Ren Dhark®
Sonderband
Die Schwarze Garde
SF-Roman von
Michael Nagula
nach einer Idee von
Hajo F. Breuer
HJß
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Ren Dhark®
Sonderband
Die Schwarze Garde
SF-Roman von
Michael Nagula
nach einer Idee von
Hajo F. Breuer
HJß
Ein Verzeichnis sämtlicher bisher erschienenen und lieferbaren REN DHARK-Titel und -Produkte finden Sie auf den Seiten 191 und 192.
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l. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 02631-354832 02631-356100 Fax:02631-356102 www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Wiener Verlag Ges. m.b.H. © 2001 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-930515-82-2
Vorwort
Wie gewinnt man eigentlich Kriege? »Ganz einfach«, werden Sie sagen, »man schaltet den Widerstand des Feindes aus und besetzt sein Land.« Theoretisch ja. Praktisch ist das fast unmöglich, je höher der technologische Stand beider Seiten wird. Schauen wir nur einmal in die Geschichte: Ende 1944 stand noch kein feindlicher Soldat auf deutschem Boden, obwohl das Land in Trümmern lag. Und um das ausgeblutete, geographisch doch eigentlich recht kleine Deutschland endgültig niederzuringen, waren mehr als zehn Millionen Soldaten nötig. Auch Japan war zerschlagen und kapitulierte trotzdem erst an gesichts des drohenden Schicksals vollständiger atomarer Verwü stung. Nordkorea konnte schon nicht mehr besetzt werden, und in Vietnam erlebten die Amerikaner trotz gewaltigen Einsatzes von Menschen und Material ein vollständiges Desaster. Auch der Irak wurde nicht besetzt, weil trotz absoluter Luftüberlegenheit die Verluste der Alliierten nicht kalkulierbar waren. Wie schwer muß es da erst sein, einen Krieg der Zukunft zu ge winnen? Denn Feindplaneten kann man kaum erobern, man brauchte dazu Heere in Milliardengröße. Das wurde auch der Führungsmannschaft der Erde klar, die ab dem Jahr 2051 immer wieder in interstellare Kriege verwickelt wurde. Man hatte nicht genug Soldaten, um feindliche Planeten einfach zu besetzen. Was man daher dringend brauchte, war eine Elitetruppe, die fremde Welten angriff, an strategischen Punkten rasch und hart zuschlug und sich danach wieder zurückzog. Diese Truppe galt als eines des bestgehüteten militärischen Ge heimnisse Terras - bis zum Januar 2058, als Die Schwarze Garde erstmals zum Einsatz kam. Wie dieser Einsatz gegen die Grakos verlief, das können Sie im soeben erschienenen REN DHARKBand mit dem Titel »Sonne ohne Namen« nachlesen. Der vorliegende Sonderband hingegen schildert den Aufbau dieser Truppe und die schier übermenschlichen Strapazen, denen sich jeder einzelne Gardist unterziehen muß... Geschrieben wurde der folgende Roman von Michael Nagula, 3
den ich herzlich im Team begrüßen darf. Wie klein die Welt doch ist: Mein erster Profi-Auftrag war die redaktionelle Betreuung der Condor-Marvels ab 1980. Herausgegeben wurden sie von Wolf gang M. Biehler, der 1966 einige der Autoren für die erste REN DHARK-Reihe vermittelte. Als ich mich Anfang 1983 von Biehler und Condor trennte, wurde Klaus Strzyz mein Nachfolger bei den Marvels. Und ihn wiederum löste Michael Nagula ab, der nun zum Kreis der RD-Autoren gestoßen ist. Wie gesagt, die Welt ist klein... Klein sind auch die Preise, die der HJB-Verlag für seine Pro dukte verlangt. Klein und seit langem unverändert, denn schon der erste RD-Sonderband kostete genau wie dieser (der zwölfte) 19,80 DM. Und auch die nächsten beiden Sonderbände werden diesen Preis halten. Doch ab Januar 2002 zwingt uns der Staat dazu, alle Preise auf Büro umzustellen. Die Kosten für die Umetikettierung, die Umstellung von Programmen und Frankiermaschinen sind so hoch, daß wir sie nicht einfach durch eine gesteigerte Produktivität auffangen können. Deswegen werden alle Sonderbände - auch die älteren - ab dem 1. Januar 2002 10,50 € kosten. Das entspricht einem neuen Preis von 20,54 DM und somit einer Erhöhung um 74 Pfennige oder 3,7% über einen Zeitraum von fünf Jahren. Damit liegt die reale Erhöhung weit unter ein Prozent pro Jahr und noch weiter unter der allgemeinen Teuerungsrate. Trotzdem werden kostenbewußte RD-Leser ihre Sonderband-Sammlung bis zum Ende dieses Jahres ergänzen, denn solange die DM noch offizielles Zahlungsmittel in Deutschland ist, solange bleiben wir auch dem alten Preis verbunden! Jetzt aber genug der unliebsamen Themen. Tauchen Sie ein in die spannende Welt von morgen und machen Sie sich bereit für Ihren Eintritt in Die Schwarze Garde! Giesenkirchen, im April 2001 Hajo F. Breuer
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l.
Herbst 2056 Marschall Bulton stürmte wie ein wilder Stier durch den Flur. Ihm klang noch Trawisheims Bemerkung in den Ohren. Er hatte Zeit! Jetzt hatte er Zeit für ihn! Als wäre Bulton ein x-beliebiger Gernegroß, der sich ganz hinten in der Schlange anstellen mußte, um eine Audienz beim Stellvertretenden Commander der Planeten zu bekommen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre ihm durchs Vipho hindurch ins Gesicht gesprungen! Teufel auch, er war für die Terranische Raumflotte verantwortlich und hatte ein Recht darauf, Trawisheim jederzeit zu sehen. Schließlich sog er sich die Dringlichkeit seines Anliegens nicht aus den Fingern! Er bog um die Ecke und wollte gerade in Trawisheims Vorzimmer stürmen, als die Tür aufging und er fast gegen den Mann geprallt wäre, der sich verabschiedete. Farnham. Brigadegeneral Christopher Farnham. Bulton war so verdutzt, daß er abrupt stehenblieb und den großen, drahtigen Mann mit dem Bürstenhaarschnitt einfach in die andere Richtung davongehen ließ. Nun, der Gute war zwar auch nicht mehr taufrisch - aber das war eindeutig Farnham! Er wollte schon hinter ihm hereilen und ihn fragen, ob er einen alten Kameraden nicht mehr erkenne, als er Trawisheims Hand auf seinem Arm spürte. »Schön, daß Sie gleich kommen konnten, mein Freund«, sagte der Mann, der in Ren Dharks Abwesenheit dessen Amtsgeschäfte auf der Erde führte. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie vertrösten mußte, aber seit die Ringraumer aufgetaucht sind, geht es in meiner Abteilung drunter und drüber.« »Wem sagen Sie das«, seufzte Bulton und ließ sich von Trawis heim in sein großzügig eingerichtetes Büro führen. Vor einem mächtigen Eichenschreibtisch stand ein Syntholedersessel mit 5
Rollgestell. Auf eine entsprechende Geste hin nahm Bulton äch zend darin Platz, dann beugte er sich gespannt vor. »Dürfte ich wohl erfahren, was Sie mit einem Brigadegeneral des Raumkorps zu besprechen hatten?« Henner Trawisheim blickte ihn erstaunt an. Dann setzte er sich ebenfalls, legte ein paar Akten zusammen und verstaute sie in einer Schublade. »Keine Sorge, verehrter Marschall, Ihre Zuständigkeit wird nicht angetastet. Die Flotte ist und bleibt Ihr Ressort.« Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander. »Also, was ist so dringend, daß es nicht auch per Vi pho zu klären gewesen wäre?« Ted Bulton lehnte sich in dem schweren Syntholedersessel zu rück und warf einen Blick durch die Panoramascheibe auf die Sil houette von Alamo Gordo mit den Spitzen und gewaltigen Wohn kugeln der Stielbauten, in denen sich die letzten Strahlen der un tergehenden Sonne brachen. »Ich weiß, es wird bei Ihnen nicht auf besondere Gegenliebe stoßen, Trawisheim, aber ich habe einen Anschlag auf Ihren chro nisch ausgetrockneten Geldbeutel vor.« Trawisheim hob die Augenbrauen, dann lehnte auch er sich zu rück und bedeutete Bulton, weiterzusprechen. »Wir sind gerade zweimal nur um Haaresbreite um einen Krieg herumgekommen, nicht wahr? Erst tauchen diese riesigen Rateken auf, landen einfach frech auf Cent Field und wollen den > Schutz< der Erde übernehmen. Mafiamethoden! Wenn sie von ihrem komi schen Dara nicht wieder abberufen worden wären, hätten wir hier jetzt drei Meter große Birnenschädel als Besatzer. Und als wäre das nicht genug, tauchen wie aus heiterem Himmel auch gleich noch Tausende von Ringraumern im Sonnensystem auf und lassen eine Ast-Station nach der anderen verglühen. Wir können von Glück reden, daß sie vor ihrem Angriff auf die Erde wieder in den Hyperraum abgeschwirrt sind - auch wenn wir den Grund dafür bis heute nicht kennen.« »Bloß ein Drittel der Streitmacht ist wieder >abgeschwirrt<«, be richtigte Trawisheim amüsiert, »den Rest der Flotte haben wir jetzt zur freien Verfügung.« Bulton winkte ärgerlich ab. »Weiß ich doch. Sie haben mir 6
selbst den Auftrag erteilt, alle Beuteraumer mit tüchtigen Mann schaften zu versehen und für den Einsatz klarzumachen. Darum geht's mir nicht.« »Worum dann, mein Freund? Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.« »Unsere Welt entwickelt sich allmählich zum Ausflugsparadies für alle möglichen außerirdischen Völker. Sie kommen aus Tau senden von Lichtjahren Entfernung - aber für ihre Verhältnisse leben wir ja praktisch vor ihrer Haustür. Ob Giants, Rateken, Grakos oder Mysterious - falls sie wirklich hinter diesen Robotraumern stecken - sie schauen einfach alle vorbei und machen mit uns, was sie wollen. Wissen Sie, wie man so etwas hier auf der Erde nennt? Abenteuerurlaub - wir dienen denen zu vergnüglicher Kurzweil!« Auf Trawisheims Stirn bildete sich eine steile Falte. Er legte die Rechte auf die Schreibtischplatte und begann mit den Fingerspitzen zu trommeln. »Nette Philosophie. Aber darüber hätten wir auch am Vipho plaudern können.« »Hätten wir nicht«, grinste Bulton. »Sie hätten abgeschaltet.« Seufzend gab sich Trawisheim geschlagen. Er beugte sich vor und sah den Marschall eindringlich an. »Wie war's, wenn Sie jetzt endlich zum Thema kommen?« schlug er vor. »Nach unserer Besprechung habe ich noch einige Termine, und heute nacht wollte ich eigentlich mal wieder eine Runde Schlaf einlegen.« Bultons Miene wurde ernst. Er erhob sich und ging zu der großen Panoramascheibe. Der Schleier der Dunkelheit hatte sich draußen herabgesenkt. Vor ihm glitzerten bis zum Horizont die Lichter von Alamo Gordo. Er verschränkte die Arme. »Wir müssen uns gegen potentielle Angreifer wirksam zur Wehr setzen können.« »Verstehe, daher weht also der Wind...« »Wir müssen unsere Gegner im Vorfeld treffen und ihnen die Lust daran nehmen, sich mit uns anzulegen - auch wenn wir Neu zugänge auf der galaktischen Bühne sind.« Er wandte sich wieder Henner Trawisheim zu und stützte sich mit den Fäusten auf seinem Schreibtisch ab. 7
»Die erbeutete Flotte ist uns dabei keine große Hilfe«, fuhr er fort. »Sicher, sie stellt eine enorme Schlagkraft dar. Aber was bringt's, wenn wir uns im All behaupten können, nicht jedoch auf Planeten und Monden?« Bultons Stimme wurde energisch. »Wir müßten dort Milliarden Soldaten stationieren, die wir nicht besitzen und auch nicht bezahlen könnten. Eine planetenweite Ver dummung der Bevölkerung, wie die Giants sie aus taktischen Gründen betrieben, ist uns technisch nicht möglich und fällt aus ethischen Gründen ohnehin aus.« Trawisheim war leicht zurückgewichen und führte die Hand zum Kinn. »Wie wollen sie unsere Gegner dann überzeugen, sich besser nicht mit uns anzulegen?« Bulton stemmte sich vom Schreibtisch hoch und richtete den Blick wieder auf die Hauptstadt der Welt. »Durch eine Politik der Nadelstiche. Sie wird den großen inter stellaren Krieg verhindern. Ein solcher Krieg ließe sich letzten Endes nur durch Friedens vertrage beenden, gewinnen könnte ihn niemand, wenn er nicht zum Mörder an Milliarden intelligenter Lebewesen werden wollte.« Trawisheim musterte das Spiegelbild des Mannes. »Und was genau verstehen sie unter >Nadelstichen« Der Marschall schlug mit der Faust in die offene Hand. »Was die Erde braucht, ist eine schnelle Eingreiftruppe, eine echte Eliteeinheit, die den Feind auf seinem Heimatplaneten auf sucht, vernichtende Schläge gegen strategische Kernziele führt und dann blitzschnell wieder verschwindet. Man muß dem Feind klarmachen, daß er verwundbar ist.« »Sie reden von Bodentruppen!« »Sagen wir Sonderkommandos. Das erste SK der Terranischen Flotte bildeten Männer aus Ren Dharks Gruppe. Wissen Sie noch? Die Leute, die den ersten Robotraumer nach Cent Field brachten. Der Commander hatte sie mir unterstellt.« Trawisheim zuckte nicht mit der Wimper. »Das soll wohl heißen, Sie haben diesbezüglich schon Erfahrung?« »Weiß Gott!« brauste Marschall Bulton auf. Er wandte sich von der Panoramascheibe ab und sah Trawisheim aus blitzenden Augen an. »Sie wissen genau, daß ich der richtige Mann wäre, um so 8
ein Sonderkommando aus dem Boden zu stampfen!« Er starrte Trawisheim an. Wieso traf dieser Jungspund keine Entscheidung? Er war ein Cyborg auf geistiger Ebene, der erste und bisher einzige seiner Art ein ungeheuer scharfer Denker! Warum sah er nicht ein, daß die Erde eine solche Truppe brauchte? »Eine Spezialeinheit«, sagte Trawisheim endlich, »mit sehr ein geschränkter Einsatzfähigkeit.« »Himmeldonnerwetter«, polterte Bulton. »Sie wäre vielseitig einsetzbar, auf Raumschiffen ebenso wie auf Planeten, gegen grö ßere Truppenaufkommen und gegen Einzelkämpfer - überall da, wo Not am Mann ist - eine Elitetruppe!« »Und die Ausbildung?« fragte Trawisheim. »Wo soll die erfol gen? Die wäre doch sehr teuer.« »Es geht um die Sicherheit der Menschheit - auf der Erde und allen von uns besiedelten Welten. Da werden Sie doch wohl ein paar Scheinchen aus der Finanzschatulle locker machen können?« Trawisheim lehnte sich zurück und ließ sich Bultons Argumente durch den Kopf gehen. Er hörte sie nicht zum erstenmal. Auch andere Offiziere setzten sich dafür ein. Eine Investition in die Zukunft! Aber die Kassen waren leer... sie finanzierten zu viele Projekte gleichzeitig, aus eben den Gründen, die Bulton genannt hatte - aus Gründen der Sicherheit. »Ein Vorschlag zur Güte«, sagte Trawisheim mit freundlichem Lächeln. »Sie arbeiten die Struktur einer solchen Einheit noch einmal schriftlich aus - Truppenstärke, Ausbildungsform, Ausrüstung, Finanzierung - und ich werde sehen, was sich machen läßt. Ist das ein Angebot?« Bulton unterdrückte einen wütenden Aufschrei. Er wandte sich ab und stürmte zur Bürotür. Erst dort drehte er sich wieder zu Ren Dharks Stellvertreter um. »Gutj ich werde Ihnen alles zusammenstellen, was Sie verlan gen, aber halten Sie mich nicht hin, Trawisheim. Wir brauchen ine solche Truppe, und das wissen Sie auch genau. Je früher wir amit anfangen, sie aufzubauen, desto weniger Menschenleben Wlrd es kosten, wenn es im All oder auf Planeten zu Krisenfällen
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kommt.« Bulton drückte auf die Klinke und riß die Tür auf. Er preschte hindurch, kehrte aber gleich darauf zurück. »Ach ja«, sagte er leutselig, »was ist eigentlich mit der Erweiterung des Raumhafens von Cent Field, um die ich sie neulich bat? Es könnte auch nicht schaden, gleich noch ein Dutzend weitere Häfen zu bauen. Die viertausend Beuteraumer können nicht ewig im stationären Orbit hängen.« Trawisheim sprang hinter dem Schreibtisch auf. »Raus!« brüllte er und wies Bulton mit dem Finger die Tür. Als der Marschall sich achselzuckend zurückzog, schüttelte Trawisheim schmunzelnd den Kopf. Aber das sah Bulton schon nicht mehr. *
Der Himmel loderte grellrot. Blitze zuckten auf, schössen aus Kugelraumschiffen, schlugen in Gebäuden und Fahrzeugen ein. Steinfassaden schmolzen und Fensterglas splitterte. Die Laternen in den Straßen legten sich als Schlackefäden auf das geschwärzte Pflaster. Menschen schrien gellend auf und fielen übereinander her, bahnten sich, die wenige Habe unter dem Arm, einen Weg durch die marodierende Menge. Der Angriff der Giants verwüstete den ganzen Stadtkern. Dresden brannte lichterloh! Unter den Menschen, die panisch flüchteten, waren auch ein Mann und eine Frau. Sie hielten einen Jungen zwischen sich hoch, um schneller laufen zu können. Auf dem Rücken trugen sie provi sorisch festgezurrt ein gutes Dutzend Taschen und Beutel, größeren Reichtum als die meisten anderen. Der Junge war elf und stumm vor Entsetzen. Er begriff nicht, was eigentlich vorging. Wohin sein Blick auch fiel, überall herrschten nur Tod und Zerstörung. Jemand taumelte ihnen entgegen - ein Mann mittleren Alters. Sein Haar und sein Rücken standen in Flammen. Er schien laut zu schreien, während er mit ausgebreiteten Armen dahinstolperte, doch der Junge hörte ihn nicht. 10
Als sie auf gleicher Höhe waren, schlug der Mann der Länge nach hin und rührte sich nicht mehr - der Junge wurde weiterge rissen... An eine Kreuzung. Darüber hinweg. Rechts und links brodelte der Boden, der Teer schlug Blasen. Sengende Hitze raubte ihnen den Atem. Ein Schemen zeichnete sich in den Rauchschwaden ab, eine fremde Gestalt. Der Mann und die Frau husteten, konnten kaum etwas sehen, zerrten ihn weiter, geradewegs auf die Gestalt zu. Sie trugen ihn mehr, als daß er lief. Die fremde Gestalt zückte ein Messer und warf sich auf den Mann, der den Jungen hielt. Immer wieder stach er zu. Der Griff des Mannes um die Hand des Jungen löste sich. Der Fremde schnellte herum, stürzte sich auf die Frau, abermals blitzte die Klinge auf. Er wühlte in den Taschen am Boden, die Augen funkelten. Nichts - kein Bargeld, kein Essen. Er stand auf, trat auf den Jungen zu, der wie gelähmt dastand, hob das Messer, sah andere Menschen Und lief auf sie zu... Die Eltern des Jungen lagen in ihrem Blut. Sie zitterten und bebten, waren noch nicht tot. Sie bewegten die Lippen, doch der Junge hörte ihre Worte nicht, es war zu laut. Dann durchlief sie ein Schütteln, einmal, zweimal - und ihre Leiber erschlafften... Kurt Bück fuhr schreiend aus dem Schlaf. *
»Beruhige dich, Kurt! Das ist nur wieder dein Alptraum. Es ist gleich vorbei. - Hendrik, mach doch mal Licht!« Als es hell wurde, ließ Kurts Panik schlagartig nach. Er stellte fest, daß er mit aufgerichtetem Oberkörper im Bett saß. Sein Atem ging rasselnd, Schweiß lag auf seiner Stirn. Er schloß kurz die Augen, dann wandte er sich Wladimir Jaschin zu, der noch immer 11
seinen Arm umklammert hielt. »Meine Güte, Wlad«, keuchte er. »So heftig war es schon lange nicht mehr. Wenn das kein schlechtes Omen ist.« Er streifte die Hand seines Freundes ab und schwang die Beine über den Bettrand. Als er sich zitternd erhob und zum Fenster ging, warf er Hendrik Kienast, der das Licht im Schlafsaal ange schaltet hatte, einen dankbaren Blick zu. Draußen war es noch dunkel. Nur weit hinten am Horizont zeigte sich ein erster Silberstreif. »Wie spät ist es eigentlich?« fragte Kurt. Wladimir grinste und deutete auf die alte mechanische Uhr über der Tür. »Die steht schon wieder. Und wenn ich mich nicht irre, hat sie von deinem Schrei jetzt sogar einen Sprung.« »Tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe.« »Ich bin ganz schön hochgeschreckt«, sagte Wladimir, der wieder vor seinem Bett stand und das Kopfkissen flachklopfte. »Erst dachte ich, wir hätten Feueralarm.« »Ein Wunder, daß Rektor Handke nicht aus der Koje gefallen ist«, meinte Hendrik und sah unschlüssig an seinem Schlafanzug hinab. »Der hört doch sonst jede Maus fiepen.« »Maus?« Wladimir stemmte die Fäuste in die Hüften. »Das er innert mich doch an was... richtig, hätte ich in meinem morgendli chen Tran fast vergessen. Heute ist Samstag, nicht wahr? Da ver sammeln sich die schönsten Mäuse von ganz Königstein in >Eckis Salon<.« »Yeah! Yeah! Flirt-Time!« jubelte Hendrik und schwenkte be geistert die Arme. »Genau die richtige Dreingabe für ein paar ge diegene Runden Billard!« Er war froh, solche Freunde zu haben. Sie teilten alle drei das gleiche Schicksal, bekamen nie Besuch, reisten nirgends hin. Sie hatten keine Eltern mehr, keine Familie... Die Schreckensherrschaft der Giants hatte sie zu Vollwaisen gemacht. Das war vor fünf Jahren gewesen, und seit man sie in dieses Internat gesteckt hatte, staatlich gefördert und nur für Jungen, bildeten sie eine verschworene Gemeinschaft, die miteinander durch dick und dünn ging. Ohne Wlad und Hendrik, dachte Kurt, wäre ich in dem Laden 12
schon längst schwermütig geworden. Das Internat lag in einem kleinen Dorf auf dem Land, und viele Möglichkeiten gab es nicht, sich hier die Zeit zu vertreiben. Kurt und Wladimir hatten zu boxen begonnen, doch >Eckis Salon< war allen dreien zur zweiten Heimat geworden. Das Billardspiel machte Spaß, und es gab dort immer ein paar Mädchen, mit denen man flirten konnte. So kurz vor den Abschlußprüfungen war ihnen diese Ablenkung wichtiger denn je. »Nichts dagegen, Freunde«, meinte Kurt und wandte sich vom Fenster ab, »aber es ist noch verteufelt früh. Dem Schlagschatten nach zu urteilen, den Wlads Hakennase auf das hübsche Gesicht seines derzeit angesagten Pin-up-Girls wirft, dürfte es gerade mal halb sieben sein.« »He, so krumm ist die auch wieder nicht!« »Deine Nase oder das Mädel?« Kurt mußte bei Hendriks Frage grinsen, als ein Ruf durch die Gänge hallte. Sie hörten ihn schon seit fünf Jahren fast jeden Morgen. Doch diesmal waren sie überrascht. »Von wegen halb sieben«, maulte Wlad. »Jetzt lohnt sich's nicht mehr, sich wieder in die Koje zu hauen.« Kurt legte ihm lachend die Hand auf die Schulter. »Du Schnarchotter! Wenn's nach dir ginge, müßte die Nacht wohl vier undzwanzig Stunden haben, was?« »Überlegen wir uns lieber, wie wir uns die Zeit vertreiben, bis Ecki aufmacht«, sagte Hendrik grinsend. »Nur nicht büffeln, das steht mir bis hier«, meinte Wladimir und unterstrich seine Worte mit einer entsprechenden Geste. »Zum rp
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leutel mit der ewigen Schinderei...« »Vielleicht hilft uns das Frühstück über diese Horrorvorstellung hinweg?« sagte Hendrik ein wenig versonnen. »Die von der Schinderei?« meinte Wlad. »Nee, die von deiner Nase.« Das Gesicht des Ukrainers lief puterrot an. »Frechheit! Ihr wißt w phl nicht, welche ungeheure populative Bedeutung so einem £inken in Zeiten sinkenden Bevölkerungswachstums zukommt? Schön, ich werd's euch erklären...!« 13
Kurt schnappte sich sein Waschzeug und flüchtete zur Tür hinaus schräg gegenüber in die Duschräume. *
»Was ist denn jetzt schon wieder?« blaffte Marschall Bulton, als das Vipho erneut summte. Er erwartete das vertraute Gesicht von Captain Patters, seinem Sekretär, zu sehen. Schon mehr als einmal hatte er heute seinen Unmut an ihm ausgelassen. Sämtliche Offiziere schienen gleich zeitig dem Wahn verfallen zu sein, sich als Kommandanten eines der neuen Ringraumer bewerben oder tüchtige Untergebene emp fehlen zu müssen. Der Papierkrieg nahm kein Ende, und minde stens dreißig oder vierzig Anrufe waren schon von Patters durch gestellt worden. Doch statt seines Sekretärs erschien Trawisheim auf dem Bild schirm. Ups, dachte Bulton, ohne daß seine steinerne Miene etwas von der Überraschung verriet. »Sie hatten mich um eine schnelle Entscheidung gebeten«, be gann der Stellvertretende Commander der Planeten ohne weitere Umschweife. Donnerkeil! dachte der Marschall. So flink ist er doch sonst nicht! »Soll das heißen, die Raumhäfen werden gebaut?« Trawisheim lächelte. »Ich weiß Ihren Humor zu schätzen, Bulton, aber bitte ersparen Sie mir größere Mengen davon.« »Einverstanden - wenn Sie mir gleich den wahren Grund Ihres Anrufs nennen. Ich möchte mich nämlich nicht länger als unbe dingt nötig falschen Hoffnungen hingeben.« »Ich habe mir Gedanken über Ihren Vorschlag einer schnellen Eingreiftruppe gemacht...« Bulton fieberte fast vor Spannung. Für ihn stand zweifelsfrei fest, daß sie eine solche Truppe benötigten. Wenn Trawisheims Antwort abschlägig war, wurde nicht nur sein Traum zerstört, son dern seiner festen Überzeugung nach auch Terras Hoffnung auf einen Platz im All, auf eine Position, die verhinderte, daß die Erde 14
zum Spielball interstellarer Mächte wurde. »Und? Mit welchem Ergebnis?« »Ich habe schwere Bedenken wegen der Finanzierbarkeit. Sie wissen, welche Aufwendungen allein die Inbetriebnahme der er beuteten Ringraumerflotte erfordert. Wir können den Bürgern nicht noch mehr Steuern auferlegen, also bliebe uns lediglich übrig, an anderer Stelle zu sparen. Und niemand wird seine Pfründe kampflos aufgeben...« »Reden Sie nicht um den heißen Brei herum!« Trawisheim schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, wenn dieser Eindruck entsteht. Ich will Ihnen nur ehrlich sagen, daß ich mir von Ihrem Vorschlag nicht viel verspreche, aber Sie waren nicht der einzige mit einer solchen Empfehlung.« Bultons Gedanken überschlugen sich. Wenn er sich nicht sehr täuschte, hatte Trawisheim gerade zugestimmt... Am liebsten wäre Bulton jubelnd aufgesprungen, aber sein Ge genüber sprach weiter. Er wollte ihm offenbar noch einige Hin tergründe seiner Entscheidung darlegen. Nicht der einzige? »Seit dem Sieg über die Giants gab es schon oft den Ruf nach einer militärischen Elitetruppe, die in Krisensituationen eingreift. Viele Personen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben sich in Denkschriften dafür eingesetzt. Ganz besonders Brigade general Farnham.« Christopher! Jetzt begriff er, was sein alter Freund in Trawisheims Büro zu suchen gehabt hatte. Der war dorthin bestellt worden, um seine Eingabe persönlich zu begründen. Und er selbst hatte nur Minuten später den gleichen Vorschlag gemacht! Er konnte seine Genugtuung kaum verbergen, als er Trawisheim ansah. Wie aus weiter Ferne klangen die weiteren Darlegungen des faktischen Regierungschefs an sein Ohr - Ausführungen, wel chen Sinn und Zweck eine solche Truppe seiner Meinung nach haben könnte, und wie er Bultons Vorschläge hinsichtlich der in ternen Organisation einschätzte. *-'•'»... deshalb bitte ich Sie, umgehend mit dem Aufbau eines sol 15
eben Sonderkommandos zu beginnen«, war das erste, was er wieder deutlich vernahm. »Ich stelle mir vor, daß es in der Endstufe maximal Divisionsstärke haben sollte. Setzen Sie sich diesbezüglich mit Farnham in Verbindung. Ich lasse Ihnen seine Ausarbeitungen zukommen. Am besten fliegen Sie zu ihm und führen einen kleinen Festakt durch - Sie wissen schon, was ich meine. Das dürfte alle Beteiligten motivieren.« Er grinste. »Aber halten Sie die Kosten niedrig!« Dann erlosch das Vipho. Doch es blieb nicht lange schwarz. Das Konterfei von Captain Patters flammte auf. »Sir, ein gewisser Brigadegeneral Farnham möchte Sie sprechen. Er sagt, es sei dringend. Er möchte unbedingt einen Vorschlag machen.« Bulton lachte auf. »Typisch für den guten alten Chris. Sein In stinkt ist uns schon auf Deneb zugute gekommen. Aber diesmal trägt er Eulen nach Athen.« »Wie meinen, Sir?« fragte Patters. »Na, er will mir kalten Kaffee einschenken.« Sein Adjutant sah ihn mit wachsender Verwirrung an. »Schon gut, stellen Sie durch.« *
Die meisten Schüler waren schon am Freitagabend zu ihren Fa milien abgereist, und so bot der Speisesaal an diesem Morgen einen trostlosen Anblick - trist und menschenleer. Lustlos schlangen die drei Freunde das Automatenfrühstück hinunter und überlegten, was sie mit dem Tag anfangen sollten. Es dauerte noch eine Weile, bis Ecki seinen Laden aufmachte und sie ein paar Kugeln versenken konnten. »Wir sollten Laszlo besuchen«, meinte Kurt. Der war GSO-Agent, und sie kannten ihn schon seit Jahren, seit dem Tag, als sie ins Internat eingetreten waren. Er hatte in seiner schmuddeligen schwarzen Lederkluft auf seiner Kawasaki Slider gesessen und schweigend zugesehen, wie die verängstigten Zwölfjährigen vom Schweber ins rote Backsteingemäuer geführt 16
wurden, als wären sie Schwerverbrecher. »Verliert nicht den Mut, Jungs«, hatte er ihnen zugerufen. »Wenn euch mal die Decke auf den Kopf fällt, besucht den guten alten Laszlo Kovacs. Ich wohne gleich hinterm Ortsausgang, nach fünf Kilometern rechts.« Die Begleitpersonen der Jungen hatten gemurrt, aber aus uner findlichen Gründen nicht gewagt, gegen ihn vorzugehen. Später hatten Kurt und Wladimir erfahren, daß der GSO-Agent keine Scheu hatte, seine Kampfkünste gegen jeden einzusetzen, der ihn belästigte. Das hatte ihren Respekt vor ihm noch erhöht. So wollten sie auch sein. »Der erzählt doch nur wieder Geschichten vom Krieg«, meinte Hendrik. Für ihn war Kovacs nur ein verbitterter alter Mann - ob wohl er noch keine fünfzig war. »Amüsieren wir uns lieber. Wie war's mit einer Runde Gleiterski auf der Elbe? Ihr müßt noch meinen Rekord brechen!« Aber an Wochenenden erfaßte Kurt und Wladimir oft eine ge wisse Schwermut. Eine Melancholie des Alleinseins. Dafür war Laszlo dann genau der richtige Gastgeber. Wenn sie sich ihr eine Weile hingegeben hatten, machte es immer doppelt soviel Spaß, in »Eckis Salon« nach einem kleinen Wettkampf im Billard mit den Mädels zu schäkern. »Bist du dabei, Hendrik?« fragte Wladimir. Der junge Estländer zuckte mit den Schultern. »Also gut, wenn ihr euch unbedingt langweilen wollt.« Sie brachen in ihrem Smartomobil auf, einem per Satellit ge steuerten Elektrowagen, der eigentlich als wendiges kleines Gefährt für große Verwaltungskomplexe gedacht war, sich für kurze Strecken aber auch auf dem Land durchgesetzt hatte. Größere Entfernungen legte man schon seit Jahren meist nur noch mit mo dernen Schwebern zurück - obwohl es auch noch eine ganze Reihe herkömmlicher Automobile auf Terra gab, die vor allem wegen ihres extrem niedrigen Kostenfaktors geschätzt wurden. Die Jungs ließen sich über die holprige Landstraße navigieren und unter der Plexiglaskuppel kräftig durchschütteln, dann nahm das Smartomobil die Abzweigung zur Meyer-Mühle. »Die Straße wird auch immer holpriger«, meinte Wladimir. 17
»Wundert dich das?« fragte Kurt. »Die größeren Karossen nehmen alle den Luftweg. Es gibt nicht mehr viele Fahrzeuge, die sich ebenerdig fortbewegen. Warum sollte die Gemeinde also viel Geld für Reparaturarbeiten ausgeben? Genieße lieber die blauen Flek ken, deine Kinder werden gar nicht mehr wissen, was eine holprige Straße überhaupt ist.« »Hört, hört - da spricht der werdende Vater!« höhnte Wladimir. Als sie rechts um einen Hang bogen, der zu einer herrlichen grünen Wiese anstieg, tauchte vor ihnen die Mühle auf. Ein kleiner Bach plätscherte vorbei, der vom Eibsandsteingebirge kam, nicht mehr als ein Rinnsal, doch im Frühling konnte er zu fünffacher Breite anschwellen. Dann bestand immer die Gefahr, daß das Mühlrad ein Stück vom Gemäuer herausriß - und Kovacs bemühte sich mit seinen jungen Freunden nach Kräften, es per Seilzug aus der heftigen Strömung herauszuheben. »Seht doch - da stehen zwei Kawasakis!« rief Wladimir. »Dann ist Jose zu Besuch«, meinte Kurt. Sie fuhren gerade vor, als die Tür der alten Mühle aufgerissen wurde und ein schlanker Mann mit dunklen Gesichtszügen heraus stürmte. Da die Plexiglaskuppel ihres Smartomobils noch ge schlossen war, hörten die Jungen seine Flüche nicht, doch seine Gestik war unmißverständlich. Er warf seinen Motorrad-Gleiter an und preschte im Hochstart an ihnen vorbei. Ein ratloser Laszlo Kovacs stand mit ausgebreiteten Händen in der Tür und sah zu, wie der Besucher um den Wiesenhang herum verschwand. Die drei Jungen stiegen aus und näherten sich der Mühle. »Probleme, Laszlo?« fragte Kurt. »Nur ein kleiner Streit unter Freunden.« Sein Blick fiel auf Wladimir. »Hallo, Graf Vlad«, sagte er. »Schön, daß du auch den Weg zu mir gefunden hast.« »Ehrensache«, sagte Wladimir und schüttelte Kovacs die Hand. »Jose wird's nie lernen«, sagte Kurt. »Stimmt«, erwiderte Laszlo. »Seit Jahren redet er mir zu, ich solle beim Militär anfangen, die wüßten meine Erfahrung zu schätzen. Jetzt hat er sogar mit der Personalabteilung gesprochen. 18
Sie wären bereit, mir einen schönen Schreibtischjob zu geben, aber es geht gesundheitlich einfach nicht, und das will er mir ums Verrecken nicht glauben.« Er bedeutete den Jungen mit einer schwungvollen Geste, sein bescheidenes Domizil zu betreten. Im Innern erwartete sie ein großzügiger Wohnraum, behaglich mit Bücherborden und einer Sitzgarnitur aus dunkelrotem Leder eingerichtet. Küche und Vorratskammer zweigten davon ab. Der Schlafraum und eine Arbeitsstube befanden sich im ersten Stock, den man über eine Holztreppe erreichte. Der Geruch frisch ge brühten Kaffees hing in der Luft. »Ich glaube, wir kommen gerade rechtzeitig«, grinste Kurt. »Je mand muß doch den armen Kaffee erlösen.« Kovacs lächelte und bat sie, es sich bequem zu machen. Dann ging er langsam in die Küche. Seine Bewegungen verrieten den Jungen, daß seine Krankheit nicht besser geworden war. Als er mit dem Serviertablett zurückkehrte, stellte er jedem einen großen Becher hin, füllte die Gefäße und schlug mit der flachen Hand neben sich auf einen Stapel Lesefolien. »Hier, das hat Jose mir gebracht. Lauter Unterlagen über Pöst chen beim Militär. Sogar als Rekrutierungsoffizier! Er meint, ich dürfe hier draußen doch nicht versauern. Und wenn die GSO mich nicht mehr wolle, beim Militär sei immer Platz für mich. Ich könne sogar auf Cent Field anfangen, in unmittelbarer Nähe der Welthauptstadt, er werde schon dafür sorgen, daß es klappt.« Er lachte ein wenig hart auf. »Der verdammte Kerl hat einfach nie begriffen, daß ich kein Simulant bin.« Die Jungs nickten. Wladimir ließ den Blick über die alten Bü cher im Regal schweifen: Joyce, Dickens, Kleist, Frankenthaler seit dem Ausbruch seiner Krankheit hatte Kovacs sich ganz auf die Literatur zurückgezogen. Hendrik rutschte mit seinem Becher in der Hand nach hinten, während Kurt vorgebeugt auf dem Rand der Couch saß und an seinem Kaffee nippte. »Wieso sieht Jose das nicht ein?« fragte Kurt. »Die GSO hat dich nicht umsonst auf unbestimmte Zeit beurlaubt.« Kovacs zuckte mit den Achseln. »Er haßt nichts mehr, als sich 19
auf die faule Haut zu legen. Deshalb kann er nicht verstehen, daß mein Erschöpfung s syndrom eine echte Krankheit ist.« »Hängt mit Immunschwäche zusammen, stimmt's?« Kovacs nickte. »Irgendwie hat mein Körper den Dauerstreß nicht verkraftet. Zwanzig Jahre Sonderagent der Weltregierung, zwei Jahre GSO-Mitarbeiter während der Giant-Krise, dann noch Christinas Tod... ich war ausgebrannt - leer. Mein Körper hat sich einfach geweigert, sich zu regenerieren.« »Wundert mich nicht«, sagte Kurt. »Beim Geheimdienst muß die Arbeit ja wirklich aufreibend sein.« »Ich hatte immer den Eindruck, daß es sich lohnt. Man setzt sich für das Wohl der Menschheit ein.« »Das werden wir auch!« entfuhr es Wladimir. Er nahm den Blick vom Bücherbord und sah Kovacs begeistert an. »Kurt und ich haben schon oft darüber gesprochen. Wir wollen MysteriousMathematik und Physik studieren, weißt du? Gleich nach dem Ab schluß! Da müssen wir uns zwar beim Raumkorps bewerben, kommen aber nicht in den Fronteinsatz. Wir werden hinter den Linien für die Erde kämpfen - als Wissenschaftler!« Kovacs schürzte die Lippen. »Hm, beim Militär? Das ist nicht gut auf die GSO zu sprechen. Kompetenzrangeleien, war schon immer so.« »Kann uns doch egal sein«, sagte Wladimir. Kovacs blickte ihn und Kurt nachdenklich an. »Förderplätze in der Raumfahrtakademie, was? Die sind heiß begehrt. Dafür müßt ihr einen verdammt guten Notenschnitt haben.« »Schaffen wir locker«, sagte Wladimir mit einer abfälligen Geste. »Wir sind schwer am Büffeln. Bis zur Abschlußprüfung haben wir alles voll drauf.« »Außerdem hatten wir gehofft«, fügte Kurt hinzu, »du könntest uns vielleicht einen Tip geben, an wen wir uns wenden sollen. Wäre bestimmt sehr hilfreich.« »Beim Militär kenne ich niemanden. Es gab da zwar den einen oder anderen, aber das ist Jahre her. Ihr werdet euch schon auf eure eigenen Fähigkeiten verlassen müssen.« Hendrik beugte sich vor. »Was soll diese Karrierefaselei? Wie war's, wenn die Herren Wissenschaftler sich einmal den wirklich 20
wichtigen Fragen des Lebens widmen?« Kurt sah ihn verdutzt an. »Und die wären?« »Die Schulmeisterschaft im Boxen nächste Woche. Wer von euch gewinnt sie? Oder wollt ihr gar nicht erst antreten?« »Natürlich treten wir an!« antworteten Kurt und Wladimir wie aus einem Mund. Sie blickten sich an und grinsten. »Den will ich sehen, der das verhindert«, fügte Kurt hinzu. »Wie ich meinen Kumpel hier kenne«, ergänzte Wladimir, »schlägt der sich genauso ins Finale durch wie ich. Würde mich nicht wundern, wenn wir beim Endkampf gegeneinander antreten müßten.« »Du hättest keine Chance!« grinste Kurt. Ihre Gespräche verloren sich in seichteren Gefilden, und nie mand erwähnte mehr Laszlos Krankheit und die Berufswünsche der Jungen. Die Meisterschaft im Boxen war das angesagte Thema, und Kurt und Wladimir ließen sich von Laszlo ein paar nützliche Tricks zeigen. Als sie einige Stunden später in ihrem Smartomobil »Eckis Sa lon« entgegenholperten, waren sie in Gedanken schon beim Billard und den Mädels. »Warum nennt Laszlo dich eigentlich immer Graf Vlad?« fragte Hendrik von der Rückbank aus. Kurt unterdrückte ein Prusten. »Unser stürmischer junger Frau enheld hier« - er stieß Wladimir, der neben ihm saß, derb in die Rippen - »hat ihm einmal erzählt, daß er sich die Mädchen in >Eckis Salon< immer durch kleine Liebesbisse in den Nacken ge fügig macht. Seitdem nennt er ihn Graf Vlad, nach dem rumäni schen Fürsten Vlad Dracul.« Hendrik lachte schallend auf. »Dracula! Da schätzt er unseren kleinen Möchtegern-Casanova aber hoch ein!« Wladimir schwieg beleidigt, und Hendrik bekam sich die ganze Fahrt bis zum Billardsalon nicht mehr ein. Die Vorstellung, daß sein Freund mit hypnotischem Blick und spitzen Augzähnen jede Frau in seinen Bann schlug, war einfach zuviel für ihn. Er lachte sogar noch, als er die erste Kugel spielte. Dann war das Lachen an Wladimir - weil Hendrik das Queue verriß. 21
#.
Am südwestlichen Horizont verschwand der letzte Zipfel des At lantiks, als der Jett niederging. Knapp vier Stunden hatte es gedauert, die Entfernung von Cent Field hierher in den Kongo zurückzulegen. Das Lager war nicht viel mehr als eine riesige Fläche unkultiviertes Land, das man in den tropischen Dschungel geschlagen hatte. Fünf Quadratkilometer Baracken und Trainingsgelände. Hier wurden die besten Raumsoldaten der Flotte im Nahkampf gestählt! Marschall Bulton war froh, den Flug endlich hinter sich zu haben. Immer wieder hatte er sich gewünscht, daß es beim Viphoge-spräch geblieben wäre. »Wenn er nur nicht so ein kalter Fisch wäre«, fluchte er. »Bei dem Kerl muß man kilometertief buddeln, bis man auf einen men schlichen Kern stößt.« Aber bei aller vermeintlichen Gefühlskälte war Farnham ein guter Kamerad und noch besserer Freund. Bulton wußte es aus ihrer gemeinsamen Zeit im Fronteinsatz. Schon damals hatte er sich als kühler Analytiker und harter Knochen erwiesen. Vielleicht war er deshalb so erfolgreich. Als der Jett in einer Steilkurve auf die Landepiste zuschoß, glaubte er eine kleine Gestalt auszumachen, die am Rand der Piste zu ihm hochsah. Zwölf weitere Gestalten kamen hastig aus einer Baracke gelaufen, zwei Geschütze im Schlepp, und stellten sich in Reih und Glied auf. Der Jett rauschte in zwanzig Meter Höhe über sie hinweg und bog zum wiederholten Mal in die Warteschleife ein. »Wie oft wollen Sie eigentlich noch kreisen?« schnauzte er seinen Piloten an. »Tut mir leid, Marschall, als ich uns beim Tower anmeldete, hieß es, daß die anderen Jetts in der Umgebung uns den Vortritt ließen. Aber wir sollten uns mit der Landung noch Zeit lassen. Wenn Sie mich fragen, haben die irgendwas vor.« Bulton schüttelte den Kopf. Alte Spielchen aus Zeiten, als die Piste noch von Flugzeugen benutzt wurde, die sich bei Start und 22
Landung in die Quere kommen konnten. Jetts landeten punkt genau. Aber Vorschriften waren eben Vorschriften, oder steckte doch mehr dahinter? Wenn ihn nicht alles täuschte, war dort unten jetzt großer Bahnhof angesagt... Das Funkgerät knackste, und Leutnant Bendig wechselte einige Worte mit dem Tower. Dann legte er den Jett wieder in eine steile Rechtskurve und setzte ihn direkt am Pistenrand auf, als einziges Luftfahrzeug weit und breit. Das Schott öffnete sich, und Bulton wurde von einer Woge schwüler Luft schier erschlagen. Aus den zwei Geschützen bollerte Lärm, dann entwich den Mündungen eine Rauchfahne. »Amüsieren Sie sich, aber halten Sie sich bereit«, hielt Bulton seinen Piloten an, dann stieg er die Leiter hinab zu dem Mann, der ihn unten erwartete. »Hauptmann Hedderich, Sir«, salutierte der stämmige Endvier ziger. »Freue mich, Sie begrüßen zu dürfen. Große Ehre, Sir. Habe Befehl, Sie umgehend zum Brigadegeneral zu bringen.« Er machte zackig kehrt. »Bitte folgen Sie mir.« Von einer Ehrenwache aus zwölf Soldaten flankiert, die gerade noch neben den Salutgeschützen gestanden hatten, schritt Bulton hinter dem Hauptmann her zu einem Gebäude, das sich festlich be flaggt neben dem Tower am Anfang der Landebahn erhob. Als sie sich dem Eingang näherten, scherten die zwölf Mann nach beiden Seiten hin aus und verlängerten die zwei Reihen mit zehn Mann, die dort schon Aufstellung genommen hatten, um jeweils sechs weitere - hüben wie drüben der Gasse. Hedderich führte Bulton hindurch, der lächelnd in beide Rich tungen grüßte. Dann gingen sie durch den Eingang eine ge schwungene Treppe hoch bis zu einem Raum, der von einer mächtigen Flügeltür versperrt wurde. Als sie sich näherten, schwang sie nach innen auf, und Bulton erblickte den Befehlshaber. Brigadegeneral Christopher Farnham! Die Miene des Mannes mit dem braunen Bürstenhaarschnitt war f eglos. Eine Narbe zog sich von der linken Stirnseite über das Auge bis zum Kinn. Die wenigsten wußten, welchem Vorfall er 23
sie zu verdanken hatte. Sein Blick aus eisgrauen Augen blieb un verwandt auf Bulton gerichtet, als dieser nähertrat. »Schön, Sie zu sehen, Marschall.« Farnham grüßte militärisch knapp. Dann wandte er sich seinem Untergebenen zu, der auf weitere Befehle wartete. »Danke, Hauptmann, Sie dürfen jetzt wegtreten.« Der stämmige Mann ließ sich nicht lange bitten, machte auf dem Absatz kehrt und schritt hinaus. Die beiden Türflügel schlössen sich hinter ihm. Bulton ergriff Farnhams Hand und schüttelte sie. »Wer hätte ge dacht, daß wir uns schon so bald wiedersehen?« »Sie sagen es«, erwiderte der Brigadegeneral. »Zwei Jahre ist keine Zeit. Aber lassen wir das Geplänkel. Ich nehme an, Sie hatten einen guten Flug. Kommen wir jetzt zum Grund Ihres Hierseins. Ich hatte Sie hergebeten, um...« Bulton blickte ihn an. »Immer noch derselbe alte Haudegen, was? Gerade heraus und aufs Wesentliche bedacht. Genau wie da mals auf Deneb.« »Es kann eben niemand aus seiner Haut, Marschall. Und wir sind immer gut damit gefahren, nicht wahr?« »Zweifellos. Aber zum einen war mein Besuch hier mein Vor schlag. Und zum anderen muß ich zugeben, daß es mich doch ein wenig erstaunt, bei meiner Landung gleich mit großem Bahnhof begrüßt zu werden.« »Das haben Sie Trawisheim zu verdanken«, sagte Farnham. »Er rief vor zwei Stunden an und fragte, was ich mit Ihnen vereinbart hätte. Als ich erklärte, Sie wären schon unterwegs, meinte er, wir sollten gehörigen Wirbel um Ihre Ankunft machen, damit die Ge rüchteküche zu brodeln beginnt.« »Schau an, das sieht ihm ähnlich. Aber daß er mich bat, hier im Kongo einen kleinen Festakt durchzuführen, erwähnte er nicht, was?« Bulton grinste. »So ein gerissener Hund.« Farnham hob erstaunt die Brauen, während Ted Bulton in die Innentasche seiner Jacke griff. Er zog ein schmales Etui heraus. Ein Druck, und es klappte auf. Mit spitzen Fingern entnahm er den Inhalt und heftete ihn Farnham an die Brust. »Durch den großen Bahnhof wirkt Ihre Beförderung nämlich
noch imposanter, Generalmajor Christopher Farnham.« Der große, drahtige Mann war völlig verdutzt. Er blickte ab wechselnd zu dem Abzeichen auf seiner Brust und dem grinsenden Raummarschall. »Wenn Sie mich fragen, haben Sie sich das schon auf Deneb verdient«, sagte Bulton. »Aber Sie haben natürlich recht: Wir sollten jetzt zur Sache kommen.« Farnham starrte ihn einen Moment lang fassungslos an, dann schob er ihm einen Stuhl hin und nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. Seine Augen funkelten erfreut, als er die Hände auf der Tischplatte verschränkte. »So langsam dämmert mir, daß wir die ganze Zeit das gleiche Ziel verfolgen, Marschall«, begann er. »Meine Beförderung hängt doch mit meinen Vorschlägen und dem Gespräch bei Trawisheim zusammen, nehme ich an?« Bulton nickte. »Der Stellvertreter des Commanders hat uns of fenbar regelrecht aufeinandergehetzt. Ich wußte bis gestern abend nicht, daß Sie ihn schon seit Jahren mit den gleichen Empfehlungen traktieren wie ich. Keine Frage, wir brauchen eine Eliteeinheit, jetzt dringender als jemals zuvor.« »Nach der Sache mit den Ringraumern, meinen Sie?« »Auch das.« Bulton ersparte es sich, die vielen Gründe aufzu zählen, die seiner Meinung nach für eine solche Truppe sprachen. Er wußte, wie Farnham dachte - besonders in diesem Fall, nach dem Studium seiner Ausarbeitungen. »Nicht zu glauben«, schmunzelte Farnham, »und dabei hatte ich Sie eigentlich hergebeten, um Ihnen einen Eindruck von meinen Trainingsmethoden zu vermitteln. Ich wollte Ihnen den gleichen Vorschlag unterbreiten.« Bulton blickte den Generalmajor offen an. »Wir haben sehr ähnliche Vorstellungen hinsichtlich einer schnellen Eingreiftruppe«, bestätigte er. »Und Ihre Schulung ist in der Terranischen Flotte berühmt und berüchtigt. Aus Ihrem Aus bildungslager gehen die fähigsten Raumsoldaten hervor. Also sind Sie meiner Meinung nach die erste Wahl, wenn es darum geht, einer solchen Elitetruppe, wie wir sie uns vorstellen, Leben einzu hauchen. Glücklicherweise ist Trawisheim der gleichen Ansicht. :
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Er hat die entsprechenden Finanzen lockergemacht und mir vorge schlagen, daß Sie das Kommando übernehmen sollten. Damit ver bunden ist Ihre Beförderung zum Generalmajor. Machen Sie aus den Männern Ihrer neuen Elitetruppe die schärfsten Hunde, die die Flotte je gesehen hat - intelligent, schnell und todbringend.« Farnham starrte ihn kopfschüttelnd an. »Wie's aussieht, habe ich offene Türen eingerannt...« Bulton grinste. »Packen Sie Ihre Siebensachen und schnappen Sie sich Ihre Familie. Ihr neuer Wohnsitz ist Alamo Gordo. Von dort aus können Sie die Kaserne, in der die Rekruten ausgebildet werden, am schnellsten erreichen.« »Die Vorbereitungen sind also schon getroffen? Und der große Bahnhof eben gehörte voll zum Plan?« Bulton nickte. »Ganz schön durchtrieben, dieser Trawisheim, nicht wahr?« Er grinste Farnham an. »Sie werden viel auf Reisen sein, mein Freund. Da ist es gut, wenn Ihnen der Ruf vorauseilt, mit dem Segen eines der höchsten Militärs der Erde - dem Segen eines Raummarschalls - die härteste aller terranischen Elitetruppen zusammenzustellen.« Er lachte laut auf. »Das fängt bei Ihren Männern hier an. Stellen Sie sich vor, wie erstaunt sie sein werden, wenn erst die Runde macht, daß der gute alte Teddy Bulton persönlich hier anreiste, um Sie für Ihre besonderen Leistungen zu befördern und mit der größten Aufgabe zu betrauen, die die Terranische Flotte seit Jahren zu vergeben hatte. Wissen Sie, was dann passiert?« »Es hagelt Freiwillige?« »Die besten, Farnham, nur die besten.«
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2.
Die Schreie gellten wie das Kreischen von Sägeblättern in seinen Ohren, als er, einen weiten Umhang um die Schultern, durch den Gang geführt wurde. Sein Blick war unablässig auf den Ring ge richtet. Von der Tür des Umkleideraums aus war er ihm winzig klein erschienen, doch mit jedem Schritt, den er sich unter dem Johlen und Klatschen seiner Schulkameraden der Mitte der All zweckhalle näherte, wurde die mit drei Seilen umspannte fünf mal fünf Meter messende Fläche größer, bis sie überdimensionale Ausmaße anzunehmen schien. Er merkte, wie er mit Schwindelgefühlen zu kämpfen hatte, als Hendrik ihm den Umhang abnahm und noch einmal aufmunternd auf die nackte Schulter schlug. »Du schaffst es, Junge. Denk einfach nicht daran, gegen wen du antrittst. Halt die Ohren steif!« Kurt nickte unwillkürlich und hätte sich die Ohren am liebsten zugehalten, als das Gejohle wieder aufbrandete. Doch es ging nicht - seine klobigen Handschuhe ließen es nicht zu. Nicht nur sämtliche Schüler des Internats schienen zu diesem Kampf angereist zu sein, sondern das ganze Dorf Königstein und sogar halb Dresden. Alle wollten mit eigenen Augen sehen, wie die Schulmeisterschaft im Boxen ausging. Er drehte sich benommen um und schaute rasch in die Runde, versuchte Laszlo Kovacs in der Menge auszumachen. Umsonst. Er sah nur unzählige, ins Gigantische vergrößerte Gesichter, die mit weit aufgerissenen Mündern und funkelnden Augen ihre Begeiste rung für ihn hinausschrien. Nein, nicht für ihn. Es war ihnen egal, wer er war. Genauso frenetisch hatten sie erst wenige Minuten zuvor Wladimir begrüßt, der am anderen Ende des Rings auf ihn wartete. Sie versprachen sich einfach nur einen spektakulären Kampf! »Nun geh schon«, hörte er Hendriks Stimme an seinem Ohr. Er spürte einen Stoß und taumelte zu den Seilen. Jemand zog sie 27
auseinander, ergriff ihn am Arm und half ihm in den Ring. Er wurde auf einen Platz in der Ecke gesetzt, man schob ihm etwas zwischen die Zähne. Kurt schluckte unwillkürlich und nickte zum Dank. Dann betrat eine dritte Person den Ring und ergriff einen von der Decke baumelnden Gegenstand. Es knisterte laut. »Meine Damen und Herren«, gellte es durch die Halle, »liebe Freunde und Freundinnen des Boxsports. Ich darf Sie zu unserer diesjährigen Schulmeisterschaft des Johannes R. Becher-Internats, Königstein, herzlich willkommen heißen.« Lautes Kreischen antwortete dem Moderator. »Der Augenblick des Finales ist gekommen. Zwei Kämpfer, die durch ihre bisherigen Siege größtes Können und äußerste Klasse bewiesen haben, stoßen in diesem Wettstreit um den Titel des Schulmeisters erstmals aufeinander.« Erneut erscholl das Kreischen. »Links«, der Mann im graugestreiften Anzug drehte sich mit ausgestreckter Hand um, »sehen Sie Wladimir Stepanowitsch Jaschin, 89 Kilogramm schwer und einsvierundneunzig groß, ein Berg von einem jungen Mann, der es ohne Niederlage bis ins Finale geschafft hat.« Pfiffe und Johlen. »Und rechts von mir, meine Damen und Herren, sehen Sie Werner Kurt Wilhelm Bück, 91 Kilo schwer und einszweiundneunzig groß, mit zwei Niederlagen in achtzehn Kämpfen auf Platz zwei der Punktetabelle.« Abermaliges Johlen, auch wenn der Angepriesene einige Pfiffe mehr herauszuhören meinte. Die Moderation dauerte noch eine Weile. Mitschüler massierten Kurt und Wladimir den Rücken und die Schulterpartien, während die Freunde einander ausdruckslos anstarrten. Sie kannten ihre ge genseitigen Stärken und Schwächen, hatten oft miteinander trai niert und sich bei den Fights in diesem Wettkampf genau beobachtet. Der Gong ertönte. Kurt sprang sofort auf. Er richtete seine ganze Konzentration auf Wladimir und näherte sich ihm mit erhobenen Fäusten. Er wußte, 28
daß sein Freund dazu neigte, ohne großes Vorgeplänkel gleich zum Angriff überzugehen. Davor mußte Kurt sich hüten, denn der Nahkampf war nicht seine Stärke, er setzte lieber auf Kondition. Einmal, zweimal schlug Wladimir spielerisch mit der Rechten. Kurt wich zurück und hielt den Gegner auf Distanz. Sie um kreisten einander. Kurt spürte, wie die Ungeduld des anderen stieg. Er ging auf Halbdistanz, lockte ihn mit einer Folge von Schwingern und sprang zurück, Wladimir konterte mit einer Gera den, die auf die Kinnspitze zielte. Kurts Antwort war ein rechter Schwinger, der über dem linken Ohr traf. Wladimir taumelte. Ein Raunen ging durch die Menge. Dann schüttelte der Ukrainer den Kopf und wandte sich Kurt wieder zu. Er lächelte zähnefletschend. Jetzt sieht er nicht mehr mich! durchschoß es Kurt. Er sieht nur noch den Gegner! Wlad pendelte mit dem Oberkörper und suchte nach einer Lücke in Kurts Deckung. Kurt führte einen raschen Stoß Richtung Magen, der weggeschlagen und mit einer Serie von Schwingern be antwortet wurde. Er hob schützend die Fäustlinge an den Kopf. Wlad ging auf das Angebot ein und zielte nun seinerseits auf die Magengrube, legte seine ganze Kraft in eine Gerade, die Kurt unter Anspannung aller Muskeln auffing. Ein jäher Schreck ließ das Publikum aufschreien. Kurt antwortete mit einem Aufwärtshaken, dem er einen Doppelschwinger rechts und links folgen ließ, bevor er schnaufend und mit brennendem Schweiß in den Augen wieder auf Distanz ging. Der Gong verkündete das Ende der ersten Runde. Taumelnd begab sich Wladimir in die Ringecke. Das Publikum applaudierte und jubelte. Kurt setzte sich eben falls. Er atmete schwer. Jemand träufelte ihm Wasser auf Kopf und Schultern und tupfte seine Stirn ab, ohne daß er es richtig merkte. Er starrte den Gegner an. Wlad war angeschlagen, keine Frage, aber Kurt kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß noch genug Kraft und Entschlossenheit in ihm steckten, um zehn Männer auf die Bretter zu schicken. Der junge Deutsche schob den Mundschutz mit der Zunge hin und her, dann erklang der Gong zur zweiten Runde. Er stieß Hen 29
drik beiseite, der ihm noch einen Becher Wasser mit Strohhalm hinhielt, und erhob sich. Er wollte aus der Offensive herausgehen. Wladimir hatte jetzt Respekt vor ihm, das mußte er nutzen. Ohne auf die anfeuernden Rufe des Publikums zu achten, die beiden Kämpfern galten, ging er geduckt auf den Ukrainer zu und schoß sofort eine Gerade auf den Brustkorb ab. Wlad sollte glauben, daß er schon die Entscheidung suchte. Wenn er darauf hereinfiel und sich vorzeitig verausgabte, stiegen Kurts Chancen auf einen Sieg durch k.o. Wladimir konterte mit mehreren Schwingern. Kurt gab die Halbdistanz auf und plazierte einen wahren Hagel von Schlägen, über den gesamten Oberkörper und Kopf verteilt, auf Leber, Herz spitze, Kinnwinkel und Ohr. Wlads Verteidigung brach zusam men. Noch ein Leberhaken, ein linker Schwinger, ein rechter Schwinger an die Schläfe. Der Ukrainer bebte und schüttelte sich unter Kurts Schlägen wie ein Punchingball. Nur mühsam brachte er die Arme wieder nach oben, stieß sich von Kurt ab und legte alles in einen rechten Schwinger, der den Deutschen mitten aufs Auge traf. Abermals johlte die Menge. Kurt taumelte zurück. Er duckte sich, baute die Deckung wieder auf und stierte den Ukrainer an, der aus einer Platzwunde an der Stirn blutete. Er wollte sich gerade wieder auf ihn stürzen, als der Gong ertönte. Wlad drehte sich um und schwankte in seine Ecke zurück. Kurt ließ die Hände sinken und blieb erschöpft in der Ringmitte stehen. Jemand packte ihn am Arm und führte ihn auf seinen Stuhl, redete beruhigend auf ihn ein, behandelte sein Auge mit Watte und einer Flüssigkeit. »Danke, Hendrik...«, flüsterte Kurt. »Den Mistkerl mache ich fertig. Der geht nicht zu Fuß aus dem Ring.« Er spürte, wie sein Auge allmählich zuschwoll. »Du schaffst es, da bin ich sicher.« Hendriks Hand kam in sein Blickfeld. Er deutete auf den Ukrainer, dessen Platzwunde an der rechten Stirnseite mit Vaseline behandelt wurde. »Versetz ihm noch eins auf die Stelle, dann hast du gewonnen.« Der Gong zur letzten Runde erklang. 30
Das Publikum schwieg. Kein Ruf, kein Hüsteln war zu hören. Alle spürten, daß die Gegner sich nichts schenken würden. Ein Kampf bis zum bitteren Ende stand bevor. Kurt stand auf und entspannte sich - ganz kurz nur. Dann begab er sich schweigend und mit harter Miene in die Ringmitte. Sie umkreisten sich wie Raubtiere. Wlads Deckung war perfekt, ohne Möglichkeit zu einem Durchbruch. Kurt war die An spannung in Person. Er suchte nach einer Blöße und ignorierte sein schmerzendes Auge. Ein Moment der Schwäche, und der Kampf ist vorbei! Als Wladimirs Faust vorschoß, duckte er sich seitlich weg und konterte mit einem Haken, den der Ukrainer mit dem Ellenbogen abfing. Sein linker Schwinger sollte wieder Kurts Auge treffen, wurde jedoch geblockt und mit einem rechten Schwinger gegen Wlads Kopf beantwortet. Kurt kam nicht durch, versuchte es wieder und wieder - Treffer! Wladimir zuckte zurück, hob unwillkürlich die Rechte an die Stirn. Prompt ließ ein Aufwärtshaken den Ukrainer nach hinten taumeln. Er fand seine Deckung wieder, schob in gebeugter Haltung den Kopf vor und drang mit tastenden Schlägen und weichen Knien auf seinen Gegner ein. Kurt tänzelte um ihn herum. Er hatte sich seine Kräfte eingeteilt und attackierte ihn jetzt gnadenlos, auch wenn sein räumliches Sehvermögen durch das geschwollene Auge eingeschränkt war. Plötzlich kassierte er einen Schlag auf die Nase! Sie knackte laut wie ein zerbrechender Ast. Kurt schwankte und riß schützend die Arme hoch, doch Wlads Anschlußschlag verfehlte ihn. Der Ukrainer blinzelte hektisch. Die Vaseline an der Platzwunde war verschmiert und wirkte nicht mehr, Blut quoll heraus. Er wollte es mit den Fäustlingen abwi schen, verschmierte es jedoch nur noch weiter... Als Wlad die Deckung aufgab, bediente Kurt ihn knapp über der Gürtellinie mit mehreren linken und rechten Haken, die alle präzise trafen. Wlads Schwinger zischten lasch an Kurts Gesicht vorbei. Der Deutsche antwortete seinerseits mit Schwingern - rechts, links, rechts, links! Wladimir Jaschin sackte auf ihn drauf und klammerte sich fest, 31
so daß Kurt fast keine Luft mehr bekam. Er hörte das schwere At men, spürte die zitternden Muskeln... Dann riß der Schiedsrichter sie auseinander und hielt sie eine Weile an der Schulter fest. Er beugte sich kurz zu Wladimir vor und untersuchte seine blutende Wunde, gleich darauf bedeutete er ihnen, den Kampf fortzusetzen. Kurt sah bloß noch den Ukrainer vor sich, seine verzerrte Miene, das blutige Zwinkern. Er spürte, wie seine Kondition ihn verließ, als zehrte die Schwäche des Freundes auch an ihm und beraubte ihn seiner letzten Kräfte. »Kurt! Kurt! Kurt!« grölte das Publikum. Es wollte Blut sehen, es wollte ihn siegen sehen. Und Kurt wollte siegen! Er schob sich um den Ukrainer herum, der seinen Bewegungen nur noch tapsig folgte. Dann schoß auf einmal Wlads Gerade vor, gänzlich unerwartet, und traf sein zugeschwollenes Auge. Der Schmerz lahmte ihn schier. Erneut raste Wlads Faust heran, gera dewegs auf die gebrochene Nase zu. Kurt zuckte zurück, wurde dennoch getroffen, aber wie von einem Daunenkissen. Es tat zwar weh, hatte aber nichts von der Wucht an sich, die ernsthaften Schaden verursachen konnte. Er federte nach vorn und legte alles in eine Abfolge von zwei, drei Schwingern, die er mit einem Aufwärtshaken krönte, der punktgenau Wladimirs Kinnspitze traf. Der mächtige Ukrainer kippte um wie ein gefällter Baum. Die Menge war außer sich. Kurt konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er hörte, wie der Schiedsrichter zählte. »Acht, neun - aus!« Jemand riß seinen Arm hoch. Aus den Lautsprecher drang eine Stimme. Um Kurt herum drehte sich alles... Sieg! hallte es in ihm. Er taumelte wie ein Zombie in seine Ecke des Rings und brach auf dem Stuhl zusammen. *
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Er sah grauenhaft aus. Sein Gesicht war verquollen und rot von geronnenem Blut, das linke Auge nur noch ein Schlitz, durch das er nichts mehr sehen konnte. Am schlimmsten hatte es jedoch die Nase getroffen. Sie funkelte in allen Farben des Regenbogens, vorwiegend grünlich blau. »Laß es lieber«, sagte Hendrik neben ihm, »ich hol' einen Arzt, der das in Ordnung bringt.« Kurt schob ihn mit der Rechten beiseite und ertastete mit Dau men und Zeigefinger der Linken die gebrochene Stelle. Die Blu tung hatte er schon gestillt. Ein Ruck, ein jäher Schmerz, dann war die Nase wieder gerichtet. »Schon erledigt, Hendrik«, sagte er. »Meine Hochachtung«, erklang eine fremde Stimme. Kurt erblickte im Spiegel einen dürren Schwarzhaarigen mit in die Stirn fallender Haarlocke und rotem Sakko. Er stand im Ein gang, einen Koffer in der Hand. Kurt stieß Hendrik an, und sie drehten sich um. »Mit wem haben wir die Ehre?« fragte Hendrik. »Jefferson Airplane, Boxpromoter«, sagte der Mann. Kurt mußte lachen. »Sie machen wohl Witze«, sagte er. »Glauben Sie, wir wissen nicht, daß Jefferson Airplane eine Rock band des letzten Jahrhunderts war?« »Ich wiederhole mich nur ungern, aber: Meine Hochachtung«, meinte der Schwarzhaarige erneut, der einen italienischen Ein druck machte. »Trotzdem - der Name steht in meinem Paß. Darf ich nähertreten?« »Ein Boxpromoter«, wiederholte Hendrik. »Schau an. Was führt Sie zu uns?« »Die fabelhafte Kampftechnik Ihres Mitschülers.« Kurt nickte. »Verstehe. Aber Sie werden verstehen, daß ich im Moment leider keine Zeit für Sie habe.« Die Schmalzlocke blickte verdutzt drein. »Nein, äh... das ver stehe ich eigentlich nicht.« »Ich muß erst mit Wladimir sprechen«, sagte Kurt, »meinem Gegner«, fügte er an den Neuankömmling gewandt hinzu. »Wenn unser Kampf ihn nur halb soviel mitgenommen hat wie mich, dürfte ihm ganz schön elend zumute sein.« tV -
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Hendrik nickte und sah zu, wie Kurt an dem verdutzten Promoter vorbei die Kabine verließ. »Hätten Sie vielleicht etwas dagegen, äh...«, hörte Kurt seinen Mitschüler noch stammeln, »auf ihn zu warten?« Es waren nur wenige Schritte bis zu Wladimirs Kabine. Bei sei nem Eintreten lag der Ukrainer auf einem Massagebett und ließ sich von einem Arzt behandeln. Sein Betreuer Gustav Meintgen, der ihn auch im Ring versorgt hatte, stellte sich Kurt mit erho benen Handflächen entgegen. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, ihn jetzt zu sehen«, sagte er. »Wer ist da?« fragte Wladimir, ohne den Kopf zu wenden. »Ich«, sagte Kurt. Der Ukrainer ruckte hoch, sackte im nächsten Moment jedoch wieder stöhnend auf die Liege zurück. »Du hast vielleicht Ner ven«, sagte er. »Hast du vergessen, was wir uns versprochen haben?« entgeg nete Kurt. »Der Ausgang unseres Kampfes sollte nichts an unserer Freundschaft ändern.« »Autsch«, meinte Wladimir. »Aber du hast recht. Vergessen wir meine geplatzte Stirn, die zwei bis fünf gebrochenen Rippen und den Leberriß, den ich vermutlich davongetragen habe.« »Du hättest fast gewonnen«, sagte Kurt Bück. Der Ukrainer stöhnte als Antwort auf. »Laß ihn jetzt besser in Ruhe«, meinte Gustav. »Er hat bei dem Kampf sein Letztes gegeben.« »Kommt er wieder auf die Beine?« »Natürlich, aber dich will er im Moment bestimmt nicht sehen.« »He, ich biete auch nicht gerade einen glorreichen Anblick«, sagte Kurt und trat neben die Liege. »Hier«, er deutete auf sein ge schwollenes Auge. »Das habe ich dir zu verdanken.« Wladimir verzog schmerzhaft die Miene. »Kapier's endlich, Bück«, sagte Gustav. »Es wird eine Weile dauern, bis Wladimir wieder auf den Beinen ist.« »Tut mir leid«, flüsterte Kurt. Er legte dem Freund die Hand auf den Arm. »Wir sehen uns, ja?« Der Ukrainer nickte unter Schmerzen. 34
Als Kurt zu seiner Kabine zurückkehrte, hörte er schon auf dem Flur, daß Hendrik und der Promoter namens Airplane in hitzige Diskussionen vertieft waren. Es ging um Prozente, Anzahl der Kämpfe und die Erlöse aus dem zu erwartenden Merchandising. Kurt wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. »Wie war's, wenn mich mal jemand fragt, ob ich überhaupt Boxprofi werden möchte?« Die beiden blickten ihn verdutzt an. Der Promoter faßte sich als erster wieder. »Wie geht's Ihrem Freund?« fragte er. »Er wird wieder, aber es dürfte eine Weile dauern.« Die Schmalzlocke nickte. »Sie wissen, warum ich hier bin. Ihr Kampf war spektakulär. Es gibt nicht viele Boxer, die Ihr Vorgehen so besonnen planen.« »Tatsächlich? Ich muß zugeben, die Besonnenheit wäre mir beinahe entglitten.« »Wie auch immer«, sagte Airplane. »Ich möchte Sie gern unter Vertrag nehmen.« Kurt Bück nickte. »Das dachte ich mir.« »Und wie stehen Sie dazu? Denken Sie an die vielen Millionen, die wir gemeinsam verdienen könnten.« Sofort sprang Hendrik auf, hob die Hände und sagte: »Mach jetzt keinen Fehler, Kurt!« Kurt lachte. Er betastete seine geschwollene Nase und deutete auf das blaue Auge. »Damit kann ich leben. Aber nur, solange es einen Sinn ergibt. Diesmal hatte es einen. Es ging um die Schul meisterschaft. Ich wollte siegen, als Bester abschneiden - dieses ganze erbärmliche Internat sollte sehen, daß es mich in den fünf Jahren, die ich hier verbringen und mich zu Tode langweilen mußte, nicht kleinkriegen konnte.« Hendrik stierte ihn an. »Darum hast du gekämpft?« »Ich habe um meine Ehre gekämpft.« »Die Abschlußprüfung...« »Spielt keine Rolle. Da wird nur Wissen abgefragt. Ich wollte beweisen, daß ich mir treu geblieben bin.« Er wandte sich an Tef ferson Airplane. »Beantwortet das Ihre Frage?« Der Mann begann seine Papiere wieder im Koffer zu verstauen. 35
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe«, sagte Kurt. »Schon gut. Es war den Versuch wert.« Hendrik blickte vom einen zum anderen. »Soll das heißen, du willst kein Boxprofi werden? Du hast Wlad umsonst vermöbelt? Er hätte so ein Angebot nie ausgeschlagen!« Kurt Bück seufzte. »Jeder ist seines Glückes Schmied, nicht wahr?« sagte er. »Und mir schwebt anderes vor, als mein Glück in endlosen Prügeleien zu suchen.« Airplane klappte den Koffer zu, packte ihn am Griff und begab sich in Richtung Ausgang. »Was soll's«, sagte er. »Es gibt unzählige junge Leute, die mir für ein solches Angebot die Füße geküßt hätten. Sie gehören of fensichtlich nicht dazu.« »Ganz sicher nicht«, sagte Kurt noch, dann schlug die Tür hinter der Schmalzlocke zu. Er wandte sich an Hendrik. »Ich habe andere Vorstellungen von meiner Zukunft.« »Und wie sehen die aus?« »Ich habe ein Ideal. Ich will für die Menschheit kämpfen, damit nie wieder so etwas Furchtbares passiert wie ihre Versklavung durch die Giants.« Hendrik sackte rückwärts auf einen Stuhl. »Jetzt bist du wohl völlig durchgeknallt, was? Ich dachte, du wolltest nach deinem Abschluß Mysterious-Mathematik und Hyperphysik studieren. Willst du jetzt etwa zur GSO? Hat Laszlo dir diese Flausen in den Kopf gesetzt?« Kurt nahm den Arm des Freundes. »Ich will nicht zur GSO, ich will auf die Raumfahrtakademie. Ich will unseren Jungs helfen, wann immer es nötig ist, egal ob sie zur GSO oder zum Militär gehören. So eine Katastrophe wie die Giant-Invasion darf sich nicht wiederholen.« Hendrik starrte ihn fassungslos an. »Wie willst du das denn verhindern?« »Ich werde als Wissenschaftler an Entwicklungen arbeiten, die dafür sorgen, daß wir für unsere Feinde kein leichtes Opfer sind. Bessere Triebwerke, Hyperfunkantennen, Schutzschirme... denk nur an die Andruckabsorber der Raumschiffe. Westingburn in Texas hat schon lange vor der Giant-Invasion daran gearbeitet. Wä 36
ren sie rechtzeitig zu einem brauchbaren Ergebnis gekommen, hätte man unsere Schiffe damit ausrüsten und den Giants etwas entgegensetzen können.« »Du bist ein Träumer!« entfuhr es Hendrik. »Vielleicht, aber...« Er sprach es nicht laut aus. Es behagte ihm nicht, sich vor Hendrik so sehr zu öffnen. Er dachte es nur: Hätte es früh genug andere mit diesen Träumen gegeben, könnten meine Eltern noch leben! Er wandte sich wieder dem Spiegel zu und blickte hinein. Das Veilchen blühte tief violett. Kurt lächelte. »Ja«, murmelte er. »Ich werde einen super Abschluß machen und mithelfen, daß die Erde sicherer wird. Ich gehe auf die Raum fahrtakademie und werde Wissenschaftler.« Und kaum hörbar fügte er hinzu: »Das bin ich euch schuldig.« #
Schon bei seinem Eintritt spürte Generalmajor Farnham die ru hige und gemütliche Atmosphäre des Lokals. Es war nicht sehr groß, bot Platz für etwa dreißig Personen und war jetzt halb be setzt. Er hörte leise Gespräche und gelegentliches Gelächter. Ihm war sofort klar, weshalb die Elite aus Militär und Politik das »Los Morenos« zu ihrem Stammlokal gemacht hatte. Hier konnte man in mehr oder weniger privatem Kreis ungestört die wichtigen Fragen des Lebens erörtern. »Freut mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen«, wandte sich ein großer und kräftig gebauter Spanier an ihn. »Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie zum erstenmal hier.« Farnham blickte in dunkelbraune Augen und ein Gesicht, das kein Wässerchen trüben konnte. »Respekt, mein Freund, Sie scheinen Ihre Gäste gut zu kennen.« Der Spanier hob die muskulösen Arme. »Man tut, was man kann. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich bin mit Major MacCormack verabredet.« Ein Strahlen ging über das Gesicht des Spaniers. Er nahm Farn hams Rechte und schüttelte sie mit beiden Händen. »Ahhh, ein Freund von Ken ist natürlich auch unser Freund. Er erwartet Sie 37
bereits! Bitte folgen Sie mir!« Er machte kehrt und schlängelte sich durch die engstehenden Ti sche in den hinteren Bereich des Lokals. Ein Major der Raum flotte, pausbäckig und rothaarig, saß dort allein bei einer Flasche Rotwein. »Ken, dein Gast ist da!« sagte der Spanier, dann wandte er sich wieder an Farnham. »Was wünschen Sie zu trinken? Wenn Sie mich fragen, würde ich ihnen einfach nur zu einem zweiten Glas raten. Ken trinkt ein edles Tröpfchen!« »Ein Marques de Riscal, Rueda, würzig-trocken«, sagte der Major und erhob sich hinter seinem Tisch. »Gut«, meinte Farnham. »Ach ja, und ich möchte auch etwas zu essen. Bin schon den ganzen Tag unterwegs. Haben Sie eine Spe zialität des Hauses?« »Wie war's mit einem Tapas-Teller?« fragte der Spanier. Major MacCormack nickte eifrig. »Ja, den teilen wir uns, Jüan. Und danach nehmen wir die Paella Especial.« Der Spanier hob lässig die Finger und ging davon. MacCormack räusperte sich. »Ich habe schon gehört, daß sie dich nach Alamo Gordo versetzt haben, Chris«, sagte er und setzte sich wieder. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich weiter Chris nenne, oder? Trotz des neuen Lamettas.« Er deutete auf die Rangabzeichen. Farnham zog sich einen Stuhl heran. »Keineswegs, Kenneth. Wir haben weiß Gott genug zusammen erlebt...« »Wie hat Susan es denn aufgenommen?« fragte der Major. »Ich meine, daß ihr nach Alamo Gordo gezogen seid? Dürfte ein Schock für Sie gewesen sein, mitten aus dem tiefsten Afrika in die Hauptstadt der Welt versetzt zu werden!« »Sie ist froh darüber. Wir wohnen in einer hübschen kleinen Villa im Grüngürtel, und Ruby und Hillary besuchen jetzt eine hervorragende Schule.« »Ach ja, deine Töchter...« MacCormack verstummte, als Jüan ein Weinglas brachte, das er vor dem Generalmajor abstellte. Mit schwungvoller Geste schenkte er ein. »Danke«, sagte Farnham. Der Spanier nicke und ging wieder. »Weißt du, Kenneth, bei meiner Beförderung hatte ich ein sehr 38
interessantes Gespräch. Dabei wurde ich an die Sache vor zwei Jahren erinnert, an unseren Kampfeinsatz...« MacCormack blickte ihn erstaunt an. »Du sprichst darüber? Ich dachte, das unterliegt strengster Geheimhaltung. Wenn die Bevöl kerung erfährt, daß wir ihr längst nicht alle Gefahren verraten, die im Weltraum auf uns lauern...« »Ich spreche mit dir darüber«, sagte Farnham. »Ich habe nämlich einen Anschlag auf dich vor...« *
14. September 2054, Kolonie Deneb Wie vom Feind bestellt, prasselte heftiger Regen auf das Dach des Transportgleiters, als er einen halben Kilometer von der rät selhaften Stahlkuppel entfernt niederging. »Männer«, sagte Oberst Christopher Farnham, »ihr wißt, wie ernst die Lage ist. Die fremden Roboter haben unsere Kolonie hier auf Deneb IV voll in der Gewalt. Zum Glück konnten die Siedler rechtzeitig fliehen, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Blechbüchsen Verstärkung bekommen.« »Das lassen wir nicht zu«, zischte ein rothaariger Hauptmann mit einer Entschlossenheit, bei der seine Kameraden im Gleiter unwillkürlich zusammenzuckten. »Ganz recht, MacCormack«, sagte Farnham. »Die Kuppel vor uns scheint eine einzige große Antenne zu sein. Sie ermöglicht den Robotern die Kommunikation untereinander, während sie prak tisch per Fernsteuerung gelenkt werden - vermutlich von Intelli genzen außerhalb des Planeten. Wir müssen so nahe wie möglich heran und unsere Störsender plazieren.« »Dann nichts wie raus hier«, grollte MacCormack und wartete ungeduldig, bis sein Vorgesetzter aus der Besatzung zwei Einsatz trupps zusammengestellt hatte. »Sie übernehmen Trupp zwei, Hauptmann«, sagte Farnham. »Und vergessen Sie Ihren Sender nicht. Wir schlagen uns von beiden Seiten gleichzeitig zu der Kuppel durch. Einer von uns wird ihn schon aufstellen können.«
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MacCormack nickte, dann verschwand er im Regensturm, dicht gefolgt von seinem Trupp. Farnham tat es ihm nach. Ein Mann blieb zur Bewachung des Gleiters zurück. Zu ihrer Überraschung hatten sie die Stahlkuppelfast schon er reicht, bevor die Roboter reagierten. Dann geschah auf beiden Seiten das gleiche. Ein Ruck ging durch die mechanischen Leiber. Sie wandten ihre Köpfe den Ein satztrupps zu - und liefen los. »Jetzt geht's um die Wurst«, knurrte Hauptmann MacCormack und wies seinen Funker an, den Störsender aufzubauen und das Hyperfrequenzband abzusuchen. Seine Männer zielten und schössen im strömenden Regen mit Blastern und Strahlgewehren auf die heranstürmenden Roboter, fetzten ihnen Köpfe und Glieder ab, ließen die Energiezellen in der Brust explodieren... Doch immer mehr Roboter stürmten auf sie ein, der Vorrat schien unerschöpflich zu sein. Dann, mitten in der Bewegung, erstarrten die Blechleiber. Der Regen gischtete ungerührt weiter herab. »Ich glaube, ich spinne«, entfuhr es MacCormack. Er griff nach dem Funkgerät und rief seinen Vorgesetzten: »Oberst! Sieht's bei Ihnen genauso aus?« »Die Kerle rühren sich nicht mehr«, bestätigte Farnham. »Oberst Farnham!« meldete sich die Wache an Bord des Trans portgleiters. »Das müssen Sie sich anhören!« Gerade war auf normaler Komfrequenz eine Nachricht einge gangen, die mit größter Strahlungsintensität ständig wiederholt wurde. Farnham und MacCormack glaubten ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. »Hier spricht das Mutterschiff der Invasionsarmee Zippa-X. Unterlaßt die Zerstörung und Lähmung meiner Soldaten. Wenn nicht in Kürze die Funktionstüchtigkeit der Resttruppe wiederher gestellt wird, bestreiche ich den Planeten mit Nuklearbomben der Kategorie Daggar.« Oberst Farnham reagierte prompt. Er wies die Funker der Ein satztrupps an, die Frequenz zu ermitteln. Schon wenig später meldete einer von ihnen Erfolg. 40
»Ich verlange den sofortigen Abzug deiner Armee«, schrie der Oberst über das Jaulen des Regensturms hinweg ins Funkgerät in seiner Hand. »Außerdem sollen deine Roboter sich nicht mehr auf Planeten sehen lassen, die von Menschen bewohnt sind. Sonst setzen wir die Stör Sendungen fort und führen die völlige Vernichtung deiner Truppe herbei!« Es dauerte eine Weile, die ihnen wie eine halbe Ewigkeit er schien, bis auf Hyperfrequenz die Antwort eintraf. Das Mutter schifferklärte sich einverstanden. Farnham ließ die Störimpulse auflieben, und in die Roboter kam wieder Bewegung. Sie staksten in Richtung Stahlkuppel davon. Dieses sofortige Einlenken erstaunte ihn. Sie mußten einen Nerv getroffen haben. Vielleicht war die Kuppel ja ein besonders wichtiges Gerät? Plötzlich senkte sich ein Schatten durch die Regenwolken herab, ein mächtiges rundes Gebilde - eindeutig das Mutterschiff der un bekannten Aggressoren. Die Halbkugelantenne klappte wie bei einer aufgehenden Blüte in Form von zwölf trapezförmigen Gebilden nach außen, bis die Spitzen den Boden berührten. Dabei senkte sich der ringförmige Unterbau des Schiffs auf den Kragen. Die Roboter benutzten die trapezförmigen Bögen als Rampen. Einer nach dem anderen betraten sie taumelnd und kriechend in allen Stadien der Zerstörung durch zwölf Schleusen den mächtigen Lpib des Mutterschiffs. Als der letzte Roboter hinter einer flirrenden Energiewand ver schwunden war, stieg das Schiff langsam auf. Die aufgeklappte Kuppel wie einen Blätterkranz um die runde Schiffshülle geheftet, stieg es höher und höher - und zuckte plötzlich in die Regenwolken davon. »Raumkreuzer BOLIVAR, bitte kommen!« brüllte Oberst Farnham lautstark ins Funkgerät, während die beiden Trupps so schnell wie möglich zum Transportgleiter zurückkehrten. »Raumkreuzer BOLIVAR, melden Sie sich!« Der kleine Viphoschirm flirrte. Aus dem Lautsprecher tönte Sta-ük, ein häßliches Knistern und Rauschen, dann tauchte das bärtige Gesicht von Generalleutnant Slavoj Bolevi auf. 41
»Sir«, rief Oberst Farnham, »das Raumschiff, das Sie auf den Schirmen haben - setzen Sie Distanzortung ein. Es ist das Gehirn der Roboterarmee. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, daß es aus dem Deneb-System entkommt.« Bolevi hob ohnmächtig die Brauen. »Wir haben nichts auf den Schirmen, Oberst. Das Unwetter in Ihrer Region hat furchtbare Ausmaße angenommen. Es bedeckt fast den halben Planeten, bis weit über den Tagbereich hinaus. Die atmosphärischen Störungen lassen keine anständige Ortung zu!« Das Mutterschiff der fremden Roboter verschwand spurlos in den Tiefen des Alls. Seine Existenz blieb ein Geheimnis - außer für die Männer vor Ort und die höchsten Spitzen des Militärs. Die heimliche Suche nach den offenbar autarken und intelligenten Robotern, die noch Jahre andauern sollte, führte zu keinem Ergebnis. #
»Einen Anschlag?« echote Major MacCormack. Er nahm sein Glas Marques de Riscal und nippte daran, dann beugte er sich vor. »Da bin ich aber gespannt.« Generalmajor Farnham räusperte sich und schaute sich unauffällig um. »Die Sache mit dem geheimnisvollen Robotschiff hat uns eines gezeigt: Soldaten der Zukunft müssen hochintelligent sein. Habe ich recht?« MacCormack nickte. »Wir haben oft genug darüber diskutiert. Sie müssen die Logik mit Löffeln gefressen haben.« »So ungefähr«, lächelte Farnham. »Ein konventioneller Kampf gegen die Roboter hätte auf Dauer nur zu einem Gemetzel geführt und die Kolonie vermutlich nicht gerettet. Der Nachschub an An greifern war geradezu unerschöpflich. Nur durch das Stören seiner Kommunikationsfrequenzen konnten wir den Feind lahmen und zum Rückzug zwingen. Das hier«, er tippte sich an die Stirn, »hat uns vor Schlimmerem bewahrt.« »Sag bloß, das Oberkommando hat das jetzt auch eingesehen?« »Ganz recht.« Farnham nippte an seinem Rotwein. »Ich wurde mit dem Aufbau einer Truppe betraut, die im Weltraum und auf 42
der Erde gleichzeitig agieren und alle taktischen Aufgaben umge hend lösen kann.« »Wow, richtige Superhelden also. Wieviel Mann?« »Das Endziel ist Divisionsstärke.« MacCormack bekam große Augen. »Das haben die hohen Tiere sich ja fein ausgedacht.« Er blickte Farnham eindringlich an. »Hast du sie auf diesen Trichter gebracht?« Farnham winkte ab. »Ich habe entsprechende Vorschläge ge macht, mehr nicht. Aber egal, du wirst dich schon fragen...« »Warum du mir das alles erzählst?« MacCormack nickte. »Stimmt. Ich hatte zwar schon gehört, daß eine neue Truppe ge bildet werden soll und du irgendwie mit drinhängst, aber das war auch alles. Dann rufst du aus heiterem Himmel an und bittest mich um ein Treffen... wir haben uns seit dem Deneb-Einsatz nicht mehr gesehen. Mit Ausnahme von ein paar Wochen später, als man uns das neue Lametta umhängte...« »Wie gesagt, ich habe einen Anschlag auf dich vor. Wärst du bereit, das Ausbildungsprogramm für die neue Division zu ent wickeln?« MacCormack starrte ihn fassungslos an. Dann nahm er die Fla sche Marques de Riscal, schenkte Farnham und sich nach und hob das Glas. »Korpsgeist und Elitebewußtsein, jeder Soldat ein Wis senschaftler, nicht wahr?« »Mens sana in corpore sano«, wiederholte Farnham. »Ein ge sunder Geist in einem gesunden Körper - und das in höchster Vollendung.« »Das Oberkommando will also wirklich Superhelden. Schön, die soll es bekommen. Hast du schon eine Ahnung, woher wir die Of fiziere der ersten Stunde nehmen?« »Sie sollten kampferprobt sein und ihre wissenschaftliche Qua lifikation bewiesen haben - um die Sache ins Rollen zu bringen. Und künftig möchte ich nur noch solche Männer als Offiziere in der Truppe, die als einfache Soldaten angefangen haben. Ihre Aus bildung soll nicht in Schulen oder Universitäten, sondern parallel zum Dienst erfolgen. Das ist hart, aber die Leute müssen höchsten Belastungen standhalten können. Was wir wollen, ist die einzig wahre Elite - die Elite der Bewährung.« 43
MacCormack rieb sich nachdenklich das Kinn. Der spanische Kellner kam herbei und brachte den Tapas-Teller. Die beiden taten sich auf. »Ich weiß, was dir vorschwebt«, meinte der Major, »und ich lasse dich nicht hängen. Die Chance, eine Elitetruppe zu gründen, bekommt man nur einmal im Leben. Aber sie braucht einen identi tätsstiftenden Namen.« Generalmajor Farnham überlegte kurz. »Ich finde, die Unifor men sollten so schwarz sein wie das Weltall, in dem die Männer zu Hause sein werden.« »Dann ist ja alles klar«, sagte MacCormack und griff zum Be steck. »Ich habe den perfekten Namen.« »Und der wäre?« »Die Schwarze Garde.« *
Graue Augen, wallendes braunes Haar, ein schlanker Körper, eine Anmut, die sich in jeder Geste ausdrückte... Seit dem Boxkampf gegen Wladimir hatte sie keine Gelegenheit versäumt, Kurt auf sich aufmerksam zu machen. Wo er sich auf hielt, tauchte über kurz oder lang auch sie auf. Nun war Königstein bei Dresden nicht gerade ein Ort, an dem man sich mühelos aus dem Weg gehen konnte, doch es hatte ihn trotzdem gestört und die gelegentlichen Blickwechsel und ihr Lä cheln hatten ihn kaltgelassen. Bis heute nachmittag in »Eckis Salon«. Er wußte selbst nicht weshalb, doch er hatte seine Partie Billard unterbrochen, die er mit einem Jungen aus dem Dorf spielte, und ein Gespräch mit ihr angefangen. Zu seiner großen Überraschung war es nett und unbefangen verlaufen. Er hatte nicht erwartet, es mit so einer intelligenten und aufgeweckten Person zu tun zu haben, und begann sich nach einer Weile aufrichtig für sie zu interessieren. Sehr zum Verdruß seines Mitspielers, der lange warten mußte, bis Kurt mit den Worten zurückkehrte, daß er ihm den Sieg heute einmal schenken wolle. 44
Ihr Lächeln hatte ihn schließlich doch für sie eingenommen dieses hinreißende Lächeln. LauraDomrath! Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Stundenlang hatten sie miteinander geplaudert, bis sie meinte, jetzt nach Hause zu müssen, sonst fände er ja keine Zeit mehr fürs Lernen. Seine Abschlußprüfung stünde doch bevor. Wie gebannt hatte er ihr nachgeblickt. Als er jetzt mit seinem Smartomobil von der Straße in die Auf fahrt zum Internat abbog, hatte er das unbeschreibliche Gefühl, die Vergangenheit falle endlich von ihm ab, und alles wende sich zum Guten. Zum erstenmal seit Jahren lauerte weder Angst noch Unbehagen am Rand seines Bewußtseins - erfüllte ihn keine dumpfe Erinne rung an alptraumhafte Erlebnisse mehr - mußte er nicht an die Giant-Invasion und den schrecklichen Tod seiner Eltern denken... Übermorgen sehe ich dich wieder, dachte er, gleich nach meiner Abschlußprüfung. Er fuhr in eine Parkbucht, stieg aus und schlenderte zu dem weiten Platz hinter dem Hauptgebäude. Angelockt von der Abendsonne und dem für diese Jahreszeit recht milden Klima hatten sich um den Springbrunnen herum viele Schüler des Internats versammelt. Auch Hendrik und Wladimir standen dort, gleich neben Gustav Meintgen und einem pickeligen Blondschopf, der ständig an einer selbstgedrehten Kippe sog, während er ungeheuer wichtig auf Wladimir einredete. Kurt hatte die Begegnung mit seinem Freund seit dem Kampf eigentlich immer gemieden... Er faßte sich ein Herz und ging zu der kleinen Gruppe. »Hallo«, sagte er mit lässig erhobener Hand. Gustav drehte sich erstaunt um und sagte ebenfalls »Hallo«. Wladimir warf Kurt einen skeptischen Blick zu, schwieg jedoch. Von den gebrochenen Rippen hatte er sich wieder erholt, aber sein Stolz schien noch angeknackst zu sein. Er ließ sich weiter von dem Blondschopf beschwatzen. »Schau an, unser Boxchampion«, meinte Hendrik grinsend. 45
»Was zaubert denn dieses Lächeln auf deine Miene?« »Ich hatte eine schöne Begegnung.« Hendrik nickte und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Das glaube ich gern. Für die Mädels bist du ja jetzt der tollste Hecht im Karpfenteich.« »Komm, vergiß es.« Kurt winkte ab. »Du weißt doch, wie sehr mich solche Sprüche nerven.« Gustav stellte sich neben Kurt. »Ich würde mich nicht beschweren, wenn alle Frauen hinter mir her wären«, sagte er ehrlich entrüstet. »Graf Vlad sicher auch nicht.« Hendrik deutete mit dem Dau men zu dem Ukrainer, der so tat, als hörte er sie nicht, sondern zum Wortschwall des Blondschopfs nickte. »Seit du unseren Freund hier auf die Bretter geschickt hast, hatte er keine Chance mehr, seinen Liebesbiß einzusetzen. Dem Ärmsten stockt schon das Blut in den Augzähnen.« Kurt schwieg betreten, denn so witzig, wie Hendrik es darstellte, war das für Wladimir nicht. Er ließ die beiden stehen und ging zu ihm. Er faßte den Freund am Arm und unterbrach das Gespräch mit dem Blonden, der sich darüber furchtbar beschwerte. »Hör mal, Wladimir, wollen wir den Streit zwischen uns nicht endlich begraben?« Wladimir antwortete nicht gleich. Er warf dem Blonden mit der Selbstgedrehten einen flüchtigen Blick zu, als wolle er sich vor ihm keine Blöße geben. »Was für einen Streit?« meinte er dann. Sehr überzeugend klang das für Kurt nicht, doch er lachte und schlug Wladimir auf die Schulter. »Prima! Was hältst du davon, wenn wir jetzt zusammen noch ein wenig lernen? Wir müssen doch unter den Besten sein, damit wir uns einen Spitzenjob angeln können. Als künftige Physiker...« Wladimir lächelte ein wenig kläglich. »Aber nur, damit wir in der allgemeinen Wirtschaftskrise überhaupt Arbeit bekommen. Auch wenn es für das Raumkorps nicht reicht, Studieren ist besser als Nichtstun, stimmt's?« Kurt war erstaunt. Je näher der Moment der Prüfung rückte, 46
desto unsicherer schien der Ukrainer zu werden - als hätte die Nie derlage im Ring ihn mutlos gemacht. »Kumpel! Das packen wir schon!« sagte er. »Übermorgen zeigen wir denen, daß ein starker Wille Berge versetzen kann - dann steht uns die Welt offen.« Wladimir nickte, und etwas von Kurts Begeisterung schien auf ihn überzuspringen. »Hast recht. Warum sollte das Schicksal uns nicht auch einmal gewogen sein?« Kurt knuffte ihn an die Schulter. »Das ist der alte Kampfgeist, mein Freund. Komm, wir nehmen uns gleich die Fragebögen der letzten Jahre vor.« »Gegenvorschlag«, meldete sich Hendrik zu Wort. »So eine Prü fung zehrt doch an den Nerven. Da muß man ausgeruht sein. Wollt ihr euch vor dem Lernen nicht noch ein Viphoband reinziehen? Ich hab' da neulich eins ausgegraben - mit einem kleinen coolen Mann, der ständig einen zerknautschten Hut trägt, und einer hübschen Blondine auf dem Flugplatz. Spitzenmäßige Ab schiedsszene, sage ich euch!« »Nicht mit mir!« sagten Kurt und Wladimir wie aus einem Mund. Sie blickten sich verdutzt an, dann schlugen sie grinsend die er hobenen Handflächen aneinander. *
Ein gutes Dutzend Männer wartete schon im Vorzimmer der Meldestelle, als sie den kargen Raum mit den lederbespannten Rohrstühlen betraten. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte lagen ein paar zerfledderte Illustrierte. Reihum an den Wänden zeigten Bilder startende Raumschiffe. Kurt und Wladimir verzichteten darauf, sich zu setzen. Sie grüßten die Anwesenden kurz, dann stellten sie sich, die gezogenen Nummern in den Händen, ans einzige Fenster des zwanzigstöcki gen Neubaus im Südosten der Stadt und schauten auf Dresden hinaus. Die Aussicht war atemberaubend. Nur wenige verwüstete und geschwärzte Stellen zu beiden Seiten der Elbe erinnerten noch an 47
den schrecklichen Angriff, die meisten Gebäude waren schon wie derhergestellt. Die preußischen Truppen im Siebenjährigen Krieg, englische und amerikanische Bomberverbände im Zweiten Weltkrieg und vor fast sechs Jahren dann die Kugelraumer der Giants... es war, als fiele der Stadt die Wundheilung nach jeder weiteren Zerstörung leichter. Wenn die Erinnerung doch auch so schnell heilen würde! dachte Kurt. Sein Blick fiel auf die große Antenne der Hyperfunkstation des Raumhafens östlich von Radebeul. Er stieß Wladimir an und deutete grinsend dorthin. »Wenn es gelänge, ihre Reichweite zu erhöhen, könnte man sie zum Bestandteil eines Frühwarnsystems machen«, sagte er. »Dann könnte Dresden nie mehr einem Überraschungsangriff zum Opfer fallen.« Wladimir nickte, erstaunt über diesen Einfall. Eine knappe Stunde später zeigte das grüne Licht über dem Ein gang zur Meldestelle Kurts Nummer an, und sie betraten den mit Stahl und Plastik eingerichteten Raum. »Name?« fragte der dunkelhaarige Mittdreißiger, ohne den Blick von seinem Monitor zu nehmen. »Kurt Bück und Wladimir Jaschin«, sagte Kurt. »Wir haben ge rade unseren Abschluß gemacht.« Der Mann blickte auf. Ein Namensschild auf der rechten Uni formseite verriet, daß sein Name Peter von Ziemt lautete, ein Soldat im Rang eines Unteroffiziers. »Sie sollen doch einzeln herein kommen«, sagte er. »Wir haben die gleichen Absichten«, erwiderte Kurt. Der Blick des Unteroffiziers huschte zwischen den Freunden hin und her. »Verstehe«, sagte er und lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück, »Sie sind also Freiwillige. Welche Waffengattung schwebt Ihnen denn vor?« »Raumkorps«, sagte Kurt. »Wir wollen uns beim Korps bewerben und an der Raumfahrtakademie studieren. Mysterious-Mathe-matik und Hyperphysik.« Der Dunkelhaarige wiegte skeptisch den Kopf. »Ich nehme an, 48
Sie haben Ihre Zeugnisse dabei?« Kurt nickte und legte ihm seine Unterlagen vor, eifrig gefolgt von Wladimir. Von Ziemt blätterte sie durch und hielt auf der letzten Seite inne. »Gratuliere«, sagte er. »Ein glatter Einserdurchschnitt bei Herrn Bück und saubere l ,2 bei Herrn Jaschin. Normalerweise hätten Sie damit echte Chancen.« Er schaute hoch. »Nur haben wir leider keine normalen Zeiten. Wegen der Finanzkrise nimmt das Militär in diesem Jahr keine Bewerber für wissenschaftliche Förderplätze mehr an.« Kurt und Wladimir glaubten, sich verhört zu haben. »Keine... Förderplätze... ?« stammelten sie. Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Leider nein. Und es sieht auch nicht so aus, als würde sich die Situation in den nächsten Jahren ändern. Sie wissen doch, wieviel Geld die Flotte in Entwicklung und Produktion pumpt. Da mußten andere Budgets gestrichen werden. Darunter auch das Förderprogramm - es kam erst heute morgen durch.« Die beiden Freunde hörten es wie durch einen Nebel hindurch. Keine Förderplätze mehr... Programm gestrichen... heute morgen erst... »Möchten Sie vielleicht einer kämpfenden Truppe beitreten?« fragte der Unteroffizier. Wladimir starrte Kurt mit kalkweißer Miene an. »Nein danke«, hauchte Kurt, und Wladimir schüttelte den Kopf. Der Unteroffizier klappte ihre Unterlagen zu. »Schade«, sagte er und reichte sie Kurt, »dann kann ich nichts weiter für Sie tun.« Seine Anteilnahme klang aufrichtig. Wladimir und Kurt griffen nach ihren Papieren und gingen zur Tür. Sie wollten sie gerade öffnen, als von Ziemt auf einmal sagte: »Moment. Da fällt mir noch etwas ein.« Die beiden Freunde schlössen die Tür wieder. Von Ziemt stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Wissen Sie, in letzter Zeit brodelt die Gerüchteküche«, sagte er. »Angeblich soll eine Elitetruppe aufgestellt werden, die genau-soviel Grips wie Muskeln hat. Kämpf ende Wissenschaftler sozusagen. Wenn ich Sie mir so ansehe, könnten Sie dafür genau die 49
richtigen sein.« »Eine Elitetruppe?« »Ja, für heikle Fälle, eine, die überall die Kastanien aus dem Feuer holt. Harter Drill, wenig Ruhm und als Lohn der Angst vielleicht der Tod.« »Klingt wie ein Italo-Western«, meinte Wladimir. »Handeln die neuerdings auch im All?« Von Ziemt lächelte. »Ich verstehe Ihre Enttäuschung, aber mehr kann ich Ihnen nicht anbieten.« Kurt nickte. »Eine Spezialeinheit mit Köpfchen. Also wird auch eine wissenschaftliche Ausbildung geboten.« Er blickte Wladimir an. »Was meinst du? Es könnte jedenfalls nicht schaden, wenn wir uns informieren, oder?« Bevor Wladimir antworten konnte, eilte der Dunkelhaarige zu seinem Schreibtisch zurück und kramte in seinen Papieren. Er fand eine Folie und hielt sie mit der Linken hoch, wobei er sich mit der Rechten etwas notierte. Das beschriebene Blatt riß er ab und reichte es Kurt. »Das ist die Adresse, unter der man sich bewerben kann. Mehr weiß ich auch nicht. Versuchen Sie Ihr Glück.« Kurt schaute auf den Zettel. Eine Anschrift in Alamo Gordo. Er zeigte sie Wladimir und bedankte sich bei dem Mann, dann verließen sie das Büro der Meldestelle. »Ich drücke Ihnen die Daumen«, rief von Ziemt ihnen durch die sich schließende Tür nach. Als sie den Warteraum durchquerten, warf Kurt unwillkürlich einen Blick durchs Fenster zu der großen Hyperfunkantenne im Nordosten von Dresden. Allem Anschein nach war es mit seinem Glück doch nicht so weit her. Die technische Revolution, die sein Genie auslösen könnte, mußte noch warten.
Heeresbelange, Feldwebel Jannis Kaunas, Alamo Gordo«, stand auf der Rückseite. Er hatte tatsächlich eine Antwort bekommen. Aufgeregt riß er den Umschlag auf und zog ein Schreiben heraus, das er rasch überflog. Es waren nur wenige Zeilen, doch sie jagten ihm eine Hitze woge durch den Körper. Er griff noch einmal in den Umschlag und fand die beiden Flugkarten. Sie waren auf den 2. November 2056 ausgestellt. Die Angabe in dem Begleitschreiben stimmte. Morgen! Sie würden schon morgen aufbrechen! Kurts Gedanken überschlugen sich, als er den Weg von der Poststelle des Internats zu seinem Zimmer zurücklegte. Er mußte sofort seinem Freund Bescheid geben. »Wlad!« rief er, als er die Tür auf stieß. »Gute Neuigkeiten! Wir werden verreisen!« Der Ukrainer lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in seinem Bett und frönte der Schwermut. »Du vielleicht - ich nicht!« Seit er wußte, daß das Militär keine Förderplatze mehr vergab, war er in dumpfes Brüten versunken und fragte sich, was beruflich aus ihm werden sollte. »Spiel jetzt nicht toter Mann!« rief Kurt und wedelte mit den Flugkarten vor Wladimirs Gesicht herum. »Schau dir lieber das hier an. Unser Ticket in die Zukunft!« Der Ukrainer schwang seine Beine über den Bettrand und riß ihm die Karten aus der Hand. Er hatte seine ganze Hoffnung auf die Spezialeinheit gesetzt, was er aber nie zugegeben hätte, nicht einmal vor seinem besten Freund. Jetzt starrte er auf den Begleitbrief, den Kurt ihm hinhielt schaute wieder die Karten an. »Billigste Klasse«, murrte er, mußte aber doch lächeln. »Dann wollen wir mal packen.«
*
Vierzehn ereignislose Tage vergingen. Doch dann kam ein Brief, der Kurts Leben verändern sollte. Er konnte es kaum fassen, als er das Schriftstück in Händen hielt. »Versorgungsstelle für 50
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3. Sechs Stunden dauerte der Flug mit dem Linienjett nach New Mexico am Westrand der Sacramento Mountains, sechs Stunden durch finstere Nacht, bis endlich am Horizont, in den Dämmer künstlichen Lichts gehüllt, auf einer weiten Fläche von zwanzig mal fünfundzwanzig Kilometern die Umrisse von Hangars und Raumschiffen sichtbar wurden. Cent Field, der größte Raumhafen von Terra! Und gleich dahinter funkelte wie tausend Diamanten, die jemand auf samtener Schwärze ausgeschüttet hatte, das Profil von Alamo Gordo, der Hauptstadt der Welt. Kurt und Wladimir spürten ihre Müdigkeit nicht, als sie das An kunftsgebäude verließen. Ihr Traum war in greifbare Nähe gerückt. Ein Jett-Taxi brachte sie an Raumjägern und Großschiffen vorbei ins Zentrum der Riesenstadt. Zu den Sternen! schoß es ihnen durch den Sinn. Auch wenn wir keine Wissenschaftler werden können, dem Lockruf der Ewigkeit kann sich niemand verschließen! Es war noch stockfinster, als sie das Hotel erreichten, in dem ein Doppelzimmer für sie reserviert war. Sie verstauten ihre Siebensa chen und legten sich für zwei Stunden hin. Beim Erwachen begrüßte sie ein herrlicher Spätherbstmorgen, der strahlenden Sonnenschein ins Zimmer ließ. Laura! dachte Kurt. Was wird jetzt aus uns beiden? Wenn ich genommen werde, wird es schwer für uns. Er schob den Gedanken an seine Freundin beiseite, an ihre grauen Augen, das braune, wallende Haar... Eine ganze Welt erwartete ihn, ein ganzes Universum! Kurz darauf betraten sie das hohe Regierungsgebäude, das mit seinen vierzig Stockwerken den Stadtkern prägte, und gingen scheinbar als einzige zu dieser frühen Stunde durch den Flur eines schmucklosen Bürotrakts. Vor einer Tür, neben der auf einem Plastikstreifen »Feldwebel Jannis Kaunas« stand, blieben sie stehen. 52
Kurt klopfte an. Jemand sagte: »Herein!« Nach einem raschen Blick zu Wladimir öffnete der junge Deutsche die Tür. Sie betraten einen winzigen Raum, in dem sich die Akten bis zur Decke stapelten. Nirgends gab es ein Fenster, durch das Licht ge fallen wäre, oder ein Bild, das etwas Frohsinn in diese karge Stube gebracht hätte. »Womit kann ich dienen?« schnarrte ein Muskelpaket auf zwei Beinen hinter einem Schreibtisch, der von Monitoren, Viphos und Folienprägern überquoll. Die schiere schlummernde Energie des Mannes brachte das kleine Zimmer fast zum Bersten. Der haarlose Schädel des Bullen auf zwei Beinen verstärkte noch den Eindruck unbändiger Kraft. »Wir sollten uns hier einfinden«, sagte Kurt ein wenig unsicher. »Pünktlich um acht Uhr morgens.« Er reichte dem Feldwebel sein Schreiben. Der Mann warf einen Blick darauf und grinste. »Ihre erste Probe hätten Sie somit bestanden«, meinte er. »Ist für Sie schließlich noch nachtschlafende Zeit, nicht wahr?« Kurt und Wladimir lachten hilflos. »Wenn sich jetzt einer von Ihnen bitte entfernen möchte. Seine Papiere kann er ja hierlassen.« Er wedelte mit der Hand. »Ich würde Sie mir gern einzeln zur Brust nehmen.« Die beiden Freunde nickten und schauten einander an. Wladimir legte seine Mappe mit Dokumenten auf den Schreibtisch und verließ das Zimmer. Auf eine entsprechende Geste hin setzte Kurt sich auf einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und wartete, bis sein Gegenüber eine amtlich wirkende Folie überflogen hatte. »Also«, begann Jannis Kaunas, »dann erzählen Sie mir einmal, warum Sie unbedingt in unsere Einheit wollen.« Kurt schilderte den Tod seiner Eltern, seine Aufnahme ins Internat und den Wunsch, der Erde als Wissenschaftler zu dienen. »Es steht eigentlich schon alles in dem Brief, den ich Ihnen geschrieben habe.« »Aber jetzt melden Sie sich für den Dienst an der Waffe, das ist ein kleiner Unterschied«, meinte der Feldwebel und ließ sich er klären, was Kurt mit der neuen Elitetruppe verband. »Sie wollen der Menschheit helfen?« fragte er. »Ihnen ist doch 53
klar, daß es Situationen geben könnte, in denen sie Menschen töten müssen?« »Das Wohl aller«, erwiderte Kurt, »ist ein höheres Wohl, das man nie aus den Augen verlieren darf.« »Jugendliche Schwärmerei.« »Ich habe nur gelernt, abzuwägen. Erzählen Sie mir nichts von Gut und Böse, es gibt nur einen Weg dazwischen, aus dem man nicht unbedingt als Engel hervorgeht.« »Sollte man nicht jederzeit für das Gute eintreten?« »Das Gute ist ein Idealzustand, den niemand ganz erreichen kann. Kein Mensch und keine Institution.« »Wie wollen sie der Menschheit dann helfen?« »Durch Stärkung dessen, was sie auf den richtigen Weg bringt. Der richtige Weg muß nicht immer gut sein, vielleicht ist er mit Leid und Tränen verbunden. Trotzdem gibt es keine Alternative dazu, weil das Wohl der Gesamtheit auf dem Spiel steht - aller Menschen auf allen besiedelten Welten.« »Verstehe.« Kaunas nickte. »Leicht angreifbar, so eine Philoso phie, finden Sie nicht?« »Warum?« fragte Kurt. »Niemand ist so weise, daß er unter Berücksichtigung aller Fak toren stets richtig handelt.« Kurt grinste breit. »Da gibt es ein ganz einfaches Mittel, ein simples Korrektiv.« »Und das wäre?« wollte Kaunas erstaunt wissen. »Demokratie.« »Natürlich«, lachte Kaunas, »die Kontrolle aller durch alle.« Sie sprachen noch über vieles, von der politischen Lage bis zur persönlichen Lebensplanung. Über abstrakte Werte wie Liebe, Treue und Pflichtgefühl. Über Ren Dharks Erfolge bei der Suche nach den Mysterious. Sie fragten sich, ob es den Aufwand lohne. Ob man Geheimnissen nachspüren müsse, die zu Kämpfen und Toten führten, ob es nicht besser sei, sich mit dem Schutzschirm der Nogk um die Erde zu begnügen... »Warum fragen Sie mich das alles?« sagte Kurt schließlich. »Das sind individuelle Einschätzungen. Mein fachliches Wissen haben Sie überhaupt nicht geprüft.« 54
Kaunas gähnte und streckte die Arme in die Höhe. Kurt kam zum erstenmal der Verdacht, daß der Feldwebel vielleicht die ganze Nacht hier verbracht hatte, um den Aufbau der neuen Elite truppe voranzutreiben. »Wissen«, sagte Kaunas nach einer Weile, »kann sich jeder Trottel aneignen und die eingepaukten Daten abspulen, wie es ihm beliebt. Aber wir wollen keine blökenden Schafe und auch kein Kanonenfutter. Wir wollen Männer mit Rückgrat, die eine Vision haben. Unsere Vision.« »Wir sollen die Vision der Flotte teilen?« »Natürlich, aber aus freien Stücken... aus der Überzeugung heraus, daß es die richtige ist.« Kurt merkte es kaum, als er den Raum verließ, so tief war er in Gedanken versunken. Er blickte Wladimir kurz an, der verdutzt an ihm vorbeiging und Kaunas' Büro betrat. Eine halbe Stunde verging, bis er wieder herauskam, fast die gleiche Zeitspanne, die Kurt mit dem Feldwebel verbracht hatte. Er sah Wladimir an, daß er nicht weniger verblüfft war. »Ich fasse es nicht«, hauchte der Ukrainer. »Eigentlich hat er doch recht, nicht wahr?« meinte Kurt. »Lernen kann jeder Affe - aber was macht er schon aus dem Ge lernten?« *
Sein Freund hatte keine Gelegenheit, ihm zu antworten, denn im gleichen Moment öffnete sich eine Tür neben dem Büro des Feld webels. Ein Endfünfziger mit grauem Haar und weißem Kittel trat heraus, ebenso fleckig wie der Schlips, den er darunter trug. Der Mann wirkte leicht zerstreut und blickte den Flur auf und ab, dann kam er auf sie zu. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie Herr Bück und Herr Jaschin sind?« erkundigte er sich. Die beiden nickten. »Wenn Sie mir bitte folgen möchten. Ich soll sie auf Ihren ge sundheitlichen Zustand überprüfen.« Er ging voraus und führte sie in einen Untersuchungsraum. 55
Ohne weitere Umschweife begann er mit seinen Tests. Irgendwann entschuldigte er sich, weil er seinen Namen nicht genannt hatte: Tschekow, Dr. Daniil Tschekow. Neurologe aus Kasachstan, seit 2053 im Militärdienst. Wladimir war wie elektrisiert. Während er mit Elektroden gespickt auf dem medizinischen Heimtrainer neuen Rekorden entgegenradelte, begann er auf rus sisch mit dem Arzt zu plaudern. »Was redet ihr da?« wollte Kurt wissen. Wladimir plauderte weiter. Er schien es zu genießen, sich endlich wieder seiner Muttersprache bedienen zu können. Doch Dr. Tschekow wirkte einsilbig. Kurt gewann den Eindruck, daß sein Freund den Arzt aushorchte. Plötzlich stockte der Ukrainer. »Er sagt, wir sind so gut wie ge nommen.« Kurt begriff erst gar nicht, was er meinte. Dann durchfuhr es ihn siedend heiß. »Genommen? Bei der Truppe?« Er wandte sich an den Arzt. »Wie kommen Sie darauf? In dem Gespräch, das wir mit dem Feldwebel führten, ging es doch überhaupt nicht um Qualifi kationen.« »Herr Kaunas hat mich angerufen, sobald Ihr Freund sein Büro verließ«, sagte Dr. Tschekow, »und sich sehr positiv geäußert. Er fällt seine Urteile immer gleich im Anschluß an seine Gespräche. Wenn mein Befund günstig ausfällt, steht Ihrer Einberufung nichts mehr im Weg.« Kurt hätte gern gejubelt, konnte es aber nicht so recht glauben. Er glaubte es selbst dann noch nicht, als sie mit ihrer Unterschrift bestätigten, daß sie beide für eine Sondereinheit der Terranischen Flotte ausgebildet werden sollten. Dr. Tschekow, der durch Wladimirs Plaudereien ein wenig auf getaut war, brachte sie unter schwärmerischen Schilderungen seiner Heimatstadt Alma-Ata einige Stockwerke tiefer. Kurt ging davon aus, daß ihnen weitere Untersuchungen bevorstanden. Er drückte die Mappe mit seinen Bewerbungsunterlagen und dem ärztlichen Gutachten fest an seine Brust. Als sie einen Rollsteig betraten und durch eine Glasröhre das Gebäude wechselten, wurde ihm klar, daß sie zu einem großen 56
Hangar unterwegs waren, einem Fuhrpark, der fast das gesamte Stockwerk auf halber Höhe des zweiten Gebäudes einnahm. Im klaren Herbstlicht der Morgensonne sah er hinter dem Glas der Röhre die Fronten mehrerer Jetts glänzen. Dr. Tschekow passierte mit ihnen eine Sicherheitsschleuse, bog links in einen Flur ab und klopfte an eine Tür. Bei ihrem Eintritt sprang ein Mann auf, versteckte rasch ein Lesegerät unter einem Stapel Folien und schnappte sich seine Mütze. Er wechselte einige Worte mit dem Arzt und nickte. Tschekow verabschiedete sich von ihnen, besonders herzlich von Wladimir, und überließ sie ihrem neuen Führer, einem einfa chen Gefreiten. Der brachte sie durch weitere Flure in einen Be reich des Hangars, der für kleinere Jetts reserviert war, die höchstens vier Personen faßten. Kurt war so verblüfft über die Präzision, mit dem im organisatorischen Netzwerk des Militärs ein Rädchen ins andere griff, daß er erst wieder zu sich fand, als er mit Wladimir den Jett betrat. »Wohin fliegen wir?« fragte er den Mann, der sich an ihnen vorbei in den Pilotensitz zwängte. »Wir haben noch einige Sachen im Hotel. Niemand hat uns gesagt, daß wir nicht mehr dorthin zu rückkehren werden.« Der Mann drehte sich auf dem Sitz um. »Die holen wir unterwegs ab«, sagte er. »Ich habe Order, Sie auf schnellsten Weg zur Mescalero-Kaserne in den Bergen zu bringen. Wenn Sie mich fragen, sind die Schleifer schon ganz heiß darauf, sich mit Frischfleisch zu vergnügen.« Dann überprüfte er die Kontrollen. Kurt und Wladimir waren entsetzt über das fiese Grinsen des Piloten. Sie fühlten sich völlig überrumpelt. *
Gleißend brach sich das Sonnenlicht in den Scheiben des Jetts, als das Verkehrsleitsystem von Alamo Gordo sie auf die erforder liche Flughöhe brachte. Ihr Gepäck lag auf dem freien Sitz des Kopiloten, der Zwischenstop im Hotel hatte nur wenige Minuten gedauert. Jetzt war hellichter Tag, und Kurt und Wladimir bot sich 57
ein Anblick, welcher der Faszination des juwelengeschmückten Nachthimmels bei ihrer Ankunft in nichts nachstand. Südwestlich der terranischen Hauptstadt erstreckte sich ein weißer Ozean, auf dem die Schaumkronen so echt wirkten wie die felsigen Ufer, an denen die Wogen zerstäubten. Eingefaßt von den Sacramento Mountains im Osten und einer schmalen Bergkette im Westen breitete sich vor ihren Augen ein funkelndes Dünenmeer aus. »Die Weiße Wüste«, sagte der Pilot, als er im Rückspiegel ihre staunenden Blicke bemerkte. »Davon habe ich schon gehört«, murmelte Wladimir. »Ist das nicht das größte Gipslager der Welt?« Der Pilot nickte. »Ursprünglich handelte es sich um ein Tal, in dem sich Kalk und Sandstein ablagerten. Wir nennen es heute das Tularasa-Becken. Das geschah im Perm, der jüngsten Formation des Erdaltertums, vor 250 Millionen Jahren, zu einer Zeit, als die ersten Reptilien entstanden - fast 50 Millionen Jahre vor dem Auf treten der Säugetiere.« »Habe ich gerade Gipslager gehört?« fragte Kurt. Der Pilot speiste eine Folie ein und überließ den Jett der Auto matik. Lächelnd drehte er sich um. »Gips ist ein natürlich vorkommendes Mineral«, sagte er, »eine Mischung aus Kalziumsulfat und Kristallwasser. Im Perm füllte sich das Tal Hunderte von Metern tief mit Kalk und Sandstein, getrennt durch dicke Schichten Gips. Unten lagerte reichlich Wasser, das zum Teil von den Sacramentos und San Andres Mountains herabfloß«, er deutete auf die schmale Bergkette im Westen. »Kalk und Sandstein sind nicht wasserlöslich, aber Gips schon. Als das Wasser stieg, schwemmte es die löslichen Schichten mit sich und spülte Gips an die Oberfläche, wo er austrocknete und verwehte.« Wladimir nickte. »Er bedeckt jetzt über 500 Quadratkilometer, nicht wahr?« erinnerte er sich. »Allerdings«, sagte der Pilot mit einem gewissen Stolz. »Und die Dünen werden bis zu fünfzehn Meter hoch.« Wie gebannt starrten Kurt und Wladimir auf die Weiße Wüste hinab. Sie merkten kaum, daß der Jett immer höher stieg, je näher 58
sie den Sacramento Mountains kamen. Erst als sie einen dicht be waldeten Felsvorsprung passierten, der ihnen den Blick nahm, er wachten sie wie aus einer Trance. »Ist es noch weit?« fragte Wladimir. Der Pilot schüttelte den Kopf und schaltete wieder auf Hand steuerung. »Ein paar Flugminuten noch, dann haben wir die Mescalero-Kaserne erreicht.« »Wieso heißt sie so?« Der Pilot blickte ihn im Rückspiel an. »Das nördliche Drittel der Sacramento Mountains und die Hälfte der Ostseite ist ein Indianer reservat. Dort leben die Chiricahua, besonders hartnäckige Kämpfer, zusammen mit den Mescaleros und Resten der Lipan. Beantwortet das Ihre Frage?« Wladimir nickte und schnitt eine Grimasse, als der Pilot wieder durch die Frontscheibe schaute. Sie stiegen an einer Felswand weiter nach oben - und sahen plötzlich auf eine Art Ebene hinaus. Mehrere langgestreckte Gebäude bedeckten hufeisenförmig den hinteren Bereich, zur Mitte des Plateaus hin geöffnet. Die vorderen zwei Drittel, über die hinweg sich ihr Jett der Kaserne näherte, bil deten weitläufiges Übungsgelände, das sich bis in die Berghöhen hinauf fortsetzte. Kurt betrachtete die klapprigen Häuser, die hinter einem breiten Felsgürtel standen. Er sah Mündungsfeuer und Personen, die sich durch Türen warfen, aus Fenstern und von Dächern sprangen Soldaten, die abenteuerlichste Akrobatik zeigten, und das in zwei tausend Metern Höhe. Sie trainieren den Häuserkampf! wurde ihm klar. Gleich darauf setzte ihr Jett in der Mitte des Hufeisens auf. Ein Begrüßungskomitee hatte sich versammelt, und Kurt wollte sich schon geehrt fühlen, als er sah, daß in einem Unterstand einige weitere Dutzend Rekruten noch immer darauf warteten, daß man sich um sie kümmerte. Sie standen mit Sack und Pack in der mor gendlichen Kälte. Waren sie in der Nacht hergebracht worden? überlegte Kurt, und ihm fiel ein, wie übermüdet Jannis Kaunas trotz seiner über fordenden Energie gewirkt hatte - so, als habe er schon seit Stun 59
den gearbeitet. Sicher sollte er so schnell wie möglich eine einsatz fähige Truppe zusammenstellen. Sie verließen den Jett, das Gepäck geschultert, und gingen auf zwei Männer zu, einen Feldwebel und einen Unteroffizier, die ihnen energisch die Hand schüttelten. »Willkommen bei den Mescaleros«, sagte der Feldwebel, dann strömten auf einen Wink des Unteroffiziers hin die wartenden Re kruten herbei, nahmen in Reih und Glied Aufstellung und lauschten den Klängen des Blasorchesters, das sich auf der anderen Seite des Jetts postiert hatte. Eine Flagge wurde gehißt, ein schwarzes Banner mit weißem Kreis, der für Kurt eindeutig einen Ringraumer symbolisierte. Von rechts oben nach links unten rieselten zahlreiche Sterne durch den Kreis, die zusammen die Anzahl der irdischen Staaten bildeten. Das Bild hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Milchstraße. Ein Symbol der Einheit! dachte Kurt. Die Uniformierten stellten sich vor ihnen auf. Der Feldwebel, ein blonder Hüne mit Schnauzer, verschränkte die Arme auf dem Rücken und räusperte sich. »Es freut mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen«, donnerte seine tiefe Stimme über den Platz. »Mein Name ist Feldwebel Derek Raimundsen, ich bin für die Dauer der Grundausbildung für Sie zuständig. Im Moment möchte ich keine großen Worte machen. Es ist kalt, und Sie sind übernächtigt. Ich möchte Ihnen nur ans Herz legen, den Anordnungen von Unteroffizier Franticeff und seinen Männern genauestens Folge zu leisten. Sie werden Sie gleich auf ihre Stuben bringen. Richten Sie sich ein, aber behalten Sie Ihre Fragen für sich. In einer Stunde finden sie sich in der Kleider kammer ein, eine halbe Stunde darauf treffen wir uns hier wieder. Dann dürfen Sie sich auf einen Überraschungsgast freuen, der Ihnen erklären wird, worauf Sie sich eigentlich eingelassen haben.« Er grinste und wandte sich an Franticeff. »Unteroffizier, bringen Sie die Rekruten auf die Stuben.« Franticeff, ein kleiner drahtiger Mann mit Haarkranz, salutierte und machte auf dem Absatz kehrt, dann ging er zackig auf das linke hintere der fünf Gebäude zu, die das Hufeisen bildeten. Die Rekruten folgten in einer langen Schlange, in die sich auch Kurt 60
und Wladimir eingliederten. Als sie das Gebäude erreichten, einen weiß getünchten Plattenbau mit Flachdach, das mit unzähligen Antennen gespickt war, wurden sie in vier Gruppen zu je einem Dutzend Personen unter teilt. Gefreite brachten sie ins Innere, ein Stockwerk höher und führten sie in einander gegenüberliegende Flure, von denen graue Türen abgingen. Ehe Kurt und Wladimir sich versahen, standen sie mit zwei weiteren Rekruten mitten in einem kleinen Raum mit Feldbetten und Metallspinden an den Wänden und einem auf den Exerzierplatz weisenden Fenster. »Ich nehme die Koje hier«, sagte Wladimir, wandte sich nach links, und schon hatte er sein Gepäck daraufgeworfen und sich ge setzt. Kurt ging ein paar Schritte auf das Fenster zu und nahm das Bett neben Wladimir. Als er sich setzte und leicht einsank, über kam ihn furchtbare Müdigkeit. »Ich bin Rafael Carrion.« Eine Hand wurde ihm unters Gesicht gestreckt. Als Kurt aufblickte, zog der andere sie wieder zurück und deutete mit dem Daumen auf eine schmächtige Person, die sich etwas im Hintergrund hielt. »Und das ist mein Kumpel An toku Seiwa. Hat ganz den Anschein, als teilten wir uns in nächster Zeit diese Stube.« Der Sprecher war ein schlaksiger junger Mann mit schwarzen Haaren und dünnem Oberlippenbart. Seine braunen Augen lächelten, als er Kurts Blick begegnete. »Haben uns mächtig die Beine in den Leib gestanden, mein Kumpel und ich. Ihr beide wart die letzte Fuhre, als es schon hieß, wir wären komplett. Mußten noch mal eine halbe Stunde warten.« »Tut mir leid«, sagte Kurt und erhob sich. »Habt ihr euch auch freiwillig gemeldet?« »Wir sind hier alle Freiwillige, aus aller Herren Länder, stimmt's, Antoku?« Er drehte sich zu seinem Freund um. Als dieser nickte, wandte er sich wieder an Kurt. »Er kommt aus Japan. Das Militär hat überall in einer großangelegten Flüsterpropaganda für diese neue Einheit geworben. Mann, jeder, der ein bißchen Grips hat, mußte sich doch bewerben. Und Grips haben wir, stimmt's, Antoku?« Kurt lächelte. Carrions glattes, zurückgekämmtes Haar und der 61
dunkle Teint verrieten, daß er Puertoricaner war. »Wart ihr vorher schon beim Militär?« mischte sich Wladimir ein. Er stand von seinem Bett auf und schüttelte dem Stubenkame raden die Hand. »Bevor ich's vergesse, nennt mich Chico.« Wladimir und Kurt nickten und stellten sich ebenfalls vor. »Schau an«, meinte Chico, »zwei Frischlinge also, geradewegs vom Internat. Was mich angeht, ich war vorher Heizer auf einem Raumpott.« Er grinste breit und genoß sichtlich die verdutzte Miene der beiden. »Er meint, er war Zweiter Ingenieur an Bord eines Raumkreu zers«, warf der Japaner ein. »Sein Boß hält große Stücke auf ihn und hat ihn für diese Truppe empfohlen.« »Du warst schon in der Flotte tätig?« entfuhr es Wladimir. Chico nickte. »Aber nicht gerade in vorderster Front, weißt du? Meine selige Mutter sagte immer: >Lern was Handfestes, mein Sohn, dann kannst du immer auf etwas zurückgreifen.< Also habe ich Raumfahrttechnik studiert und wurde auf die ORFEO gesteckt. Aber Magnetflaschen und Plasmafelder sind nichts für mein Kämpferherz.« Er stocherte mit zwei Fingern auf sein Gesicht ein. »Ich will dem Feind in die Augen sehen.« Wladimir lachte unsicher. »Genug geplaudert«, sagte Kurt, »um Punkt zehn sollen wir in der Kleiderkammer sein. Nutzen wir die restliche Zeit, um uns einzurichten.« »Korrekt«, sagte Chico und hob den Daumen. Sie brauchten nicht sehr lange, um ihre wenige Habe im Spind zu verstauen, und so setzten Wladimir und Kurt sich bald auf das Bett an der Außenwand und schwatzten noch eine Weile mit Chico und Antoku, die auf zwei Stühlen an einem kargen Tisch unter dem Fenster Platz nahmen. Der Japaner besaß von ihnen allen die meiste Erfahrung. Er und Chico kannten sich erst seit gestern, stellte sich heraus, sie waren einander vor Kaunas' Büro begegnet. Während der Wartezeit und auf dem Flug hierher hatten sie sich angefreundet. Obwohl erst zwanzig, hatte Antoku schon fünf Jahre lang als Geschützführer auf einem Raumkreuzer gedient. 62
Der Kampf an vorderster Front hatte für ihn nichts Romantisches mehr - durch die Invasion der Giants. »Ich habe gesehen, welches Grauen der Krieg bringt«, sagte er, »und mir geschworen, alles zu tun, damit sich so etwas nicht wie derholt. Nie mehr sollen unschuldige Menschen unter einem sol chen Wahnsinn leiden müssen.« Kurt nickte. »Das verstehe ich gut.« Wladimir deutete auf seine Frugatti-Swatch. »Bloß noch fünf Minuten, Freunde, dann schiebt jemand unsere Strampelhöschen über die Theke. Wäre peinlich, wenn niemand da ist, um sie in Empfang zu nehmen.« *
»Tempo! Tempo! Nicht so lahmarschig, ihr Kanaillen! Das hier ist kein Sonntagsausflug!« Der Umgangston hatte sich entschieden geändert, stellte Kurt grimmig fest, als er an Unteroffizier Franticeff vorbei zum Jettlan deplatz joggte. Vor und hinter ihm liefen vier Dutzend weitere Personen, deren graue, schmucklose Kombis sie als einfache Re kruten auswiesen. Frischfleisch, erinnerte sich Kurt. Der Pilot, der sie aus Alamo Gordo hierherbrachte, hatte also recht gehabt. Jetzt begann der Ernst des Lebens. Er wandte sich beim Laufen um und zwinkerte Wladimir zu, der die Augen verdrehte. Das Gesicht des Freundes wirkte ausgezehrt. Wie sein eigenes, vermutete er. Sie hatten diese Nacht nur wenig geschlafen, der Rüg war anstrengend gewesen, und nun wurden sie ohne Atem pause gleich in die Ausbildung getrieben. Er bekam zum erstenmal eine Ahnung davon, was es bedeuten könnte, sich beim Militär beworben zu haben. »Ihr wollt Mescaleros werden? Dann geben wir euch jetzt die Gelegenheit dazu!« brüllte Franticeff. Einen Spitznamen haben wir also auch schon weg, dachte Kurt. Was wohl die echten Mescaleros davon halten? Die Entfernung bis zum Landeplatz betrug gut zweihundert Me 63
ter, aber das in knapp zweitausend Metern Höhe, und als sie endlich Aufstellung nahmen, rang Kurt schon heftig nach Luft. Wladimir stemmte die Rechte in seine Seite, vermutlich hatte er Seitenstechen, und ein Blick in die Runde verriet Kurt, wie schwer sich alle taten. »Also, Männer!« Unteroffizier Franticeff baute sich vor ihnen auf. Er trug jetzt eine Mütze, die seine Glatze bis zum Ansatz des Haarkranzes bedeckte. »Schwenkt um, Augen geradeaus und keinen Mucks, bis ich es erlaube!« Ein Scharren und Schlurfen erklang, als sich fünfzig Mann auf der Stelle umdrehten. Sie sahen Feldwebel Raimundsen am Rand des Landeplatzes stehen, nur wenige Meter entfernt, dem Plateau zugewandt. Anscheinend hatte er sich aus dem Gebäude rechts mit der großen Hyperfunkantenne genähert. Kurt überlegte noch, worauf sie eigentlich warteten, als ein leises Brummen erklang. Erst konnte er es nicht einordnen, dann stieg auf der anderen Seite des Plateaus ein Jett über eine Klippe. Ihm blieb vor Staunen fast der Mund offen stehen, als er die Person auf dem Pilotensitz erkannte. Jannis Kaunas! Was will der denn hier? Ich dachte, er ist bloß ein Bürohengst. Neben ihm saß reglos, den Blick nach vorn gerichtet, eine stämmige Gestalt in Uniform, rothaarig und mit ausgeprägtem Kinn. Kurt hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Jett setzte auf. Kaunas öffnete die Tür und ließ seinen Fluggast von Bord, dann folgte er ihm. Der Fremde trug die Abzeichen eines Majors. Sie gingen nebeneinander auf Feldwebel Raimundsen zu, der zackig salutierte. Gespanntes Schweigen legte sich über die halbe Hundertschaft, als der Major und die beiden Feldwebel nach einem kurzen Ge spräch auf die wartenden Rekruten zuschritten. »Hergehört, Männer!« dröhnte Raimundsens Stimme. »Vor Beginn eurer Ausbildung möchte jemand noch ein paar warme Worte an euch richten - Major Kenneth MacCormack. Er ist der Mann, dem ihr das Ausbildungsprogramm zu verdanken habt. Ich bitte um eure geschätzte Aufmerksamkeit!« Auf dem Landefeld, das sich zum Exerzierplatz gemausert hatte, 64
hätte man hören können, wie ein Blatt zu Boden fiel, falls es in dieser Höhe Bäume gegeben hätte. Major MacCormack machte noch einen Schritt auf die Rekruten zu, ließ den Blick schweifen und nickte zufrieden. »Zumindest äu ßerlich habt Ihr ja schon eine gewisse Ähnlichkeit mit echten Sol daten«, sagte er. Niemand lächelte, alle warteten auf die Erklärungen, die nun folgen mußten. Vor ihnen stand der Mann, der eine Elitetruppe aus ihnen machen wollte! MacCormack hielt die Hand an die Stirn und blickte kurz in Richtung Morgensonne. Dann hob er die Schultern und wandte sich ihnen mit geschürzten Lippen zu. »Eure Truppe wird schon bald der Stolz der ganzen Armee sein«, sagte er. »Es führt kein Weg daran vorbei, daß ihr klüger sein müßt, schneller und besser als alle anderen Kämpfer. Ihr müßt alles, was ihr lernt, aus dem Effeff beherrschen. Für langes Über legen bleibt im Ernstfall keine Zeit. Es wird nicht einfach sein, ach, was sage ich, es wird sogar verdammt schwer werden. Viele von euch werden an dem Drill scheitern, aber noch mehr werden hoffentlich bei der Stange bleiben. Und wenn ihr es schafft, werdet ihr die Elite der Truppe bilden und fähiger als alle anderen terrani schen Soldaten sein, fähiger und erfolgreicher.« Er schob ruckartig das Kinn vor. »Ihr werdet euch oft fragen, ob ihr es wirklich besser getroffen habt als jene, die nicht soweit gekommen sind. Dann müßt ihr euch die drei Eckpfeiler vor Augen halten, auf denen euer Erfolg beruht: Verantwortung, Kampfwille und Korpsgeist. Vielleicht bin ich der erste, der es laut ausspricht, aber ihr dürft euch keinen Illu sionen hingeben. Wenn ihr im Ernstfall versagt, ist das nicht nur euer Tod. Es zerstört den Ruf der Truppe und gefährdet damit die Sicherheit der Erde.« Major MacCormack atmete tief durch, und sein Blick kehrte aus der Leere zurück. Die Rekruten spürten seine Entschlossenheit, ihnen die Bedeutung der neuen Einheit so eindringlich wie möglich vor Augen zu führen. »Männer«, sagte er, »diese Truppe wird eine Elite sein, wie es noch nie eine gegeben hat. Der einzelne zählt in ihr nichts, nur das 65
Ganze. Eure Taten, Fähigkeiten und Entscheidungen müssen in einandergreifen wie bei einem gut geölten Uhrwerk. Für die Vermittlung dieser Fähigkeit ist der Mann neben mir zuständig.« Er drehte sich um und deutete auf Feldwebel Kaunas. »Ihr alle kennt ihn. Er ist hier, um euch noch ein paar wertvolle Tips mit auf den Weg zu geben.« Auf eine entsprechende Geste hin trat Kaunas vor. »Ich bin jetzt schon über zehn Jahre bei dem Laden«, begann er, »und ich kann euch versichern, daß es nichts Lohnenderes gibt, als jeden Raum hafen und Stützpunkt kennenzulernen. Und dabei rede ich nicht nur von den schönen Frauen, die man als adretter junger Mann in Uniform überall abgreifen kann.« Leises Lachen erklang. Kaunas hob die Hände. »Der Major hat euch schon erklärt, daß die Ausbildung kein Zuckerschlecken wird. Ihr seid fünfzig neue Soldaten, alle maximal zwanzig Jahre alt und auf besondere Weise qualifiziert. Ihr werdet geistig wie körperlich bis über die Grenzen eurer Lei stungsfähigkeit hinaus gefordert werden. Gebt euer Letztes, Männer, ihr werdet staunen, wie dehnbar diese Grenzen sind. Sollte die Belastung trotzdem für den einen oder anderen zu hoch werden, soll er aussteigen. Niemand wird es ihm verdenken, wenn er einen Rückzieher macht. Vorläufig geht das noch, nach der Vereidigung ist es damit vorbei. Dann endet ein solcher Rückzieher vor dem Militärgericht.« Er hielt inne und schaute von einem Rekruten zum anderen. Sie setzten sich aus allen erdenklichen Nationalitäten zusammen. Ihre Mienen waren gespannt. Jeder einzelne spürte die tiefe Wahrheit seiner Worte. »Ich hoffe natürlich, daß wenigstens vierzig Mann übrigbleiben. Eine Zugstärke, damit könnten wir dann schon größere Aufgaben bewältigen.« Er nickte. »Gebt euer Bestes! Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, daß die Welt auf euch blickt. Ihr werdet die Elite der Raumflotte sein.« Als er endete, war eine Weile nur das Rauschen des Windes zu hören. Feldwebel Kaunas sah lächelnd zu dem Gebäude mit der Hyper funkantenne hinüber. Einige Bläser nahmen dort hastig Aufstel 66
hing, die wohl gerade erst von der Ankunft des Jetts erfahren hatten. Er wandte sich an Raimundsen und salutierte, dann nickte er dem Major zu, der Raimundsen und Franticeff etwas lässiger grüßte und mit Kaunas zum Jett zurückkehrte. Die Bläser stimmten einen Marsch an. •*
»Unmöglich, Kurt, ich pack's nicht! Ich pack's einfach nicht!« Er starrte auf den Lehrplan, der ihnen in aller Frühe ausgehändigt worden war und schüttelte immer wieder den Kopf. »Wie soll das gehen? Nur fünf Stunden am Tag sind nicht verplant, und in der Zeit müssen wir schlafen!« Kurt versetzte seinem Freund einen Rippenstoß, als sie mit weit ausgreifenden Schritten aus der Kantine die Treppe hinab zum Vorhof eilten, wo der Appell stattfand. »Paß lieber auf, daß du nirgendwo gegenknallst. Wenn du weiter so deine Nase im Lehrplan vergräbst, hältst du noch die nächste Hauswand für den Ausgang.« Wladimir schaute an der Folie vorbei zu Boden und erkannte im letzten Moment, daß er beinahe zwei Stufen übersehen hätte. Er ging ein wenig in die Knie und schlingerte vor dem grinsenden Kurt her durch die Tür nach draußen. Es war nicht mehr sonnig wie am Tag zuvor, als sie in der Ka serne eingetroffen waren, sondern klamm und neblig. Eine ge schlossene Wolkendecke hing am Himmel über dem Plateau. Auf dem Platz in der Mitte des Hufeisens standen Franticeff und Rai mundsen. Der Feldwebel hatte die Hände auf dem Rücken ver schränkt und wippte auf den Fußballen. Hin und wieder warf er einen grimmigen Blick auf seine Armbanduhr. »Männer!« brüllte er, als die Rekruten sich vor ihm aufgestellt hatten. »Ich erwarte, daß ihr künftig pünktlich seid. Wer zu spät kommt, wird mit Zusatzdrill bestraft. Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt.« Schweigen antwortete ihm. »Ob ich mich klar genug ausgedrückt habe?« »Jawohl, Herr Feldwebel«, erklang es im Chor. 67
»Gut«, meinte Raimundsen und deutete lässig neben sich. »Unteroffizier Franticeff wird euch jetzt in die Geheimnisse der Grundausbildung einweihen.« Franticeff trat vor und grinste heimtückisch. »Ein herrlicher Herbstmorgen, nicht wahr? Genau richtig, um sich an den Ernst des Lebens zu gewöhnen. Wenn ihr nichts dagegen habt, beginnen wir mit ein paar einfachen Liegestützen.« Schneidend fügte er hinzu: »In den Dreck mit euch, ihr Schlappschwänze! Jetzt machen wir Männer aus euch!« Die nächste Stunde war die reinste Tortur. Sie brachten Dut zende von Liegestützen hinter sich, dann Klappmesser und Knie beugen, Drehungen nach rechts und links, ständig vom Unteroffizier korrigiert und angetrieben. »Laufen auf der Stelle! Knie ans Kinn! Höher, das kann eure Oma ja besser!« Die Männer gehorchten schnaufend, bis keiner mehr seine zitternden Muskeln bean spruchen konnte. Dann befahl Franticeff, Aufstellung zu nehmen, und führte sie im Laufschritt vom Vorplatz weg in Richtung Plateau. »Weiter hinten stehen ein paar hübsche Seile und Bretterwände, an denen ihr euch vergnügen dürft!« brüllte er. Eine Gruppe von zehn Mann kam ihnen entgegen, die Haare wirr in der Stirn, die olivfarbenen Hemden schweißdurchtränkt. Kurt erkannte einige der Läufer. Er hatte sie am Morgen zuvor beim Landeanflug aus dem Jett heraus gesehen, wie sie sich im Häuserkampf übten. Ob sie auch für die Sondereinheit ausgebildet werden? fragte er sich. Bisher hatte er immer den Eindruck gehabt, ihre fünfzig Mann wären das erste Kontingent. Die unbekannte Gruppe grüßte nicht, als sie vorbeikam, und als Franticeff seine Leute um einen Felsen herum auf einen schmalen Bergpfad führte, wurde Kurts Aufmerksamkeit anderweitig in Be schlag genommen. Er hatte Mühe, auf dem holprigen Boden Tritt zu fassen, und sah, daß es dem Rotschopf neben ihm auch nicht besser ging. Der Pfad wurde zusehends schmaler, und bis auf das Keuchen der Männer und das Stampfen ihrer Schritte senkte sich Schweigen über den Trainingstrupp. 68
Franticeff schien es zu genießen, die Rekruten immer tiefer zwi schen die Felsen und sogar bis dicht an einen Abgrund heranzu führen. Immer wieder strich er sich arrogant über den blonden Schnauzer, als genösse er es, die Befehlsgewalt über so viele Men schen zu haben. Rechts stürzte die Bergflanke jäh in unsichtbare Nebeltiefen ab. Kurt spürte, wie Wladimirs Atem in seinem Nacken vor Anstren gung und Angst in immer heftigeren Stößen kam. Ihm war selbst reichlich mulmig zumute. Plötzlich erklang ein Schrei. Kurt erstarrte und blieb stehen. Steine polterten, dann stieß Wla dimir gegen ihn, vorwärtsgetrieben von der langen Reihe seiner Kameraden, die im Laufschritt nachdrängten und nur langsam merkten, daß es nicht mehr weiterging. »Was ist passiert?« fragte der Gruppenleiter fünf oder sechs Meter vor ihm und schnellte herum. Kurt sah ebenfalls nach hinten und erkannte, daß ein junger Mann nicht weit entfernt mit den Armen ruderte und um sein Gleichgewicht kämpfte. Der Pfad, auf dem sie paarweise joggten, war höllisch schmal, doch er hechtete an seinen wie gelähmt wirkenden Kameraden vorbei und bekam die Hand des Jungen zu fassen, als die Fels kante unter seinem Fuß gerade endgültig wegbrach und ihn die Bergflanke hinabriß. Instinktiv schloß Kurts Rechte sich um die Kuppe eines Felsens neben ihm. Er glaubte, sein Arm stünde in Flammen, als er das volle Gewicht des Fallenden abfing. »Arrrrgghh!« Seine Finger wurden taub. Er hatte den Eindruck, das Schulter gelenk werde ihm herausgerissen. Langsam glitt er ab, fand immer weniger Halt. Er befand sich nicht nahe genug am Abgrund, um hinabschauen zu können, stierte in schräger Haltung, alle Muskeln bis zum Äußersten angespannt, in die entgegengesetzte Richtung. »So hilf ihm doch wer!« vernahm er Wladimirs Stimme. Jemand beugte sich neben ihm vor. »Andre! Such dir einen Vorsprung oder so. Du mußt dein Ge wicht verringern!«
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Kurt glaubte, er werde entzweigerissen, als der Junge, der an seinem Arm baumelte, hin und her schaukelte. Dann ließ die Bela stung schlagartig nach. »I-In Ordnung«, hörte er eine Stimme. »Hier wächst ein kleiner Baum aus der Felswand... ich habe meinen Fuß zwischen den Stamm und die Felswand geklemmt!« Schweiß perlte auf Kurts Stirn. Die anderen standen verwirrt um ihn herum und starrten abwechselnd auf ihn und ihren Kameraden im Abgrund. Kurt merkte, wie seine Rechte, mit der er die Hand des Abge stürzten umklammerte, glitschig wurde. »Warte, ich helfe dir!« sagte jemand. Aus den Augenwinkeln sah Kurt, wie Wladimir am Abgrund niederkniete und so weit wie möglich hinabgriff. Schon war Franticeff neben ihm und wies alle an, sich unterzu haken und gegen die Zugrichtung zu stemmen. Er selbst suchte bei seinem Nebenmann Halt und angelte mit der freien Hand nach dem Abgestürzten, bis er ihn am Ellenbogen packen konnte. Wla dimir tat es ihm nach. Während Kurt den Jungen mit letzter Kraft festhielt, wuchteten Franticeff und Wlad ihn auf den Pfad zurück. »Du hast es geschafft, Andre«, hörte Kurt noch jemanden rufen. »Du hast es wirklich geschafft!« Dann versank die Welt ringsum in tiefer Dunkelheit. *
Es war ein seltsames Erwachen, das den Eindruck erweckte, als löse sich ein grobkörniger Schleier, der ihn sicher durchs Nichts getragen hatte, in immer feinere Strukturen auf. Er wurde löchrig und porös, dann stürzte er in eine Leere, aus det ihm helle Strukturen entgegen wirbelten - Bruchstücke, die sich langsam zusam mensetzten. .. ein Gesicht bildeten... »Sie haben sich vor der Zeit bewährt«, sagte eine vertraute Stimme, die anscheinend zu dem Gesicht gehörte. »Unteroffizier Franticeff hat mir genau geschildert, was Sie getan haben. Ohne Schulung, rein intuitiv...« 70
Kurt versuchte, seine Benommenheit abzuschütteln. Er kniff die Augen zusammen, um das Schwindelgefühl loszuwerden - und besser sehen zu können. »Feldwebel Raimundsen?« hauchte er. Das Gesicht nickte, und allmählich nahm Kurt seine Umgebung wieder auf die altbekannte Weise wahr. »Ich bin sehr stolz auf Sie«, sagte der Hüne. Zum erstenmal fiel Kurt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Sie waren beide muskulös und blond. Und hatte Raimundsen nicht auch blaue Augen? »Was ist aus dem Jungen geworden?« wollte Kurt wissen. »Geht es ihm gut?« Raimundsen nickte. »Ja, dank Ihnen. Er sitzt gerade draußen und wartet darauf, sich bei Ihnen zu bedanken.« »Was ist mit Wladimir?« »Ohne ihn hätten wir Andre Souaran nicht retten können.« »Stimmt, die anderen waren vor Schreck wie gelähmt.« Kurt blinzelte. »Heißt er so?« »Der junge Mann, den Sie gerettet haben? Ja.« »Ich möchte später mit ihm reden«, murmelte Kurt. »Nicht jetzt. Ich bin so müde...« Raimundsen nickte wieder. »Ruhen Sie sich aus. Er kann sich auch nachher noch bei Ihnen bedanken. Wissen Sie was, Kurt Bück? Ich glaube, mit Ihnen haben wir einen ganz besonderen Fang gemacht.« Kurt lächelte. Er wollte noch etwas sagen, doch dann über mannte ihn tiefe Erschöpfung. Abermals schlug die Dunkelheit über ihm zusammen.
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4. Es war wie ein Wiedersehen mit einer früheren Geliebten, als er durch die Flure ging. Er kannte hier jeden Winkel, jede Nische und jede Tür, doch normalerweise, wenn die Wehmut ihn nicht gerade verzehrte, verzichtete er gern auf eine erneute Begegnung. Zu un angenehm waren die Erinnerungen, zu frustrierend die Erfahrungen, die er hatte machen müssen, als er im Flottenhauptquartier auf einer Verfolgung des mysteriösen Robotraumers von Deneb IV bestanden hatte. Aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten war die Sache schon nach wenigen Wochen abgeblasen worden, einfach unter den Tisch gekehrt. Er war wegen außerordentlicher Verdienste zum Major ernannt worden, nicht zuletzt durch Farnhams Empfehlung, und hatte die nächsten zwei Jahre mit der Ausbildung von Welt raumfrischlingen verbracht, die irgendwo in den Tiefen des Alls für das reibungslose Funktionieren von Beuteraumern aus GiantBeständen sorgen sollten. MacCormack hatte den Eindruck gehabt, daß seine Karriere am Ende war, und immer mehr Zeit in den einschlägigen Lokalen rund um Cent Field verbracht. Seine Ehe war zerrüttet, und der Sohn hatte sich auf einen Selbstfindungstrip nach Asien begeben, von dem er noch immer nicht zurück war. Mit der Zeit war ihm das Rotlichtmilieu des Raumhafens ebenso vertraut geworden wie die einschlägigen Whiskymarken. Und jetzt stellte er fest, daß er sich auf die erneute Begegnung mit Generalmajor Christopher Farnham freute. Der Mann bringt mir Glück, dachte er. Immerhin war die Sache im Deneb-System ein Einsatz gegen Außerirdische, und wer kann schon von sich behaupten, so etwas erlebt zu haben? Und ein Ausbildungsprogramm für eine Elitetruppe ausarbeiten zu dürfen ist mindestens ebenso einzigartig. Als er um eine Ecke bog, wäre er fast mit einer stattlichen Brü netten zusammengestoßen, die einen Haufen Lesefolien auf den Armen trug. MacCormack wich ihr aus und verkniff es sich, mit 72
ihr anzubandeln. Wenn er die Zeichen der Zeit richtig deutete, würde er künftig kaum noch Gelegenheit haben, sein heißes iri sches Blut an Weibern zu erproben. Er ging durch einen schmalen Gang, von dem rechts und links weitere Gänge abzweigten, gelangte auf einen breiten Korridor und folgte ihm, ohne das Tempo zu vermindern, bis zu einer Tür, über der ein grünes Licht brannte. Konferenzraum 23. Er öffnete die Tür und trat ein. Mächtige Fluoreszenzplatten an der Decke erfüllten den fenster losen Raum mit sanfter Helligkeit. Zehn rechteckige Tische, für jede Person einer, bildeten einen Kreis um einen Holoprojektor. Fünf oder sechs Personen standen in einer Ecke des Zimmers und diskutierten eifrig. Es waren Uniformierte und Zivilisten, doch MacCormack kannte von allen nur Feldwebel Kaunas. Bis auf einen grimmig dreinblickenden Oberst mit Bürstenhaarschnitt schienen die anderen Anwesenden Wissenschaftler zu sein. »Major MacCormack!« begrüßte ihn der Feldwebel und kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Danke, daß Sie mir ermöglicht haben, an der Besprechung teilzunehmen. Ich verspreche mir sehr viel davon.« Er schüttelte Jannis Kaunas die Hand. Der Feldwebel hatte sich von Anfang stark für den Aufbau der Elitetruppe eingesetzt. Er empfand eine besondere Verbundenheit zur Mescalero-Kaserne in den Sacramento Mountains, weil er dort selbst seine Grundausbildung absolviert hatte. Daß auf dem Ge lände jetzt unter seiner Aufsicht Elitesoldaten ausgebildet wurden, erfüllte ihn mit Stolz. »So geht es uns allen, mein Junge«, sagte MacCormack. Die Anrede kam ihm ganz beiläufig über die Lippen, ein Ergebnis seiner Zeit im galaktisehen Fronteinsatz. Dabei war der andere nur zwei Jahre jünger als er. »Hier und heute werden die Weichen für eine große Zukunft gestellt.« Er wollte gerade noch weitere markige Sprüche loswerden, als die Tür abermals aufging und die Gespräche im Raum verstummten. Generalmajor Farnham trat ein, gefolgt von einem schlanken Uniformierten mit dunklen Zügen. Die beiden nickten den Anwe 73
senden zu, die daraufhin ihre Plätze einnahmen. Farnham blieb hinter seinem Tisch stehen und räusperte sich. »Herrschaften, es ist mir eine Freude, Sie zu dieser Besprechung begrüßen zu dürfen. Vermutlich haben Sie sich schon miteinander bekanntgemacht. Ich darf Ihnen noch Oberstleutnant Jose Gomez vorstellen, meinen Adjutanten. Er ist in meiner Abteilung für die Logistik zuständig und wird die Interessen unserer Division ge genüber den anderen Heeresbereichen vertreten.« Der sportlich wirkende Spanier erhob sich und nickte in die Runde, dann setzte er sich schweigend wieder. »Sie wissen, worum es geht«, fuhr der Generalmajor fort. »Wir haben in zahlreichen Einzelbesprechungen die Voraussetzung für diese Konferenz geschaffen. Dank Major MacCormack«, er deutete auf den rothaarigen Mann schräg gegenüber, »haben wir eine tüchtige Truppe beisammen, deren Ausbildung in den bewährten Händen von Feldwebel Kaunas liegt.« Er wies auf Kaunas, der neben MacCormack Platz genommen hatte. »Vielleicht ist auch schon durchgesickert, daß diese Truppe inzwischen einen Namen hat: Die Schwarze Garde.« Farnham stemmte die Fäuste auf den Tisch und beugte sich vor. »Aber exzellente Soldaten sind nicht alles. Wir können keine großen Erfolge erwarten, wenn sie nicht auch eine exzellente Ausrüstung haben.« »Deshalb sind wir ja hier«, warf ein grauhaariger Mann mit Vollbart ein, der zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß. »Ganz recht«, erwiderte Farnham, »ich darf Sie also gleich fra gen, wie weit Ihre Entwicklungsarbeit inzwischen gediehen ist, Professor Tallach.« Der Bärtige nickte und wuchtete seine baumelnden Arme auf die Stuhllehnen. »Meine Abteilung wurde mit der Entwicklung eines Spezialraumboots beauftragt, das möglichst unbemerkt auf fremden Welten landen und Truppen absetzen kann. Es sollte von Mut terschiffen aus einsetzbar sein, aber auch beträchtliche Entfernungen aus eigener Kraft zurücklegen können. Und es sollte in der Lage sein, einen gesamten Zug - also vierzig Mann plus Zugführer - und dessen Ausrüstung zu transportieren. Nun, es war nicht leicht, diese sehr spezifischen Vorgaben zu erfüllen, aber wir ha 74
ben es geschafft.« Professor Tallach beugte sich vor und drückte auf eine im Tisch versenkte Taste. Summend erwachte in der Mitte des Kreises, den die Anwesenden bildeten, ein Hologramm zum Leben. Es zeigte ein deltaförmiges schwarzes Fluggerät, ähnlich dem Tarnkappen bomber vergangener Zeiten, das vom Holocomputer langsam um die eigene Achse gedreht wurde. »Wir nennen diesen Raumschiffstyp >Absetzer<«, fuhr Professor Tallach fort. »Es handelt sich um ein batteriebetriebenes Weg werfschiff. Um so schlecht wie möglich geortet werden zu können, hat es keinen Energieerzeuger an Bord, sondern nur Speicher bänke. Sein schwacher Antrieb ermöglicht eine einzige Transition über maximal acht Lichtjahre. Die Landung auf Planeten erfolgt aerodynamisch, deshalb die Flugzeugform. Schwache Antigravag gregate für die Navigation auf atmosphärelosen Welten sind je doch ebenfalls eingebaut.« Gespannte Erwartung lag in der Luft, als die im Kreis sitzenden Männer das sich drehende Hologramm musterten. Die meisten ar beiteten schon längere Zeit an dieser Entwicklung. Nur die Mienen der Militärs drückten Skepsis aus. »Das heißt«, brach Major MacCormack schließlich das Schweigen, »sie kommen wie Segelgleiter runter und können nicht mehr starten?« »So ist es.« Der Professor lachte. »Aber weshalb schauen Sie so verdutzt? Eigentlich bedeutet es doch nur, daß die Schwarze Garde die Lufthoheit über dem Landegebiet sichern muß, bevor sie nach einem Einsatz wieder abgeholt werden kann.« »Ich sehe keine Bewaffnung.« Professor Tallach schüttelte fassungslos den Kopf. »Natürlich nicht. Das sind ja auch keine Kampf schiffe, obwohl der Absetzer eine ganze Reihe von Waffen mit sich führt, darunter auch schwere. Sie nehmen neunzig Prozent des verfügbaren Laderaums ein. Aber darüber kann Ihnen Dr. Meenakschi mehr erzählen.« Er deutete neben sich auf einen kleinen Inder mit schwarzem Turban, der ihn als Hindu auswies. Der Angesprochene blickte scheu zum Generalmajor. Als Farnham auffordernd nickte, drückte er beherzt das Kreuz durch. 75
»Selbstverständlich benötigt ein solches Schiff Waffen«, sagte er. »Aber nur solche, die es transportiert; keine, die es selbst ein setzt. Der Feind darf erst merken, daß er es mit der Schwarzen Garde zu tun hat, wenn die sich schon auf seiner Welt befindet. Mein Team und ich waren für die Entwicklung der Waffen zu ständig, welche die Truppe mit sich führt, und wir fanden die Lö sung des Problems in einer Mischung aus konventionellem und allermodernstem Gerät.« Meenakschi legte die Handflächen auf die Tischplatte, als könnte er so eindringlicher reden. »Unser vordringliches Ziel war es, den Tarnkappen-Charakter der Einsätze zu wahren. Um unbemerkt in der Nähe des Gegners operieren zu können, muß der Stoßtrupp energetisch stumm sein. High-Tech-Geräte konnten somit nur ergänzend im Arsenal be rücksichtigt werden.« »Was ist denn nun an Bord?« entfuhr es Major MacCormack, den die umständliche Art des Inders ärgerte. »Erste Aktionen in Feindesland dürften in der Regel der Aufklä rung dienen«, fuhr Dr. Meenakschi ungerührt fort. »Dafür entwik kelten wir von Benzinmotoren angetriebene Motordrachen und Luftkissenfahrzeuge mit Turbinenantrieb.« »Steinzeitwaffen!« »Sie erzeugen keine verräterischen Emissionen. Auch für den Nahkampf erschien uns konventionelles Gerät am sinnvollsten. Wir haben Projektilwaffen vorgesehen. Sobald der Trupp energetisch aktiv wird, kann er wieder auf modernstes Gerät zurückgreifen. Deshalb gehören natürlich auch schwere Strahlenkanonen auf autonomen Lafetten zur Ausrüstung.« »Mobile Pressorgeschütze auf Schwebeplattformen?« fragte MacCormack. »Ja, diese Giant-Technik wurde bekanntlich soeben entschlüsselt. Die erste Produktionsserie steht der Schwarzen Garde unein geschränkt zur Verfügung.« MacCormack wiegte den Kopf. »Ich kann nicht behaupten, daß ich begeistert bin, aber es klingt durchdacht.« »Ganz meine Meinung«, warf Generalmajor Farnham ein. »Die Entwicklung der Geräte erfolgte in ständiger Rücksprache mit 76
meiner Person. Danke, Kabir.« Der Inder lehnte sich schweigend zurück. »Wie sieht es mit den Einsatzanzügen der Truppe aus?« meldete sich Feldwebel Kaunas zu Wort. »Mit ihrer Qualität steht und fällt die persönliche Kampfkraft.« »Die haben uns besonderes Kopfzerbrechen bereitet«, gab der Generalmajor zu. »Wir wollten etwas haben, das unsere Männer in ihren Möglichkeiten nicht einschränkt und dennoch allen erdenkli chen Schutz bietet. Dieser Frage hat sich Ukko Sorsas Team ange nommen.« Er wandte sich an einen etwa sechzigjährigen blonden Mann, dem Namen nach anscheinend Finne. »Doktor, klären Sie uns über Ihre Ergebnisse auf.« Sorsa nickte. »Wir haben einen ultrastarken, aber enorm leichten Körperpanzer entwickelt«, sagte er ohne jede Einleitung. »Einen Multifunktionsanzug, kurz MFA.« Er drückte die Taste auf seinem Tisch, und flirrend baute sich ein Hologramm mit der schemati schen Darstellung des Anzugs auf. »Dabei wurde berücksichtigt, daß er ebenso im Weltraum wie in der Atmosphäre einsetzbar sein muß. Deshalb sehen Sie hier«, er deutete mit einem Lichtstift ins Bild, »Prallschirm, Fallschirm, Rettungsfloß, autarke SauerstoffNotversorgung, Funkboje und Peilsender, die Überlebensausrü stung sowie mehrere Adapter für mögliche Zusatzgeräte, die bei speziell definierten Einsätzen erforderlich werden. Der MFA ist eine Weiterentwicklung des Anzugs, den die terranischen Raum soldaten vor 2051 bei ihren Einsätzen benutzten. Er hat eine autarke Energieversorgung, die abschaltbar ist, solange der Helm geöffnet bleibt, besitzt aber auch sämtliche Funktionen des klassi schen Skaphanders, den unsere Männer im All routinemäßig ver wenden, zum Beispiel einen Flugtornister mit Rückstoßaggregaten. Seine spezielle Leichtstoff-Panzerung macht den Anzug extrem widerstandsfähig und bietet seinem Träger hervorragende Uberlebenschancen auch unter Beschüß. Alles in allem kann man also sagen, daß er auf dem neuesten Stand der Technik ist, und wir tüfteln ständig weiter daran herum.« »Wie teuer?« knurrte der Oberst, der sich bisher still verhalten hatte. Außer Generalmajor Farnham und seinem Adjutanten, MacCormack und Kaunas war er der einzige Militär in der Runde. 77
Dr. Sorsa schürzte die Lippen. »Knapp zehn Millionen Dollar das Stück.« Der Oberst wurde kreidebleich. »Das ist ja über eine halbe Mil liarde nur für ein Bataillon. Da sind ja selbst die neuen Roboter billiger!« »Die Einsätze der Schwarzen Garde kann man nun einmal nicht mit Kampfrobotern durchführen. Deren Energieversorgung ist stets aktiv und damit anpeilbar. Bedenken Sie, daß unsere Männer den bestmöglichen Schutz brauchen.« »Meiner Meinung nach ist unser Gesamtkonzept ausgereift«, setzte Generalmajor Farnham hinzu. »Es ist zweifellos riskant, verspricht aber Erfolg. Ich werde veranlassen, daß erste Prototypen der Absetzer unter größter Geheimhaltung auf einer staatlichen Werft gebaut werden.« Der Oberst blickte ihn an, sagte jedoch kein Wort. Farnham fühlte sich bemüßigt, dem Stabsoffizier seine Entscheidung zu er klären. »Die Schwarze Garde hat zwei Kampfmodi«, sagte er. »Im Tarnmodus sind alle Energieerzeuger abgeschaltet, und es werden nur konventionelle Waffen eingesetzt. Bei voller Aktivität hingegen müssen die Kampfanzüge samt eingebautem Prallschirm aktiviert werden. In beiden Fällen ist bestes Gerät erforderlich, um optimale Resultate zu zeitigen. Das kostet nun einmal Geld.« »Sie wissen genau, wie stark der Haushalt belastet ist«, entgeg nete der Oberst. »Wir haben Schwierigkeiten, den behördlichen Flugverkehr aufrechtzuerhalten.« Dann solltest du vielleicht dort einmal den Rotstift ansetzen, dachte MacCormack. »Oberstleutnant Gomez wird mit Ihnen besprechen, ob wir bei der Entwicklung von Schiffen und Ausrüstung noch Spielraum für finanzielle Einsparungen haben«, erwiderte Generalmajor Farn ham. »Grundsätzlich finde ich, Entscheidungen dieser Art sollten wir dem Stellvertretenden Commander der Planeten überlassen. Eines sage ich Ihnen aber gleich: Die Sicherheit meiner Männer geht mir über alles!« MacCormack pfiff anerkennend, was ihm einen verweisenden Blick von Farnham einbrachte. Es wurde so still, daß man eine 78
Stecknadel hätte fallen hören können. Als der Oberst keine Anstalten machte, auf seine Entgegnung zu reagieren, wandte der Gene ralmajor sich an die übrigen Anwesenden. »Meine Herren«, sagte er. »Wir haben uns jetzt alle umfassend informiert und können unsere jeweiligen Projekte weiterverfolgen. Sie wissen, daß Ihnen nur noch wenig Zeit bleibt. Sobald die Aus bildung der Schwarzen Garde abgeschlossen ist, muß die Ausrü stung in ausreichender Stückzahl vorhanden sein. Unabhängig vom Preis.« Farnham setzte die Handflächen auf den Tisch und stemmte sich hoch. Er verließ den Raum. Die übrigen Militärs folgten ihm auch der mürrische Oberst und MacCormack. Unter den Wissenschaftlern entbrannte eine hitzige Diskussion über die Optimierung und Zusammenführung der verschiedenen Entwicklungsbereiche. *
Kurt hätte nie geglaubt, daß es in dieser Höhe Schlamm gab. Seine biologischen Kenntnisse wollten ihm weismachen, daß es dafür hier viel zu kalt war. 3.000 Meter! Wie sollte das möglich sein? Und doch robbte er durch einen zähen braunen Matsch, der schon längst seinen ganzen Körper bedeckte und sogar die Ohren und Nasenlöcher verstopfte. Den haben sie künstlich hergestellt! durchfuhr es ihn. Das sieht diesen Schleifern ähnlich! Er wußte, wie absurd der Gedanke war, doch mit jedem Meter, den er in diesem schmierigen Brei zurücklegen mußte, wuchs sein Haß auf die Verantwortlichen. Und wenn er nicht künstlich hergestellt ist, dann haben sie ihn eben eingeflogen! dachte er. Er schaute zu Wladimir hinüber, der dicht neben ihm durch den Schlamm robbte. Sein Freund hatte abgeschaltet, starrte aus druckslos nach vorn, und Kurt folgte seinem Blick, während er fast automatisch die Beine abwinkelte und die Unterarme schmatzend aus dem Morast hob und wieder versenkte, sich nach vorn stemmte und zog. Die andere Seite des »Pfuhls«, wie sie das Schlamm 79
feld getauft hatten, schien noch ewig weit weg zu sein. Und dahinter erwarteten sie die Stricke, Rampen und Bretterwände des restlichen Parcours. »Etwas mehr Einsatz, wenn ich bitten darf! Bewegt eure müden Ärsche!« gellte Franticeffs Stimme. Am liebsten wäre Kurt aufgestanden und hätte dem kleinen, drahtigen Mann einen deftigen Hieb verpaßt, damit er bäuchlings in dem Schlamm landete, durch den sie robbten. Dann würde ihm das Gebrüll schon vergehen! Dann würde seine Uniform nicht mehr so sauber funkeln! Doch er wußte, daß der Drill kein Selbstzweck war und nicht dazu diente, Franticeffs Ego aufzupolieren -jedenfalls nicht ausschließlich. Außerdem war er viel zu erschöpft. »Macht schon, Männer, bewegt euch. Wenn man euch so sieht, kriegt man ja ein Augenleiden!« Kurt wußte, daß unmittelbar hinter ihm Rafael und Antoku durch den »Pfuhl« robbten, seine Stubenkameraden. Er hörte ihr Stöhnen und Ächzen. Den Puertoricaner schien die Tortur, die aus ihnen echte Männer machen sollte, besonders mitzunehmen. Der ehemalige Bordingenieur war mit großen Sprüchen schnell bei der Hand, aber alles andere als eine Kämpfernatur. Im Gegensatz zu dem schmächtigen Japaner aus Niigata, der ungeheure Zähigkeit an den Tag legte. »Schneller! Schneller!« peitschte Unteroffizier Franticeff sie vom Rand des Schlammfelds aus an. Kurts Unterarme berührten festen Boden. Er kam auf die Beine, lief taumelnd weiter und griff nach dem mächtigen Strick, der ihn über einen Graben hinwegtrug und vor einer Holzwand absetzte. Er packte die Holme, die aus der Wand ragten, zog sich höher und hangelte sich oben an einem Seil zu einer Schräge hinüber, die ihn wieder auf ebene Erde beförderte. Sie war mit kreuz und quer ge spannten Seilen bedeckt. Er sprang hastig über sie hinweg, ohne daß sie ihn zu Fall brachten. Aus der nächsten Kletterwand, die er überwinden mußte, ragten keine Holme. Er nahm Anlauf, sprang hoch und stemmte sich, flach an die Wand gepreßt, die Stiefelspitzen in den Vertiefungen, immer höher, bis er auf der schmalen Oberseite keuchend liegenblieb. 80
Rechts und links überwanden andere Rekruten das Hindernis. Antoku Seiwa hatte ihn schon auf dem Feld mit den Stolperdrähten überholt und rannte nun im Zickzack über die offene Fläche hinter der zweiten Kletterwand. Rote und grüne Lichtbahnen zuckten zu beiden Seiten hinter Felsen hervor, doch der Japaner wich ihnen geschickt aus. Wladimir war etwas ins Hintertreffen geraten und schob sich gerade auf die Oberseite der ersten Bret terwand, während der Puertoricaner vermutlich das Schlußlicht der knapp vierzigköpfigen Gruppe bildete. Er war nicht mehr zu sehen. Wir werden ausgesiebt! Der junge Deutsche ließ sich von der Kletterwand in ein straff gespanntes Netz fallen und sprang auf dem schwankenden Unter grund zur Seite, um dem sofort einsetzenden Lichtbeschuß zu ent gehen. Er griff nach dem Rand des Netzes und schwang sich mit einer Rolle vorwärts zu Boden, ließ nach einem Hechtsprung eine weitere Rolle folgen und rappelte sich auf. Dann sprintete er dicht an die Felsen zu seiner Rechten, um wenigstens von den Schützen nicht mehr gesehen zu werden, die dort mit ihren ElektropulsMarkern auf den Vorsprüngen lauerten. So halbierte sich die Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden. »Klug ausgedacht, Bück!« brüllte Franticeff, der ihm von der letzten Kletterwand aus nachblickte. Kurt verzichtete auf eine Antwort. Er rang viel zu sehr nach Atem, und außerdem konnte er Franticeff nicht ausstehen. Seit Kurt den Rekruten vor dem Sturz vom Bergpfad bewahrt hatte, schien der kleine Unteroffizier mit dem Haarkranz ihn mehr zu triezen als alle anderen. Habe ich seine Ehre angekratzt? fragte sich Kurt. Er trug die Nase ganz schön hoch, als Andre abstürzte. Aber vielleicht ist er jetzt auch nur wild entschlossen, einen Supersoldaten aus mir zu rnachen - wegen meiner tollen Anlagen! Kurt wußte es nicht, und es interessierte ihn nicht einmal, als er im engen Zickzackkurs dahinlief, wie durch einen Tunnel unter den Vorsprüngen hindurch, wobei er unablässig die Felsen auf der linken Seite der Klamm im Auge behielt. Die Schützen, die dahinter lauerten, waren Mescaleros, das 81
wußte er. Echte Mescaleros, im Reservat geboren und aufgewachsen. Sie wohnten in einem eigenen Gebäude auf dem Plateau und wurden bei Gelegenheiten wie dieser zu Kampfspielen gegen die Rekruten eingesetzt. Aber das konnte wohl schlecht ihre einzige Aufgabe sein... Sie waren es auch gewesen, die sich bei seiner Ankunft auf dem Plateau einen Häuserkampf mit den Soldaten geliefert hatten. Wozu man sie wohl ausbildet? überlegte er. Ein roter Lichtstrahl schoß auf Kurt zu und streifte seinen Arm. Der Schmerz lahmte ihn fast. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an, daß seine Knie weich wurden und er zusammenbrach. Er taumelte weiter, hoffte, daß der Elektroschock, der ihn durchpulste, rasch wieder abklang... Ich muß durchhalten! dachte er. Es ist nicht mehr weit! Gleich! Gleich habe ich 's geschafft! Die Strapazen des Drills forderten ihren Tribut. Er schleppte sich mehr, als daß er lief, um einen Felsen herum und sah vor sich das Ende des Parcours - und Antoku Seiwa, den Japaner, der im Zickzack auf jemanden zutaumelte: Feldwebel Derek Raimundsen, der wie üblich mit gespreizten Beinen dastand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und auf das Eintreffen seiner Männer wartete. Nur noch ein kleines Stück! dachte Kurt. Nur noch einen Mo ment lang Treffer vermeiden! Er sah einige seiner Kameraden hinter Raimundsen auf dem Boden liegen, alle Viere weit von sich gestreckt. Andere gingen gebeugt auf und ab, die Arme in die Seiten gestemmt, und rangen mit hochgerecktem Kopf nach Luft. Er beneidete sie, das Ziel schon erreicht zu haben, merkte, wie seine eigenen Kräfte bei diesem Anblick schlagartig nachließen... .. .als ein Schatten auf ihn zusprang! Zwischen den Felsen hervor, pfeilschnell! Kurt konnte sich gerade noch umdrehen und mit den Händen die nach ihm ausgestreckten Arme packen. Die beiden Gegner stürzten zu Boden und wälzten sich auf dem kahlen Fels. Kurt spürte die Dornen und kleinen Steine nicht, die sich in seinen Rücken bohrten. Er gewann die Oberhand, kauerte sich rittlings auf den 82
Angreifer und legte seine ganze Wut und letzte Kraft in einem mächtigen Schlag, der den anderen unter normalen Umständen außer Gefecht gesetzt hätte. Doch der Mescalero fing seine Faust mit der offenen Hand ab, als hätte ein Fliegengewicht sie geschwungen. Er konterte mit einem rechten Schwinger, der Kurt zur Seite auf den kargen Boden riß. »Schade«, hörte er Franticeffs hämische Stimme, obwohl das gar nicht möglich wer. Er stand doch hinter der Biegung, an der zweiten Kletterwand, hier zwischen den Felsen konnte er nicht sehen, was die Rekruten taten! Es war nur Einbildung, weil Kurt den Mann kannte, diesen Schinder... und wußte, was er sagen würde, sobald er von seiner Niederlage erfuhr... »Schade, Bück, wir hatten uns mehr von Ihnen erhofft.« Grenzenloser Zorn erfüllte ihn, als er in Schwärze abzugleiten drohte. Er schlug wild um sich, traf Muskeln und Knochen und kämpfte gegen ein Schwindelgefühl an. Wie durch dichten Nebel bekam er mit, daß er die letzten Meter auf Händen und Knien zu rücklegte und unmittelbar vor jemandem zusammenbrach, der mit gespreizten Beinen vor ihm stand. Feldwebel Raimundsen...! *
Sie hätten Stein und Bein geschworen, daß der theoretische Un terricht in Hyperphysik und Mysterious-Mathematik an diesem Nachmittag ausfiel. Ihre Erschöpfung war einfach zu groß, und die meisten hatten so viele Treffer aus den Elektropuls-Markern da vongetragen, daß sie noch immer keinen Muskel rühren konnten, ohne vor Schmerzen aufzuschreien. Kurt und Wladimir schaufelten in der Kantine gerade ein Straußen-Souffle in sich hinein, als es aus den Lautsprechern plärrte: »HP und MM finden heute in Saal III statt. Dr. Margarita weist Sie in metalogische Suprasensorprogramme ein.« »Auch das noch«, seufzte Kurt. Da wäre ihm jetzt sogar Astrophysik beim unsäglichen Professor Alvarez lieber gewesen. Der schickte wenigstens immer seine As 83
sistenten vor, die ihnen nicht viel Gehirnschmalz abverlangten, so daß seine natürliche Begabung ausreichte, um die Zusammen hänge zu begreifen... Er schob seinen Teller von sich und warf Wladimir einen kurzen Blick zu. Der Ukrainer zuckte mit den Achseln. Sie fügten sich ins Unvermeidliche und begaben sich in den Schulungsraum im Nachbargebäude, der bis zum Bersten mit Cyberdocks und anderen modernen Lernhilfen gefüllt war. »Meine Herren«, begrüßte sie Dr. Vincente Margarita, ein ge drungener Mann Ende Vierzig mit Nickelbrille, hinter der aufge weckte kleine Augen funkelten, »mir ist bewußt, daß es den meisten von Ihnen große Probleme bereitet, den verschlungenen Denkpfaden der Mysterious zu folgen. Deshalb möchte ich Sie heute in die Geheimnisse der Metalogik einweihen. So heißt ein von mir entwickeltes neues Verfahren, das dem Verständnis außer irdischen Denkens dient.« Der Spezialist in theoretischer und M-Mathematik gab sein Bestes, mit Hilfe eigens von ihm geschriebener Programme, deren Handhabung sie an den Cyberdocks lernten, physikalische Un möglichkeiten wie Andruckabsorber und Hypersprünge durch einen übergeordneten Raum zu verdeutlichen, und Kurt spürte, daß es ihm nicht sehr schwer fiel, die fremdartigen Symbole und Zahlenkolonnen mit Sinn zu füllen. Er konnte sogar ein System dahinter erblicken. Für Wladimir waren es eindeutig nichts weiter als magische Chiffren für etwas, das wundersamerweise irgendwie funktionierte. Nach zwei Stunden schweißtreibenden Denkens schloß Dr. Margarita mit den Worten: »Sie sehen also, daß wir einzig mit Hilfe von Metalogik ein Verständnis für Mysterious-Zusammenhänge entwickeln können.« Wladimir nickte und warf einen Blick auf die Uhr am rechten Rand seines Sichtfelds, dann legte er die Cyberbrille ab und schaltete den Rechner aus. »Weißt du was?« wandte er sich an Kurt. »Meine Denkwabe ist schon ganz durchgewalkt, und bis zur Waffenkunde haben wir noch eine Stunde Zeit. Wie war's, wenn wir uns bis dahin richtig was auf die Mütze geben?« 84
Sie hatten festgestellt, daß sie ihre schmerzenden Muskeln am besten wieder in den Griff bekamen, wenn sie auf das harte Training am Morgen ein leichtes zum Ausklingen folgen ließen. Außerdem war Wladimir ganz versessen darauf, seinem Freund den Sieg bei der Schulmeisterschaft heimzuzahlen, und so boxten sie bisweilen gegeneinander. Als sie die Halle betraten, in der ein großer Wandmonitor gerade die Sportnachrichten brachte, sahen sie Jannis Kaunas in einem weißen Kampfanzug verschwitzt auf der Bank sitzen. Er hatte seinen Bürojob in Alamo Gordo abgegeben, als die ersten vierzig Rekruten durch waren. Jetzt war er hier in der Kaserne ihr Ausbilder an den Waffen. Ein wenig eingeschüchtert durch seine Blicke gingen die beiden zu ihren Spinden und zogen sich um, dann betraten sie den leeren Ring und begannen zur Auflockerung mit Schwingern und Haken. Bald hatten sie Kaunas' Anwesenheit vergessen und lieferten sich einen heftigen Kampf. Als Kurt wieder einen kurzen Blick zu Kaunas werfen wollte, stellte er fest, daß die Bank leer war. Unwillkürlich schaute er zum großen Wandmonitor, auf dem jetzt eine Digitalanzeige die Zeit angab. »O nein!« entfuhr es ihm. Fast hätte er sich einen Aufwärtshaken von Wladimir eingehan delt, der seine Chance instinktiv nutzen wollte. Doch im letzten Moment, als Kurt mit eingezogenem Kinn nach hinten aus wich, nahm der junge Ukrainer die Wucht aus dem Schlag und ließ ihn ins Leere gehen. »He!« entfuhr es Kurt. »Was soll das?« »Tut mir leid. Haben wir die Zeit vergessen?« Kurt nickte, dann deutete er auf die leere Bank. »Wir sollten uns sputen. Wenn wir bei Kaunas zu spät kommen, erwartet uns zehn Tage Latrinenputzen.« Sie schlüpften in ihre grauen Kombinationen und hetzten aus dem Gebäude. Der kleine Exerzierplatz mit dem Schießstand war nicht weit entfernt. Er befand sich auf der rechten Seite der zum Plateau hin offenen Hufeisenanlage. Flutlichter erhellten den Platz bei ihrem Eintreffen. Fast alle 85
Rekruten hatten schon Aufstellung genommen. Kurt und Wladimir gehörten zu den letzten, die sich einreihten. Ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihnen, daß auch ihre Kameraden von den Anstren gungen des Morgens gezeichnet waren. Viele wirkten gereizt und nervös. Feldwebel Kaunas winkte einem der Rekruten, der ihm half, einen Synthoplastbehälter von einem Rollwagen zu wuchten, auf dem noch ein zweiter stand, den sie unberührt ließen. Dann drehte er sich zu den versammelten Männern um. »Meine Herren«, begann er ohne Umschweife, und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Ihr habt in eurer bisherigen Ausbil dung vielleicht den Eindruck gewonnen, daß wir unsere militäri sche Schlagkraft in erster Linie den technischen Fertigkeiten der Mysterious verdanken. Die geheimnisvollen Unbekannten haben uns viele Produkte hinterlassen, allen voran die Ringraumer mit ihrem SLE-Antrieb und Sternensog, die aus unseren heutigen Mili tärstrategien nicht mehr wegzudenken sind. Um euch den Umgang damit zu erleichtern, trichtern wir euch hier ja auch die Denkweise der Mysterious ein.« Kaunas nahm seine Mütze ab und strich sich mit der Rechten über den kahlen Schädel. Als er sie wieder aufsetzte, klopfte er mit der Handfläche übermütig darauf. »Aber unsere Ausrüstung besteht nicht nur aus Beutematerial«, fuhr er mit erhobener Stimme fort. »Im Gegenteil haben wir eine lange technische Tradition, die sich in mancher Hinsicht mit der Ausrüstung der Mysterious messen kann. Denkt an unsere Para schocker und Lasergeschütze oder unsere eigene Raumflotte. Auch in den letzten Jahren seit dem Angriff der Giants haben unsere Wissenschaftler weiter nach technischen Lösungen gesucht, die laßt es mich deutlich sagen - auf unserem Mist gewachsen sind.« Er drehte sich zu seinem Helfer um, der noch immer abwartend neben dem Synthoplastbehälter stand. »Rekrut Vadim, öffnen Sie die Wundertüte.« Der junge Mann drückte auf zwei Sensorflächen, und die Oberseite klappte auf. Jannis Kaunas sah hinein und nickte. Die Rekruten spürten den Stolz des Feldwebels, als er in den Behälter griff, 86
ein längliches Gebilde zum Vorschein brachte und hochhielt eindeutig eine Waffe. »Ich habe euch heute ein besonderes Prachtstück mitgebracht«, sagte er. »Was ich hier in Hände halte, werdet ihr aus dem Effeff beherrschen lernen. Es ist gerade in Serie gegangen, also frisch von der Fertigungsstraße. Der Inhalt dieser Kiste stellt die erste Lieferung dar.« Ein Raunen erhob sich, und auch Kurt konnte seine Faszination beim Anblick des Gegenstands nicht verbergen. »Es handelt sich um eine Mehrzweckwaffe, die wir der Einfachheit halber Multikarabiner nennen«, fuhr der Feldwebel fort. »Die offizielle Bezeichnung lautet GEH&K Mark 08/56, wobei 08/56 für den Monat der Serienreife steht, nämlich August dieses Jahres, und GEH&K für die berühmtesten Waffenschmieden der Welt Garand, Enfield, Heckler & Koch - die sich zusammengetan haben, um dieses geniale Modell zu entwickeln.« Er trat näher an die Rekruten heran. »Der besondere Clou an der Waffe ist, daß es sich um drei Waf fensysteme in einem handelt. Deshalb auch >Multi<, ihr versteht? Karabiner wegen der relativ kurzen Läufe.« Er blickte in die Runde, dann deutete er auf die übereinanderliegenden Läufe, oben der längste, unten der kürzeste. »Es sind drei, seht ihr? Daraus könnt ihr Blasterfeuer, Lähmstrahlen oder Kleinstraketen ver schießen. Die Energiezellen und Magazine befinden sich hier und hier.« Er deutete auf die beiden Seiten der Schulterstütze. »Parallel zu den drei Läufen ist noch eine Kamera eingebaut, die Art, Ent fernung und Geschwindigkeit des angepeilten Ziels ermittelt. Die Daten werden über ein Sende-Empfangs-Gerät an die Anzeige eu res Kampfhelms geschickt, wo eine Visiereinrichtung in Aktion tritt und euch vorschlägt, welchen Feuermodus ihr wählen solltet.« Wieder blickte er in die Runde, zufrieden mit der atemlosen Stille, die sich ausgebreitet hatte. »Ich werde die Multikarabiner jetzt unter euch verteilen, dann l_
machen wir uns an die ersten Schießübungen. Es ist sehr wichtig, daß euch der Umgang mit dieser Waffe zur zweiten Natur wird überlebenswichtig.« Er gab dem jungen Russen, der ihm geholfen hatte, die Kiste 87
vom Rollwagen zu wuchten, ein Zeichen, und sie hoben auch den zweiten Behälter herunter. Kaunas öffnete ihn, griff hinein und hielt ein rundes Gebilde hoch. »Das hier ist der Kampfhelm, den ihr zur Bedienung des Ge wehrs benötigt. Bitte kommt jetzt einer nach dem anderen zu mir und holt euch die Ausrüstung samt Munition ab.« Die Rekruten blickten sich an. Kaunas grinste. »Keine Sorge, selbstverständlich werde ich euch vorher noch erklären, wie ihr den Karabiner sichert und ladet. Ihr sollt euch beim Herumfingern ja nicht selbst kaltmachen.« Wenig später brandete Lärm auf. Die Rekruten gaben sich alle Mühe, den Kommandos, die der Feldwebel brüllte, zu folgen. Lichtblitze und Flammenzungen durchzuckten den Platz neben der hufeisenförmigen Anlage, das Fauchen von Lähmstrahlen und Rauschen von Kleinstraketen erklang. Sie schössen mit allem, was sie hatten, auf die markierten Felder am Ende des Schießstands, die wechselnde Arten von Zielen simulierten. Trotz der Flutlichter, die den Platz erleuchteten, rissen sie sengende Spuren durch die Nacht. Eine Stunde verstrich, in der Kaunas hinter der Schützenreihe von einem zum anderen ging und fachmännisch die Haltung kor rigierte. Dann beendete er die Schießübungen und gab Befehl, die Karabiner zu sichern. »Ihr habt euch jetzt mit der GEH&K vertraut gemacht«, rief er und ließ seinen Blick über die Männer schweifen. »Ich möchte, daß ihr die Energiezellen und Magazine wieder bei mir abgebt. Die Waffe nehmt ihr mit auf die Stube. Ein guter Soldat läßt seine Lady nie aus den Augen.« Kaunas grinste. »Ich erwarte von euch, daß ihr sie morgen beim Appell bis ins Detail kennt. Ihr müßt sie blind auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können. Und damit ihr auch wirklich begreift, was ihr da tut, erwarte ich Schemazeichnungen.« Unruhe breitete sich unter den Rekruten aus, doch Kaunas wischte jeden Einwand mit einer Geste vom Tisch. »Wenn ihr euch eine solche Zeichnung nicht zutraut, denkt an euren Unterricht in M-Denkweise. Was meint ihr wohl, warum wir euch dazu verdonnern? Natürlich sollt ihr auch lernen, aus den 88
gewohnten Denkweisen auszubrechen. Also schraubt die Waffe auseinander, bis ihr jedes Einzelteil kennt. Dann wird's ja wohl nicht so schwer sein, das Ganze zu Papier zu bringen. Sonst noch Fragen?« Niemand wagte es, sich zu Wort zu melden. »Schön, dann schlage ich vor, daß wir jetzt noch eine halbe Stunde joggen. Stülpt den Kampfhelm über und nehmt die Lady quer vor die Brust. Ihr habt euch lange genug von der Schlamm schlacht heute morgen ausgeruht. Wir wollen doch nicht, daß ihr die Nacht schlaflos verbringt.« Ihre Rückkehr auf die Stube war eine Tortur. Und das wieder holte Auseinandernehmen und Zusammenbauen des Karabiners gelang ihnen bald wirklich mit geschlossenen Augen. *
Der Weckruf im Gang war schon lange verklungen, und die drei anderen Bewohner der Stube IV/12 hatten sich nach wenigen Stunden Schlaf mühsam aufgerappelt, doch Rafael Carrion rührte sich im Bett nicht von der Stelle. Kurt griff nach seinem zusam mengebauten Karabiner und den Zeichnungen, die er in der Nacht noch angefertigt hatte. Alles da. Er war für diesen Morgen aus dem Schneider. »Reiß dich zusammen, Chico.« Kurt erhob sich und ging zu ihm, rüttelte ihn an der Schulter. »Es nützt doch nichts. Warum stehst du nicht auf?« Der Angesprochene stöhnte nur leise und drehte sich auf den Bauch. Kurt und Wladimir blickten sich an. »Er will nicht«, sagte Antoku Seiwa hinter ihnen. »Ist mit der Bastelei nicht klargekommen.« »Vielleicht ist er ja auch krank«, meinte Wladimir und rieb sich verschlafen die Augen. Kurt schüttelte den Kopf. »Antoku hat recht, der Kerl will nicht mehr.« Er ging zum Waschbecken, tränkte einen Lappen mit eis kaltem Wasser und kehrte zu Chico zurück. Dann beugte er sich v or, schlug die Decke zurück, packte ihn am schwarzen Schöpf und riß ihn hoch, preßte ihm mit der Rechten den Lappen ins Ge 89
sieht und ließ den Kopf fallen. Bevor er wieder das Kissen berühren konnte, war Chico schon mit einem japsenden Schrei aufgesprungen. »Was soll das?« brüllte er, auf dem Bettrand sitzend. »Laßt mich in Frieden! Ich habe die Nase voll.« »Was deine Mutter dazu wohl sagen würde?« meinte Kurt. »Was geht's dich an?« brüllte der Puertoricaner. »Ich hab' die ganze Nacht kein Auge zugekriegt. Ist euch nicht klar, was hier passiert? Die wollen uns fertigmachen!« »Du hast Fracksausen, was?« murmelte Wladimir. »Geht mir genauso. Aber was hilft's?« Der Puertoricaner senkte den Blick. »Ich kann einfach nicht mehr«, flüsterte er. »Der Drill, die Brüllereien, jeder Knochen im Leib tut mir weh, und ich habe keine Ahnung, wann sich das wieder ändern wird.« Seine Stimme schlug fast in ein Schluchzen um. »Ich pack's einfach nicht!« »Das habe ich doch schon einmal gehört«, sagte Kurt und grinste Wladimir an. Der Ukrainer schaute seinen Freund wütend an. »Ich bin noch hier, oder? Ich steh' meinen Mann!« »Soll Chico doch aufgeben«, meinte Antoku. »Wenn er jetzt schon Probleme hat, schafft er's nie.« »Das sind nur Anlauf Schwierigkeiten«, erwiderte Kurt. »Chico ist unser Kumpel. Wir müssen ihm helfen.« »Wie stellst du dir das vor? Sieh ihn dir an! Er hat doch jeden Mut verloren.« »Der kommt wieder! Wißt ihr was? Ich kritzele ihm rasch eine Schemazeichnung der GEH&K aufs Papier, und ihr klatscht ihm noch ein bißchen Wasser ins Gesicht. Aber beeilt euch, gleich ist Appell!« Der Japaner fischte den feuchten Lappen aus Chicos Bett und ging zum Wasserhahn. Bevor er zurück war, hatte der Puertoricaner sich schon aufgerappelt und war ebenso wackelig wie hastig in seine Kombination gestiegen. Sie nahmen ihn in die Mitte, stopften ihm die Zeichnung in die Brusttasche und schleiften ihn mehr, als daß er ging, die Treppe hinunter zum Appellplatz. 90
*
»Sauerei!« brüllte Unteroffizier Franticeff. »Sehen Sie sich doch an! Die Klamotten zerknittert, die Knarre verschmiert... Sie können sich ja kaum auf den Beinen halten! Was haben Sie heute nacht eigentlich getrieben?« Rafael Carrion starrte seinen Vorgesetzten unverwandt an und ließ das Gebrüll über sich ergehen. So etwas wie Verwunderung lag auf seinem Gesicht, daß es gerade ihn getroffen hatte - und ausgerechnet an diesem Morgen. »Wohl zuviel gesoffen, was? Das veranstaltet ihr Frischlinge doch mit Vorliebe - nächtliche Besäufnisse. Aber wir sind hier nicht bei den Pfadfindern, klar?« Dann fiel Franticeffs Blick auf die gewölbte Brusttasche der grauen Kombination, aus der ein Zettel spießte. Der kleine Mann riß den Klettverschluß auf, zerrte das Stück Papier heraus und faltete es auseinander. »Und was soll diese Schmiererei hier?« wetterte er. »Nennen sie das vielleicht Kleiderordnung? Den Pfusch hätten Sie auf der Stube lassen müssen!« Das war zuviel. Mochten die anderen auch Gewehr bei Fuß stehen und sich mit angehaltenem Atem glücklich preisen, daß es sie nicht erwischt hatte - Kurt Bück wollte sich damit nicht abfinden. »Mit Verlaub, Herr Unteroffizier«, sagte er und beugte sich et was vor, weil er fünf Personen entfernt stand. »Auf dem Stück Papier ist eine Schemazeichnung der GEH&K, die wir für Feld webel Kaunas anfertigen sollten. Er befahl uns, sie zum Appell mitzubringen.« Daß diese Zeichnung von ihm und nicht von Rafael stammte, erwähnte er besser nicht. Franticeff trat einen Schritt zurück und äugte zu Kurt hinüber. »Wer hat Sie gefragt, Bück?« Mehr sagte er nicht. Mit mahlenden Unterkiefern warf er einen Blick auf den Zettel. Er erstarrte kurz, dann knüllte er Chico die Zeichnung wieder in die Brusttasche und preßte den Klettver schluß fest. »Schwenkt rechts Marsch, Leute! Ihr habt euch gerade einen 91
harten Drill eingehandelt!« Der Unteroffizier hatte nicht übertrieben. Sie nahmen die gleiche Strecke wie bisher, doch ergänzt um einige Schikanen, von denen Kurt bisher nichts gewußt hatte. Eine Klamm, die sie auf einer Seilbrücke überwinden mußten, steile Bergpfade, die sogar zu beiden Seiten jäh abfielen. Sie liefen und kletterten weit in Richtung Sierra Bianca, der höchsten Erhebung der Sacramento Mountains, und wandten sich wieder nach Westen und Süden, immer dicht an den Klippen entlang. Der kleine, drahtige Mann schien seinen Spaß daran zu haben, die Rekruten in der dünnen Höhenluft durch felsiges Gelände zu scheuchen. Ihm selbst machte es offenbar nichts aus. Er mußte nicht ihr tägliches Pensum absolvieren, hatte genug Schlaf gehabt und gab wacker das Tempo vor. Viele Rekruten taumelten entkräftet und stürzten immer wieder, doch wie durch ein Wunder lebten alle noch, als sie in einer langen Reihe wieder auf dem Plateau eintrafen. Ohne auf den entsprechenden Befehl zu warten, ließen sie sich zu Boden fallen und rangen nach Luft. Kurt glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, als Franticeff sie wieder auf die Beine rief. Ein kurzer Blick zu Wladimir sagte ihm, daß der Freund es auch nicht fassen konnte. »Genug gefaulenzt, Männer! Das Schlammbad im >Pfuhl< und die Kletterwände warten auf euch!« Als er stolpernd hochkam, schaute er sich nach Rafael Carrion um, doch der Puertoricaner war nirgends zu sehen. Hatten sie ihn unterwegs verloren? An diesem Tag überwand Kurt die zweite Wand nicht mehr. Er verfing sich in den Stolperdrähten und riß sich beim Sturz Stirn und Hände auf. Atemlos blieb er liegen. Wie ihm erging es den meisten anderen. Nur wenige erreichten den offenen Bereich hinter den beiden Felsreihen, der diesmal frei von Gegnern war - darunter Antoku Seiwa, der schmächtige Japaner. *
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Kurt Bück schlug unwillig mit den Händen um sich, damit das Gerüttel endlich aufhörte. Er wollte einfach nur seine Ruhe und schlafen - neue Kräfte schöpfen... »Laß mich«, stöhnte er und zog die Schulter herum, um sich auf die andere Seite zu drehen, doch die Hand ließ nicht locker. Sie rüttelte immer stärker. »Komm zu dir, Kurt!« Als er die Augen aufschlug, die Lider schwer wie Blei, sah er Antokus Gesicht über sich. Der Japaner lächelte und trat einen Schritt von seinem Lager zurück. »Was... was ist denn?« krächzte Kurt wie in Trance.
»Ein Anruf für dich.«
Schlagartig war er hellwach.
»Wie? Aber...«
Der Japaner deutete mit dem Daumen über seine Schulter in
Richtung Tür. »Du solltest dich beeilen. Die Phase wird gehalten. Fragt sich natürlich, wie lange...« Das mußte man ihm nicht zweimal sagen. Er nahm all seine Kräfte zusammen und schwang die Beine über den Bettrand. Dann stemmte er sich hoch und taumelte zum Ausgang. Dort drehte er sich noch einmal um. »Wo... wo ist das Vipho?«
»Im Büro des Wachhabenden, wo sonst?«
Kurt nickte und stolperte die Treppe hinab ein Stockwerk tiefer.
Mit jedem Schritt wurde er wacher und fragte sich immer nach drücklicher, wer ihn wohl anrief. Er hatte keine Eltern mehr, sein bester Freund Wladimir teilte mit ihm die Stube. Blieben nur noch Laszlo, Hendrik oder... Nein, das war unmöglich!
Der Wachhabende drehte ihm den Bildschirm hin, als Kurt den
kleinen Raum am Eingang des Gebäudes erreichte. Er blinzelte, doch der Anblick blieb gleich. Graue Augen, wallendes braunes Haar, ein schmales Gesicht mit kräftigen dunklen Brauen und vollen Lippen... Lauras Gesicht! Er umklammerte die Seiten des Monitors und kippte ihn nach oben, um ihr Gesicht deutlicher zu sehen. »Laura...« 93
Die junge Frau nickte. »Es ist gar nicht so einfach, zu dir durchzudringen«, sagte sie. »Ich mußte am Vipho erst einige Typen becircen, die was von vertraulich und geheimem Ausbildungszentrum faselten. Also habe ich ihnen erzählt, wir wären verheiratet und ich wollte endlich mit dir reden, um zu erfahren, wie es dir geht... nun, so falsch ist das ja auch nicht. Ich will es wirklich wissen.« »Mir geht es... gut...« »Warum hast du dich nie gemeldet?« Ihre Worte hatten einen traurigen, resignierten Unterton. »Dafür war keine Zeit«, sagte er eindringlich. »Du ahnst ja nicht, wie es hier zugeht!« Laura nickte. »Schon in Ordnung, Kurt. Es hat ohnehin einen bestimmten Grund, daß ich anrufe.« Kurt fühlte sich so hilflos wie nie zuvor. Er spürte, daß eine Ka tastrophe auf ihn zukam. Er mußte jetzt etwas sagen, wußte jedoch nicht, was. »Ich... ich habe mich nicht gemeldet, ist es das?« Laura lächelte. »Konnte ich etwas anderes erwarten? Du denkst nur an das Raumkorps, an deine Karriere. Deine Ausbildung läuft jetzt auf Hochtouren... wer weiß, wohin du versetzt wirst. Auf einen anderen Planeten?« Er seufzte, doch seine Ohnmacht blieb. »Kurt«, sagte sie leise. »Machen wir Schluß, bevor es uns beiden noch mehr weh tut.« Er glaubte, daß es ihm die Eingeweide zerreiße. »Es gibt einen anderen, nicht wahr?« Laura lächelte. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte sie. »Und er meint es ernst, aber bisher war nichts...« Kurt schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht...« »Er wird für mich da sein, wie du es nie sein konntest, auch am Anfang nicht, als du noch in Königstein warst.« »Dann hast du dich schon entschieden?« Laura schwieg. »Aber das kannst du doch nicht tun... Du mußt mir noch eine Chance geben! Ich liebe dich, Laura!« 94
»Leb wohl, Kurt.« Der Bildschirm verblaßte.
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5.
Über der Stadt lag schon der Abenddämmer des letzten Tages im Jahr, als Major Kenneth MacCormack nebst Gattin durch den Grüngürtel fuhr. Ein Schild verkündete, daß Huntsville vor ihnen lag. Der Autopilot ihres Smartomobils dirigierte sie eine breite Allee entlang auf eine Hügelkuppe, dann bogen sie in eine Zufahrt ab, die zu einer Villa aus rotem Backsteinimitat führte, mit drei in der Höhe versetzten Satteldächern und einem atemberaubenden Ausblick auf das nächtliche Alamo Gordo. Der Major stieg aus, umrundete das Fahrzeug und hielt seiner Gattin den Wagenschlag auf. Sie stieg wortlos aus. Als sie die breiten Steinstufen erklommen hatten, berührte MacCormack einen Viphosensor. Der Monitor blieb dunkel, und es erklang auch kein Summer. Dann öffnete der Hausherr persönlich. »Mein Pilot hat eure Ankunft schon durchs Fenster beobachtet und ein Memo an den Mann in der Funk-Z geschickt«, scherzte Christopher Farnham. »Und der ist als guter Gastgeber natürlich gleich gesprungen«, meinte MacCormack. »Gehört sich doch so, oder?« »Allerdings.« MacCormack lächelte, ergriff mit der Rechten Farnhams Hand, legte die Linke darauf und schüttelte sie. »Tut höllisch gut, dich wiederzusehen.« »Ganz meine Meinung, altes Haus.« Farnham reichte der Gattin des Majors, die sich leise lächelnd mit Deirdre vorstellte, die Hand, dann drehte er sich zu seiner ei genen Frau und den Kindern um, die sich inzwischen unter großem Hallo hinter ihm drängten. »Das hier ist Susan, meine bessere Hälfte. Und das sind unsere Töchter Ruby und Hillary.« MacCormack tippte sich kurz an die Stirn. »Freut mich sehr, Ma'am. Kinder.« »Kommt«, sagte Farnham mit einer einladenden Geste, »ziehen 96
wir uns in den Schutz meiner Behausung zurück. Man weiß nie, wer einen hier im Dschungel beobachtet.« MacCormack grinste in sich hinein. Seine Zeit im Kongo schien den Generalmajor stark geprägt zu haben! Durch eine geräumige Diele betraten sie einen Wohnraum, der vor einer breiten Fensterfront mit einem prächtig dekorierten Eß tisch aufwartete. Edles Porzellan und eine Flasche Rotwein luden zum Sitzen ein. Der Geruch von Gebratenem und leise Barock musik hingen in der Luft. MacCorm?ck nahm Platz und starrte verdutzt auf den Wein. »Marques de Riscal, würzig-trocken?« Farnham nickte, während er Deirdre den Stuhl hinschob, auf den sie sich mit ihrem weitfallenden Rock setzte. Sie war ebenso rot haarig wie ihr Mann und hatte grüne Augen. »Aus Rueda, kein Rioja«, erklärte Farnham. »Als ich bei unserem Treffen in Cent Field davon kostete, wußte ich, daß ich mir unbedingt einen Vorrat anlegen muß.« »Und die Morenos haben ihn dir einfach so abgetreten?« »Fünf Flaschen - wenn auch zähneknirschend.« Farnham lachte. »Ich mußte mein Ehrenwort als Soldat geben, künftig öfter bei ihnen zu essen.« Die Speisen wurden aufgetragen. Hin und wieder stiegen Silve sterraketen auf, und verfrühter Feuerwerkslärm unterbrach die muntere Plauderei der beiden Ehepaare und Kinder. Beim Nachtisch verdüsterte sich Farnhams Miene. »Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« erkundigte sich MacCor mack. Der Generalmajor nickte. »Bulton sitzt mir im Nacken«, sagte er. »Er ist neulich Großvater geworden. Man sollte meinen, daß ihn das milder stimmt, aber er ist immer noch der alte Polterer von einst - und er übt Druck aus.« »Nicht sehr anständig von einem alten Kumpel.« »Nun ja, so dick waren wir auch nicht miteinander.« Er stand auf und half beim Wegräumen des Geschirrs. Seine Frau und seine Töchter zogen sich mit MacCormacks Gattin auf die Couch zurück und plauderten dort weiter. Farnham und der Major stellten sich 97
vor die breite Fensterfront. Der Generalmajor wandte den Blick zur Seite und sah MacCor mack gespannt an. »Heraus damit, wie lautet deine persönliche Einschätzung?« »Hast du meine Memos nicht bekommen?« »Ich will jetzt keinen offiziellen Scheiß hören!« »Drei Leute sind ausgestiegen. Sie waren der Belastung einfach nicht gewachsen.« Farnham unterdrückte einen Fluch. »Und das, wo Trawisheim mich gerade erst warnte, daß die Kosten zu hoch werden. Er meint, er kann bald nicht mehr garantieren, daß wir die Sache noch durchziehen können. Ich glaube, der Oberst, der an der Bespre chung teilnahm, hat ihm eingeheizt.« MacCormack schüttelte den Kopf. »Dabei geht der Löwenanteil des Budgets für die Entwicklung der neuen Ausrüstung drauf nicht für die Ausbildung.« »Wie läuft es damit?« »Wir haben einen guten Mann da oben.« MacCormack deutete zu den Bergen, die sich hinter dem Lichterschein von Alamo Gordo abzeichneten. »Er hat erstklassige Leute ausgesucht, und auch wenn ein paar davon ausgefallen sind - den Rest schweißt er zu einer echten Elite zusammen.« »Jannis Kaunas, nicht wahr? Der Feldwebel, den du bei der Be sprechung dabeihattest.« »Er ist sehr engagiert.« Farnham nickte. »Solche Leute brauchen wir.« »Die erste Auswahl stammte von ihm, jetzt haben wir 160 Re kruten, die in allen Waffengattungen unterrichtet werden. Vier Züge. Ach ja, und die Mescalero-Einheit.« Farnham blickte auf. »Die Rothäute?« »Zwei Dutzend Mann, speziell für den Nahkampf ausgebildet. Es war Kaunas' Idee, sie einzusetzen. Dadurch bekommen die Re kruten es gleich mit Topgegnern zu tun.« »Gut«, nickte Farnham. »Setzt sie vorläufig weiter gegen unsere Frischlinge ein. Wenn es fähige Männer sind, können wir sie später auch mit anderen Aufgaben betrauen.« »Es sind großartige Einzelkämpfer...« 98
Wieder gleißte am Nachthimmel eine Leuchtspur auf. Zu früh, wie der Generalmajor durch einen raschen Blick auf die Anzeige des Wandmonitors sah. Noch zwei Minuten. Er holte eine Flasche Sekt aus der Küche und füllte sechs Gläser auf einem Tablett. Dann ging er reihum. »Treibe die Ausbildung voran«, sagte er, als er wieder vor MacCormack stand. »Integriere weitere Züge. Und kümmere dich be sonders um den l. Zug.« »Ich schicke ihn bald in den Probeeinsatz.« »Aber denk daran, die Meßlatte hängt hoch. Die Bürohengste, die drüben im Regierungsturm für den Haushalt zuständig sind, muß es vom Hocker fegen.« Gegenüber an der Flanke der Sacramento Mountains zählten Leuchtziffern den Countdown ins nächste Jahr. MacCormack zählte in Gedanken mit. ...5...4... 3... »Ich verlaß mich auf dich, mein Freund«, sagte Farnham. ...2... 1...2057! Ein gewaltiges Feuerwerk stob gen Himmel und tauchte die Stadt samt Raumhafen und Berge in ein Lichtermeer. *
Er war fassungslos. Für ihn - für jeden in der Truppe! - stand fest, daß Unteroffizier Franticeff es schon lange viel zu weit trieb. Er nutzte seine Stellung als Vorgesetzter maßlos aus und ließ seinen sadistischen Neigungen freien Lauf. Drei Rekruten hatten schon das Handtuch geworfen, und es war lediglich eine Frage der Zeit, bis weitere folgten. Hatte dieser Raimundsen denn keine Augen im Kopf? Wie konnte er sich nur schützend vor ihn stellen? Kurt war außer sich vor Zorn, als er das Büro verließ und durch den Korridor eilte. Er stürmte ins Treppenhaus, schwang sich ums Geländer - und wäre beinahe gegen Feldwebel Kaunas geprallt, der jäh innehielt. Der Feldwebel blickte ihn verwundert an. Jetzt oder nie! dachte Kurt. »Hätten Sie wohl einen Moment Zeit 99
für mich?« platzte es aus ihm heraus. Der glatzköpfige Mann lächelte. »Hier im Treppenhaus?« »Es geht um eine Beschwerde!« Kaunas zog die Augenbrauen zusammen. »Die... die drei Rekruten, die entlassen wurden«, stammelte Kurt. »Sie wissen doch, daß es dafür einen Grund gab.« »Sie haben den Dienst quittiert und konnten die Truppe ohne weiteres verlassen. Sie waren den Strapazen nicht gewachsen.« »So sehe ich das aber nicht«, sagte Kurt. Kaunas Lippen wurden schmal. »Ach, wie sehen Sie es denn?« »Der wahre Grund ist Unteroffizier Franticeff. Er schleift uns bis zur Bewußtlosigkeit, bis zum geistigen Zusammenbruch! Er gefährdet unser Leib und Leben!« Der Feldwebel machte eine herrische Geste. »Sparen Sie sich weitere Ausführungen, Bück. Das ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für derartige Anschuldigungen. Reichen Sie Ihre Beschwerde schriftlich ein, dann...« »Aber das habe ich doch schon!« »Dann schlage ich vor, Sie ziehen sich jetzt auf Ihre Stube zu rück und studieren. Oder weist Ihr Schulungsplan so große Lücken auf, daß Sie Zeit zum Herumstreunen finden?« Kurt starrte ihn aus großen Augen an. »Einer der drei Abgänge war Rafael Carrion, mein Stubenkamerad! Ich weiß, daß er sich nach Kräften bemühte...« Kaunas musterte ihn mit harter Miene. »Sie wollen für ihn in die Bresche springen? Das ehrt Sie! Aber wer der Ausbildung nicht standhält, hat bei uns nichts verloren.« Kurt schwieg erschüttert. »Mit durchschnittlichen Soldaten ist uns nicht gedient, Bück, davon gibt's schon genug«, fuhr Kaunas fort, und ein Muskel zuckte unter seinem rechten Auge. »Was wir brauchen, ist eine Elite! Geht das in Ihren Kopf?« Er wartete Kurts Antwort nicht ab, sondern ging energisch an ihm vorbei die Treppe hoch und durch den Korridor geradewegs zu Raimundsens Büro.
Unteroffizier Franticeff traktierte die Rekruten auch weiterhin, womöglich noch härter als zuvor - und am härtesten wurde Kurt Bück an die Kandare genommen. Der tägliche Drill wurde zur Hölle auf Erden. Kurt dämmerte, daß der gute Eindruck, den die Rettung seines Kameraden vor dem Absturz bei Raimundsen hinterlassen hatte, offenbar endgültig verspielt war. Und seine Vermutung, daß Franticeff ihm diese Heldentat schon immer übelgenommen hatte, ver-, dichtete sich zur Gewißheit. Kaunas, der verantwortliche Ausbilder, reagierte auf diese Ent wicklungen in keinster Weise. ; Doch am schlimmsten war, daß seine Kameraden Kurt die Schuld daran gaben, daß ihre Lage sich weiter verschärfte. Sie murrten zwar untereinander über die unzumutbaren Trainingsme thoden, gingen damit aber nicht nach außen. Hinter vorgehaltener Hand fiel immer wieder das Wort von den »schlafenden Hunden«, : die Kurt schon einmal geweckt habe. Die schwierigen technischen, strategischen und M-mathematischen Studien taten ein Übriges, um ihnen noch das letzte Bißchen an geistiger Kraft zu rauben. Entspannung fanden sie nur noch beim Waffentraining. •;>• Ausgerechnet Kaunas war es, der ihnen im täglichen Ablauf des 5 Schulungsprogramms eine gewisse Erleichterung verschaffte - der Mann, der hier das Sagen hatte! Und so erfüllten Kurt durchaus gemischte Gefühle, als er sich nach dem theoretischen Unterricht zusammen mit den anderen am Rand des Schießstands einfand. Sie starrten gespannt auf das mit einer Plane verdeckte Gebilde vor ihnen. '•,< »Meine Herren«, begrüßte Kaunas sie, »ich darf Sie heute mit f einer Waffe bekannt machen, die auf unseren vorgeschobenen .•v; AST-Posten und vielen Siedlungswelten längst zum Standard ge-; hört, nicht zuletzt auf Hope, wo sie entscheidend dazu beitrug, daß wir uns gegen den Angriff der Amphis vom dritten Planeten des Col-Systems behaupten konnten.« Er schlug die Plane zurück.
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Sie blickten auf eine Art Kanone, drehbar auf schwerem Unter grund montiert. Ein Röhrensystem schlängelte sich um den Lauf herum, dessen zweite Hälfte zum Schützen hin in einem mächtigen Korpus verschwand. »Ein schweres Lasergeschütz«, sagte Kaunas. »Der Abschnitt vor mir, der wie eine riesige Patrone aussieht, nennt sich Resonator, hier wird das Lasermedium durch eine Pumplampe in einen angeregten Zustand versetzt. Das heißt, Atome und Moleküle werden solange reflektiert und zu elektromagnetischer Emission angeregt, bis das entstehende Licht stark gebündelt ist. Dann kann es durch einen halbdurchlässigen Spiegel austreten.« Er blickte sich um. »Diese Waffe ist Bestandteil unserer besten Abwehranlagen, mit denen wir auch die heftigsten Angriffe kontern können. Ich darf Sie bitten, sich mit ihren Grundlagen besonders eingehend zu be schäftigen. Doch jetzt möchte ich Sie in der Handhabung des Ge schützes unterrichten.« Zwei Stunden verstrichen, in denen die Rekruten sich mit der Waffe vertraut machten. Auch Kurt konnte sich der davon ausge henden Faszination nicht entziehen. »Das war's, meine Herren«, sagte Kaunas schließlich. »Ich darf Sie nun zur körperlichen Ertüchtigung einladen. In Reih und Glied, rechts um - joggen Sie!« Es war nicht einfach für die erschöpften Männer, sich noch einmal zu einem Lauf über das dunkle Plateau aufzuraffen. Die Strapazen, die Unteroffizier Franticeff ihnen am Morgen auferlegt hatte, waren schon mehr gewesen, als sie unter normalen Umständen ertragen konnten. Kurz vor dem Rand des Plateaus, bevor sie den schmalen Pfad erreichten, der dicht am Abgrund vorbeiführte, brach einer der Rekruten erschöpft zusammen. Auf ein entsprechendes Kommando hin blieben die Männer ste hen. Sie atmeten schwer, stützten sich auf die Knie und hofften, daß die Unterbrechung möglichst lange dauerte. »Feldwebel«, stöhnte einer von ihnen. »Ich kann auch nicht mehr, warum tun Sie das?« Kaunas befahl zwei Rekruten, den Gestürzten zu versorgen, 102
dann wandte er sich dem Fragesteller zu. »Es geschieht nur zu Ihrem Besten«, sagte er. »Je stärker Sie sind, desto besser können Sie den Gefahren trotzen, die im Gefah renfall auf Sie zukommen.« Ein jäher Schrei erklang. Jannis Kaunas fuhr herum und sah gerade noch, wie einer der Männer sich mit ausgestreckten Armen auf ihn stürzte. Er sprang zur Seite, doch der andere schoß nicht an ihm vorbei, sondern hielt inne, ruckte in seine Richtung und bekam den Hals des Feldwebels zupacken. »Was... was soll das?« krächzte Kaunas. Der Rekrut, ein knapp zwanzigjähriger Araber mit Lockenhaar und loderndem Blick, würgte Kaunas, der daraufhin das rechte Knie hochriß - mitten in seinen Schritt. Der Mann schrie vor Schmerz auf und ließ los, brach jedoch nicht zusammen. Sein Zorn hielt ihn aufrecht. »Du hast uns genug geschunden, Kaunas! Du und deine Brut!« brüllte er vorgebeugt, die Hände auf den Unterleib gepreßt. »Ein Wort von dir hätte genügt, um dieser Qual ein Ende zu bereiten! Aber das willst du nicht, habe ich recht? Du willst uns leiden se hen!« Er schrie erneut auf und warf sich auf ihn, wollte ihn mit einem rechten Schwinger zu Boden schicken, doch Kaunas duckte sich weg, konterte mit einem Fauststoß in die Rippen, dem er einen Aufwärtshaken folgen ließ, so daß der stämmige Araber auf die Zehenspitzen gehoben wurde. Zwei derbe Stöße gegen die Brust trieben ihn mit rudernden Armen nach hinten. Dann holte der Feldwebel weit aus und versetzte ihm einen krachenden Ellenbo genschlag ins Gesicht. Der Mann wurde zur Seite geschleudert, ein langer blutiger Speichelfaden verlor sich in der Dunkelheit, dann stürzte er bäuchlings zu Boden und blieb reglos liegen. Atemlose Stille erfüllte die Nacht. »Das wäre nicht nötig gewesen«, sagte jemand. Es war Wladimir, der dumpf auf den Bewußtlosen starrte. Kurt spürte, wie sich ihm die Eingeweide zusammenzogen. Das War keine Verteidigung gewesen, sondern ein Gemetzel. 103
»So ergeht es jedem, der mich angreift - der die Ehre der Truppe beschmutzt!« keuchte der Feldwebel. »Sie hätten ihn nicht so fertigzumachen brauchen«, sagte Wla dimir noch einmal. »Er war doch völlig erschöpft.« Der Feldwebel blickte ihn an. »Niemand - ich wiederhole - niemand hat das Recht, mich an zugreifen. Nicht, weil ich euer Vorgesetzter bin, und auch nicht, weil ich das terranische Militär verkörpere, sondern einfach nur, weil ich besser bin.« Er ballte die Fäuste, und seine Augen ruckten hin und her. »Weil ich mit jedem kurzen Prozeß mache, der mich herauszufordern wagt!« Die letzten Worte brüllte er, sehr zum Schrecken der Rekruten, die den Feldwebel noch nie so außer sich gesehen hatten. Es war, als habe der Angriff eine unbekannte Schattenseite in ihm aufge deckt. »Wagt es noch jemand, mich herauszufordern? Ich bin nicht der beste Kämpfer des Raumkorps geworden, weil ich sanft mit meinen Feinden umgehe!« Selbst in der Dunkelheit ließ sich erkennen, daß sein Kopf rot angelaufen war. Stummes Entsetzen erfüllte die Luft. Kaunas schaute sich um. Hektisch. Prahlerisch. »Wer will gegen mich antreten? Na, niemand?« Sein Blick blieb auf Kurt ruhen. »Bück, Sie sind doch so ein toller Kämpfer. Haben Sie nicht sogar eine Meisterschaft gewonnen?« Er lachte. »Außerdem haben wir noch eine Rechnung offen, stimmt's?« Kurt versteifte sich. »Ich will nicht gegen Sie kämpfen.« »Sie müssen«, grinste Kaunas. »Ihre Ehre steht auf dem Spiel. Samstag mittag um zwölf, in der Sporthalle.« Der Zorn des Feldwebels verrauchte so schnell wieder, wie er gekommen war. Er deutete auf den Bewußtlosen. »Hebt ihn auf und bringt ihn auf seine Stube. Laßt ihn ausschlafen. Und dann soll er verschwinden, aber in aller Frühe. Seine Papiere schicken wir ihm nach.« Er machte kehrt und führte die Truppe zurück zur Kaserne. *
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»So ein Mistkerl!« fluchte Kurt Bück, und seine blauen Augen funkelten zornig. »Der ist kein Deut besser als Franticeff. Kein Wunder, daß Halef ausgeflippt ist. Und jetzt hat er's auch noch auf mich abgesehen. Ich sage dir, Wladimir, der hat nur auf so eine Gelegenheit gewartet!« »Ich finde, du übertreibst«, erwiderte der Ukrainer. »Ach ja?« Bück starrte ihn an. »Du vergißt wohl, wie er uns neulich beim Boxen beobachtet hat? Da muß er irgendwie Blut geleckt haben. Konkurrenz, weißt du? Noch ein guter Fighter. Der Glatzkopf ist doch nicht ganz sauber!« Er stand auf, raffte die Folien mit den Gleichungen, die er auf seinem Bett ausgebreitet hatte, zusammen und warf sie wutent brannt in die nächste Ecke. »Wie soll man sich so aufs Studium konzentrieren? Hätte ich mich bloß nie beim Raumkorps beworben!« Antoku Seiwa lag gegenüber in seinem Bett, den Rücken ans Kopfende gelehnt. Er blickte von seinen Unterlagen auf und schob den Rapidschreiber, mit dem er sich Notizen gemacht hatte, hinters Ohr. »Klingt, als hättest du eine Krise, Großer«, sagte er leise. Er hatte allen Grund, den über ein Meter neunzig großen Stu benkameraden so zu nennen. Bei einem Größenunterschied von zwanzig Zentimetern und einem Gewichtsunterschied von fast dreißig Kilo grenzte es an ein Wunder, daß er ihn nicht »Godzilla« nannte. »Du sei mal ganz still!« tobte Kurt. »Von dir hört man ja kein Wort der Klage. Einen schlimmeren Duckmäuser als dich gibt's im ganzen Raumkorps nicht!« Der Japaner blickte ihn schweigend an, dann nahm er den Ra pidschreiber und wandte sich wieder den Folien zu. Wladimir legte seinem Freund die Hand auf den Arm. »Hör schon auf, Kurt, jetzt übertreibst du wirklich. Seit das mit Laura passiert ist, bist du kaum noch wiederzuerkennen. Ständig gereizt und unzufrieden - und jetzt das. Man könnte meinen, daß du dich vor Kaunas fürchtest!« Der blonde Hüne machte eine unwillige Geste. »Du weißt genau, daß ich den im Nu auf die Bretter schicke. Ich habe gesehen, wie er sich bewegt. Er hat gegen mich keine Chance.« 105
»Was ist es dann?« Kurt drehte sich um und sah den Ukrainer lange an. »Täglich derselbe Trott, derselbe Drill. Ich halte das nicht mehr aus, Wlad. Erst sorgen sie dafür, daß einem die Muskeln schier platzen, geistig wie körperlich, und dann lassen sie uns einfach Spinnweben ansetzen. Ich will endlich weg von diesem dämlichen Plateau!« Wladimir nickte. »Verständlich.« Er ging wieder zu seinem Stuhl und setzte sich. »Du willst zeigen, was du drauf hast. Aber bis es soweit ist, mußt du dich in Geduld üben. Lerne diese Tu gend«, sagte er mit einem Seitenblick auf Antoku, »du wirst sie noch brauchen.« Dann vertiefte er sich wieder in seine Unterlagen. Kurt stellte sich neben ihn vor den Schreibtisch und sah aus dem Fenster. Trotz der klirrenden Kälte war kein Stern am Himmel zu sehen. Eine dichte Wolkendecke erstreckte sich über ihnen in der Dunkelheit. So Unrecht hatte Wladimir nicht. Seit Laura mit ihm Schluß gemacht hatte, war er nicht mehr der alte. Er mußte ganz einfach Dampf ablassen. Feldwebel Kaunas kam ihm da gerade recht! *
Die Neuigkeit machte rasch die Runde, und schon bald gab es in der Kaserne kein anderes Thema mehr. Der unglaubliche Druck, den die Doppelbelastung durch militä rischen und wissenschaftlichen Drill ausübte, trieb alle bis an den Rand des Zusammenbruchs, und Halef Gossams unehrenhafte Entlassung steigerte den Zorn der einfachen Rekruten auf die Ver antwortlichen schier ins Unermeßliche. Aber niemand wagte es, sich öffentlich zu beschweren. Kurts bevorstehender Kampf gegen Feldwebel Kaunas brachte das Problem auf den Punkt. Ein Rekrut gegen den Oberschleifer! Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde der junge Deutsche angesprochen und ermutigt, zahlreiche Kameraden plazierten Wetten auf ihn, einige wenige auch auf Kaunas. Doch als er am Samstag mit Wladimir und Antoku die Sporthalle betrat, glaubte 106
er trotzdem, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Die ganze Kaserne schien sich versammelt zu haben, alle vier Züge und die Mescalero-Einheit, und wenn er nicht irrte, sogar der gesamte Offiziersstab... Zusammen fast zweihundert Mann! Unter dem Jubel der Anwesenden führten Wlad und Antoku ihn in einen Umkleideraum, damit er sich geistig und körperlich fit machen konnte. Kaunas wollte ohne Boxhandschuhe und ohne Regeln kämpfen, was Kurt durchaus recht war. Aber wenn er an die funkelnden Augen, lauten Schreie und hochgerissenen Fäuste seiner Kameraden dachte, überkam ihn doch leichtes Unwohlsein. Er hatte nicht damit gerechnet, so eine große Verantwortung tragen zu müssen. Sie wollten ihn unbedingt siegen sehen! Als lautes Klatschen und vereinzelte Buhrufe durch die Tür klangen, wußte Kurt, daß jetzt auch der Feldwebel eingetroffen war und sich zum Aufwärmen zurückgezogen hatte. Gut, er würde ihnen den Wunsch erfüllen. Er war körperlich in Topform und fühlte sich Kaunas weit überlegen, nicht zuletzt wegen des Drills, den er hier seit Monaten durchlitt. Sie sollten ihn siegen sehen! Aus einem Lautsprecher über der Tür ertönte sein Name. Er grinste seinen Freunden noch einmal zu und verließ in seinen schwarzen Boxer-Shorts mit den weißen Kreisen an den Lenden, den Farben ihrer Einheit, den Raum. Das Publikum in der Halle trampelte immer hektischer und schneller mit den Füßen, als er sich mit wiegendem Oberkörper und spielerischen Fauststößen dem Ring näherte. Kaunas erwartete ihn schon. Er stand ruhig in einer Ecke und sah ihm entgegen. Zu Kurts Überraschung trug er seinen weißen Kampfanzug, genau wie damals, als Wladimir und er sich in diesem Ring das erste Sparring geliefert hatten. Während Kurt zur Auflockerung weitere Fauststöße durchführte, machte Kaunas einige Dehnungsübungen. Der Kampfrichter kam auf sie zu, ein junger Physiker, der zum wissenschaftlichen Stab gehörte und ihnen normalerweise dabei half, das neuerworbene theoretische Wissen in Laborversuchen 107
praktisch umzusetzen. Er begrüßte sie per Handschlag und bat sie, voreinander Aufstel lung zu nehmen. Dann ermahnte er sie zur Sportlichkeit, stellte sich etwas abseits, hob die Rechte und zog sie nach unten weg... Der Kampf hatte begonnen. Kaunas rührte sich nicht, musterte sein Gegenüber jedoch mit stechendem Blick. Kurt nahm die Fäuste hoch, trat einen Schritt vor - jetzt hob auch Kaunas die Hände. Der Rekrut lockte ihn mit der linken Faust. Keine Reaktion. Er tänzelte zur Seite, täuschte an, sprang auf ihn zu, wieder zurück. Kaunas reagierte noch immer nicht. Der blonde Hüne legte seine ganze Kraft in einen rechten Schwinger gegen den Kopf des Feldwebels. Kaunas blockte mit dem Unterarm nach oben, fuhr herum. Sein rechtes Bein beschrieb einen Halbkreis und traf Kurts Nieren. Ra sender Schmerz durchzuckte ihn, er knickte ein. Sofort war Kaunas hinter ihm, rammte ihm das rechte Knie in den Rücken und riß ihn an den Schultern hart zu Boden. Kurt lag noch nicht, als Kaunas sich schon auf ihn warf und hoch auf ihm thronend, die Faust in der Handfläche, zwei Ellenbo genschläge gegen seinen Kiefer landete. Es knackte unangenehm. Kurt verlor das Bewußtsein. Der Kampf war vorbei. *
Drei Sekunden! Genau drei Sekunden hatte der Kampf gedauert! • Kurt konnte es noch immer nicht glauben. Er lag auf der Krankenstation, umringt von Geräten, die seine Körperfunktionen überprüften, während mehrere Gelenkarme die Metallpfanne einstellten, in die sein Kinn gebettet war. Sein Hin terkopf ruhte in einem Greifer, der durch frei bewegliche Schar niere seitlich mit der Pfanne verbunden war. Ein Rechner justierte bei ständiger Ultraschall-Supervision die genaue Lage seiner gebrochenen Kiefergelenke. Als der Computer die Position ermittelt hatte, die der größten 108
Wahrscheinlichkeit nach der ursprünglichen Ausrichtung der Splitter entsprach, traten Laser in Aktion, die das Knochengewebe unter der Haut verschweißten. Kurt empfand keinen Schmerz, es roch nur etwas nach versengtem Fleisch. »Ein teurer Spaß, den Sie sich geleistet haben«, sagte der weiß bekittelte Franzose, ohne den Blick vom Kontrollmonitor zu neh men. »Aber für unsere Soldaten ist uns nichts zu schade. Dabei hätte ich Ihnen sagen können, daß Sie gegen Feldwebel Kaunas keine Chance haben.« Warum haben Sie 's nicht getan? dachte Kurt, fragte jedoch nicht laut, aus Angst, daß der Robotchirurg ihm, wenn seine Kiefer sich bewegten, irreparable Schäden zufügen könnte. »Wissen Sie«, fuhr Dr. Jacques Martinez fort, »der Mann hat den dritten Dan. Ein Schwarzgurt, verstehen Sie? Mit bloßen Händen kommt dem niemand bei.« Natürlich! Der Fußschwung, die Ellenbogen - asiatische Kampftechniken! Es erschütterte ihn, wie blind er angesichts des weißen Anzugs gewesen war. Unwillkürlich stöhnte er auf. »Keine Sorge, mein Freund, wir sind gleich fertig«, sagte Martinez, der Kurts Reaktion mißverstand. »Eigentlich dürfte es nicht wehtun, aber die Phantasie trägt schließlich auch ihr Teil bei, nicht wahr?« Ich bin nicht dein Freund! durchfuhr es Kurt, doch er verkniff sich eine Antwort, bis die Instrumente sich von seinem Kiefer zu rückgezogen hatten. Dafür schob sich eine Düse heran, die ein klebriges Gespinst ausstieß, das von einem Metallstift vor ihm um seinen Kopf gewickelt wurde. »Danke, Dr. Martinez«, murmelte er vorsichtig, als er sich in dem Spiegel betrachtete, den der Arzt ihm hinhielt. Sein Unterkiefer war jetzt durch Bandagen fixiert. »Nicht schön, aber hoffentlich heilsam. Wie lange darf ich die Mumie von Mescalero spielen?« Der Chirurg lachte. »Wir wollen nur auf Nummer Sicher ge hen«, erwiderte er und zog den Spiegel zurück. »In ein paar Stunden kann unser Rechner anhand aktueller Daten hochrechnen, ob die Knochenstruktur an der Schweißnaht Verschiebungen auf 109
weist. Ist das nicht der Fall, sind Sie die Verschnürung gleich wieder los.« Es klopfte, und der Arzt richtete sich wieder auf. Kurt blickte gespannt zur Tür. Eine stämmige Person betrat das Zimmer. Dunkles Haar, Hakennase... »Wladimir!« entfuhr es Kurt, wobei er entsetzt merkte, daß ein Stechen seinen Kiefer durchzuckte. »Was fällt Ihnen ein, einfach den OP zu betreten?« sagte Dr. Martinez. Der Ukrainer zuckte mit den Achseln. »Gerade ist das rote Licht über der Tür erloschen. Da dachte ich mir, die Operation wird vorbei sein.« Kopfschüttelnd wandte der Arzt sich einer Anrichte zu und zog die keimarmen Plasthandschuhe aus, erhob jedoch keine Einwände mehr, als Wladimir Jaschin an den OP-Tisch trat, auf dem sein Freund lag. »Fein siehst du aus«, erklärte er und deutete auf die Bandage, die um Kinn und Kopfoberseite gewickelt war. »Fehlt nur noch ein Schleifchen obendrauf.« Kurt grinste säuerlich. »Ich will doch nicht aussehen wie deine Großmutter. Sag mir lieber, wie die Kumpels meine Niederlage aufgenommen haben.« »Nun ja, heiterer Frohsinn herrscht nicht gerade. Besonders die, die Geld auf dich gesetzt haben, sind ziemlich sauer auf dich.« Wladimir schmunzelte. »Sie haben sich deutlich mehr vom Mei sterboxer Bück erhofft.« Kurt schwieg und sah zu, wie Dr. Martinez einige Instrumente in ein steriles Bad legte und dann mit einem kurzen Nicken das Zimmer verließ. Kurt nickte zurück. »Aber Kaunas hat es geschafft, die Stimmung zu retten«, fuhr Wladimir fort. »Sie hatten dich kaum auf der Trage rausgebracht, als er erklärte, daß er asiatische Kampftechniken jetzt auf den Lehrplan setzen werde. Er hatte von Anfang an vorgehabt, den Kampf zu Demonstrationszwecken zu nutzen.« »So ein fieser Hund«, murmelte Kurt. »Dann war ich also nur Mittel zum Zweck. Er hat mich mit Absicht fertiggemacht. Ich hab's ja gewußt...« Er sah zu Wladimir hoch. »Aber ich halte 110
durch - von dem laß ich mich nicht zur Schnecke machen! Der wird noch sein blaues Wunder erleben!« Der Ukrainer wiegte skeptisch den Kopf. »Ich finde, du nimmst die Sache ein bißchen zu persönlich...« »Ach ja? Wenn er mit seinen asiatischen Tricks so gut ist, warum hat er mir dann den Kiefer zertrümmert? Das war doch nicht nötig, oder? Ich dachte immer, die Japaner oder Chinesen oder wer immer dieses Zeugs auch ausbrütet predigen die sanfte Kunst der Verteidigung.« Wladimir zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hast du recht. Aber seine Aktion war ein voller Erfolg. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie die Leute gejubelt haben. So cool will natürlich jeder sein. Ratschpatsch hat's gemacht, und schon warst du weg vom Fenster.« »Danke, daß du mich daran erinnerst«, knurrte Kurt. Wladimir beugte sich über den OP-Tisch und blickte seinen Freund mit Augen an, die vor Begeisterung funkelten. »Der Hammer kommt erst noch: Er meinte, die Grundausbildung sei damit abgeschlossen. Weißt du, was das bedeutet?« Kurt starrte seinen Freund an. »Überlebenstraining...?« Wladimir nickte und richtete sich wieder auf, verschränkte zu frieden die Arme vor der Brust. »Morgen geht's ab in den Amazo nasdschungel!« *
Jannis Kaunas stand am Fenster seines kleinen Büros und ging noch einmal seinen Bericht durch. Nachdenklich blickte er durch die frostbeschlagene Scheibe auf den Exerzierplatz hinaus, auf dem kniehoch der Morgennebel lag. Der l. Zug führte seinen rou tinemäßigen Drill durch, und nichts erinnerte mehr an die unbehol fenen Frischlinge, die er vor Monaten auf dieses Plateau gebracht hatte. Er war zufrieden mit ihren Leistungen - sie waren zu Männern gereift. Jetzt fehlte ihnen nur noch der letzte Schliff, den man lediglich «n Einsatz vor Ort bekam... Das Vipho summte. 111
Kaunas griff zur Seite und drehte den Monitor in seine Richtung. Auf dem Bildschirm flackerte die Kennung von Major MacCor mack, seinem Vorgesetzten und Mentor. Ein Sensordruck, und das Gerät schaltete auf Empfang. »Schön, daß ich Sie gleich erreiche, Feldwebel«, begrüßte der Rotschopf ihn. »Ich fürchtete schon, daß Sie mit den Männern im Gelände unterwegs sind.« »Heute ist Feldwebel Raimundsen für den Drill zuständig«, sagte der Balte. »Ich kümmere mich später um sie, auf dem Schießstand und in der Sporthalle.« MacCormack nickte. »Das bringt mich zum Grund meines An rufs. In der Chefetage will man wissen, wie weit die Ausbildung fortgeschritten ist. Können wir wie vorgesehen mit dem Überle benstraining beginnen?« Kaunas nickte. »Der l. Zug ist soweit. Ich schließe gerade einen Bericht ab, in dem ich die Männer einzeln beurteile. Er geht Ihnen in wenigen Minuten zu.« »Gab es noch weitere Aussteiger?« »Einen. Er verlor die Nerven und griff mich an, aber künftig wird's keine Ausfälle mehr geben.« Er grinste. »Man könnte sagen, die Truppe ist über den Berg.« MacCormack beugte sich vor, so daß sein Gesicht den ganzen Bildschirm ausfüllte. »Wie ich höre, haben Sie sich noch mit ei nem weiteren Rekruten einen Kampf geliefert. Es soll ein unglaub liches Spektakel gewesen sein.« Kaunas schluckte. Der Tonfall des Majors ließ auf Mißbilligung schließen. »Die Aktion im Ring sollte unsere Leute für das neue Kampfsport-Training motivieren und dem Betreffenden seine Grenzen aufzeigen. Er hatte sich schon eine Art Sonderstatus er worben, das durfte ich nicht zulassen.« »Ein guter Mann?« »Vielleicht der beste. Ein heller Kopf und tüchtiger Soldat. Er rettete einem seiner Kameraden das Leben.« MacCormack hob die Brauen. »Ich erinnere mich. Vor einiger Zeit wäre fast jemand abgestürzt...« Kaunas nickte. »Rekrut Bück hat ihn gerettet. Wie gesagt, ein hervorragender Mann. Aber mit dem Gehorsam hapert's bei ihm 112
noch etwas.« »Das sind nicht die schlechtesten«, erwiderte der Major. Er lehnte sich zurück, so daß wieder sein Oberkörper zu sehen war. Kein Stäubchen störte den makellosen Eindruck seiner Uniform. »Bitte halten Sie mich auf dem laufenden.« »Über die Fortschritte der Truppe?« »Über diesen Bück.« Feldwebel Kaunas nickte. »Der Mann ist vielversprechend. Wir werden sehen, wie er sich beim Überlebenstraining bewährt. Viel leicht hat er ja eine stolze Karriere vor sich.« »Vielleicht.« »Ich gebe Ihnen regelmäßig Bescheid.« »Das weiß ich zu schätzen, Feldwebel, vielen Dank. Auch für Ihre großartige Arbeit bisher.« Er tippte an seine Mütze und schaltete das Vipho aus. Das Abbild des Majors flackerte kurz, dann wurde der Bildschirm schwarz. Kaunas blickte auf den Bericht in seiner Hand. BÜCK, KURT, stand auf der obersten Folie. Jahrgang 2039. Deutscher. Eltern während der Giant-Invasion verschollen. Vermutlich tot. Abschluß mit Auszeichnung im staatlichen Internat Königstein/Sachsen. Der Major legte seine schützende Hand über ihn. Kaunas wußte nicht, ob ihn das freuen oder ärgern sollte.
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6.
Er spürte Blutegel an seinen Beinen, und wahre Heerscharen von Moskitos fielen über ihn her, auf die er längst nicht mehr rea gierte. Das Halbdunkel zehrte an seinen Nerven. Er konnte die mächtigen Baumstämme, die sie umgaben, kaum unterscheiden, geschweige denn Lianen und Mangroven aus weichen, die wie aus dem Nichts heraus auftauchten und ihm ins Gesicht peitschten. Die entsetzliche Stille, lediglich vom Glucksen des Wassers unter brochen, das sie mit ihren Schritten aufwühlten, tat ein Übriges, um grauenhafte Ängste in ihm zu wecken. »Zum Teufel mit dieser grünen Hölle!« entfuhr es ihm. Er blieb abrupt stehen und wandte sich an seine Kameraden, die ihm dicht folgten. Panik erfaßte ihn, als er nur Antokus und Andres von An strengung gezeichnete Gesichter sah. Jemand fehlte. »Bill? Wo steckst du, Bill?« »Ich bin hier, Kumpel«, sagte eine dumpfe Stimme. Zwei weiße Zahnreihen leuchteten in der Dunkelheit auf. »Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt«, sagte Kurt. »Du bist besser getarnt als jeder Laubfrosch.« Bill grinste noch breiter. »Liegt in der Natur der Sache«, meinte er und zwinkerte vergnügt. Die schwüle Hitze und bedrohliche Finsternis schienen ihn nicht das geringste auszumachen. Bill, ei gentlich Yarramarna Neidjie, war Australier, genauer gesagt, Schwarzer, noch genauer gesagt, ein Ureinwohner vom Stamme der Gagudju aus dem Nord-Territorium des roten Kontinents und wie seine drei Kameraden Eliterekrut des Raumkorps. »Wie lange müssen wir noch durch diesen mörderischen Dschungel stapfen?« murrte Andre Souaran. Kurt warf einen Blick auf den Kompaß an seinem Handgelenk. Die Innenseite des Glases war leicht beschlagen. »Wenn unsere mittlere Marschgeschwindigkeit stimmt und das Ding hier nicht das Zeitliche gesegnet hat, dürften wir unser Lager in einer Stunde erreichen.« »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte der Franzose und 114
schaute sich skeptisch um. »Es käme einem Wunder gleich, wenn wir nicht vom Weg abgekommen wären.« »Sind wir nicht«, sagte Bill nur. Kurt Bück nickte und ging in der bisherigen Richtung weiter, wobei er immer wieder auf den Kompaß sah. Gedanklich war er schon bei den Unterkünften, die sie unter Anleitung eines Pionier trupps auf einer Anhöhe am Rand des Amazonas errichtet hatten. Wie seine Kameraden konnte er sich im Moment nichts Schöneres vorstellen, als von Moskitonetzen umgeben reglos auf einer harten Holzpritsche zu liegen und den Geräuschen der Nacht zu lauschen. »Wie spät ist es jetzt?« wollte Andre wissen. »Fünf Minuten später«, sagte Kurt. Das Wasser, durch das sie wateten, wurde allmählich tiefer, und die Luftwurzeln an den Bäumen wuchsen ins Gigantische. Liebend gern hätte Kurt den Kameraden seine Sorge mitgeteilt, daß sie sich vielleicht verirrt hatten und in den Gezeitenbereich der Amazo nasmündung geraten waren, aber schon kurz nachdem der Schweber sie abgesetzt hatte, war deutlich geworden, daß Antoku und Andre ihn als ihren Anführer betrachteten, und er wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Lediglich Bill hatte seine eigene Meinung und folgte Kurt nicht aus Mangel an Alternative, sondern aus der Überzeugung heraus, den richtigen Weg zu nehmen. Kurt staunte über seine Entschiedenheit, die sich mit seinen Ein drücken deckte. Er hätte nicht geglaubt, daß die natürlichen In stinkte eines Austrainegers ihm auch unter diesen ganz anderen klimatischen Verhältnissen halfen. Ein Rascheln erklang. Kurt erstarrte. Auch Andre und der Japaner rührten sich nicht mehr vom Fleck, genau wie Bill, der jedoch den Kopf wandte. Dann hielt er jäh mne. Kurt kniff die Augen zusammen und sah, daß der Schwarze den Zeigefinger bis zur Schulter hob und seitlich wegdrehte. Er deutete schräg neben sich auf einen mächtigen Baumstamm, gegen den Wasserringe liefen. Die sind doch von uns, dachte Kurt. Aber dann korrigierte er sich. Diese Ring brachen sich mit ihren eigenen. Und als Kurt die Luftwurzeln, von denen sie ausgingen, genauer 115
betrachtete, entdeckte er zwei kleine gelbe Punkte. Der kalte Schweiß brach ihm aus, doch zu seinem Erstaunen er faßte ihn keine Lähmung. Er nahm lautlos den Multikarabiner von der Schulter und schaltete auf Blasterfeuer. Bill tat kaum merklich das gleiche. Andre rührte sich nicht, weil er nicht wußte, was überhaupt vorging, während der Japaner ihren Blicken gefolgt war und den Oberkörper halb gewendet hatte. Er bewegte sich nur deshalb nicht, um den Feind nicht unnötig zu warnen. Bill und Kurt legten ihre Karabiner an. Der Deutsche nickte sei nem Kameraden zu. Der Australneger nahm noch einmal genau Ziel und zog langsam den Abzug durch. Fauchen. Wasser verdampfte. Bill hatte zwischen die Augen gezielt, doch er schien nicht richtig getroffen zu haben. Die Bestie starb nicht. Ihr mächtiger Schwanz peitschte so heftig umher, daß die Gischt ihnen fast den Blick nahm. Dann kam sie mit wie wahnsinnig rudernden Gliedern auf sie zu. Kurt hatte den Eindruck, als liefe sie auf dem Wasser. Der Schuß hatte ihr das halbe Maul weggerissen! Und Bill war der erste auf ihrem Weg. Jetzt erwachten auch Andre und Antoku zum Leben, zerrten ihre Karabiner von der Schulter und eröffneten das Feuer. Ihre Schüsse gingen daneben. Bill reagierte nicht, so sehr hatte das Entsetzen ihn im Bann. Und Kurt spürte, daß etwas mit ihm geschah. Vor seinem geistigen Auge wurde die Bestie immer größer, richtete sich zu stolzen zweieinhalb Metern auf. Der schuppige Schädel wurde zu einem Raubtierkopf, aus dem Zischlaute drangen. Ihre vier Glieder wollten ihn umfangen. Die hellgelbe Bauchseite prangte ihm entgegen, die Farbe der verhaßten Invasoren! Ein Giant! Wie in Trance schaltete Kurt auf Projektil, visierte die Bestie an und schoß mitten in den Schlund, durch die fehlende Oberseite des Mauls deutlich zu erkennen. Sein Gegner heulte auf. Kurt hörte seinen telepathischen Auf schrei, die brutale Warnung. 116
Du hast keine Chance, Mensch! Wir werden dich auslöschen. Dich und dein ganzes Volk - ihr seid Verdammte! Die Bestie wurde in die Höhe gerissen und kippte nach hinten über. Ihr Schwanz peitschte noch einige Male das Wasser, dann verblaßten die Umrisse des Invasoren. Immer schlaffer wurden seine Bewegungen, dann trieb er rücklings im aufgewühlten Sumpf - nur ein Krokodil... Der Schwarze wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte Kurt an. »Vielen Dank«, hauchte er. Der junge Deutsche starrte weiter auf den treibenden Kadaver, aus dem Blut sickerte. Er konnte es im ständigen Halbdunkel nicht sehen, aber er roch es! Irritiert blickte er Bill an. »Was sagst du?« »Schon in Ordnung«, meinte der Ur-Australier und wandte sich Andre und Antoku zu. »Verschwinden wir jetzt besser. Wer weiß, was sich hier einfindet, um über den Kadaver herzufallen.« Die beiden nickten. Kurt folgte ihnen benommen, als sie unter Führung von Bill weiter durch das brackige Wasser wateten - wie Zugvögel in Richtung des Lagers. *
Es war ein unendlich erschöpfter Wladimir Jaschin, der kurz vor Morgengrauen wieder im Lager eintraf. Kurt schrak aus tiefem Schlaf, als sein Freund ins Zelt taumelte, dicht gefolgt von zwei Kameraden. Der vierte der Gruppe, ein junger Niederländer namens Sam Uitveeren, erstattete draußen dem verhaßten Franticeff Meldung, der sich in großmännischer Weise an einem Tisch mitten im Lager plaziert hatte, um die zu rückkehrenden Gruppenführer zu befragen. Kurt hörte das Gespräch noch ein wenig benommen durch die dünne Zeltplane hindurch, als stünde er direkt daneben. »Ihr Trupp kommt spät, Uitveeren.« »Tut mir Leid, Unteroffizier.« Keuchen. »Es war die Hölle... wir wären fast alle drauf gegangen...« »Was Sie nicht sagen.« 117
»Eine Riesenschlange hatte sich Calhoun geschnappt, wir mußten das Vieh regelrecht in Stücke hacken. Und Garrison wurde von einem Jaguar angegriffen... mein Gott, ich wußte gar nicht, daß die hier im Unterholz rumstreunen...« »Seien Sie froh, daß Sie nicht den Urueu-Wau-Waus begegnet sind«, sagte Franticeff zynisch. »Wie bitte?« »Einem Indianerstamm in der Nähe. Er jagt noch mit Giftpfei len.« Kurzes Schweigen. »Aber wenn ich's recht bedenke, haben wir die sicher schon ausgerottet...« »Nein, Sir... Indianern sind wir nicht begegnet...« »Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen, Uitveeren. Sie haben von allen Trupps am längsten gebraucht. Haben Sie eine Ahnung, seit wann ich hier schon auf Sie warte?« »Ich sagte doch... die Tiere... und dann haben wir uns noch verirrt...« »Trotz Kompaß?« »Das Wasser... Sie haben uns direkt in einem Wirrwarr von Ne benarmen abgesetzt...« »Darüber reden wir später!« Kurt hörte nicht weiter hin. Er half Wladimir und den beiden anderen, ihre Ausrüstung unter den Pritschen zu verstauen, dann blickte er den Freund kopfschüttelnd an. »Hat der Mistkerl euch im sumpfigsten Gelände ausgesetzt?« »Ja. Ich hätte gut Lust, einen Tapir auf ihn zu hetzen!« Der Ukrainer ließ sich rücklings aufs Lager fallen und warf die Arme nach hinten. »Er ist und bleibt eben eine Ratte.« »Jetzt habt ihr's ja geschafft«, erwiderte Kurt. »Und völlig ohne Verluste - das ist doch die Hauptsache.« »Alles lief bestens, trotz der Umwege, die wir nehmen mußten«, murmelte Wladimir. »Garrison ist ein verdammt guter Schütze... bleibt bei Gefahr völlig ruhig... sonst hätte der Jaguar ihn zer fleischt...« Kurt blickte zu dem schlaksigen Amerikaner, der sich ebenfalls lang auf seiner Pritsche ausgestreckt hatte und schon laut schnarchte, als Sam Uitveeren hereinkam. Der Gang des Nieder länders war unsicher, der Einsatz hatte ihn sichtlich mitgenommen 118
- wohl auch wegen seiner Verantwortung als Gruppenführer. Kurt begrüßte ihn, nahm ihm Waffen und leichtes Gepäck ab, und noch bevor er alles verstaut hatte, schnarchte auch Uitveeren. Ein Blick zu Wladimir zeigte Kurt, daß sein Freund ebenfalls in tiefen Schlaf gesunken war. Er konnte ihre Erschöpfung nachvollziehen. Den ganzen Tag und zwei Drittel der Nacht hatten sie gebraucht, um ins Lager zu rückzukehren - und jetzt blieb ihnen nur noch eine knappe Stunde bis zum Morgenappell! Kurt überlegte, ob er sich auch wieder aufs Ohr legen sollte, ent schied sich aber dagegen. Er kramte sein Studienbuch hervor und nutzte die restliche Zeit, um sich mit dem technischen Aufbau des Geländeschwebers vertraut zu machen, eines Luftkissenfahrzeugs, dessen Vorteil bei Einsätzen darin bestand, das es wegen seines konventionellen Antriebs keine für den Feind auffälligen Energie muster erzeugte. Als man ihnen eine Stunde später noch vor dem Frühstück mit teilte, daß sie gleich wieder losgeschickt würden, erstaunte ihn das nicht sonderlich. Diesmal sollte Kurt die Funktion des Gruppen führers übernehmen. Er begrüßte die drei Kameraden, die ihn be gleiten sollten, und vertiefte sich in die Details des Marschbefehls, den er erhalten hatte. Es war einer von vielen Probeeinsätzen, die noch folgten... *
»Meine Herren«, erklärte Feldwebel Kaunas, »ich habe die Ehre, Ihnen Professor David Wilkes vorzustellen, einen Experten für Klimatologie, der die Freundlichkeit hat, unseren Flug mit seiner Anwesenheit zu beehren.« Die Schwingungen des Transportgleiters verliehen seiner Stimme einen dumpfen Unterton. Eine Viphokamera über dem Pilotensitz übertrug alle Vorgänge an Bord zu den beiden anderen Fahrzeugen, die mit ihnen das Geschwader bildeten. »Vielen Dank«, sagte ein grauhaariger älterer Herr, der neben Kaunas in der ersten Reihe saß. Er erhob sich und drehte sich zu den zwölf anwesenden Rekruten um. »Feldwebel Kaunas bat 119
mich, meine Passage in diesem Gleiter zu nutzen, um Ihnen einen Überblick über die Situation zu geben, die Sie an Ihrem Ziel er wartet. Das will ich gern tun.« Wladimir stieß seinen Freund an, und Kurt hob den Blick und sah nach vorn. Er ließ den Folienordner mit den Mysterious-Gleichungen auf seinen Schoß sinken. Sie hatten eigens in Santiago de Chile einen Zwischenstop ein gelegt, um den Mann an Bord zu nehmen. Soweit Kurt verstanden hatte, würden sie ihn irgendwo in der Nähe ihres Zielorts in einer Forschungsstation absetzen. Angeblich sollte er dort die Auswir kungen des Energiezuwachses interstellarer Teilchen auf das Ma gnetfeld der Erde untersuchen. »Wie Sie zweifellos wissen«, sagte der Professor, »sind wir zum südlichen Magnetpol unterwegs. Wenn Ihnen nicht ganz klar sein sollte, wo das eigentlich ist, darf ich Sie hiermit aufklären: an der Adelie-Küste in der Antarktis.« Gespanntes Schweigen breitete sich aus. Nur gelegentliches Ruckein verriet, daß sie gerade als Spitze eines Dreiecks mit acht hundert Stundenkilometern dahinrasten. »Sicher fürchten Sie jetzt die entsetzliche Kälte«, fuhr Wilkes fort. »So ganz unrecht haben Sie damit auch nicht. Mit -88,3 Grad wurde am Südpol die tiefste Bodentemperatur gemessen, die je mals auf der Erde erreicht wurde. Aber ich kann Sie trösten: Der magnetische Südpol liegt 2.500 Kilometer Luftlinie vom geogra phischen Südpol und 1.500 Kilometer vom Kältepol entfernt, und zur Küste hin steigt die Temperatur allmählich an. Um diese Jah reszeit, im arktischen Hochsommer, dürfte sie etwa minus 20 Grad betragen.« Er räusperte sich und ließ seinen Blick schweifen. »Ihr Problem werden genau diese unterschiedlichen Temperaturen sein. Die kalten Fallwinde aus dem Landesinneren stoßen nämlich auf die vom wärmeren Meer aufsteigende Luft, so daß es sich bei der Adelie-Küste um das sturmreichste Gebiet der Welt handelt.« Fasziniert folgte Kurt den Ausführungen des Professors und blickte dabei am Piloten vorbei durchs Fenster. Wenn er die Um risse der Packeisfelder vor ihnen richtig deutete, flogen sie gerade auf das Ross-Meer zu. »Die Antarktis ist das lebensfeindlichste Gebiet der Erde«, er 120
klärte der Professor weiter. »An Pflanzen gibt es fast nur Flechten und Moose, und die Tierwelt ist ebenso arm. Pinguine sind die vorherrschende Art, ansonsten finden sich im Küstenbereich außer Robben, Albatrossen, Sturmvögeln und Möwen nur noch wirbel lose Tiere - einmal abgesehen von den Ratten, die der Mensch eingeschleppt hat.« »Vielen Dank, Professor, das hat meinen Männern einen ersten Eindruck vermittelt, was auf sie zukommt«, meldete sich Kaunas wieder zu Wort. Er erhob sich und wandte sich an die Rekruten. »Ich darf Ihnen jetzt auch kundtun, was wir vorhaben. Wir werden auf dem Mertz-Gletscher östlich des Way Archipelago in der D'Urville-See niedergehen. Dort errichten wir unser Lager und schicken Sie in den Einsatz, wie gehabt in Vierergruppen. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, sich die Adelie-Küste hinauf einen Weg ins Wilkes-Land zu bahnen.« Kaunas schmunzelte, als er die verdutzten Mienen seiner Leute sah. »Sie haben richtig gehört - Wilkes-Land. Der Herr neben mir ist ein entfernter Nachfahre von Charles Wilkes, einem US-Admi-ral, der diesen nach ihm benannten Teil der Antarktis vor rund zweihundertzwanzig Jahren entdeckte.« Er wandte sich an den Piloten. »Wie sieht's aus, Leutnant Felmy? Wieso haben wir strahlenden Sonnenschein? Ich dachte, es stürmt hier 340 Tage im Jahr?« Der Pilot grinste und schaute auf den Armaturenkasten seines Gleiters, hinter dem ein Suprasensor ständig die Wetterlage mit der vollautomatischen Steuereinrichtung abglich. »Ich kann Sie beruhigen, Feldwebel«, meinte er. »Laut Radar zieht vor uns eine Sturmfront auf. Wir haben gerade noch Zeit, Professor Wilkes an der Polarstation abzusetzen.« Kaunas nickte. »Ich schlage vor, die beiden anderen Gleiter nehmen den direkten Weg zum Gletscher.« *
Kurt hätte sich nicht träumen lassen, daß es so schlimm werden würde. Seit ihrer Ankunft vor einer Woche hatte der Sturm nicht mehr nachgelassen. In dicke Thermoanzüge gehüllt, die kaum et 121
was von ihrem Gesicht freiließen, waren sie über den Gletscher gestapft und hatten das Material für die Zelte und Ausrüstungsge genstände an der windabgewandten Seite einer mächtigen Schnee verwehung gelagert, wo es ihnen etwas leichter fiel, die Unter künfte zu errichten. Jeden Tag wurden Jagdtrupps zusammengestellt, die sie mit Frischfleisch versorgten, Robben, Vögeln und Fischen - wie sie die Beute erlegten, war ihre Sache. Ein massives Verfahren von Versuch und Irrtum war an die Stelle geregelter Ausbildung getreten. Kaunas ging es sichtlich darum, sie auf die Fährnisse einer unwirtlichen Eis weit irgendwo in den Tiefen des Alls vorzubereiten. »Ihr müßt Überlebenskünstler werden«, sagte er an diesem Morgen beim Frühappell im Hauptzelt. »Es darf keine Situation geben, die ihr nicht bewältigt, ob ihr sie trainiert habt oder nicht. Um euch immer und unter allen Umständen am Leben erhalten zu können, müßt ihr fehlendes Wissen durch Einfallsreichtum ersetzen.« Draußen heulte der Sturm lauter denn je, als er ihnen erklärte, daß es heute nacht soweit wäre. Jede Gruppe, bestehend aus vier Mann, bekäme eine andere Route zugewiesen. Ein Transportgleiter würde sie an verschiedenen Stellen des Gletschers absetzen. Sie würden sich noch in der Dunkelheit auf den langen Marsch zu den westlichen Ausläufern der Adelie-Küste machen und dort nahe der König-Georg-V.-Küste das Wilkes-Land erklimmen. Ihr Ziel sollte die Polarstation von Professor Wilkes sein. Zwei Tage durch Eis und Schnee. Mit einer A-Gravplattform für den Proviant und die Ausrüstung, darunter ein Geographen zur Ermittlung des Untergrunds und ein absolut spitzenmäßiger Kom paß, wie Kaunas grinsend betonte. *
Es stürmte nicht mehr, als man Kurts Trupp absetzte. Mit ge mischten Gefühlen sahen sie zu, wie die Lichter des Gleiters am Himmel verschwanden, dann überprüften sie an Hand der Folien karten ihre Position und zogen los. Sie, das waren außer Kurt Bück der schlaksige Amerikaner Jake Calhoun, der Italiener Ricardo 122
Massimo und ein Franzose namens Philippe Tourneau. Anfangs hielt das ruhige Wetter noch an. Sie marschierten unge stört in die ermittelte Richtung, von den Scheinwerfern an der Vorderseite der Platte geführt. Bei Morgengrauen wurde die Sicht so gut, daß sie am anderen Ende des Gletschers dunkle Stellen erkennen konnten. Dort trat nackter Felsen zum Vorschein, der erste hoffnungsvolle Hinweis auf die Küste. Jetzt sahen sie auch, daß dieser Bereich des Gletschers gar nicht so eben war, wie es den Anschein gehabt hatte. Ein Labyrinth von Eisspalten, kleinen Ritzen und heimtückischen Schneekrusten, die unter der geringsten Belastung nachgaben, breitete sich vor ihnen aus. Sie konnten von Glück reden, daß bisher nichts geschehen war! Aber dann zogen Sturmwolken auf, und schon wenig später rissen heftige Böen an ihrer Thermokleidung, während sie nach vorn gebeugt, eine Hand am Kragen, zu beiden Seiten der A-Gravplattform durch Eis und Schnee stapften. Kurt hielt sich den Kompaß unter die Nase und stellte fest, daß es von Südwest-Westsüdwest stürmte, aus Richtung des Meeres vor der Adelie-Küste. Als der Sturm weiter zunahm, wurde er unruhig. Er konnte Jake Calhoun, der dicht vor ihm ging, nur noch verschwommen wie durch graue Nebelschleier hindurch erkennen, und die A-Gravplattform zu seiner Rechten begann trotz der schweren Last zu beben und zu schlingern. Als eine besonders heftige Bö heranstob, geschah es. Die grav-magnetischen Kraftfelderzeuger konnten die Wucht nicht mehr kompensieren. Die Platte stellte sich seitlich auf und schlug auf sie herab. Mit knapper Not hechteten sie in Deckung. Kurt hörte einen dumpfen Aufschrei, konnte jedoch nichts tun. Die Sturmböen rissen ihn mit sich fort, und erst nach etlichen Metern konnte er sich im harschigen Schnee festkrallen. Er kniff die Augen zusammen und sah vor sich am Boden einen Schatten. Etwas lag dort - dahinter noch etwas. Und zwei aufrechte Schatten näherten sich. Einer beugte sich über den hinteren liegenden Schatten, der an dere kam weiter auf ihn zu - Ricardo! »Alles in Ordnung?« 123
Kurt verstand die Worte kaum, so sehr heulte der Sturm, doch er las die Lippen des Mannes - und nickte. Der Italiener hakte ihn unter und führte ihn zurück. Als sie sich näherten, erkannte Kurt, daß der eine liegende Schatten die A-Gravplattform war. Die Last war noch fest vertäut. Bei dem anderen Schatten, der sich jetzt aufgerichtet hatte, han delte es sich um Jake Calhoun. Philippe hockte vor ihm und untersuchte seinen rechten Fuß. »Was ist geschehen?« brüllte Kurt. Jake Calhoun blickte zu ihm hoch. »Diese verdammte Eis spalte«, schrie er. »Beim Wegspringen hat sich mein Fuß darin verfangen, aber er ist nicht gebrochen!« Gott sei Dank, dachte Kurt. Er wandte das Gesicht nach Süden und hatte den Eindruck, als ließe der Sturm nach. Er täuschte sich nicht. Wenige Minuten später konnten sie in Ruhe die A-Gravplattform untersuchen. Ri cardo erwies sich als äußerst geschickter Gravotechniker und brachte es fertig, sie wieder zum Schweben zu bewegen. Sie betteten Jake darauf, damit er seinen Fuß eine Weile schonen konnte, und setzten den Marsch fort. Der Himmel blieb verhangen. Sie führten Messungen durch, die zeigten, daß sie vom Weg abgekommen waren. Die Böen hatten sie offenbar nach Norden getrieben, so daß die Strecke jetzt er heblich länger geworden war. Das bedeutete, daß sie die Nacht wohl auf dem Gletscher verbringen würden. Nach drei Stunden legten sie eine Pause ein, um ein wenig zu essen. Konzentratnahrung, viel Kalorien und Eiweiß. Jake ging es besser, er wollte wieder auf die Plattform verzichten, zumal sie durch das höhere Gewicht langsamer schwebte. Dafür hatte Kurt jetzt eine Blase am rechten Fuß, die höllisch schmerzte, und Phi lippe klagte über Erfrierungen im Gesicht. Nur Ricardo erfreute sich bester Gesundheit. Es war schon dunkel, als sie völlig erschöpft eine Anhöhe er reichten, hinter der sich ein gewaltiger Schemen ausbreitete, der geheimnisvoll glitzerte. Das reinste Sternenzelt, dachte Kurt. Aber das Firmament ist wolkenverhangen. Es kann sich nur um das Bergmassiv am Rande 124
des antarktischen Kontinents handeln. Sie schliefen in dieser Nacht wie die Toten, und als sie früh am nächsten Morgen noch bei Dunkelheit ihr Lager abbrachen und alles auf die A-Gravplattform packten, vergewisserten sie sich mit dem Geographen. Kurts Vermutung bestätigte sich. Sie wechselten vom Gletscher in Bereiche, die unter all dem Eis und Schnee felsigen Grund hatten. Dann ging die Sonne auf. Es war ein unglaublicher Anblick: große Eiswände, die den Eindruck erweckten, als seien Wasser kaskaden mitten im Sturz erstarrt. Doch nirgends ein Durchlaß. Als sie den Gletscher hinabstiegen, wurde das Wetter immer milder, bis sie bei fast null Grad die Thermoanzüge neu regulieren mußten. Es herrschte heftiger Gegenwind aus Süden, der sich je doch nicht zum Sturm aus wuchs. Plötzlich verharrte Philippe. Er deutete unmittelbar vor sich auf die mächtige Felswand. Was ist das? dachte Kurt und kniff die Augen zusammen. Wenn er sich nicht irrte, befand sich dort ein Riß in der Kaskade, der sich nach oben hin verbreiterte. Ein Kamin! Die vier verständigten sich mit einem Nicken und schritten auf die Stelle in der Felswand zu. Sie entsprach genau der Eintragung in ihren Karten - ein Kamin, der so sanft nach oben verlief, daß der Aufstieg auch ohne Seil und Pickel möglich war. Und oben lag das Plateau von Wilkes-Land, eine schier grenzenlose Ebene, die noch weit über den geographi schen Südpol hinausreichte, der immerhin 2.500 Kilometer entfernt war. Sie begannen mit dem Aufstieg. Sehr zu ihrem Erstaunen blieb das Wetter mild. Während sie sich durch Seile gesichert nach oben hangelten, schwebte die AGravplattform träge nebenher. Sie enthielt alle erforderlichen Geräte und Vorräte, ein tröstlicher Gedanke, wie Kurt fand, als ihm die Luft immer knapper wurde. Mit wachsender Anstrengung zog er sich neben Ricardo die Kaminschräge hinauf. Immer wieder schössen sie ihre Greifer mit dem Seil ab, die sich oben ins ewige Eis bohrten. Jake blieb ein 125
wenig zurück, verständlich angesichts der Belastung, die der Auf stieg für seinen Fuß darstellte. Philippe wich nicht von seiner Seite, um ihm notfalls beistehen zu können. Später wußte Kurt nicht mehr zu sagen, was überhaupt geschehen war. Im einen Moment war der Italiener noch neben ihm gewesen, im nächsten schon verschwunden. Kurt starrte benommen auf das Loch im Eis. Er glaubte Ricardos lautlose Schreie zu hören, als er unter dem Eis die Bergschräge hinabschlitterte. Starr vor Entsetzen blickte Kurt nach unten, hoffte darauf, daß etwas zu sehen war, daß er wieder zum Vorschein kam - doch nichts dergleichen geschah. Er wollte nicht aufgeben. Er wandte sich an Philippe und Jake und rief ihnen zu, was passiert war. Verwirrt blickten sie sich um. Doch ringsum blieb alles ruhig. »Er muß da irgendwo sein!« brüllte Kurt. »Seht euch um! Wir dürfen ihn nicht verlieren!« Sie bemühten sich nach Kräften. Philippe und Kurt stiegen bis zum Anfang der Eisschräge hinab, doch nirgends gab es eine Spur von Ricardo. Keine Senke, die Rückschlüsse zuließ, keine Mulde, in der er verschwunden sein könnte. Kein Zweifel. Er war in eine Eisspalte gestürzt, die im oberen Bereich des Kamins unter dem Schnee aufklaffte und senkrecht in die Tiefe führte - in eine Kälte, die jeden in Sekundenschnelle unweigerlich der Ohnmacht zuführte... Und dem Tod. Jake war auf halber Höhe des Kamins geblieben, hatte gewartet, und jetzt schlössen Kurt und Philippe schweigend zu ihm auf. Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie die schicksalsträchtige Schräge endgültig zurückgelegt hatten. Das Polarplateau bot einen atemberaubenden Anblick. Soweit das Auge reichte, erstreckte sich eine endlose Weite mehr als acht Millionen Quadratkilometer antarktischer Ödnis, nicht gerechnet die Packeisfelder rund um den Kontinent und den Gletscher, von dem sie aufgebrochen waren. Noch fünfzehn Stunden Marsch standen ihnen bevor, bevor sie 126
die rettende Polarstation erreichten. Der Sturm hatte sich weitgehend gelegt, doch der Himmel war noch immer verhangen. Aus südlicher Richtung toste heftiger Wind. Sie beschlossen, nicht zurückzublicken, sondern nach vorn zu schauen - ihrem Zielpunkt entgegen. So trotteten sie ohnmächtig über die konturlose Ebene, äugten immer wieder auf den Kompaß. Nichts konnte die jungen Rekruten abhalten, diesen Weg zu gehen, den vor ihnen schon Hunderte gegangen waren. Warum also nicht auch sie? Doch am schlimmsten waren ihre unsichtbaren Begleiter, der Hunger und die Langeweile, die fade Monotonie. Der Hunger, ich muß den Hunger verdrängen... für Essen ist keine Zeit... wir müssen heim... Kurt legte sich eine Strategie zurecht, wie er die letzten Kilometer überstehen konnte. Er stellte sich einen Spaziergang durch Alamo Gordo vor, durch die Einkaufspassagen, das Viertel mit den Wasserspielen, und dachte an die Worte all jener, die ebenso wie er überzeugt waren, daß die Ausbildung der Rekruten für den Raumdienst nur durch die richtigen Personen erfolgen mußte, um der Erde mehr Frieden zu bringen. Doch auf jedem einzelnen Meter des Wegs sah er die Imbißstuben, die Restaurants und Lebensmittelläden... O mein Gott, dachte Kurt, du bist gestorben, Ricardo. Wir haben dich verloren. Durch unsere Schuld! Als sie über das Plateau schritten, klarte der Himmel wieder auf. Ein Vogel zog schimpfend seine Kreise. Sie bezweifelten nicht mehr, daß sie es schaffen würden. Silberne Eispartikel tanzten in der beißenden Kälte und sorgten für verblüffende Lichteffekte. Die Sonne schien mit einem milchig weißen Strahlenkranz herab, und durch die Erddrehung zog im Verlauf der Stunden der eigene Schatten im Kreis um sie herum, als wollte er sie von allen Seiten bestaunen und sich verbeugen, weil sie nicht aufgaben, obwohl ihr Kamerad einen sinnlosen Tod gestorben war, sondern immer weitere Kräfte mobilisierten... stärker wurden... Hier ist alles so himmlisch, durchfuhr es Kurt, so eiskalt und 127
traumhaft schön. Dann blitzte etwas im vollen Licht der Sonne am Horizont auf, kurz vor Einbruch der Dämmerung, ein Funkeln, und sie sahen ein kuppeiförmiges Gebäude, um das herum ein Dutzend Zelte stan den. .. und Männer, die Ausschau hielten... Wir haben es geschafft, dachte Kurt. Philippe, Jake und ich, wir haben es geschafft - aber nicht Ricardo... Auf den letzten paar hundert Metern bewegte er sich wie eine knarrende Maschine, als wären seine Glieder verrostet. Ich hasse diese Kälte, dachte er. Ich hasse dieses Land, das nur mordet, kein Mitleid mit den Schwachen hat... Er bekam nicht mehr mit, wie seine Kameraden ihm entgegen rannten. Er fiel dem erstbesten in die Arme und dachte an die glit zernde Pracht der Felswand... das Himmelszelt... an die atem beraubende Schönheit der Sterne... *
Das Kinn des Majors war weit vorgeschoben, als sein Abbild auf dem Vipho erschien. Seine Augen blitzten. »Sagen Sie mir, daß das nicht wahr ist!« Kaunas wußte sofort, wovon der vierschrötige Ire sprach. Er zuckte regelrecht zurück. »Tut mir aufrichtig leid, Major, aber es stimmt. Wir haben einen unserer Männer verloren.« »Wie konnte das passieren?« »Rekrut Massimo war mit seiner Gruppe unterwegs, als er an einer Felsschräge durch die tragende Eisschicht brach. Er wurde wie auf einer Rutsche Hunderte von Metern in die Tiefe gerissen - unter das Eis, vielleicht unter Felsen...« Kaunas sah seinen Vorgesetzen fest an. »Der Rest der Gruppe konnte nichts mehr tun. Sie mußten sich selbst retten.« »Hatten die Männer denn keine Funkgeräte dabei? Oder wenig stens einen Peilsender?« fauchte MacCormack. »Nein, allerdings gehörten eine A-Gravplattform und ein Geo graphon zur Ausrüstung. Wenn sie das benutzt hätten, um den Boden unter ihren Füßen zu überprüfen...« MacCormack schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Abbild 128
auf dem Viphomonitor bebte ein wenig. »Wie konnten Sie auf diese Sicherheitsmaßnahmen verzichten?« Kaunas schluckte schwer. »Wir wollten eine möglichst realisti sche Situation herbeiführen, Sir. Die Leute sollten ihr Äußerstes geben. Dazu mußte klar sein, daß sie im Gefahrenfall ganz auf sich gestellt sind.« »Wer war der Gruppenführer?« »Kurt Bück.« Die Lippen des Majors wurden schmal. »Sie sollten doch ein Auge auf den Mann haben, Feldwebel. Wenn ihm etwas zugestoßen wäre, hätten Sie sich in einer Ast-Station auf dem kleinsten Plutomond wiedergefunden. Ich verspreche mir viel von Bück, das wissen Sie!« »Jawohl, Sir!« »Also gut.« MacCormack nickte entschlossen. »Beim nächsten Ausbildungsschritt werde ich selbst dabeisein. Die Jungs sollen zwar ihr Äußerstes geben, aber ich lasse nicht zu, daß sie sinnlos verheizt werden. Von Ihnen nicht und von sonst keinem. Wenn es ihnen nur an Erfahrung fehlt, um einen Einsatz erfolgreich und vor allem lebendig zu überstehen, dann dürfen wir sie nicht ins offene Messer laufen lassen. Dann müssen wir uns schützend vor sie stellen. Haben wir uns verstanden, Kaunas?« »Jawohl, Sir!« »Dann müssen wir sie mit Händen und Füßen gegen jeden ver teidigen, der sie verheizen will. Das sind nämlich Dummköpfe, die künftiges Potential zum Mond schießen, über den Jordan schik ken... Sie wissen schon, was ich meine!« »Jawohl, Sir!« »Und Dummköpfe gibt's auch in unseren Reihen schon genug. Anwesende natürlich ausgenommen, Feldwebel!« Ein ironisches Lächeln umspielte die Lippen des Majors. Der Monitor wurde schwarz.
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7. Er hatte nicht einmal durchs Fenster die herrlichen weißen Gips dünen bewundert, die im Licht der aufgehenden Sonne märchenhaft strahlten. Er war so müde gewesen, daß ihm während der kurzen Strecke von der Kaserne nach Alamo Gordo immer wieder die Augen zuklappten. Eine Turbulenz hatte ihn rechtzeitig aufgeschreckt! Cent Field lag unter ihnen, der größte Raumhafen der Erde, am östlichen Stadtrand von Alamo Gordo gelegen und zentraler Stütz punkt der Terranischen Flotte, zwanzig mal fünfundzwanzig Kilo meter, einzig dem Start und der Landung von Raumschiffen vor behalten - und weitere Flächen von doppelter Ausdehnung an der Peripherie, auf denen Hunderte von Robot-Ringraumern standen. Die Bauarbeiten zur Vergrößerung des Geländes waren in vollem Gange und würden wohl noch Jahre andauern! Kaum zu glauben, daß es erst zehn Monate her war, seit die Um risse der Hyperfunkantenne, Verwaltungsgebäude und Raumkreuzer zum erstenmal vor ihm aufgetaucht waren. Damals im November letzten Jahres, als Wladimir und er nach Dresden gefahren waren, um sich bei der Rekrutierungsstelle zu melden, war er noch ein richtiger Grünschnabel gewesen, frisch von der Schulbank -die harte Ausbildung hatte ihn an Körper und Geist reifen lassen. Der Flug in die Hauptstadt der Welt war ein erster Schritt gewesen, jetzt stand ihm ein ungleich größerer bevor... Der Schritt in den Weltraum! Gespannte Erwartung erfüllte ihn, als ihr Gleiter sich schräglegte und in weitem Bogen auf ein Raumschiff zuhielt, das etwas abseits vom regen Treiben stand. Die beiden Gleiter, mit denen zusammen sie eine Dreiecksformation bildeten, folgten ihnen wie die Schatten zweier Sonnen. Das Raumschiff war kugelförmig und zweihundert Meter groß, doch Kurt konnte den Typ nicht bestimmen. Die übliche Bewaff nung fehlte. Dafür gab es angeflanschte Gerüste, die wie Greif arme ausgefahren werden konnten. 130
Anscheinend ein umgebauter Jäger der Hunter-Klasse. Wladimir, der neben ihm saß, deutete aufgeregt durchs Fenster auf die Menschen, die davor Aufstellung genommen hatten - klein wie Ameisen. Sie bildeten einen Korridor bis zu einer Rampe, die zur offenen Schleuse des Raumschiffs führte. »He, die veranstalten einen Spießrutenlauf«, meinte er. »Mal sehen, ob wir den durchhalten.« Er zwinkerte Kurt zu. Der junge Ukrainer freute sich wie ein Kind auf ihren ersten Flug ins All, und ihm erging es nicht viel anders. Doch Wladimir ahnte nicht, wie recht er mit seiner Bemerkung hatte. Der bevor stehende Einsatz konnte durchaus zu einem Spießrutenlauf wer den. Er bildete den Auftakt zum letzten Ausbildungsabschnitt, der besonderes hart ausfallen würde. Die Anforderungen werden ständig höher, dachte Kurt, und nach Ricardos Tod frage ich mich, wen es als nächsten trifft. Man würde ihnen da draußen nichts ersparen! Ihre drei Gleiter überflogen das Raumschiff, verharrten dann fünfzig Meter vom Korridor aus Menschenleibern entfernt und gingen senkrecht zu Boden. Die Rekruten schnappten sich ihre Ausrüstung und eilten zu den sich öffnenden Schleusen. Sie strömten aufs Landefeld hinaus und versammelten sich erstmals offiziell zum 1. Mescalero-Zug. Kurt wurde ein wenig flau in der Magengegend. So aus der Nähe wirkte der Raumkreuzer wahrhaft gigantisch, wie ein rie siges Hochhaus ragte er vor ihnen auf. Kein Vergleich zu dem harmlosen Anblick beim Überfliegen... »Hergehört, Leute!« erklang die Stimme von Feldwebel Kaunas, der als letzter ausgestiegen war. »Ich weiß, ihr habt schon einiges mitgemacht, aber jetzt wird die Sache ernst. Heute beginnt euer Training im All. Denkt daran, was ihr theoretisch gelernt habt. Es wird euch nützlicher sein, als ihr glaubt.« Er ließ noch einmal seinen Blick schweifen. »Reißt euch zusammen und macht mir keine Schande. Abmarsch!« Einer nach dem anderen schritten sie zur Rampe des Schiffs. Be satzungsmitglieder hatten sich zu beiden Seiten aufgereiht und schauten militärisch starr vor sich hin. Trotzdem hatte Kurt den Eindruck, als könnte sich mancher von ihnen ein Grinsen nicht 131
ganz verkneifen. In der Öffnung der Hauptschleuse stand ein Mann im Rang eines Majors, der ihnen sichtlich zufrieden entgegensah. Rothaarig, stämmig, mit energischem Kinn... MacCormack! durchfuhr es Kurt. Die Graue Eminenz der Mescalero-Kaserne! Will er sich persönlich davon überzeugen, daß aus den Weicheiern von einst harte Kerle geworden sind? Er begrüßte jeden einzelnen Rekruten mit Handschlag. »Willkommen an Bord der DÄDALUS«, sagte er, als sie im Hangar Aufstellung genommen hatten. »Ich will nicht viele Worte machen. Ihnen steht jetzt eine zentrale Prüfung bevor. Sie fliegen zu den Ringen des Saturn. Was Sie dort erleben, wird für Sie alles Bisherige in den Schatten stellen. Sie werden auf sich allein ge stellt sein - jeder von ihnen. Mit sich und dem Grips, den sie sich inzwischen erworben haben dürften. Ihre Erfolge während dieses Flugs werden maßgeblich über Ihre Eignung zum Elitesoldaten entscheiden. Geben Sie Ihr Bestes!« Er tippte sich kurz an die Mütze und winkte einigen Männern, die in der Nähe warteten. Sie kamen herbeigeeilt und deuteten je weils auf drei Personen, die ihr Gepäck schulterten und mit ihnen den Hangar verließen. Ein Rundgang durchs Schiff schloß sich an, offenkundig dazu gedacht, ihnen die Angst vor dem technischen Koloß zu nehmen. Ehrfurcht erfüllte Kurt, als man ihnen im Maschinenraum die gewaltigen Triebwerke zeigte, die mehr Energie erzeugten, als eine irdische Großstadt hätte verbrauchen können. Schließlich wurden sie in ihre Quartiere gebracht, die sie zu Kurts Erstaunen einzeln bewohnten. Der junge Deutsche legte sich aufs Bett, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloß unwillkürlich die Augen, als ein leises Summen und Vibrieren einsetzte. Er stellte sich vor, wie die Lan deteller der mächtigen Kugel sich vom Boden hoben und das Aus bildungsschiff immer schneller aufstieg, bis es die Wolkendecke durchstieß und ins All hinausraste - unendlichen Weltraumtiefen entgegen. Es war ein erhabenes Gefühl. 132
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An Bord wurde kein Augenblick vergeudet. Während die DÄDALUS dem mächtigen Saturn entgegeneilte, waren alle zum weiteren Studium verdonnert, begleitet von theoretischer Schu lung. Kurt hatte nichts anderes vermutet, und doch erstaunte ihn wieder einmal die Präzision, mit der ein Rädchen ins andere griff. Auf virtuellen Schießständen übten sie sich im Gebrauch der Multikarabiner, ergänzt durch eine Anzahl schwerer Waffen wie den Pressorgeschützen, deren Giant-Technik die Menschheit in zwischen zu kopieren gelernt hatte. In den riesigen Hangars erlernten sie die Handhabung eines Fahrzeugtyps, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, eines Raumbootes namens »Absetzer«. Es wurde erst seit kurzem unter strengster Geheimhaltung in der Skarland-Werft in Schweden gebaut. Am meisten begeisterten sie jedoch zwei Neuerungen, von denen die künftigen Schwarzgardisten sich eine besonders hohe Effektivität versprachen. Zum einen war das ein umschaltbarer Zweihandstrahler, der als Impulsblaster und Paralysator gleichermaßen dienen konnte. Er war handlicher als der Karabiner und bot seinem Träger erheblich mehr Bewegungsfreiheit. Das andere war ein multifunktioneller Einsatzanzug, kurz MFA genannt, ultrastark, aber enorm leicht. Er konnte ebenso im Weltraum wie in der Atmosphäre verwendet werden. Zwei Neuentwicklungen aus den Geheimlabors des Militärs, die ihnen zeigten, daß ihre Truppe wirklich die Speerspitze der irdi schen Verteidigung bilden sollte. Besonders der Kampfanzug hatte es ihnen angetan. Sie waren angehalten, ihn während der gesamten Ausbildungszeit an Bord der DÄDALUS zu tragen, und da er durch den Einsatz modernster Materialien sehr leicht war, bewegten sie sich darin bald wie in ihrer normalen Kleidung. Sie tummelten sich gerade auf virtuellen Schlachtfeldern und bekämpften rotschimmernde Felswesen auf einer Chlorwelt, als sie zur theoretischen Schulung gerufen wurden. »Bewegt euren Hintern«, blaffte der Übungsleiter sie an. »Ihr 133
werdet in der Astroabteilung erwartet, im Planetarium. Es geht um Kenntnisse, die euch hautnah angehen.« Kurt dachte nicht lange über diese seltsame Bemerkung nach. Das hatte er sich abgewöhnt. Seiner Ansicht nach konnte alles, was er lernte, ihm später einmal das Leben retten. Entsprechend eifrig ging er seinen Studien nach. Doch Kaunas' Anwesenheit ließ ihn stutzen. Er sah den Ernst in der Miene des Feldwebels und das begeisterte Leuchten in den Augen des älteren Spaniers neben ihm, als er mit seinen Kameraden das Planetarium betrat. Es ging um etwas Besonderes! War das der Grund, warum Professor Xavier Alvarez sich hier eingefunden hatte? Er kannte den Astrophysiker von den theoreti schen Schulungen in der Kaserne. Eine unsympathische Gestalt. Gewöhnlich schickte er seine Assistenten vor, worüber alle immer sehr froh waren, doch heute hatte er sich persönlich ans Pult ge stellt. »Sie wissen, daß wir zum Saturn unterwegs sind«, begann der knapp sechzigjährige, stiernackige Wissenschaftler ohne Um schweife. »Und ich nehme an, Ihre Astronomiekenntnisse reichen nach unseren beträchtlichen Bemühungen in der Kaserne aus, um zu wissen, daß es sich beim Saturn mit seinen 120.600 Kilometern Durchmesser nach dem Jupiter um den zweitgrößten Planeten des Sonnensystems handelt, zehnmal größer als die Erde und fünfund neunzigmal so massereich. Er strahlt hellgelb. Allein sein Metall kern ist schon so groß wie unsere Welt, und seine Atmosphäre be steht im wesentlichen aus Wasserstoff und Helium, so daß er eher einem Stern als einem Planeten gleicht.« Unsympathischer alter Knacker, dachte Kurt. Ständig spickte er seinen Unterricht mit allen möglichen Daten, nur um aller Welt sein Genie zu beweisen, und wenn man sich dann auf Nachfragen nicht erinnern konnte, erntete man seinen Hohn. »Wir wissen heute«, fuhr Professor Alvarez fort, »daß der Saturn bei der Entstehung des Sonnensystems vor 4,6 Milliarden Jahren noch erheblich größer war - und erheblich wärmer. Doch vor relativ kurzer Zeit, vor etwa zwei Milliarden Jahren, kollabierte er und begann sich immer schneller zu drehen, so daß sich um den 134
Äquator herum eine flache Scheibe bildete. Dabei gefror die At mosphäre, und die Eiskristalle ballten sich zu Partikeln, die den Saturn heute in unterschiedlicher Entfernung von bis zu 279.000 Kilometern umkreisen und von mikroskopischer Größe bis zu zehn Meter großen Brocken reichen. Der Abstand entspricht mehr als zwei Dritteln der Entfernung Erde-Mond.« Feldwebel Kaunas stand schweigend neben Alvarez und hielt die Arme verschränkt. Der Professor legte einen Hebel um, so daß in der Kuppel des Planetariums eine grüne Gitterstruktur aufflammte, die den ganzen künstlichen Himmel einnahm. Er tastete nach einem Laserstift in seiner Brusttasche, knipste ihn an und deutete auf mehrere ver schieden große Kreise. »Das sind die Monde des Saturn, vierundzwanzig an der Zahl. Im planetennahen Bereich liegt ihr Durchmesser zwischen zwei hundert und eintausendfünfhundert Kilometern. Sie bestehen alle anders als unser irdischer Mond - nicht aus Sand und Gestein, sondern überwiegend aus Eis. Es ist ein Pärchen darunter, seltsame Anomalie. Es bildete sich aus einem einzigen Himmelskörper und tanzt jetzt ständig umeinander. Die äußeren sechs Saturnmonde mit einem Durchmesser zwischen zehn und fünfzig Kilometern wurden übrigens erst Ende 2000 entdeckt. Sie umrunden den Ringplaneten auf irregulären Bahnen in rund fünfzehn Millionen Kilometern Entfernung. Es handelt sich dabei um eingefangene Planetoiden und Kometen.« Er führte den Laserstrahl zur Seite, wo Vergleichsobjekte auf tauchten, mit Digitalziffern daneben. »Wie Sie wissen, durchmißt unser treuer nächtlicher Begleiter am irdischen Himmel genau 3.475,6 Kilometer. Nur ein Saturn mond ist größer - dieser hier: Titan. Er hat einen Durchmesser von 5.150 Kilometern, ist damit größer als der Merkur und weist sogar eine eigene Atmosphäre auf. Neben der Erde ist er der einzige Körper im Sonnensystem, dessen Atmosphäre primär aus Stick stoff besteht und der Meere an der Oberfläche aufweist - auch wenn es sich um eisige Methanseen handelt.« Er hielt inne und ließ seinen Blick über die Rekruten schweifen. »Verschafft Ihnen das einen Eindruck von den Dimensionen, mit 135
denen wir es hier zu tun haben?« Vereinzeltes Nicken. Alvarez drückte auf eine Taste an seinem Pult, und ein neues Schema leuchtete in der Kuppel des Planetariums auf. »Für die etwas Behäbigen unter Ihnen: Hierbei handelt es sich um eine Detailabbildung der Scheibe, von der ich eben bei der Entstehung des Saturn sprach - sein einzigartiges Ringsystem. Die drei hellsten Ringe, schon 1610 von Galileo entdeckt, werden in Richtung Muttergestirn mit A, B und C bezeichnet. Später haben Kollegen von ihm noch zusätzliche Ringe entdeckt, einen D-Ring zwischen C und dem Saturn sowie drei weitere Ringe E bis G zum planetenfernen Raum hin. Aber konzentrieren wir uns jetzt auf die drei Ringe in der Mitte.« Professor Alvarez nahm den Blick nicht von der Projektion. Die Unruhe in Kurt wuchs. Er konnte sich denken, daß er ihnen den Vortrag nicht ohne Grund hielt, auch wenn der arrogante Fatzke es sichtlich genoß, ihnen sein Wissen unter die Nase zu reiben. Er wollte sie auf einen Einsatz vorbereiten! Alvarez fingerte am Laserstift herum und richtete ihn auf den rechten der zuerst entdeckten Ringe. »Sehen Sie? Ring A hat eine geordnete Struktur, wie die Rille einer Schallplatte, doch in B herrscht das reine Chaos. Ich will Ihnen auch den Grund dafür nennen. Die Objekte sind dort fünfmal größer. Sie stoßen und mahlen aneinander und erzeugen Wolken aus feinem Staub, die sich elektrisch aufladen und nach außen treten. Dabei bilden sie Spitzen, die wie die Speichen eines Rades quer durch den Ring verlaufen.« »Bestehen sie aus fester Materie?« fragte einer der Rekruten. Alvarez lächelte. »Es sind elektrische Strömungen, die Staub transportieren. Sie schlagen sich als Statik nieder, die wie Blitze klingt und auch so aussehen würde, wenn die Ringe eine Atmo sphäre hätten, durch die sich die elektrische Ladung fortpflanzen könnte.« »Ungemütliche Gegend«, sagte der Rekrut. Allmählich dämmerte auch den anderen, daß diese Schulung nicht ohne Grund stattfand. Die jungen Männer warfen einander beklommene Blicke zu. 136
»Aber dafür ist es im C-Ring wieder ruhiger«, fuhr der stiernak kige Wissenschaftler ungerührt fort. »Seine Bestandteile sind viel kleiner, und er enthält erheblich weniger Material als B, weshalb er im Schema auch dunkler erscheint, beinahe durchsichtig. Hier tummeln sich die Molekülbrocken von Mikrometeoriten, die reichlich lädiert durch B nach C gelangten und neue Verbindungen eingehen.« »Und was hat es mit diesem F-Ring auf sich?« meinte Kurt und deutete zum äußersten rechten Rand von Ring A. Er hatte es auf einmal eilig, sich einen Überblick zu verschaffen. »Sieht wie ein DNS-Molekül aus, als bestünde er aus lauter miteinander verfloch tenen Strähnen.« »Gut beobachtet, junger Mann«, erwiderte der Professor in ei nem seltenen Anflug von Anerkennung. »Das liegt an den >Hirtenmonden< Pandora und Prometheus beiderseits des Rings. Sie bringen diese Struktur durch ihren Schwerkrafteinfluß hervor und halten auf diese Weise das ganze innere Ringsystem zusam men. Aber damit bewegen wir uns schon außerhalb...« Ein leises Summen erklang. Kaunas sah auf sein Armbandvipho, nickte kurz und trat einen Schritt vor. »Tut mir leid, wenn ich unterbreche«, wandte er sich an den Professor, »aber wir haben unseren Bestimmungsort er reicht. Hier draußen ist Zeit Geld, und unsere Freunde müssen noch einige Vorbereitungen treffen.« Alvarez blickte Kaunas giftig an, fügte sich jedoch. »Ich hoffe, das hat Sie ein wenig eingestimmt«, sagte Kaunas zu den Rekruten. »Sie werden sich jetzt im stillen Kämmerlein mit den übrigen Daten des Ringsystems vertraut machen. Ihnen bleiben genau zwei Stunden, um zu wandelnden Lexika zu werden. Und dann schnappen Sie sich Ihre Ausrüstung. Um Punkt 17.00 Uhr Bordzeit erwarte ich Sie in Hangar XII/B.« Grinsend blickte er zum mächtigen Baldachin der Ringscheibe in der Kuppel hinauf. Mit erhobenem Gesicht deutete er nach oben. »Ihr neues Einsatzgebiet erwartet Sie!«
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Das überstieg sein Fassungsvermögen. Er konnte nicht glauben, daß man einem Menschen so etwas zumutete, und er konnte nicht glauben, daß er so einen Wahnsinn überhaupt mitmachte. Er trug volle Kampfmontur, alle Ausrüstungsgegenstände und Waffen, die ihn im grenzenlosen Weltraum am Leben erhalten sollten, und wartete weit hinten in der langen Schlange am anderen Ende des mächtigen Hangars darauf, sich ebenfalls aus der Schleuse zu stürzen. Er näherte sich ihr Schritt für Schritt... Kurt stellte sich vor, wie das Manöver auf jeden wirken mußte, der es von außen sah: Mit mäßiger Geschwindigkeit strich die DÄDALUS über die Oberfläche eines Saturnrings hinweg und spie Menschen aus - wie eine Gießkanne, die das verdorrte Eis mit neuen Lebenskeimen besprengte. Kurt kam sich klein und überflüssig vor. Es kostete ihn unge heure Mühe, das panische Entsetzen zu unterdrücken, daß ihn bei der Vorstellung erfaßte, allein auf sich gestellt durchs grenzenlose Nichts zu treiben. Er machte einen weiteren Schritt und sah sich nach Wladimir um, der hinter ihm in der Schlange stand. Durch das geschlossene Helmvisier sah er ein kalkweißes Gesicht. Das Schweigen des Freundes war beredter als alle Worte. Sie wußten, daß es ihren Kameraden genauso erging, die einer nach dem anderen aus der Schleuse sprangen. Wie die Lemminge, dachte Kurt. Bloß wartete da draußen angeblich nicht der Tod auf sie, son dern eine letzte große Prüfung, aus der sie eigentlich mit Bravour hervorgehen sollten. Dann kam die Reihe an ihn. Kurt konnte nicht verhindern, daß seine Beine zitterten. Auf den letzten Metern bis zum gähnenden Schlund der Schleuse vermochten sie ihn kaum noch zu tragen, doch schon schoben sich von beiden Seiten Hände unter seine Achseln und hielten seine mächtige Gestalt aufrecht. Kurz vor der Ewigkeit... Er blickte nach rechts - direkt ins lächelnde Gesicht von Jannis Kaunas, der ihm aufmunternd zublinzelte. 138
»Das packen Sie schon, Rekrut Bück«, hörte er die Stimme des Mannes zur Linken in seinen Helmlautsprechern. »Wir haben vollstes Vertrauen in Sie.« Er wußte, daß das Derek Raimundsen war, doch er wollte ihn nicht ansehen. Zu sehr fürchtete er, daß er die Panik in seinen Augen bemerken könnte. Er nickte, tat den letzten, alles entscheidenden Schritt... Und stürzte in warme Behaglichkeit. Er hörte kein Rauschen um sich, nichts verriet ihm, ob er sich wirklich bewegte. Erst als er zwischen den gespreizten Beinen hindurch die sich entfernende Kugel der DÄDALUS sah, erkannte er, daß er sich überschlug. Ein, zwei weitere Rekruten tauchten auf, die wie er im Nichts trieben, winzige Punkte. Er blinzelte, um sie besser erkennen zu können - und fand sie nicht wieder. Er sah nach hinten, suchte den vertrauten Umriß der DÄDALUS. Ein jähes Glücksgefühl durchfuhr ihn bei ihrem Anblick. Doch sie entfernte sich immer weiter, schrumpfte immer mehr - und verging in der Schwärze. Ein kurzes Aufblitzen verriet ihm noch, daß jetzt auch Wladimir ins Nichts gesprungen war. Aber das nützte nichts mehr. Er war allein... Tränen schössen ihm in die Augen, und es dauerte eine Weile, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Doch dann klärten sich seine Gedanken, und er sah so deutlich wie nie zuvor, welchen Weg er einschlagen, wie er handeln mußte, um seine Aufgabe zu bewältigen... In welche Richtung trieb er? Er wandte sich dem mächtigen Gestirn zu, das unmittelbar vor ihm zwei Drittel des Himmels einnahm: Saturn. Die hellen und dunklen Wolkenstreifen und ihre zart-gelbliche Färbung, die sich mit den wirbelnden Rottönen der übrigen Atmo sphäre abwechselten, boten einen spektakulären Anblick, der ihm schier den Atem raubte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Er mußte sich orientieren. Vor seinem geistigen Auge erschien das Schema der Saturnringe aus dem Planetarium der DÄDALUS. 139
Er überlegte, wo genau er sich befand. Über dem äußersten Rand des A-Rings, auf Höhe der EnckeKeeler-Teilung, einer zweihundert Kilometer breiten Lücke inner halb dieses Rings! Irgendwo hinter ihm lag der F-Ring mit seinen auf siebenhundert Kilometer Breite miteinander verflochtenen Strähnen. Nach etwa 30.000 Kilometern folgte der dünne G-Ring. Der anschließende Ring E war vielleicht eine viertel Million Kilometer breit, aber noch viel feiner strukturiert. Überhaupt bestand das Ringsystem hinter ihm bis auf eine Anzahl Monde fast nur noch aus mi kroskopisch kleinen Teilchen - die dicken Brocken lagen vor ihm... Er kannte sein Ziel. Kaunas hatte bei der Befehlsausgabe im Hangar der DÄDALUS keinen Zweifel gelassen. Er sollte wie alle anderen auch von der Encke-Keeler-Teilung aus seitlich in den A-Ring vorstoßen. Wenn er ihn der Länge nach durchquerte, käme er erst nach 14.000 Kilometern in der Cassinischen Teilung heraus, einer vier einhalbtausend Kilometer breiten Spalte! Bei diesen Entfernungen schwindelte ihn. Schon lange vorher würde ihm der Sauerstoff ausgehen - oder der Zusammenstoß mit einem Materiebrocken zerfetzte seinen Raumanzug... Er rief sich zur Ordnung. Das war schließlich nicht sein Auftrag. Es ging nur um fünfzig Kilometer. Er würde doch wohl läppische fünfzig Kilometer den A-Ring durchfliegen können! Außerdem bestand jederzeit die Möglichkeit, die Mission abzu brechen. Die Scheibe rund um den Saturn war auf gesamter Breite bloß vierhundert Meter dick. Vierhundert Meter! Wenn er aus dem Ring herausflog, würde die DÄDALUS ihn sichten. Kaunas hatte zwar erklärt, daß die Ortungsgeräte des Schiffs sie auch im Ring nicht verlieren konnten, und zusätzlich trugen sie einen Peilsender - aber außerhalb wären die Chancen sicher noch höher. Es konnte nichts schiefgehen. Absolut nichts! 140
Neue Entschlossenheit erfüllte ihn. Er wollte gerade die Rück stoßaggregate aktivieren, die man ihnen als Zusatzpack auf den Rücken montiert hatte, als ein Knacksen erklang. Er schrak zusammen. Wieder knisterte und knackste es, dann wurde ihm klar, daß je mand Funkkontakt mit ihm aufnehmen wollte. Er riß die Laschen unter seinen Achseln auf und drückte auf ei nige Sensorpunkte. »... mich, Rekrut Bück? Ich habe Sie klar in der Peilung. Es sieht gut aus. Hören Sie mich?« Trotz des neugefundenen Muts durchströmte ihn Erleichterung. »J-Ja«, haspelte er, ohne es zu wollen. »Ich höre Sie klar und deutlich!« »Hier spricht Feldwebel Kaunas. Sie kennen Ihre Aufgabe. Ak tivieren Sie den Peilsender. Wir haben eine Funkboje am Ziel aus gesetzt, die sofort Bescheid gibt, wenn Sie die Strecke zurückgelegt haben. Viel Erfolg!« »D-Danke«, sagte Kurt, »aber ich hätte da eine Frage...« Doch der Feldwebel antwortete schon nicht mehr. Kein Wunder, denn er mußte insgesamt vierzig Rekruten beru higen und auf den Weg bringen. Und Kurt war froh, daß er seine Frage nicht gestellt hatte: wie Kaunas ständig alle im Blick behalten wollte! Mit gemischten Gefühlen betätigte er den Flugtornister. Er machte sich mit den schwenkbaren Düsen und der Reaktion des Anzugs vertraut, stieg auf und ab, flog hin und her, dann begab er sich tiefer in die Encke-Keeler-Teilung, nahm Kurs auf das Meer der Eisbrocken vor ihm... Und tauchte ein! Es war ein atemberaubendes Gefühl, zwischen den glitzernden Gebilden zu schweben. Er vergaß jede Angst. Eisbrocken aus der Frühzeit des Saturn und vereinzelt eingefangene Asteroiden um gaben ihn in allen Formen und Größen, in allen Entfernungen, so daß er einen Zickzackkurs wählen mußte, um sicher durchs Laby rinth zu gelangen. Er fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser und hatte den Ein druck, für diesen Parcours geboren zu sein. 141
Wenn er die richtige Entfernung zwischen den Materiebrocken einhielt, bestand keine Gefahr einer Kollision. Es war wie beim Billard damals in Königstein... Die Kugel mußte rollen, zwischen den Hindernissen hindurch... abprallen... ihren Weg finden... Er brauchte nur der Ideallinie zu folgen! Im Helmfunk knisterte es. Er hörte einige Wortbrocken, zusammenhangloses Gestammel, das schließlich deutlicher wurde. »An alle...!« erklang wieder Kaunas' Stimme. »Wir machen eine Übung. Der Feind naht. Stellen Sie sich energetisch tot. Schalten Sie alle Systeme aus. Auch Heizung und Luftversor gung... alle Systeme aus!« Kurt merkte, wie er gehorchte, noch ehe er darüber nachgedacht hatte. Der monatelange Drill zeigte Wirkung. Erst als er immer langsamer zwischen den Materiebrocken trieb, wurde ihm bewußt, was er getan hatte. Wenn kein gegenteiliger Befehl erfolgte, lieferte er sich dem Erstickungstod aus. Es war le diglich eine Frage der Zeit... Das ist nur wieder eines dieser Trainingsspielchen von Kaunas, beruhigte er sich. Wird nicht lange dauern. Ein ums andere Mal schaute er auf die Anzeige unten links in der Helminnenseite. Sie zeigte Entfernung und Richtung zur Boje an. Zwei Drittel der Strecke hatte er schon zurückgelegt. Er wollte den Flug fortsetzen. Doch statt dessen mußte er reglos zwischen den Trümmern trei ben. Und nichts tat sich... Wie lange noch? Eine Minute nach der anderen verstrich, eine halbe Stunde. Ihm wurde immer kälter... Ich muß Verbindung mit dem Schiff aufnehmen! Doch Kurt schaffte es, seine Nervosität in den Griff zu bekom men. Er spürte, wie er auf einen Materiebrocken schräg links von ihm zutrieb. Die Mikrogravitation zog ihn an. Er nutzte die Chance, um sich abzustoßen, auf einen anderen Brocken zu - und von dort zu einem weiteren. 142
Er kam voran, wenn auch unsäglich langsam... So schaffe ich die letzten Kilometer nie! Die Luft im Anzug wurde stickig, bei jedem Atemstoß beschlug die Helmscheibe mehr. Ihm wurde die doppelte Gefahr bewußt, in der er schwebte, zu ersticken und zu erfrieren - doch er ignorierte sie. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer, und furchtbare Ängste stiegen in ihm auf. Todesängste! Hatte Kaunas vielleicht längst befohlen, die Versorgung wieder einzuschalten? Hatte er, Kurt, lediglich überhört, daß sie wieder frischen Sauerstoff atmen durften? Aber er würde seinen Funk nicht wieder einschalten. Der Feldwebel ging ihm nicht aus dem Kopf. Der Mann konnte doch nicht zulassen, daß seine Leute erstickten. Nein, so ein Typ war er nicht! Kurt blickte sich fieberhaft um. Hilflos, ziellos... Es mußte einen Ausweg geben, eine Möglichkeit, dem Er stickungstod zu entgehen! Sein Blick fiel auf den glitzernden Felsen neben ihm. Er kam nicht aus Weltraumtiefen, sondern gehörte zur ursprünglichen Materie des Saturn. Seine Oberfläche war alles andere als glatt und eben. Sie bestand aus funkelnden Kristallen... Sie erinnerten ihn an etwas. Schnee. Und kein Schnee ohne Sauerstoff! Er beschloß, sich zu vergewissern, indem er die Lichtbrechung untersuchte. Dazu legte er einige Flocken der weißen Substanz auf seine Helmscheibe und wandte sich dem fernen Sonnenlicht zu. Begeisterung erfaßte ihn. Der prismenähnliche Reflex deutete auf Sauerstoff hin. Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Er klaubte eine Handvoll Schnee auf und schob ihn in die Minischleuse auf dem Rücken des linken Anzugunterarms. Nervös wartete er ab, bis die Schleuse sich schloß. Er war sich des Risikos bewußt. Durch die ausgeschalteten Systeme kroch die Weltraumkälte allmählich in jeden Winkel des Anzugs. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er als menschlicher Eiszapfen einen prächtigen 143
neuen Asteroiden abgab. Durchaus möglich, daß der zugeführte Schnee seinen Körper noch schneller auskühlte. Und draußen herrschten minus 185 Grad! Die Minischleuse öffnete sich, und es kitzelte leicht, als der Schnee auf seine Haut fiel. Ein Prickeln. Dann verdampfte seine Körperwärme die Flocken. Es klappte! Frischer Sauerstoff verteilte sich im Anzug. Eiskalt und dennoch eine Wohltat. Ich hab's geschafft! dachte er ungläubig. Ich ersticke nicht! Hier gibt's Sauerstoff in Hülle und Fülle! Er schaufelte mit den Armen soviel Flocken von dem Eisbrok ken neben ihm, daß es bald den Anschein hatte, als triebe er in wildem Schneegestöber. Eifrig preßte er die Substanz zu einem medizinballgroßen Ballen zusammen, den er so an seinem Raum anzug befestigte, daß er immer wieder Teile davon in die Mi nischleuse legen konnte. Die Arbeit wärmte ihn auf. Er würde also auch nicht erfrieren. Die Isolation des Kampfanzuges war wirklich erstklassig. Jetzt mußte er nur noch in Bewegung bleiben. Nun schaffe ich auch den Rest der Strecke! Er stieß sich von dem Brocken ab und trieb zum nächsten. Mit ausgeschalteten Systemen, ohne Heizung und Luftversorgung, hangelte er sich auf diese Weise durch den Ring. Er überzeugte sich, daß er noch Peilsignale von der Funkboje empfing, und richtete seinen Kurs darauf aus. Die Anstrengung hielt ihn warm. Hin und wieder füllte er seinen Vorrat an Schnee auf, um den erhöhten Sauerstoffbedarf aus zugleichen. Abfedern - ausrichten - abstoßen. Die immer gleichen Bewegungen lullten ihn ein. Er fühlte sich wie ein Schwimmer im Strom der Zeit. Bis ein Piepsen ihn aus seiner Trance riß! Ein Blick auf seine Helmanzeigen sagte ihm, daß die Boje ir gendwo über ihm war, außerhalb der Ringscheibe. Er hatte sein Ziel fast erreicht. Am nächsten Materiebrocken, gegen den er 144
stieß, wandte er sich nach »oben«. Hundert Meter weiter dünnte der Ring aus. Er achtete jetzt darauf, seinen Flug genau auszurichten. Er konnte es sich nicht mehr leisten, einen Eisbrocken zu verfehlen. Schließlich wollte er nicht in die Leere des Weltraums abdriften und bis zum jüngsten Tag vakuumversiegelt über dem A-Ring des Saturns seine Kreise ziehen. Ein helles Schimmern - wie von Metall. Gleichzeitig beschleunigte sich das Piepsen! Minuten später erreichte Kurt die etwa mannsgroße Funkboje und klammerte sich daran fest. Von der DÄDALUS gab es weit und breit keine Spur! *
Später erfuhr Kurt, daß der Transportraumer an anderer Stelle über dem Ring gewartet hatte, weil niemand damit rechnete, daß jemand es bis zur Boje schaffen könnte. Er erinnerte sich nur noch verschwommen daran, daß die Funk stille irgendwann - ob nach Stunden oder Minuten, wußte er nicht zu sagen -jäh unterbrochen worden war. Es knackte und prasselte in seinem Helmempfänger, und er glaubte, die Stimme von Feldwebel Kaunas zu vernehmen, der wutentbrannt brüllte: »Bück! Wo zum Teufel stecken Sie, Bück?« Dann hatte er das Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, blickte er geradewegs auf die ge schwollene Zornesader von Derek Raimundsen. »Was fällt ihnen ein, Bück?« gellte es ihm entgegen. »Wir haben extra ein Suchkommando für Sie rausgeschickt!« Und wieder dämmerte er weg. Beim nächsten Erwachen hatte Kurt genug Kräfte gesammelt, um bei Bewußtsein zu bleiben. Es sah in das Gesicht eines Arztes, der nach einem kurzen Blick auf ihn etwas in ein Foliendiagramm auf seinem Klemmbrett eintrug. Dann tätschelte er Kurt die Wange und verließ schweigend das karge Zimmer. Gleich darauf stürmte Kaunas zur Tür herein. »Sie machen einem wirklich nichts als Ärger!« schrie er. 145
»Mußten Sie auch diesmal wieder aus der Reihe tanzen?« Kurt wußte nicht, wie ihm geschah. »Ich... ich habe doch nichts falsch gemacht.« »Ich habe eigens einen Suchtrupp für Sie zusammenstellen las sen, Bück. Woher hätte ich wissen sollen, daß Sie sich wie ein Klammeraffe um die Funkboje schlingen?« »Aber mein eingebauter Peilsender...« »Ja, der hat uns schließlich auch zu Ihnen geführt. Das hätten wir uns in den kühnsten Träumen nicht ausgemalt.« Wütend blickte der Feldwebel auf den jungen Deutschen hinab. »Würden Sie mir vielleicht mal erklären, wie es Ihnen gelungen ist, sich bis zur Funkboje durchzuschlagen?« Kurt erfüllte ihm seinen Wunsch, und mit jedem Wort staunte Kaunas mehr. Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Da haben Sie uns ja richtig ausgetrickst«, sagte er. »Wie bitte...?« »Die Übung sollte dazu dienen, den Befehlsgehorsam der Männer zu prüfen, Bück!« »Aber ich habe doch gegen keinen Befehl verstoßen. Meine En ergieversorgung lag brach. Weder der Flugtornister noch die Hei zung funktionierten. Ich habe meinen Sauerstoff selbst hergestellt. Mein Raumanzug war während der ganzen Zeit im Ring energe tisch tot - wie befohlen.« Feldwebel Kaunas seufzte. »Ich will Ihnen einmal erzählen, wie wir uns die Sache eigentlich dachten. Als ich den Befehl gab, sich energetisch tot zu stellen...« Er stockte und blickte Kurt an. »Sie haben doch wohl nicht geglaubt, daß ich Sie einfach so Ihrem Schicksal überlasse?« Kurt zog es vor, zu schweigen. »Wie können Sie so etwas denken!« sagte Kaunas. »In dem Ringabschnitt, in dem das Manöver stattfand, haben natürlich Be satzungsmitglieder der DÄDALUS gewartet, erfahrene Raumsoldaten. Sie sollten Sie im Auge behalten, sich sofort zeigen und die Energieversorgung Ihrer Anzüge wieder aktivieren, wenn Sie das Bewußtsein verlieren oder kurz vor der Bewußtlosigkeit stehen würden.« Er breitete die Hände aus. »Aber Sie sind uns irgendwie entwischt. Als wir später den Ringabschnitt durchkämmten, waren 146
Sie nirgends zu finden. Und auf Funkanrufe reagierten Sie nicht.« Ich dachte, mich trifft der Schlag, als ich von deinem Ver schwinden hörte! dachte Kaunas. MacCormack hätte seine Dro hung glatt wahr gemacht! Ich habe mich schon auf dem äußersten Plutomond gesehen! Er starrte Kurt wütend an. »Dabei kann sich das Ergebnis der Übung sonst wirklich sehen lassen. Nicht ein einziger Ihrer Kame raden hat einen Weltraumkoller bekommen oder aus Angst gegen den Befehl verstoßen.« »Ich aber auch nicht!« brauste Kurt auf. Wieder schüttelte Kaunas fassungslos den Kopf. »Nein, Sie auch nicht. Sie haben sich sogar bis zur Boje durchgeschlagen, was keiner von uns ernsthaft erwartet hätte.« »Die anderen... wie...?« »Nach dem Einsatz der Helfer haben Ihre Kameraden den Ring vertikal verlassen und sind beim Schiff eingetrudelt. Wir haben Sie völlig erschöpft aufgelesen...« »Keine Ausfälle?« »Natürlich nicht!« erwiderte Kaunas barsch. »Tut mir leid, Feldwebel«, sagte Kurt nicht ganz wahrheitsge mäß. Er freute sich aufrichtig, daß niemand zu Schaden gekom men war, denn somit waren auch Wladimir und Antoku wohlauf. Aber ein Gefühl des Triumphs konnte er nicht unterdrücken. »Ich habe nur meinen Verstand eingesetzt, um den von Ihnen erteilten Befehl auszuführen. Von einem hinter dem Befehl verborgenen tieferen Sinn war mir nichts bekannt.« Jannis Kaunas starrte ihn zornbebend an. »Kommen Sie mir nicht so, Bück. Werden Sie jetzt bloß nicht hochmütig!« »Dazu besteht kein Anlaß, Feldwebel«, erwiderte Kurt kühl. »Das will ich meinen«, sagte Kaunas. »Der Einsatz hatte zwei Ziele. Zum einen sollten Sie ein Gefühl für den leeren Raum be kommen und sich mit der Handhabung der Kampfanzüge vertraut machen. Aber es ging auch darum, den Befehlsgehorsam der Re kruten zu prüfen. Beide Ziele wurden erfolgreich erreicht. Der Einzige, der aus der Reihe tanzte, sind Sie!« »Ich bin mir keiner Schuld bewußt, Feldwebel.« Kaunas musterte ihn grimmig von oben bis unten. »Wir treffen 147
uns in einer Stunde in Schulungsraum Zeta IV. Dort findet für alle eine Nachbesprechung statt. Major MacCormack möchte mit Ihnen die Ergebnisse des Einsatzes auswerten. Und wehe, ich erlebe Sie dort nicht auf der Höhe Ihrer Konzentration!« Er machte kehrt und verließ das Zimmer. Als er um die Ecke bog und vom Krankenbett aus nicht mehr zu sehen war, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Allerhand, was der Junge da geleistet hat, dachte er. Ein richtiger Teufelskerl, dieser Bück!
8,
Tag für Tag, Woche für Woche durchkreuzte die DÄDALUS das Sonnensystem und stieß sogar bis in den interstellaren Raum jen seits der Plutobahn vor. Die Rekruten wurden mit Absetzern nach draußen gebracht, analysierten Energiefahnen, entwickelten mili tärische Strategien und führten Scheingefechte durch. Ob Ortungs zentrale, Astrolabor oder Maschinenraum, sie wurden bis zum Äußersten gefordert und in allen Abteilungen an Bord mit den modernsten Instrumenten und Methoden vertraut gemacht, damit sich zum Militärdienst und den theoretischen Studien auch die wissenschaftliche Praxis gesellte. So rasch und effektiv wie möglich machte man aus ihnen passable Wissenschaftler, perfekte Piloten und Einzelkämpfer... Dann gellte Alarm durch das Schiff! Erst hielten sie es nur für eine weitere Übung und nahmen zwar ihre Stationen ein, waren aber nicht sonderlich nervös, als sie mit einigen wenigen, oft trainierten Handgriffen zielsicher ihre Ge fechtsbereitschaft herstellten. Bis ein Rundruf die Situation schlagartig änderte. Major MacCormack teilte seinen Leuten mit, daß die Radarstation Pluto ein gewaltiges fliegendes Ungetüm von zehn Kilometern Durchmesser geortet hatte, das Kurs auf die Erde nahm.* Kurt und Wladimir warfen sich hinter den Pulten im Gefechts stand besorgte Blicke zu. Dann knisterten die Lautsprecher wieder, und MacCormack führte aus, was Terra Command gerade bestätigt hatte, daß es sich um eine sogenannte Schattenstation handelte, den gewaltigen Kampfstern eines Volkes unbekannter Herkunft. Wie man von früheren Begegnungen außerhalb des Sonnensystems wußte, waren die Angehörigen dieses Volkes nur schemenhaft erkennbar -daher die Bezeichnung Schatten.
siehe REN DHARK Nr. 15: »Das Echo des Alls<
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Kurt und Wladimir hatten schon von diesen seltsamen Wesen gehört. Viele vermuteten hinter den Schatten ein ehemaliges Hilf s volk der Mysterious, das gegen seine Herren aufbegehrt hatte und jetzt einen Zerstörungsfeldzug gegen die Menschen und das befreundete Volk der Nogk führte. Sonderlich schwer fiel ihnen das nicht. Ihre technische Überle genheit stand außer Frage... Kurt erinnerte sich an das, was er über die Schattenstationen ge lesen hatte: Sie näherten sich hinter mächtigen Tarnschirmen ver borgen, die nur von den Instrumenten der Nogk durchdrungen werden konnten. Im Grunde handelte es sich um riesige Kugel transmitter, in deren Innerem ganze Raumschiffsflotten materiali sieren konnten. Theoretisch war ihr Nachschub also grenzenlos... Stand jetzt ihre Feuertaufe bevor? Ihre Ausbildung war noch nicht einmal abgeschlossen... In rasender Fahrt drang die Schattenstation zur Erde vor, war von keinem Gegner aufzuhalten und ging unmittelbar zum Angriff auf Cent Field über. Es knisterte wieder in der Sprechanlage über ihm, und Kurt spürte, wie er sich anspannte. »Wir werden nicht in die Kämpfe eingreifen«, erklang die Stimme des Majors über Bordnetz. »Fahren sie die Energiewerte herunter, wir gehen auf Schleichfahrt. Ziel Terra.« War das die richtige Entscheidung? Wer hatte sie getroffen? Der Major selbst oder eine höhere Instanz - vielleicht jemand von Terra Command? Beklommen führte er die erforderlichen Handgriffe aus, um die Alarmstufe Rot durch Grün zu ersetzen. Während die DÄDALUS mit langsamer Fahrt der heimatlichen Erde entgegenflog und ihren Energieverbrauch möglichst niedrig hielt, um schlechter angepeilt werden zu können, ließ Kurt den Ortungsschirm nicht aus den Augen - tief erschüttert über die dramatischen Kampfszenen im Weltraum hoch über der Erde, die einfach kein Ende nehmen wollten. Immer mehr Lichtpunkte glommen auf, die jeweils für Dutzende oder Hunderte gefallener Soldaten standen, durch knappe Gesten 150
des Schicksals beiläufig aus dem Leben gewischt. Das reinste Kanonenfutter! dachte Kurt. Der Schutzschirm der Nogk hielt den Gegner nicht auf. Schließlich explodierte die Schattenstation. Es kam die Meldung durch, daß der Sieg auf das Konto der CORLEONE unter Major Will Pennstick ging. *
Der Antrieb der DÄDALUS war noch nicht verstummt, als es in den Bordlautsprechern knisterte. »An den Mescalero-Zug«, schmetterte die Stimme von Feldwebel Kaunas. »Klaubt eure Siebensachen zusammen. Ich erwarte euch in fünf Minuten in Hangar CVII/3.« Ihre Zeit hier an Bord war abgelaufen - Kurt fragte sich, was ihnen bevorstand. Rein instinktiv reihte er sich in den Strom der Rekruten ein, die sich im Laufschritt zu den Quartieren begaben und ihre Habe zu sammensuchten. »Achtung, Männer!« ertönte eine weitere Durchsage, diesmal nicht von Kaunas. »Der neueste Lagebericht: Nach der Explosion der Schattenstation wurden keine weiteren Angreifer ausgemacht. Vorerst.« Minuten später traf der junge Deutsche mit Wladimir und An toku im genannten Hangar ein. Sie liefen an den mit Magnetkrallen gesicherten Absetzern vorbei zur geöffneten Schleuse, als Kurt sah, wie sich im Tiefflug ein Jett näherte. Er flog mit Höchstgeschwindigkeit knapp über dem Landefeld auf die DÄDALUS zu und ging nur wenige Meter von der Rampe entfernt nieder. Auch Kaunas hatte sich schon eingefunden und blickte vom Rand der Schleuse aus nach draußen. Er sog heftig den Atem ein, als die Tür des Jetts sich öffnete. Kurt lief gerade die Rampe zum Landefeld hinab. Bei der Reaktion des Feldwebels schaute er erst ihn, dann den Mann an, der in der Jettür aufgetaucht war... Ein Generalmajor - er kannte ihn nicht. 151
Aber Kaunas schien ihn zu kennen, denn er sah MacCormack am anderen Ende der Schleuse an, der seinen Blick jedoch nicht bemerkte. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schaute der nachdenklich in den Hangar, zu der langen Schlange von Rekruten, die sich noch an Bord befanden. Als der Major nicht reagierte, hüstelte Kaunas kurz und nickte die Rampe hinunter zum Landefeld. MacCormack folgte seinem Blick und erstarrte. Dann schritt er an Kaunas vorbei entschlossen aufs Landefeld. Er passierte die Rekruten, die am Fuß der Rampe Aufstellung ge nommen hatten, und salutierte vor dem Generalmajor, der gerade die Leiter seines Jetts hinabstieg. »Melde gehorsamst: Rekruten gehen von Bord«, hörte Kurt seine zackige Meldung. »Keine Verluste.« Es klang irgendwie höhnisch. Als der große, drahtige Mann von der letzten Sprosse stieg und sich umdrehte, leuchtete eine Narbe auf seinem Gesicht grellrot auf. »Glauben Sie eigentlich, ich hätte Sie nur so aus Spaß um Hilfe gebeten?« sagte er mit unterdrückter Wut. »Natürlich tragen Sie die Verantwortung für Ihre Leute, aber was hätte es geschadet, am Angriff auf die Schattenstation teilzunehmen?« »Es wäre nicht ratsam gewesen, Generalmajor«, entgegnete MacCormack. »Vierzigfacher Grips, entsprechend gute Führung«, sagte sein Gegenüber. »Ich hätte mir Erfolg versprochen.« »Tut mir aufrichtig leid, Generalmajor«, erwiderte der rothaarige Ire. »Aber diese Entscheidung hatte ich zu treffen, und ich ent schied mich dagegen!« Farnham starrte ihn fassungslos an, als hätte er mit einer solchen Antwort nicht gerechnet. »Chris... der Mescalero-Zug ist kein Kanonenfutter«, fügte MacCormack nachdrücklich hinzu, »wir dürfen ihn nicht ver schleißen. Der Transporter hätte gegen die Schattenstation keine Chance gehabt, und es wäre eine Schande gewesen, diese Leute zu opfern! Sie sind für Kommandoeinsätze gedacht, nicht für Raum schlachten!« Kurt schluckte unwillkürlich, und die Knie wurden ihm weich. 152
Hatten sie wirklich geopfert werden sollen? »Dir ist wohl nicht klar, wie sehr ich unter Druck stehe?« zischte Farnham mit leiser Stimme. »Bulton will endlich Erfolge sehen, von Trawisheim ganz zu schweigen. Gerade jetzt kommt es auf jeden Mann an!« Seine eisgrauen Augen blitzten MacCormack an, der seinem Blick schweigend standhielt. »Grundgütiger, Kenneth! Die Schatten greifen uns an, gerade haben wir's wieder erlebt. Ist das nicht der Moment, an dem deine Spezialtruppe sich einschalten sollte?« »Sie soll langfristig Erfolge zeitigen«, erwiderte MacCormack ruhig. »Ich bin fest entschlossen, aus diesen jungen Männern das Beste herausholen. Ihnen steht noch ein Abschlußtraining zu, ganz zu schweigen von den theoretischen Prüfungen. Willst du ihnen -und uns - diese Chance wirklich nehmen?« Der Generalmajor schob das Kinn vor, und die Anspannung schien von ihm zu weichen. Seine eisgrauen Augen drückten wieder kühle Distanz aus. »Langfristig, ja?« meinte er mit lauerndem Unterton. »Major, Sie haben recht. Der Einsatz wäre vorschnell gewesen. Aber wehe, die Erfolge bleiben aus.« Kurt hatte den Eindruck, MacCormacks Erleichterung körperlich spüren zu können, als eine weitere Gestalt aus dem Inneren des Jetts stieg. Sie stellte sich hinter den Generalmajor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er glaubte, der Schlag würde ihn treffen. Er kannte diesen Mann... Jose Gomez! Oberstleutnant Jose Gomez! Der beste Freund seines Kumpels Laszlo Kovacs! Daß er ihn hier wiedersah! Auf dem Raumhafen von Cent Field, der gerade von einer Schattenstation teilweise regelrecht umge pflügt worden war! Der Spanier hatte Laszlo immer überreden wollen, sein geruh sames Leben in der Mühle bei Dresden gegen eine Laufbahn im militärischen Verwaltungsdienst einzutauschen. Er hatte ihn als Müßiggänger eingestuft, weil er nicht begreifen konnte, daß seine Krankheit echt war - seine Erschöpfung nach Jahren im aktiven 153
GSO-Dienst... Anscheinend hatte Gomez sich an seinen eigenen Rat gehalten und selbst Karriere gemacht! Kurt überlegte, wie er den schlanken Mann mit den dunklen Zügen auf sich aufmerksam machen konnte. Zu gern hätte er einige Worte mit ihm gewechselt und ihn gefragt, wie es Laszlo ging. Er starrte ihn an... Aber Gomez bemerkte es nicht. Als er dem Generalmajor seine Nachricht überbracht hatte, entfernte er sich von Kurt und der ge landeten DÄDALUS und schritt auf das gigantische Landefeld des Raumhafens hinaus. Der junge Deutsche war verwirrt. Er hätte gern Wladimir um Rat gefragt, doch der befand sich weit hinten in der Reihe. Und Antoku, der vor ihm die Rampe hinuntergegangen war, hatte noch nie etwas von Gomez gehört... Kurt überlegte gerade, wie er den Spanier, der jetzt fünfzig Meter entfernt stand, auf sich aufmerksam machen konnte, als sich aus Richtung Alamo Gordo ein Transportgleiter näherte. Er gehörte zu einem Typ, den gewöhnlich nur das Militär benutzte, und speziell dieses Exemplar kam Kurt irgendwie vertraut vor, als wäre er selbst schon darin geflogen. Hinter der Hauptstadt lagen die Sacramento Mountains... Kam er von dort? Gomez sprach in ein Funkgerät, dann ging der Gleiter vor ihm nieder. Der Spanier bedeutete den Insassen, sich zu beeilen. Er zeigte mehrmals nach Norden, hinter die DÄDALUS. Erst jetzt sah Kurt dort die seitliche Rundung eines weiteren Raumkreuzers hervorlugen. Es mußte hinter der 200-Meter-Kugel ihres Ausbildungsschiffes gelandet sein, als er und seine Kameraden sich im Hangar versammelten. Eine Tür des Transportgleiters klappte auf, und ein Mann mit Pferdeschwanz und olivfarbener Kleidung schaute heraus. Seine Gesichtsfarbe war ein bräunliches Rot... Ein Indianer! Kurt glaubte ihn zu kennen. Zwar nicht namentlich, aber sie hatten schon gegeneinander gekämpft - auf dem Plateau. Er ge hörte zu den Chiricahuas und Mescaleros, die man dort für den 154
Häuserkampf ausbildete! Feldwebel Kaunas kam die Rampe der DÄDALUS hinunter, ge folgt von Derek Raimundsen und dem Schleifer Franticeff. Sie salutierten vor Generalmajor Farnham und stellten sich neben MacCormack, als wollten sie ihm dadurch ihre Unterstützung zei gen. Nur Kaunas baute sich gleich vor den in Reih und Glied ver sammelten Rekruten auf. Dabei versperrte er Kurt die Sicht auf die etwa zwei Dutzend Indianer, und so neigte der junge Deutsche leicht den Oberkörper zur Seite, um sehen zu können, wie sie übers Landefeld liefen, an Jose Gomez vorbei, der den Anführer militärisch knapp grüßte, ge radewegs zur Rückseite der DÄDALUS und zu dem dort wartenden Raumkreuzer. »Schanghai«, murmelte Feldwebel Kaunas, der Kurts erstaunten Blick gesehen hatte. »Der Dschungel der Großstadt erwartet sie.« Kurt stutzte. Was sollten die auf Nahkampf spezialisierten In dianer in Asien? War es möglich, daß der Angriff auf die Erde für hiesige Feinde der Weltregierung - nicht umgeschaltete Robonen oder islamische Fundamentalisten - das Startzeichen für Anschläge und Aufstände gewesen war? Bekanntlich stürzen diese Aasgeier sich ja auf den geringsten Anschein von Schwäche! Kurt verfolgte gebannt den Start des Raumkreuzers mit den In dianern an Bord, verrenkte sich fast den Hals, als er hinter der DÄDALUS aufstieg - und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Major MacCormack auf sie zukam. Der stämmige Ire nickte Kaunas zu und blieb neben ihm stehen. »Hergehört, Männer!« dröhnte seine Stimme übers Landefeld. »Ihr habt euren Nervenkitzel gehabt, jetzt geht es planmäßig weiter. Wir nehmen den Transportgleiter der Mescaleros und fliegen nach Afrika, genauer gesagt in die atemberaubend schöne und erfri schend warme Sahara, wo ihr euer Abschlußtraining absolvieren dürft.« Keiner der Rekruten ließ sich etwas anmerken, doch Kurt spürte, daß viele es MacCormack übelnahmen, sie nicht in den Einsatz geschickt zu haben, obwohl sein Vorgesetzter darum gebeten 155
hatte. Es war, als beraubte er sie der Möglichkeit, sich im Einsatz für die Menschheit zu bewähren. Oder sollten sie sich darüber freuen? Waren sie wirklich noch nicht soweit? Er wußte nur eines: Wenn er das Abschlußtraining versiebte, war alles vergebens gewesen - die ganze Plackerei! Oberstleutnant Gomez kümmerte sich nicht weiter um den Transportgleiter, in dem die Indianer gekommen waren. Er hob nur kurz die Hand, um sich von dem Piloten zu verabschieden, dann ging er schnellen Schrittes zu Farnham zurück, der schon die Leiter zu seinem Jett hinaufstieg. Er folgte dem Generalmajor und zog die Tür hinter sich zu, dann rasten sie zu den Verwaltungsgebäuden am Rand des Raumhafens davon. Kurt hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, den Spanier anzu sprechen. Er wußte nicht, welchen Posten er eigentlich genau be kleidete und was aus Laszlo geworden war - und der Himmel mochte wissen, ob er es jemals erfuhr! Training in der Sahara, dachte er wütend. Und wenn wir das nicht bestehen, fliegen wir wohl, was? Er schaute Kaunas an, der sie zum Transportgleiter trieb. Um so besser. Dann fliege ich eben aus dem Militär und kann mich endlich revanchieren. Aber dann lasse ich Dampf an dir ab, Kaunas - und wie! Der Feldwebel drehte sich um und grinste. Er konnte wohl Gedanken lesen! #
Olan - Stadt in der Wüste. Nicht zu verwechseln mit dem Han delshafen Oran an der Küste des Mittelmeers, westlich von Algier. Die Stadt Olan, von der er bei seinen historischen Studien immer wieder gelesen hatte, befand sich 1.500 Kilometer Luftlinie ent fernt fast im Mittelpunkt der Sahara. Aber so erstaunlich es klang, vielleicht hatte Oran doch den Anstoß zur Namenswahl der blü henden kleinen Wüstenstadt gegeben. In den zwanziger und dreißiger Jahren des neuen Jahrtausends, 156
als die Sahara durch das Anzapfen von drei unterirdischen Wasser reservoirs zur Kornkammer der Erde wurde, lag der Zusammen schluß der irdischen Staaten unter einer Weltregierung erst kurze Zeit zurück. Die Bevölkerungsexplosion im ehemaligen China hatte viele Familien veranlaßt, ihr Glück im Ausland zu suchen, auch in der gerade erst kultivierten Sahara. Die Verheißung der neuen Welt, vielen Auswanderern durch den hypermodernen Jett flughafen von Oran nachhaltig vor Augen geführt, hatte sie veran laßt, ihre kleine Stadt im nördlichen Drittel von Mali Olan zu nennen. Zwischen riesigen Rapsfeldern hatten sich Wohnwürfel mit prächtigen Dachterrassen und Parkanlagen gestapelt und gegen einander verschoben in den Himmel gereckt und der Menschheit eine blühende Zukunft verheißen, mit angeschlossenem Raumhafen und vollautomatischen Fabrikanlagen zur Lebensmittelherstellung. Kurt erinnerte sich, in jungen Jahren davon gehört zu haben: »Neue Wohnkultur im Herzen der Wüste!« Jetzt gab es keine Spur mehr von der spektakulären Siedlung, die einmal überall in den Medien als Nonplusultra gefeiert worden war. Sie hatte kein langes Leben gehabt, lediglich zwanzig Jahre. Seit dem Angriff von achtunddreißig Spindelraumern vor sechs Jahren, am 17. Mai 2051, befand sich an ihrer Stelle nur noch ein Schlackehaufen. Kurt hatte sich die Sahara in seiner Kindheit immer gelb vorge stellt, sandfarben, dann war sie grün geworden. Als sie nun über das Gelände der ehemaligen Stadt Olan hinwegflogen, war es ihm, als hätten die dunkelgrauen und grellgelben Strahlbahnen der An greifer dem Land seine einstige Farbe zurückgegeben. Die ge schmolzenen Schlackeseen spiegelten die gleißende Sonne in satten Erdtönen wider, doch nach dem Überqueren dieses Bereichs breiteten sich ringsum wieder violette und gelbe Felder aus, unter brochen von grünen Wiesen. Ihr Lager befand sich ungefähr zwanzig Kilometer hinter ihnen auf der anderen Seite des Einzugsbereichs der Stadt, im Schatten der glitzernden Anhöhe aus Schlacke, die einmal das Industrieviertel von Olan gewesen war.
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Seit fast zwei Wochen erkundeten sie in kleinen Trupps die Umgebung, führten Scheingefechte durch und absolvierten ein Training, das sie bis zum Äußersten forderte - doch für heute war der Höhepunkt ihrer Ausbildung angesetzt. Nach einer entsprechender Einweisung durch Feldwebel Kaunas und Feldwebel Raimundsen hatte man sie am frühen Morgen in zwei Gruppen zu je zwanzig Mann unterteilt. Sie waren angewiesen worden, in ihre MF-Anzüge zu steigen, dann hatte man deren Flugfähigkeit außer Betrieb gesetzt. Kreuze und Kreise am Rumpf und auf Stirnhöhe des Helms machten deutlich, welcher Seite sie angehörten. Sie waren in zwei Transportgleiter gebracht worden, die zeitlich und räumlich voneinander getrennt unbekanntes Gelände anflogen. Dort sollten sie abgesetzt werden und die jeweils andere Gruppe ausschalten oder gefangennehmen. Bis zum letzten Mann! Kaunas hatte ihnen eingeschärft, diese Übung besonders ernst zunehmen, da sie die gängige Praxis der künftigen Einsätze vor wegnahm. Ihre Legende besagte, daß sie von einem Absetzer ohne energetischen Antrieb, rein batteriegetrieben, einem der neuartigen Raumboote, deren Handhabung sie schon an Bord der DÄDALUS gelernt hatten, auf eine Wüsten weit gebracht worden wären. Wie ein Segelgleiter wären sie durch die Atmosphäre geschwebt und in Feindesland niedergegangen, um dort sofort mit der Aufklärung zu beginnen. Sie hatten eine einzige Auflage: keine verräterischen Energie emissionen. Also durften sie sich nur konventioneller Waffen be dienen. Kurt staunte nicht schlecht, als sie am Rand eines gewaltigen Staubeckens, das in weiter Ferne von Bergen begrenzt wurde, den Transportgleiter verließen. Sie fanden zwei Motordrachen und ein Luftkissenfahrzeug vor. Für den Nahkampf lagen in einer Reihe zwanzig Elektropuls-Marker auf dem Boden, die als Ersatz für herkömmliche Projektilwaffen dienten. Ein Treffer damit, und die Muskeln verkrampften sich so sehr, daß an Kampf nicht mehr zu denken war. Feldwebel Kaunas machte keine großen Worte. »Ihr wißt, 158
worum es geht«, sagte er. »Zeigt, daß ihr besser seid als die anderen. Besonders von Ihnen erwarte ich das, Bück. Sie übernehmen die Leitung Ihrer Einheit, verstanden?« Kurt hatte keine Gelegenheit, sein Unbehagen oder auch nur sein Erstaunen zum Ausdruck zu bringen. Kaunas hastete mit der Aufforderung zum Gleiter zurück, sich nur ja zu beeilen, denn die gegnerische Truppe schlafe nicht. Zwei Minuten später verschwand der Gleiter am Horizont und ließ die Rekruten mit ihrer Ausrüstung allein. Kurt blieb nichts anderes übrig, als sofort die Initiative zu ergreifen. Er kannte jeden einzelnen seiner Kameraden, seine Schwächen und seine Stärken - fast ein Jahr lang durchlitten sie nun schon gemeinsam die Ausbildung. Er deutete auf einen mittelgroßen braunhaarigen Mann, mit dem er im ewigen Eis der Antarktis gute Erfahrungen gemacht hatte. »Jake! Schnapp dir einen der Motordrachen und mach in Abständen von fünf Minuten Meldung!« Der Angesprochene nickte und ging davon. Kurt blickte in die Runde und deutete auf Andre Souaran. Es war ein Wunder, daß er noch bei ihnen war. Ein stilles Wasser, sehr sensibel, doch er hatte trotz des Unglücksfalls auf dem Pla teau der Kaserne nie den Mut verloren. Kurt hatte seine innere Stärke zu schätzen gelernt. »Du übernimmst den zweiten Drachen, Andre!« befahl er und deutete dann der Reihe nach auf weitere Männer. »Bill, Antoku, Pete - ihr schwärmt zu Fuß als Kundschafter aus und stellt fest, ob uns Gefahr droht. Marschiert in alle drei Himmelsrichtungen, auf dem Wasser werdet ihr ja wohl kaum wandeln wollen. Ach ja, und haltet Funkkontakt!« Es dauerte nicht lange, bis die ausgeschickten Kundschafter zu rückkamen und es feststand, daß sie in mehreren Kilometern Um kreis allein waren. Auch aus der Luft wurden keine verdächtigen Bewegungen gemeldet. Kurt wußte nicht recht, ob ihn das freuen sollte, weil das die Frage aufbrachte, welche Strategie er jetzt ver folgen sollte. Er ließ einen seiner Leute die Funkfrequenzen absu chen, in der Hoffnung, so den Standort der Gegner ermitteln zu können, und wirklich fingen sie nach kurzer Zeit Meldungen auf. 159
Sie ließen darauf schließen, daß sie schon entdeckt waren. An geblich wurde in den Bergen jenseits des Staubeckens ein Angriff auf sie vorbereitet. Aber diese Meldung konnte auch fingiert sein, um sie bei ihrem weiteren Vorgehen in die Irre zu führen! Kurt ließ die Funkquelle anpeilen und befahl seinen Leuten, das Luftkissenfahrzeug zu bemannen. Während die beiden Motorsegler weiterhin Luftaufklärung betrieben, fuhren sie um das Becken herum in Richtung Berge. Jake und Andre meldeten in regelmäßigen Abständen die Ergebnisse ihres Flugs. Sie waren gleich null! Der Geländeschweber, in dem sie saßen, gehörte zum gleichen Typ wie die großen Luftkissenfahrzeuge, die damals an Bord der GALAXIS mitgeführt worden waren, jenes Raumschiffs, das vor der Invasion der Giants fünfzigtausend Kolonisten zum Deneb-System hatte bringen sollen und statt dessen auf Hope havariert war, wo Ren Dhark auf die Hinterlassenschaft der Mysterious stieß. Der Nachteil dieser Schweber, die eigentlich zur Hilfe bei der Be siedelung gedacht waren, gegenüber neueren Modellen für den Kampfeinsatz bestand in einem leisen Jaulen, das immer dann er klang, wenn die Düsen ein Luftpolster bildeten. Vielleicht wurden sie dadurch entdeckt! Doch ob nun durch den veralteten Schweber oder die Nachläs sigkeit eines Kundschafters - auf einmal sahen sie sich von geg nerischen Motorseglern angegriffen, die sie mit primitiven Sprengladungen bombardierten. Kurt reagierte sofort. Er lenkte das Luftkissenfahrzeug in eine Höhle, die sich linker hand in den ersten Ausläufern des Gebirges auftat, das in Mali als Adrar des Iforas bekannt war, und rief seine Motorsegler zurück. Die Sprengsätze waren anscheinend selbstgebaut und nicht sehr effektiv, sollten es wohl auch nicht sein, um keine ernsthaften Verletzungen herbeizuführen. Sie dienten lediglich dazu, den Einfallsreichtum des gegnerischen Gruppenführers unter Beweis zu stellen. Kurt war auch gebührend beeindruckt. Ein Scherzbold, dachte er. 160
Aber aus dem Scherz wurde bitterer Ernst, als einer der Sprengsätze beim Einfahren des Geländeschwebers in die Höhle direkt über ihnen explodierte und einen Erdrutsch auslöste. Geröll und lockerer Lehmboden prasselten herab und begruben sie auf halber Höhe des Eingangs. Kurt war einen Moment lang wie gelähmt. Er wollte seine Männer nach draußen schicken, um den vorderen Teil des Schwebers freizugraben, der weiteren Angriffen sonst schutzlos ausgeliefert war. Doch die Schleuse ließ sich nicht mehr öffnen. Er überprüfte den Zerhacker und funkte Jake an, der sofort landete und sich an die Arbeit machte. Während Andre über ihnen kreiste, um die feindlichen Motor segler an weiteren Angriffen zu hindern, gab der Texaner sein Bestes, um den Geländeschweber wenigstens von den größten Brocken zu befreien. Zum Glück saß das Gefährt nur zur Hälfte im Eingang fest, so daß sich die Schleuse mit vereinter Kraft schon bald wieder öffnen ließ. Der gegnerische Gruppenführer hatte die Gunst des Augenblicks jedoch erkannt und seine Motorsegler zu verstärktem Einsatz ver anlaßt. Andre hatte alle Hände voll zu tun, den verwegenen Manö vern, den Sturzflügen und Klammerangriffen, zu begegnen. Er bemühte sich nach Kräften, den Abwurf erneuter Sprengsätze zu vereiteln oder sie wenigstens so sehr zu behindern, daß sie schadlos ins Leere gingen. Dabei funkte er ununterbrochen die Warnung, daß sich der Schweber der Kreuzfraktion näherte. Und zwar auf dem Wasser! Nur zwei Minuten vergingen, bis Kurts Männer ihren Schweber so weit freigeräumt hatten, daß er mit aufheulenden Düsen rück wärts aus der Höhle fahren konnte. Jake schwang sich sofort wieder in seinen Motorsegler, um Andres heldenmütige Abwehr zu unterstützen, während Kurt dem Gros seiner Männer befahl, abseits der Felsen Deckung zu suchen. Eine Handvoll von ihnen holte er wieder an Bord des Schwebers, um Ortung, Funk und Steuerung zu bemannen, dann schob er sich entschlossen hinter die Pilotenkonsole und preschte im vollen Be 161
wußtsein des Risikos auf das Staubecken hinaus, um sich dem An greifer zu stellen. Der andere Schweber verharrte, so daß sich das Wasser unter dem Luftpolster aus seinen Düsen kräuselte. Auch Kurt hielt an. Sollte er die Entscheidung wirklich auf diese Weise herbeiführen? Er entschied sich dafür. Sie probten den Ernstfall. Er mußte alles daransetzen, die Gefahr, die der Gegner für Leib und Leben seiner Männer darstellte, zu bannen. Und anscheinend stand er jetzt dem feindlichen Gruppenführer gegenüber. Diese Chance mußte er nutzen! Die beiden Schweber setzten sich wieder in Bewegung, und Kurt fragte sich schon, was um Himmels willen er da eigentlich tat, als sein Gegner plötzlich Fahrt aufnahm und mit aufheulenden Düsen und angehobenem Bug auf ihn zuraste. Eine Wasserfontäne gischtete unter dem Heck hervor. Auch Kurt fuhr die Leistung seines Fahrzeugs auf volle Kraft. Er wünschte, seine Motorsegler hätten ihm zu Hilfe kommen können, doch Andre und Jake mußten die Mannschaft vor den Motorseglern der Kreuzfraktion schützen. Er war auf sich allein gestellt. Und der Gegner raste pfeilschnell auf ihn zu! Hatte er es auf eine Kollision abgesehen? Sollte er das zulassen? Erst im letzten Moment riß Kurt das Ruder herum, so daß die beiden Schweber haarscharf aneinander vorbeipreschten. Er hielt das Ruder gewendet, schlitterte in Schrägstellung unter ohrenbe täubendem Kreischen des Antriebs übers Wasser hinweg und hängte sich wieder an das Heck des Gegners. Eine atemberaubende Verfolgungsjagd setzte ein. Anfangs schien der Abstand sich nicht zu verringern, doch dann schloß Kurt Zentimeter für Zentimeter auf. Er stellte Funkkontakt zu seinen Motorseglern her. Andre meinte, er könnte die beiden gegnerischen Segler allein in Schach halten, jedenfalls für einen gewissen Zeitraum. Kurt befahl dem Franzosen, auf jeden Fall zu verhindern, daß die beiden Segler dem Geländeschweber zu Hilfe kamen. Statt 162
dessen sollte Jake Calhoun sich vor den Gegner setzen und ihn möglichst stark behindern. Dann wies Kurt seine Leute im Schweber an, das Äußerste aus dem Antrieb herauszuholen. Der feindliche Schweber bemühte sich durch wilde Manöver, den Verfolger abzuschütteln, während Jake wie eine wütende Hor nisse immer wieder dicht vor dem Bugfenster vorbeisauste. Kurt blieb dem Feind auf den Fersen und holte zusehends auf. Als ihn nur noch wenige Meter vom gegnerischen Heck trennten, gab er den Pilotensitz an einen seiner Männer ab und hangelte sich aus der Schleuse. Umtost vom Fahrtwind und überflutet von warmer Gischt, zog er sich an den antennenartigen Aufbauten zum Bug vor. Der Ge ländeschweber, dem sie im Zickzack folgten, war jetzt nur noch drei Meter entfernt. Das Spritzwasser nahm Kurt immer wieder die Sicht, doch er war wild entschlossen, dieses Duell zu gewinnen. Er setzte zum Sprung an - und landete auf dem schmalen Heck wulst! Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Er hätte nie geglaubt, daß der Sprung gelingen könnte. Doch im Nu trat wieder nacktes Kalkül an die Stelle der Freude. Noch hatte er es nicht geschafft. Unter seinen Füßen dröhnten die Düsen, die den Geländeschweber einen Meter hoch über Wasser hielten. Er mußte zum Cockpit vordringen und den Piloten ausschalten. Wenn es seinem Gegner doch noch gelang, ihn abzuschütteln, hatte die Kreisarmee verloren. Er kletterte das schräge Heck hinauf und schob sich übers Dach nach vorn. Er erwartete, daß jeden Moment gegnerische Rekruten aus der Schleuse nach oben stiegen und ihn angriffen. Aber nichts tat sich. War der Pilot allein an Bord? Kurt erreichte das Schott und wollte gerade den Kode eingeben, um ins Innere zu gelangen - als das Luftkissenfahrzeug wieder jäh herumgerissen wurde. Anscheinend hatte der Pilot nur auf diesen Moment gewartet. Doch Kurt war darauf gefaßt. Ein hektischer Tanz auf dem endlosen Staubecken setzte ein, mit Kurven und Bremsmanövern, die 163
jeden abgeschüttelt hätten, der nicht über Kurts Kraft und eiserne Selbstdisziplin verfügte. Dann öffnete sich die Schleuse, und Kurt sprang hinein. Ein Blick nach links zum Cockpit zeigte ihm, daß der Pilot des Geländeschwebers inzwischen mit den Angriffen zweier Motor segler zu kämpfen hatte. Andre und Jake führten beide ununter brochen Sturzflüge auf ihn aus, so daß der arme Kerl gar nicht mehr wußte, wie er noch reagieren sollte. Demnach hatte Andre die gegnerischen Segler zum Absturz ge bracht und war Jake zu Hilfe geeilt! Kurt beschloß, diese großartige Leistung bei der Nachbespre chung gebührend hervorzuheben. Dann war er wieder bei der Sache... Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß sonst niemand an Bord war. Der Pilot des Schwebers hatte die Sache allein durchziehen wollen, überzeugt davon, daß seine Kameraden anderenorts besser zum Einsatz kamen. Kurt zwängte sich zu dem Piloten vor, der hektisch die Kontrollen bediente und den Schweber unablässig tanzen ließ. Er wollte ihm gerade die Hand auf die Schulter legen und ihm erklären, daß das Spiel aus sei, daß er gewonnen hatte, er, der Gruppenführer der Kreisarmee... als er jäh innehielt. Der Pilot drehte sich um - das hatte er nicht erwartet! »Hallo, Kurt«, sagte Wladimir. *
Es war schon beängstigend, mit welchen Riesenschritten sich der Augenblick näherte, an dem die theoretische Prüfung über ihr weiteres Schicksal entschied. Wenn sie versagten, stand ihnen ein Job in den unteren Rängen der Militärverwaltung oder als Ange höriger der gemeinen Truppen bevor - doch wenn sie die volle Punktzahl erreichten, würden sie zum l. Zug der ersten Elitetruppe des Raumkorps gehören... Zur Schwarzen Garde! Nach den Erfahrungen des Abschlußtrainings stand für Kurt fest, daß die Ausbilder hervorragende Arbeit geleistet hatten. Alle 164
vierzig Rekruten, jeder auf seine Weise, waren zu großartigen Sol daten geworden, auch der etwas zurückhaltende Andre Souaran, der für seinen beherzten Einsatz im Motorsegler am Rand des Stausees gemeinsam mit Jake und Kurt besonders belobigt worden war. Noch am selben Abend war der junge Franzose zu Kurt ins Zelt gekommen und hatte ihm stolz die Hand geschüttelt. Kurt hatte ihn ein wenig verdutzt angesehen. »Das war ich dir schuldig«, hatte der Franzose gesagt, und erst da war Kurt gedämmert, was er meinte... Andre hatte nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich dafür zu re vanchieren, daß er ihm damals beim Drill auf dem Felsplateau das Leben gerettet hatte. »Vielen Dank«, rief er ihm noch hinterher. »Jederzeit wieder...« Bei diesen Worten war der schüchterne Andre aber schon wieder zum Zelt hinaus gewesen. Die praktische Seite der Ausbildung machte Kurt deshalb keine Sorgen... nicht bei solchen Kameraden... Aber die theoretische Prüfung - das war etwas anderes... Sie verlangte abstraktes Denkvermögen! Und wie zur Bestätigung ihres Stellenwerts wartete der Morgen des großen Tages, gleichermaßen ängstlich herbeigesehnt wie bang erwartet, mit einer Überraschung auf. Kurt war die ganze Zeit davon ausgegangen, daß sie für die theoretische Prüfung zur Raumfahrtakademie, zwanzig Kilometer von Cent Field entfernt, geflogen wurden, um dort einem ausge suchten Gremium aus Wissenschaftlern Rede und Antwort zu stehen - grauhaarigen Mittfünfzigern in Roben, die vergeistigt ihre abstrakten Fragen stellten... Er hatte sich schon darauf gefreut, anschließend in der herrlichen Parklandschaft zu lustwandeln und im berühmten Kasino des wis senschaftlichen Trakts, in dem sich schon Ren Dhark und Dan Ri ker getummelt hatten, mit den Prüfern und seinen Kameraden zu feiern. Der Appell währte keine zwei Minuten...
Er war nicht wenig erstaunt, als man sie danach einfach zum
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Hauptzelt des Lagers brachte. Die Wartezeit zehrte an ihren Nerven, doch einer nach dem an deren wurden sie schließlich in eine Kabine geführt. Und als Kurt an der Reihe war und den kaum vier Quadratmeter großen und durch Isoplatten abgetrennten Bereich mit zitternden Knien betrat, sah er dort auf einem Tisch ein Vipho, das auf Allgemeinfrequenz geschaltet war. Er setzte sich auf den mit schwarzem Kunstleder bespannten Rohrstuhl und nahm den Stift zur Hand, der dort neben einem Fo lienblock lag, um sich Notizen machen und kurze Berechnungen durchführen zu können. Dann flammte das Vipho auf, und das Dutzend Wissenschaftler, das an der Konferenzschaltung beteiligt war, stellte sich kurz vor. Im nächsten Moment attackierte es den Prüfling in wildem Stak kato mit Fragen aus völlig unterschiedlichen Wissensbereichen, bis ihm der Kopf schwirrte. Mysterious-Mathematik... Hyperphysik... Astrogeologie... sein persönliches Wahlpflichtfach Exobiologie... Die Antworten erfolgten automatisch. Für langes Nachdenken blieb keine Zeit. Ehe er sich versah, wurde er schon aus dem Zelt geführt und angewiesen, sein Quartier aufzusuchen. Dann saß Kurt wieder auf dem Rand seines Lagers und starrte ins Leere. Es ging ihm nicht anders als seinen Kameraden, die sich teils auf den Lagern ausgestreckt hatten und teils durch die in die Zeltstruktur eingewobenen Synthoplastfenster starrten. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Die theoretische Prüfung war so anders gewesen, als sie sich vorgestellt hatten, völlig unspektakulär - und dafür hatten sie ein Jahr lang Blut, Schweiß und Tränen vergossen! Er sah auf, als Wladimir die Unterkunft betrat. Das Gesicht seines Freundes war kreidebleich. Ihm war die Angst anzusehen, bei der Prüfung versagt zu haben. An diesem Abend wollte keine Stimmung aufkommen. Niemand sprach über seine Erfahrungen und die Verzweiflung, die sie bei dem Gedanken erfüllte, daß alles vergebens gewesen sein könnte... die ganze, maßlos auslaugende Schinderei... Irgendwann schliefen sie ein. 166
*
Zwei Tage später starrte Major MacCormack durch das Fenster seines Büros in Cent Field auf das ausgedehnte Landefeld des Raumhafens hinaus. Er überlegte, was die Prüfung der MescaleroRekruten wohl erbringen mochte und ob es sinnvoll wäre, für seinen Sohn ebenfalls eine Laufbahn als Elitesoldat der Schwarzen Garde in Betracht zu ziehen... als das Vipho summte! Sogleich erfaßte den stämmigen Iren Nervosität. Er wußte, daß er jetzt eine Nachricht zu erwarten hatte, die gewichtige Konse quenzen zeitigte. Es war ein intuitives Wissen, eine Vorahnung, wie sie ihn seit seinem Einsatz im Deneb-System vor allen wichtigen Veränderungen erfüllte. Er schaltete auf Empfang. »Hallo, Kennern«, begrüßte ihn die strahlende Miene von Gene ralmajor Christopher Farnham. »Chris!« entfuhr es dem Major. »Was für ein Labsal für meine gemarterten Augen.« Er meinte es ernst, doch eine gewisse Skepsis konnte er bei Farnhams Anblick nicht verbergen. Der Generalmajor war nicht nur ein alter Freund, sondern vor allem sein Vorgesetzter, und seit ihrem Streit nach der Landung der DÄDALUS auf Cent Field waren sie sich aus dem Weg gegangen. Die Besitzer des »Los Morenos« hatten häufig nach seinem Kumpel gefragt,'mit dem er in ihrem Restaurant in den ersten Mo naten des neuen Jahres so manchen nostalgischen Abend bei ei nem guten Wein verbracht hatte, doch seine Antwort war stets ausweichend gewesen. Er wußte nicht, ob Farnham ihm sein Verhalten auf dem Landefeld nachtrug. Immerhin hatte er sich ausdrücklich gegen ihn gestellt, als er den Wunsch äußerte, die DÄDALUS solle sich an den Kampfhandlungen gegen die Schatten beteiligen. Nach dem Zwi schenfall auf dem Landefeld waren sie nicht gerade als Freunde auseinandergegangen. »Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, sagte Christopher Farnham und hob lässig die Hand. »Vergessen wir unseren Streit. 167
Du hattest recht, okay?« Ein breites Grinsen legte sich auf MacCormacks Gesicht. »Jetzt ist mir leichter ums Herz«, sagte er, »das sollten wir feiern. Die Moreno-Brüder warten nur darauf. Aber deshalb rufst du doch nicht an, oder?« »Zugegeben«, erwiderte Farnham. »Mein blöder Stolz hätte mich wahrscheinlich veranlaßt, noch eine Weile damit zu warten, aber ich habe gerade eine Nachricht bekommen, die dich interes sieren dürfte - von Hape Hennerson.« MacCormack zog die Brauen zusammen. »Professor Henner son? Ist das nicht der Nachfolger von Monty Bell? Der neue Leiter der Raumfahrtakademie?« Farnham nickte. »Ganz recht. Und wie's aussieht, hast du her vorragende Arbeit geleistet!« »Was soll das heißen?« »Deine Elitetruppe...« Der Generalmajor machte eine beiläufige Geste. »Du weißt schon, der Haufen, den du in meinem Auftrag zusammengestellt hast. Der theoretisch genauso gut drauf sein sollte wie praktisch... Korpsgeist und Elitebewußtsein, jeder Soldat ein Wissenschaftler... gerade habe ich die Ergebnisse der theo retischen Prüfung bekommen.« »Und?« »Sie haben alle bestanden!« MacCormack glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Ein Zentnergewicht fiel ihm von der Seele. »Alle?« sagte er erstaunt. »Jeder einzelne. Damit ist dir jeder Widerspruch vergeben und vergessen, Kenneth. Ist dir klar, was Bulton und Trawisheim dazu sagen werden? Ganz aus dem Häuschen werden sie sein. Die In vestition in diese Truppe hat sich gelohnt. Und das haben wir nur dir zu verdanken!« Er breitete die Hände aus und ballte die Fäuste. »Die Mescalero-Rekruten bilden jetzt geschlossen den l. Zug der neuen Elitetruppe des Raumkorps. Wir haben es geschafft, mein Freund!« MacCormack konnte nur mühsam einen Jubelschrei unterdrük ken. »Das ist die Geburtsstunde der Schwarzen Garde!« rief er. 168
»Die wahre Geburtsstunde!« Farnham nickte grinsend. »Gib den Jungs Bescheid. Sie sind jetzt offizieller Bestandteil des Raumkorps und werden umgehend ihren Dienst aufnehmen.« »Nichts lieber als das!«
»Und noch etwas...«
MacCormack stutzte, als er den leicht süffisanten Tonfall seines
Freundes vernahm. »Finde dich morgen in der Verwaltungsbehörde ein. Du wirst deiner besonderen Verdienste wegen auf dem kurzen Dienstweg zum Oberstleutnant befördert.« Noch lange, nachdem das Abbild des Generalmajors schon erlo schen war, starrte MacCormack den Bildschirm ungläubig an.
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9.
Sie standen im rötlichen Schein der aufgehenden Sonne und konnten ihre Nervosität nicht verbergen. Finger rieben aneinander, Füße scharrten, und so mancher hätte sich gern durchs Haar gestri chen, um seiner inneren Unruhe Ausdruck zu verleihen, doch das ging nicht - jetzt war Habachtstellung angesagt. Feldwebel Kaunas schritt, die Hände auf dem Rücken ver schränkt, schmunzelnd die Reihen ab und blieb alle paar Meter stehen, um einen der Männer eindringlich anzusehen. »Ihr werdet euch sicher fragen, warum ich euch so kurz vor dem morgendlichen Training hier versammelt habe«, rief er. »Die Antwort ist einfach. Ich möchte euch von einer großen Last be freien.« Er nickte zur Bekräftigung. »Ich habe gerade einen Anruf von Major MacCormack bekom men... Oberstleutnant MacCormack«, verbesserte er sich. »Unser aller hochgeschätzter Vorgesetzter ist nämlich gestern die Karrie releiter hinaufgefallen.« Kaunas spürte beinahe körperlich, wie die Anspannung stieg. Er grinste breit. »Ich weiß, was jetzt in euch vorgeht, und ich möchte euch nicht länger auf die Folter spannen!« Er ließ seinen Blick über die Truppe schweifen - vierzig Mann, die sich fragten, ob die Beförderung des Majors mit ihnen zusam menhing, mit dem Ergebnis ihrer Ausbildung... ob sie das große Ziel ihres Lebens erreicht hatten oder sich für immer als Versager fühlen mußten. »Er bat mich, euch mitzuteilen, daß die Kommission der Raumfahrtakademie ihre Auswertung abgeschlossen hat!« Schweigen antwortete ihm. »Keiner... ich wiederhole: keiner von euch«, fuhr er fort, »ist bei der Theorie durchgefallen!« Ein Ruck ging durch die Truppe, Der Feldwebel sah die verdutzten Mienen, auf denen erst langsam die Einsicht dämmerte, daß jeder von ihnen Grund zur Freude hatte. »Steht bequem...«, setzte er laut hinzu. 170
Ungeheurer Jubel brandete auf. Die Männer lagen sich in den Armen, tanzten und schrien, und einige umarmten sogar Kaunas, der es grinsend geschehen ließ. Die Anspannung eines ganzen Jahres voller unbändigem Streß fiel auf einen Schlag von ihnen ab. Keiner war durchgefallen! Kaunas sah dem fröhlichen Treiben eine Weile zu, dann suchte er nach Kurt Bück, der gerade mit seinem Freund Wladimir eine Polka tanzte. Er ging auf ihn zu. »Bück«, sagte er und tippte ihm auf die Schulter, kurz bevor er mit Wladimir wieder in die andere Richtung davonsprang. »Für Sie habe ich noch eine Nachricht.« Der junge Deutsche hörte zu tanzen auf und riß außer sich vor Begeisterung die Arme hoch. »Was könnte das schon sein?« schrie er. »Wir haben es geschafft, Feldwebel, wir gehören zur Schwarzen Garde!« Kaunas nickte und legte dem Jungen die Hand auf den Arm. Er drehte sich halb um und deutete zu einem Zelt, das an sein eigenes grenzte. Es war Besprechungen und Versammlungen vorbehalten, allem, was nicht zur täglichen Routine gehörte. »Dort erwartet Sie jemand«, sagte er. Kurt blickte erst Wladimir, dann Kaunas an, doch als beide nichts sagten, schritt er auf das Zelt zu. »Kopf hoch, Junge!« rief Wladimir ihm nach. »Jetzt kann uns nichts mehr passieren!« Er bekam noch mit, wie Kaunas die frischgebackenen Elitesol daten bat, ihm einen Moment zuzuhören. Dann, als Ruhe einge kehrt war, erklärte er, daß die offizielle Bekanntgabe dieses phan tastischen Ergebnisses für zwei Uhr nachmittags vorgesehen war. Um diese Zeit sollten sich alle auf dem Exerzierplatz versammeln und bitteschön in den schicken neuen schwarzen Uniformen der Garde! Kurt schlug die Zeltlasche zurück und trat ein. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten. Er zwinkerte kurz, dann fiel sein Blick auf die beiden Personen, die dort vor einem Tisch standen. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn... Alles, nur das nicht! 171
Unwillkürlich suchte er am Zeltpfosten zur Linken Halt und senkte den Kopf. Dann faßte er die Frau genauer ins Auge - ihr wallendes braunes Haar, die kräftigen dunklen Brauen, die vollen Lippen, das schmale Gesicht... sein Blick tastete sich den ge schmeidigen Leib hinab... Er glaubte, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Laura! Laura Domrath! Aber der eigentliche Grund für seine Übelkeit, für den Taumel seiner Sinne, war der Offizier an ihrer Seite. »Ihn hast du also kennengelernt«, sagte Kurt heiser. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.« Ihre Worte am Vipho in der Mescalero-Kaserne, kurz vor Silvester, gellten ihm noch in den Ohren: Er wird für mich da sein, wie du es nie sein konntest... »Also bist du jetzt ihr Mann, Laszlo!« Er war in Kurts Internatszeit neben Wladimir sein bester Freund gewesen: der blonde Ungar aus der Mühle in Königstein - sein ru hender Pol im Schulstreß. Traurig schüttelte Kurt den Kopf. Laszlo hatte sich verändert. Sein Dreitagebart war abrasiert, und statt der schwarzen Lederkluft und des langen Mantels trug er jetzt eine Militäruniform. Er be kleidete den Rang eines Majors. »Findest du nicht, daß du zu alt für sie bist?« Laszlo Kovacs schluckte. »Sie hat mir das Leben zurückgegeben, Kurt. Ich spüre meine fünfzig Jahre nicht.« Der junge Deutsche nickte. Es war nicht zu übersehen, daß Laszlo sich erholt hatte. Keine Spur mehr von der Erschöpfung, die ihn nach dem Tod seiner Frau Christina befallen hatte. An scheinend hatte Gomez mit seinen Vorwürfen recht gehabt. Nicht die zwanzig Jahre als GSO-Agent hatten ihn ausgelaugt, sondern die Unfähigkeit, seinem Leben noch einen Sinn zu geben. »Was willst du hier?« fragte Kurt. »Mich demütigen? Mir vor Augen führen, was ich versäumt habe? Was ich mein Lebtag lang nur noch betrauern kann?« »Jose hat mir gesagt, daß ich dich hier finde«, erwiderte er. »Er hat mir auch den Job verschafft. Als Rekrutierungsoffizier in Alamo Gordo, >Versorgungsstelle für Heeresbelange<. Kaunas' 172
alter Posten. Keine große Sache, aber immerhin trage ich eine gewisse Verantwortung... für künftige Rekruten, verstehst du? Normale Rekruten, keine Spezialisten wie du. Ich gehöre noch nicht zum alten Eisen.« »Und er wird auch nie zum alten Eisen gehören«, warf Laura ein. »Nicht solange ich lebe.« Kurt hätte am liebsten ungläubig den Kopf geschüttelt, doch er war wie betäubt. »Warum erzählt ihr mir das?« »Wir möchten reinen Tisch machen«, sagte Laszlo und ergriff Lauras Hand. »Sie hätte mit dir niemals glücklich werden können, aber ihr hattet nicht genug Zeit, um das herauszufinden. Wir sind nur hier, um reinen Tisch zu machen.« »Das sagtest du schon...« »Und außerdem«, fuhr Laszlo mit erhobener Stimme fort, »wollen wir dir gratulieren. Dir und Wladimir. Niemand hätte ge glaubt, daß ihr es bis zum Elitesoldaten schafft!« »Danke...«, flüsterte Kurt. »Ich fürchte, du begreifst noch immer nicht das ganze Ausmaß eurer Entscheidung. Es ist kein Spiel, weißt du? Auch deshalb bin ich hier - um dir das zu sagen, Kurt. Ihr müßt jeden Tag euren Hals hinhalten, euer Leben für die Menschheit riskieren. Ich weiß, wie das ist. Ich war zwanzig Jahre lang GSO-Agent, und es hat mich zermürbt!« »Du wirst ständig in Lebensgefahr schweben«, warf Laura ein. »Ist dir das überhaupt klar?« Kurt antwortete nicht. Er sah die beiden nur lange an und zog sich einen Stuhl heran, setzte sich. Nach einer Weile sah er wieder zu ihnen hoch. »Ich weiß nicht genau, ob ich mich freuen soll, daß ihr hier auf getaucht seid«, sagte er. »Ich glaube euch gern, daß ihr nur unser Bestes wollt. Und wenn auch sonst nichts, hat euer Besuch doch wenigstens die Wirkung, daß ich nie mehr über dich und mich nachdenken muß, Laura. Das ist vorbei.« Er atmete schwer und sah seine alte Freundin an. »Du hast es selber gesagt: Ich muß jederzeit darauf gefaßt sein, mein Leben zu opfern. Für dich und alle anderen. Für die Mensch 173
heit. Ein normales Leben werde ich nie führen. Aber - gibt es ein höheres Ziel?« Das klang furchtbar pathetisch, selbst in seinen Ohren, doch was hätte er sonst sagen sollen? Laszlo und Laura spürten seine Ohn macht. Er blieb sitzen, als sie sich näherten. Laszlo legte ihm die Hand auf die Schulter und Laura umarmte ihn, drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt«, flüsterte sie und lä chelte ihn an - dieses hinreißende Lächeln. Eine ganze Welt erwartete ihn, ein ganzes Universum! »Leb wohl, Kurt«, sagte sie und ging an ihm vorbei zum Zelt hinaus. Laszlo knuffte ihn aufmunternd, ein leichter Schlag gegen die Schulter. Dann folgte er ihr. Immer wieder... Leb wohl! *
Fröhliches Gelächter erscholl in diesen Stunden im Lager, und der Sonnenschein trug ein übriges dazu bei, alle in bester Laune zu halten. Nur in Kurt wollte keine rechte Freude aufkommen, was Wladimir natürlich nicht entging. Doch er fragte nicht nach dem Grund, sondern bemühte sich, den Freund durch Phantasien über die Abenteuer, die ihnen jetzt bevorstanden, mit seiner Heiterkeit anzustecken. Lauter Jubel brandete auf, als die neuen Uniformen ausgeteilt wurden. Schwarz wie das All, in dessen unendlichen Weiten sie ihren Dienst an der Menschheit verrichten würden. Wladimir schüttelte immer wieder den Kopf, während er auf seine Kleidung blickte, die ausgebreitet vor ihm auf dem Bett lag. Er hatte Tränen in den Augen, als er seitlich zu Kurt schaute. »Wir haben es geschafft«, flüsterte er. »Wir haben es wirklich ge schafft.« Kurt lächelte und nickte. Er blickte seine eigene Uniform an und strich mit der flachen Hand über den schillernden schwarzen Stoff, erwiderte aber nichts. Dann ertönte der Ruf zum Appell, und alle versammelten sich 174
auf dem Exerzierplatz. Die aufgeräumte Stimmung wich ruhiger Gefaßtheit, als die vierzig Mann dem Feldwebel in ihrer neuen Dienstkleidung entgegensahen. Auch Kaunas hatte sich in Schale geworfen. Mit blitzenden Rangabzeichen schritt er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, zu den jungen Soldaten und blieb unmittelbar vor den vier Zehnerreihen stehen. »Männer!« begann er. »Ich bin stolz auf euch!« Er ließ den Blick schweifen, sichtlich erfreut über den Anblick der vierzig nachtschwarzen Gestalten. »Ich habe verdammt noch mal oft geglaubt, daß dieser oder jener von euch das Handtuch wirft, aber ich habe mich geirrt. Seit wir das Plateau in New Mexico verlassen haben, ist keiner von euch mehr ausgefallen - trotz der Unglücksfälle, die wir zu beklagen hatten.« Er räusperte sich. »Ihr habt durchgehalten und seid zu wahren Kerls geworden, die jeder Gefahr trotzen. Das harte Trai ning hat euch weiter zusammengeschweißt. Jetzt seid ihr Elitesol daten des Raumkorps, jeder einzelne von euch, und ihr bildet mehr als die Summe eurer Teile - eine Truppe, die noch von sich reden machen wird!« Ein breites Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Es stimmte, aus den dummen Jungs von einst waren echte Männer geworden. Er sah in ernste Gesichter mit erwachsenen Augen. »Ist euch eigentlich klar, was ihr geleistet habt?« fuhr er lauter fort und stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr habt da drüben in dem Zelt«, er nickte kurz zu dem großen grünen Aufbau, »in einem Dutzend Fächer theoretische Prüfungen abgelegt, die ihren Ansprüchen nach den entsprechenden Studiengängen an der Uni versität in nichts nachstehen! Ihr habt in einem Jahr das gelernt, was die Raumfahrtakademie in drei oder vier Jahren vermittelt! Und ganz nebenbei seid ihr noch zu ausgezeichneten Kämpfern geworden!« Kaunas ballte die Faust und stieß damit in die Luft. »Ihr seid die erste Generation einer neuen Elite des Raumkorps, zu der künftig jeder in der Truppe aufblicken wird. Ihr seid Schwarzgardisten vom Mescalero-Plateau!« Jetzt gab es kein Halten mehr. Begeisterungsschreie brandeten 175
auf, in die auch Kurt und Wladimir einstimmten. Antoku stieß ihnen laut lachend in die Rippen, während andere Kameraden ihnen auf die Schulter schlugen. Feldwebel Kaunas war nicht weniger enthusiastisch als seine Männer. Er nahm die Mütze ab und strich sich über die Glatze, setzte sie wieder auf. »Ihr habt doch zu kämpfen gelernt, nicht wahr?« Erneuter Jubel. »In Ordnung, dann laßt es mich sehen!« Er lockte mit der Hand. »Ich habe damals nicht umsonst Kampfkunst auf den Studienplan gesetzt. Zeigt mir, was ihr gelernt habt. Wer von euch möchte gegen mich antreten?« Beklommenes Schweigen kehrte ein. »Wie bitte?« Kaunas schob die Mütze in den Nacken. »Ihr wagt es nicht? Was habt ihr jetzt noch zu verlieren? Es wird doch wohl einer unter euch sein, der genug Mumm hat, um gegen seinen alten Feldwebel zu kämpfen!« Mehrere Blicke wandten sich Kurt zu. Ehe er sich versah, stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Offenbar erwarteten alle, daß er für sie gegen Kaunas antrat, wie er es schon einmal getan hatte ohne Erfolg. Wladimir legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn vor überha steten Entscheidungen zu bewahren. »Wie ich sehe, hält man große Stücke auf Sie, Gardist Bück!« tönte Kaunas, dem die Blicke nicht entgangen waren. »Wir haben schon Bekanntschaft miteinander gemacht, nicht wahr? Es wäre mir eine wahre Freude herauszufinden, ob Sie mir immer noch mit läppischen Fauststößen kommen wollen.« Kurt blickte sich unbehaglich um und sah besonders lange Wla dimir an, der hilflos mit den Achseln zuckte. Dann trat der junge Deutsche vor. Mit ausgebreiteten Händen erklärte er seine Bereit schaft zum Kampf. »Kommen Sie«, sagte Kaunas nur und drehte sich um. Sie gingen bis zu einer Stelle, an der die Spindelraumer bei ihrem Angriff vor sechs Jahren durch ihre vernichtenden Strahlen den Boden nicht mit einer Schmelzschicht überzogen hatten. Auch Gras und Getreide hatten hier nie eine Chance gehabt. Es war ein 176
fach nur eine Fläche natürlichen Sands, etwa zehn mal zehn Meter, ein idealer Kampfplatz. Kurt legte seine schwarze Uniformjacke ab, und Feldwebel Kaunas tat es ihm grinsend nach. Dann lockerten sie die Schlipse und verneigten sich voreinander. Sie begannen sich zu umkreisen, die Arme nicht ganz ausge streckt, die hintere Hand auf der Mittellinie des Körpers, Finger spitzen aufwärts gerichtet, Ellenbogen gesenkt. Genauso, wie sie es immer trainiert hatten. Kaunas war eins fünfundsiebzig groß und fünfundsiebzig Kilo schwer, bewegte sich jedoch so leichtfüßig und geschmeidig wie ein Raubtier. Kurt hatte noch gut in Erinnerung, wie schnell der Feldwebel ihn damals in der Kaserne ausgeschaltet hatte, obwohl er um einiges größer und schwerer war. Kurt schwor sich, daß ihm das nicht noch einmal passieren würde. Wie ein Sensor spürte er mit leicht geöffneten Händen die Stärke und Richtung der gegnerischen Kraft. Er fragte sich, wie Kaunas die Entfernung zwischen ihnen über winden wollte. Durch einen Tritt? Der führte am weitesten und war am wirkungsvollsten. Würde er auf den Kopf zielen, auf die Mitte des Körpers? Auf den Fuß? Kurt achtete auf seine Auslage und die des Gegners, wartete darauf, ob Kaunas die Hüfte vorschob. Doch als es soweit war, kam die Bewegung völlig überraschend. Kaunas täuschte einen rechten Schwinger an, und Kurt zuckte nach hinten, direkt in einen Halbkreisfußtritt hinein, der seine Flanke getroffen hätte, wenn er nicht mit einem Block und Aus fallschritt zur Seite reagiert hätte. Kurt antwortete seinerseits mit einem Halbkreisfußtritt, verfehlte Kaunas' Kopf nur knapp, schnellte zu einem Fußschlag, mit dem er den Nacken des heran stürmenden Gegners treffen wollte, um die eigene Achse und stellte verdutzt fest, daß Kaunas ihn schon mit einem Fußfeger vom Standbein gerissen hatte. Er landete hart im Sand. »Viel haben Sie aber nicht dazugelernt«, höhnte der Feldwebel, ohne daß sein Atem merklich schneller ging. Kurt rappelte sich auf. 177
Die beste Verteidigung war noch immer der Angriff. Er ergriff beim Aufstehen eine Handvoll Sand und warf sie Kaunas ins Gesicht. Dann sprang er hinterher, um die große Ent fernung zu verringern und zu verhindern, daß der Gegner weitere Fußtechniken einsetzte. Kaunas schrie erstaunt auf, reagierte halbblind mit einem Fin gerstich aufs Gesicht zu. Der junge Deutsche wich aus und führte den Feldwebel, den die Wucht des Stichs weitertrieb, an sich vorbei, wobei er ihm die Faust so derb in die Seite rammte, daß der laut aufkeuchte. Ein zusätzlicher Tritt an die Wade, und Kaunas sackte mit den Knien zu Boden. Sein Oberkörper blieb aufrecht. Die flachen Hände des Feldwebels schössen seitlich über den Kopf nach hinten auf ihn zu. Er wollte einen Preßschlag landen direkt auf Kurts Ohren! Kurt blockte mit den Handkanten ab, und Kaunas riß die Arme zurück. Er nutzte den Schwung für zwei Ellenbogenstöße nach hinten, von denen einer Kurts linken Oberschenkel traf. Kurt klappte aufstöhnend vor. Ihm blieb keine Zeit zum Ausweichen mehr, als Kaunas herumfuhr und mit einem rechten Schwinger nachzog - so heftig, daß Kurt fürchtete, der Aufprall werde ihm wieder den Kiefer brechen! Er ging sofort mit, leistete keinen Widerstand, sondern folgte der Bewegungsrichtung des Schlags mit dem ganzen Körper, damit sich keine weiteren Kräfte aufbauten. Wie soll ich ihn nur besiegen? durchzuckte es Kurt. Der Kerl ist ja die reinste Kampfmaschine! Er hatte eine unglaubliche Kraft in seinen Schwinger gelegt, er kannte Kurt, als er sich seitlich im Wüstensand abfing und gleich wieder aufrappelte. Aus diesem Winkel, schräg vom Boden herauf, hätte Kurt das nicht erwartet. Eine Beinschere, das schon, vielleicht auch einen Ellenbogen schlag oder Fauststöße, aber... Moment mal - Fauststöße? Kaunas hatte sich immer lustig darüber gemacht, aber sie waren Kurts Spezialität. Er war in erster Linie Boxer, und kein Kampf kunsttraining der Welt konnte daran etwas ändern. Obwohl... ein 178
Gutes hatte es gehabt... es hatte seine Effektivität erhöht, seine Art des Umgangs mit den Fäusten... Die Kraftlinie, die von der Schulter durch den gestreckten Arm bis zum kleinen Finger der geballten Faust führt... Horizontal... wegen der Wucht... Er machte einen Verfolgungsschritt auf den Feldwebel zu, der sich ebenfalls gerade aufrichtete, zielte mit den Knöcheln des Ringfingers - und schlug zu, völlig gerade, als wüchse die Faust aus seiner Brust heraus! Kaunas blockte, und Kurt ließ einen weiteren Stoß folgen, unge achtet des Gegners, der zu kontern und sich zu verteidigen ver suchte. Er spürte, wie er nicht mehr zu überlegen brauchte, son dern automatisch handelte, nur noch Stöße plazierte und reagierte, ohne den Ablauf vorher zu planen. Alles geschah wie von selbst! Seine Fauststöße prasselten auf Kaunas ein, trieben ihn zurück, horizontale Kettenstöße, fünf bis neun pro Sekunde. Kurt gab sich keine Blöße, während er den Feldwebel unaufhaltsam nach hinten trieb. Kein Treffer, den Kaunas noch landete, konnte seine Vertei digung durchbrechen. Es war wie eine Meditation. Sich ganz der Energie überlassend, die auf der Zentrallinie durch seine Arme nach vorn floß, folgte der restliche Körper - wie eine Maschine. Eine lebende Dampframme! Dann rauschte etwas und heulte auf... ein schwarzer Schatten strich über Kurts Kopf hinweg. Für den Bruchteil einer Sekunde war er abgelenkt. Kaunas' Schlag traf ihn mit der Kraft der Verzweiflung mitten auf die Kinnspitze. Kurt taumelte zurück, erstaunt und verwirrt, fiel zu Boden... Als die Benommenheit wich, sah er den Feldwebel über sich, der schwankend, die linke Hand auf dem Brustbein, nach Atem rang. Er streckte Kurt die Rechte entgegen und zog ihn mit einem angestrengten Ruck hoch. »Gratuliere, Bück«, schnaufte er. »So läppisch waren Ihre Fauststöße diesmal gar nicht. Wenn der Pilot des Jetts nicht ein verhinderter Kunstflieger wäre, hätten Sie mich glatt fertigge 179
macht!« Kurt blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und sah an Kaunas vorbei. Es war wirklich ein Jett gewesen, der dicht über ihre Köpfe hinweggefegt war. Sehr witzig! dachte er und rieb sich das Kinn. Das schlanke Fahrzeug hatte verdunkelte Fenster, erkannte er, in denen sich das Licht brach. Es ging nach einer Schleife auf dem geschmolzenen Schlackefeld keine zwanzig Meter entfernt nieder. »TC/B-017« stand in großen, eckigen Lettern auf dem schwarzen Rumpf. Terra Command, Jett Typ B, Gerät 17! Hohes Militär! Die Tür öffnete sich. Ein stämmiger Rotschopf kam zum Vor schein, blickte sich erhobenen Hauptes um. Kurt verschlug es fast den Atem, und als der Feldwebel seinem Blick folgte und sich umdrehte, schien er genauso überrascht zu sein Oberstleutnant MacCormack! Kaunas ließ sich von einem der Gardisten die Jacke reichen, streifte sie rasch über und klopfte sich notdürftig den Wüstensand von der Hose. Dann ging er auf den Mann zu, der die Leiter des Jetts hinabstieg und ihm entgegenkam. Auf halber Strecke schüttelten sie einander die Hände. MacCormack sagte etwas, Kaunas erstarrte. Dann schaute der Feldwebel sich um und deutete über eine Anhöhe nach Westen. MacCormack nickte. Kaunas wiegte den Kopf, redete auf den Mann ein, der ruhig antwortete, und machte strahlend kehrt. Dann kamen beide auf die Truppe zu. Der Oberstleutnant schmunzelte, als er sich vor die Männer stellte. Er schien jeden einzeln zu mustern, doch dann verweilte sein Blick auf einer Person, die etwas von ihm entfernt noch immer auf dem Kampfplatz stand... »Lassen Sie mich raten, Gardist«, sagte er. »Sie sind Kurt Bück, nicht wahr? Ich habe schon viel von Ihnen gehört, und was ich eben durchs Jettfenster sah, läßt mich vermuten, daß die Berichte nicht übertrieben waren.« Erstaunt fragte sich Kurt, wie das möglich war. Er mußte die Akten der Männer gut im Kopf haben, wenn er ihn unter vierzig 180
Personen identifizieren konnte. »Jawohl, Oberstleutnant«, schnarrte Kurt und nahm Haltung an. »Gardist Kurt Bück. Stehe zu Diensten!« MacCormack nickte. »Für Sie wird es schneller ernst werden, als Ihnen vielleicht lieb ist,junger Mann.« Er ließ den Blick wieder schweifen. »Für Sie alle!« Kurt spürte, wie die Anspannung der Männer stieg. Sie ließen es sich nicht anmerken, sondern blickten den Major, der ihr Ausbil dungsprogramms entwickelt hatte und so selten persönlich in Er scheinung getreten war, nur ruhig an. »Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen allen meine Anerken nung auszusprechen«, fuhr der Oberstleutnant fort. »Sie haben Hervorragendes geleistet. Aber auf dem Weg hierher hat mich eine Nachricht ereilt, die uns die kleine Festivität, die mir vorschwebte, leider unmöglich macht.« Er seufzte. »Nun ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben...« Kurt fragte sich, ob die Truppe sich darüber nicht besser freuen sollte. Der Oberstleutnant war für seine trinkfeste Natur bekannt, und es gab niemanden im Raumkorps, den er noch nicht unter den Tisch getrunken hatte. MacCormack räusperte sich. »Wie Sie sich denken können, spreche ich von Ihrem ersten Einsatz, meine Herren. Sozusagen Ihrer Feuertaufe!« Er warf Kaunas, der sich neben ihn gestellt hatte, einen ironischen Seitenblick zu. »Der Feldwebel hat es erst nicht glauben wollen, aber es ist soweit. Das Abschlußtraining und die theoretische Prüfung wurden absolviert - äußerst erfolgreich, wie ich noch einmal betonen möchte! - und Sie brauchen auch nicht mehr damit zu rechnen, an Bord eines fliegenden Sarges wie der DÄDALUS als Kanonenfutter herhalten zu müssen. Es geht bei dem Einsatz nicht gegen die Schatten. Diese unbekannten Angreifer stellen keine Gefahr mehr dar - zumindest vorerst nicht. Nein, meine Herren.« Er straffte sich. »Wir haben ein anderes Problem, das Ihr sofortiges Eingreifen erforderlich macht.« Er ließ einen Moment verstreichen, bevor er mit fester Stimme fortfuhr: »In Algier revoltieren aufgehetzte mohammedanische Nationalisten. Sie bedrohen die Zentrale der regionalen Energie versorgung. Wir vermuten, daß es sich bei den Aufwieglern um 181
nicht umgeschaltete Robonen handelt. Für Ihren Einsatz spielt das keine Rolle. Sie müssen nur verhindern, daß die Zentrale einge nommen wird. Wenn sie ausfällt oder gar zerstört wird, gibt es in der ganzen Gegend keine Energie mehr. Sie können sich vorstellen, was das für diese dichtbevölkerte Küstenregion bedeutet. Millionen Menschen in Panik. Demagogen stehen Tür und Tor offen. Eine Katastrophe wäre unvermeidlich, ein politischer Umsturz wahrscheinlich...« Er nickte bedächtig vor sich hin, als dämmere ihm erst jetzt das ganze Ausmaß des Problems. Vielleicht fragt er sich ja auch, durchfuhr es Kurt, ob die neue Truppe genug Erfahrung mitbringt, um Erfolg zu haben? Anscheinend steht viel auf dem Spiel! Der Oberstleutnant schob energisch das Kinn vor. »Kurz und gut.« Seine Augen blitzten entschlossen auf. »Die Schwarze Garde ist die einzige nennenswerte Einheit in dieser Ge gend, die rasch und mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann, und deshalb hat Terra Command uns um Amtshilfe gebeten. Ich habe ihnen die Zusage gegeben. Meine Herren, rüsten Sie sich. Es geht nach Algier. Aufbruch ist in einer halben Stunde!« *
Das ist nicht richtig! dachte Kurt, als sie wie ein Schwärm Zug vögel in Deltaformation am Himmel dahinflogen. Dazu haben wir uns nicht für die Elitetruppe gemeldet! Die Schwarze Garde soll in fernen Weltraumtiefen kämpfen und nicht gegen die eigenen Mit bürger eingesetzt werden! Er warf einen Blick zu Wladimir, der schräg vor ihm flog. Sein Freund teilte diese Ansicht. Und Kurt war überzeugt, daß es den übrigen Kameraden nicht anders ging. Vielleicht handelt es sich ja wirklich um einen weiteren Test? dachte er. Wladimir hatte das vermutet, als sie vorhin im Lager die MF-Anzüge und Flugtornister anlegten, und Kurt mußte zugeben, daß es nicht auszuschließen war. Aber weshalb sollte das nach der gründlichen Ausbildung nötig sein? Nein, alles wies auf einen Ernstfall hin. 182
Seine Rechte tastete nach dem schweren, umschaltbaren Zwei handstrahler am Oberschenkel. Die Anzeige an seiner Helminnenseite meldete blinkend, daß sie jetzt zwei Drittel der Strecke zurückgelegt hatten. Am Horizont gleißte schon der schmale Streifen des Mittelmeers. Noch fünf hundert Kilometer, dann würde er den Strahler zum erstenmal gegen Menschen einsetzen müssen. Plötzlich blitzte etwas vor ihm auf... im Nordwesten... ein Lichtstrahl brach sich in Metall! Als er das Visier dunkler tönte, erkannte er erst einen, dann zwei... nein, vier kleinere Flugobjekte, die anscheinend das gleiche Ziel wie sie hatten. Er erkannte auch ihre äußere Form... Transportgleiter? Im Helmfunk knisterte es, und Kaunas' Stimme erklang. Der Feldwebel befand sich an Bord von MacCormacks Jett, der an der Spitze der Formation flog. »Aufgepaßt, Männer! Die Gleiter, die ihr am Horizont seht, dienen zu eurer Unterstützung! Es sind Transporter, die vier weitere Züge Soldaten nach Algier bringen - natürlich keine Elitetruppe wie euch!« fügte er rasselnd hinzu. »Aber die Kämpfe nehmen an Heftigkeit zu, und da sollten wir noch ein paar Jungs in der Hin terhand haben. Sie kommen aus Casablanca, also schaut ihnen nicht zu tief in die Augen!« Wieder lachte er rasselnd, er schien in seinem Element zu sein - so kurz vor dem Kampf. »Sonst werdet ihr mir noch liebestoll!« In die Augen sehen... Casablanca... Offenbar hatte Kaunas in seiner Jugend zuviel Zelluloidfilme gesehen. Doch keiner der Gardisten sagte etwas, und auch Kurt verkniff sich einen Kommentar. Dann sind wir jetzt insgesamt zweihundert Mann, dachte er nur. Nein, das ist bestimmt kein Test! Sie zogen weiter dahin - ein Pulk schwarzer Ungetüme, die den Eindruck erweckten, am Himmel toter Mann zu spielen, während sie sich Algier näherten. Kein Lufthauch verriet den Gardisten, wie schnell sie voranka men, lediglich die Digitalanzeige auf der Helminnenseite zeigte ihr 183
hohes Tempo an. Eine abstrakte Größe, die sie ohne Außenreize wie beißenden Wind oder Luftlöcher nicht in sinnliche Erfahrung umsetzen konnten. Ihre Einsatzanzüge waren die reinsten Isotanks! Als sie fast gleichzeitig mit den Transportgleitern über den Vor orten von Algier eintrafen, hielten sie nicht inne, sondern flogen quer über die gewaltige Handelsmetropole hinweg, die sich über vierzig Kilometer weit bis zur Küste des Meeres erstreckte, das Algerien von Spanien trennt. Finger deuteten zu ihnen hoch, und Rufe tönten durch die Straßen und Gassen. Die Gardisten sahen und hörten es nicht. Wenn sie den Blick nach unten richteten, zwängten sich dort wimmelnde Menschen mengen durch die Stadt, die auf beiden Seiten des Zentrums in mächtigen Strömen der gleichen Richtung folgten wie sie. Kurt fröstelte beim Anblick der Massen. Sie machten auf ihn den Eindruck eines Blutkreislaufs, der kollabiert war und dessen Inhalt sich an einer einzigen Stelle sammelte - der Zentrale der regionalen Energieversorgung. Dann kam ihr Ziel in Sicht. Sie gingen auf dem riesigen Flachdach eines Gebäudes unweit der Zentrale nieder, von dem aus man einen hervorragenden Rundblick hatte - vier Transportgleiter und vierzig Mann in Kampfanzügen und mit Flugtornistern. Oberstleutnant MacCormack ließ seinen Jett noch eine Runde über dem heiß umkämpften Gebiet drehen. Kurt trat zur Brüstung und schaute hinunter. Was er dort auf den Straßen und Plätzen sah, behagte ihm gar nicht. Polizei und Sicherheitskräfte konnten das Vordringen der bis an die Zähne bewaffneten mohammedanischen Aufrührer nicht mehr aufhalten, nur verzögern. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis sie das Gebäude genommen hatten, von dem aus die Energiever sorgung des Landes gesteuert wurde. Sie kamen wirklich im letzten Augenblick. Wenn sie es überhaupt noch schafften! Sein Blick suchte Wlad und Antoku. Sie standen, die Helme zu rückgefaltet, heftig gestikulierend auf der Mitte des Dachs, nicht 184
erreichbar für Schüsse aus den niedrigeren Häusern ringsum und von den benachbarten Straßen. Kurt merkte ihnen an, daß sie in fieberhafter Erregung waren und ihren Einsatz kaum noch abwarten konnten... MacCormack hatte sich jetzt wohl - zweifellos auch dank In formationen, die er schon während des Flugs nach Algier eingeholt hatte - einen hinreichenden Eindruck von der Lage verschafft. Über offene Phase, so daß die ganze Truppe mithören konnte, erteilte er seine Befehle. Sofort schwärmten die vier Transportgleiter in alle vier Him melsrichtungen aus. Ihr Auftrag lautete, die Soldaten aus Casa blanca auf den Straßen und Gassen, die zur Zentrale führten, abzu setzen. Dort sollten sie Barrikaden errichten und die aus der Stadt herandrängenden Massen aufhalten - notfalls mit Waffengewalt. Erneut sah Kurt nach unten. Polizei und Sicherheitskräfte hatten beträchtliche Mühe, den mohammedanischen Fanatikern standzu halten. Die schweren Kämpfe wogten hin und her. Impulsstrahlen zuckten auf, Projektilwaffen knatterten in rascher Folge - er schloß erschüttert die Augen. Der Oberstleutnant hatte die einzig richtige Entscheidung getroffen. Die gefährlichste Waffe der Fanatiker und zugleich ihr größtes Potential waren die aufgewiegelten Massen, denen es gleichgültig war, wie viele von ihnen bei den Kämpfen umkamen. Wenn durch die Barrikaden der Nachschub an Selbstmordkandidaten ausblieb, brauchten die Gardisten sich nur noch um die Fanatiker vor Ort zu kümmern. Angesichts der harten Gefechte, die sich hier abspielten, war das schon schwierig genug. »Achtung, Männer!« meldete sich MacCormack wieder. »Schmeißt eure Tornister an und sammelt euch über dem Haupt gebäude. Auf meinen Befehl hin fächert ihr kreisförmig in alle Richtungen aus - bei gleichem Tempo, klar?« Natürlich! Wenn sie die Aufrührer durch gezieltes Feuer außer Gefecht setzen konnten, wäre das ganze Gelände rasch gesäu bert...! Kurt war verdutzt über die ebenso einfache wie wirkungsvolle Strategie, die MacCormack verfolgte. 185
Er startete seinen Flugtornister und traf als einer der ersten über der Zentrale ein. Wie ein Bund Trauben klebten die Gardisten an einander, als der Oberstleutnant sich wieder über offene Phase meldete: »In Ordnung, Männer, jetzt könnt ihr zeigen, was ihr draufhabt. Ich will, daß ihr diese Fanatiker niedermäht - aber setzt nur Paralysestrahlen ein, verstanden? Los geht's!« Paralysestrahlen! Kurt war heilfroh über diese Entscheidung. Auch wenn sie es mit Mördern zu tun hatten, war das noch lange kein Grund, selbst dazu zu werden. Er würde niemanden töten! Wenn er jemanden zu Fall brachte, konnte der schon nach wenigen Stunden wieder mar schieren - geradewegs in den Knast. Sie strebten kreisförmig auseinander. Sofort fielen Schüsse! Schon über dem Dachrand wurde jeder einzelne von ihnen zum Brennpunkt des Feuers aus Dutzenden von Waffen. Sie kamen sich wie Spinnen vor, die dick und saftig mitten in einem Geflecht wabernder Strahlbahnen hingen. Ein kleiner Gegenstand zuckte an Kurts Helm vorbei. Projektilfeuer! Die Einsatzanzüge schützten sie während des Dauerbeschusses. Lichtreflexe zuckten über die Helmscheiben, und überall tanzten Funken, legten sich als knisterndes Kraftfeld um den ganzen Körper, während der Energieumsatz des Schutzschirms sich drastisch erhöhte. Doch sie würden den Sieg davontragen. Daran zweifelte er nicht. MacCormacks Plan des konzentrischen Vorgehens ging auf, die mohammedanischen Aufwiegler wurden immer weiter vom Hauptgebäude zurückgedrängt. Sie hatten keine wirkliche Chance gegen die professionell vorgehenden Gardisten, die ihnen nicht nur durch ihre Ausrüstung, sondern vor allem durch ihre kühle, fast mathematische Art der Kampfführung hochüberlegen waren. Wladimir, der etwa zehn Meter neben ihm flog, bedeutete ihm sogar mit erhobenem Daumen, daß alles prima lief, während er den Zweihandstrahler lässig unter den rechten Arm geklemmt auf die Fanatiker gerichtet hielt. Da geschah es! 186
Aus heiterem Himmel raste ein Kampfjett heran. An seinem Bug glomm unheilverkündend das Abstrahlfeld des schweren Strahlge schützes, mit dem die Maschine bewaffnet war. Kurt sah deutlich den Mann mit Turban und Kaftan in der Pilotenkanzel. Der Jett flog genau auf Wladimir zu - und spie Feuer! Er riß alle Viere von sich und ließ seinen Strahler fallen. Wie ein Engel hing der Ukrainer am lodernden Himmel, von Flammen umschmiegt und um wabert. Ein gleißendes Fanal! Dann sah Kurt, daß sein Körperpanzer dem Dauerbeschuß nicht mehr standhielt. Der Thermostrahl schmolz die äußere Schicht weg, sie warf Blasen, begann zu tropfen Und Wladimir loderte noch immer am Himmel! Kurt hätte Stein und Bein geschworen, daß er Rauch emporkräuseln sah, und bei zurückgefaltetem Helm hätte er wohl auch den Gestank von schmorendem Menschenfleisch wahrgenommen. Er richtete seinen Strahler auf den Jett und eröffnete das Feuer. Sein Schuß ging daneben! Noch einmal drückte er den Paralysator ab - und traf den Piloten! Er verlor die Gewalt über den Jett. Der Antrieb heulte auf und trieb das Fahrzeug steil nach oben. Dann überschlug er sich und schmierte endgültig ab. Noch einmal heulte sein Antrieb auf, beschleunigte mit voller Kraft und rammte das Fahrzeug mit der Spitze voran in den Vor platz des Hauptgebäudes. Mitten unter die größte Gruppe der Fanatiker, die von dort noch immer auf die Gardisten am Himmel feuerte. Eine mächtige Explosion erfolgte! Körper flogen wie Puppen durch die Luft, und Kurt glaubte, Schreie zu hören. Aber das war unmöglich, denn der Donner der Explosion übertönte alles. Kurt schaltete den Flugtornister auf volle Leistung und preschte auf Wladimir zu, der in sicherer Höhe mit ausgestreckten Armen und Beinen am Himmel hing. Reglos - unter Schock. Schon von weitem sah er die entsetzt aufgerissenen Augen hinter der Helmscheibe. Ein Teil der Thermoenergie hatte sich einen 187
Weg ins Innere des Anzugs gebahnt. Sofort befestigte Kurt einen Karabinerhaken, schulterte den Freund und flog so schnell wie möglich zu dem flachen Dach, von dem ihr Einsatz ausgegangen war. Kameraden hatten dort schon eine Trage bereitgestellt. Kurt bettete seinen Freund darauf, doch niemand wagte es, den ver schmorten Anzug von seinem Körper zu schälen. Das blieb den Männern vom Lazarettschiff überlassen, das wenig später eintraf. Der Aufstand war niedergeschlagen! Sie hatten ihre Bewährungsprobe bestanden... Und angeblich sogar gesiegt.
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Epilog Er erlebte alles wie durch einen Nebelschleier hindurch... die Schulterschläge seiner Kameraden und die herzlichen Worte von Feldwebel Kaunas... die Belobigung durch Oberstleutnant MacCormack, der ihm erklärte, seine Heldentat sei bis in die höchsten Kreise hinein begeistert aufgenommen worden - bis zu General major Farnham und Marschall Bulton, die von jeher ein beson deres Interesse an der neuen Elitetruppe gehabt hätten - und an seiner Person. Alle waren so stolz auf ihn... Worauf? Auf welche Heldentat? Kurt fühlte sich einfach nur leer und ausgelaugt. Dort lag sein bester Freund - besser gesagt das, was von ihm noch übrig war... und er war es, der Wladimir zur Truppe gebracht hatte. Doch was war aus ihm geworden? Der Strahl aus dem Thermogeschütz hatte ihn voll getroffen. Punktgenau und über lange Zeit hinweg. Wie ein Brathuhn war er gegrillt worden. Der Anzug und sein Schutzschirm hatten den größten Teil der Energie zwar abgefangen, doch die Hitze war vorübergehend so stark angestiegen, daß seine gesamte Körper oberfläche verbrannte! Jetzt war er nur noch ein rosiger Klumpen Fleisch in einer grünlich schimmernden Nährlösung, umgeben von einem Kokon aus Schläuchen, die ihn notdürftig am Leben erhielten. Kurt atmete tief durch und schaute in den Tank hinab, in dem der Klumpen Fleisch, der sein Freund war, ruhte. Er hätte es nie für möglich gehalten, aber Laszlo Kovacs hatte Recht behalten. »Es ist kein Spiel«, hatte er ihm erst gestern gesagt. »Ihr müßt jeden Tag euren Hals hinhalten, euer Leben für die Menschheit riskieren.« Und Laura, seine geliebte Laura, die Frau mit dem hinreißenden Lächeln, auf die er jeden Anspruch verloren hatte - sie hatte hin zugefügt: »Du wirst ständig in Lebensgefahr schweben. Ist dir das 189
überhaupt klar?« Es war ihm nicht klar gewesen. Ohne es zu wissen, hatte er sich mit Haut und Haaren einem Krieg verschrieben, den er seit Jahren austrug, mit sich und der Welt - vielleicht schon seit dem Tod seiner Eltern durch die Hand der Giants! Er würde leben, aber nie ein normales Leben führen können. Nicht mehr nach diesen Erfahrungen! Und Wladimir erging es nicht anders. Er lag jetzt im Heilkoma, und bis er daraus erwachte, würden Monate vergehen. Dann würde sein Körper von einer komplett neuen Haut überzogen sein, die man zur Zeit aus seinen Stamm zellen züchtete. »Habe ich richtig gehandelt?« fragte sich Kurt laut. Er wußte es nicht. Er wußte keine Antwort darauf, und doch la stete diese Frage schwerer auf ihm als alles andere. Sie würde sich ihm immer wieder neu stellen. Tag für Tag! Jahr um Jahr! Ein Leben lang! Er war für den Tod von mehr als fünfzig Menschen verantwortlich, Fanatikern zwar, aber dennoch Menschen. Und dafür hatte er einen Freund und Kameraden gerettet - einen einzigen, so lieb und teuer er ihm auch war. Durfte man das um den Preis so vieler anderer Leben? ENDE
Ren Dhark-Programm
Kurt Brand schuf von 1966 bis 1969 die Heftserie Ren Dhark. Für die HJB-Buchausgabe wurde der SF-Klassiker bearbeitet und im Drakhon-Zyklus und in Sonderbänden fortgeschrieben, denn in den Tiefen des Alls ist das Rätsel der Mysterious noch immer zu lösen... Bereits erschienen und noch lieferbar: L Zyklus (die alte Heftserie), Buchausgabe (352 Seiten), DM 29,80 - Handlungsabschnitt ..G'Loorn" (Bücher 6-8) Bd. 7 „Im Zentrum der Galaxis" Bd. 8 „Die Meister des Chaos" - Handlungsabschnitt „Suche nach den Mysterious" (Bücher 9-16)
Bd. 9 „Das Nor-ex greift an" Bd. 13 „Durchbruch n. Erron-3"
Bd. 10 „Gehetzte Cyborgs" Bd. 14 „Sterbende Sterne"
Bd. 11 „Wunder d. bl. Planeten" Bd. 15 „Das Echo des Alls"
Bd. 12 „Die Sternenbrücke" Bd. 16 „Straße zu den Sternen"
Sonderausgaben des 1. Zyklus (inhaltsgleich mit l .Zyklus, lediglich anderes Cover) Buchausgabe (352 Seiten), DM 19,80 Bd. 4 „Todeszone T-XXX"
Bd. 5 „Die Hüter des Alls"
Bd. 6 „Botschaft aus dem Gestern"
Sonderbände Buchausgabe (192 Seiten), DM 19,80 (1) „Die Legende der Nogk" (8) „Der schwarze Götze" (2) „Gestrandet auf Bittan" (9) „Erron 2 - Welt im Nichts" (3) „Wächter der Mysterious" (10) „Ex" (4) „Hexenkessel Erde" (11) „Türme des Todes" (5) „Der Todesbefehl" (12) „Die Schwarze Garde" (6) „Countdown z. Apokalypse" (7) „Der Verräter"
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Drakhon-Zyklus (die Fortsetzung des 1. Zyklus) Buchausgabe (352 Seiten), DM 29,80 Bd.
l „Das Geheimnis der Mysterious"
Bd. 2 „Die galaktische Katastrophe"
Bd. 3 „Der letzte seines Volkes"
Bd. 4 „Die Herren von Drakhon"
Bd. 5 „Kampf um IKO l"
Bd. 6 „Sonne ohne Namen"
Ren Dhark Spezial Bd. l „Sternen-Saga/Dursttod über Terra" In Vorbereitung: Drakhon-Zyklus Band 7 „Schatten über Babylon" (August) Drakhon-Zyklus Band 8 „Herkunft unbekannt" (Ende September) Sonderband (13) „Dreizehn" (Ende September) Weitere Bände aus der Sonderband-Reihe und dem Drakhon-Zyklus erscheinen im Abstand von drei Monaten.
SPECIALS FÜR DEN REN DHARK-FAN • POINT OF- Anstecknadel HJB, unitallblau, DM 9,80 • GSO-Ausweis von , Jos Aachten van Haag" HJB, Scheckkartenformat und -qualität, DM 9,80 • Ren Dhark Magazin Nr. l(HJB), 48
Seiten, A4, DM 9,80, Nr. 2 (HMV), 60
Seiten, A4, DM 12,80 Ren Dhark „Projekt
99" Nrn. 99-119, Heft, A5, DM 9,80
• Ren Dhark „XTra" Nr. l,
Heft, A5, DM 9,80
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