WOLFGANG SCHADEWALDT DER AUFBAU DER ILIAS Insel Verlag
Wolfgang Schadewaldt
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WOLFGANG SCHADEWALDT DER AUFBAU DER ILIAS Insel Verlag
Wolfgang Schadewaldt
DER AUFBAU DER ILIAS Strukturen und Konzeptionen
Insel Verlag
Verlag: Insel Verlag (1975) ISBN-10: 3458158723 ISBN-13: 978-3458158721
Erste Auflage 975 © Insel Verlag Frankfurt am Main 975 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Inhalt I Die Ilias. Haupt-Aspekte der Dichtung 7 II Homer 2 III Die epische Tradition 26 IV Der Hergang der Ilias 39 V Helden und Götter 75 VI Szenen, Gleichnisse und Mythen 80 VII Zum Abschluß. Sänger-Kultur. Die Ilias und ihr Jahrhundert. Apollon 88
I DIE ILIAS. HAUPT-ASPEKTE DER DICHTUNG Die Ilias behandelt das Gedicht vom Troischen Krieg, und zwar Kriege und Kämpfe in fast ununterbrochener Folge. Sie ist aber kein kriegerisches Epos. Die Ilias handelt von Helden und ihren Schicksalen, ist aber kein heldisches Epos. Der Krieg wird in der Ilias von vielen, die den Kampf durchfechten, als schwere Mühsal (ponos) und leidvolles Verhängnis empfunden. Und in seiner brutalen grausamen Realität ist er für Homer der Dämon Ares, den alle Olympischen Götter und sein Vater Zeus hassen und den die Göttin Athene im fünften wie im einundzwanzigsten Gesang mit überlegener Geisteskraft zu Boden wirft. Der Kampf in seiner anerkannten Weise ist der Einzelkampf, in dem es auch hart, aber ›nach der Ordnung‹ zugeht. Was den Helden angeht, so kennt ihn zwar die Ilias, nennt ihn auch selbst mit der Anrede ›Heros‹. Sie meint damit den Menschen der patriarchalisch-adligen Gesellschaft, der den Speer führt, Königtum, Gefolgschaft, Sippenverbände, Treue, Ehre und Ruhm kennt und sich vor allem im agonalen Streben – ›immer der Beste sein‹ – durch Tatkraft, Mut, Entschlossenheit und Geschicklichkeit auszeichnet. Doch kennt sie keine Glorifizierung des Helden wie in der Renaissance und dem Elisabethanischen England, sondern alle Helden der griechischen Sage und Homers zeigen vielmehr 7
›Glanz und Elend‹ des Helden mit schweren Schicksalen und einem früher oder später sehr düsteren Ausgang. Was in der Ilias Homers den Krieg und das alte Heldenwesen bereits in einer neuen Form aufgehoben hat, das ist, mit einem Wort, das Menschliche, das in seiner Ausgesetztheit, Gefährdung, in seiner ganzen Problematik von dem Dichter erlebt und erlitten ist. Es ist der »erste Schritt vom leidenschaftlich Unbedingten zum seelischen Zwiespalt … , der Schritt vom Heldisch-Übermenschlichen zum Problematisch-Menschlichen« (Karl Reinhardt). Und das Epos, das den Krieg und das Heldische in dieser Problematik sieht und die einzelnen Handlungen wie die Handlung im ganzen darauf zuschneidet, ist ein menschlich-tragisches Epos. In diesem Sinne hat Platon bereits Homer den ersten der Tragödienschreiber genannt (Staat X 607 a), und auch sonst bei den Griechen bringt gelegentlich die personifizierte ›Tragodia‹ dem Homer ihre Huldigung dar, wie auf dem Relief des Archelaos von Priene. . Das Kerngeschehen: Der Zorn des Achilleus Als den ›Zorn des Achilleus‹ hat Homer mit dem ersten Wort das Kerngeschehen der Ilias bezeichnet. Und diese Thematik hat er vom Anfang bis ans Ende seiner Ilias durchaus im tragischen Sinn 8
durchgeführt: die Verstrickung eines edlen Menschen in ein Zuviel, das zuerst berechtigt ist, dann aber auf ihn selbst zurückfällt: ›Den Zorn des Peliden, den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden und den Vögeln zum Mahl … ‹ Drei Momente sind es zumal, die dieses tragische Geschehen des Epos bestimmen: einmal der Tod, zum zweiten der Zorn und zum dritten der Ausgleich. Tod und Schmerz in seiner zehntausendfachen Form beherrscht das große Geschehen des Epos. Der Tod erscheint in tausend Gesichtern: entsetzliche Verwundungen, furchtbare Verstümmelungen, die ganze Fülle des Sterbens und Untergehens in hartem Realismus in den Gesängen, die die wechselvollen Schlachten mit Vordringen und Rückschlägen beschreiben. Das steigt auf von unzähligen Toden zu dem großen Tod der beiden Hauptgestalten des Hektor und des Achilleus: des Hektor, der zwar um sein Ende wissend, aber letztlich doch verblendet stirbt, und des Achilleus, der seit dem Wort der Mutter: ›bald nach Hektor ist auch dir der Tod bereit‹ im Wissen seines Todes lebt. Der Motor dieses entsetzlichen Geschehens ist der Zorn, man kann auch sagen: die Leidenschaft, das Getriebensein. Er kommt auf in Achilleus als der berechtigte Zorn wegen einer Ehrenkränkung 9
durch den Heeresfürsten Agamemnon, der ihm sein Ehrgeschenk, die Jungfrau Briseïs, fortnimmt; worauf Achilleus die Teilnahme am Kampf absagt und durch seine Mutter Zeus bittet, das Heer der Achaier, das eigene Heer, zu schlagen. Als es draußen schlimm und schlimmer steht, gibt er zwar zögernd nach, kann aber den Zorn in seiner Brust nicht überwinden. Er schickt schließlich mit einer halben Entscheidung den Freund Patroklos in seinen eigenen Waffen aus, doch dieser fällt. Er erfährt so den tragischen Rückstoß seines zu weit getriebenen Zürnens. Zeus hat ihm zwar den Wunsch gewährt, aber er mußte dafür zahlen. Und das läßt ihn nun kämpfen, um Hektor, den Töter seines Freundes Patroklos, zu erschlagen und so zugleich den eigenen Tod auf sich zu nehmen. Das ist der ›verderbliche Zorn‹, der all das Entsetzliche über die Achaier heraufruft. Homer hat hier das Besinnungraubende, die Verstrickung und Beirrung der Leidenschaft an einem großen Menschen dargestellt. Wenn Zorn und Tod verbunden das furchtbare Verhängnis schildern, so hat der Dichter aber dafür gesorgt, daß es auch das andere geben kann, das über die trüben Fluten des Zorns und Todes sich erhebt: der Ausgleich, die Versöhnung. Die Götter, insbesondere Apollon, fordern (im vierundzwanzigsten Buch) diese Versöhnung, und auch Achilleus ist zu ihr bereit. Er hat vorher selbst gesagt (8, 07): »Daß doch der Streit aus Göttern und aus Menschen vertilgt sei und der Zorn, der 0
aufreizt auch den Vielverständigen, daß er heftig wird; der viel süßer als hinuntergleitender Honig in der Männer Brust aufschwillt wie Rauch … «. Und der Vater Peleus hat zu ihm gesprochen (9, 255): »Du aber halte den großherzigen Mut fest in der Brust, denn Freundlichkeit ist besser. Laß ab von dem unheilstiftenden Streit! so werden mehr dich die Argeier ehren … «. Und diesem folgt er, freilich erst spät, als er den Freund verloren hat: daß er Priamos, der nachts in seine Hütte gekommen ist, freundlich aufnimmt und ihn, dem er den Sohn Hektor erschlagen hat, mit aller Sorgsamkeit behandelt und ihm den Toten zur Bestattung herausgibt. Nachdem die Ilias die Menschen durch die Beirrung von Zorn und Leidenschaft getrieben und infolge davon durch Not und Tod hindurchgejagt hat, endet sie schließlich in dem menschlichen Bewußtsein der gemeinsamen Ausgesetztheit. Dies alles aber war der Beschluß des Zeus. Er hat es den Menschen nicht ersparen können, nach ihrer Verworrenheit zu handeln, wobei sie schließlich aber nach unsäglichen Leiden doch zu dem gelangen, was auch der Sinn des höchsten Gottes ist. In seiner Ilias hat Homer in dieser Tragik zum Beginn Europas ein großes Mahnmal aufgestellt. Indessen, Zorn und Leidenschaft haben immer wieder gegen besseres Wissen die Jahrhunderte hindurch die Menschen sinnlos aneinander leiden lassen. Und es scheint, daß auch das, was Homer erzählt hat, noch in jüngster Zeit wieder aufgelebt ist
und vorläufig, wie es scheint, noch nicht vergangene Sage geworden ist. 2. Der Troische Krieg Das Kerngeschehen vom ›Zorn des Achilleus‹ umfaßt nur wenige Tage des letzten Kriegsjahrs des zehnjährigen Troischen Kriegs. Doch hat der Dichter dafür gesorgt, daß der Troische Krieg in seinem ganzen Ausmaß von seinen allerersten Anfängen bis zum Untergang Trojas im Zorngeschehen gegenwärtig wird. Dies hat schon Horaz aufgezeigt (Ad Pisones 47): Homer gehe in medias res und entwickle nicht wie der kyklische Autor vom Ei der Leda an alles am Faden ab. Dies bewirkt Homer mit dem dichterischen Mittel der ›Spiegelung‹, das er vielfach anwendet. Man hat das oft nicht verstanden. Im zweiten Buch macht der Heerführer Agamemnon jene Probe vor dem schon lange kampfmüden Heer, daß er zunächst den Kampf für aussichtslos erklärt und vorschlägt, nach Hause zu fahren. Das Heer läuft wirklich zu den Schiffen, doch Odysseus hält es zurück, und dies gibt dem Odysseus und dem Nestor Gelegenheit, die Ereignisse vor der Ausfahrt in Aulis zu berichten: daß damals die Vorzeichen günstig waren und man sich mit Eiden und Verträgen dort gebunden hat. Das ruft den Beginn des Krieges mit der Ausfahrt in Aulis herauf. – Im dritten Buch haben wir den 2
Zweikampf der beiden Rivalen, des Menelaos und des Paris, der ergebnislos ausgeht trotz der feierlichen Verpflichtungen. Der Zweikampf dieser beiden Gatten der Helena bringt so eine Situation herauf, die eigentlich an den Anfang des Krieges gehört. – Im vierten Buch kommt es dann zu dem verhängnisvollen Schuß des Pandaros auf Menelaos, jenem schweren Vertragsbruch, auf den hin Agamemnon in einer gewaltigen Rede bekundet, daß die Troer damit den Untergang ihrer Stadt besiegelt haben. Der Untergang Trojas wird so aktiv in das Kerngeschehen vom Zorn des Achilleus hineingespiegelt, und in der Folge geht nun immer wieder der Blick auf das Ende des Krieges voraus. Hektor spricht es aus im Zusammensein mit seiner Gattin Andromache im sechsten Buch: ›Es wird kommen der Tag, da Ilios untergeht‹ und Priamos, Hekabe und die Brüder getötet werden und Andromache in die Gefangenschaft geführt wird. Im zweiundzwanzigsten Gesang sieht Priamos gleichsam visionär voraus, wie er von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird, und ähnlich Andromache im vierundzwanzigsten Buch, wie der Knabe Astyanax vom Turm herab geschmettert wird. Zeus aber sagt es mit klaren Worten zu Here im fünfzehnten Buch: wenn Patroklos durch Hektor getötet wird, so wird er einen Rückstoß bewirken, bis die Achaier die steile Ilios einnehmen nach den Ratschlüssen der Athene. Wenn der Troische Krieg so in seinem ganzen Ablauf vom Anfang bis zum Ende in der Handlung 3
sichtbar wird und alle Kämpfe sich in diesem Horizont bewegen, so greift der Haß dreier Götter: des Poseidon, der Here und Athene, bis auf älteste Verschuldungen Trojas zurück. Poseidon spricht im einundzwanzigsten Gesang davon, wie er dem älteren König Laomedon die Mauer um Troja gebaut hat und von ihm um seinen Lohn betrogen wurde. Here und Athene aber grollen den Troern unaufhörlich, daß sie im Paris-Urteil beleidigt wurden, während Paris die Aphrodite bevorzugt hat, die ihm Helena versprach (so im vierundzwanzigsten Buch). Die beiden Göttinnen wie auch Poseidon verlangen den Untergang der Troer. Dies wirkt sich an vielen Stellen der Handlung aus, wo zumal die beiden Göttinnen auf die Vernichtung Trojas drängen. Der Troische Krieg, der so als Hintergrund, und nicht nur als dieser, die Zorndichtung durchwirkt, ist aber nicht nur eine Heerfahrt erlesener Helden, die einen Frauenraub zu ahnden suchen. Der Troische Krieg ist ein großes universales Geschehen. Die All-Achaier haben sich in ihm unter der Führung des Mächtigsten, Agamemnon von Mykene, zusammengetan und sich durch jene Eide und Verträge gebunden. Alle Landschaften von Hellas sind in ihm vereinigt. Und ebenso kämpfen auch die verschiedensten Völker Asiens als Verbündete auf Seiten der Troer. Dies Allumfassende eines Völkerringens macht zumal am Ende des zweiten Gesangs der sogenannte Schiffskatalog und der Katalog der Troer eindringlich sichtbar. Man kann diese Kon4
zeption zweier Welten, die hier miteinander im Kampf stehen, nicht ernst genug nehmen. Für jenes Hauptgeschehen, den Zorn des Achilleus, bedeutet es, wie einmal schon Goethe gesagt hat, daß es bei diesem Zorn des Achilleus nicht um ein »bloß persönliches und Privatinteresse« geht, sondern daß die Ilias »das Interesse der Völker, der Weltteile, der Erde und des Himmels umschließt« (An Schiller, 6. 5. 798). Die Ilias Homers führt mit dem Zorngeschehen uns zugleich in jenen Gegensatz von Ost und West hinein, der weiterhin für die Geschichte der Griechen bis zum Alexanderzug und weiter über die Römer bis in die nachfolgenden Jahrhunderte für die Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit bedeutsam geworden ist. Die Ilias Homers hat mit dem Zorngeschehen so den Troischen Krieg zum Prototyp eines Weltgeschehens gemacht, das vielleicht in den neuesten Verhältnissen sich geändert – oder auch nicht geändert hat. 3. Die Weltschau Das Kerngeschehen des Zorns des Achilleus greift, wie zeitlich-geschichtlich, so auch räumlich universal in die Welt hinaus und wird damit im eigentlichen Sinn zur Weltdichtung. Himmel, Erde und Tartaros bilden die drei Bereiche der Welt, wobei die Unterwelt, der Hades, zur Erde gehört und der Tartaros sich soweit unter die 5
Erde erstreckt wie der ›eiserne Himmel‹ sich über die Erde erhebt. Im Tartaros sind die besiegten Götter und Titanen angesiedelt, während Himmel, Meer und Unterwelt die drei Brüder Zeus, Poseidon und Hades als Herrschaftsbereiche unter sich geteilt haben und die Erde ihnen gemeinsam ist. Oben der Luftraum ist geteilt in den glänzenden Äther und die dunstige Luft darunter. Doch weiter sind da oben Sonne, Mond und die Sterne und Sternbilder, die Nacht und die Morgenröte, die Winde, die heranblasen, dazu die Wolken und wohl auch ein Meteor, dem gleichend Athene im vierten Gesang herabspringt, während der Regenbogen im elften Gesang von Zeus in die Wolke gestemmt wird. In den Himmel ragt der Olympos, wo die Olympier wohnen; dort haben die Götter ihre Häuser. Er ist faltenreich und hat viele Kuppen, und auf diesen sitzt Zeus, um Ausschau zu halten, steht auch Here im vierzehnten Gesang und blickt herab auf das Kampffeld vor Troja, wo Poseidon sich heimlich umtut; während Zeus sonst wohl auf der schluchtenreichen Ida sitzt, dort auf der Gargaron-Spitze. Wie die Berge, so sind auch die Inseln deutlich sichtbar, und Poseidon, der auf dem höchsten Gipfel der Samothrake sitzt, erreicht von dort in vier riesigen Schritten sein Heiligtum in Aigai, wo er ›berühmte Häuser‹ hat, und fährt weiter zu einer Höhle zwischen Tenedos und Imbros, wo er seine Pferde abstellt. Und ebenso schreitet Here von ihrem Gemach auf dem Olympos über Piërien und Emathie über die beschneiten Berge 6
Thrakiens zum Athos und von dort über die Insel Lemnos, wo sie den Schlaf findet, und über Imbros auf das Troische Festland und von dort nach dem Ida-Gebirge und zur Gargaron-Spitze. Die Geographie dieser Berge und Inseln ist so richtig und augenfällig, daß man meinen könnte, Homer habe im Luftbild gesehen, wie aus der Vogelperspektive das Land dagelegen hat. Aber noch weiter geht der Blick des Zeus im dreizehnten Gesang nach Norden bis zu den Thrakern und Mysern, den von Milch lebenden Hippomolgen und den Abiern im Skythenland, wie auf der anderen Seite in Ägypten auch das ›hunderttorige Theben‹ bekannt ist und die Aithiopen im Westen und Osten, wo die Götter zum Mahl gehen. Zumal die Troische Ebene mit Troja und der Burg Trojas, Pergamos, mit dem Eichbaum und dem Feigenbaum, den beiden Brunnen, aus denen kaltes und warmes Wasser fließt, der Bodenschwelle, der Kallikolone, mit den beiden Flüssen Skamandros und Simoeis, mit dem Ida-Gebirge auf der einen und dem Hellespontos auf der anderen Seite: alles das ist so scharf und klar zu sehen, daß noch heute diese Ebene, wo die Achaier und Troer gekämpft haben, vor unseren Augen liegt und man meinen muß, daß Homer es aus der Autopsie geschildert hat. Und weiter erstreckt sich das Reich des Priamos hier bis nach Lesbos und dort bis Phrygien. – Weiter haben wir das griechische Mutterland mit dem ›Winkel von Argos‹, mit Mykene, Pylos und andererseits mit Theben in Boiotien, mit Aitolien 7
und überhaupt allen Landschaften, die der Schiffskatalog nennt mit unzähligen Orten. Und blicken wir auf das Meer hinaus, so hüpfen dort dem Herrn Poseidon die Ungeheuer entgegen und wohnen in der Tiefe die Nereiden bei dem Vater Nereus, von woher auch die Nereide Thetis aufsteigend aus dem Meer ›wie ein Nebel‹ ihren Sohn Achilleus besucht. Die großen Flüsse münden ins Meer, der Acheloos und in Phthia der Spercheios. Und alles das umgibt der Weltstrom Okeanos, der der Ursprung der Götter und Menschen ist und an dessen Fluten einst der verborgene Hephaistos neun Jahre in den Grotten der Thetis und der Eurynome, die ihn gerettet hatten, viele Geschmeide schmiedete. Kurz, die gesamte Geographie des griechischen Landes bis zu den Grenzen der damaligen Erde liegt vor unserem Blick. Aber auch das Getriebe auf der Erde ist in überreichen Bildern sichtbar: Opferhandlungen, die Mahlzeiten, und wie der Trank im Mischkrug des Nestor bereitet wird, wie der Heilkundige bestimmte Kräuter auflegt, die Troerinnen die Wäsche waschen, weben, und der Sohn die Weidenruten schneidet. Homer stellt diese Weltfülle aber vor allem in den Gleichnissen dar. Als Gleichnisse begleiten sie die Kampfhandlungen und die Verrichtungen der handelnden Menschen. Aber weit mehr als Vergleiche, stellen sie eine vielfältige Wirklichkeit dar. Auch sie beginnen mit den Sternen, mit Wolken, Winden, Bergen, mit der Erde, auf der Schnee und Regen lasten und auf die der Wetter8
strahl herabfährt und wo das Meer an das vorspringende Gestade brandet. Doch dann geben die Gleichnisse die vielfältigen Beschäftigungen der Menschen wieder, Kunst und Handwerk, den Akkermann in seinem Tun, den Hirten mit seinen Tieren, die Holzfäller, das Färben und Weben, bis hinab zu der Art, wie man die Milch mit Lab anrührt, wie Wasser im Kessel siedet und das Schweinefett ausgelassen wird. Was die Weltschau Homers in alledem sichtbar macht, das ist die große umfassende Natur bis hin zum Menschen und seiner Kultur. Dahinter steht eine große Klarheit des Schauens, ein Schauen und richtiges Beobachten der Wirkungen der Natur wie aller Verrichtungen des Menschenlebens, ganz so wie auch in den Kämpfen der Männer aufs genaueste das Kämpfen und alle seine Künste und besonders die Art der Verwundungen beobachtet ist. Doch diese ganze Welt-Wirklichkeit ist nicht statisch ruhend, sondern das alles bewegt sich, wirkt aufeinander in durchgehender En-ergeia. Es ist, mit einem Wort, die Natur und die Kultur als Wirklichkeit, aufeinander bezogen durch Gegensätze und Polaritäten, die stets das Ganze tragen und zusammenwirken zu einem einzigen Widerspiel. Wie Homer die umfassende Wirklichkeit der miteinander und gegeneinander strebenden Landschaften und Stämme in jenem Schiffskatalog sichtbar gemacht hat, hat er diesem entsprechend das Ganze auf Gegensätzen beruhende Widerspiel der Welt in seiner Schildbeschreibung im achtzehn9
ten Gesang ins Bild gebracht, auch dort beginnend mit Sonne, Mond und den Gestirnen und alles umfaßt vom Weltstrom, dem Okeanos. Und dazwischen das Menschenleben, aufsteigend in ständigen Gegensätzen von städtischem Leben und Kampf und Not der Kämpfenden, von allen Formen des Ackerbaus und der Weinlese, bis hinauf zum Festlichen: Reigen und Tanz und dem Sänger, der die Leier rührt. Im Bereich der Kunst und des Musischen gipfelt diese Weltschau.
II HOMER Über den Dichter, der dieses tragische, dieses umfassend geschichtliche und umfassend welthafte Gedicht geschaffen hat, haben wir nur dürftige biographische Angaben. Das meiste liegt in einer legendarischen Überlieferung vor, in der Homer als ein alter blinder Landfahrer erscheint und Liebes und Leidiges erfährt. All das enthält aber doch, wie jede Legende, auch wahre Kerne, die in recht hohe Zeit hinaufreichen. In ihnen ergreifen wir für Homer etwa das folgende. Homer hat in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts vor Christus im aiolisch-ionischen Küstengebiet Kleinasiens, nicht weit entfernt von der Stätte, wo einst Troja lag, gelebt und ist von da aus in den Landschaften und Städten Ioniens vielfach herumgekommen. Geboren ist er vielleicht in Smyrna. Sein Name ist nicht, wie man einst gemeint hat, ein Zunftname gewesen und hat den ›Zusammenfüger‹ bedeutet, weil er in der Ilias nur einzelne Lieder aneinander gereiht hätte. ›Homeros‹ von ›homeron‹, ›das Pfand‹, ist ein guter Menschenname und meint die ›Geisel‹, den ›Bürgen‹. Homer war also ein achtbarer Mann. Denn ganz gleich, ob er selber oder einer seiner Vorfahren ein ›Bürge‹ gewesen war, man nimmt dafür nur angesehene Leute. Überdies war dies nur ein Übername; als sein eigener Name wird Melesigenes, ›Sipphold‹ 2
berichtet. Danach war Homer von vornehmem Geschlecht, und auf dies führt auch sein Gedicht, die Ilias. Es scheint, er hat auch den Krieg nicht nur vom Hörensagen aus der alten epischen Überlieferung, sondern in seiner ganzen Furchtbarkeit selber gekannt. Seßhaft ist er in späteren Jahren auf der Insel Chios gewesen. Einen ›Mann von Chios‹ nennt ihn der Jambenschreiber Semonides im siebenten Jahrhundert, als er einen Vers aus der Ilias berichtet (Fr. 29 D). Und hier auf Chios hat er auch eine Sängerschule begründet, die noch Platon als eine Gesellschaft eigener Art dem Homer nah verbunden weiß (Ion 530 d). ›Homeriden‹ nannten sie sich und wurden sie noch später genannt (Pindar, Nemeen 2), was nicht leibliche Abkunft von Homer selbst bedeuten muß, sondern wie auch sonst auf das Schulhaupt geht. Auf der kleinen Insel Ios mag er auf einer Reise gestorben sein, wo man auch sein Grab zeigte, auf dem man später eine Inschrift anbrachte. Mehr als alles aber spricht für die Zeit und den Lebensraum Homers eine Stelle in der Ilias, in der der Dichter einmal deutlich in seine Gegenwart hineinspricht. Das ist die ex eventu-Verheißung, die Poseidon über den Dardaner Aineias gibt: ihm und seinen Kindeskindern soll einmal, wenn Priamos und die Seinen zugrunde gegangen seien, die Herrschaft in der Troas gehören. Die Dardaner saßen im achten Jahrhundert in der Stadt Skepsis und führten ihr Geschlecht auf Aineias zurück. Es scheint, 22
der Dichter hat mit diesen dardanischen Herren in Beziehung gestanden, und wenn er auch nicht eigentlich ein höfisches Gedicht auf sie schrieb, hatte er doch Anlaß, sie hervorzuheben. Das war in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts. In diese Zeit aber muß auch aus anderen Gründen die Entstehung der Ilias gehören, und zwar nach zahlreichen handgreiflichen Erwähnungen bei fast allen folgenden Dichtern des siebenten Jahrhunderts: Hesiod sowie die frühesten Lyriker Kallinos, Tyrtaios, Archilochos, Semonides. Und da Archilochos uns mit astronomischer Genauigkeit in einem Gedicht, in dem er eine Sonnenfinsternis erwähnt, das für die griechische Literaturgeschichte wichtige Datum, den 6. April 648, liefert, gelangen wir über Hesiod und die Odyssee hinaus rückrechnend etwa in die zweite Hälfte des achten Jahrhunderts. Denn es scheint, jene ganze folgende Dichtergeneration von Epikern und Lyrikern wurde durch die Ilias Homers befruchtet, ja hervorgerufen. Der Ruhm dieses Epos, das es in dieser Ausdehnung noch nicht gegeben hatte, muß sich verhältnismäßig schnell verbreitet haben. Doch kann die Ilias nicht lediglich an einem Fürstensitz in der Troas, sondern muß bei verschiedenen Festen und Agonen, zumal bei der allionischen Festversammlung auf der Insel Delos vorgetragen worden sein. Hier nennt der Verfasser des homerischen Delischen Apollon-Hymnos sich selbst als den ›Blinden von Chios‹, den alle am meisten liebten: ›Seine 23
Gesänge sind alle für künftige Zeit die besten; und er will die Kunde von den Delischen Mädchen weit zu den Städten der Menschen, wo er einkehrt, über die Erde tragen, diese aber werden es glauben, da es auch wahr ist‹ (73–76). Wenn dieser ApollonHymnos, wie die besondere dichterische Form nahelegt, zusammen mit dem Aphrodite-Hymnos, keinem anderen als dem Ilias-Dichter angehört, so würde sich auch die allgemeine Auffassung der Griechen bestätigen, Homer sei, wenn auch erst in späteren Jahren, blind geworden. Für das Vortragen der Ilias an diesem alle Ionier vereinigenden Fest spricht aber schließlich eine Eigentümlichkeit der Ilias selbst. Zweimal in dem Gedicht schließt mit einer Nacht, die nicht nur erwähnt, sondern in ihrer Ausdehnung beschrieben ist, ein Stück der Handlung: einmal im neunten Buch mit der in der Nacht stattfindenden Gesandtschaft des Aeamemnon zu Achilleus, und dann im achtzehnten Gesang, wo Thetis zu Hephaistos geht und er für Achilleus in der Nacht den Schild schmiedet. Danach mag die Ilias an drei Festtagen vorgetragen worden sein; am ersten Tag vom ersten bis neunten Gesang, am zweiten vom elften bis achtzehnten Gesang, und am dritten bis zum Schluß. Wenn ein Vortragstag zu Ende ging, war auch im Gedicht Abend geworden; wenn man morgens wieder begann, stieg auch in dem Gedicht wieder die Morgenröte auf. Der Ruhm Homers wurde schon zu seinen Lebzeiten für alle Welt begründet. Er wirkte so im sie24
benten und sechsten Jahrhundert fort und wurde in Athen unter den Peisistratiden am Ende des sechsten Jahrhunderts in das Fest der Panathenäen aufgenommen, wobei sich bei vollständigem Vortrag der Ilias mehrere Rhapsoden ablösten (Platon, Hipparch 228 b). Bei dem Tragiker Aischylos erlebt er im fünften Jahrhundert in der Tragödie, die Aischylos selber als ›Schnitten vom großen Mahl des Homer‹ bezeichnet, seine erste große Renaissance. Zuvor war eine Gegenwelle gegen Homer heraufgekommen, und hier wurde er bitter von den Philosophen Xenophanes und Heraklit bekämpft, nicht ohne daß auch Xenophanes von ihm sagen mußte: Von Anfang an hätten alle Menschen von ihm gelernt.
III DIE EPISCHE TRADITION Der Dichter der Ilias, der eine so weitreichende Wirkung ausgeübt hat, ist nicht vom Himmel gefallen. Zwar sein Gedicht, die Ilias, steht für uns am Anbeginn der ganzen griechischen Dichtung und Literatur ohne jede sichtbare Beziehung im achten Jahrhundert. Er setzt aber eine viel weitergehende Überlieferung voraus, die, wie Nilsson mit großer Klarheit gezeigt hat, bis in die mykenische Zeit, die Zeit der Fürstensitze in Mykene, Argos, Pylos, Theben im dreizehnten bis elften Jahrhundert zurückreicht. Die Verbindung der in jener mykenischen Zeit entstandenen ältesten Sagenstoffe über die Dorische Wanderung und die sogenannten dunklen Jahrhunderte bis zu Homer im achten Jahrhundert herab bildet die ›epische Tradition‹, das heißt die zunächst mündlich vorgetragenen Lieder und Gedichte der Sänger, Aoiden, wie uns solche Homer selbst in der Odyssee in der Gestalt des Demodokos (im 8. Gesang) und des Phemios (im . Gesang) vorführt, während in der Ilias außer dem in der Schildbeschreibung genannten ›göttlichen Sänger‹ nur einmal der Held Achilleus selbst (im 9. Gesang) zur Leier die ›Rühme der Männer‹ singt. Schon Friedrich August Wolff hat im Jahr 795 in seinen ›Prolegomena ad Homerum‹ mit gelehrtem Material (fußend auf den neu erschlossenen Iliasschollen) die damals aufsehenerregende Behaup26
tung aufgestellt, Homer habe noch nicht die Schreibkunst gekannt, die homerischen Gedichte seien im Gedächtnis konzipiert und Jahrhunderte hindurch mündlich weitergegeben worden und hätten erst spät ihre feste Form erhalten; mithin sei die Einheit der Ilias wie ihres Urhebers fraglich. Und schon der vorromantische Herder hatte, von den Engländern angeregt, in Homer den Naturund Volksdichter gesehen, dessen »Rhapsodien nicht in Buchläden blieben und auf den Lumpen unseres Papiers, sondern im Ohr und im Herzen lebendiger Sänger und Hörer, aus denen sie spät gesammelt wurden«. Danach hat Karl Lachmann, der schon 86 das Nibelungenlied in Einzellieder zerlegt hatte, auch die Ilias in etwa sechzehn Einzellieder aufgelöst. Man ging in der Romantik so weit, daß man den dichtenden Volksgeist selbst bemühte, daß ›Epen sich selber dichteten‹ (Jacob Grimm), und man nicht an den ›Individual-Dichter‹ glauben wollte, sondern es sich analog den geselligen Tätigkeiten der Tiere, der Bienen zum Beispiel, vorstellte, die ›bewußtlos dem Zuge eines Zweckes folgen, der hernach dem Betrachter wie das Tun einer bewußten Intelligenz erscheine‹ (Victor Hehn, 859). In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wird man auf den improvisierenden Volksgesang der verschiedenen Völker auf der Erde aufmerksam. Man achtet jetzt auf die Finnen, die großrussische Byline, die Kara-Kirgisen, die Malaiischen Atjeher, wie vor allem auf das Sängertum der gleichsam vor unserer Tür noch lebendigen ju27
goslavischen Volksepik. Mit ihr hatte sich schon Goethe in den Jahren 823–27 beschäftigt, angeregt durch die ihm von J. Grimm empfohlene Sammlung des Vuk Stefanović Karadžić (84) und die Übersetzungen der Therese Albertine Luise von Jakob (Talvj). Doch wurde jene Volksepik erst durch das von Vatroslav Jagić 876 gegründete ›Archiv für slavische Philologie‹ allgemein zugänglich gemacht. Vor allem hat Matthias Murko 92 / 3 in Bosnien und der Herzegowina diese jugoslavische Volksepik, teilweise mit phonographischen Aufnahmen, untersucht. Seine Beobachtungen zeigten, daß in der mündlichen Dichtung der jugoslavischen Guslaren, vor allem in wiederholten Versen, Formeln und typischen Szenen, eine Fülle von Analogien zur homerischen Dichtung aufzufinden waren. Diese Untersuchungen hat nun in neuerer Zeit Milman Parry durch eine ungemein feinsinnige Analyse des Formelbestands der homerischen Gedichte ausgebaut. Er hat vor allem den Formelcharakter der Epitheta nach allen Richtungen behandelt und die ganze Technik dieser Elemente im homerischen Vers, im Enjambement, in Sprache und Stil sichtbar gemacht (Jetzt in: The making of Homeric Verse, Oxford 97). In den Jahren 933 und wieder 934 / 35 hat er die südslavische Volksepik in verschiedenen Gegenden Jugoslaviens selbst mit mehr als zwölftausend epischen und lyrischen Gesängen aufgenommen. Sein Schüler Albert B. Lord hat nach Parrys frühem Tod (Ende 935) diese Un28
tersuchungen in Jugoslavien bis ins Jahr 950 / 5 weitergeführt und in seinem Buch ›The Singer of Tales‹ (960) sowohl von Ausbildung und Vortrag, vom Formelhaften, als auch von den Themen gehandelt und so ein bis dahin nicht erreichtes volles Bild von den serbischen Sängern gegeben und gezeigt, wie die Sprache des Epos ganz auf dem traditionellen Formelhaften beruhe. Hier in der serbischen Volksepik hat er gleichsam ein ›episches Laboratorium‹ entdeckt und von da die Analogie zu Homer hergestellt. Homer ist nach ihm ein Dichter der oral poetry, das heißt ein mündlich aus Formeln gestaltender Dichter gewesen, der durch die Bewahrung der reichen Tradition vor ihm seine hohe dichterische Kraft bewiesen hat: kein ›literarischer‹ Dichter, sondern vielmehr ein improvisierender Dichter, bei dem das Lied in dem gleichen Rahmen im einzelnen von Mal zu Mal immer neu wird. Andere sind auf diesem Wege fortgeschritten, indem sie mehr oder weniger abgestuft in Homer mit Ilias und Odyssee den rein mündlichen Dichter der oral poetry sahen, ganz ähnlich wie Homer in der Odyssee seinen Demodokos und Phemios mit der Leier den ›Pfad‹ (oime) seines Gedichts, übergehend von Stoff zu Stoff, verfolgen läßt, sei es, daß es ein bekanntes Lied war, dessen ›Ruhm zum Himmel reicht‹, oder daß er auch auf Aufforderung die Geschichte vom hölzernen Pferd und dem Untergang Trojas besingt. Zu dieser heute weit verbreiteten Auffassung, die zum Teil auf entschiedenen Widerstand gestoßen 29
ist, zum Teil Einschränkungen erfahren hat, wollen wir in aller Kürze unsere Meinung von Homer, dem Iliasdichter, zusammenfassen. Homer hat gewiß die Ilias nicht als ein literarischen Dichter am Schreibtisch gedichtet. Aber literarischen Dichter und schriftloser, rein der Mündlichkeit verpflichteter Stegreifdichter ist nicht die einzige Alternative, sondern zwischen beiden Extremen gibt es ganz verschiedene Spielarten. Ob Homer lediglich die Tradition der oral poetry befolgt oder diese Tradition auf vielfältige Weise in neuem Sinne umgestaltet, darüber kann einzig und allein die Betrachtung der Ilias selber Auskunft geben. Die Ilias zeigt einerseits die Merkmale der älteren oral poetry in einer ganz umfassenden Weise. Da finden wir . die große Anzahl der wiederholten Verse und Halbverse. 2. die Formeln aller Art und aller Grade. 3. insbesondere die Epitheta, teils die hieratischen Götter- und Heldennamen, teils die schmückenden Beiwörter bei Menschen, Tieren, Dingen, Naturerscheinungen. Diese verleihen dem Stil des Epos das Glanzvolle, Hohe und Prächtige. 4. die ›typischen Szenen‹: die Wappnungen mit allen Formen des Kampfes, wie das Ausholen mit der Waffe, das Treffen oder auch Nichttreffen, die Verwundungen und Tötungen, 30
die Bekleidungsszenen, Herrichten und Verzehren des Mahls, Beratungen in der Versammlung und in kleinem Kreis, Entsenden des Boten und Überbringen der Botschaft, Herrichten des Wagens oder Schiffs, Gebete, Opfer und überhaupt jede Art von Begehungen bis zur Bestattung des Toten und Totenfeier. 5. die Kataloge von Helden, Männern und Frauen, insbesondere Kataloge von Gefallenen. 6. die Vergleiche und Gleichnisse, doch diese mit stärkster Einschränkung. 7. gewisse Handlungs-Schemata, so im besonderen die Aristien einzelner Helden; dazu die einzelnen ›Themen‹ wie Freundestreue, Opfertod, Rache für den Tod des Freundes, Ehrverletzung usw. Ich würde statt von ›Themen‹ lieber von ›Motiven‹ sprechen. Sie gehören, recht besehen, weniger einer dichterischen Tradition an als vielmehr der Welt der Heldenzeit und haben dort ihren ›Sitz im Leben‹. Auf der anderen Seite aber zeigt die Ilias nicht weniger entschieden einen Charakter, der nicht aus der oral poetry herleitbar ist. . Die Ilias ist ein Großepos von über fünfzehntausend Versen. Niemals kann ein solches Großepos durch bloße Aneinanderreihung von einzel3
nen Liedern und Kleinepen entstanden sein. Das Großepos hat seinem Wesen nach eine andere Struktur als das Lied oder Kleinepos. Das haben in aller Deutlichkeit nach W. P. Ker (897) schon Andreas Heusler (905) und John Meier (909) dargetan. 2. Das Großepos der Ilias zeigt eine weitgehende strukturelle Komposition, ja Architektonik. Man pflegt zwar auf die zwölftausend Verse des Avdo Mededović, dessen Gesänge bisher nur im Auszug vorliegen, hinzuweisen (die übrigens erst auf ausdrückliche Aufforderung Parrys entstanden sind); aber auch hier ›bleibt der Abstand von homerischer Kunst doch der entscheidende Eindruck‹ (Lesky). 3. Die Bedeutung der Formeln wird von den Vertretern der oral poetry stark übertrieben. Die Ilias zeigt einen großen Teil von nicht formelhaften Elementen, die ›einen gewissen Grad von schöpferischer Tätigkeit voraussetzen, eingegeben einzig durch den Zusammenhang‹ (Hainsworth, 968). Hier haben wir es einfach mit dem Wortschatz der epischen Sprache und mit Redewendungen, die es überhaupt in jeder Sprache gibt, zu tun. 4. Es ist zwar nicht möglich, das Nichtformelhafte in der Ilias klar von den Formeln zu unterscheiden, weil immer damit gerechnet werden muß, daß manches, das bei Homer nur einmal erscheint, in älteren, nicht erhaltenen, mündlichen Gedichten bereits vorgekommen sein mag. Hier aber halten wir uns an die in der Ilias greifbaren Formeln. Sie sind in der Ilias selten bloß übernommen, sondern 32
fast überall so abgewandelt und kombiniert, daß wir mit diesen Elementen den gestaltenden Dichter fassen. Denn die Formeln sind bei Homer zumeist die Elemente für eine übergreifende Ausgestaltung. So die Kataloge, so die ausgeführten Gleichnisse. Unsere Übersetzung zeigt es überall, wie auch der Urtext, daß wir beim Lesen nirgendwo auf bloß schablonenhafte Formeln treffen. Die Epitheta der Götter, Helden usw. stehen auf einem anderen Blatt. 5. Übrigens schließt die Komposition der Ilias nicht aus, daß ihr Dichter außerdem auch bei Gelegenheit ein guter Improvisator gewesen sein mag. So erscheint er in der Homerlegende in seinem Wettstreit mit Hesiod als ein geradezu virtuoser Stegreifdichter. Eine solche Improvisation kann durchaus neben der Komposition einhergehen (wie noch unsere neuere Musikgeschichte zeigen kann: ein Mozart, Bach und Beethoven haben neben ihren komponierten Werken auch Improvisationen vorgetragen). Doch hat der Dichter dann in der Ilias diese Fähigkeit den Erfordernissen seiner Komposition dienstbar gemacht. 6. Die Ilias ist durchzogen von einem engmaschigen Netz von Vor- und Rückverweisen. Insbesondere gibt es die charakteristische Erscheinung der Fernverbindung über weiteste Strecken des Epos. Dies alles gibt der Ilias das feste Gerüst und ist so überlegt, wie ähnliches in der oral poetry nicht vorkommt. Darüber später. 7. Diese reichen gegenseitigen Beziehungen ver33
langen schon von der Abfassung aus einen fixierten Text. Dies schließt geradezu die oral poetry aus, weil bei ihr das Gedicht zwar einen gegebenen Rahmen hat, aber im einzelnen bei jedem Vortrag wieder neu wird. 8. Ob man die Schriftlichkeit für den Dichter eines Großepos erfordern muß? Wir sind davon überzeugt. Doch kommt es darauf nicht als das Entscheidende an, weil man bei mündlichem Dichten mit einem schwer vorstellbaren Gedächtnis der Sänger und Dichter rechnen muß. Entscheidend ist, daß man es bei der Ilias mit jener Durchgestaltung zu tun hat, die bisher ohne Analogien ist. Sie verlangt daher auf alle Fälle jenen fixierten Text, den wir auch nicht um ein oder zwei Jahrhunderte von Homer trennen dürfen, sondern eben in jene Zeit setzen, wo er in seiner unmittelbaren Nachfolge bei Hesiod und den dann folgenden Lyrikern vorausgesetzt werden muß. Mündlich erinnerte Lieder verändern sich beim Vortrag. Außerdem muß der Vortrag so großer Dichtungen selten gewesen sein, es gab also keinen Grund, so große Gebilde wörtlich auswendig zu lernen. Demnach wäre die letzte Fassung der Ilias, das heißt die fixierte Fassung, ›unsere‹ Ilias. Wir glauben, Homer selbst hat diesen Text gemacht und ihn jenen oben genannten Homeriden hinterlassen. 9. Die Ilias, die durch alle die bisher genannten Eigenschaften gekennzeichnet ist, ist eine Einheit. Keine strenge Einheit, wie erst die Tragödie sie zeigt, sondern eine freiere, aber doch unbezweifel34
bare organische Einheit. Und ferner: ihr Urheber ist charakterisiert durch Konzeptionen, die auf das Ganze wie auf Einzelnes gehen, und die handgreiflich die Individualität des Dichters und seine Originalität erkennen lassen. Der beste Gegenbeweis dafür ist die ganz andersartige Dolonie, die, wie heute fast allgemein angenommen wird, die spätere Einlage eines anderen ist. Diese Originalität darf nicht einfach nur dem ›literarischen‹ Schreibtischdichter zugesprochen werden, sondern sie gehört jedem komponierenden Dichter zu. Auch die in der Tradition gegebene ›typische‹ Szene ist typisch nur in ihrem Rahmen, nicht aber in ihrer jeweiligen Ausgestaltung (Harald Patzer, 972). Die Ilias, wenn überhaupt ein Gedicht, zeugt in ihrer ganzen Gestaltung von dem Dichter selbst, den wir Homer nennen und der die Jahrhunderte hindurch so verstanden wurde. 0. Homer ist vielleicht, wie wir meinen, kein anderer als der Mann, der am Ende des Ersten Delischen Apollonhymnos sich selber als den ›blinden Mann von Chios‹ bezeichnet. Wenn er, wie die Legende sagt, erblindet ist und dann seine Ilias diktiert hätte – freilich komponierend diktiert –, so hätte er ganz so wie Milton gearbeitet, der 660 als völlig Erblindeter seine großen Epen ›Das verlorene Paradies‹ und ›Das wiedergewonnene Paradies‹ seiner Frau und seinen Töchtern diktierte. Im ganzen gelangen wir zu folgendem Bild von der frühgriechischen epischen Entwicklung. Am Anfang steht im dreizehnten und zwölften Jahr35
hundert die mykenische Zeit als der Quellbereich der vielen einzelnen Sagen. Sie wurden in reiner Mündlichkeit weitergegeben von den Aoiden, so wie Homer sie in seinem Demodokos und Phemios darstellt. Diese Aoiden haben in den folgenden Jahrhunderten mündlich die Sage fortgestaltet. So entstand einerseits der Formelschatz der epischen Tradition; denn auch die Formel muß ja einmal von einem Dichter eingeführt, und das heißt geschaffen sein. Und auf der anderen Seite entstanden immer mehr bei diesen Sängern die großen, umfassenden Sagenkreise, darunter der vom Troischen Krieg, den wir zwar nicht in der Weise, wie Homer ihn darstellt, als umfassendes Völkerringen voraussetzen können, aber auch nicht als ein ganz unbedeutendes Ereignis. Er gehört der von den Archäologen festgestellten Trojaschicht VII a an, die etwa in das zwölfte Jahrhundert führt. Der Troische Krieg mag sogar unter Agamemnon von Mykene, Menelaos von Sparta, Nestor von Pylos geführt worden sein (nicht aber von den rein mythischen Helden wie Achilleus und Odysseus). Diese epische Tradition ging weiter während der sogenannten dunklen Jahrhunderte bis hinab in das achte Jahrhundert, wo sich die Welle einer neuen Zeit erhebt. Inzwischen ist im zehnten oder neunten Jahrhundert aus dem Phoinikischen Alphabet die Schrift zu den Griechen gekommen, die im achten Jahrhundert bereits verbreitet ist. In dieser Zeit des achten Jahrhunderts tritt ein Mann auf, der die ganze Masse der älteren Überlieferung umfaßt, sowohl das 36
Formale wie die Sagenstoffe; und eben mit Hilfe des neuen Mittels der Schrift geht er daran, was wahrscheinlich noch nicht da war, aus der Sage vom Troischen Krieg ein Großepos zu gestalten. Was er zugrunde legt, das ist der ›Zorn des Achilleus‹. Er hätte sich im Sinne der älteren Sängertätigkeit ein Lied oder auch ein Kleinepos daraus formen können. Die Ilias selbst enthält die Partien, die den Zorn des Achilleus angehen, nur in verhältnismäßig wenigen Gesängen. Der Dichter hat den Zorn des Achilleus durch die große Konzeption gewaltig erweitert, die das Zorngedicht erst zur Ilias macht. So zieht er durch Vor- und Rückblicke und Spiegelungen den ganzen Troischen Krieg hinein und erweitert diesen zum Völkerringen. Und er erweitert durch eine umfassende Weltschau das Gedicht vom Zorn des Achilleus und dem Troischen Krieg zum Weltgedicht. Homer hat seine geschichtliche Stellung innerhalb der frühen Geschichte des Epos am Ende. Im Sinne der oral poetry ist er ein Spätling, der diese oral poetry im Doppelsinn des Wortes ›aufgehoben‹ hat. Wir müssen diese ältere Tradition, die von den alten Aoiden teils „weitergegeben, teils bereichert ist, für Homer nicht gering einschätzen. Die alten griechischen Meistersinger mögen teils wacker nach der Tabulatur gedichtet, teils schon bedeutende eigene Erfindungen gebracht und so die Jahrhunderte hindurch an dem großen Teppich der Sage fortgewebt haben. Homer hat seine Gestaltungen nicht aus der leeren Luft gegriffen, sondern 37
die Macht dieses uralten Sängertums trägt ihn und wirkt in ihm fort. Das ist nichts Geringes. Aber wie jede echte, lebendige Tradition bewahrt, indem sie zugleich verwandelt, hat auch er die Tradition dieses alten Sängertums seinen eigenen Konzeptionen anverwandelt. Durch die Konzeption seines Großepos hat er das ganze ältere Sängertum, von dem er doch so viel übernommen hat, in den Schatten des Vergessens geworfen. Und auch was sich an Spätepik neben und nach ihm erhob, die Epen des sogenannten ›Kyklos‹, sind als die Epigonen Homers in der Hauptsache verschwunden. Bereits Hesiod hat durchweg Neues versucht und konnte sich deswegen neben Homer erhalten. Dann aber folgte eine neue Epoche der griechischen Dichtung, die durch die Lyrik: die Elegie, den Iambos und das Lied, bezeichnet ist.
IV DER HERGANG DER ILIAS Die Grundstruktur der Ilias ist anders als die eines Epos, wie es nach landläufiger Theorie sein soll. Sie ist nicht überwiegend ›Schilderung‹, die dem handelnden Drama entgegengesetzt ist; sie hat eine überwiegend ›dramatische‹ Struktur, und es wird überall in ihr gehandelt. Die Ilias ist gebaut nach ›Szenen‹. Diese Szenen treten zu ›Szenengruppen‹ zusammen und bilden große Zusammenhänge, die man durchaus als ›Akte‹ bezeichnen kann. Und diese Szenen, die die Hauptakzente der Handlung tragen, beruhen überwiegend auf ›direkten Reden‹ und vielfach einem ›Dialog von Reden‹. Gut zwei Drittel der ganzen Ilias sind Reden. Diese dramatische Struktur nach Szenen ist für den Hergang der Ilias grundlegend. Übersicht über die Ilias I. Der Ursprung des Zorns Der erste Gesang Die Heeresversammlung. Der Streit der Könige. Der Gang der Thetis zu Zeus. Beginn des Götterstreits. II. Eröffnung des Kampfes Die Gesänge 2 – 3 – 4 – 5 – 6 – 7 Das Heer. Die Helden. Die früheren Verhei39
ßungen und Vorblick auf Trojas Fall. Zweikämpfe. Die Schlacht des Diomedes. Verhandlungen. Bau der Mauer. III. Die zweite, abgebrochene Schlacht Die Gesänge 8 – 9 Die halbe Niederlage. Versuch, den Achilleus zu versöhnen. IV. Die dritte große Schlacht Die Gesänge – 2 – 3 – 4 – 5 Hektor sprengt das Mauertor. Rückschlag. Hektor getroffen. Wiedervordringen Hektors. Hektor ruft nach Feuer. Die Gesänge 6 – 7 Auszug und Tod des Patroklos. Kampf um seine Leiche. V. Die Wende des Zorns Der 8. Gesang Der Zusammenbruch des Zorns. Thetis zu Achilleus. Die Errettung des Leichnams des Patroklos und erste Totenklage. Die Schildbeschreibung. VI. Auszug des Achilleus Die Gesänge 9 – 20 – 2 – 22 Heeresversammlung. Beilegung des Zorns. Kampf des Achilleus. Götterkampf. Hektors Tod. 40
VII. Versöhnung des Zorns Die Gesänge 23 – 24 Bestattung des Patroklos. Leichenspiele. Hektors Lösung. Diese Szenenfolge der Ilias ist von einem Gewebe zahlloser Vor- und Rückverweisungen durchzogen, das wir im folgenden beachten wollen.
I. Ursprung des Zorns Der erste Gesang Bereits der Anfang der Ilias mit der Entstehung des Zorns führt in zwei großen Szenen zu einem Doppelgipfel. Nach einer kurzen Einleitung, in der gesagt wird, wie Agamemnon den Priester Chryses beleidigt hat und Apollon dafür eine Krankheit über das Heer der Achaier schickt, beruft Achilleus eine Heeresversammlung, in der es zu seinem verhängnisvollen Streit mit dem Heerkönig Agamemnon kommt, der ihm sein Ehrgeschenk, die Frau Briseïs, nehmen will. Das erhebt sich in drei Redepaaren mit merkbarer Steigerung bis zu der Kampfabsage des Achilleus, zu deren Bekräftigung er das Szepter zu Boden wirft. In kurzen überleitenden Szenen folgt die Ausrüstung einer Sühngesandtschaft nach Chryse und die Fortführung der Briseïs aus der Hütte des Achilleus durch die Herolde Agamem4
nons. Achilleus setzt sich weinend an den Strand des Meeres. Seine Mutter Thetis sucht ihn auf und verspricht ihm, für ihn zum Olymp zu gehen und Zeus zu bitten, er möge die Achaier schlagen, bis sie ihm den Schimpf gebüßt hätten. – Achilleus hält sich nun vom Kampfe fern, während Odysseus die Gesandtschaft nach Chryse führt, wo man den Zorn des Apollon besänftigt. – Am zwölften Tag geht Thetis dann zu Zeus, der nach langem Schweigen ihre Bitte gewährt und es mit dem Nicken seines Hauptes bekräftigt, unter dem der Olymp erzittert. Diese Gebärde entspricht dem Niederwerfen des Szepters durch Achilleus. In diesen beiden entscheidenden Szenen greift der Entschluß des Menschen und der Beschluß des höchsten Gottes ineinander, und von diesem Augenblick an ist für die folgende Handlung über die Niederlage der Achaier entschieden. Das ist die arché der Ilias als des Zorngeschehens des Achilleus. Zugleich aber beginnt hier eine andere Entwicklung, die für alles folgende wichtig ist: der Streit der Götter. Zeus sieht es voraus: »Ja wirklich! heillose Dinge, daß du mir auferlegst, mich mit Here zu verfeinden … « Und es kommt zu jenem ersten Streit des Zeus mit Here, die sein Vorhaben durchschaut: er habe sich von Thetis bereden lassen und ihr wahrhaftig zugenickt, daß er den Achilleus ehren, aber viele Achaier verderben werde. Jenes Eintreten der Here für die Achaier und gegen die Troer spinnt sich hier an, das später durch Poseidon und Athene unterstützt wird, die auch die Feinde der Troer sind. 42
II. Eröffnung des Kampfes Der zweite bis siebente Gesang Es folgt vom zweiten bis siebenten Gesang das ›Vorspiel‹: die ausgedehnte, handlungs- und gestaltenreiche Schilderung eines Tages. Zeus schickt dem Agamemnon einen trügerischen Traum. Das Heer, das im neunten Kriegsjahr bereits müde geworden ist, wird durch eine Erprobungsrede Agamemnons zur Flucht bewogen und durch Odysseus zurückgehalten, und Athene erfüllt schließlich das Heer mit neuem Kampfeifer, was der Dichter in einer Gleichniskette unterstreicht. Anschließend der Schiffskatalog, der die versammelten Führer der Stämme und Landschaften vorführt. Dazwischen werden in den Reden des Odysseus und Nestor jene Ereignisse vom Beginn cles Krieges: die günstigen Vorzeichen wie die eingegangenen Verpflichtungen, hineingespiegelt. Im dritten Gesang erscheinen die beiden Rivalen Menelaos und Paris im Zweikampf, in dem Paris besiegt, aber von Aphrodite gerettet wird. Im vierten Gesang wird durch jenen verhängnisvollen Schuß des Pandaros auf Menelaos der Untergang Trojas augenfällig besiegelt. Sodann erscheinen in der sogenannten zweiten Heerschau die Helden Idomeneus, die beiden Aias, Nestor, Odysseus und Diomedes. Im fünften Gesang trägt Diomedes die Schlacht. Unter Mitwirkung Athenes verwundet er zuerst die Göttin Aphrodite und sodann auf dem Gipfel dieses Gesangs den Ares, der wie ein 43
schwarzer Wirbel zum Olymp auffährt, wo er von Zeus hart angelassen wird. Im sechsten Gesang sehen wir auf Troerseiten Hektor, wie er in Troja zuerst mit seiner Mutter Hekabe, mit Paris und Helena und dann mit seiner Frau Andromache zusammentrifft. In den Ängsten der Frau um ihn, in seiner Sorge um sie blickt man auf den Untergang Trojas voraus, und in der Klage, die die Frauen über ihn erheben, steht Hektor bereits im Schatten seines viel später kommenden Todes. Im siebenten Gesang tritt Hektor im Zweikampf dem Aias gegenüber, der später jener Held ist, der bei Hektors Vordringen den schweren Rückzugskampf der Achaier trägt. – Auch Priamos und die Ältesten von Troja sind in diesem Vorspiel bereits aufgetreten, Priamos im dritten und vierten Gesang. Vor allem aber ist die Gestalt der Helena stark hervorgehoben, sei es, als sie im dritten Gesang auf der Mauer Trojas die Achaierhelden – Agamemnon, Odysseus, Idomeneus, Aias – dem Priamos zeigt (auch dies im Grunde aus dem Beginn des Kampfes hineingespiegelt), sei es nach dem Zweikampf in ihrem Beisammensein mit Paris, den sie verachtet, aber dem sie durch Aphrodites Kraft doch erliegt. Und endlich im sechsten Gesang ihr Wort an Hektor von ihrer und des Alexandros Verblendung, durch die sie beide noch einmal den künftigen Menschen zum Gesang werden. Helena wird wieder im vierundzwanzigsten Gesang die letzte Totenklage an Hektors Bahre erheben. Am Ende dieses Teils kommt es schließlich im 44
siebenten Gesang zu einem erneuten Versuch, nach dem Schuß des Pandaros auf Menelaos sich doch noch mit den Achaiern zu vergleichen. Paris aber verhindert es, weil er nicht bereit ist, Helena zurückzugeben. Man bestattet die Gefallenen, und die Achaier bauen, besorgt durch die Kampfabsage des Achilleus, zum Schutz der Schiffe eine Mauer um das Lager. Als die Sonne untergeht, haben die Achaier die Mauer vollendet, und man bereitet das Nachtmahl. Schiffe sind von Lemnos gekommen und haben Wein gebracht, und man kauft den Wein gegen dies und das. Man speist die ganze Nacht hindurch, doch die ganze Nacht donnert Zeus unheilvoll. Damit endet dieses im zweiten Gesang begonnene Geschehen mit einer drohenden Vorausdeutung auf das Schwere, das in den folgenden Gesängen kommen wird. III. Die zweite, abgebrochene Schlacht Der achte und neunte Gesang Im achten Gesang beginnt Zeus sein Versprechen an Thetis wahrzumachen und die Achaier um der Ehre des Achilleus willen zu schlagen. Er verbietet deswegen den Göttern, auf beiden Seiten am Kampf teilzunehmen. Dies Zeusverbot wird erst am Beginn des zwanzigsten Gesangs wieder aufgehoben. Doch wird es Zeus nicht gelingen, gradlinig die Niederlage der Achaier durchzuführen, weil die troerfeindlichen Götter Here, Athene und Po45
seidon Gelegenheit finden werden, sich diesem Verbot zu widersetzen. Zunächst kommt es zum Kampf, in dem Nestor in Gefahr kommt und Diomedes ihn rettet, durch den Wetterstrahl des Zeus aber selbst zurückgetrieben wird. Die Achaier werden zurückgeschlagen, und die Troer biwakieren in der Mitte der Ebene. Zuvor hatten Here und Athene den Versuch unternommen, doch in den Kampf einzugreifen, aber Zeus ruft sie durch die Götterbotin Iris zurück. Der erzürnten Here gibt Zeus eine erste große Voraussage: nicht werde Hektor ablassen vom Kampf, bevor sich bei den Schiffen wieder Achilleus erhebt, wenn man um den gefallenen Patroklos kämpft. – Zugleich hält Hektor vor den Troern eine große Rede, in der er siegesgewiß für morgen den Kampf um die Schiffe der Achaier voraussagt: »Wenn ich doch so gewiß unsterblich wäre und ohne Alter alle Tage und geehrt würde, wie geehrt wird Athenaia und Apollon, wie jetzt dieser Tag Unheil bringt den Argeiern!« (538 ff.) So nehmen in diesem achten Buch, in dem sich die Kämpfe eines ganzen Tages zusammendrängen, verschiedene Handlungslinien für die ganze Ilias ihren Ausgang: die halbe Niederlage der Achaier, das Kampfverbot des Zeus, die Widersetzlichkeit der Götter, jene siegesgewisse Vermessenheit Hektors, die in den folgenden Kämpfen weiterhin verstärkt wird. Im neunten Gesang berät man aufgrund der halben Niederlage während der Nacht, was zu tun ist, 46
und Nestor schlägt dem Agamemnon vor, eine Gesandtschaft zu Achilleus zu schicken, um ihn mit reichen Gaben wieder zu versöhnen und in den Kampf zu bringen. Odysseus und Aias und dazu der alte Erzieher des Achilleus Phoinix werden damit beauftragt und freundlich von Achilleus aufgenommen. Odysseus bietet ihm im Auftrag des Agamemnon die reichen Gaben an, doch er lehnt alles ab. Zu tief ist er durch Agamemnon verletzt, was er in langer Rede, in der seine Erbitterung immer wieder hochkommt, ausspricht. Er denkt daran, morgen in seine Heimat zurückzukehren. Phoinix, nicht nur als Abgesandter, sondern als der Vertraute des Achilleus, erinnert ihn daran, wie er sich um ihn als Kind gemüht habe, und erzählt in einem Paradeigma von dem verderblichen Zorn des Meleagros. Schließlich ermahnt ihn Aias als Kampfgefährte, er möge doch nicht nur um des Agamemnon, sondern um ihretwillen nachgeben, die ihm die Nächsten und Liebsten sind von den Argeiern. Das macht Eindruck auf Achilleus, aber er kann den Zorn nicht überwinden. Doch will er nun, anders als er zuerst gesagt hat, nicht gleich abfahren, sondern warten, bis Hektor an seinen Schiffen steht. Mit dieser Entscheidung entläßt er die Gesandten. Es ist ein teilweises Nachgeben, doch ein folgenreiches Nachgeben, das am nächsten Tag nun zu der schweren Niederlage der Achaier führen, für Achilleus selbst aber das Verhängnis bringen wird. 47
IV. Die große Schlacht Vom elften bis siebzehnten Gesang Mit dem elften Gesang beginnt das lang hingezogene wechselvolle Ringen zwischen den Achaiern und den Troern, das nun zur vollen Niederlage der Achaier führt. Dieses Geschehen baut sich auf in drei Stufen. Es führt dazu, daß Hektor erstens das Mauertor der Achaier sprengt (im elften und zwölften Gesang), daß er zweitens die Schiffe erreicht und ein Schiff in Brand setzt (im dreizehnten und fünfzehnten Gesang), und daß er drittens den Patroklos erschlägt (im sechzehnten und siebzehnten Gesang). Innerhalb dieses Geschehens kommt es durch Poseidons und Heres Einwirken zu dem Rückschlag, bei dem Hektor durch einen Steinwurf des Aias vorübergehend kampfunfähig gemacht wird (im vierzehnten Gesang). Sodann wird in diesem Dreistufenbau Patroklos neu in den Gang der Ereignisse einbezogen (im elften Gesang) und dann von Achilleus ausgeschickt (im sechzehnten Gesang), wo er nach kurzem Siegeslauf getötet wird. Dabei ist der Sieg Hektors auf seinem Gipfel, als er die Waffen des Achilleus anlegt, bereits durch das Wort des Zeus über ihn mit seinem kommenden Untergang verwoben. Die erste Stufe Mit aufgehendem Morgen wirft Zeus einen neuen Kampfeifer in die Achaier. Agamemnon wappnet sich und dringt groß vorwärts. Hier aber gibt Zeus 48
dem Hektor die Verheißung, sobald er Agamemnon zurückweichen sähe, werde er ihm Kraft geben, bis er am Abend zu den Schiffen gelangt sei (, 85 ff.). Dann wird Agamemnon verwundet, und weiterhin auch Diomedes und Odysseus. Der Dichter gibt mit überlegener dichterischer Strategie den drei Helden solche Verwundungen, daß er durch ihre Kampfunfähigkeit das Heer der Achaier schwächt, sie aber später an den Leichenspielen im dreiundzwanzigsten Gesang wieder teilnehmen läßt. Aias trägt nun die ganze Last des Kampfes. Als Achilleus aber von seinem Schiff aus Nestor den verwundeten Arzt Machaon zurückführen sieht, schickt er Patroklos zu Nestor: »Das war für ihn des Unheils Anfang« (, 604). Nestor läßt dem Achilleus sagen, wenn er selbst nicht kämpfen wolle, so solle er wenigstens den Patroklos in seinen Waffen hinausschicken, den Achaiern Luft zu verschaffen. Patroklos wird auf seinem Rückweg zu Achilleus durch den verwundeten Eurypylos aufgehalten. – Von hier geht die Patroklos-Linie weiter zum fünfzehnten Gesang, wo er den Eurypylos verläßt, und zum sechzehnten, wo er wieder vor Achilleus tritt. Der zwölfte Gesang bringt den Kampf um die Mauer der Achaier, die im siebenten Gesang gebaut war. In einem besonderen Prooimion teilt der Dichter mit, daß sie später von Poseidon und Apollon ins Meer geworfen und spurlos vertilgt wird. Er erzählt dies sichtlich, weil in seiner Zeit keine Spur von einer Mauer dort zu sehen war. Die Mauer ist 49
also eingeführt als entscheidendes Hindernis im Kampf um die Schiffe, und zugleich wird mit ihr in das wechselvolle Kampfgeschehen die Situation einer Belagerung der Achaier eingeführt. In diesem schweren Kampf um die Mauer und den Graben kommt es zunächst zu dem Vorstoß des Troers Asios, Hyrtakos’ Sohn, der töricht genug trotz der Warnung des klugen Pulydamas (der auf Troerseiten dem Odysseus entspricht) versucht, mit Pferden und Wagen den Graben zu durchqueren. Dieser Versuch gelingt nicht. Auf Achaierseiten bewähren sich nun vor allem am Mauertor die beiden Lapithen. Doch dem Lykierkönig Sarpedon, der als Zeus-Sohn auf Seiten der Troer besonders hervorgehoben wird, gelingt es, einen großen Teil der Brustwehr einzureißen. Hektor sprengt schließlich mit einem mächtigen Steinwurf das Tor, springt selbst hinein, und die anderen Troer ihm nach. – Zuvor freilich hat es beim Überschreiten des Grabens ein ungünstiges Vogelzeichen gegeben, und der besonnene Pulydamas warnte Hektor, nicht mit den Danaern um die Schiffe zu kämpfen. Hektor aber schlägt die Warnung in den Wind mit dem fast blasphemischen Wort: »Ein Vogel ist der beste: sich wehren um die väterliche Erde!« (243). Zum zweitenmal hat hier der Dichter die Vermessenheit Hektors hervorgehoben, zugleich aber in seiner Handlung, mitten im Vordringen der Troer, auf den späteren Rückschlag hingedeutet. – Später wird Pulydamas noch zweimal warnen (im dreizehnten und im achtzehnten Gesang). 50
Die zweite Stufe Nachdem Zeus mit dem Eindringen Hektors in das Lagertor soweit sein Versprechen an Thetis, die Achaier zu schlagen, erfüllt hat, wendet er im dreizehnten Gesang die Augen vom Kampffeld ab auf die fernen nördlichen Völker. Nun mischt sich, entgegen dem Verbot des Zeus, Poseidon in den Kampf vor Troja ein, um heimlich die Achaier zu stärken. In großartig geschilderter Wagenfahrt erreicht er das Heer, und in Gestalt des Sehers Kalchas ermutigt er die Achaier und flößt durch einen Schlag mit seinem Stab den beiden Aias Kraft ein. Hektor wird zurückgedrängt, und unter den Achaiern tut sich vor allem der schon bejahrte Kreter Idomeneus mit seinem Wagenlenker Meriones hervor. In wechselnden Kämpfen stehen auf seiten der Troer Aineias und Paris, auf seiten der Achaier Menelaos. Dann begegnet Hektor dem Aias, den er schmäht (er wird ihm wieder begegnen), und Geschrei erhebt sich auf beiden Seiten. Im vierzehnten Gesang verläßt Nestor den Machaon und berät sich mit den verwundeten Königen Agamemnon, Diomedes und Odysseus. Agamemnon schlägt vor, die Flucht vorzubereiten, doch Odysseus widerrät es, und Poseidon in Gestalt eines alten Kriegers stärkt ihren Mut. – Nun versucht Here, den Poseidon zu unterstützen. Sie macht sich schön, empfängt von Aphrodite den Liebesgürtel, geht über die Berge und Inseln, bis sie auf Lemnos sich der Hilfe des Schlafs versichert, und gelangt auf dem Gargaron-Gipfel des Ida zu 5
Zeus, der von Verlangen ergriffen sich zu ihr legt und einschläft. Poseidon stellt sich nun offen an die Spitze der Achaier, und Aias schlägt Hektor mit einem Steinwurf nieder. Dann erwacht Zeus im fünfzehnten Gesang und sieht die Niederlage der Troer. Er gerät in Zorn und gibt nun die zweite, noch umfassendere, bis zum Fall Trojas gehende Voraussage. Durch Iris befiehlt er dem Poseidon, aus dem Kampf zu weichen, und gibt dem Apollon den Auftrag, Hektor wieder Kraft zu geben. Es geschieht, und Apollon dringt an der Spitze der Troer, die Aigis in Händen, gewaltig vor, tritt Graben und Mauer ein und schafft den Troern einen breiten Weg zu den Schiffen. Heftige Kämpfe. Nestor betet in höchster Not zu Zeus und ermuntert die Achaier. Aias wehrt als letzter, von einem Schiff auf das andere springend, mit einem langen Speer die Troer ab, Hektor aber erfaßt das Heck von dem Schiff des Protesilaos und ruft nach Feuer. Die dritte Stufe Patroklos hat unterdessen den verwundeten Eurypylos verlassen. Nun tritt er im sechzehnten Gesang weinend vor Achilleus, zeigt ihm an, wie schlimm es um die Achaier steht, und bittet ihn nach dem Rat des Nestor, ihn in seinen Waffen hinauszuschicken. Achilleus gibt nach. – Aias kann draußen dem Hektor nicht mehr widerstehen. Mit einem Musenanruf unterstreicht der Dichter, wie das Feuer in die Schiffe fällt. Als Hektor dem Aias 52
die Spitze des Speeres kappt, werfen die Troer das Feuer in das Schiff des Protesilaos. Mit dieser Klammertechnik verbindet der Dichter das Ende des fünfzehnten mit dem Beginn des sechzehnten Gesangs. Nun ruft Achilleus selbst die Myrmidonen auf und treibt den Freund, sich zu wappnen, warnt ihn aber, er solle nur die Troer zurückschlagen und nicht versuchen, Troja zu nehmen; und bittet Zeus in einem Gebet, er möge dem Freund den Sieg geben und ihn heil wieder zurückführen. Zeus gewährt das eine, das andere versagt er. So zieht sich das Verhängnis um Achilleus enger zusammen. Patroklos dringt vor, rettet die Schiffe und erlegt Sarpedon. Zeus läßt von Apollon den Leichnam des Sarpedon waschen und ihn dann durch die Zwillinge Schlaf und Tod in seine Heimat bringen. Patroklos aber dringt weiter vor. Gegen das Verbot des Achilleus läßt er sich hinreißen, bis unter die Mauern Trojas vorzustürmen. Da tritt ihm Apollon entgegen, schlägt ihn in den Rücken und entwaffnet ihn, und er wird von Euphorbos verwundet und dann von Hektor getötet. Sterbend sagt er Hektor den Tod durch Achilleus voraus. Im siebzehnten Gesang kämpft man um den Leichnam des Patroklos, wobei sich Menelaos hervortut, der auch den Euphorbos tötet. Aber Hektor raubt dem toten Patroklos die Waffen (die die Waffen des Achilleus sind) und legt sie frohlockend an. Da bewegt Zeus sein Haupt (200 f.): »Ah, Elender! und gar nicht liegt dir der Tod auf der Seele, 53
der dir schon nahe ist … « Die Voraussagen auf den Untergang Hektors werden nun zugleich mit seiner Vermessenheit immer deutlicher. Die unsterblichen Rosse des Achilleus aber läßt Zeus nicht in Hektors Hände fallen. – Nach langem wechselvollen Ringen heben Menelaos und Meriones den Leichnam auf, während die beiden Aias den Rückzug decken. Menelaos aber hat den Antilochos zu Achilleus geschickt, um diesem den Tod des Patroklos zu melden. V. Die Wende des Zorns Der achtzehnte Gesang Der bedeutende achtzehnte Gesang ist zugleich ein Ende und ein Anfang. Hier findet der Zorn des Achilleus in seinem Schmerz um Patroklos sein Ende: der Zorn der durch Agamemnon verletzten Ehre; doch wendet er sich nun auf den Rachezorn gegen den Töter seines Freundes, Hektor, der erst im vierundzwanzigsten Gesang zur Ruhe kommt. Der achtzehnte Gesang hat eine Sonderstellung. Wie Thetis im ersten Gesang zu ihrem Sohn trat, kommt sie auch jetzt aus der Tiefe des Meeres zu ihm. Und wie sie dort zum Olymp ging, um seine Bitte Zeus vorzutragen, so geht sie auch jetzt zum Olymp, zu dem Schmiedegott Hephaistos, um dem Sohn neue Waffen zu erbitten. Hephaistos aber war bisher ein einziges Mal am Ende des ersten Gesangs aufgetreten, um die Mutter 54
Here zu versöhnen und den Göttern zu ihrer Erheiterung den Mundschenk zu machen. Der achtzehnte Gesang steht so zu dem ersten Gesang im Verhältnis gegensätzlicher Entsprechung. – Antilochos tritt zu Achilleus, der bereits das Schlimme ahnt, und meldet ihm unter Tränen, daß Patroklos durch Hektor gefallen ist und Hektor seine Waffen hat. Gewaltiger Ausbruch des Schmerzes bei Achilleus. Seinen Schrei hört die Mutter in der Meerestiefe, und sie geht mit den Nereiden zu ihm und tritt zu dem schwer Stöhnenden: Nun habe Zeus ihm doch alles erfüllt. Und Achilleus: Ja, aber was nützt ihm das, nun er den Freund verloren hat, und die Waffen hat Hektor ihm abgezogen! Er wolle nicht mehr unter den Lebenden sein, wenn er nicht Hektor töte und ihn den Tod des Patroklos büßen lasse. Thetis widerspricht ihm nicht, nur soll er warten, bis sie ihm von Hephaistos neue Waffen bringt. Inzwischen kämpft man draußen um des Patroklos Leichnam, und Hektor faßt ihn schon am Fuß. Da tritt Iris, von Here gesandt, zu Achilleus und befiehlt ihm, sich den Kämpfenden waffenlos zu zeigen. Athene legt ihm die Aigis um die Schultern und läßt Feuer auf seinem Haupt erscheinen, und auf seinen dreimaligen Ruf weichen die Troer in Verwirrung zurück und die Achaier tragen den Leichnam des Patroklos zu den Schiffen. Die Sonne geht unter. Achilleus und die Achaier klagen um Patroklos und waschen und salben ihn, während unterdessen die Troer im Feld sich beraten, 55
und Pulydamas warnt zum drittenmal, man solle zur Stadt zurückkehren. Hektor aber widerspricht: am nächsten Morgen wolle er dem Achilleus entgegentreten. Seine Siegeszuversicht ist nun auf der dritten Stufe zur Verblendung gesteigert, und der Dichter sagt selbst, daß den Troern, die ihm Beifall geben, Pallas Athene die Sinne benommen habe. Am Ende des Gesangs geht Thetis zu Hephaistos und bittet ihn, für ihren Sohn neue Waffen zu schmieden. Hier folgt jene Schildbeschreibung. Sie bringt in der Nacht nach so vielen Kämpfen des Tages einen Ruhepunkt. Es ist der einzige wirkliche Ruhepunkt in der Ilias: die Beschreibung eines Kunstwerks, das ein Bild der Welt und zugleich ein Bild des Lebens ist. Der schon im Tode stehende Achilleus wird den Schild am folgenden Tag führen. VI. Auszug des Achilleus, Hektors Tod Der neunzehnte bis zweiundzwanzigste Gesang Dieser in der ganzen Ilias entscheidendste Tag bringt die Aristie des Achilleus, die mit seiner Wappnung im neunzehnten Buch beginnt und im zweiundzwanzigsten mit der Tötung Hektors endet. Alle anderen einzelnen Helden der Achaier sind nun gleichsam verschwunden, und Achilleus allein trägt diesen Kampf. Der Dichter hat mit außerordentlichen Mitteln dieses einzigartige 56
Kampfgeschehen ausgestaltet. Mit einer großen Architektonik hat er die Gesänge zwanzig und einundzwanzig und wieder den für sich stehenden Gesang zweiundzwanzig mit Hektors Tod ausgeführt. Die Gestalt des Achilleus hat er hier ins Heldische, Übermenschliche gehoben und doch zugleich wieder ins Menschliche und Menschlichste hineingenommen. Das Ganze ist, wie es auch sonst Homers Art ist, in Gegensätzen (e contrario) entwickelt. Es steigt hinauf in drei deutlich voneinander geschiedenen Teilen. Im zwanzigsten Gesang die erste Begegnung mit Hektor und ein großes Morden unter den Troern. Im einundzwanzigsten Gesang die Tötung der Troer im Fluß und der Flußkampf. Im zweiundzwanzigsten Gesang der Tod Hektors. In der Frühe bringt Thetis im neunzehnten Gesang dem Achilleus die neuen Waffen von Hephaistos. Die Myrmidonen erschrecken vor ihnen, Achilleus aber erfüllt der Anblick mit Kampfmut. Er beruft eine Heeresversammlung (sie steht parallel zu jener Versammlung im ersten Gesang) und sagt seinen Zorn ab und will nun kämpfen. Agamemnon sieht seine Beirrung ein und bietet die früher versprochenen Gaben. Achilleus fordert vor allem die Schlacht, und es kommt zu jenem Streit um das Frühmahl, in dem Odysseus realistisch verlangt, daß die Leute essen sollen, Achilleus aber will dies aufschieben bis zum Abend und weist für sich jede Speise zurück, bis der Leichnam des Patroklos verbrannt sei. – In diesem Streit um das 57
Frühmahl, der in seinem nüchternen Realismus oft nicht verstanden wurde, finden wir beispielhaft den Gegensatz des Praktisch-Militärischen und des menschlichen Bedürfnissen enthobenen Helden. – Hierauf kommt es zu einer jener stillen Szenen, die öfter bei Homer in das dramatische Geschehen eingelegt sind: Achilleus ruft die Erinnerung herauf, wie Patroklos ihm stets das Essen vorgesetzt habe. Während die anderen essen, schickt Zeus Athene und stärkt ihn mit Ambrosia. Dann strömt das Heer zusammen, und Achilleus rüstet sich mit seinen Waffen. Diese Wappnung ist über alle früheren Wappnungen weit hinausgehoben (die Wappnung des Paris im dritten Buch; die des Agamemnon im elften, die des Patroklos im sechzehnten). Lichterscheinungen begleiten sie, wie im fünften Gesang auch Licht um Haupt und Schultern des Diomedes leuchtete. Der Helm ist wie ein Stern, der große schöne starke Schild wie der Mond, und so tröstlich den Achaiern, wie ein Feuer, das in den Bergen abgetriebenen Schiffern auf dem Meer leuchtet. Und etwas einzigartiges: die Waffen schmiegen sich um seinen Leib und erheben ihn wie Flügel. Aber auch dieser Bekundung der neuen Heldenkraft des Achilleus folgt sofort ein Gegensatz, wenn sein Pferd Xanthos ihm den Tod voraussagt; und er nimmt zum zweitenmal den Tod auf sich. Im zwanzigsten Gesang hebt Zeus das Kampfverbot an die Götter auf, die sich nun in zwei Parteien scheiden. Die Achaierfreunde Here, Athene, Poseidon, Hermes und Hephaistos gehen in das Heer 58
der Achaier, die Troerfreunde Ares, Apollon, Artemis, Aphrodite und Leto unter die Troer. Es erhebt sich Eris, Zeus aber donnert aus der Höhe und Poseidon erschüttert die Erde, so daß Hades aufspringt von seinem Thron und fürchtet, daß Poseidon die Unterwelt aufreißen könnte. Nachdem in dieser Szene der Dichter die Götter einander gegenübergestellt hat, läßt er sie während der Kämpfe des Achilleus warten und erst am Ende des einundzwanzigsten Gesangs gegeneinander gehen. So bildet er architektonisch einen Rahmen für die Aristie des Achilleus. Aber seltsam genug läßt er im einundzwanzigsten Gesang zwar den Hephaistos gewalttätig gegen Xanthos vorgehen und die Götter gegeneinanderfahren unter dem Krachen der Erde und dem Trompeten des Himmels. Dann aber läßt er sie nicht, dem grandiosen Aufmarsch des Anfangs entsprechend, ähnlich einer Titanomachie miteinander kämpfen, sondern erst schlägt Athene den Ares nieder und sodann auch Aphrodite, die ihn wegführen will, so daß sie alle beide zu Boden fallen. Dann schlägt Here der Artemis ihre eigenen Pfeile um die Ohren, bis sie weinend flieht. Hermes, der Schalk, aber will nicht mit Leto kämpfen: er wolle sich nicht mit den Frauen des Zeus balgen. Nur als der ernste Poseidon kämpfen will, lehnt der vornehme Apollon es ab, um der ›elenden Sterblichen‹ willen mit ihm zu kämpfen. – Dies ist eine ganz unerwartete Konzeption. Der Dichter, der den Kampf des Hephaistos gegen den Fluß noch mit aller Ernsthaftigkeit 59
durchgeführt hat, bietet nun den eigentlichen Kampf der Götter als eine erhabene Keilerei, die ein Scherzwort des Hermes und ein vergnügliches Lachen des Zeus beendet. Er eröffnet hier eine andere Seite des Göttlichen, jener Götter, die er die ›Seligen‹ und die ›Leichtlebenden‹ nennt. Dies Bild von der ›Leichtigkeit‹ der Götter braucht der Dichter hier als Kontrast, da er bei den Menschen Verworrenheit, Not und Tod schildert. Sie, die von keiner Tragik Berührten, stehen gegenüber dem tragischen Schicksal des Achilleus. Auch dies geschieht nach jenem Prinzip des Gegensatzes. Davor sind im zwanzigsten Gesang die Achaier und die Troer aufmarschiert, und als Achilleus erschienen ist, ergreift die Troer ein Zittern. Er sucht vor allem den Hektor, mit dessen Blut er Ares sättigen will. Doch tritt ihm hier zuerst Aineias entgegen, und zwar in einer durchaus ungewöhnlichen Weise. Um ihn als einzigen unter den Achaiern bekümmern sich die Götter beider Parteien. Apollon treibt ihn dem Achilleus entgegen, und es kommt zwischen beiden zum Kampf. Aineias nennt Achilleus sein Geschlecht: auch er ist Dardanide, doch aus einer anderen Linie als Priamos. Im Kampf verschießen beide ihre Speere und gehen dann, Achilleus mit dem Schwert, Aineias mit einem Feldstein, gegeneinander. Da greift Poseidon ein. Er will nicht, daß Aineias, der doch schuldlos ist, fallen soll. Während Priamos und die Seinen dem Zeus verhaßt sind, sollen Aineias und seine Kindeskinder über die Troer herrschen. Selbst Here ist mit seiner 60
Rettung einverstanden, und Poseidon wirft dem Achilleus einen Nebel über die Augen und schleudert den Aineias bis zum Ende des Kampffeldes. – Während der ganzen Ilias nimmt unter den Troern Aineias eine Sonderstellung ein. Er zeichnet sich aus im fünften und sechsten Buch, wo er dem Hektor gleichgestellt wird, und ebenso im dreizehnten, wo von ihm gesagt wird, daß er dem Priamos grollt, weil dieser ihn unter den Männern nicht ehrte. Wie wir sagten, erklärt sich diese Sonderstellung des Aineias durch eine Beziehung des Dichters zu einem fürstlichen Herrn der Dardaner, die im 8. Jahrhundert in der Troas herrschten und ihren Stammbaum auf Aineias zurückführten. Der Dichter hatte Grund, diese dardanischen Fürsten, die sein Gedicht begünstigten, durch ihren Ahn Aineias zu ehren. Sehr bedacht war es, diesem Aineias in der Aristie des Achilleus einen Platz zu geben, wo er zwar groß gerühmt wird, doch nur in einem Vorspiel all des Schrecklichen, das weiterhin nun Achilleus tun wird. Aineias kommt nach dieser seiner Erhebung in der Ilias nicht mehr vor. Achilleus ruft nun die Achaier zum Kampf auf, und ebenso Hektor die Troer. Aber Apollon verbietet ihm den Kampf mit Achilleus. Doch als dieser den Priamos-Sohn Polydoros tötet, will Hektor seinen Bruder rächen, und Achilleus springt vor Freude in die Höhe, daß der Mann nahe ist, der ihm den Freund getötet hat. Und auch Hektor antwortet nun mit einer mutigen Rede und wirft auf Achilleus den Speer, den aber Athene zurückhaucht. 6
Den Hektor aber entrafft Apollon, in Nebel verhüllt. Am Ende des Buchs mordet Achilleus unter den Troern und verwundet sie mit schrecklichen, vom Dichter geschilderten Verwundungen. Dies ist ein typischer Katalog von Gefallenen, wovon die Ilias mehrere hat. Doch ist dieser unter allen der umfassendste. Schließlich endet es mit dem sonst schon gebrauchten, hier besonders eindrucksvollen Bild: Achilleus auf dem blutbespritzten Wagen, die Pferde über Leichen stampfend, er selbst mit Mordblut besudelt an den Händen. Im einundzwanzigsten Gesang gelangt Achilleus zum Fluß, dem Skamander, springt hinein und tötet die Troer in ihm. Damit beginnt der Kampf im Fluß und mit dem Fluß, wieder dreifach gestuft. Achilleus fängt zwölf junge Troer lebend für Patroklos zum Totenopfer. Darauf, breit entwickelt, begegnet er dem Lykaon. Er hatte ihn schon einmal gefangen und verkauft. Doch kam er nach Troja zurück und fällt nun wieder in Achilleus’ Hände. Auf seine Bitte, ihn wieder zu schonen, hat er nur das Wort: ›Stirb auch du! Starb doch Patroklos auch und war viel besser als du … ‹, und dann von neuem der Gedanke an den eigenen Tod: ›Kommen wird ein Morgen, ein Abend oder Mittag, wo auch mir einer das Leben nehmen wird mit einem Speer oder Pfeilschuß.‹ Und er wirft ihn in den Fluß; dort sollen sein weißes Fett die Fische fressen. Sodann trifft er den Paionen Asteropaios, der ein 62
Sohn des Flusses Axios ist, und läßt ihn nach kurzem Kampf im Sand des Flusses liegen, wo die Fische und Aale ihm das Fett von den Nieren rupfen, und tötet dann weiter unter den Paionen. Hier aber tritt ihm nun der Flußgott Xanthos selbst entgegen: er soll aus dem Fluß hinausgehen und die schrecklichen Dinge in der Ebene tun. Achilleus verspricht es, springt aber doch wieder hinein, und nun erhebt sich der Fluß mit Gewalt gegen ihn und bringt ihn mit der Wucht seiner Strömungen in größte Not. Er verfolgt den Fliehenden und reißt ihm den Sand weg unter den Füßen. Achilleus sieht inmitten seiner Aristie einen elenden Tod vor Augen und betet zu Zeus: ›Hätte ihn doch Hektor erschlagen! Jetzt muß er wie ein Hütejunge, eingeengt im Strom, ertrinken.‹ Der Tod im Wasser war für die Griechen der elendigste Tod. So läßt ihm der Dichter mit seiner Kunst des Gegensatzes auch dieses Armseligste, Menschlichste von allem, was ein Mensch leiden kann, auf dem Wege seines Siegeslaufs begegnen. Jedoch zu ihm treten Athene und Poseidon; gegen den Fluß aber schickt Here den Feuergott Hephaistos, und Feuer und Wasser kämpfen nun gegeneinander, und der Fluß muß mit einem Versprechen an Here nachgeben. An dieser Stelle beginnt der Götterkampf, der am Beginn des zwanzigsten Gesangs vorbereitet war. Nach seinem Ende gehen die Götter zum Olymp zurück, nur Apollon geht nach Troja, während Achilleus weiter die Troer mordet. Priamos läßt die 63
Tore öffnen, um die Fliehenden aufzunehmen. Apollon aber zieht in der Gestalt des Agenor Achilleus von den Troern ab zur Ebene. Dann gibt er sich ihm zu erkennen, und Achilleus wendet sich unmutig zurück nach Troja, in das die fliehenden Troer sich hineingerettet haben. Der zweiundzwanzigste Gesang bringt mit dem Tod Hektors die Höhe der Aristie des Achilleus, und hier, auf der dritten Stufe, erreicht auch die Kunst des Dichters ihre höchste Höhe. Das ganze zweiundzwanzigste Buch ist eine einzige groß angelegte Struktur, die es verstehen laßt, warum man einstmals Homer als den Maler-Dichter und Plastiker zu rühmen wußte. Es steht vor uns wie ein großes Triptychon mit zwei Flügeln. Wir sehen in zwei großen Bildern zu Anfang des Gesangs und an seinem Ende die Eltern auf der Mauer, den Hektor unten am Tor vor dem Kampf mit Achilleus angstvoll warnend, und später, als er tot von Achilleus geschleift wird, in furchtbarer Verzweiflung weinend und klagend. Das größere Mittelteil gehört dem Feld vor Troja, auf das die Troer von der Mauer niederblicken und auf dem sich nun in verschiedenen Phasen der Kampf des Achilleus mit Hektor und seine Tötung abspielt. Während Achilleus auf die Stadt zueilt, strahlend wie ein böser Stern, steht Hektor unbewegt durch die Klagen des Priamos und der Hekabe unten am Vorsprung des Tors und ist jetzt aus seiner Verblendung erwacht. Er sieht, Pulydamas hatte recht, and er erwägt sogar, sich waffenlos dem Achilleus 64
zu ergeben. Und als Achilleus, wieder wie ein Feuer oder die Sonne strahlend, ihm näher kommt, erträgt er es nicht und flieht. Es folgt im ersten Teil des Kampfgeschehens zwischen beiden jene Flucht, die dreimal um die Mauern Trojas führt; eine durchaus unheldische Flucht, in der nun auch Hektor das tiefste Menschliche erfahren muß. Sie geht vorbei am Feigenbaum, an der Warte und den beiden Quellen, aus denen die Troerfrauen, ehe die Achaier kamen, das Wasser schöpften – so spiegelt der Dichter im Augenblick des schwersten Kampfes ein Gegenbild des Friedens hinein. Die Flucht ist reich von Gleichnissen begleitet: Falke und Taube, um die Zielmarken kreisende Pferde, Hund und Hirschkalb, und jenes ganz ungewöhnliche Gleichnis, wie man im Traum vergeblich flieht oder verfolgt. Die Götter sehen der Flucht zu von oben. Zeus erwägt ein letztes Mal, ob er den Hektor retten soll, doch schickt er die widersprechende Athene dann auf das Kampffeld. Und während Apollon noch einmal zu Hektor tritt, ergreift Zeus die Schicksalswaage, wägt, und Hektors Todeslos sinkt schwer nieder. Da verläßt ihn Apollon. Hier beginnt der Kampf im engeren Sinne. Athene bringt beide Helden zum Stehen, wobei sie, grausam genug, dem Hektor in Gestalt seines Bruders Deïphobos Mut macht. Hektor versucht, mit Achilleus zu einer Vereinbarung zu kommen, wie sie sonst vor einem Zweikampf wohl üblich war (so in seinem Zweikampf mit Aias im siebenten 65
Gesang): der Sieger soll dem Toten die Waffen nehmen, den Leib aber zurückgeben. Doch Achilleus will nichts von Verträgen wissen. Er verschießt seinen Speer, den ihm aber Athene heimlich zurückgibt, und Hektor frohlockt hier noch einmal in seiner alten Verblendung. Doch als auch er dann seinen Speer verschossen hat und nach dem Speer des Deïphobos verlangt und kein Deïphobos da ist, da endlich sieht er, daß es sein Ende ist: ›Die Götter haben mich zum Tod gerufen‹. Doch will er, als der tapfere Mann, der er ist, noch etwas Großes tun. So rennt er, geduckt mit dem Schwert gegen Achilleus anstürmend, diesem in den Speer, der ihm durch den Hals fährt. Auch jetzt versucht er sterbend noch einmal, Achilleus zu bewegen, daß er seinen Leichnam dem Vater herausgebe und nicht schände. Achilleus aber: und wenn man ihn auch mit Gold aufwiegen wollte: ihn würden die Hunde und die Vögel fressen. Der sterbende Hektor sagt ihm nun den Tod am Skäischen Tor von Apollons Pfeil voraus, was Achilleus wieder damit beantwortet, daß er den Tod von den Göttern annehmen will. Auch hier steht Achilleus ganz in seinem Tode. – Das Kampfgeschehen endet damit, daß die Achaier Hektor verspotten und die Speere in seinen Leib stoßen. Achilleus aber durchbohrt ihm die Knöchel – ›schmachvolle Dinge sann er‹, sagt der Dichter –, bindet ihn an seinen Wagen und schleift ihn zurück zu den Schiffen der Achaier. Der Schlußteil führt uns wieder auf die Mauer Trojas. Ein Heulen erhebt sich, als ob die Stadt 66
›vom Gipfel herab bereits im Feuer verschwele‹. Der Vater Priamos ist verzweifelt, wälzt sich im Kot und will hinaus und zu Achilleus, ob er sich erbarme, und Hekabe fragt jammernd, warum sie noch lebe. Hier aber bringt der Dichter wiederum eine ganz unerwartete und ungeahnte Wendung. Andromache, die Frau Hektors, die am tiefsten betroffen ist, ist noch ahnungslos. Sie sitzt im Haus, webt bunte Blumen in einen Teppich und läßt Wasser aufstellen für Hektor, wenn er heimkomme. Dann hört sie das Heulen vom Turm, erschrickt, geht ›einer Rasenden gleich‹ dorthin, sieht, wie Hektor geschleift wird, und fällt in Ohnmacht, und die Frauenhaube, die ihr Aphrodite zur Hochzeit geschenkt hatte, fällt weit weg von ihr zu Boden. Es ist eins der so bedeutungsvollen unwillkürlichen Symbole, die der Dichter auch sonst kennt. Und als sie wieder zu sich kommt, hält sie jene Rede, die Hektors und ihr eigenes Schicksal beklagt. Das zweiundzwanzigste Buch ist durch Vor- und Rückverweise mit der übrigen Ilias vielfach verbunden. . Hektors Vermessenheit seit dem achten und wieder dem zwölften, fünfzehnten, siebzehnten und achtzehnten Gesang, bricht, nicht ohne ein letztes Aufflackern, im Tod zusammen, wo er, der sich so um Troja gemüht hatte, nun alle seine Entwürfe vereitelt sieht und von den Göttern verlassen unendlich bitter stirbt, wonach er die furchtbare Schändung durch Achilleus erwarten muß. 67
2. Die Andromache, die hier über Hektors Ende klagt, ist sichtlich die gleiche, die in ihrer Rede im sechsten Gesang vorausgesehen hatte, daß sein Ungestüm ihn verderben werde. Ähnlich wie hier wird sie wieder im vierundzwanzigsten Gesang bei ihrer Totenklage um Hektor vom Untergang Trojas und dem Tod des kleinen Sohnes sprechen. 3. Der Untergang Trojas, schon längst und zumal seit dem vierten Gesang vorausgesehen, wird nun in immer dichteren Voraussagen sichtbar. So hier in der ersten Rede des Priamos an Hektor und dann ausdrücklich, als man bei seinem Tod klagt, ›als ob Troja schon vom Gipfel herab verschwelen würde‹. Im ganzen bringt der zweiundzwanzigste Gesang mit dem Tod Hektors, der allein der Schützer Trojas war, auch den Fall Trojas. 4. Daß Priamos in seiner Verzweiflung aus der Stadt gehen und Achilleus anflehen will, ist sichtlich ein Vorklang dessen, was er im vierundzwanzigsten Gesang wirklich tun wird. 5. Auch die Vorverweise auf den Tod des Achilleus werden immer deutlicher, zuletzt durch den sterbenden Hektor: ›An dem Tag, wo Paris dich und Phoibos Apollon am Skäischen Tor vernichten‹. 6. Die Grausamkeit und Unerbittlichkeit, die Achilleus zeigt, als er dem Hektor die Verträge ablehnt, dem Sterbenden, wenn nicht das Verzehren seines Fleisches, doch die Preisgabe an die Hunde und Vögel ansagt, und ihn am Ende angebunden an seinen Wagen durch die Ebene schleift: all das ist 68
ebenfalls e contrario so gemacht, daß es die Versöhnung mit Priamos und die Herausgabe des Leichnams im vierundzwanzigsten Gesang vorbereitet. VII. Versöhnung des Zorns Der dreiundzwanzigste und vierundzwanzigste Gesang Durch Hektors Tod ist der Zorn des Achilleus an sein Ziel gekommen, aber nicht ans Ende. Das Zorngeschehen hat die ganze Welt ergriffen. Was als Zorn im Innern des Achilleus aufkam und in ihm gegen besseres Wissen fortgrollte, hat Not und Tod über die Achaier und die Troer gebracht und hat auch auf die olympischen Götter übergegriffen. Dieser Zorn war nicht nur ein aufkommender Affekt in einem Menschen, sondern eine über den Menschen ausgreifende Macht. Er hat eine Störung im Weltzustand hervorgerufen und kann, nachdem er ein so ungeheures Geschehen in einem Kurvengang durchmessen hat, nun mit dem Tod Hektors nicht ohne weiteres wieder zur Ruhe kommen. Daß der gestörte Weltzustand wieder ins Gleiche kommt, geschieht in drei Stufen: im dreiundzwanzigsten Gesang einmal die Besänftigung des Toten in der Bestattung des Patroklos, sodann die Leichenspiele und schließlich im ganzen vierundzwanzigsten Gesang der Ausgleich und die Freigabe des Leichnams Hektors. 69
Die erste Stufe bringt die Bestattung des Patroklos, die ihm die gebührende Ehre gibt und seine Seele besänftigt, indem sie ihr den Eingang in das Reich der Toten verschafft. So fordert er es, als er dem Freund in der Nacht erscheint. Er sagt dem Achilleus den Tod voraus und bittet, daß sie, wie sie im Leben alles miteinander geteilt haben, auch im Tod in der gleichen Urne vereint sein sollen. Es folgen die Vorbereitungen und alle die rituellen Bräuche, die man dem Toten verrichtet. Man holt Holz, fährt mit Wagen und Pferden den Toten hinaus, schert sich die Haare ab, die man über ihn wirft, und auch Achilleus opfert ihm seine Mähne. Dann schichtet man den Scheiterhaufen auf, opfert Schafe und Rinder wie auch vier Pferde und zwei Hunde, und Achilleus opfert jetzt die gefangenen jungen Troer – ›Schlimme Dinge sann er im Herzen‹, sagt wieder der Dichter. Als der Scheiterhaufen nicht brennt, ruft er die Winde herbei, die ihn dann mächtig anfachen, und an dem brennenden Scheiterhaufen schleicht Achilleus die ganze Nacht weinend entlang und ruft den Toten, bis gegen Morgen das Feuer niederbrennt und er erschöpft am Scheiterhaufen in den Schlaf sinkt. Beim Erwachen laßt er den Grabhügel aufschütten und die Gebeine des Freundes in goldener Schale aufbewahren, bis er selbst in den Hades gehen werde. Wie alles hier dem Tode dient, so sind auch die Gedanken des Achilleus bei der Sorge für den Toten mit seinem eigenen Tod beschäftigt. Die zweite Stufe bringt die Leichenspiele für Pa70
troklos. Wie vorher alles düster, ernst und dunkel war, erheben sich im Gegensatz dazu die Leichenspiele zu Festlichkeit und Freude. Achilleus bestimmt die Reihenfolge der Wettspiele und setzt die wertvollen Preise aus für Wagenrennen, Faustkampf, Ringen, Wettlauf, Waffenkampf, Diskus, Bogenschießen und Speerwurf. Alle bedeutenden Achaierhelden, die uns während der Aristie des Achilleus aus den Augen gekommen waren, nehmen daran teil, auch die Verwundeten. Achilleus, der sich früher mit ihnen entzweite, erscheint hier als der freundliche, freigebige, vornehme Gastgeber. Er ehrt die Sieger, zeigt sich mitleidig auch gegen den, der Unglück hatte, und bezeugt dem Nestor, der nun nicht mehr mitkämpft, seine Achtung. Zwar erhebt sich mehrmals auch hier der Zorn unter diesen scharf auf ihre Ehre bedachten Männern – in Menelaos, Antilochos, Idomeneus, dem kleinen Aias –, doch sind das jetzt in der entspannten Atmosphäre nur unbedeutende Entladungen, die Achilleus als Friedensstifter leicht begütigt. Der Humor, der in der Ilias auch sonst nicht ganz fehlt, kommt nun in dieser befreiten Stimmung mehrfach auf: im gewaltigen Boxkampf des Epeios und seinem ungeschickten Diskuswurf und bei dem Lauf des kleinen Aias, der im Rindermist ausgleitet. Schließlich gibt Achilleus dem Agamemnon einen deutlichen Achtungsbeweis, als er ihm kampflos im Speerwurf den ersten Preis zuspricht. So ist alles Dunkle und Schwere nun ins Leichte und Heitere gewendet. 7
Im vierundzwanzigsten Gesang führt die dritte Stufe nach der Besänftigung des toten Patroklos, der befreiten Stimmung der Spiele, in der wir das Heer verlassen haben, zum umfassenden Ausgleich, als Achilleus nun den Hektor, statt ihn den Hunden vorzuwerfen, vielmehr dem Vater Priamos zur Bestattung freigibt. Noch ist der Rachezorn in ihm nicht überwunden. Achilleus hat keine Ruhe, wirft sich schlaflos hin und her und schleift jeden Morgen von neuem den Leichnam Hektors um das Grabmal, den aber Apollon gegen alle Entstellung schützt. Die Götter im Olymp erbarmen sich über ihn, und Apollon spricht es aus, daß Achilleus wie ein wildes Tier ist: Erbarmen und Scheu hat er verloren, wo doch die – Moiren, die Schicksalsfrauen, den Menschen sonst gegeben haben, daß sie sich schicken können. Zeus sendet Thetis zu Achilleus, und Achilleus ist bereit, nach der Weisung des Zeus den Toten herauszugeben. Iris aber wird zu Priamos gesandt: er solle furchtlos ins Lager zu Achilleus gehen, um den Leichnam Hektors auszulösen; Achilleus sei ›nicht unverständig noch unbedacht noch frevelmütig, sondern werde den Schutzsuchenden sorglich schonen‹. Priamos drängt nun in einer zornigen Eilfertigkeit auf den Weg zu Achilleus. Man betet vor der Fahrt zu Zeus, und dieser schickt ein günstiges Vogelzeichen. Und Priamos mit dem bejahrten Herold Idaios tut die Fahrt ins Achaierlager, wobei ihnen im nächtlichen Dunkel plötzlich Hermes begegnet, der sich für einen Myrmidonen 72
ausgibt und Priamos durch die Wachen zur Hütte des Achilleus geleitet. Hier beginnt die Szene einer Schutzanflehung (Hikesie) des Priamos und seine Aufnahme durch Achilleus. Priamos spricht von Achills eigenem Vater, und wie er selbst noch erbarmenswürdiger sei, der ihn, der seinen Sohn tötete, anflehen muß. Achilleus, ergriffen, spricht von des Priamos früherem Glück und jetzt seinem Elend und läßt ihn aufstehen. Noch einmal flackert der Zorn in ihm auf, als der Alte auf die Lösung Hektors drängt, doch tut er, was er verlangt. Die Aufnahme des Priamos bei Achilleus endet mit zwei jener für Homer so bedeutungsvollen, unwillkürlichen Symbole. Sie beide essen miteinander: das Symbol der Vereinigung, und hier betrachten sie einander, wie würdig und wie schön sie sind. Dann läßt ihn Achilleus sich mit dem Herold zum Schlafen niederlegen: das Symbol der vollen Befriedigung und der Ruhe. Hier schlafen auch die Götter und alle die gerüsteten Männer, und auch Achilleus, der sich vorher schlaflos hin und her geworfen hatte, schläft nun wieder, und neben ihm die Frau, um die der ganze Streit sich erhoben hatte: Briseïs. Der Schluß des Gesangs und der ganzen Ilias bringt die Heimkehr des toten Hektor, seine Aufbahrung und Beklagung. In kurzen Strichen wird dann auch die Bestattung Hektors berichtet, wie für ihn Holz geholt wird, der Scheiterhaufen errichtet, wie er verbrannt wird und dann seine Gebeine aufgelesen werden, wie man ihm den Hügel 73
aufschüttet und sich dann zum herrlichen Totenmahl vereinigt ›im Haus des Priamos, des zeusgenährten Königs‹. Zuvor aber haben drei Frauen in verschiedener Abstufung über Hektor die Totenklage erhoben. Andromache, die Gattin, sieht, nun er tot ist, die Ermordung ihres Sohnes und ihre eigene Verschleppung voraus und klagt, daß er ihr kein ›dichtes Wort gesagt hat, woran sie immer, Tränen vergießend, denken könnte die Nächte und Tage‹. Die Mutter Hekabe spricht davon, daß er ihr der weit liebste von ihren Söhnen war, daß ihn Achilleus erschlagen und geschleift hat, er nun aber taufrisch so daliege, als ob ihn Apollon mit seinen sanften Geschossen getötet hätte. An dieser Stelle aber spricht auch Helena noch einmal von ihrem Schicksal, und wie alle sie geschmäht hätten, er aber habe kein böses Wort zu ihr gesagt und auch die anderen zurückgehalten mit seiner Sanftmut und seinen sanften Worten. Nun aber werden sie alle vor ihr schaudern. – In diesem Wort der Helena – es ist die letzte Rede der Ilias – erscheint Hektor noch einmal als der Gütige, Menschliche, und zugleich damit erscheint auch Helena noch einmal in dem Verhängnis ihres Schicksals.
V HELDEN UND GÖTTER Soweit der Hergang der Ilias. Doch sind am Rande noch einige wesentliche Züge liegengeblieben, die für den Zusammenhang des Ganzen wichtig sind. Da hatten wir schon beobachtet, wie im Hergang des Geschehens die Helden in überlegter Reihenfolge nacheinander auftreten und wirksam werden. So am Anfang Achilleus, Agamemnon und der zum Guten redende Nestor, dann Odysseus, der das Heer zurückhält und es mit Nestor ermuntert; so Menelaos und Paris, die beiden Rivalen. Dann tritt nach der Heerschau mit Idomeneus, den beiden Aias und Odysseus in der nun folgenden großen Schlacht des fünften Gesangs der Verwegenste unter den Achaiern, Diomedes, hervor. Für das Ende des Vorspiels ist mit Bedacht Hektor in Troja, im siebenten Gesang Hektor im Zweikampf mit Aias ausgespart. Dieser Kampf weist auf Hektors Kampf mit Achilleus im zweiundzwanzigsten Gesang voraus: hier eine Art Turnier nach aller Regel mit gutem Ausgang, dort mit Achilleus der tödliche Kampf ohne alle Vereinbarung. Im achten Gesang und in allen weiteren Gesängen bis zu seinem Tod verfolgen wir die steigende Verblendung Hektors. Im neunten Gesang treten für die Versöhnung mit Achilleus ein Nestor, Odysseus, Aias und Phoinix. Der elfte Gesang bringt dann die Eliminierung des verwundeten Agamemnon, Diomedes und Odysseus aus dem Kampfgeschehen. Weiter sahen 75
wir, wie dann Aias, Idomeneus, Teukros, Menelaos das weitere Geschehen tragen und Patroklos siegt und fällt, und wie von Aias und Menelaos der Leichnam zurückgebracht wird und der junge Antilochos dem Achilleus die Todesbotschaft bringt. Wieder treten in der Heeresversammlung Agamemnon und zumal Odysseus auf. Von dem Auszug des Achilleus an sind alle Helden zurückgetreten, die dann alle in den Leichenspielen wieder da sind. Man erkennt die überlegene Umsicht, die hier waltet. Diese Helden haben zwar nicht das, was wir heute im engeren Sinne Charakter nennen. Jedoch sie haben ein unbezweifelbar deutlich gegeneinander abgestuftes Gepräge. Neben dem oft kleinmütigen Agamemnon steht der weise Ratgeber Nestor und der vielkluge Odysseus. Dem ungestümen Diomedes steht der schwere, wortkarge Aias gegenüber. Daneben der bejahrte Idomeneus, der deutlich mit unfreundlichen Zügen behaftete kleine, schnelle Aias. Weiter die Liebenswürdigen wie Menelaos, der ›weiche Lanzenkämpfer‹, Antilochos und Patroklos, der das Liebenswürdige mit dem Ungestüm vereinigt. Auf Troerseiten das gegensätzliche Brüderpaar Hektor und Paris und wieder die mächtigen Kämpfer Sarpedon, der Zeus-Sohn, und Aineias, und der Warner Pulydamas. In feiner Dosierung sind alle, teilweise in Gegensätzen, voneinander abgehoben. In einer unvergleichlichen Komposition sind Menelaos und Odysseus einmal gegensätzlich als Red76
ner einander gegenübergestellt. Menelaos sprach geläufig, klar und treffend; Odysseus aber stand lange und schaute nach unten, bewegte den Stab nicht vorwärts und rückwärts und sah in der Konzentration aus wie ein Stumpfsinniger, entsandte er aber die gewaltige Stimme aus der Brust, so strömten die Worte wie Schneeflocken aus seinem Munde. Es ist bemerkenswert, wie der Dichter hier zwei spätere Redetypen charakterisiert: den glatten, klaren Redetypus (apheles, tenue) und den großen, grandiosen (megaloprepes, grandiloquum). So sind schließlich auch die Gegner Hektor und Achilleus deutlich gegeneinander abgesetzt. Hektor, vielfach gebunden als Sohn, Bruder, Gatte und Vater, der Verteidiger seiner Stadt, ein tüchtiger Kämpfer, doch mild und sanftmütig gegenüber den Seinen, besessen in seinem Kampfmut und bis zuletzt in seiner Verblendung: ein großer Unglücklicher. Achilleus von der gleichen Spannweite der Seele, liebenswürdig und grausam, unversöhnlich, wo es um die Ehre und die Rache geht; immer sich mühend im Kampf für andere, doch von Anfang an wissend um sein kurzes Dasein und bewußt den Tod auf sich nehmend. So ist er, wie kein anderer in dem ganzen Gedicht, vom Leid gezeichnet. Eng verbunden ist er mit seiner göttlichen Mutter; auch sie vom Leid geprägt. Götter haben sie geliebt, doch in die Ehe mit dem sterblichen Mann gestoßen, und nun härmt sie sich um den Sohn: »Ich Unglücks-Heldengebärerin!« Doch versteht sie, daß der Sohn so handelt, wie er handeln muß, und 77
hilft ihm darin. Dies einzigartige Verhältnis des Sohnes zu der Mutter hat nur Achilleus. Auch die sterblichen Frauen sind deutlich abgestuft nach ihrem Wesen: die leidenschaftliche Hekabe, Andromache, ganz Frau und Mutter, Helena in ihrem Zwiespalt. Briseïs, die Geliebte des Achilleus, ist unaufdringlich im Hintergrund gehalten. Wir hören nur, daß sie ›widerwillig‹ den Herolden folgt, die sie zu Agamemnon bringen, daß Achilleus sagt, er habe sie von Herzen geliebt, war sie auch eine Speergefangene. Nur einmal erhebt sie ihre Stimme, um an der Bahre des Patroklos zugleich mit dem Toten ihr eigenes Schicksal zu beklagen. Wie die Helden, haben auch die Götter ein im einzelnen deutlich gegeneinander abgesetztes Gepräge. Zeus, der Vater der Götter und Menschen, ist der ›Höchste und Beste‹, in der Überlegenheit seiner Kraft weit über alle anderen Götter hinausgehoben. Er ist, wenn er auch noch nicht mit diesem Ausdruck genannt wird, sichtlich schon der ›Gerechte‹ und steht so über den Parteien. Darum handelt er auch nicht wie die anderen Götter aus persönlicher Vorliebe oder aus dem Augenblick heraus, sondern nach dem Ratschluß, der auf das Ende blickt. Nur die Moiren stehen über ihm, die er in entscheidenden Augenblicken mit der Schicksalswaage befragt. Neben ihm steht Here, seine Schwester und Gattin, ehrbewußt, aufbegehrend und unbändig im Verfolg ihres Hasses, sowie Poseidon, der große düstere Gott, dem Bruder nur 78
wenig nachstehend an Kraft. Sodann Athene, hart und klar und scharf, ganz die Tochter des Zeus, in Freundschaft verbunden mit einzelnen Helden, denen sie hilft: so Achilleus, aber auch Diomedes und seinem Vater Tydeus wie vor allem dem Odysseus. Ihr Gegenspieler ist Ares, der blutige, brutale, ungeschlachte Kriegsgott, dem Vater verhaßt, doch eng verbunden mit Aphrodite, der Liebesgöttin, die, wie er, zuerst von Diomedes verwundet und dann im Götterkampf von Athene besiegt wird. In ihrer dämonischen Macht zeigt sie der Dichter in ihrem Gespräch mit Helena, als sie die Widerstrebende dem Paris von neuem zuführt – auch das eine Spiegelung jener ersten Verführung, mit der diese Göttin das ganze Unheil über Troja herauf geführt hatte. Ferner ist da Artemis, die ›Tosende‹, die jungfräuliche Jägerin, die Zeus zur ›Löwin den Frauen‹ gesetzt hat; Hermes, der liebenswürdige Schalk wie auch der den Menschen freundliche Geleiter; Hephaistos, als Schmied mit breiten Schultern und riesigen Armen, aber schwachen Füßen, als Künstler verbunden mit Charis, der Göttin der Anmut, so wie er auf der anderen Seite, als der Gott des Feuers, auch wieder in den Bereich des Naturhaft-Elementaren hineinragt. Und endlich Apollon, der Stolze, Strenge, Unnahbare, furchtbar in seiner Schrecklichkeit und seinem vernichtenden Zorn. So leben diese Göttergestalten noch bei uns, und so haben sie die griechischen Künstler in Bildern dargestellt. 79
VI SZENEN, GLEICHNISSE UND MYTHEN Von jenen ›Szenen‹, die den Haupthergang der Ilias bilden, können wir im einzelnen jetzt zeigen, wie sie im Innern vielfach auf Steigerung angelegt sind, und dabei so, daß gleichsam eine lange Rampe hinaufführt und dann in kurzer, knapper Darstellung das Hauptereignis folgt. So im ersten Gesang, bis sich der Zorn entwickelt, so im achten Gesang, der bis zu der Rede des Zeus und zu Hektors Rede hinaufführt, so im neunten Gesang, bis zu Achilleus’ letzter Antwort in der Rede an Aias, so im zweiundzwanzigsten Gesang zu dem Kampf mit Hektor selbst nach langer Vorbereitung. Die meisten dieser Szenen sind auf Reden abgestellt. Diese erscheinen in großer Vielfalt, wie Zornreden, Kampfreden, Mahnreden, Versammlungsreden, Beratungsreden, Erinnerungsreden, Trauerreden, und so fort. Eine vorrhetorische Redekunst waltet in dem allem, wie es ausgesprochen wird in jener Charakterisierung der Redner Menelaos und Odysseus im dritten Gesang. Und daß es auch nicht an der Ethopoiie fehlt, beweist unter anderem die demagogische Rede des Thersites im zweiten Gesang. Diese Reden sind in ihrer Diktion aufs feinste menschlich differenziert. Keine kompakten Wortgesten oder Spruchbänder, sondern auch in den Zornreden naiv, menschlich und rein natürlich. Das Großepos gibt diesen Reden breiten Raum. Und wenn in der Ilias durchweg der einfa80
che, klare, bestimmte Logos waltet, so vor allem in diesen Reden in aller ihrer Vielfalt. In anderer Weise beobachten wir in der Abfolge dieser Szenen eine deutliche Variatio, einen charakteristischen ›Wechsel der Töne‹. Dies verlangt der Zuhörer beim großen Epos: er muß wechselnd gespannt und auch wieder entspannt werden. Auf dramatische Szenen folgen hier – wie wir schon öfters sagten – die ›stillen Szenen‹, wie in den vertrauten Gesprächen des Achilleus mit seiner Mutter, des Hektor in Troja im sechsten Gesang mit der Mutter Hekabe, Paris und Helena und mit Andromache; die Fahrt des Odysseus mit dem Schiff nach Chryse im ersten Gesang, die man früher als störende Einlage empfunden hatte; die Szene, wie Schlaf und Tod im sechzehnten Gesang den gefallenen Zeussohn Sarpedon in seine Heimat bringen, sowie die als ›heilige Hochzeit‹ gestaltete Vereinigung des Zeus und der Here im vierzehnten Gesang. Hierher gehören im Sinne jener Variatio auch die festlichen Leichenspiele für Patroklos nach all den düsteren Begehungen der Bestattung; hierher gehört in dieser Hinsicht auch der Götterkampf. – Daneben gibt es ausgesprochene Genre-Szenen, wie das Frühstück bei Nestor vor den Gesprächen im elften Gesang, der Besuch der Thetis bei Hephaistos und seiner Gattin Charis im achtzehnten Gesang, und wie im dreiundzwanzigsten Gesang die Götterbotin Iris zu den wilden Gesellen, den Winden, kommt. Unter den Gleichnissen gehören viele der ›Ver8
gleiche‹ und wohl auch der konventionellen Gleichnisse der Tradition an, insbesondere wohl die Kurzvergleiche, wie Löwe, Pardel, Wolf, Eber und Jagdhunde, die überwiegend in den Kampfszenen gebraucht werden. Doch tragen zumal die zu einer kleinen Handlung ausgebildeten Gleichnisse, Dramoletten, die Handschrift Homers, wo der Gleichnisträger, der Löwe oder Wolf, hingestellt und dann gleichsam definitorisch durch additive Züge ausgeführt wird. So im sechzehnten Gesang (56 ff.): » … diese, wie Wölfe, rohfressende, denen um das Zwerchfell unsägliche Kraft ist, die einen Hirsch, einen gehörnten, großen, in den Bergen erlegten und ihn verzehren, und ihnen allen ist die Wange von Blut gerötet, und im Rudel laufen sie, um von der Quelle mit schwarzem Wasser zu lecken mit ihren dünnen Zungen das schwarze Wasser, das oberste, erbrechend den Mord des Blutes, und drinnen der Mut in der Brust ist ohne Zittern, doch rings beengt ist der Bauch … « Oder auch, wie im vierten Gesang von dem blühenden Sohn des Anthemion, Simoeisios, wie bei manchen getöteten Helden, seine Lebensumstände kurz bezeichnet werden – seine Mutter gebar ihn am Simoeis-Ufer, vom Ida herabgestiegen, um zusammen mit den Eltern nach Schafen auszuschauen – : ihn traf Aias in die Brust und er stürzte zu Boden (482 ff.) »gleich einer Pappel, die in der Niederung wächst in einem großen Sumpfland, glatt, nur ganz oben wachsen ihr die Zweige; die aber schlug ein Wagenbauer heraus mit dem braunroten Eisen, um 82
sie zum Radkranz zu biegen für den gar schönen Wagen, und sie liegt nun vertrocknet an den Ufern des Flusses«. Da ist das Schicksal des jungen, verwelkenden Lebens in durchaus einmaliger Weise bezeichnet. Ferner so überraschende Konzeptionen wie im sechzehnten Gesang (7 ff.) ein kleines Mädchen, das neben der Mutter herläuft und sie bittet, es aufzunehmen; wie der Gott Apollon die Befestigung der Achaier wie eine Sandburg eintritt, die ein Kind am Strand des Meeres baute (5, 362); wie ein Mann einen mit Wasser gefüllten Graben zieht und das Wasser ihn immer überholt (2, 257 ff.); wie keifende Weiber auf die Straße laufen (20, 252 ff.); wie um den Leichnam des Sarpedon die Achaier dicht, wie Fliegen um die Milchgefäße, sind (6, 64); wie dem Menelaos Athene den Pfeil abwehrt wie eine Mutter die Fliege von dem schlafenden Kind verscheucht (4, 3o ff.), und ihn ein andermal auch wieder mit dem Mut einer Stechfliege ausstattet (7, 570); wie eine Rindshaut gespannt wird (7, 389), wie Fett in einem Kessel siedet (2, 362), wie die Weberin den Webeschaft an die Brust zieht (23, 760 ff.) und wie Ringer einander anpacken wie zwei wechselnde Dachsparren (23, 72 f.); wie im fünfzehnten Gesang ein Mann, der über viel Land kam, in seinem Sinn denkt: dort möchte ich sein oder dort (80); oder jenes Gleichnis im zweiundzwanzigsten Gesang (99 f.), wie man im Traum einen Flüchtenden nicht einholen kann; weder kann der ihm entkommen noch der ihn erreichen. 83
Es sei sodann auf die Funktion vieler Gleichnisse im Gang der Handlung hingewiesen. Einmal gibt es solche, die an den Hauptpunkten der Handlung stehen, wie das Gleichnis vom Mond und den Sternen für die vielen Wachtfeuer der Troer in der Ebene am Ende des achten Gesangs (555 ff.); und am Ende des sechsten Gesangs (506 ff.), wie Paris einem schönen selbstgefälligen Pferd gleichend zur Ebene eilt. Oder man beachte die besondere Funktion der Doppel-Gleichnisse oder Gleichnis-Ketten; so das Doppel-Gleichnis, wie Aias im elften Gesang (546 ff.) oftmals sich umwendend langsam zurückgeht, ›wie ein Löwe vom Pferch, den Hunde und Männer scheuchten, und Speere und brennende Bündel fliegen ihm entgegen … und er macht sich fort, bedrückten Herzens‹ ; und gleich darauf: einem Esel gleich, der ins Saatfeld eingebrochen ist, und ob auch die Knaben viele Knüttel auf ihm zerbrechen, können sie doch nichts gegen ihn ausrichten. Oder die Gleichniskette beim Aufmarsch des Heeres im zweiten Gesang (455 ff.): der Feuerglanz eines Waldbrands, die Gänse und Schwäne am Kayster-Strom, die Blüten und Blätter im Frühling, die Fliegen, die im Viehhof um die Milchgefäße schwirren. Oder im zweiundzwanzigsten Gesang, als Achilleus den Hektor verfolgt (39 ff.): Falke und Taube, preistragende Pferde, Hund und Hirschkalb, Verfolger und Verfolgter im Traum. Hier lehnen sich die Gleichnisketten an Momente der Haupthandlung an und sind von der Handlung her konzipiert. 84
In allen diesen ausgeführten Gleichnissen lebt eine unkonventionelle, eigenartige Sehweise, die auf jene Wirklichkeit gerichtet ist, von der wir zu Anfang sprachen. Eben diese Gleichnisse dürften wohl der schwächste Punkt sein für eine Betrachtungsweise, nach der die Ilias mündlich und rein traditionell entstanden sein soll. Bereits in der ›Dolonie‹, dem zehnten Gesang, der nicht vom Iliasdichter ist, wird zwar versucht, diese Gleichnisse nachzuahmen, jedoch in einer unhomerischen, merkwürdig barocken Weise. Schließlich sei noch von jenen ›Einlagen‹ die Rede, die vom Wissen um Menschenlos und Menschenelend sprechen und die für die ganze Ilias bedeutsam sind. So sagt der Lykier Glaukos zu Diomedes im sechsten Gesang (45 ff.): Wie das Geschlecht der Blätter, ist auch das Geschlecht der Männer; die einen schüttet der Wind zu Boden, und andere treibt der knospende Wald hervor in der Zeit des Frühlings: »So auch der Männer Geschlecht: dies sproßt hervor, das andere schwindet.« Das zeigt das Schicksal seines Ahnen Bellerophontes, der nach Lykien kam und dort große Taten tat und die Hälfte des Königtums gewann, und der doch am Ende, allen Göttern verhaßt, schwermütig über die Aleïsche Ebene irrte und menschenscheu sein Leben verzehrte. Vor allem aber spricht der Dichter davon in drei Mythen, in denen er selbst wohl der Mythenbildner war. Zuerst von der Macht der ›Beirrung‹ (Ate), die über Agamemnon und Achilleus kommt. Da 85
heißt es im neunzehnten Gesang in der Entschuldigung des Agamemnon (9 ff.), daß von der ehrwürdigen Tochter des Zeus, die alle beirrt, auch Zeus beirrt wurde, der »verderblichen: die hat weiche Füße, denn nicht auf dem Boden nähert sie sich, sondern schreitet über den Häuptern der Männer und beschädigt die Menschen«. An dem Tag, als Alkmene in Theben den Herakles gebären sollte, überlistete Here den Zeus, daß vorzeitig vor Herakles Eurystheus zur Welt kam und nun über die Argeier herrschte. Da aber ergriff Zeus die ›Beirrung‹ am Haupt, warf sie vom Olymp und dem Himmel herab, und nun geht sie um unter den Menschen. Und Phoinix erzählt im neunten Gesang (505 ff.) von dieser ›Beirrung‹ : sie sei stark und habe gerade Füße, darum läuft sie allen voraus und schadet den Menschen. Doch wenn man die ›Bitten‹ scheut, die Töchter des Zeus – sie sind lahm und runzlig und seitwärts mit den Augen blickend und gehen immer hinter der Ate her –, so bringen sie großes Heil. Doch wer sie schroff zurückweist, da gehen sie zu Zeus und bitten, daß Ate ihn begleite, damit er durch Schaden büße. – Von dem Unheil, das über die Menschen kommt, spricht schließlich ganz umfassend auch Achilleus im vierundzwanzigsten Gesang (527 ff.): zwei Fässer seien aufgestellt auf der Schwelle des Zeus, und er gibt aus dem einen von ihnen Schlimmes und aus dem anderen Gutes. Dem einen gibt er gemischt bald Schlimmes und bald Gutes. Wem er aber nur Schlimmes gibt, »den bringt er zu Schanden, und 86
ihn treibt schlimmer Heißhunger über die göttliche Erde, und er kommt und geht, nicht vor Göttern geehrt noch Menschen.« Hier ist es nicht Ate, sondern überhaupt die allgemeine Ausgesetztheit des Menschen, Unheil zu leiden. Dies alles aber hängt sichtlich zusammen und gehört der gleichen Konzeption an über das Menschenlos. Und so sagt es auch Achilleus, auf das allgemeine Menschenschicksal blickend (24, 525 f.): »Denn so haben es zugesponnen die Götter den elenden Sterblichen, daß sie leben in Kummer. Selbst aber sind sie unbekümmert.«
VII ZUM ABSCHLUSS SÄNGER-KULTUR. DIE ILIAS UND IHR JAHRHUNDERT. APOLLON Die Ilias ist »eine Schöpfung, doch eine Schöpfung auf dem Untergrund einer langen Entwicklung«, wie ich bereits in meinen Iliasstudien (938, 63) dargestellt hatte. Oder anders ausgedrückt: die Ilias ist eine originale Konzeption, beruht aber auf einer langen, alten, epischen Tradition. Diese beiden Komponenten bestimmen die Ilias, dazu aber als dritte die geschichtliche Situation, der Geist und das Gepräge des achten Jahrhunderts vor Christus. Alle drei Komponenten, die wir so auseinanderlegen, machen in Wahrheit das einheitliche Werk der Ilias aus. Die erste Komponente Die Ilias ist nicht ein improvisiertes Epos. Sie ist komponiert, komponiert mit großem Kunstverstand und weitgehendem Umblick vorwärts und rückwärts. Sie zeigt ein engmaschiges Geflecht von ineinandergreifenden, einander durchkreuzenden Strukturen, und verwoben mit diesen Strukturen eine Fülle von Konzeptionen, die sich aus dem Zusammenhang ergeben und so überraschend sind, daß nicht so bald einer darauf verfällt. Mit souveräner Architektonik ist alles gebaut, gefügt und so gemacht, daß das Einzelne unverwechselbar an seinem Platz steht. ›Gemäßheit‹ (prepon), nannten die 88
Griechen dieses Prinzip in der Kunst wie überhaupt in Tun und Handeln. Das Phänomen der Ilias bietet, mit einem Wort, eine umfassende Komplexheit. In dieser Komplexheit ist die Ilias ohne Beispiel der ganzen späteren griechischen Dichtung gegenüber. Auch die Odyssee zeigt in ihren Hauptund Nebenlinien eine im wesentlichen gradlinige Gebautheit und viele originale Konzeptionen. Jedoch sie erreicht nicht im entferntesten mehr jene Komplexheit der Ilias. Diese Besonderheit der Ilias gehört dem einen Dichter an: Homer. Doch ist sie hervorgegangen aus einer jahrhundertelangen mündlichen Kunstübung, der ›oral poetry‹. Oder sagen wir besser statt dieses recht vagen Begriffs: der alten griechischen Sänger-Kultur. Sie ist die zweite Komponente. Von ihr wissen wir direkt nichts. Wir können sie nur erschließen aus dem, was die Ilias selbst uns zeigt an wiederholten Versen, Formeln und Motiven, kombiniert mit den Analogien der Volksepen anderer Völker aus anderen Zeiten und ganz anderen geschichtlichen Voraussetzungen. Diese Analogien können nur auf das Allgemeine sowie auf die einzelnen Elemente gehen, der Fülle der individuellen Gestaltungen aber nicht gerecht werden. Jedoch wir besitzen ein unbezweifelbares Zeugnis für die substantielle Fülle und Kraft dieser Sänger-Kultur: die altgriechische Heldensage. Die Ilias bezeugt den Troischen Krieg mit all den 89
Sagen in seinem Umkreis. Sie kennt den Sagenkreis um Theben mit Ödipus (23, 679) und dem Zug der Sieben gegen Theben (4, 376) sowie der Epigonen (4, 406). Die Bezeugungen der Heraklessage reichen von der Geburt des Herakles (9, 98) über manches andere, wie die frühere Eroberung Trojas (20, 45), bis zu seinem Tod (8, 7). Dazu Lykurgos, der den Dionysos verfolgt (6, 30), Bellerophontes (6, 55 ff.), Meleagros und die Kalydonische Eberjagd (9, 527 ff.) und die verschiedenen Sagen, die der Pylier Nestor aus der Zeit seiner Jugend berichtet. Auch von Jason und Hypsipyle ist die Rede (7, 469; 2, 40; 23, 746), was die Argonautenfahrt voraussetzt, und ferner auch von Admetos und Alkestis (2, 74). Man darf danach schließen, daß außer nachweislich später Bezeugtem so ziemlich die ganze griechische Heldensage Homer vorlag. Aus der alten Sänger-Kultur waren diese Sagen und Geschichten dem Iliasdichter zu Händen. Ihr Ursprung liegt in der großen mykenischen Vorzeit, und sie wurden die Jahrhunderte hindurch teils bewahrt, teils vielfach fortgebildet, wobei diese Sängerkultur in drei bis vier Jahrhunderten mancherlei Wandlungen und Veränderungen durchgemacht hat. All diese Sagen waren nun bereits zusammengeschlossen zu einer nach Generationen geschiedenen und im ganzen tief gestaffelten Sagen-Vorzeit. Der Iliasdichter hat diese Sage übernommen, bewahrt und weitergebildet und aus ihr im Formalen 90
wie im Substantiellen die große Kraft für sein Gedicht geschöpft. Es war eine Tradition, doch war diese keine starre, tote Weitergabe, sondern lebendige Tradition, d. h. erneuerndes Bewahren und bewahrendes Erneuern. Die altgriechische Sängertradition hat mit dieser Sage in ihrer Vielfalt und Bedeutung nur wenig Ähnliches neben sich. Als wesentliche dritte Komponente wirkt in die Ilias formend hinein ihre einmalige geschichtliche Situation, die Situation ihrer eigenen Zeit und ihres eigenen, des achten Jahrhunderts. Sie steht an dem Schnittpunkt zweier Zeiten und Welten: der ›achaischen‹ großen mykenischen Vorzeit, die durch den Dorer-Einbruch im elften und zehnten Jahrhundert zugrunde ging, und nun im achten Jahrhundert am Beginn der eigentlich griechischen Epoche. Das, was im achten Jahrhundert neu beginnt, ist gekennzeichnet durch die Entdeckerfahrten nach Westen, Norden und später auch nach Osten, die sogenannte Kolonisation. Hier beginnt ein ausgedehntes Seewesen mit Handel und Geldverkehr; das alte Königtum tritt nun zurück neben der Adelsherrschaft mit der später so folgenreichen Polis-Ordnung. Hier finden wir im Krieg statt der Einzelkämpfer die geschlossene Phalangiten-Ordnung, die mehrfach bereits in der Ilias vorkommt. Man kämpfte in Messenien wie im Lelantischen Krieg, der schon das alte Hellas in zwei Lager schied. Hier bereiteten sich die in Holz und später in Stein gebauten Tempel vor, es entstand das Kultbild aus Holz und Ton, die Statue. Hier wurde 9
auf bemalten Gefäßen der Grund für die weiter gültige Ornamentik gelegt und drangen die ersten bildlichen Darstellungen der Sage ein. Die für alles griechische Wesen so bedeutungsvolle Agonistik bildete sich hier aus, und in Olympia, Delos, Delphi gelangten die großen Kultzentren zu Ansehen. Die Olympischen Spiele wurden vom Jahr 776 an in lückenloser Folge abgehalten, zu denen die Umwohner und bald auch die durch die Kolonisation hinzugewonnenen Stämme zusammenkamen. Hier kam in den Aufzeichnungen der ersten Siegerlisten die Schrift in öffentlichen Gebrauch. Man machte einen neuen Anfang, hatte aber schon etwas ›hinter sich‹. Und aus den alten Erinnerungen an jene Vorzeit und dem Selbstbewußtsein eines neuen Zukunftswillens entstand für die Dichtung eine ungemein fruchtbare Situation. Hier war es, daß Homer sein Großepos schuf, die Ilias. In ihr waltet ein ausgesprochen geschichtliches Bewußtsein. Aus bewußter historischer Distanz blickt er nun auf die alten Sagen aus der mykenischen Zeit zurück. Man kennt sein Wort, ›wie gering die Sterblichen von heute sind‹ (5, 304 u. ö.). In vielen Zügen, wie man längst weiß, schildert er das Alte als alt und urtümlich, das heißt, er ›archaisiert‹. Im ganzen zeigt die Ilias am Bild des alten Helden mit urtümlichen Sitten, grausamen Bräuchen und blutigen Begehungen doch zugleich in der Art, wie die Menschen miteinander umgehen, miteinander reden, die Art und den Geist der neuen Zeit. In der 92
Ilias macht sich ein neues, spezifisch menschliches Bewußtsein, eine spezifische Menschlichkeit geltend, die aufkommt gegenüber den Rückständen jener alten Urtümlichkeit. Wir können es hier im einzelnen nicht verfolgen. Doch ist das deutlichste Beispiel dafür der Schluß des Gedichts, die Wende des Achilleus von der Grausamkeit seines Zürnens gegen Hektor zur unerwarteten Freigabe des Feindes zur Bestattung. Er hat in harten Worten zu dem Sterbenden gesagt, daß er selbst sein Fleisch herunterschneiden und essen konnte. Daß er ihn den Hunden und Vögeln vorwerfen will, wiederholt er öfter, aber die Götter halten dem Toten die Hunde fern. Doch schleift er ihn täglich aufs neue, selbst dann noch, als er den Patroklos bestattet und über ihm die Leichenspiele abgehalten hat. Der Dichter sagt es selbst, daß er dies Tun des Achilleus nicht billigt, da, wo er den gefallenen Hektor an seinen Wagen bindet und schleift (22, 395), und wo er am Scheiterhaufen des Patroklos die zwölf jungen Troer schlachtet (23, 75): ›schmachvolle Dinge tat er‹. Entscheidend aber erhebt sich gegen diese fortgesetzte maßlose Grausamkeit gegen den toten Hektor Apollon zu Beginn des vierundzwanzigsten Gesangs (39 ff.): Achilleus sei wie ein Löwe, der nur Wildes weiß, er habe die Fähigkeit, sich ›rühren‹ zu lassen (eleos), wie jede ›Scheu‹ (aidos) verloren, er sei unbeugsam, starr, während doch die Schicksalsgöttinnen dem Menschen nun einmal gegeben haben, sich zu fügen … ›die stumme Erde 93
mißhandle er mit seinem Zürnen‹. Und hier folgt dann, von Zeus veranlaßt, die Wende in Achilleus, daß er nach dem Entsetzlichen und Furchtbaren, das er getan hat, sich fügt, den Vater Priamos freundlich aufnimmt und ihm schließlich gebadet und gekleidet den Toten freigibt zur Bestattung. Apollon ist unter allen griechischen Göttern, neben der Überlegenheit des Zeus, derjenige, der den höchsten Adel, die Hoheit und Unnahbarkeit des Göttlichen darstellt. Er sieht verächtlich auf die ›elenden Sterblichen‹ herab, die ›den Blättern gleich bald feurig strotzen, bald wieder hinschwinden, entseelt‹. Und er haßt vor allem, daß der Mensch sich überhebt und in seinem Ungestüm vergißt, daß er die Grenzen seiner Sterblichkeit einhalten soll. So tritt er dem Diomedes entgegen: »Besinne dich, Sohn des Tydeus! und wolle nicht gleich gesonnen sein den Göttern, da niemals vom gleichen Stamm sind die unsterblichen Götter und die am Boden schreitenden Menschen« (5, 440). Patroklos hätte Troja genommen, doch Apollon stößt ihn vom Mauervorsprung viermal zurück: ›Weiche, Patroklos! Dir ist es nicht bestimmt, daß die Stadt der Troer unter deinem Speer vernichtet werde, noch auch dem des Achilleus, der weit besser ist als du!‹ (6, 707). Und er schlägt ihn dann in den Rücken, entwaffnet ihn und läßt ihn erstarren, so daß er durch Euphorbos und Hektor getötet wird. Auch dem Achilleus hält er so seine Sterblichkeit entgegen: ›Was verfolgst du mich, Sohn des Peleus, du Sterblicher den unsterblichen Gott?‹ (22, 8). 94
Und auch in der großen Rede im vierundzwanzigsten Gesang schilt er an ihm das Wilde, Unbeugsame, daß er Erbarmen und Scheu verloren habe und als Mensch sich nicht fügen mag. Wie man gesehen hat, lebt in diesen Worten und diesem Handeln des Apollon die Delphische Mahnung des ›Nicht zuviel!‹, des ›Erkenne dich!‹, nämlich ›erkenne dich als Mensch in deiner Sterblichkeit‹. Delphi, als die ›steinerne Schwelle des Pfeilschützen Phoibos Apollon in der felsigen Pytho‹, die im Innern reiche Güter einschließt (9, 404), ist der Ilias bekannt. Und im Sinne der Delphischen Forderung ist es, daß man als Mensch den Feind im Tod nicht schänden darf, sondern ihm die Ehre der Bestattung gewähren muß. Homer hat dies in seine eigene Zeit hineingesprochen, zumal diese Problematik noch im fünften Jahrhundert die Dichter, einen Sophokles im ›Aias‹ und der ›Antigone‹, einen Euripides in den ›Hiketiden‹, beschäftigt hat. Hektor hat nun in der Ilias sein Recht erhalten. Achilleus handelt im letzten Gesang gemäß der Forderung Apollons; seine ›Versöhnung‹, die Herausgabe des Leichnams des Hektor an den Vater, entspricht in gewissem Sinn der Versöhnungsfeier für den Gott Apollon auf Chryse im ersten Gesang. Vergessen wir aber nicht, was Achilleus angeht, daß die Ilias in einem noch weiteren Zusammenhang steht. Apollon war es, der den Gefährten des Achilleus, Patroklos, vor den Mauern Trojas schlug. Er hat im vierundzwanzigsten Gesang seinen Groll über das Unmaß des Achilleus kund95
getan. Er wird der Gott sein, der den Achilleus bald am Skäischen Tor durch Paris mit seinen Pfeilen töten wird. So hat es dem Achilleus seine Mutter längst verkündet, und hat es ihm zuletzt wieder mit bestimmtesten Worten der sterbende Hektor vorausgesagt. Aber der Gott Apollon steht nicht nur an der entscheidenden Wende in der Mitte und am Schluß, sondern schon am Beginn der Ilias. Gleich am Beginn der Ilias sagt der Dichter: »Wer von den Göttern brachte sie aneinander, im Streit zu kämpfen? Der Sohn der Leto und des Zeus.« Und weiter ist es dann eben Apollon, der wegen der Mißachtung seines Priesters ›der Nacht gleich‹ vom Olymp herabkommt und die Seuche über das Heer der Achaier bringt, was dann zum Streit der Könige und dem Zorn des Achilleus führt. So steht in dem kyklischen Ablauf des Gedichts über dem Schicksal des Achilleus vom Anfang der Ilias bis über ihr Ende hinaus Apollon.