, 137 Nernst, Walther, 43, 53, 54, 56, 57, 62, 69– 71, 88, 93, 104, 136–140 Newton, Isaac, 117 Nobel, Alfred, 92 Noddack, Ida (née Tacke), 71, 73–76 Noddack, Walter, 70, 71, 73–76, 139 Nuttall, John Mitchell, 83 Ochsenfeld, Robert, 62, 64 Oersted, Hans Christian, 97 Ohm, Georg Simon, 149 Orlik, Emil, 105 Ostwald, Wilhelm, 69, 137 Paalzow, Carl Adolf, 26, 46 Paschen, Friedrich, 51, 52, 67, 140, 142, 144 Pauli, Wolfgang, 108 Peltzer, Lilli, 147 Perrier, Carlo, 75 Perrin, Jean, 91 Petit, Alexis Thereses, 53 Petley, B. W., 129 Planck, Max, 46–49, 52, 57, 62, 67, 84, 89, 91, 93, 98, 100, 102–104, 112, 115– 118, 127, 129, 139, 145, 153 Pohl, Robert Wichard, 136 Poincaré, Jules Henri, 129
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Politzer, H. David, 92 Pringsheim, Ernst, 43, 46, 50, 52 Röntgen, Wilhelm Conrad, 55, 79 Rathenau, Emil, 4, 43, 137 Rathenau, Walther, 139 Reddemann, H., 68 Regener, Erich, 136 Regnault, Henry Victor, 18 Reuleaux, Franz, 26 Riecke, Eduard, 137 Rowland, Henry August, 131, 140 Rubens, Heinrich, 46, 48, 50, 93, 104, 139 Rutherford, Ernest, 83, 84, 87, 102 Schönflies, Arthur, 137 Schaefer, Clemens, 136 Scheel, Karl, 68 Schellbach, Karl, 1, 26 Schmidt–Ott, Friedrich, 69 Schott, Otto, 28, 69 Schrödinger, Erwin, 100, 103, 104, 106, 107, 145, 150 Schreiber, Otto, 26 Schwarzschild, Karl, 118 Segré, Emilio, 75, 76 Shapiro, Sidney, 110 Siemens, Werner, 1–5, 26, 27, 31, 43, 55, 128, 132 Slater, John Clarke, 85, 87, 100–102 Smith, Adam, 128 Smoluchowski, Maryan, 91 Solvay, Ernest, 53, 139 Sommerfeld, Arnold, 100, 108, 115, 140, 145 Stark, Johannes, 67, 104, 142–144, 146 Stefan, Josef, 44 Stevin, Simon, 123 Strassmann, Fritz, 76 Stratton, Samuel W., 41 Thalén, R., 126 Thiesen, Max, 36 Thomson, Joseph John, 91
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Treder, Hans–Jürgen, 93 van´t Hoff, Jacobus Henricus, 137 Victoria, englische Königin, 132 Victoria, Kronprinzessin, 132 Vogel, H.C., 26 Voigt, Woldemar, 91, 129, 145 Warburg, Emil, 56, 71, 81, 93, 99, 103, 104, 135, 136 Warburg, Otto Heinrich, 136 Weber, Wilhelm, 18, 25, 133 Weyl, Hermann, 106 Wheeler, John A., 92 Wiebe, Hermann, 39 Wiedemann, Gustav, 35 Wien, Max, 146 Wien, Wilhelm, 37, 43, 44, 46, 49, 51, 62, 68, 103, 144, 146 Wilczek, Frank, 92 Wild, H., 126 Wilhelm I., Deutscher Kaiser, 1 Wilhelm II., Deutscher Kaiser, 70, 139 Wren, Christopher, 129 Zenneck, Jonathan, 67
Personenverzeichnis