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Brian Ford
Die schwarze Kapelle
DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag Copyrigh...
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Brian Ford
Die schwarze Kapelle
DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag Copyright © 1978 by Brian Ford Printed in Germany September 1978
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Die elementaren Naturgewalten schienen die Erde vernichten zu wollen. Ein Blitz – greller als tau‐ send Sonnen – zuckte über den bleigrauen Him‐ mel, und gleich darauf explodierte der Donner mit schrecklichem Getöse. Eine wahre Sintflut stürzte aus den Wolken herab und verwandelte die schmale, unbefestigte Straße, die sich nahe den Everglades von Florida durch die üppige Wildnis schlängelte, in einen weichen, morastigen Schlammpfad. Die weiße De‐Soto‐Limousine sank quietschend und ächzend in tiefe Pfützen, aus denen sogleich braune Wasserfontänen hochstiegen und klat‐ schend auf der Windschutzscheibe landeten. »So stelle ich mir den Weltuntergang vor«, nörgel‐ te Mort Redford, ein großer, asketischer, magerer Mann mit gelehrtenhaften Gesichtszügen, hoher Stirn und eng beisammenstehenden Augen. Sein Mund wirkte weich und kaum männlich. Er trug einen sandfarbenen Safari‐Anzug, und man sah ihm seinen Reichtum eigentlich nicht an. Redford wirkte wie jedermanns Schwager, und doch verbarg sich hinter dieser Fassade des durch‐ schnittlichen Biedermanns ein Erfolgsmensch, der
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den Lauf des amerikanischen Filmgeschehens tat‐ kräftig mitbestimmte. Die Scheibenwischer tickten im Schnellgang, doch sie vermochten den Regen und das Schlammwas‐ ser nicht schnell genug zur Seite zu fegen. Ein end‐ los fließender Film rieselte über die Frontscheibe, so daß der Fahrer den Weg nur erahnen konnte. Beim nächsten grellen Blitz zuckte Irma Redford, die zweite Frau des einflußreichen Filmproduzen‐ ten, heftig zusammen. Der De Soto machte gleich‐ zeitig einen Hüpfer von einer Lache in die nächste, so daß die junge Frau nach vorn geworfen wurde und sich beinahe den Kopf am Dachrahmen stieß. »Warum hältst du dich nicht fest, Irma!« rief Mort Redford ärgerlich. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich festhalten!« Irma lehnte sich mit teigigem Gesicht zurück. »Willst du dir eine Beule schlagen?« meckerte Red‐ ford weiter. Irma sagte nichts. Sie fürchtete sich wenn es blitzte und donnerte. Ob das nun zu Hause in New York war oder in einem Hotel von Beverley Hills oder hier im Wagen – die Angst saß seit ihrer Kindheit so tief in den Knochen, daß sie jedesmal schreck‐
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lich zitterte und beinahe den Verstand verlor, wenn sie in ein Gewitter geriet. Jedesmal, wenn dieses ohrenbetäubende Bersten und Krachen über sie hereinbrach, nahm sie sich vor, den Psychiater aufzusuchen, damit er ihr die‐ se Angst endlich nahm, doch wenn es dann vorbei war und ihr Herz wieder ruhiger schlug, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Irma hielt nichts von diesen Seelenklempnern, die aus fast allen Dingen ein sexuelles Problem mach‐ ten und in der frühesten Jugend ihrer Patienten herumschnüffelten, um dort das unterste zuoberst zu kehren und schließlich zu dem Schluß zu kommen, daß entweder der Vater oder die Mutter oder beide zusammen an dieser oder jener Neuro‐ se schuld seien. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie um gan‐ ze sechs Jähre älter als ihre Stieftochter January. Vielleicht war dieser geringe Altersunterschied der Grund dafür, daß sich Irma und January wie Freundinnen nahe standen. Irma war schlank, hatte salzwasserblaue Augen, nußbraunes Haar und vernunftbetonte, reife Züge. Sie kam aus einer reichen Familie, und ihre Eltern waren gegen die Verbindung mit Mort Redford, 5
einem geschiedenen Mann, gewesen, doch Irma hatte ihren Willen durchgesetzt, und sie hatte die‐ sen beinahe überstürzten Schritt in die Ehe bis heute noch nicht bereut. Zwar munkelten die Leu‐ te hin und wieder, Mort habe eine Geliebte, doch Irma gab nichts auf dieses ekelhafte Gerede, das ihr Glück untergraben sollte. Beim nächsten Schlagloch, in das die De‐Soto‐ Limousine hineinrutschte, ratschte der Bauch des Fahrzeugs über den Boden. Es gab einen kurzen, kräftigen Ruck, und es sah beinahe so aus, als würde der Wagen steckenbleiben. Mort Redford drückte das Gaspedal wütend nach unten. Der De Soto wühlte sich mit schrill pfeifenden Pneus durch den Schlamm und bekam wieder fes‐ teren Boden unter die Räder. Redford atmete hör‐ bar auf. »Das hätte uns gerade noch zu unserem Glück gefehlt«, murmelte er, »daß wir hier inmit‐ ten dieser Wildnis festsitzen.« »Mal den Teufel lieber nicht an die Wand, Pa«, sagte January, die im Fond des Wagens saß und sich mit ausgebreiteten Armen links und rechts ab‐ stützte.
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Sie war eine verheißungsvolle Schönheit, hatte zar‐ te Züge, Augen von strahlendem Veilchenblau, und ihr Haar war seidig und aschblond. Ihre Haut war blühend und golden, als wäre sie in Honig ge‐ taucht worden. Die Jungs, die sie kannte, behaup‐ teten, ihre Figur wäre toll. Sie hatte üppige, feste junge Brüste, eine schmale Taille, runde Hüften und lange, gutgeformte Beine mit zarten Knöcheln. Ihre Stimme klang warm und lieblich. Es war eine starke, schwelende Sinnlichkeit um January, aber das machte nicht eigentlich ihren Zauber aus. Ihr Zauber bestand darin, daß unter der Sinnlichkeit eine unberührte Insel der Unschuld zu liegen schien, und diese Kombination war unwidersteh‐ lich. Abermals polterte der De Soto in ein tief ausgewa‐ schenes Schlagloch. Mort Redford wurde das Lenkrad aus der Hand geprellt. »Verdammt!« schrie er zornig. Er packte gleich wieder fest zu, riß das Volant ungestüm nach links und gab mehr Gas, als gut war. Ein heftiges Zittern ging durch das Fahrzeug. Schlammfontänen spritzten hinten weg, doch das
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Fahrzeug bewegte sich keinen Millimeter mehr vom Fleck. January fand das amüsant. Sie kicherte. »Da hast du nun den Teufel, den du an die Wand gemalt hast, Pa.« »Komm, halt jetzt bloß den Mund, und verschone mich mit deinen Jungmädchenscherzen, ja?« sagte Redford wütend. »Schrei sie nicht an, Mort«, versetzte Irma vor‐ wurfsvoll. »January kann schließlich nichts dafür, daß wir hier festsitzen.« »Erstens habe ich sie nicht angeschrien. Zweitens habe ich ihr nicht vorgehalten, daran schuld zu sein, daß wir steckengeblieben sind. Und drittens möchte ich einmal etwas zu meiner Tochter sagen können, ohne daß du dich gleich schützend vor sie stellst.« »Fang bloß nicht an, dich mit Irma zu streiten!« rief January dazwischen. »Also das geht dich Rotznase nun wirklich nichts an!« gab Redford gereizt zurück. »Irma ist immer‐ hin meine Frau. Mit der kann ich so lange streiten, wie es mir paßt!« »Ebensogut könnte ich sagen, Irma ist meine Mutter, und ich mag nicht, daß du sie anschreist«, sagte January bockig. 8
»Sie ist deine Stiefmutter.« »Na, wenn schon. Ich mag trotzdem nicht...« Redford schlug mit der Faust auf das Lenkrad, daß es vibrierte. »Verflucht noch mal, wie finde ich denn das? Das ist ja eine regelrechte Verschwö‐ rung gegen meine Person!« Irma versuchte zu schlichten. Sie legte ihren Arm auf Redfords Hand und sagte sanft: »Mort, sollten wir nicht lieber versuchen, den Wagen wieder flottzukriegen?« »Kannst du mir verraten, wie ich dieses Kunststück zuwege bringen soll?« »Wenn wir aussteigen ...« »Wenn du aussteigst, bist du in einer Minute naß bis auf die Haut, und wenn du Pech hast, versinkst du in diesem Morast bis zu den Augenbrauen.« Irma holte ihre Zigaretten aus dem Handschuh‐ fach. Sie brannte sich mit dem elektrischen Zigaret‐ tenanzünder ein Stäbchen an, lehnte sich zurück und nahm einen tiefen Zug, der sie beruhigen soll‐ te, denn das Blitzen, Krachen und Bersten peitsch‐ te ihre Nervosität der Katastrophenmarke entge‐ gen. Es fiel ihr schwer, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß ihre Angst vor dem Unwetter war. 9
»Hast du einen besseren Vorschlag?« fragte sie mit belegter Stimme. Redford hob die Schultern. »Nein.« »Was gedenkst du also zu tun?« »Nichts.« »Du willst einfach im Wagen sitzenbleiben und nichts tun?« fragte Irma schrill. »Dieses gottverdammte Gewitter wird nicht ewig dauern. Sobald es zu schütten aufgehört hat, wer‐ de ichaussteigen und versuchen, den Wagen aus dem Schlammloch herauszubekommen.« »Angenommen, du schaffst es nicht«, sagte Irma. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zu war‐ ten, bis jemand kommt, der uns hilft.« Schweigen brach im Wagen aus. Mit jedem neuen Donner sank Irma im Beifahrer‐ sitz mehr nach unten. Am liebsten hätte sie sich im Fußraum verkrochen. Der nächste grelle Blitz raste mit einer Geschwindigkeit, der kein Auge folgen konnte, vom Himmel und spaltete krachend einen mächtigen Baum ganz in der Nähe. Irma biß sich so fest auf die Unterlippe, daß sie den süßlichen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte. Sie mußte das tun. Nur so konnte sie ver‐ hindern, daß sie hysterisch loszuschreien begann. 10
»Wir hätten in Tampa einen Landrover mieten sol‐ len«, sagte Mort Redford verdrossen. »Dann wäre uns das nicht passiert. Aber wer konnte denn ah‐ nen, daß hier die Welt untergehen würde, wo doch in Tampa noch die Sonne vom strahlendblauen Himmel geknallt hatte. Und daß die Straße so schlecht sein würde, konnte ich auch nicht rie‐ chen.« »Mr. Goll hat es dir aber gesagt, Pa«, meinte Janua‐ ry. »Mr. Goll sagte, die Straße befände sich nicht im allerbesten Zustand«, erwiderte der Produzent. »Wenn ein Makler das mal zugibt, dann sollte ei‐ nen das stutzig machen«, sagte January. Mort Redford war mit seiner Familie auf dem Weg zu einem einsamen Haus, das er, wenn die Besich‐ tigung zufriedenstellend ausfiel, kaufen wollte. Oliver Goll, der Makler, war bei der Beschreibung des Gebäudes geradezu ins Schwärmen geraten. Er hatte sich in Superlativen überboten. »Ein Traumhaus, Mr. Redford!« hatte er gesagt. »Wie geschaffen für Ihre Wünsche. Dort können Sie paradiesische Ferien verbringen. In dieser stil‐ len, beschaulichen Einsamkeit können sich Ihre streßgeplagten Nerven hervorragend erholen. 11
Kaum ein Mensch verirrt sich dorthin. Sie werden Tag und Nacht nichts anderes hören als die wun‐ dervollen Geräusche, die Mutter Natur hervorb‐ ringt. Sehen Sie sich das Haus mal unverbindlich an. Wenn Sie es nicht nehmen, will ich nicht mehr länger Makler sein, dann suche ich mir irgendwo einen Job als Klomann.« Sie machten einen Besichtigungstermin aus – und nun, wo sie ihr Ziel schon fast erreicht haben muß‐ ten, hatte sie der De Soto schmählich im Stich ge‐ lassen. Redford wandte sich an seine Frau. »Gib mir auch eine Zigarette, Irma.« Sie hielt ihm die Packung hin und bemühte sich, nicht zu zittern. Er nahm ein Stäbchen und warf einen Blick auf die Armaturenbrettuhr. »Ich nehme an, Goll ist bereits da, um ein bißchen Ordnung zu machen«, sagte der Produzent nach‐ denklich. »Er wird eine Stunde auf uns warten. Mehr kann man nicht von ihm verlangen. Danach wird er sich in seinen Wagen setzen und nach Tampa zurückfahren. Das heißt, daß wir ihm in spätestens einer Stunde hier begegnen werden. Sollte Goll jedoch zur unpünktlichen Sorte gehö‐ ren, müßte er aus der anderen Richtung dem‐ 12
nächst auf uns stoßen. Wie auch immer, länger als eine Stunde werden wir wohl kaum hier festsit‐ zen.« Eine Stunde, dachte Irma unruhig. Ob das meine Nerven aushalten werden? »Er hätte vor uns herfahren sollen, dann wäre es zu diesem unliebsamen Aufenthalt nicht gekom‐ men«, sagte Irma leise. »Goll konnte genausowenig wie wir wissen, daß es ein Gewitter geben würde«, sagte Mort Redford mürrisch. Irma blickte zum Seitenfenster hinaus. Dicke graue Wasserperlen schienen an Millionen von Schnüren zu hängen. Obwohl der Motor lief und die Schei‐ benwischer monoton tickten, war das Rauschen des Wassers überdeutlich zu hören. Der Regen platterte auf das Wagendach. Die Sicht endete be‐ reits nach wenigen Metern. Der Blick verlor sich in einem schmutzigen Grau, das nicht zu durchdrin‐ gen war. Das verfilzte Dickicht, das die schmale Straße ein‐ säumte, kam Irma irgendwie unheimlich vor. Sie glaubte, eine Bedrohung zu spüren, die ernst zu nehmen war. Zwischen ihren Schulterblättern bil‐ dete sich eine unangenehme Gänsehaut. 13
Zu ihrer Angst vor dem tobenden Unwetter gesell‐ te sich mit einemmal die undefinierbare Furcht vor etwas, das sie nicht sehen, dafür aber um so deut‐ licher spüren konnte. Mort und January sprachen miteinander. Irma hörte wohl die Worte, aber sie verstand ihren Sinn nicht, weil sie mit ihren Gedanken weit weg war. Dort draußen. Im Dickicht. Bei diesem We‐ sen, von dem sie sich haßerfüllt angestarrt glaubte. Der Schrecken schnürte ihr die Kehle zu. Wieso kam sie auf die Idee, in diesem Unterholz würde ein unheimliches Wesen lauern? Sie hatte keinen Beweis dafür, daß diese schreckliche Ver‐ mutung richtig war. Da sie sich auf das konzentrierte, was außerhalb des Wagens passierte, erlebte sie das Toben der Natur wesentlich intensiver als Mort und January, die sich damit abgefunden hatten, daß der Wagen festsaß und daß nichts anderes zu tun war, als zu warten. Irma schluckte. Sie merkte, wie die Furcht ihren Mund trocken machte. Ein dünner Schweißfilm legte sich über ihre Stirn. Sie stieß die Zigarette in den Aschenbecher und wandte sich sofort wieder
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jener Bedrohung zu, die sie mit jeder Faser ihres schmalen Körpers empfand. Es war ihr unverständlich, daß Mort und January davon nichts mitbekamen. Für einen Augenblick dachte sie, sie müsse die beiden darauf aufmerk‐ sam machen. Aber dann verwarf sie diesen Ge‐ danken wieder. Worauf hätte sie sie hinweisen sollen? Es war ja nichts zu sehen. Und wenn Mort und Ja‐ nuary es nicht selbst spürten, dann würden sie auch nichts wahrnehmen, wenn sie ihnen davon erzählte. Irma hatte Angst, sich lächerlich zu ma‐ chen, deshalb schwieg sie. Das war auch so ein Komplex, den sie nicht los‐ werden konnte. Immer befürchtete sie, daß sie et‐ was sagte oder tat, womit sie sich lächerlich mach‐ te. Ein Blitz, greller als die anderen, so schien es Irma jedenfalls. Sie wollte entsetzt die Augen schließen, tat aber genau das Gegenteil, riß die Augen weit auf. Im selben Moment erstarrte sie. Da! Das undurchdringliche Grau, das den Wagen um‐ gab, hatte für den Bruchteil einer Sekunde einen 15
Riß bekommen. Und wie im gleißenden Schein‐ werferlicht des Filmstudios hatte dort, umrahmt von Farnen und Blättern, eine Gestalt gestanden. Ein Mann. Bleich. Reglos. Statuenhaft. Ein Mann mit haßverzerrten Zügen und glutroten Augen. * Er war gleich wieder weg gewesen, und Irma zweifelte daran, daß sie ihn tatsächlich gesehen hatte. Sie versuchte sich die Erscheinung ins bren‐ nende Gedächtnis zurückzurufen, doch es gelang ihr nicht. Das einzige, was von dieser erschreckenden Wahrnehmung in Irmas Kopf haften blieb, war die Tatsache, daß die Gestalt völlig trocken gewesen war. Kein Tropfen Wasser war an ihr gewesen. So etwas Verrücktes, sagte sich Irma verwirrt. Ihr Herz trommelte heftig gegen die Rippen. Du spinnst. Dein Geist spielt dir einen Streich. Du siehst Dinge, die unmöglich sind. Der Mann hätte triefnaß sein müssen. Da er es nicht war, hast du ihn dir nur eingebildet. Irma wandte schnell den Kopf vom Seitenfenster weg. Sie befürchtete, daß ihr der nächste Blitz den Un‐ heimlichen noch einmal zeigen würde. 16
Verbissen war sie darum bemüht, sich einzureden, ihre überreizten Sinne hätten diesen geheimnisvol‐ len Mann dort draußen im Grau des Regens ent‐ stehen lassen. Aber irgend etwas in ihr sagte ihr, daß sie die Er‐ scheinung nicht als ein Gebilde ihrer Phantasie ab‐ tun durfte. »He, was ist das?« rief plötzlich January. Unwillkürlich krampfte sich Irmas Herz zusam‐ men. Hatte ihre Stieftochter dieselbe furchterre‐ gende Wahrnehmung gemacht? Nein, January wies nach vorn. »Scheinwerfer!« rief sie aufgeregt. »Da kommt ein Wagen! Wir sind gerettet!« Mort Redford wandte sich halb um und sagte brummig: »Du tust ja beinahe so, als hätte es eine Katastrophe gegeben.« »Das muß Mr. Goll sein«, meinte January. Das Licht der Scheinwerfer bohrte sich durch die Wassermassen. Da der näherkommende Wagen heftig durch die tiefen Schlaglöcher schaukelte, vollführten die Lichter einen wilden Tanz, den sie erst beendeten, als das Fahrzeug knapp vor dem De Soto anhielt.
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Mort Redford kniff geblendet die Augen zusam‐ men. »Teufel, ich komme mir vor wie bei einem Polizei‐ verhör dritten Grades!« schimpfte der Filmprodu‐ zent. »Kann der Wahnsinnige denn nicht die Strah‐ ler ausmachen?« Es schien, als hätte der Fahrer des Rangerovers Redfords Worte gehört, denn gleich darauf gingen die starken Lichter aus, und es leuchteten nur noch die kleinen Positionslampen. Der Wagenschlag wurde aufgestoßen, und eine Gestalt schälte sich aus dem Geländefahrzeug, die nicht auf diese Welt zu gehören schien: Hohe Ka‐ puze, weite, faltige, schwarze, klatschnasse Regen‐ haut. Beine, die in kniehohen grünen Gummistie‐ feln steckten. Der Mann watete durch den knöcheltiefen Schlamm. Er erreichte das Fenster auf der Fahrerseite. Mort Redford drehte es ein Stück nach unten. Wasser klatschte ihm ins Gesicht. Er rümpfte die Nase und rief: »Sauwetter, verdammtes!« »Mr. Redford ... Ich habe befürchtet, daß Sie mit Ihrem Wagen hier nicht durchkommen würden«, sagte Oliver Goll. »Deshalb machte ich mich, 18
nachdem ich fünfzehn Minuten gewartet hatte, auf die Suche ...« »Das war sehr freundlich von Ihnen, Mr. Goll. Ist es noch weit?« »Ein paar hundert Yards noch.« »Um so ärgerlicher für uns, daß wir’s nicht bis ans Ziel geschafft haben.« »Ich werde Ihren Wagen ans Abschleppseil hän‐ gen und Sie aus diesem verflixten Loch ziehen, recht so? Es ist das tiefste von allen. Wenn Sie das hinter sich haben, gibt’s keine Schwierigkeiten mehr.« »Wenigstens ein Lichtblick!« knurrte Red‐ ford verstimmt. »Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Ich mach’ das schon.« »Wo haben Sie denn den Regenschutz so plötzlich her, Mr. Goll? Wußten Sie, daß über uns die Sint‐ flut hereinbrechen würde?« »Ich hab’ das Zeug immer im Wagen liegen. In dieser Gegend regnet es zwar nicht besonders häu‐ fig, aber wenn’s dann mal losgeht, dann passiert es ziemlich heftig, wie Sie sehen.« Goll eilte zum Rangerover zurück. »Der gute Mr. Goll«, sagte Redford versöhnlich. »Was täten wir, wenn wir ihn nicht hätten.« 19
»Weiter warten«, sagte January. Irma hatte eine gewisse Abneigung gegen die Per‐ son des Maklers, doch in diesem Moment war der Mann sogar ihr äußerst willkommen. Flink traf Oliver Goll seine Vorbereitungen. Er ging vor dem De Soto auf die Knie, suchte nach ei‐ ner Möglichkeit, das Stahlseil festzumachen, kam wenig später wieder aus der Versenkung hoch, lief zu Redfords Fenster. »Passen Sie auf, Mr. Redford, Sie brauchen jetzt so gut wie gar nichts zu tun.« »Fein«, sagte der Filmproduzent. So war es ihm am liebsten. »Sie müssen nur darauf achten, daß die Hand‐ bremse offen ist.« »Die ist offen.« »Gut. Dann empfehle ich Ihnen nur noch, das Lenkrad festzuhalten. Alles andere macht Oliver Goll für Sie. Alles klar?« »Glasklar.« »Na, dann los!« Goll lief zum Rangerover. Er schwang sich in das hohe Fahrzeug und knallte die Tür zu. Langsam rollte der an allen Rädern anget‐ riebene Wagen zurück. Das Abschleppseil tauchte aus dem Morast auf und spannte sich gleich dar‐ 20
auf. Goll schaltete die Differenzialsperre ein und gab mit Gefühl Gas. Die grobprofiligen Reifen gruben sich in den Schlamm. Das Seil surrte. Der De Soto ächzte. Es gab einen Ruck. Die Limousine stieg rechts steil hoch. Der über das weiche Erdreich gezogene Wagenboden knirschte laut, und dann sank das Fahrzeug rechts vorn langsam wieder nach unten. »Geschafft!« sagte Mort Redford aufatmend. Er lachte. Der Ärger war verflogen. Fröhlich schnipp‐ te er mit dem Finger und rief: »Herrschaften, in wenigen Minuten werden Sie ein Haus betreten, das, wenn man den Worten des Maklers glauben darf, ein wahrer Traum ist.« Goll verließ seinen Rangerover noch einmal, um das Stahlseil abzunehmen. »Wenn Sie mir jetzt bitte folgen möchten, Mr. Red‐ ford«, rief er. »Es gibt im Moment nichts, was ich lieber täte«, erwiderte Redford aufgekratzt. Der Makler fuhr die ganze Strecke im Rückwärts‐ gang zurück. Das Dickicht trat zu beiden Seiten allmählich zurück und bildete den Rahmen einer riesigen Graslichtung. 21
Jetzt erst fiel den Insassen des De Soto auf, daß der Regen nachgelassen hatte. Das Unwetter zog wei‐ ter, auf Key West zu. Ein großes weißes Haus rück‐ te in Mort Redfords Blickfeld. Wuchtig. Als wollte es der ringsherum wild wuchernden Natur trot‐ zen. Es schmiegte sich an die grüne Wand des Waldes und bildete mit ihm eine untrennbare Ein‐ heit. Redford meinte beeindruckt: »Es sieht aus, als hätte es immer schon da gestanden. Als gehörte es einfach hierhin und an keinen anderen Ort.« »Es ist sehr schön«, sagte Irma leise. »Sehr schön?« rief January begeistert aus. »Das Haus ist spitze. Das ist super. Das ist der allerletzte Heuler!« Redford warf seiner Tochter einen rügenden Blick zu. »Du weißt, daß ich es nicht mag, wenn du dich dieser lächerlichen Ausdrucksweise bedienst.« »Es ist die Sprache der heutigen Jugend, Pa.« »Dann gebrauche sie gefälligst in diesen Kreisen und nicht in meiner Gegenwart.« »Okay. Dann ist das Haus eben sehr schön.« Der Rangerover hielt vor dem imposanten Gebäu‐ de. Redford ließ den De Soto dahinter ausrollen. Als er den Motor abstellte, fiel der letzte Regentropfen. 22
Der Filmproduzent warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel, dessen Grau die ersten blauen Risse bekam. »Nun seht euch diesen Hohn an. Gleich wird wie‐ der die Sonne scheinen.« »Ist doch nicht schlecht, Pa«, lachte January. Sie stieg als erste aus. Oliver Goll kam in seinen riesigen Gummistiefeln angelatscht. »Na, Miß Redford, wie gefällt Ihnen das Haus?« »Es ist ein Heu ... Es ist sehr schön, Mr. Goll.« Der Makler nickte. »Und es hält drinnen, was es außen verspricht, Sie werden es gleich sehen.« Er streifte die Kapuze ab. »Wenn hier die Sonne scheint, werden Sie denken, Sie sind im Paradies.« January lächelte. »O ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen, Mr. Goll.« Redford und seine Frau verließen nun ebenfalls den Wagen. Irma streifte den Makler, ohne daß er es merkte, mit einem schnellen Blick, und sie schauderte. Dieser Mann hatte keine Recht, vom Paradies zu sprechen, denn er sah aus wie der Teufel. Goll war ein Mann mittlerer Größe, kräftig gebaut. Auf dem breiten, gewölbten Brustkasten saß ein 23
schlanker Hals und auf diesem ein riesiger Kopf. Das glattrasierte Gesicht zeigte ein energisches, eckiges Kinn. Die Stirn stieg erst steil an, fiel dann weit nach hinten – über zwei weit auseinanderste‐ hende Ausbuchtungen, die wie die Ansätze von Hörnern anmuteten. Sie waren so mächtig, daß das rötliche Haar nicht über sie, sondern über die Schläfen und den Hinterkopf zurückfiel. Die großen schwarzen Augen hatten einen ste‐ chenden Ausdruck, und der Mund war hart und brutal geformt. Irma hielt Oliver Goll für einen gewissenlosen, bö‐ sen Menschen, obwohl er besonders ihr gegenüber von ausgesuchter Höflichkeit war. Die ersten Sonnenstrahlen brachten die Natur zum Dampfen. Goll sog grinsend die Luft ein. »Riechen Sie, Mr. Redford. Diesen herrlichen würzigen Duft be‐ kommen Sie beim Kauf des Hauses gratis dazu. Ein unschätzbares Geschenk an Ihre von den Ab‐ gasen und dem Gestank der Großstadt strapazier‐ ten Lungen.« Irmas Blick schweifte über die große Lichtung, auf der zarte Dunstgeister zu tanzen begannen.
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Sie merkte ganz deutlich, daß ihre Aufmerksam‐ keit von irgend etwas magisch angezogen wurde. Sofort fiel ihr wieder der Mann im Regen ein, der sie so haßerfüllt angestarrt hatte und an dessen Existenz sie immer noch zweifelte. Das Gefühl, daß große Gefahr ganz in der Nähe war, breitete sich in Irma Redford zum zweitenmal aus. Eine unangenehme Kälte legte sich auf ihre Schul‐ tern, so als würde eine Eishand darauf ruhen. Gleichzeitig entdeckte sie am anderen Ende der Lichtung eine schwarze Ruine. Das kleine Gebäu‐ de, von dem nur noch wenige Mauerfragmente aufragten, schien einem Brand zum Opfer gefallen zu sein. Sogleich spürte Irma, daß die Gefahr, deren eiskal‐ te Ausstrahlung sie aufgefangen hatte, dort einge‐ nistet war. Irma konnte den Blick nicht von jener unheimlichen Ruine wenden. Sie verglich das zer‐ störte Bauwerk mit einem großen schwarzen To‐ tenschädel, dessen Decke mit einem Beil einge‐ schlagen worden war, und der sie nun mit raben‐ schwarzen Augenhöhlen haßerfüllt anstarrte. War da nicht eben eine Bewegung gewesen? Irmas Zunge huschte aufgeregt über die spröden Lippen. 25
Eine Gestalt... Jener Unheimliche vielleicht... War er nicht soeben von einem Mauerfragment zum anderen geeilt? Noch eine Halluzination? Irma wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Oli‐ ver Goll fragte: »Wollen wir uns das Haus nun von innen ansehen?« »Mr. Goll!« preßte Irma heiser hervor, ohne den Blick von den schwarzen Mauern zu nehmen. »Ja, Mrs. Redford?« »Was ist das dort für eine Ruine?« »Das? Das war mal eine Kapelle. Der Blitz hat in sie eingeschlagen. Sie brannte völlig aus.« Der Makler wandte sich an Mort Redford. Sein Lächeln war dünn, wirkte aufgesetzt und nervös. »Natür‐ lich ist auch die Kapelle im Kaufpreis inbegriffen. Heutzutage sind manche Leute ganz versessen darauf, eine eigene Ruine zu besitzen.« »Zu denen gehöre ich nicht«, sagte Redford trocken. »Nun, wenn die Ruine Sie stört, können Sie sie na‐ türlich jederzeit schleifen lassen, das steht Ihnen frei. Schließlich ist sie Ihr Eigentum, sobald Sie Ih‐ ren Namen unter den Kaufvertrag gesetzt haben.« Irma vermeinte zu sehen, daß Goll nicht gern über die schwarze Kapelle sprach. Dieses Thema schien 26
ihm höchst unangenehm zu sein. Warum? Welche Bewandtnis hatte es mit dieser Ruine tatsächlich? Frag ihn! befahl der jungen Frau eine innere Stim‐ me, aber sie tat es nicht, denn sie glaubte zu wis‐ sen, daß sie außer unzähligen Ausflüchten und seichten Witzen nichts aus dem Makler heraus‐ kriegen würde. Goll hob den Hausschlüssel, der die Sonnenstrah‐ len blitzend reflektierte. »Wollen wir nun?« Mort Redford nickte. »Ja, Mr. Goll. Schließen Sie auf. Aus diesem Grund sind wir schließlich hier. Ich bin sehr gespannt, ob Sie mit Ihrer Schilderung nicht übertrieben haben.« Der Makler legte beide Hände auf seine Brust. »Er‐ lauben Sie, Mr. Redford ...« Der Filmproduzent winkte lachend ab. »Es gibt ein Anglerlatein, ein Jägerlatein und ein Maklerlatein, oder wollen Sie das leugnen?« »Nun, ich gebe zu, daß wir Makler hin und wieder gezwungen sind, an einem Objekt hier und da ein bißchen Kosmetik zu treiben, aber das ist in die‐ sem Fall nicht nötig, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.« »Als Makler?« Redford grinste. »Als Privatmann.« 27
»Hört, hört!« Wenn Irma allein zu entscheiden gehabt hätte, dann hätten sie sich das Haus gar nicht mehr an‐ gesehen, sondern hätten sich wieder in den De So‐ to gesetzt, um hier so rasch wie möglich wegzu‐ fahren, denn dieser Ort war verflucht, das signali‐ sierte der jungen Frau ihr Unterbewußtsein. Der Makler hatte recht. Die Luft hier war würzig und herrlich. Aber er hatte etwas zu erwähnen vergessen: sie roch auch nach Tod! Wer immer in dieses Haus einzog, der würde kei‐ ne Ruhe mehr finden, das stand für Irma fest. Nächte voller Grauen und Tage voller Erschöp‐ fung erwarteten jene, die sich hier niederließen. Und all der Horror, der die Hausbewohner erwar‐ ten mochte, würde seinen Ausgangspunkt in die‐ ser unheimlichen schwarzen Kapelle haben. Irma konnte nicht verstehen, daß nur sie so klar in die Zukunft sehen konnte. Es war ihr unbegreif‐ lich, daß January und Mort so furchtbar blind war‐ en. Oliver Goll schob den Schlüssel ins Schloß. Gleich darauf schwang die Tür zur Seite. Der Eingang war offen. 28
Wie das Maul eines riesigen Ungeheuers, dachte Irma beunruhigt. Wenn du eintrittst, stürzt du in einen allesverschlingenden Rachen. Goll ließ Mort Redford und January den Vortritt. Dann richtete er seine stechenden Augen auf Irma. »Nach Ihnen, Mrs. Redford«, sagte er freundlich. Widerstrebend ging die junge Frau auf den Haus‐ eingang zu. Sie wollte nicht eintreten, weil sie wußte, daß sie dann von diesem Gebäude nicht mehr loskommen würde, weil sie ahnte, daß grau‐ envolle Dinge auf sie warteten, wenn sie sich erst einmal dort drinnen befand. Mort Redford trat auf sie zu. Er legte seinen Arm um ihre schmalen Schultern. »Du machst keinen sehr glücklichen Eindruck, Darling. Hast du was?« Irma wollte ihm sagen, was sie fühlte, aber sie wußte, daß Mort sie nur auslachen würde, deshalb antwortete sie mit belegter Stimme: »Ich fühle mich nicht ganz wohl, aber das geht vorbei.« Oliver Goll zählte auf, was sich im Erdgeschoß be‐ fand: Küche, Gästezimmer, Bibliothek, Gästetoilet‐ te, der hallenähnliche Living‐room. Der Makler führte Redford und dessen Familie durch die Räume, die allesamt möbliert waren.
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Um die Möbel vor Staub zu schützen, waren weiße Laken darübergebreitet. Irma fiel dazu der Vergleich ein: Wie in einer Lei‐ chenhalle! Und im nächsten Moment fuhr ihr ein Eissplitter ins Herz. Sie faßte sich bestürzt an die Brust. Ir‐ gend jemand stieß einen heiseren Schrei aus. Irma wußte nicht, daß sie selbst geschrien hatte. Sie wankte. Goll und Mort eilten zu ihr und stützten sie. »Irma, um Himmels willen, was ist los mit dir?« fragte der Filmproduzent erschrocken. »Dort!« Irma stammelte verstört: »Unter dem La‐ ken, das über den Sessel gebreitet ist... Ein Kopf! Dort sitzt jemand! Er – er hat sich soeben bewegt!« »Hier drinnen kann keiner sein«, sagte Goll über‐ zeugt. »Die Tür war abgeschlossen, Sie haben es selbst gesehen.« »Es gibt Nachschlüssel, Mr. Goll«, keuchte Irma. »Man kann auch ein Fenster einschlagen, wenn man in ein Haus einsteigen möchte ...« Mort Redford wandte sich an seine Tochter. »Ja‐ nuary, würdest du mal für einen Augenblick das Laken von diesem Sessel nehmen?«
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Irma schüttelte heftig den Kopf. »Nein, January! Tu’s nicht!« »Irma!« sagte Mort Redford ärgerlich. »Ich bitte dich, reiß dich zusammen! Es liegt nicht der ge‐ ringste Grund vor, hysterisch zu werden.« January begab sich zum Sessel. Sie griff furchtlos nach dem Laken und zog es von der Lehne. Etwas Rundes fiel polternd zu Boden. Ein hölzerner Glo‐ bus. Irma entspannte sich. »Einer von uns muß gegen den Sessel gestoßen sein«, sagte Oliver Goll freundlich. »Dadurch kam der Globus ins Rutschen, und Sie, Mrs. Redford, dachten, unter dem Laken habe sich jemand be‐ wegt.« Jetzt hast du dich erst recht lächerlich gemacht, sagte sich Irma, und die Verlegenheit trieb ihr brennende Röte ins Gesicht. »Würdest du bitte damit aufhören, Gespenster zu sehen?« fragte Mort Redford bissig. »Entschuldige, Mort«, hauchte Irma und senkte verlegen den Blick. »Entschuldige, es wird nicht wieder vorkommen.« Doch sie konnte dieses Versprechen nicht halten, denn in derselben Sekunde wies sie mit zitternder Hand auf den matt schimmernden Marmorboden 31
und keuchte mit schreckgeweiteten Augen: »Blut, Mort! Frisches Blut. Wie kommt es hierher?« Alle blickten auf die Stelle, auf die Irma wies. Da war tatsächlich ein faustgroßer Blutfleck. Den konnte nicht einmal Oliver Goll leugnen, obwohl er es gern getan hätte. * Der Makler lächelte schief. »Ich habe für die Exis‐ tenz dieses Blutflecks nur eine einzige Erklärung.« »Und zwar welche?« fragte Irma den Mann leise. »Es ist das Blut eines Tieres, das sich verletzt hat und vor dem Unwetter in dieses Haus geflohen ist.« »Aber‐ die Tür war doch abgeschlossen«, sagte Ir‐ ma. »Ich bitte Sie, ein kleines Tier findet immer eine Möglichkeit, hier einzudringen, Mrs. Redford.« Irmas Augen verengten sich. »Mr. Goll, ich habe den Eindruck, Sie verheimlichen uns irgend et‐ was!« Der Makler holte eine Packung Papiertaschentü‐ cher aus seiner Hosentasche und wischte mit den saugstarken weißen Blättern das Blut vom Boden auf. Er tat dies mit übertriebenem Eifer, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun als das. 32
Das machte nun auch Mort Redford zum ersten‐ mal stutzig. »Mr. Goll!« sagte er hart. »Ja, Mr. Redford?« »Warum geben Sie meiner Frau keine Antwort?« Der Makler richtete sich auf. Sein Lächeln war wieder einmal besonders dürftig. »Nun, Mr. Red‐ ford, was sollte ich auf eine solche Anschuldigung antworten?« »Was ist los mit diesem Haus, Mr. Goll?« fragte Irma daraufhin direkt. Der Makler hob die fleischigen Schultern. »Ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Red‐ ford.« »Was ist das für ein Haus?« wollte Irma wissen. »Nun, es ist ein sehr schönes Haus, wie Sie zuge‐ ben müssen.« »Wieso steht es leer?« »Der Besitzer hat es verlassen.« »Wer war der Mann, der hier gewohnt hat?« »Ein etwas verschrobener Schriftsteller. Lester Lancaster war sein Name.« »Und aus welchem Grund ist er von hier wegge‐ zogen?«
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»Den Grund hat er mir nicht genannt. Ich nehme an, er war die ständige Ruhe leid.« »Hat er ganz allein hier gelebt?« fragte Irma. »Ja. Und da kann ich verstehen, daß ihm eines Ta‐ ges der Frieden, nach dem sich andere Leute seh‐ nen, auf die Nerven ging«, sagte Goll. »Glauben Sie mir, Mrs. Redford, es ist alles okay mit diesem Haus. Wenn Ihr Mann es kauft, werden Sie die glücklichste Zeit Ihres Lebens hier verbringen, das kann ich Ihnen heute schon in die Hand verspre‐ chen. Vielleicht macht Sie die Einsamkeit hier draußen anfangs ein wenig unsicher und ängstlich, aber sobald Sie sich daran gewöhnt haben, werden Sie von hier nicht mehr weg wollen, das gebe ich Ihnen schriftlich.« Der Makler wandte sich an Mort Redford. »Darf ich Ihnen jetzt den Keller zeigen, Sir?« »Kommst du mit?« fragte der Produzent seine Frau. Irma schüttelte stumm den Kopf. »Ich komme mit«, sagte January. Irma wollte sie bitten, bei ihr zu bleiben, doch ehe sie etwas sagen konnte, waren Mort und seine Tochter mit dem Makler bereits durch die Keller‐ tür verschwunden. Irma empfand das plötzliche 34
Alleinsein so intensiv, daß sie darüber schaudert. Sie fühlte sich verlassen, im Stich gelassen. Und die Angst, die niemals ganz abgeebbt war, kehrte in ihr Bewußtsein zurück. Jede Minute in diesem Haus bereitete ihr seelische Pein. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch niemals so entsetzlich unwohl gefühlt. Diese Mauern schienen ihr unverhohlene Feindseligkeit entge‐ genzuatmen, und wenn sie einen Blick aus dem Fenster warf und die schwarze Kapelle betrachtete, bekam sie dasselbe flaue Gefühl im Magen, wie wenn sie mit ihrer Familie eine Kreuzfahrt auf dem Atlantik machte, denn sie wurde sehr leicht seekrank. Irma fürchtete sich vor den Geschehnissen, die über sie und die andern hereinbrechen würden, wenn Mort dieses Haus kaufte. Es war ihr, als wä‐ ren schreckliche Ereignisse unordentlich in einen Schrank gepackt worden, und derjenige, der die Tür öffnete, dem fielen sie alle krachend auf den Kopf. Ob sie Mort davon abraten sollte, den Kaufvertrag zu unterschreiben? Mit welcher Begründung sollte sie das tun? Man mußte Mort mit Argumenten 35
überzeugen, die er gewissenhaft prüfte und nur dann akzeptierte, wenn sie tatsächlich Hand und Fuß hatten. Hand und Fuß. Gefühle haben das nicht. Vorah‐ nungen auch nicht. Sie sind einfach vorhanden, ohne daß man sie in handfeste Worte kleiden kann. Ein monotones Klopfgeräusch riß Irma jäh aus ih‐ ren Gedanken. Zunächst glaubte sie, das Geräusch käme von unten, also aus dem Keller. Doch als sie genauer hinhörte, wurde ihr klar, daß das Klopfen vom Obergeschoß kam. Ihr beunruhigter Blick wanderte zur Treppe. Poch – poch – poch ... Es hallte dumpf und geisterhaft durch das Haus. Irma hatte den Eindruck, daß jemand sie damit nach oben locken wollte, und sie fuhr sich mit ei‐ ner fahrigen Handbewegung über die nervös flat‐ ternden Augen. Nein, sie wollte sich nicht von der Stelle rühren. Erst wenn die andern zurückgekehrt waren, würde sie gemeinsam mit ihnen nach oben gehen und sich da umsehen. Nur nicht allein. Dazu war die Angst, die sie quäl‐ te und verunsicherte, viel zu groß. Wo Goll, Mort und January nur so lange blieben. 36
So groß konnte der Keller doch gar nicht sein. Sie mußten mit der Besichtigung schon längst fertig sein. Ließen sie sie absichtlich so lange allein? Hatte Oliver Goll das geschickt und ohne daß die andern es bemerkten, inszeniert? Poch – poch – poch ... Erschrocken stellte Irma fest, daß sie drei Schritte auf die Treppe zu gemacht hatte, ohne es zu wol‐ len, ohne es zu wissen. Schweiß näßte ihre Achsel‐ höhlen. Ihre Nerven, die immer noch von dem schrecklichen Unwetter aufgepeitscht waren, vib‐ rierten. Geh nicht nach oben, warnte sie eine innere Stim‐ me. Auf keinen Fall allein! Wer weiß, was dich dort oben erwartet! Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Sie glaubte, dumpfe Stimmen zu vernehmen. Goll redete mit Mort. Kamen sie endlich zurück? Für Irma ver‐ strich eine peinigende Ewigkeit, doch weder Ja‐ nuary noch Mort, noch Goll kamen aus dem Keller hoch. Poch – poch – poch ... Die Klopfgeräusche klangen für Irma plötzlich wie Schüsse, die durch das Haus peitschten. Sie zuckte jedesmal heftig zusammen und konnte sich nicht 37
erklären, wie es möglich war, daß Mort und Janua‐ ry darauf nicht reagierten. Das Klopfen mußte doch bis in den Keller hinunter zu hören sein. Mit einem lästigen Brennen in der Herzgrube machte Irma die nächsten Schritte auf die Treppe zu. Wie in Trance bewegte sie sich. So als ob ihr Verstand ausgehakt und jemand anders die Be‐ fehlsgewalt über sie übernommen hätte. Mit hölzernen, mechanischen Schritten erreichte sie die Treppe. Ihr Blick war starr nach oben ge‐ richtet. Sie konnte die Ungewißheit nicht mehr er‐ tragen. Sie wollte sehen, wer oder was dort oben so heftig klopfte. Als sie die Hand auf das Treppengeländer legte, war ihr, als liefe ein Stromstoß durch ihren Arm. Sie zuckte erschrocken zurück, legte die Hand aber gleich ein zweitesmal auf das glänzende Messing, unddiesmal spürte sie nichts. Ihre Finger kramp‐ ften sich so fest um das Geländer, daß die Knöchel weiß hervortraten. Irgend etwas in ihr sagte ihr, daß es Wahnsinn war, was sie jetzt machte, aber die Mechanik in ihr zwang sie, es dennoch zu tun. Schon hatte sie zwei Stufen zurückgelegt‐ die drit‐ te, vierte, fünfte ... 38
Achtzehn Stufen waren es bis zum Obergeschoß. Irma zählte sie, als wollte sie sich damit ablenken. In Wirklichkeit aber war ihr ganzes Sinnen auf die unheimlichen Klopfgeräusche ausgerichtet, die immer lauter wurden. Die letzte Stufe. Irma war so aufgeregt, daß sie leicht schwankte. Atemnot befiel sie, und sie japste nach Luft. Poch – poch – poch ... Es hörte sich an, als begehre jemand ungestüm Einlaß. Irmas Augen glitten über die geschlossenen weißen Türen, die zu vier Schlaf räumen gehörten. Aus welchem Raum kam das gespenstische Po‐ chen? Irma näherte sich der ersten Tür, ging zur nächsten weiter. Poch! Die junge Frau zuckte zusammen, als hätte jemand sie geschlagen. Laut und deutlich war das Ge‐ räusch zu hören gewesen. So als ob jemand mit seiner harten Faust gegen das Holz der dritten Tür geschlagen hätte. Irma stand verwirrt davor. Sie hatte panische Angst, den Raum zu betreten.
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Es war ihr aber auch unmöglich, kehrtzumachen und wieder zur Halle hinunterzueilen. Sie mußte wissen, wer hier so zornig klopfte. Während sie ih‐ re schmale Hand auf den Türknauf legte, fiel ihr abermals der Mann ein, der ihr im strömenden Re‐ gen erschienen war. Sie befürchtete, ihm wieder‐ zubegegnen, wenn sie jetzt die Tür aufmachte. Sie erinnerte sich an seine glutroten Augen, an das haßverzerrte Gesicht. Seltsam. Vor kurzem war es ihr nicht möglich gewesen, sich das Aussehen des Unheimlichen ins Gedächtnis zurückzurufen, doch nun konnte sie es wieder, und es verstärkte ihre bohrende Angst. Wohin sie auch blickte, überall glaubte sie dieses bleiche Gesicht zu sehen. Ein schlechtes Omen! Irma drehte am Türknauf. Die weiße Tür öffnete sich lautlos, und nebelartige Gardinen blähten sich gespenstisch. Mit heftig gegen die Rippen trommelndem Herzen trat die junge Frau in den Raum. Sie glaubte, nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein. Ein Windstoß fuhr ihr feindselig ins Gesicht und zerzauste ihre Frisur. Und dann gab es einen Knall, der ihr Herz fast zum Stehen brachte. Das Geräusch war laut und aggressiv. Irma stieß einen heiseren Schrei aus. Ih‐ 40
re furchtgeweiteten Augen waren starr auf das Fenster gerichtet. Plötzlich hätte sie am liebsten schrill aufgelacht. Du Närrin! schalt sie sich. Du dummes, ängstliches Huhn! Wer wird sich denn von einem zuschlagen‐ den Fensterflügel zu Tode erschrecken lassen? Poch! Der Flügel krachte wieder zu. Poch! Und noch einmal, doch das machte Irma nun nichts mehr aus. Sie atmete furchtbar erleichtert auf. Der Wind war es, der dieses grausame Spiel mit ihren Ner‐ ven spielte. Dieser verflixte Wind. Das Anhängsel des Gewitters, das bereits vorbeigezogen war. Irma eilte auf das Fenster zu, das sich losgehakt hatte. Sie fing es ab und schloß es. Nachdem sie den Riegel umgelegt hatte, brach eine wohltuende, für Irmas strapazierte Nerven äußerst erholsame Stille aus. Aber dann ... Der Schock traf die junge Frau wie ein Blitz aus heiterem Himmel und war schlimmer als alles an‐ dere, was sie in jüngster Vergangenheit durchge‐ macht hatte. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Darüber verlor sie beinahe den Verstand ... 41
Sie fuhr kreischend herum und erblickte – January, die sie besorgt ansah. »Irma!« sagte das Mädchen verwirrt. »Wie konntest du mich nur so sehr erschrecken?« schrie Irma ihre Stieftochter an. Sie bebte vor Auf‐ regung so sehr, daß sie sich an den Einbauschrank lehnen mußte. »Du warst nicht mehr in der Halle, als wir aus dem Keller zurückkehrten, deshalb suchte ich dich hier oben«, verteidigte sich January. »Ich hatte nicht die Absicht, dich zu erschrecken.« »Mich hätte beinahe der Schlag getroffen!« »Entschuldige bitte.« »Hättest du dich nicht auf eine andere Weise be‐ merkbar machen können? Mußtest du mich unbe‐ dingt anfassen?« »Ich habe mich bereits entschuldigt, Irma«, sagte January ärgerlich. »Konnte ich denn wissen, daß du gleich in Ohnmacht fällst, wenn man dich an‐ faßt?« »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte Mort Redford ungehalten. Er kam mit Oliver Goll zur Tür herein. »Irma hatte schon wieder einen hysterischen An‐ fall«, sagte January sachlich. 42
Es blitzte zornig in Irmas Augen. »Ihr haltet mich wohl alle für verrückt, was? Das bin ich aber nicht! Ich sage euch, ich bin in diesem Haus die einzige Normale!« Mort warf dem Makler einen kurzen Blick zu. »Entschuldigen Sie, Mr. Goll...« »Aber ich bitte Sie, Mr. Redford. Da gibt es doch nichts zu entschuldigen.« Der Produzent schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Irma, ich versteh’ dich nicht. Was ist denn bloß in dich gefahren? Du bist wie ausgewechselt. Kannst du dich denn nicht ein bißchen zusammenneh‐ men?« Die junge Frau starrte stumm auf ihre Hände. »Was soll sich denn Mr. Goll denken«, sagte Red‐ ford. »Also was sich Mr. Goll denkt, ist mir wirklich ei‐ nerlei«, gab Irma ärgerlich zurück. Der Makler lächelte verzeihend. Er war ein Mann, den man nicht so schnell beleidigen konnte. Er hat‐ te ein verdammt dickes Fell. Makler müssen das haben, wenn sie beruflich nach oben kommen wol‐ len. »Ihnen, Mrs. Redford’», sagte Oliver Goll sanft, »wird die an diesem Ort herrschende Ruhe beson‐ 43
ders guttun. Hier werden sich Ihre Nerven wun‐ derbar erholen, und in ein paar Wochen werden Sie über Ihre Angstzustände und Ihre unbegründe‐ te Schreckhaftigkeit lachen, dafür verbürge ich mich.« Mit vielen salbungsvollen Worten zerstreute der Makler die störende Spannung. Er war ein ge‐ schickt taktierender Redner, wußte genau, worauf es ankam, was er sagen mußte, worüber er besser schwieg. Es gelang ihm nahezu spielend, Mort und January für sich und das Objekt zu gewinnen. Nur an Irma kam er nicht heran, aber das störte ihn nicht, da er die Stimmenmehrheit auf seiner Seite hatte. Sie kehrten ins Erdgeschoß zurück. Irma nahm sich vor, kein Wort mehr zu sagen. Vielleicht setzte sie mit trotzigem Schweigen ihren Willen durch. Sie wollte dieses Haus nicht haben. Sie wollte nicht, daß Mort es kaufte. Aber sie sah in Januarys und Morts Gesichtern, daß das Gebäude schon so gut wie gekauft war. Die Unterschrift, die noch unter dem Kaufvertrag fehlte, schien nur noch eine reine Formsache zu sein. Goll hatte das Geschäft bereits gemacht. In‐ 44
dessen überlegte Irma fieberhaft, wie sie die Sache doch noch zum Platzen bringen konnte. Da rief January plötzlich mit erhobener Stimme: »Pa!« Sie war einem der Fenster zugewandt. Mort Redford sprach mit Goll gerade über die Zahlungsmodalitäten, und er meinte, daß bei Bar‐ zahlung ein Nachlaß von zehn Prozent drin sein müsse. Goll war damit lächelnd, aber sehr be‐ stimmt nicht einverstanden. Sie hatten sich gerade auf sechs Prozent geeinigt, als January ihren Vater rief. Der Produzent wandte sich mit verdrossener Mie‐ ne um. Sein ärgerlicher Blick fragte: Fängst jetzt du zu spinnen an? »Was ist denn?« brummte er bärbeißig. »Ich glaube – da war soeben jemand am Fenster!« sagte January. Ein Ausdruck des Triumphes huschte über Irmas Gesicht. Der Mann im Regen! Die vage Bewegung zwischen den Mauerfragmenten der schwarzen Kapelle. Das paßte alles wunderbar zusammen, aber Irma hütete sich, dazu in irgendeiner Weise Stellung zu nehmen. Oliver Goll massierte seinen Nacken. 45
Januarys Wahrnehmung schien ihm in höchstem Maße unangenehm zu sein. Er suchte anscheinend nach Worten, um Mort Redford abzulenken, doch ehe er etwas sagen konnte, fragte der Produzent seine Tochter: »Wer war am Fenster, Janua‐ ry?« »Ein Mann – glaube ich.« »Wieso bist du dir nicht sicher?« »Er war gleich wieder weg.« Redford eilte durch die Halle und verließ das Haus. Ringsherum üppige Natur. Stille und wohl‐ tuender Frieden. Ab und zu kreischte ein Vogel im Dickicht, aber ein Mann war nicht zu sehen. Mort Redford fand auch keine Fußspuren vor dem Fens‐ ter, obwohl hier das Erdreich so stark aufgeweicht war, daß man darin tief einsank. Der Produzent machte Irma dafür verantwortlich. Sie mußte January mit ihrer lächerlichen Hysterie angesteckt haben. Er ärgerte sich darüber, daß er darauf hereingefallen war. Zornig kehrte er in das Haus zurück. Er war ziem‐ lich geladen, und wenn Irma noch irgend etwas sagte, würde es einen Streit geben, der sich gewa‐ schen hatte. »Kein Mann!« sagte er grimmig zu January. »Auch keine Fußspuren. Du mußt dich geirrt haben.« 46
Das Mädchen widersprach ihm nicht, und das war gut so. Oliver Goll riß die Unterhaltung sofort wieder an sich. »Hätte mich auch stark gewundert, wenn sich jemand in diese Einsamkeit verirrt hätte, Mr. Red‐ ford. Hier sind Sie garantiert so allein wie der Eremit in seiner versteckten Waldklause.« Keine Fußspuren, dachte Irma bitter. Natürlich hinterläßt dieser Kerl keine Fußspuren. Es war ihm schließlich auch gelungen, mitten im strömenden Regen nicht naß zu werden. Goll erkundigte sich mit weich schmelzender Stimme: »Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Mr. Redford? Gibt es noch etwas, das Sie interes‐ siert?« »Nein«, erwiderte der Produzent. »Ich denke, es ist alles klar.« »Dann werden Sie das Haus also kau‐ fen?« »Ich bin dazu fest entschlossen, Mr. Goll.« Der Makler lächelte. »Diesen Entschluß werden Sie niemals bereuen.« Irma war vom Gegenteil überzeugt, aber sie schwieg beharrlich weiter. Sie wußte, wie ausfällig Mort werden konnte, wenn man ihn – wenn er oh‐ nedies schon zornig war – noch weiter reizte. 47
Manchmal vergaß er sich dann in seiner Wut so sehr, daß er beinahe handgreiflich wurde. Außer‐ dem, wenn Mort Redford einmal einen Entschluß gefaßt hatte, dann war er davon von niemandem und mit nichts mehr abzubringen. Irma war dieses Haus und die schwarze Kapelle absolut nicht geheuer, und sie war davon über‐ zeugt, daß sich mit einiger Mühe ein besseres Ob‐ jekt hätte finden lassen. Aber Mort hatte sich bereits entschieden, und da‐ gegen war nun einmal nichts mehr zu machen. Oliver Goll betete noch einmal die vielen Vorzüge des Hauses herunter. Er wies vor allem darauf hin, daß die Lage geradezu ideal für einen von der Hektik geplagten Städter wäre. Das hier herr‐ schende Klima würde ihnen allen ebenso guttun wie die wohltuende Abgeschiedenheit. Goll und Mort waren sich einig. Irma hatte dazu nichts mehr zu sagen. Sie verließen das Haus, um mit dem Makler, der sichtlich froh war, einen Käufer gefunden zu ha‐ ben, nach Tampa zu fahren und den Kauf in des‐ sen Büro rechtskräftig zu machen. Auf dem Weg zur Tür machte Irma eine Entde‐ ckung, die sie erneut schockte: Der frische Blut‐ 48
fleck, den Oliver Goll so gründlich vom Marmor‐ boden weggewischt hatte, war wieder da. * Nachdem Mort Redford den Kaufvertrag unter‐ schrieben hatte, kehrte er mit seiner Familie nach New York zurück. Er ließ den vereinbarten Betrag von seiner Bank auf Oliver Golls Konto überwei‐ sen und war nun stolzer Besitzer eines Prachthau‐ ses nahe den Everglades, das er so günstig erwor‐ ben hatte, daß er mit Recht zufrieden war mit die‐ sem Geschäft. Zwei Tage nach ihrer Ankunft in New York gab es für Irma wieder die gewohnte Eintönigkeit des Alltags. Sie war allein in dem prächtigen Zwölf‐Zimmer‐ Penthouse hoch über Manhattan. Mort hatte ge‐ schäftlich in Hollywood zu tun. Danach wollte er für zwei Tage nach Chicago fliegen, um dort mit einer TV‐Gesellschaft über ein gewinnträchtiges Zweijahresprojekt zu verhandeln. Er wollte mit den Chicagoer Fernsehgewaltigen eine vierund‐ zwanzigteilige Familiensaga als Koproduzent dre‐ hen, und sollte das Publikum nach der vierund‐
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zwanzigsten Folge davon noch nicht genug haben, könnten weitere zwölf Teile drangehängt werden. Ein paar zugkräftige Schauspieler hatten bereits im Prinzip zugesagt. Auch einen erstklassigen Regisseur hatte Mort Redford schon für sein Projekt interessieren kön‐ nen. Und die Musik – darauf legte Mort Redford aller‐ größten Wert – würde von einem Mann geschrie‐ ben werden, der für seine letzten Arbeiten zwei Oscars verliehen bekommen hatte. Redford gedachte die Sache nach allen Regeln der kaufmännischen Kunst auszuschlachten. Es würde von jeder Folge Videobänder beziehungsweise Schmalfilme fürs Heimkino zu kaufen geben. Kle‐ bealben und Sammelbilder würden gleichfalls zur Erhöhung des Gewinns beitragen. Der Original Soundtrack würde auf Langspielplatten und Ton‐ bandkassetten angeboten werden. Und die Dreh‐ bücher sollten vom besten Autorenteam geschrie‐ ben werden, das zur Zeit in Hollywood tätig war. Alltag. Das hieß für Mort Redford: Arbeiten bis zum Um‐ fallen. Das hieß für Irma: Entsetzliche Langeweile. 50
January war ins Internat zurückgekehrt. Sie mußte dort noch vier Wochen bis zu den Ferien bleiben. Vier Wochen noch bis zum Urlaub. Irma freute sich zum erstenmal nicht darauf. Sie fürchtete sich vor der Rückkehr in jenes unheimliche Haus, wuß‐ te gleichzeitig aber, daß ihr diese nicht erspart bleiben würde. Natürlich hätte sie zu Mort sagen können, sie ginge nicht mit nach Florida, aber das hätte er ihr sehr übelgenommen, und vielleicht hätte ihre Ehe dadurch einen Riß bekommen, der nur sehr schwer wieder zu kitten gewesen wäre. Darauf wollte es Irma nicht ankommen lassen. Wenn sie wollte, daß Mort ihr weiterhin so ver‐ bunden blieb wie bisher, durfte sie ihn nicht allein nach Florida gehen lassen. Mit jedem Tag rückte die Katastrophe, mit der Ir‐ ma fest rechnete, näher. Mit jedem Tag wuchs Irmas Unbehagen. Sie versuchte, nicht mehr an das Haus bei den Everglades zu denken, doch immer wieder ertapp‐ te sie sich dabei, wie sich ihre furchtsamen Gedan‐ ken nach Florida stahlen, sich mit dem Mann im Regen, der schwarzen Kapelle und den Ereignis‐ sen befaßten, die sich in jenem einsamen Haus zu‐ getragen hatten. 51
Irma telefonierte zweimal täglich mit Mort. Das kostete jedesmal eine schöne Stange Geld, aber sie brauchte dieses Gespräch mit ihrem Mann, um sich wenigstens ein bißchen abzulenken. Abends sah sie zumeist sehr lange fern, und wenn sie schließlich mit brennenden Augen zu Bett ging, versuchte sie noch in einem Buch zu lesen, das ihr ein Freund von Mort empfohlen hatte, doch schon nach den ersten Zeilen fielen ihr regelmäßig die Augen zu – und dann fingen die wirren Träume an, die sie immer wieder nach Florida brachten und sie im Morgengrauen, in Schweiß gebadet, hochschrecken ließen. Sie rauchte viel, trank viel Kaffee und begann schon am Morgen mit Bourbon. In der Mitte der Woche rief ihre Freundin Kate Jefferson an. Kate war seit einem Jahr mit einem Top‐Manager der Elektronikindustrie verheiratet. Der Ärmste konn‐ te das Geld nicht so schnell verdienen, wie Kate es wieder ausgab. Kates Mann hatte geschäftlich in Europa zu tun gehabt, und Kate hatte darauf bestanden, daß er sie mitnahm. »Hallo, Schätzchen«, rief das quirlige Mädchen. »Ich dachte, es wäre mal wieder an der Zeit, dich 52
aus deinem Dornröschenschlaf zu wecken. Wie geht’s denn so?« »Mittelprächtig«, antwortete Irma. »Das hört sich nicht gerade sehr erfreulich an. Kümmert sich mal wieder keiner um dich?« »Mort ist in Hollywood ...« »Und January steckt im Internat. Du Ärmste. Da‐ gegen müssen wir unbedingt etwas tun.« »Wie war’s in Europa?« »Oh, phantastisch. Paris. Amsterdam. Rom. Wien. Ich habe so viel gesehen, daß ich alles durcheinan‐ der bringe. Wir müssen uns unbedingt treffen, Ir‐ ma. Ich hab’ dir eine Menge zu erzählen. Du hast doch Zeit, oder?« »Mehr als mir lieb ist. Ich war am Montag bei Amanda zum Cocktail eingeladen ...« »Gestern war ich bei Flo und Sam ...« »Dafür verdienst du eine besondere Auszeich‐ nung. Die beiden gehen mir schon auf die Nerven, wenn sie bloß dasitzen und den Mund halten. Wenn sie dann aber auch noch was sagen, halte ich sie nicht mehr aus. Sag mal, was hältst du von ei‐ nem kleinen Einkaufsbummel?« Irma lachte. »Kriegst du denn überhaupt noch et‐ was in deine Schränke rein?« 53
»Das war noch nie ein Problem. Wenn ich keinen Platz mehr habe, schenke ich ein paar von meinen Sachen unserer Aufwartefrau, und schon hat sich der Knoten wie von selbst gelöst. Manchmal sieht das alte Mädchen wie ein Mitglied der High Socie‐ ty aus. Wenn mein Mann sie so sehen würde, den würde glatt der Schlag treffen.« Sie vereinbarten einen Treffpunkt beim Battery Park. Irma war pünktlich. Kate war es wie immer nicht. Irma beobachtete das Treiben in der New Yorker Hafenbucht, über die man von hier aus einen her‐ vorragenden Überblick hatte. Da hörte sie hinter sich schrilles Hupen. Sie wandte sich um. Kate Jef‐ ferson saß in ihrem neuen Dodge Charger Special, unter dessen Motorhaube 238 PS schnurrten, wie sie Irma schon mal erklärt hatte. Sie winkte Irma und bedeutete ihr, sich zu ihr in den Wagen zu setzen. Kate war kein besonders hübsches Mädchen, aber sie machte dieses Manko mit einer netten, lie‐ benswerten, stets fröhlichen Art wett. Sie hatte dunkle Augen, fast schwarzes Haar, einen leichten Bartflaum auf der Oberlippe – und obwohl sie 54
mehrmals in der Woche ein sündteures Fitness‐ Center aufsuchte, neigte sie zur Fettleibigkeit, denn sie war verliebt in Pralinen, Spaghetti und Pommes frites. Salatteller ohne ein Gramm Fleisch und Yoghurt ohne Zucker waren ihr zuwider. Be‐ vor sie so etwas aß, pfiff sie lieber auf die schlanke Linie. Kate plapperte auf der Fahrt ununterbrochen. Irma kam nur dann zu Wort, wenn Kate mal Luft holte. Kate Jefferson steuerte ein Parkhaus südlich vom Central Park an. Von dort begann dann ihr Streifzug durch die Warenhäuser. Kate kaufte die verrücktesten Dinge. Sie kaufte mit einem Eifer, als wüßte nur sie und sonst niemand, daß in einigen Tagen ein neuer Weltkrieg ausbrechen und dann nichts mehr zu bekommen sein würde. Im elften Warenhaus sagte sie augenrollend zu Ir‐ ma: »Man sollte es nicht für möglich halten, wie hungrig so ein Einkaufsbummel macht.« »Ich könnte auch eine Kleinigkeit vertragen«, sagte Irma.
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»Dann mußt du unbedingt das Steak probieren, das im Dachterrassenrestaurant angeboten wird, Schätzchen.« Sie fuhren mit dem Lift nach oben. »Du hast noch nicht mal die kleinste Kleinigkeit gekauft«, sagte Kate vorwurfsvoll, als sie über den dicken Teppich des Warenhausrestaurants schrit‐ ten. »Ich brauche nichts«, entgegnete Irma. »Ich habe alles.« »Das gibt es nicht. Keine Frau hat alles.« Irma hob die Schultern. »Ich bin eben wunschlos glücklich.« »Vielleicht finden wir nach dem Essen etwas, dem du nicht widerstehen kannst.« Sie setzten sich an einen Tisch für vier Personen. Irma beachtete den herrlichen Ausblick durch die Panoramascheibe kaum. Für sie war das nichts Neues. Und von den Fenstern ihrer Penthouse‐Wohnung sah sie außer‐ dem wesentlich mehr. Das Steak, das Kate ihr empfohlen hatte, war tat‐ sächlich hervorragend. Kate Jefferson verdrückte anschließend noch ein Dessert und wollte Irma hinterher noch zu einem
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flambierten Pudding verleiten. Da Irma aber ab‐ lehnte, begnügte sich Kate mit einer Tasse Kaffee. Sie sprachen vom bevorstehenden Urlaub. Kate wollte mit ihrem Mann nach Kanada fliegen. Irma erzählte von dem Haus, das Mort gekauft hatte. Kate Jefferson war davon sofort hellauf begeistert. »Irma, das ist ja wundervoll! Ich stelle mir euer Haus traumhaft vor. Du wirst dort den schönsten Urlaub deines Lebens verbringen und als neuer Mensch nach New York zurückkommen.« Irma betrachtete angelegentlich ihre Hände, die auf dem Tisch lagen. Für sie war es fraglich, ob sie von Florida jemals wieder zurückkommen würde. Wenn sie an den Mann im strömenden Regen dachte und daran, wie haßerfüllt er sie angesehen hatte, als wollte er sie auf der Stelle töten, war sie arg im Zweifel, ob es nach den Ferien eine Wie‐ derkehr geben würde. Aber sie sprach nicht mit Kate darüber, denn sie hätte damit ja doch nur riskiert, daß Kate sie aus‐ gelacht hätte. »Zwei Monate in der Wildnis«, schwärmte Kate Jefferson. Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Das ist so furchtbar romantisch, Irma.«
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»Ich habe dich immer für einen nüchternen, realis‐ tischen Typ gehalten.« Kate lachte. »So schlecht kennst du mich? Schätz‐ chen, ich brauche nur ein paar Palmen, die leise im Wind rauschen, ein bißchen Gitarrenklang, dazu genügend Mondschein, und schon kann ein Mann von mir haben, was er will.« »Du solltest dich schämen, so zu reden, Kate«, sag‐ te Irma rügend. Kate Jefferson zuckte mit den Schultern. »So bin ich nun mal, was soll ich dagegen machen?« Seit einigen Minuten hatte Irma das Gefühl, beo‐ bachtet zu werden. Sie hatte mehrmals unauffällig den Blick schweifen lassen, doch sie hatte die Per‐ son, von der sie sich angestarrt glaubte, nicht ent‐ decken können. Da sich dieses Gefühl mehr und mehr verstärkte, machten sich ihre Augen erneut auf die Suche. Diesmal gründlicher. Und sie hatte Erfolg. Es war ihr, als hätte es in ihrem Herzen eine Ex‐ plosion gegeben, und nun raste eine Glutwelle in ihren Kopf, wodurch ihr ganz schwindelig wurde. Ihr Atem ging augenblicklich schneller, und in ih‐ ren Handgelenken hämmerte ein wilder Puls‐ schlag. 58
Kate plapperte wieder, doch Irma hörte nicht mehr, was die Freundin sagte. Sie blickte in die Augen eines Mannes, der fünf Tische von ihnen entfernt saß. Er war allein. Eine elegante, gewinnende Erscheinung, die bei Frauen jeden Alters ankam. Sein Gesicht war männlich‐markant und intelligent. Er hatte aus‐ drucksstarke braune Augen und lange schlanke, ruhelose Hände. »Harry Palmer«, sagte Irma leise, und ein kleines erfreutes Lächeln huschte über ihre Züge. Kate Jefferson stoppte ihren Redeschwall und frag‐ te: »Wie war das eben, Schätzchen? Was hast du gesagt?«Irma gab ihr keine Antwort. Harry Palmer erhob sich in diesem Moment. Er nahm sein Bourbonglas mit und kam an ihren Tisch. Irma war von diesem unerwarteten Wieder‐ sehen restlos begeistert. Harry war mal eine Zeitlang ihre ganz große Liebe gewesen, und sie hatte sich innig gewünscht, daß er ihr einen Heiratsantrag machen würde. Doch damit hatte es nicht geklappt. Sie wußte bis heute nicht, warum nicht. Vielleicht war Harry damals zu feige gewesen, oder hatte er geglaubt, er könne sich damit noch etwas Zeit lassen? 59
Er war Geologe, und ein Forschungsauftrag hatte ihn nach Alaska verschlagen. Irma hatte von dort noch einige Briefe von ihm be‐ kommen, doch dann hatte er zu schreiben aufge‐ hört. Ihre leidenschaftliche Beziehung zueinander war somit eingeschlafen, ohne daß sie hätten sagen können, weshalb es dazu gekommen war. Irma vermutete, daß ihre Liebe zu Harry Palmer nicht stark genug gewesen war, um ihn auch über eine so große Entfernung hinweg an sich binden zu können. Sie hatte hunderterlei Gründe erfunden, weshalb es zwischen ihr und Harry nicht so richtig geklappt hatte – und mitten in dieses seelische Chaos hinein war dann Mort Redford getreten. Aus Trotz und Verzweiflung hatte sich Irma schließlich mit Mort eingelassen. Sie hatte das niemals bereut, aber wenn sie zu sich selbst ganz ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie für Mort Redford noch nie so viel empfunden hatte, wie sie vor einigen Jahren für Harry Palmer empfand. Und dieser Harry Palmer tauchte gerade jetzt, wo sie seelisch mal wieder ganz unten war, aus der Versenkung auf. So als hätte sie um Hilfe gerufen, und er hätte diesen Hilferuf gehört. 60
Er sah Irma mit einem jungenhaften Lächeln an. Sie merkte, daß er nichts von seiner spürbaren Ausstrahlung verloren hatte. Und noch etwas fiel ihr auf: daß sie immer noch mehr für ihn empfand, als eine verheiratete Frau für einen anderen Mann empfinden sollte. »Guten Tag, Irma«, sagte er mit seiner angeneh‐ men, leicht rauchigen Stimme. Kate Jefferson hob den Blick, und ihr gefiel, was sie sah. »He, Irma, sag mir, wer ist denn dieser junge, gutaussehende Mann?« »Das ist Harry Palmer«, sagte Irma. Ihre Stimme klang heiser. Die Stimmbänder gehorchten ihr kaum. »Ein Jugendfreund von mir. Der beste Ju‐ gendfreund, den ich jemals hatte.« »Schätzchen, das ist aber nicht nett von dir, daß du mir den so lange vorenthalten hast!« sagte Kate vorwurfsvoll. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Mr. Palmer? Ich bin Kate Jefferson, Irmas beste Freundin – wie ich hoffe.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miß Jefferson.« »Oh, die Freude ist ganz auf meiner Seite, Harry. Leider heißt es nicht Miß, sondern Mrs. Jefferson.« »Die nettesten Mädchen sind immer am schnell‐ sten unter der Haube«, sagte Harry Palmer lä‐ 61
chelnd. Er seufzte. »Wir Junggesellen haben kein leichtes Leben, das können Sie mir glauben, Kate.« »He, Irma, dein Jugendfreund gefällt mir. Ich glaube, in den könnte ich mich auf der Stelle ver‐ lieben.« »Kate, bitte ...«, sagte Irma verlegen. Harry setzte sich. Irma wußte nicht, was sie sagen sollte. Vor allem in Kates Beisein fiel ihr nichts ein. Kate Jefferson riß die Unterhaltung sogleich an sich. Harry war höflich, aber er sprach nie mehr mit Kate, als unbedingt nötig war. Und plötzlich ging Kate ein Licht auf. Sie griff nach ihrer Handtasche und sagte augenzwinkernd: »Kate Jefferson hat eine wunderbare Antenne, Kinder, deshalb weiß sie auch stets, wann sie stört.« Irma wollte protestieren. »Kate, das ist doch Un‐ sinn ...« »Laß nur, Schätzchen. Ich bin sicher, ihr beide habt euch eine ganze Menge Dinge zu erzählen, die nicht für meine Ohren bestimmt sind. Deshalb wird Kate Jefferson sich diskret zurückziehen.« »Aber du störst wirklich nicht...« »Ich fahre nach Hause«, entschied Kate. »Ruf mich morgen vormittag an, Irma, okay. Ich würde vor 62
Neugier sterben, wenn du mir nicht erzählst, wie dieses unerwartete Zusammentreffen mit diesem hübschen Jungen ausgegangen ist.« Harry erhob sich. »Es hat mich sehr gefreut«, sagte Kate. Sie wies auf Irma. »Machen Sie mir das Küken mit Ihrem Charme nicht schwach, Harry. Damit würden Sie sie nur verwirren ...« »Kate!« sagte Irma ärgerlich. »Okay, okay, ich bin schon weg«, gab Kate Jeffer‐ son zurück und rauschte davon. Harry setzte sich wieder. Irma schüttelte den Kopf. »Sie ist manchmal eine unmögliche Person.« Harry grinste. »Ich fand sie ganz amüsant.« »Mir ging sie auf die Nerven«, sagte Irma zornig. Sie hatte in den letzten Jahren ab und zu an Harry gedacht, und sie hatte sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie ihm wiederbegegnete. Mal hatte sie davon geträumt, daß sie ihn auf einer Party wiedertreffen würde. Dann wiederum war er ihr auf dem Broadway entgegengekommen. Und sie war über diese Vorstellungen immer sehr glück‐ lich gewesen, hatte stundenlang mit Harry über die alten Zeiten geredet... Doch nun ... 63
Sie brachte kein Wort hervor, war befangen wie ein kleines Schulmädchen, das zum erstenmal mit dem Lehrer allein zusammen ist, in den es ver‐ knallt ist. Harry sagte ihr, wie sehr er sich darüber freue, sie wiederzusehen. Er wollte wissen, wie es ihr ging, was sie immer so mache. Allmählich löste sich ihre Verkrampfung. Sie konnte bald frei sprechen. Da waren so viele Erinnerungen, die sie austauschen konnten. Irma lachte manchmal Tränen über die Dinge, die sie gemeinsam angestellt hatten. »Gott, waren wir damals verrückt!« rief sie la‐ chend aus. »Wir hatten zusammen eine Menge Spaß«, sagte Harry. Irma wurde ernst. »Du bist immer noch zu haben?« fragte sie, ohne ihn dabei anzusehen. Er breitete lächelnd die Arme aus. »Das Mädchen, das ich geliebt hatte, wollte mich nicht haben ...« »Das ist nicht wahr!« protestierte Irma. Doch dann hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn sie wollte die Wunde nicht wieder aufreißen, die heute noch wehtun konnte.
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Harry drehte sein Bourbonglas zwischen den Händen. »Ich habe zweimal versucht, in den Ha‐ fen der Ehe einzulaufen, doch beide Male ging die Sache schief, und für einen dritten Versuch fehlt mir einfach der Mut.« »Du bist doch ein Mann, der Erfolg bei den Frauen hat.« »Es gibt leider nur eine Irma, und die ist mir dummerweise entwischt. Seither bin ich auf der Suche nach einer Doppelgängerin von dir, aber die wird sich wohl nur sehr schwer finden lassen.« Irma senkte den Blick. »Ich habe nicht aufgehört, Briefe zu schreiben, Harry.« Er nickte. »Wir wollen nicht mehr darüber reden, okay?« Er fragte Irma, wie es ihrer Familie ging und er‐ kundigte sich, wohin sie in den Ferien reisen wür‐ den. Irma erzählte ihm von dem Haus nahe den Everg‐ lades, verschwieg ihm aber das ungute Gefühl, das sich in ihr eingenistet hatte. Harrys Gesicht fing vor Begeisterung zu strahlen an. »Ihr verbringt den Sommer in Florida?« »Mort möchte zwei Monate da bleiben.«
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»Ich habe von einer Mineralölfirma einen Job übernommen, der mich über die Sommermonate ebenfalls in die Everglades führt. Wir werden ge‐ wissermaßen Nachbarn sein, Irma.« »Das finde ich herrlich!« rief Irma begeistert aus. »Du mußt uns unbedingt besuchen.« Harry Palmer hob warnend den Finger. »Vorsicht, Irma. Es könnte sein, daß ich dich beim Wort neh‐ me.« »Darauf«, erwiderte Irma mit blitzenden Augen, »bestehe ich sogar!« * Los Angeles. Mort Redford stand am Fenster seiner Hotelsuite und blickte auf das Civic Center an der Plaza mit der City Hall, deren achtundzwanzigstöckiger weißer Turm das Wahrzeichen der Stadt ist. Der Filmproduzent sah auf seine Armbanduhr. Er haßte unpünktliche Leute, und Dee Monroe war mal wieder ganz besonders unpünktlich. Redford wandte sich ärgerlich um. Der Raum, in dem er sich befand, war gediegen eingerichtet. Es gab sogar einen offenen Kamin, dessen abge‐ schrägter Abzug mit getriebenem Kupferblech verkleidet war. 66
Mort Redford mixte sich einen Highball. Er nahm einen großen Schluck davon, um seinen Ärger hi‐ nunterzuspülen, der wie ein Kloß in seinem Hals steckte. Es klopfte. Der Produzent wandte sich der Tür zu und rief: »Ja, bitte. Herein.« Ein Bote brachte ein Dutzend dunkelroter Rosen, die Mort telefonisch bestellt hatte. Der Produzent wies auf eine schwere Glasvase und sagte: »Tun Sie sie da hinein.« Nachdem der Bote gegangen war, vergingen wei‐ tere fünf Minuten. Dann klopfte es abermals, und Dee Monroe trat ein. Sie war eine Wucht, und sie duftete intensiv nach Apfelblüten. Ihr Haar war flammendrot. Ihre Figur war makellos. Der üppige Busen konnte vom wei‐ ßen, spitzenbesetzten BH kaum gebändigt werden. Sie trug ein cremefarbenes Kostüm, das ihren sündhaft schönen Leib wie ein Futteral einhüllte. Auf der kleinen Nase trug sie eine riesige Sonnen‐ brille, damit die Leute sie nicht gleich auf den ers‐ ten Blick erkannten. Dee war Schauspielerin.
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Nicht gerade die allerbeste, aber wenn ein Regis‐ seur sich mit ihr ein bißchen Mühe gab, war sie aus der Mittelmäßigkeit herauszuholen. Vor einem Jahr war sie noch ein unbedeutendes Starlet gewesen. Ein gut gewachsenes Mädchen, von denen es in Hollywood nur so wimmelt, und die alle auf ihre große Chance warten. Selbstverständlich sind sie jederzeit bereit, dafür alles zu tun. Dee Monroe war in dieser Hinsicht keine Ausnahme, und sie hatte das große Glück gehabt, daß Mort Redford auf sie aufmerksam wurde. Seither hatte sie in seinen Filmen kleine und mitt‐ lere Rollen gespielt, und seit drei Monaten lag sie ihm ständig mit der Bitte in den Ohren, er möge ihr doch endlich einmal eine Hauptrolle zukom‐ men lassen. Mort hatte zwar eine Menge für Dee übrig, aber er hatte deswegen noch nicht den Verstand verloren. Für eine Hauptrolle war Dee nicht gut genug, und Mort wollte sich von ihr keinen seiner Filme ka‐ puttspielen lassen, deshalb vertröstete er sie immer wieder und riet ihr, auf die Rolle zu warten, die ihr mit einem Schlag zum internationalen Durchbruch
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verhelfen würde, weil sie ihr gewissermaßen auf den Leib geschrieben sein würde. Natürlich wußte Mort, daß er Dee damit nicht ewig hinhalten konnte, aber für eine Weile würde er damit durchkommen, und inzwischen hatte er Zeit, sich eine neue Ausrede zurechtzulegen. Dee mußte an diesem Tag mit dem linken Fuß zu‐ erst aufgestanden sein. Ihre Laune war denkbar schlecht. Sie riß sich die große Sonnenbrille vom Gesicht und pfefferte sie auf das Sofa. Mort überging ihr aggressives Benehmen. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Dabei fiel ihm auf, daß sie angespannt war wie eine Feder. Er sagte: »Ich habe das Geschäft mit den Chicagoer Fernseh‐ leuten telefonisch geregelt. Den Rest wird mein Büro erledigen. Auf diese Weise habe ich zwei Ta‐ ge eingespart, die ich länger mit dir zusammenb‐ leiben kann.« Dee blickte ihren Liebhaber giftig an. »Oh, wie großzügig von dir. Zwei Almosentage mehr, als du mir ursprünglich zugestanden hast. Das haut mich regelrecht um. Kann ich auf den freudigen Schock etwas zu trinken haben?« Mort schmunzelte. »Du scheinst heute besonders scharf geladen zu sein.« 69
»Wer kann immer nur strahlen? Kannst du das?« Mort holte ihr einen Martini trocken. Sie trank immer dasselbe Zeug. Doch heute nicht. Sie schüt‐ telte mürrisch den Kopf. »Keinen Martini heute. Ich möchte etwas Schärferes. Kanadischen Bour‐ bon.« Mort wollte sich von ihrer schlechten Laune nicht anstecken lassen. Er stellte das Martiniglas weg und brachte ihr den Bourbon. Sie trank ihn wie Wasser. Als das Glas leer war, verlangte sie noch einmal dasselbe. Mort grinste. »Hast du vor, dich zu betrinken?« »Vielleicht. Stört es dich?« »Aber nein. Wenn du einen sitzen hast, bist du immer ganz besonders amüsant.« Nach dem vierten Bourbon ließ Dee sich in einen der Sessel fallen und streckte ihre langen, makello‐ sen Beine ziemlich undamenhaft von sich. Sie wies auf ihre riesige Sonnenbrille. »Ich hasse es, mich hier jedesmal wie eine Diebin einschleichen zu müssen.« »Wir müssen vorsichtig sein. Die Leute reden sehr schnell.« »Ich brauche nicht vorsichtig zu sein. Ich bin nicht verheiratet, Baby!« sagte Dee scharf. 70
»Wir waren uns einig, daß ...« »Es kotzt mich allmählich an. Wer bin ich denn? Bin ich der letzte Dreck, daß du mich immer ver‐ stecken mußt? Schämst du dich für mich? Zum Teufel, von diesen Hemmungen habe ich im Bett aber noch nichts gemerkt.« »Dee, ich bitte dich, sprich nicht so vulgär!« stieß Redford ärgerlich hervor. »Dieser Ton paßt nicht zu dir!« »Du hast mir keine Vorschriften zu machen, Mort Redford. Was unsere Beziehungen zueinander an‐ geht, so sind wir gleichberechtigte Partner. Du gibst mir, was du hast, und ich gebe dir, was ich habe – das allerdings mit immer weniger Vergnü‐ gen, wenn ich dir das mal ganz offen sagen darf.« Nun hatte sich Dees schlechte Laune doch auch in Mort Redford festgekrallt. Er trank seinen Highball zornig aus. »Ich glaube, es war ein Fehler, dich heute anzuru‐ fen, was?« sagte er gereizt. »O nein, es war ganz richtig, daß du’s getan hast. Auf diese Weise können wir uns endlich einmal mit aller Deutlichkeit aussprechen.«
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Mort schob die Hände in die Hosentaschen. »Okay. Du willst mir anscheinend sagen, was dir nicht paßt. Also schieß los.« Dee Monroe nickte heftig. »Genau das ist es, was ich heute möchte, Mort. Es paßt mir nicht, immer nur die zweite Geige spielen zu dürfen. Ich hab’ das einfach satt, verstehst du?« Der Produzent hob verärgert die Schultern. »Daran läßt sich leider nichts ändern. Du mußt das wohl oder übel akzeptieren.« Dee rümpfte die Nase und betrachtete ihn mißbil‐ ligend. »Ich hätte mit dir niemals etwas anfangen sollen, Mort. Du bist viel zu sehr verheiratet, wie ich inzwischen herausgefunden habe. Das führt zu nichts.« »Das hast du doch von Anfang an gewußt. Ich ha‐ be dich darüber nie im unklaren gelassen.« Dee schürzte die Unterlippe. »Vielleicht wollte ich es nicht so ganz wahrhaben.« »Unsere Beziehung, wie sie jetzt ist, paßt dir also nicht.« »Sehr richtig.« »Was schlägst du vor?« fragte Mort Redford hei‐ ser.
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»Es wäre das beste, wenn sich unsere Wege von heute an trennen würden, Mort.« Dee sagte das ganz sachlich. Völlig emotionslos. Der Produzent ballte jähzornig die Hände. »Ver‐ dammt, jetzt mach aber schnell, daß du von dei‐ nem hohen Roß herunterkommst, Dee! Du hast dort oben nämlich nichts zu suchen.« »Darüber hast du nicht zu verfügen!« »Du möchtest mir den Laufpaß geben, wenn ich dich richtig verstanden habe.« »Meinetwegen können wir platonische Freunde bleiben.« »Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie du dich als verhungertes Luder mir an den Hals geworfen hast, um eine ganz, ganz kleine Rolle zu bekommen. Du hast mir zu verstehen gegeben, daß du dafür alles tun würdest, und du hast schon in der ersten Nacht bewiesen, daß es dir damit auch tatsächlich ernst war ...« Dee winkte gelangweilt ab. »Kalter Kaffee, Mort. Es hat keinen Sinn, ihn noch mal aufzuwärmen. Heute habe ich es nicht mehr nötig, mich für ein kleines Drecksengagement von einem Kerl wie dir aufs Kreuz legen zu lassen. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.« 73
»Und wieso sind die vorbei? Bist du auf die Rollen, die ich dir verschaffe, nicht mehr angewiesen?« »Dem Himmel sei Dank – nein.« »Du hast ein besseres Angebot?« »Das kann man wohl sagen. Jack Proby hat mir ei‐ nen Heiratsantrag gemacht, und ich gedenke, ihn anzunehmen!« Mort blieb der Mund offen. »Jack Proby?« »Hast du was dagegen?« fragte Dee schnippisch. Proby war einer der bekanntesten Hollywood‐ Regisseure. »Proby ist fünfundsechzig!« sagte Redford ver‐ blüfft. »Das stört mich nicht«, erwiderte Dee. »Vielleicht verletzt das, was ich dir jetzt sagen werde, deine männliche Eitelkeit, aber ich sehe keinen Grund, weshalb ich es für mich behalten sollte: Du warst im Bett kein einzigesmal ein wirklicher Höhe‐ punkt, Mort. Und jetzt halt dich mal ordentlich fest, damit du nicht ins Schleudern kommst: Jack Proby ist trotz seiner fünfundsechzig Lenze in der Lage, bei deinen mäßigen Leistungen noch spie‐ lend mitzuhalten. Kannst du mir also sagen, war‐ um ich ihn nicht heiraten sollte?«
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Mort Redford spürte eine unbändige Wut in sich aufwallen. »Du niederträchtige Nutte! Ich kann dir nicht sagen, wie sehr du mich anwiderst.« Dee erhob sich ungerührt. »Trotzdem habe ich dir eine Menge Spaß bereitet, Baby.« »Sieh zu, daß du rauskommst!« schrie Redford heiser. »Einen Moment noch, Darling. Ich bin mit dir noch nicht fertig.« »Aber ich mit dir. Verschwinde! Geh mir aus den Augen! Ich will dich nicht mehr sehen!« Dee Monroe lachte spöttisch. »Ich wußte, daß du nicht mit Anstand verlieren kannst, Mort.« »Halt den Mund!« »Du kannst es nicht haben, daß dir Jack Proby den Rang abläuft!« »Raus mit dir, du dreckige Hure!« brüllte Redford außer sich vor Wut. Er schwang die Faust hoch. Dee schob trotzig ihr Kinn vor. »Du würdest mich zum Abschied gern verprügeln, wie? Aber selbst dazu bist du nicht Manns genug!« Der Produzent schäumte beinahe über. »Ich warne dich!« krächzte er wild. »Dee, ich warne dich!« »Wenn wir schon dabei sind, machen wir gleich gründlich Tabula rasa. Vielleicht wird es dir 75
eine Lehre für die Zukunft sein. Ich finde es lächer‐ lich, wie du überall mit deiner dummen kleinen Tochter angibst. In meinen Augen ist sie nichts weiter als eine dämliche Gans, die genauso von je‐ dem Kerl zu haben ist wie ich. Und deine schein‐ heilige Frau? Was denkst du, mit wie vielen Kerlen die schon hinter deinem Rücken gepennt hat!« »Schluß, Dee!« knurrte Mort Redford. Er war der Weißglut nahe. Doch das Mädchen fand noch immer kein Ende. Sie merkte nicht, daß sie damit eine verhängnisvol‐ le Gefahr heraufbeschwor. »Ich finde es außerdem lächerlich, daß wir alle deine Ideen immer großar‐ tig finden müssen, selbst wenn sie Scheiße sind ...« »Es ist genug, Dee!« fauchte Mort. »... und du kannst mir mit deiner doppelbödigen Moralauffassung ein für allemal gestohlen blei‐ ben!« schrie ihm die Schauspielerin wild ins Ge‐ sicht. Er konnte sich nicht mehr länger beherrschen. Dee hatte nicht damit gerechnet, daß er sie schla‐ gen würde, aber er konnte in diesem Augenblick nicht anders. Er mußte sich Luft machen. Er mußte dieses Ventil öffnen, sonst hätte ihn die maßlose Wut, die in ihm brodelte, in Stücke gerissen. 76
Mit einem heiseren Aufschrei warf er sich auf das Mädchen. Seine Faust traf Dees Kinn. Die Wucht des Schla‐ ges warf sie weit zurück. Mort Redford setzte nach. Dee wollte gellend um Hilfe schreien, doch ehe sie einen Ton herausbrachte, traf sie ein zwei‐ ter, weit kräftigerer Schlag am Kinnwinkel. Wie ein Stück Holz kippte sie nach hinten weg. Sie landete mit dem Hinterkopf auf der roten Backsteineinfassung des offenen Kamins und war auf der Stelle tot. Redford wußte noch nicht, daß sie nicht mehr leb‐ te. »Du verkommenes Biest!« fauchte er mit ver‐ krampften Fäusten. »Jetzt hast du die Prügel be‐ kommen, die dir schon lange gebührten. Ich hätte Lust, dich noch weiter zu verdreschen, aber ein Mann wie ich sollte sich an einer Kanaille wie dir nicht dreckig machen!« Er atmete schwer. Schweißperlen glänzten auf sei‐ ner Stirn. Er stieß das Mädchen mit dem Fuß leicht an. »Es hat keinen Zweck, mir die Ohnmächtige vor‐ zuspielen. Darauf falle ich dir nicht herein. Steh auf und mach, daß du rauskommst. Ich will dich nicht mehr sehen, und ich schwöre dir jetzt bei al‐ 77
lem, was du willst, daß ich nichts unversucht las‐ sen werde, um dich in der Branche fertigzuma‐ chen. Ich habe eine Menge Freunde, wenn ich mit denen gesprochen habe, bist du im Filmgeschäft ein für allemal erledigt. Dann kann dir auch dein seniler Freund Jack Proby nicht mehr helfen!« Dees Reglosigkeit machte Redford schließlich doch stutzig. Er stieß sie abermals an. »Steh jetzt auf, Dee ... Dee! Zum Henker, jetzt ist es aber genug mit den ge‐ schmacklosen Scherzen!« Er beugte sich über das Mädchen. »Dee?« Er tätschelte ihre Wangen. Sie reagierte nicht. »Dee!« Ihm wurde kalt. »Herrgott noch mal, so fest habe ich ja gar nicht zugeschlagen! Dee! Komm zu dir! Dee, ich bitte dich ...« Mort Redford sank neben der Schauspielerin auf die Knie. »Um Himmels willen, Dee, mach keine Sachen ...« Der Produzent faßte unter ihren Kopf, um ihn hochzuheben. Etwas Warmes, Klebriges näßte sei‐ ne Finger. Blut!
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»Dee!« schrie Mort Redford erschrocken. »Liebe Güte, Dee, das – das hab’ ich nicht gewollt! Gott ist mein Zeuge!« Er glaubte, das Mädchen wäre ohnmächtig und hätte eine Platzwunde am Hinterkopf. Daß Dee Monroe tot sein könnte, dieser Gedanke kam ihm vorläufig noch nicht. Ächzend hob er sie hoch und trug sie zum Sofa. Dort breitete er ein Taschentuch über die Lehne und bettete ihren Kopf darauf. Er holte ein Glas Whisky und versuchte ihn dem Mädchen einzuflößen. Doch der Schnaps rann ihr wieder aus dem Mund und tropfte vom Kinn auf das helle Kostüm. Er brauchte zehn Minuten, um zu begreifen, was mit Dee geschehen war. Als er die Katastrophe in ihrem vollen Umfang er‐ kannt hatte, schlug er die Hände verzweifelt vors Gesicht und weinte. »Das habe ich doch nicht gewollt!« schluchzte er immer wieder. »Das lag nicht in meiner Absicht. Dee, warum mußte es nur dazu kommen? Warum hast du mich so sehr gereizt, bis ich kaum noch wußte, was ich tat? Warum hast du das getan, Dee? Warum?« Seine Kehle war wie zugeschnürt. 79
Er war ratlos. Was sollte er jetzt bloß tun? Die Polizei verständi‐ gen? Unmöglich. Dann war er für sein Leben rui‐ niert. Mort dachte an January und Irma. Auch sie hätten das hier büßen müssen. Zwei unschuldige Mäd‐ chen. Wie kamen sie dazu? Nein. Dee war es nicht wert, daß er sich der Polizei stellte. Er hatte sie zwar umgebracht, aber er fühlte sich nicht als Dees Mörder. Totschlag im Affekt war es gewesen. Eine solche Tat wurde von denRichtern wesentlich mil‐ der beurteilt als zum Beispiel vorsätzlicher Mord. Dennoch würde es Schlagzeilen in der gesamten Weltpresse geben, und hinterher würde niemand mehr mit Mort Redford Geschäfte machen wollen. Die Polizei zu informieren war also ein Schritt, den er nicht tun konnte. Das bedeutete, daß er sich die Leiche selbst vom Hals schaffen mußte. Dee konnte nicht hier liegen bleiben. Aber wohin mit ihr? Mort trank Whisky, um sich zu beruhigen. Gleich‐ zeitig aber wußte er, daß er nicht zuviel trinken durfte, sonst würde er nicht fähig sein, Dee unbe‐ merkt fortzubringen. 80
Wohin mit der Leiche? Mort Redford zermarterte sich den Kopf. Er überlegte, daß es ihm unmöglich sein würde, die Tote spurlos verschwinden zu lassen. Das be‐ deutete, daß die Polizei das Mädchen früher oder später entdecken würde, und dann würde Mord‐ alarm gegeben ... Es sei denn, die Polizei würde von vornherein aus‐ schließen müssen, daß Dee Monroe ermordet wurde. Und wie konnte man die Polizei dazu bringen? Indem man ihr einen Unfall unterschob. Einen Unfall mit tödlichem Ausgang! Das war es. Das war die Lösung. Das war die Ret‐ tung! Mort Redford eilte zur Tür. Er öffnete sie vorsich‐ tig und warf einen Blick auf den Gang hinaus. Sein Streit mit Dee schien von niemandem gehört wor‐ den zu sein. Er sah sich um. Dort lag Dee. Steif und langsam erkaltend. Mort redete sich ein, das Mäd‐ chen habe auf eine ganz verrückte Art Selbstmord verübt. Er stahl sich aus seiner Suite und fuhr mit dem Lift zur Tiefgarage hinunter. Niemand sah ihn, als er sich in Dee Monroes zyklamefarbenen Impala setzte. Dee schloß ihren Wagen niemals ab,
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und sie ließ auch stets den Schlüssel im Zünd‐ schloß stecken. Mort startete den Motor. Er ließ den Wagen bis zum Fahrstuhl rollen und kehrte anschließend in seine Suite zurück, um Dee zu holen. Sie war schwer. Er trug sie keuchend auf seinen Armen und flehte den Himmel an, er möge verhindern, daß ihm auf seinem Weg zur Tiefga‐ rage jemand begegnete. Mort hatte Glück. Kein Mensch begegnete ihm. Atemlos schleppte er das tote Mädchen zum Impala. Er setzte sie auf den Beifahrersitz. Sie rutschte gegen die Tür, als er diese zuschlug. Seltsam, dachte Mort Redford. Sie sieht nicht aus, als wäre sie tot. Man könnte meinen, sie würde nur schlafen. Hastig umrundete der Produzent den Wagen. Abermals startete er den Motor. Während er behutsam Gas gab, wischte er sich nervös den Schweiß von der Stirn. Augenblicke später erreichte er die Auffahrt. Eine schmale, en‐ ge, graue Betonspirale, die in eine Einbahnstraße mündete.
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Redford verließ die Stadt in Richtung San Diego. Er fuhr so, daß kein Verkehrspolizist einen Grund gehabt hätte, ihn anzuhalten. Kurz hinter San Juan Capistrano entdeckte er eine schmale, steil abfal‐ lende Uferstraße, die einige enge, unübersichtliche Kurven aufwies. Hier sollte es geschehen. Diese Stelle war geradezu prädestiniert für Mort Redfords Vorhaben. Weit und breit kein Haus. Steilküste. Tief unten die donnernde Brandung. Obwohl Redfords Nerven heftig vibrierten, blieb er eine Zigarettenlänge im Impala sitzen. Er wollte ganz sichergehen, daß ihn niemand beobachtete. Nachdem er davon überzeugt war, daß es keinen unerwünschten Zuschauer gab, stieß er den Wa‐ genschlag auf und stieg aus. Nun zerrte er Dee vom Beifahrersitz herüber. Das war ein hartes Stück Arbeit. Endlich saß Dee hinter dem Volant. Mort Redford wischte mit seinem Taschentuch alles ab, was er angefaßt hatte. Mit dem Taschentuch löste er dann die Handbremse. Der Impala fing sofort zu rollen an. Mort gab der Tür hastig einen Schubs und sprang schnell zurück. Schneller, immer schneller rollte 83
der zyklamefarbene Wagen. Schon in der ersten Kurve verließ er die Fahrbahn. Er durchstieß ein hölzernes Geländer und sprang dann förmlich die Klippen hinunter. In einem weiten Bogen flog der Wagen durch die Luft. Wenige Sekunden später kam der Aufprall, dem eine dumpfe Explosion und eine grelle Stichflamme folgten. Mit einem Schlag brannte der ganze Wagen – und mit ihm verbrannte Dee Monroe. Ein Unfall, würde die Polizei denken. Und genau das hatte Mort Redford damit bez‐ weckt. * Er reiste noch am selben Tag aus Los Angeles ab. Irma freute sich darüber, daß er früher als vorge‐ sehen nach Hause zurückgekehrt war, denn nun hatte ihre Langeweile ein Ende. Sie erzählte von Harry Palmer, den sie unverhofft wiedergetroffen hatte. Mort kannte Harry vom Hörensagen. »Er geht im Auftrag einer Mineralölfirma in die Everg‐ lades«, erzählte Irma ihrem Mann. »Ich habe ihm vorgeschlagen, uns mal in unserem Haus zu besu‐ chen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Mort lächelte abgespannt. »Ich wollte meinen Vor‐ gänger immer schon mal kennenlernen.« 84
»Er ist sehr nett.« »Davon bin ich überzeugt.« »Er wird dir gefallen.« »Muß er das?« »Es würde mich freuen, wenn du ihn magst. Es wäre mir peinlich, wenn du ihn nach zwei Stunden schon hinauswerfen würdest.« Mort küßte Irma auf die Stirn. »Das tu’ ich be‐ stimmt nicht, schließlich weiß ich, was sich ge‐ hört.« Irma schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich liebe dich, Mort. Warum haben wir immer noch kein Kind miteinander?« Mort blickte seine Frau verwirrt an. »Wir haben January.« »Ich mag January sehr, aber sie ist nicht mein Fleisch und Blut. Mort, ich hätte so gern ein Baby von dir ...« Er schmunzelte. »Laß uns in unserem Haus noch mal darüber reden, okay? Wir wollen frei, unbe‐ schwert und ausgeruht sein, wenn wir darange‐ hen, ein Prachtexemplar in die Welt zu setzen.« »Okay«, flüsterte Irma. Mort löste sich von ihr. Sie erinnerte sich an etwas, das sie ihm sagen mußte. »Da war ein Anruf für dich. Joe Whitehead.« 85
Whitehead war ein guter Freund von Mort. Au‐ ßerdem war er Morts Pressechef in Hollywood. »Joe? Was wollte er denn?« »Ein junge Schauspielerin, die du unter Vertrag hast, hatte einen tödlichen Autounfall. Ihr Name war Dee Monroe ... Mort, was ist mit dir? Du bist auf einmal ganz blaß.« Redford setzte sich und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Dee Monroe war ein aufstrebendes Talent«, sagte er. »Sie hätte eine großartige Zukunft gehabt. War ein nettes, unkompliziertes Ding ...« »Hast du sie näher gekannt?« Mort schüttelte langsam den Kopf. »Sie war die Freundin von Jack Proby. Mehr als das sogar. Pro‐ by wollte sie heiraten. Wie ist das passiert, Irma?« »Joe sagt, sie ist mit ihrem Wagen zwischen San Juan Capistrano und San Diego die Klippen hinun‐ tergestürzt.« »War sie betrunken?« »Das weiß Joe nicht.« »Vielleicht hatte sie was eingenommen.« »Du glaubst, sie könnte unter Drogen gestanden haben?« fragte Irma.
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»Irgendein Barbiturat vielleicht. Kein Rauschgift.« Mort seufzte. »Armes Mädchen. Das Leben hätte ihr noch so vieles bieten können.« Danach sprachen sie kein Wort mehr über Dee Monroe. In der darauffolgenden Nacht lag Irma in Morts Armen, und er ging sehr sanft mit ihr um, als be‐ fürchte er, ihr weh zu tun. Sie stammelte ihm un‐ zählige Liebesworte ins Ohr und wünschte sich, diese Nacht würde nie zu Ende gehen, denn sie war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Später lag Mort noch lange wach, während Irma mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen schlief. Er dachte an Dee, er erlebte den Streit noch einmal, und er schlug sie abermals nieder. Diese Szene wiederholte sich x‐mal. Fortwährend starb Dee vor seinem geistigen Auge. Schweißnaß klebte sein Py‐ jama an seinem Körper. Bald konnte er nicht mehr länger in seinem Bett liegenbleiben. Er stand auf, ohne daß Irma es merkte, und stahl sich aus dem Schlafzimmer. Im Living‐room setzte er sich in einen Ohrensessel und rauchte eine Zigarette.
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Er zwang sich, an etwas anderes zu denken und konzentrierte sich auf das Haus, das er gekauft hatte. Aber auch dazu fielen ihm nur negative Dinge ein: jener Blutfleck, den Goll so hastig weggewischt hatte; der Mann, den January am Fenster gesehen haben wollte – ein Mann, der keine Fußspuren hin‐ terließ; und die schwarze Kapelle, die dem Haus düster und unheimlich gegenüberstand. Langsam machte sich bei ihm eine bleierne Mü‐ digkeit bemerkbar. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, kehrte aber nicht zu Irma ins Schlafzimmer zu‐ rück, sondern blieb in dem bequemen Sessel sit‐ zen. Irgendwann dämmerte er dann allmählich hi‐ nüber, ohne es zu merken. Wieder war er in Florida, und er sah sich der schwarzen Kapelle gegenüber, die er mit einem‐ mal zu fürchten begann. Zwischen den schwarzen Mauerfragmenten war ein geisterhaftes Wispern und Raunen zu hören. Mit einer geradezu verblüf‐ fenden Klarheit wußte Mort Redford auf einmal, daß in dieser vom Feuer zerstörten Kapelle das Unheil zu Hause war.
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Plötzlich vernahm Mort ein gespenstisches Ki‐ chern. Es war dermaßen real, daß er erschrocken die Augen aufriß. Der Produzent war nicht sicher, ob er wachte oder träumte. Eigentlich konnte es sich nur um einen Traum handeln. Um einen Alptraum, der von der schwarzen Ka‐ pelle aktiviert worden war. Alles um ihn herum mutete ihn unwirklich an. Er fand sich nicht in sei‐ nem New Yorker Penthouse, sondern in der Halle des von Goll gekauften Hauses. Alle Möbel waren mit diesen gespenstischen Laken zugedeckt, und mitten in diesem großen Raum stand ... Dee Mon‐ roe! Ihre Augen funkelten böse. Sie kam langsam auf Mort Redford zu. Der Produ‐ zent streckte abwehrend die Hände aus. Er schüt‐ telte entsetzt den Kopf. »Das gibt’s doch nicht!« stöhnte er verzweifelt. »Das ist unmöglich! Du lebst nicht mehr! Du bist tot! Tot!« »Ja!« fauchte Dee Monroe feindselig. »Ja, Mort Redford. Ich bin tot, weil du mich ermordet hast!« »Es war ein Unglücksfall!« verteidigte sich der Filmproduzent krächzend. Er starrte die Erschei‐ 89
nung zitternd an. Dees Körper war transparent. Ein Geist war das! Redford wußte nicht, wie er sich Gewißheit ver‐ schaffen konnte, daß er das im Augenblick tatsäch‐ lich erlebte. Oder war es doch nur ein schlimmer Alptraum? »Du hast mich umgebracht, Mort Redford!« zischte das durchscheinende Mädchen. »Dafür werde ich mich eines Tages an dir rächen!« »Du bist selbst daran schuld, daß es dazu gekom‐ men ist!« verteidigte Mort sich verzweifelt. »Du hättest gehen sollen, als ich es dir befahl! Statt des‐ sen bist du geblieben und hast mich bis zur Weißg‐ lut gereizt!« »Ich bin geblieben, weil du mir nichts zu befehlen hattest, Mort!« »Nun siehst du, was daraus geworden ist!« keuch‐ te Redford. »Ich werde mich an dir rächen!« kündigte Dee Monroe an. »Jawohl, Mort, du hörst richtig! Ich werde Rache nehmen für das, was du mir angetan hast! Du wirst sterben! Schon sehr bald! Bereite dich auf dein Ende vor, du kannst es nicht verhin‐ dern!«
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Redford fuhr sich mit der Hand über die flattern‐ den Augen. Es schien, als wollte er die Vision da‐ mit fortwischen, doch Dee blieb. »Wir sehen uns wieder, Mort«, sagte die Tote ge‐ hässig. »In deinem Haus in Florida. Dort wird sich dein Schicksal erfüllen!« Wieder kicherte der Spuk schauderhaft. Dann zerfaserte die Gestalt und war wenige Au‐ genblicke später nicht mehr zu sehen. Mort Redford schreckte hoch. Was war das nun gewesen – Traum oder Wirk‐ lichkeit? Verdattert blickte er in die Dunkelheit. Die vertraute Umgebung seiner New Yorker Pen‐ thouse‐Wohnung umgab ihn. Licht flammte plötzlich auf. Mort zuckte erschrocken zusammen. Irma stand in der Tür. Ihr durchsichtiges Nachthemd umwallte den schlanken Körper. »Mort, ist dir nicht gut? Du siehst ganz verstört aus!« Der Produzent schüttelte verwirrt den Kopf. »Es ist nichts, Darling. Jedenfalls nichts, weshalb du dir Sorgen machen müßtest. Ich konnte nicht ein‐ schlafen, deshalb ging ich in den Living‐room.«
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Irma schaute sich suchend um. »Ich dachte, ich hätte dich mit jemandem reden gehört.« Kein Alptraum also, schoß es dem Produzenten durch den Kopf. Er machte eine Handbewegung, die den ganzen Living‐room einschloß. »Wie du siehst, ist niemand hier, Irma. Vielleicht habe ich ein Selbstgespräch geführt, ohne es zu merken. Es tut mir leid, daß du davon wach geworden bist.« »Kommst du jetzt wieder ins Bett?« Mort wollte nein sagen, doch er nickte und trottete hinter seiner Frau wieder ins Schlafzimmer, ob‐ wohl erwußte, daß er mit Sicherheit in dieser Nacht kein Auge mehr zutun würde. * Die Tage bis zum Urlaubsantritt verflogen für Irma Redford viel zu schnell. Woche um Woche ging herum. Mort erledigte die meisten seiner Geschäfte per Telefon, und wenn es irgend ging, trachtete er, alle Besprechungen in New York abzuhalten, so daß er abends immer mit Irma zusammen sein konnte. Und dann kam der Tag der Abreise. War das eine Hektik. Während Mort Redford seine Tochter vom Internat abholte, packte Irma zu Hau‐ se die Koffer. Das war eine Arbeit, die einen hal‐ 92
ben Tag ausfüllte. Dies durfte nicht vergessen werden, das mußte unbedingt mit. Irma hakte all die Dinge, die sie in die Koffer tat, sofort mit einem Rotstift ab, damit sie die Übersicht nicht verlor. Es gab so viele Handgriffe zu tun, daß die junge Frau kaum zum Denken kam, und das war gut so, denn sonst hätte sie ja doch nur wieder an jene Dinge gedacht, die ihr selbst auf diese große Dis‐ tanz Angst einflößten. Gegen Mittag war Irma fix und fertig. Mit ihrer Arbeit und auch körperlich. Sie hatte Mort gebe‐ ten, mit January nicht zu früh nach Hause zu kommen, und er hielt sich zum Glück daran. So hatte Irma noch Zeit, kurz unter die Dusche zu ge‐ hen und sich anschließend neu anzukleiden. Als Mort dann schellte, hatte Irma bereits eine Zi‐ garette geraucht und einen Scotch getrunken. Die übliche überschwengliche Begrüßung fand statt, als January das Penthouse betrat. Sie umarm‐ te ihre Stiefmutter, drückte sie innig und küßte sie auf beide Wangen. »Wieder einmal: Willkommen daheim, Kleines«, sagte Irma sanft. Mort wies auf die im Wohnzimmer fein säuberlich zusammengestellten Gepäckstücke und lobte: »Du 93
warst sehr fleißig, Irma. Dafür hast du jetzt einen Wunsch frei.« Als Mort das sagte, schoß Irma der einzige Wunsch durch den Kopf, den sie hatte: Laß uns zu Hause bleiben, Mort, wollte sie sagen. Laß uns nicht nach Florida gehen. Aber January und Mort freuten sich schon so sehr auf diesen Urlaub, daß es Irma einfach nicht übers Herz brachte, ihnen diese Freude zu verderben. Deshalb sagte sie: »Tja, wenn ich tatsächlich einen Wunsch frei habe, dann würde ich liebend gern bei Antonio eine Pizza capricciosa essen.« »Schon erfüllt«, sagte Mort lachend. Bevor sie das Penthouse‐Apartment verließen, rief Mort Redford noch schnell eine Full‐Service‐Firma an. Irma und January gingen zu Antonio voraus. Sein Lokal war gleich an der nächsten Ecke, und während sie dort auf Mort warteten, wartete dieser auf die Männer, die er angefordert hatte. Sie waren in fünfzehn Minuten da. Mort trug ihnen auf, das Gepäck zum La Guardia Airport zu bringen und für ihn aufzugeben, und anschließend begab er sich ebenfalls zu Antonio. Zweieinhalb Stunden später saßen sie in der Ma‐ schine, die nach Tampa flog. Sie schwiegen. Jeder 94
hing seinen Gedanken nach. Seltsamerweise dach‐ ten sie alle ungefähr dasselbe, ohne es zu wissen. January dachte an den Mann, den sie am Fenster gesehen zu haben glaubte. Mort dachte an den Blutfleck in der Wohnhalle. Und Irma dachte leicht schaudernd an die schwar‐ ze Kapelle, der sie sich gewiß niemals nähern würde. Dafür war sie ihr viel zu unheimlich. Diesmal mietete Mort Redford gleich nach ihrer Ankunft in Tampa einen geländegängigen Wagen samt Fahrer. Das war ein vitaler, in ein schwarzes Lederhemd und mit Nieten besetzte Jeans geklei‐ deter, fast zwergenhafter Mann namens Didi Mondo. Er glitzerte, wenn er sich bewegte, und seine lustig funkelnden Augen wirkten gleichfalls wie Nieten. Er wußte ununterbrochen etwas zu erzählen: über seine Firma, über die beiden ungleichen Chefs, die sich andauernd in die Wolle gerieten, über die neue Sekretärin, die ihre letzte Stelle verloren hat‐ te, weil es in der ganzen Firma keinen Mann mehr gegeben hatte, mit dem sie noch nicht geschlafen hatte. Anschließend redete Mondo über seine Familie. Er ließ kein gutes Haar an seiner Frau und schimpfte 95
über die faulen, streitsüchtigen vier Kinder, deren hungrige Mäuler er kaum zu stopfen in der Lage war. Schaukelnd und wippend rollte der geländegängi‐ ge Wagen die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang. Irma spürte eine unangenehme Beklemmung in sich aufsteigen. Es konnte nicht mehr weit bis zu ihrem Haus sein. Sie erinnerte sich an das schreckliche Unwetter, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte, und ihr Blick glitt suchend über die Dickichtwand, die die Straße begrenzte. Hier irgendwo mußte ihr jener unheimliche Mann erschienen sein. Ob er sich ihr dort noch einmal zeigen würde ? Irma schluckte die Aufregung mühsam hinunter. Nur das nicht. Sie hatte diesen schrecklichen Kerl einmal gesehen, und das reichte ihr. Didi Mondo schlug mit der Hand auf das Lenkrad. »Hat Oliver Goll also doch noch einen Käufer auf‐ gegabelt. Ein tüchtiger Makler, das muß man ihm zugestehen.« »Wieso?« fragte Mort Redford aufhorchend.
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»Ich weiß nicht, wie lange das Haus schon leers‐ teht, aber es muß schon eine ganze Weile sein. Goll war mit vielen Interessenten da, aber keiner von denen wollte nach der Besichtigung anbeißen.« »Vielleicht war ihnen der Preis zu hoch«, sagte Mort. Didi Mondo schüttelte lächelnd den Kopf. »Goll hat das Haus unter seinem wahren Wert angebo‐ ten, dessen müßten Sie sich doch eigentlich be‐ wußt sein, Mr. Redford.« »Und warum hat er das getan?« wollte January wissen. »Weil er ein Mann ist, der ein Objekt eben sofort richtig einzuschätzen vermag«, antwortete der Fahrer. »Diese Abgeschiedenheit ist nicht jeder‐ manns Sache. Es gibt Leute, die haben einfach Angst, mitten in der Wildnis zu leben. Meilenweit kein Mensch, der einem helfen kann, wenn man Hilfe braucht.« »Weshalb sollten wir Hilfe brauchen?« fragte Mort Redford brummig. Mondo zuckte mit den Schultern. »War nur so da‐ hergeredet. Geben Sie nichts darauf, Mr. Redford ... Kann auch sein, daß sich manche Leute von den
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Geschichten abschrecken ließen, die man sich von der schwarzen Kapelle erzählt...« »Was für Geschichten denn?« fragte January inter‐ essiert. Auch Irma horchte auf. »Ach, davon wissen Sie nichts? Hat Mr. Goll sie Ihnen unterschlagen?« »Scheint so«, knurrte Mort. »Na ja, ich will Ihnen keine Angst machen ...« Mort zog die Brauen ärgerlich zusammen. »Wenn Sie davon schon angefangen haben, dann müssen Sie auch weiterreden, Mr. Mondo!« sagte er scharf. »Glaubt jemand von Ihnen an Gespenster?« fragte der Fahrer. »Über dieses Alter ist sogar meine Tochter hi‐ naus«, erwiderte Mort Redford. Didi Mondo grinste. »Dann ist es ja gut.« »Was ist gut?« fragte January. »Kurz gesagt, es heißt, daß es zwischen den Mauern der schwarzen Kapelle spuken soll. Man‐ che Leute haben eine blühende Phantasie. Die sau‐ gen sich in einem solchen Fall die haarsträubend‐ sten Geschichten aus dem Finger, von denen mei‐ ner Ansicht nach keine einzige wahr ist. Wenn Sie an solche Dinge nicht glauben, werden Sie folglich 98
auch keine Angst vor dem Spuk haben, den es nicht gibt, mit dem nur mal irgendein Spinner an‐ gefangen hat, die Leute verrückt zu machen. Sie wissen ja, wie das ist. Wenn mal ein Gerücht im Umlauf ist, dichtet jeder, bevor er es weitererzählt, noch schnell etwas dazu, und am Ende erfährt man Dinge, die so irre sind, daß man darüber bloß lachen kann.« January wollte wenigstens eine dieser Geschichten hören. Vielleicht hätte Mondo ihr eine erzählt, wenn sie nicht im nächsten Augenblick die weite Lichtung erreicht hätten, auf der das Haus stand, das sie nun ganze zwei Monate lang bewohnen wollten. Irma warf einen scheuen Blick zur schwarzen Ka‐ pelle, und ihr Körper überzog sich sofort mit einer unangenehmen Gänsehaut. Nun waren sie hier. Hier, wo Irma nicht sein wollte, und die junge Frau hatte den peinigenden Eindruck, daß es für sie alle ab sofort kein Zurück mehr gab. Das Un‐ heil, das in jener schwarzen Kapelle wohnte, wür‐ de nunmehr seinenunaufhaltsamen Lauf nehmen, und kein Mensch konnte im Augenblick wissen, wie diese Ferien hier enden würden. 99
Didi Mondo langte beim Gepäckabladen tüchtig zu. Er trug mit Mort die zahlreichen Koffer und Reise‐ taschen ins Haus und war mit dem Trinkgeld, das er von dem Produzenten bekam, mehr als zufrie‐ den. January stand draußen vor dem Haus. Ihr Blick war starr auf das schwarze brüchige Ge‐ mäuer der ausgebrannten Kapelle gerichtet. Eine unbeschreibliche Faszination ging davon aus. Ja‐ nuary konnte sich dieses lockenden Einflußes nicht entziehen. Sie hatte plötzlich den unbändigen Wunsch, die Lichtung zu überqueren und sich zwischen den Mauerfragmenten der schwarzen Kapelle umzusehen. Dort mußte etwas sein, daß sie magisch anzog. Sie konnte kaum noch widerstehen. Im Haus sagte Didi Mondo: »Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Aufenthalt. Erholen Sie sich gut und genießen Sie die wohltuende Stille dieses einsamen Ortes.« Er kam aus dem Haus, und ihm fiel sofort Janua‐ rys starrer Blick auf. Lächelnd kam er auf das Mädchen zu. »Miß January ...«
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»Ja, Mr. Mondo?« January blinzelte verwirrt, als hätte sie der Fahrer aus tiefen Gedanken gerissen. Er leckte sich die Lippen und tänzelte von einem Bein auf das andere. Verlegen mit den Schultern zuckend meinte er: »Ich halte zwar nichts von die‐ sen Geistergeschichten ... Aber ich bin ein vorsich‐ tiger Mann, deshalb würde ich dieser Ruine fern‐ bleiben, und dasselbe rate ich auch Ihnen. Sicher ist sicher, nicht wahr? Man kann schließlich nicht wissen ... Ich wünsche auch Ihnen einen erholsa‐ men Urlaub.« »Vielen Dank, Mr. Mondo.« »Vielleicht sehen wir uns mal wieder.« »Vielleicht.« »Also dann. Und – denken Sie an das, was ich Ih‐ nen gesagt habe.« Er schwang sich in seinen ge‐ ländegängigen Wagen, wendete das Fahrzeug und fädelte es dann wieder in die schmale Straßen‐ schneise ein, die nach Tampa zurückführte. Bevor er verschwand, winkte er noch einmal, aber Janua‐ ry winkte nicht zurück. Sie blickte bereits wieder fasziniert und geistesabwesend zur schwarzen Ka‐ pelle hinüber.
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Drinnen im Haus versuchten Mort und Irma den Räumen ihren persönlichen Stempel aufzudrü‐ cken. Sie räumten die Koffer aus und hängten ihre Sa‐ chen in den Schrank. Mort rief January mehrmals herein, damit auch sie sich um ihr Gepäck küm‐ merte. Das Mädchen machte das nur widerwillig, war in einer halben Stunde mit allem fertig und kehrte danach dorthin zurück, wo Didi Mondo sich von ihr verabschiedet hatte. Irma rumorte in der Wohnhalle. Sie nahm die Laken von den Möbeln, damit der Raum ein wohnliches Aussehen bekam. Die Dämmerung setzte ein. Mort schaltete das hauseigene Stromaggregat im Keller ein und knipste sodann im Erdgeschoß nahezu alle Lam‐ pen an. Mit dem sachte entschwindenden Tages‐ licht wurde Januarys Wunsch, zur schwarzen Ka‐ pelle zu gehen, merklich größer. Didi Mondos Rat, dort nicht hinzugehen, war ihr zum linken Ohr hi‐ nein‐ und beim rechten Ohr wieder herausgegan‐ gen. Er hatte zwar behauptet, nicht an Geister zu glauben, doch mit den Worten »Man kann schließ‐ lich nicht wissen ...« hatte er eindeutig zugegeben, daß er zumindest nicht ganz sicher war, daß an 102
den Geschichten, die er über die schwarze Kapelle gehört hatte, wirklich nichts dran war. Langsam setzte sich January in Bewegung. Sie merkte es kaum. In dem verfilzten Wald, der die Lichtung einfriedete, kreischte ein Vogel, als wollte er January warnen. Sie ging weiter. Der Himmel nahm eine düstere Färbung an. Schwarz und drohend ragten die Mauern der unheimlichen Ruine auf, von der sich das blonde Mädchen so stark angezogen fühlte, und je näher sie der schwarzen Kapelle kam, desto fester schlug sie dieses alte, häßliche Gemäuer in ihren Bann. Irma legte sämtliche Laken in eine große Eichen‐ truhe, die vor einem der hohen Fenster stand. Dann warf sie einen Blick nach draußen. In derselben Sekunde stockte ihr der Atem. January! Das Mädchen mußte den Verstand verlo‐ ren haben. January überquerte die Lichtung. Sie ging geradewegs auf die schwarze Ruine zu. Irmas Sorge erlaubte ihr nicht, dabei zuzusehen, wie Ja‐ nuary ins Verderben lief. Sie ließ den Truhende‐ ckel zufallen und hastete aus dem Haus. »January!« rief sie heiser. Das Mädchen hörte sie nicht – oder wollte sie nicht hören. 103
Irma rannte hinter January her. Sie glaubte zu wis‐ sen, daß ihrer Stieftochter großes Unheil drohte, wenn sie diese verfluchte Ruine betrat, deshalb wollte sie January von diesem gefährlichen Vorha‐ ben abbringen. »January!« rief Irma gepreßt. »January, bleib ste‐ hen! Warte auf mich!« Das Mädchen hielt etwa fünfzig Meter vor der schwarzen Kapelle an und wandte sich nach Irma um, die auf sie zugekeucht kam. »Sag mal, hast du den Verstand verloren?« fragte Irma atemlos. »Wieso?« »Wir sind kaum hier angekommen, da startest du bereits auf diese verfluchte Ruine los!« January lachte belustigt. »Du gehörst wohl auch zu den Leuten, die sich vor Geistern fürchten, was?« »January, mit solchen Dingen scherzt man nicht.« »Ich schon, weil ich an diesen Blödsinn nämlich nicht glaube.« »Geh nicht in die Ruine, January.« »Ich möchte aber.« »Kehr um! Komm mit mir ins Haus!« bat Irma eindringlich. »Ich möchte nicht, daß dir etwas zu‐ stößt.« 104
»Was sollte mir in der schwarzen Kapelle denn schon passieren?« »Weiß man es?« January kicherte. »Didi Mondo hat dir einen bösen Floh ins Ohr gesetzt, gib’s zu, Irma.« »Mit dieser unheimlichen Ruine ist irgend etwas nicht in Ordnung«, sagte Irma nervös. »Ich werde mich persönlich davon überzeugen und dir anschließend berichten, okay?« Irma wurde wütend, weil sie sich bei January nicht durchsetzen konnte. Bisher hatten sie das denkbar beste freundschaftliche Verhältnis zueinander ge‐ habt. Es hatte kaum mal Differenzen zwischen ih‐ nen gegeben. January hatte zumeist die Klugheit der um sechs Jahre älteren Stiefmutter akzeptiert und sich nach ihrem vernünftigen Willen gerichtet. Doch nun beharrte January zum erstenmal stör‐ risch auf ihrem Standpunkt. Irma befremdete das, und sie schrieb es dem unguten Einfluß der schwarzen Kapelle zu, den diese auf January be‐ reits auszuüben schien. Noch nie hatte Irma versucht, January gegenüber autoritär aufzutreten, doch nun glaubte sie, es tun zu müssen. Zum Schutz des allzu unbekümmerten Mädchens, das nicht begreifen wollte, in welche 105
Gefahr es sich begab.»January«, sagte Irma – und es tat ihr leid, diesen schroffen Ton anschlagen zu müssen ‐, »ich verbiete dir, diese Ruine zu betre‐ ten!« Es zuckte ärgerlich in Januarys Gesicht, und es blitzte zornig in ihren Augen. Sie schob trotzig ihr Kinn vor und fauchte ihre Stiefmutter wütend an: »Jetzt hör mir mal gut zu, Irma! Mir wird im Inter‐ nat ein ganzes Jahr lang so ziemlich alles verboten. Ich darf dies nicht tun, mir ist das nicht gestattet – ich darf bloß lernen, essen und schlafen. Du kannst dir denken, daß das nicht gerade das angenehmste Leben ist, aber ich nehme es auf mich, weil ich meinem Vater damit eine Freude machen will und weil mir einleuchtet, daß der Mensch etwas lernen muß, wenn er sich später im Leben behaupten möchte. Aber fang jetzt bloß nicht an, mir auch zu Hause alles mit Verboten zu verleiden, sonst schal‐ te ich auf stur, und ich schwör’ dir, daß du dann bei mir einen verdammt schweren Stand haben wirst!« Damit wandte sich January mit einem schnellen Ruck um und ging weiter. Irma stand wie erschlagen da.
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»January!« sagte sie tonlos. »January, ich will doch nur dein Bestes!« Das Mädchen erreichte die düstere Ruine. Sie fühlte ein eigenartiges Prickeln auf der Haut. Etwas nahm sie in Empfang, gleich nachdem sie das erste Mauerfragment hinter sich hatte. Un‐ kraut wucherte zwischen den über den Boden ver‐ streuten Steinen. Ein geisterhaftes Knistern und Rascheln umgab das furchtlose Mädchen. January schaute sich mit interessierten Augen um. Das schäbige Gemäuer machte großen Eindruck auf sie, aber sie vermochte nicht zu sagen, was ihr daran so sehr gefiel. Die Dämmerung wich einer allmählich zuneh‐ menden Dunkelheit. January schlüpfte durch Öff‐ nungen in den Mauern, die einmal Türen gewesen waren. Sie spürte Leben in dieser Ruine. Diese schwarzen Mauern schienen nicht tot zu sein. Ja‐ nuary hatte den Eindruck, daß die schwarzen Wände, von denen sie umgeben war, atmeten, daß etwas sie beseelte. Das junge Mädchen genoß diese gespenstische Atmosphäre.
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Sie war davon restlos begeistert. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Es war neu für sie, und es war fas‐ zinierend. Die dicht belaubten Äste eines Tropenbaumes rag‐ ten wie die schützenden Finger einer Hand über die schwarze Kapelle. Es rauschte leise in den gro‐ ßen Blättern. Plötzlich glaubte January, hinter sich das Knurren eines Wolfs zu hören. Sie zuckte erschrocken he‐ rum, doch da war nichts als die rasch fortschrei‐ tende Dunkelheit. Sie lächelte. Das kommt davon, wenn man insge‐ heim doch an die Schauermärchen glaubt, die über diese Ruine verbreitet werden, dachte January amüsiert. Sie setzte sich auf einen morschen Balken und schloß die Augen, um die eigenartige Atmos‐ phäre intensiver in sich aufsaugen zu können. Da vernahm sie ganz in der Nähe ein leises Äch‐ zen. Dann ein Stöhnen, als litte jemand schlimme Qualen. Sie riß sofort die Augen auf und erhob sich. Ohne sich zu fürchten, tastete sie sich durch die Dunkel‐ heit, auf die unheimlichen Laute zu. Vor einem finsteren Alkoven blieb sie stehen. Ihre Augen ver‐
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suchten die hier herrschende Schwärze zu durch‐ dringen, doch das gelang nicht. »Ist da jemand?« fragte January mit fester Stimme in die Dunkelheit hinein. Sie bekam keine Antwort. Stöhnen ... »Hallo! Kann ich helfen ?« Das Stöhnen wurde zu einem langgezogenen Seufzen. Dann vernahm January knirschende Schritte. Jemand schien auf sie zuzukommen. Sie stand aufrecht da und wartete. Mit einemmal schwirrten kleine Glühkäfer durch die Finsternis. Sie summten und brummten, stießen gegen die steinernen Mauern, wodurch ein seltsames Ge‐ räusch entstand. Die Schritte erreichten January in diesem Augen‐ blick und verstummten. Nun rieselte es dem Mäd‐ chen , doch kalt über den Rücken, denn sie fühlte deutlich, daß sie jemanden vor sich hatte, den sie nicht sehen konnte. Aber sie hörte ihn atmen. ! Und eine eigenartige Kälte ging von ihm aus. January war sicher, daß sie ihn berühren konnte, wenn sie den Arm ausstreckte. Zunächst wagte sie das nicht zu tun. Aber dann überwand sie ihre
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Hemmung und griff nach der Person in der Dun‐ kelheit. Ihr war, als tauche ihre Hand in Eiswasser. Die Kälte strömte durch ihren Arm und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie klapperte mit den Zähnen und merkte, daß sie sich kaum noch be‐ wegen konnte. Steifgefroren stand sie da. Einer jener schwirrenden Glühkäfer löste sich aus der durch die Dunkelheit tanzenden Schar und flog auf January zu. Durch die Luft schaukelnd kam er näher. Es schien ihm schwerzufallen, den Kurs zu halten. Je näher er kam, desto größer schien er zu werden. Von Fingernagelgröße wuchs er zur Faustgröße. Ein häßliches Insekt mit sechs langen, während des Fluges weit nach hinten gestreckten schwarzen Beinen, an denen borstige Haare wucherten. Ja‐ nuary hatte so ein Tier noch nie gesehen. Es hatte starre Augen an der Spitze von langen, gebogenen Fühlern, und die scharfen Freßwerkzeuge zuckten in widerwärtiger Gier. Mit knatterndem Flügel‐ schlag schwebte das Teufelsinsekt heran. January war es nicht möglich, ihm auszuweichen.
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Sie empfand großen Ekel, als das leuchtende Biest mit vorgestreckten Beinen auf ihrer Brust landete. Sie wollte den Glühkäfer angewidert wegschlagen, doch nach wie vor lähmte diese rätselhafte Kälte ihre Glieder. Verwirrt beobachtete January den häßlichen Käfer. Er krabbelte über ihren Busen und setzte zum gro‐ ßen Entsetzen des Mädchens dann plötzlich seine scharfen Freßwerkzeuge in ihr Fleisch. January spürte einen wahnsinnigen Schmerz durch ihren Brustkorb rasen. Sie wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Das Satansinsekt fraß sich mit unglaublicher Schnelligkeit in die Brust des bestürzten Mädchens hinein. Bald ragte nur noch die Hälfte seines leuch‐ tenden Körpers heraus, und er wühlte sich immer schneller in den Mädchenleib. Augenblicke später schon war er verschwunden. January betrachtete sich ihre weiße Bluse, die we‐ der versengt war noch ein Loch aufwies. Dennoch spürte sie das krabbelnde Tier in sich. Sobald die lähmende Kälte von ihr gewichen war, riß sie hastig ihre Bluse auf. Ihre Haut war glatt und straff wie immer. Der abscheuliche Glühkäfer hatte sie nicht im geringsten verletzt. 111
Wie war es ihm möglich gewesen, in ihren Leib einzudringen, ohne eine Spur zu hinterlassen? January merkte, daß er auf ihr Herz zukroch. »Nein!« stöhnte sie verzweifelt. »Oh, nein! Nur das nicht!« Aber sie hatte keinen Einfluß auf das unheimliche Insekt. Sie dachte an Irmas Worte, und sie schalt sich im Geist eine Idiotin, weil sie nicht auf ihre Stiefmutter gehört hatte. Jetzt wirst du sterben, dachte sie. Dieser Teufelskä‐ fer wird dich töten. Er wird dein Herz auffressen – und ohne Herz kann kein Mensch leben. In diesem Moment erreichte der Käfer Januarys verrückt trommelndes Herz. Ein neuerlicher Schmerz, wesentlich stärker als der vorangegan‐ gene, durchraste ihren jungen, schweißbedeckten Leib. Sie stieß einen krächzenden Schrei aus, der so schwach war, daß er die Ruine nicht verließ. Sie wankte und taumelte. Sie mußte sich an die kalte Steinmauer lehnen, um nicht umzufallen. Du stirbst! schrie es in ihr, während das Biest in ih‐ rer Brust sich immer tiefer in ihr Herz hineinwühl‐ te. Sie glaubte wirklich, zu sterben, doch sie blieb am Leben. 112
Der rasende Schmerz ebbte bald ab. January spürte nichts mehr in ihrer Brust. Fast schien es ihr, als habe sie sich das alles nur einge‐ bildet. Sie richtete sich seufzend auf und blickte sich verwundert um. Die Ruine kam ihr mit ei‐ nemmal nicht mehr fremd vor. Es war ihr, als wäre die schwarze Kapelle ihr Zuhause, als gehöre sie seit vielen Jahren schon hierher. Sie dachte an Irma und empfand Verachtung für sie. Auch ihren Vater verachtete January. Vielleicht haßte sie die beiden sogar, über dieses Gefühl war sie sich im Moment noch nicht ganz klar. Sie merkte, daß sie nicht jenes Mädchen war, das diese Ruine vor wenigen Minuten betreten hatte. Ein anderer Mensch war aus ihr geworden. Sie fühlte sich freier, ungebundener, selbstbewußter. Niemand hatte ihr mehr etwas zu sagen. Von nun an würde sie nur noch auf das hören, was ihr Herz ihr riet. Ihr Herz, in dem sich ein verderblicher, böser Keim eingenistet hatte. January war sich dieser Tatsache vollkommen bewußt. Jener Glühkäfer war das personifizierte Böse gewesen. Es hatte von
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ihr Besitz ergriffen. Doch das machte January nicht unglücklich. Im Gegenteil. Sie begrüßte es sogar, denn es machte sie stark und überlegen. Ab sofort schien für January nichts mehr unmöglich zu sein. Bisher hatte sie nur ganz selten an die Hölle gedacht, und wenn, dann nur in Verbindung mit dem Himmel. Doch nun fühlte sie sich mit der Hölle auf eine untrennbare Weise verbunden, und darüber freute sie sich maßlos, denn nun wußte sie endlich ganz genau, wohin sie gehörte. Das war früher nie so glasklar zutage ge‐ treten. Mit stolzgeschwellter Brust verließ sie die schwar‐ ze Kapelle. Gemeinheit und Haß trug sie nunmehr in ihrem Herzen, und es würde nicht leicht sein, mit ihr in Frieden zu leben. Irma stand immer noch dort, wo January sie steh‐ engelassen hatte. Jene Liebe, innige Zuneigung und vorbildliche Freundschaft, die January mit Irma bis vor kurzem verbunden hatte, existierte ab sofort nicht mehr. Das junge Mädchen sah seine Stiefmutter nunmehr mit ganz anderen Augen. Irma war ihr zuwider, 114
ihre uneigennützige Fürsorge war ihr lästig, Irmas nette Hilfsbereitschaft ödete sie an. Spöttisch lächelnd ging sie auf Irma zu. Sie breitete die Arme aus und fragte höhnisch: »Sieh mich an, hat mich in der schwarzen Kapelle einer gefressen? Nicht einmal angeknabbert hat mich wer. Es ist noch alles dran, wie du siehst.« »Liebe Güte, January, du kannst dir nicht vorstel‐ len, was für Ängste ich um dich hier ausgestanden habe«, sagte Irma vorwurfsvoll. »Ich habe dich nicht darum gebeten, daß du dich um mich sorgst«, erwiderte January schnippisch. »Herrgott, ich konnte nun mal nicht anders. Wieso warst du so lange in dieser Ruine, January?« »Ich habe mich gründlich umgesehen.« »Und?« Das Mädchen zuckte gleichmütig die Schultern. »Es ist eine ganz gewöhnliche Ruine. Ohne jegli‐ chen faulen Zauber. Bist du nun zufrieden? Wirst du jetzt beruhigt schlafen können?« »Hör auf, mich aufzuziehen, January«, sagte Irma ärgerlich. »Anstatt daß du froh bist, daß sich je‐ mand um dich Sorgen macht...« Januarys Miene verfinsterte sich, und sie sagte et‐ was, das Irma erschreckte: »Mach dir lieber um 115
Mort Sorgen, meine Liebe, denn da ist der Kum‐ mer berechtigt.« Irma riß erschrocken die Augen auf. »Wieso? Wie meinst du das?« fragte sie mit beleg‐ ter Stimme, doch January gab ihr darauf keine Antwort. Sie ging an ihr vorbei, betrat das Haus, zog sich auf ihr Zimmer zurück und kam auch zum Abendessen nicht mehr nach unten. Irma hatte erkannt, daß January sich sehr zu ihrem Nachteil verändert hatte, seit sie sich in jener schwarzen Kapelle aufgehalten hatte, und sie hoff‐ te inständig, daß sich das in den nächsten Tagen wieder geben würde. * Kein Tag verging, an dem es nicht zu Reibereien mit January kam. Das Mädchen war aufsässig und bockig, ließ sich nichts sagen, nörgelte an Irma he‐ rum und verstand es, Mort Redford mit all jenen Dingen zu reizen, von denen sie wußte, daß sie ihm gegen den Strich gingen. Mehrmals hatte Mort seiner Tochter bereits ange‐ kündigt, er würde ihr eine schallende Ohrfeige ge‐ ben, wenn sie nicht endlich wieder vernünftig werden würde.
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Abends, als Mort mit seiner Frau allein war, sagte er zu ihr: »Ich verstehe January nicht. Sie hat sich so sehr verändert, daß ich in ihr nur noch sehr schwer meine Tochter erkennen kann. Anschei‐ nend tut ihr die viele Ruhe nicht gut. Vielleicht ist es ihr hier zu einsam. Langsam glaube ich, daß es ein Fehler war, sie hierher mitzunehmen. Nun läßt sie uns spüren, daß sie sich in unserer Gesellschaft nicht wohlfühlt.« »Mort, sie ist erst siebzehn. Hättest du sie ohne Aufsicht Ferien machen lassen wollen? Ein Mäd‐ chen in diesem Alter ist vielen Gefahren ausge‐ setzt...« »Wenn ich sie in Tony Prices Obhut gegeben hätte ...« »Das ist doch nicht dein Ernst, Mort!« sagte Irma entrüstet. »Der Bursche ist doch ... Also dem kann man doch kein siebzehnjähriges Mädchen anvert‐ rauen.« »Wieso denn nicht? Bei Tony wäre January so si‐ cher wie im Internat. Eben gerade deswegen, weil er homosexuell ist.« »Vielleicht sollten wir uns einen jugendlicheren Stil zulegen«, sagte Irma.
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»Du meinst, ich soll ihn mir zulegen, denn du hast ihn ja noch bis zu einem gewissen Grad.« »Wenn wir uns mehr mit January beschäftigen ...« Redford schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir soll‐ ten genau das Gegenteil tun, Irma. Solange Janua‐ ry spinnt, ignorieren wir sie einfach. Wenn sie mit dir streiten will, gibst du ihr keine Antwort. Du wirst sehen, wie schnell sie dann wieder normal wird.« Irma glaubte nicht daran, daß sie damit Erfolg ha‐ ben würden, aber sie nickte und sagte: »Na schön, Mort, wir können es ja mal versuchen.« Zwei Tage später lag January auf einer bunten De‐ cke vor dem Haus in der Sonne. Sie war mit einem winzigen Tanga hinausgegangen und hatte drau‐ ßen das Oberteil abgenommen und sich auf den Bauch gelegt. Mort Redford stand mit einem Glas eisgekühlter Limonade am Fenster und fragte Irma: »Sag mal, wer hat ihr denn diesen Tanga gekauft? Das Ding ist ja geradezu ein Hohn. Da kann sie ja gleich nackt gehen.« »Sie hat ihn vom Internat mitgebracht, soviel ich weiß«, erwiderte Irma.
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»Ich mag nicht, daß sie so vor mir herumläuft, würdest du ihr das bitte von Frau zu Frau sagen?« »Laß sie doch, Mort. Die Mädchen in deinen Fil‐ men haben oft noch sehr viel weniger an.« »Die Mädchen in meinen Filmen sind nicht meine Töchter«, herrschte Mort seine Frau an. »Die Moral der heutigen Jugend ist ohnedies schon tief genug ins Minus abgerutscht. Die Freizügigkeit mancher Mädchen treibt so manchem erwachsenen Mann die Schamröte ins Gesicht.« Irma seufzte. »Okay, ich werde mit ihr reden.« Sie ging in die Küche. January richtete sich draußen auf. Mort wandte sich schnell um. Er vertrat den Standpunkt, daß sich ein Mädchen mit siebzehn Jahren auch dem eigenen Vater nicht beinahe splitternackt präsen‐ tieren sollte. Irgendwo sollten Grenzen sein. Wenn darauf in der eigenen Familie nicht geachtet wur‐ de, wo sollte es sonst geschehen. January erhob sich. Es fiel ihr nicht ein, ihre Brüste in den kleine BH zu zwängen. Sie hatte Durst, und sie wollte sich etwas zu trinken holen. Als sie mit entblößtem Busen zur Terrassentür hereinkam, war es Mort Redford un‐
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möglich, zu schweigen. Ärgerlich rief er: »Janua‐ ry!« »Ja, Vater?« »Komm her!« Mit nackten Füßen kam das Mädchen auf ihn zu. Ihre Schritte waren von einem patschenden Ge‐ räusch begleitet. Ihre Brüste machten alle Bewe‐ gungen wippend mit. Mort Redford sog die Luft geräuschvoll ein, als seine Tochter knapp vor ihm stehenblieb. »Sag mal, hast du denn überhaupt kein Schamge‐ fühl im Leib?« fragte er January scharf. Das Mädchen schmunzelte. »Vor wem sollte ich mich denn schämen? Du bist mein Vater, und ich habe nichts, was Irma nicht auch hat.« »Es schickt sich nicht, daß ein Mädchen in deinem Alter so herumläuft!« »Wer sagt das?« »Ich sage das!« schrie Mort Redford seine Tochter zornig an. »Soll ich mich vielleicht im Zobelmantel in die Sonne legen?« fragte January keck. »Zwischen Zobel und diesem – diesem Fetzchen gibt es noch ein paar andere tragbare Dinge.« »Mag sein, aber ich fühle mich so am wohlsten.« 120
»Du wirst dich gefälligst so anziehen, daß ich in Zukunft nichts mehr zu beanstanden habe, ist das klar?« sagte Mort mit unterdrückter Wut. »Ich verstehe nicht, was du gegen meine Nacktheit hast«, sagte January und warf ihrem Vater einen verdorbenen Blick zu. »Bei Irma findest du das be‐ stimmt sehr anregend.« »Das ist doch wohl etwas ganz anderes. Außerdem mag ich nicht, daß du dich in dieser Form zu ei‐ nem solchen Thema äußerst. Das steht dir erstens nicht zu, und zweitens bist du dafür noch viel zu jung!« January stemmte die Fäuste herausfordernd in die Seiten. »Sieh einer an, mein Vater, der große Mo‐ ralapostel. Er kann es nicht sehen, wenn seine Tochter nackt vor ihm herumläuft. Nun mal ganz ehrlich, Pa. Hast du Angst, daß du dich, wenn du mich ständig so siehst, irgendwann mal nicht be‐ herrschen könntest?« Mort Redford glaubte, nicht richtig gehört zu ha‐ ben. Als er dann aber begriff, daß seine Tochter tatsäch‐ lich in dieser niederträchtigen Weise mit ihm ge‐ sprochen hatte, verlor er die Beherrschung, und
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January bekam die schon seit Tagen angedrohte Ohrfeige. Klatsch. Der Kopf des Mädchens flog zur Seite. January wäre beinahe hingefallen. Das blonde Haar flatter‐ te wild hoch und legte sich über die gerötete Wan‐ ge. January fegte sich die Mähne mit einer aggres‐ siven Handbewegung aus dem Gesicht. Wut und Haß glitzerten in ihren Augen. Ihr hüb‐ sches Gesicht verzerrte sich. Sie wurde häßlich. »Verdammt!« krächzte sie. »Verdammt, du hast mich geschlagen!« Redford richtete sich auf und straffte seinen Rück‐ en. »Du hast es nicht anders gewollt. Ich habe dich in den vergangenen Tagen immer wieder gewarnt. Nun hast du’s mit deiner ekelhaften Frechheit zu bunt getrieben. Ich hätte dir diese Ohrfeige schon viel früher geben sollen, dann hättest du es nicht gewagt, mir solche häßlichen Worte ins Gesicht zu sagen!« »Du hast mich geschlagen!« fauchte January haßer‐ füllt. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Dafür wer‐ de ich dich töten, Vater!« zischte sie, drehte sich blitzschnell um und rannte davon.
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Am Abend desselben Tages war January bei Irma in der Küche, und Irma nahm die günstige Gele‐ genheit wahr, dem ausgewechselten Mädchen mal so richtig ins Gewissen zu reden. Mort hatte ihr von der Szene erzählt, die es in der Halle gegeben hatte, und Irma sprach auch davon. »Du darfst in Mort und mir nicht deine Feinde se‐ hen, January«, sagte Irma sanft. »Wir sind deine Freunde. Mehr als das sogar, und wir wollen ganz bestimmt nur dein Bestes. Sieh mal, wenn man ei‐ nen jungen Baum anpflanzt, gibt man ihm eine Stütze, damit er gerade wächst. Eine solche Stütze möchten auch Mort und ich dir geben. Das soll bei Gott keine Schikane sein, sondern dient nur dazu, um dir den richtigen Weg aufzuzeigen und dir gewisse Verhaltensregeln beizubringen.« January lehnte am Kühlturm. Sie trug Jeans und ein dünnes T‐Shirt. Und sie tat so, als würde sie Irma andächtig zuhören. In Wirklichkeit dachte sie: Rutsch mir doch mit deinem dämlichen Ge‐ sabber den Buckel runter. »Mort hat dich bestimmt nicht gern geschlagen«, sagte Irma. »Glaub mir, diese Ohrfeige hat ihm mehr wehgetan als dir. Warum hast du ihn bloß so
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sehr gereizt? Was hast du damit bezweckt? Woll‐ test du herausfinden, wie weit du gehen kannst?« »Es wäre wohl besser gewesen, den Mund zu hal‐ ten«, sagte January gegen ihre Überzeugung. Irma nickte. Sie freute sich über Januarys Einsicht. »Manchmal ist es wirklich besser, zu schweigen. Du wirst das schon noch lernen. Ich hab’ das frü‐ her auch nicht immer gekonnt.« Irma holte tief Luft, denn was sie nun sagen wollte, lag ihr sehr am Herzen. »Es gibt nichts Schöneres in einer Fa‐ milie, als einen dauerhaften Frieden, January. Sieh mal, wenn du in einer Firma mit dem Chef nicht auskommst, wirfst du ihm ein paar Grobheiten an den Kopf und gehst. Vor der Familie kann man aber nicht davonlaufen. Zu der gehörst du auch denn noch, wenn du in eine andere Stadt oder in ein anderes Land ziehst... Ich will es nicht zu lan‐ gatmig machen, Kleines. Du würdest mir – und natürlich auch Mort – eine große Freude bereiten, wenn du dich für dein ungebührliches Benehmen von heute nachmittag entschuldigen würdest.« Entschuldigen soll ich mich bei diesem Idioten? dachte sie wütend. Fällt mir nicht im Traum ein. Aber zu Irma sagte sie sanft: »Okay. Ich werde gleich mal nach oben gehen und mit ihm reden.« 124
»Das ist sehr vernünftig, January. Ich freue mich, daß du ein so einsichtiges Mädchen bist.« Du wirst dich noch wundern, was ich alles bin, dachte January gehässig. »Was gibt’s denn heute zu essen?« fragte sie oben‐ hin. »Pochierte Eier mit Sherry gewürzt, zum Schinken gibt es Burgundersauce, und die Walnuß‐Waffeln werde ich mit leicht nach Rum schmeckendem Ahorn‐Sirup tränken.« January lachte. »Donnerwetter, das ist ja ein Fest‐ essen wie im Waldorf‐Astoria.« »Hin und wieder kleckse ich ganz gern mal so ein bißchen herum«, gestand Irma. January wartete auf den günstigsten Moment, und als er gekommen war, zog sie leise die Lade auf, in der die Messer lagen. Sie griff nach dem größten, einem scharfen, spitz zulaufenden Tranchiermes‐ ser, dessen Griff ihre zarte Hand kaum umfassen konnte. Als Irma sich wieder umwandte, war die Lade bereits geschlossen, und January verbarg das Messer mit der langen Klinge hinter ihrem Rücken. »Ich will nicht länger stören«, sagte das Mädchen mit einem engelhaften Lächeln.
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Irma gab dieses Lächeln zurück. »Geh zu Mort. Sprich dich mit ihm aus. Es wird bestimmt wieder alles in Ordnung kommen.« January verbarg beim Verlassen der Küche das Messer so geschickt, daß Irma davon nicht merkte. Die Schwingtür fiel hinter dem jungen Mädchen zu, und nun ließ sie die freundliche Maske fallen. Bosheit und Haß verzerrten ihre hübschen Züge. Mordlust glitzerte in ihren Augen. Der Keim des Bösen, der sich in ihr befand, trieb sie auf die Treppe zu, die nach oben führte. Mort Redford stand unter der rauschenden Du‐ sche. Er sang. Das tat er fast immer bei dieser Ge‐ legenheit. January umklammerte das Tranchier‐ messer fester. Ja, dachte sie. Sing nur. Sing! Freu dich darüber, daß du deine Tochter geschlagen hast. Freu dich deines Lebens, Mort, denn es währt nur noch kur‐ ze Zeit, dafür werde ich sorgen. Sie schlich die Stufen hinauf. Die Begeisterung über das, was sie vorhatte, machte sie ganz be‐ nommen. Es war wie ein herrlicher Rausch. Sie wußte, daß sie später keine Reue empfinden wür‐ de. Nur reine Freude und große Genugtuung. Das Mädchen erreichte das obere Treppenende. 126
Lauschend blieb January stehen. Mort Redford schmetterte einen Song aus dem Musical »Okla‐ homa«. Wenn er damit anfing, fand er meistens kein Ende mehr. Er wiederholte den Refrain im‐ mer und immer wieder, als ob der Saphir des To‐ narms auf der Schallplatte hängengeblieben wäre. January ging mit vorsichtig gesetzten Schritten weiter. Vor der Tür, die in Morts und Irmas Schlafzimmer führte, blieb sie abermals kurz stehen. Ihre linke Hand näherte sich behutsam dem Türknauf. Sie drehte ihn herum. Die Tür schwang leise auf. Mort Redfords Gesang war jetzt voll da. Er hatte keine schlechte Stimme, und er sang niemals falsch. January erinnerte sich daran, daß er einmal erzählt hatte, daß er in ganz jungen Jahren Sänger werden wollte. Er hatte auch auf einigen Vorstadt‐ bühnen gestanden, hatte damals aber sehr schnell gemerkt, daß das nicht seine Zukunft sein konnte. January trat ein. Das Rauschen der Dusche war so laut, daß das Mädchen nicht besonders vorsichtig zu sein brauchte.
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January klappte die Tür hinter sich zu. Jetzt war sie mit ihm allein. Mit ihrem Vater. Mit ihrem Op‐ fer! Das Wasser prasselte gegen den milchigen Nylon‐ vorhang. January konnte den nackten Körper ihres Vaters durch diesen Kunststoffschleier schimmern sehen. Er war noch so schlank wie in seiner Ju‐ gend. Dabei hatte er nie besonders auf seine Figur geachtet. Diäten waren ihm stets fremd gewesen. Gleich wirst du bluten, dachte January, und dieser Gedanke machte das Mädchen fast verrückt vor Freude. Auf dem Weg zur offenen Badezimmertür stieß das Mädchen gegen einen Stuhl, den sie übersehen hatte. Das gab ein kurzes ratterndes Geräusch. Mort hörte es. January sah, wie er in seinen Bewe‐ gungen innehielt. Er hörte zu singen auf. »Irma!« rief er durch den Vorhang. »Irma, bist du das?« January gab ihm keine Antwort. Sie näherte sich dem milchigen Vorhang mit blei‐ chen Zügen. Jede Muskelfaser in ihrem Körper war straff angespannt. Ihr Atem ging schnell. Sie konnte es kaum mehr erwarten, den kalten Stahl in das Fleisch ihres verhaßten Vaters zu stoßen. 128
»Irma?« fragte Mort noch einmal. Er drehte das Wasser ab. »Irma, würdest du mir bitte das Badetuch geben?« January betrat das Bad. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Sie hatte ihm gesagt, daß sie ihn töten würde, und sie war gekommen, um ihre Worte wahrzumachen. Das Böse in ihr machte sie stark. Sie zweifelte keine Sekunde daran, daß ihr die Tat gelingen würde. Das Badetuch wollte er haben. Nun, er würde es nicht bekommen. Er würde es nicht mehr brauchen. Er würde etwas anderes kriegen: das Tranchiermesser! Er sah die Umrisse seiner Tochter. Sie war dem Vorhang schon ziemlich nahe gekommen. »January?« fragte er unsicher, denn genau war das Mädchen nicht zu erkennen. Es hätte auch Irma sein können. »Ja, Vater«, sagte das Mädchen heiser. »Was willst du?« fragte Mort Redford schroff. »Was suchst du hier? Ich bin nackt. Warte drau‐ ßen, bis ich etwas übergezogen habe.« »Oh, es stört mich nicht, daß du nackt bist, Pa.« »Mich stört es aber!« gab der Produzent ärgerlich zurück. »Deshalb wirst du gefälligst draußen war‐ 129
ten, hast du verstanden? Und mach die Tür zu, wenn du das Bad verläßt.« »Einen Dreck werde ich!« fauchte January. Mort Redford stockte der Atem. »Sag mal, was ist denn das für ein Ton?« January machte einen schnellen Schritt auf den Duschvorhang zu. Sie fegte ihn mit der linken Hand rasch zur Seite. Ihr nackter Vater wollte sich wegdrehen. »January!« schrie er wütend. »Sag mal, bist du denn nicht mehr bei Trost?« Im selben Moment sah er das lange Messer blitzen. Es raste auf ihn zu. Er war so verstört, daß er kaum zu reagieren imstande war. Er hatte Januarys Dro‐ hung, sie würde ihn umbringen, nicht ernst ge‐ nommen. Er hatte es als den verbalen Ausdruck ihres maßlosen Zorns angesehen. Wie oft sagt ein Mensch zum andern, er werde ihn umbringen, und meint es im Grunde genommen nicht so. Die lange, blitzende Klinge zuckte auf seine Brust herab. Mort Redford warf sich bestürzt zur Seite. Er knall‐ te gegen die Fliesen, und das Tranchiermesser ver‐ fehlte ihn nur um Haaresbreite. »January!« schrie er fassungslos.
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Das Mädchen stach erneut zu. Redford erwischte ihren Messerarm. Mit beiden Händen packte er ihn und stemmte ihn von sich weg. »January!« »Sehr richtig, Pa. Deine January wird dich um‐ bringen!« fauchte das Mädchen wild. Sie hatte unglaubliche Kräfte. Mort Redford konn‐ te sie kaum bändigen. Er tanzte mit ihr im Dusch‐ becken im Kreis. Sie keuchten beide schwer. Red‐ ford wußte, wenn er den Messerarm noch einmal losließ, war er geliefert, deshalb verkrallte er sich förmlich in den Arm seiner tollwütigen Tochter. Der Duschvorhang zerriß. Mort und January fie‐ len. Sie wälzten sich atemlos auf dem Boden. »Ich will dich bluten sehen!« schrie January schrill. »Ich bringe dich um!« Sie schlug nach dem Gesicht ihres Vaters, sie spuckte ihn an und versuchte ihn zu beißen, damit er ihren Messerarm losließ. Da platzte die Schlafzimmertür auf, und Irma kam hereingestolpert. Was sie sah, war ihr so unfaßbar, daß ihr Geist kaum in der Lage war, es zu verar‐ beiten. January war drauf und dran, ihren eigenen Vater zu ermorden. Irma wußte nicht, wie sie das ver‐ hindern sollte. Sie lief einfach auf die beiden über 131
den Boden rollenden Leiber zu und faßte blitz‐ schnell in Januarys dichtes Haar. »January!« schrie sie dabei gellend. »January, bist du wahnsinnig geworden? January, komm zu dir!« »Ich bring’ das Schwein um!« kreischte das Mäd‐ chen. »Laß das Messer los!« verlangte Irma. »Gib mir das Messer, January!« »Ich denke nicht daran! Du kriegst es erst, wenn sein Blut daran klebt!« Das Mädchen gebärdete sich wie eine Irre. Mort Redford drehte ihr den Messerarm mit aller Kraft herum. January versuchte ihn in den Unterleib zu treten. Er verstärkte seinen Druck. Da ließ das Mädchen das Messer mit einem grellen Aufschrei los. January wollte sich sofort wieder auf ihre Mord‐ waffe stürzen, doch das ließen Irma und Mort nicht zu. Sie zerrten das tobende Mädchen vom Messer weg. Mort Redford schlug in seiner rasen‐ den Wut mit seinen Fäusten mehrmals kräftig auf seine Tochter ein. »Es ist genug!« schrie Irma, als sie merkte, daß Mort kein Ende finden konnte. »Es reicht, Mort. January hat genug!« 132
Er drosch trotzdem noch einmal zu, und dieser Schlag raubte dem Mädchen die Besinnung. Nackt und schwer atmend stand Mort Redford da. Irma holte ihm seinen Frotteemantel. Er zog ihn an. Sein Gesicht war kalkweiß. Krächzend sag‐ te er zu seiner Frau: »Hast du das gesehen? Sie wollte mich tatsächlich umbringen!« Maßlose Er‐ schütterung schwang in seiner Stimme mit. »Mei‐ ne Tochter, Irma. Mein eigen Fleisch und Blut wollte mich mit diesem Tranchiermesser ... Ich kann es einfach nicht fassen. Ich erkenne mein Kind nicht wieder, Irma. Sie war immer so sanft und anschmiegsam ... Was ist bloß aus dem Mäd‐ chen geworden?« Irma senkte den Blick. »Sie ist wie ausgewechselt.« »Schon seit Tagen«, sagte Mort Redford. »Sie hat sich völlig verändert – seit sie in der schwarzen Kapelle war«, sagte Irma. Ihr Blick wanderte zum Fenster, und es überlief sie eiskalt. * Irma war der Meinung, January müsse in der schwarzen Kapelle dem Teufel begegnet sein, und der habe sie zur Besessenen gemacht. Sie deutete zaghaft an, daß es klug wäre, den Urlaub abzubre‐
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chen und nach New York zurückzukehren, doch davon wollte Mort nichts wissen. Sie schlossen January in ihr Zimmer ein und berie‐ ten, auf welche Weise sie das Mädchen bestrafen sollten. Irma war gegen eine harte Bestrafung, weil January für das, was sie getan hatte, nicht verant‐ wortlich gemacht werden konnte. Etwas, das stär‐ ker war als das Mädchen, hatte ihm aufgetragen, zu tun, was es getan hatte. Deshalb riet Irma ihrem Mann, diese leidige Sache tunlichst zu vergessen. Natürlich wußte sie, was sie da von Mort verlangte, aber ihrer Meinung nach war das der einzige Ausweg aus der Misere. Irma riet ihrem Mann, January von nun an scharf zu beobachten und ihr streng zu untersagen, noch einmal die schwarze Kapelle aufzusuchen. Tags darauf war January beinahe so wie früher. Sie trat zerknirscht vor ihren Vater hin und sagte: »Ich wage dir nicht mehr in die Augen zu sehen, Pa. Ich weiß nicht, was gestern abend über mich gekommen ist. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Bitte verzeih mir, was ich getan habe. Es wird ganz bestimmt nicht wieder vorkommen. Verzeih mir – wenn du kannst. Ich weiß, daß dir das nicht leicht fällt, und wenn du sagen würdest, 134
daß du in mir nicht mehr deine Tochter siehst, könnte ich das verstehen, denn das, was ich getan habe, ist das Schlimmste, was ein Mensch nur tun kann ...« Sie standen einander in der Halle gegenüber. Mort Redford schluckte mühsam. Die Rührung trieb ihm die Tränen in die Augen. Er breitete seine Arme verzeihend aus, und January warf sich schluchzend an seine Brust. »Vater, o Vater«, seufzte sie. »Ich muß verrückt gewesen sein.« »Wir wollen nicht mehr darüber reden, okay?« sagte Mort ergriffen. »Du verzeihst mir?« »Wie könnte ich anders. Ich liebe dich doch.« »Ich verdiene deine Liebe nicht.« »Sag das nicht. Du bist ein gutes Mädchen. Du warst immer ein gutes Mädchen und du wirst wieder ein gutes Mädchen werden.« »Das hoffe ich, Vater.« »Versprich mir, daß du nicht mehr zu dieser ver‐ fluchten Ruine gehst.« »Okay, Pa.«
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Mort Redford drückte das Mädchen an sich und sagte: »So, und nun gib mir einen dicken, fetten Versöhnungskuß.« January preßte ihre Lippen ungestüm auf die sei‐ nen. »Ich kann dir nicht sagen, wie glücklich du mich machst, Vater.« Der Produzent lächelte. »Mir geht es genauso.« Von da an nörgelte January nicht mehr an Irma he‐ rum. Sie provozierte ihren Vater nicht mehr, war wieder so, wie sie früher gewesen war: ein ange‐ nehmes Mädchen, folgsam, anschmiegsam, nett. Ab und zu sah Irma, wie January sehnsüchtig zur schwarzen Kapelle hinüberblickte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Das beunruhigte Irma ein wenig, denn sie hatte den Eindruck, daß diese ver‐ fluchte Ruine immer noch einen kleinen Restein‐ fluß auf ihre Stieftochter hatte, und sie befürchtete, daß der erloschene Vulkan noch einmal zum Aus‐ bruch kommen könnte. Aber diese Befürchtung behielt Irma für sich. Vier Tage nach jenem schrecklichen Zwischenfall hielt ein Jeep vor dem Haus der Redfords. Mort Redford begab sich nach draußen. Ein Mann mit männlich‐markanten Gesichtszügen und intel‐ ligenten Augen faltete sich aus dem Fahrzeug, an 136
dessen Türen die Aufschrift LEWOTEX OIL COMPANY gepinselt war. Der Filmproduzent ging auf den Fremden zu und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. »Sie müssen Harry Palmer sein. Irma hat mir schon so viel von Ihnen erzählt, daß Sie mir wie ein guter alter Bekannter vorkommen, obwohl ich Sie heute zum erstenmal sehe.« »Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Palmer und drückte die Hand des Produzen‐ ten fest. »Ich freu’ mich auch«, sagte Mort. Palmer wies mit dem Daumen zum Ende der Lichtung. »Sagen Sie mal, was ist denn das für eine häßliche Ruine?« Morts Züge verdüsterten sich. »Das war mal eine Kapelle. Sie ist abgebrannt. Ich werde sie irgend‐ wann mal wegräumen lassen.« »Würde ich an Ihrer Stelle auch tun. Das Ding stört das ansonsten so paradiesische Gesamtbild.« Mort Redford legte Harry Palmer die Hand wie einem Freund auf die Schulter. »Irma hat mir er‐ zählt, daß sie Sie eingeladen hat.« Harry grinste. »Ich war so unverschämt, die Einla‐ dung anzunehmen.«
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»Ich hoffe, Sie können etwas länger bei uns blei‐ ben.« »Drei Tage wäre das höchste der Gefühle«, gab Harry Palmer zurück. »Damit werden Sie Irma eine große Freude berei‐ ten.« Mort rief seine Frau und seine Tochter. Irma war ganz aus dem Häuschen, und sie konnte nicht oft genug sagen, wie sehr sie sich über Harrys Besuch freue. January wurde ihm vorgestellt, und er machte dem Mädchen ein paar nette Komplimen‐ te, aber er merkte, daß er damit bei ihr nicht an‐ kam. January schien ihm unnahbar zu sein, und unter ihrer kühlen Höflichkeit, mit der sie ihn be‐ handelte, fühlte er eine enorme Feindseligkeit. Er war January nicht willkommen, aber das fiel nur ihm auf. Irma und Mort merkten nichts davon. Die beiden waren froh, daß Harry Palmer so un‐ verhofft aufgekreuzt war. Sie glaubten, Harrys Anwesenheit würde mit dazu beitragen, daß Januarys Wesen noch angenehmer, vor allem aber geselliger werden würde. Nachdem Harry Palmer seine Klamotten ins Gäs‐ tezimmer gebracht hatte, saß er mit Mort Redford eine Stunde lang in der Halle beisammen. Sie tran‐ 138
ken Whisky und schnitten so viele Themen an, an denen sie gemeinsame Interessen hatten, daß ihre Sympathie zueinander sich mehr und mehr zu ei‐ ner angehenden Freundschaft weiterentwickelte. Wenig später ergab es sich, daß Harry mit Irma al‐ lein auf der Terrasse saß. »Wie findest du Mort?« fragte Irma, etwas verle‐ gen. »Er ist ein Mann, der zu dir paßt.« »Ich liebe ihn, Harry.« »Das kann ich verstehen. Ich mag ihn auch. Er hat gute Manieren, ist gebildet, versteht es, mit Men‐ schen umzugehen ...« »Und January?« »Das Mädchen scheint mir ein wenig schwierig zu sein«, erwiderte Harry Palmer. Irma biß sich auf die Lippe. »Was ist?« fragte Harry. »Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?« »Du hast es also schon gemerkt.« »Gemerkt? Was?« Irma blickte ihrem Jugendfreund fest in die Augen. »Harry, das Mädchen war nicht immer so. Wenn du sie vor einem Monat kennengelernt hättest,
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wärst du von ihr entzückt gewesen. Jedermann war von ihrem natürlichen Charme hingerissen.« »Was hat sie so sehr verändert?« erkundigte sich Harry. Er bot Irma eine Zigarette an, nahm sich gleichfalls ein Stäbchen, gab Irma Feuer und brannte dann seine Zigarette an. Irma nahm einen tiefen Zug. Dann wies sie auf das Haus und auf die Umgebung. »Wie gefällt es dir hier, Harry?« »Hervorragend. Man könnte meinen, dies hier wä‐ re der letzte friedliche Ort auf unserer Welt. »Der Eindruck täuscht«, sagte Irma gepreßt. »Dieser Ort ist verflucht.« Nun sprach Irma über ihre Ängste, über die sie so lange geschwiegen hatte. Sie erzählte von jenem Unheimlichen, der ihr im strömenden Regen er‐ schienen und kein bißchen naß gewesen war, sie erwähnte die schwarze Kapelle, in der ihrer An‐ sicht nach das Böse wohnte, sprach von jenem ge‐ heimnisvollen Blutfleck in der Halle, den man zwar fortwischen konnte, der aber in der nächsten Stunde schon wieder da sei, als wäre er niemals entfernt worden. Harry wollte diesen seltsamen Fleck sehen.
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Irma zeigte ihn ihm. Sie hatte einen klobigen Zeit‐ schriftenständer darübergestellt, damit man ihn nicht mehr sehen konnte. Irma berichtete von der Erscheinung, die January am Fenster gesehen und die keine Fußspuren im weichen Erdreich hinter‐ lassen hatte. Danach sprach Irma von Januarys Weg in die schwarze Kapelle. Seither sei das Mädchen wie ausgewechselt. Das habe sogar schon so weit ge‐ führt, daß January versucht habe, ihren Vater zu ermorden. Nachdem Irma geendet hatte, zitterte sie vor Erre‐ gung. Sie fragte Harry mit bebender Stimme: »Hältst du das hier immer noch für den letzten friedlichen Ort auf unserer Welt?« Palmer lächelte verlegen. »Was du mir da erzählt hast, ist ein bißchen zuviel für mich, fürchte ich.« »Wieso?« »Nun, du weißt, daß ich an keine Gespenster glau‐ be. Ein verfluchtes Haus, eine verfluchte Ruine, das gibt es meiner Ansicht nach nicht.« »Du wirst an all das glauben, wenn du erst mal ei‐ ne Weile hier gewohnt hast, Harry«, sagte sie leise. Während des Abendessens wurde über viele Din‐ ge gesprochen, nur nicht über das Haus und die 141
schwarze Kapelle. Diese beiden Themen schienen tabu zu sein. Harry Palmer hielt sich daran. Ihm fiel mehrmals auf, wie January ihn feindselig ans‐ tarrte. Jedesmal wenn sich ihre Blicke trafen, schaute January schnell woanders hin. Sie blieben bis zehn Uhr beisammen in der Halle. January zog sich etwas früher auf ihr Zimmer zu‐ rück. Es ging auf Mitternacht zu, als Harry Palmer ein leises tappendes Geräusch vor seinem Zimmer vernahm. Es näherte sich seiner Tür. Er lag rau‐ chend im Bett und dachte über Irma nach, und er stellte sich immer wieder die Frage, warum er da‐ mals aufgehört hatte, ihr zu schreiben. Eine andere Frau hatte es nicht gegeben. Er erinnerte sich, daß er diesen ewigen papierenen Liebesbeteuerungen eines Tages nichts mehr abgewinnen konnte. Sein Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn er damals nicht zu Schreiben aufgehört hätte. Dann wäre Irma heute nicht Mort Redfords, sondern seine Frau gewesen. Aber so ist das nun mal im Leben. Ein Fehler kann genügen, um die Weichen zu stellen. Dann rollt der Zug in eine völlig andere Richtung, als man ursprünglich wollte. 142
Das Tappen erreichte die Tür. Harry Palmer setzte sich im Bett auf. Er trug einen nilgrünen Pyjama. Schnell stieß er seine Zigarette in den Ascher. Er war ganz sicher, daß in diesem Moment jemand vor seiner Tür stand und lausch‐ te. Er verhielt sich einen Augenblick vollkommen ru‐ hig. Das Tappen fing wieder an. Es entfernte sich von der Tür, näherte sich der Treppe. Harry warf die Decke zurück und glitt aus dem Bett. Leise huschte er auf die Tür zu. Vorsichtig machte er sie auf. Eine weiße Gestalt tappte die Stufen hi‐ nunter. Das war January in einem bodenlangen weißen Baumwollnachthemd. Harry trat aus seinem Zimmer. Er beobachtete, wie das Mädchen das Haus verließ, kehrte um und sah zum Fenster hinaus. January lief über die große Lichtung. Geisterhaft sah sie aus. Ihr Nachthemd umwehte sie wie eine weiße Fahne. Harry Palmer war das Ziel des Mädchens sofort klar. Sie strebte der schwarzen Kapelle entgegen. Palmer überlegte, ob er jetzt Krach schlagen sollte, damit Irma und Mort etwas unternahmen. Aber sollte er die beiden wegen des nächtlichen Aus‐
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flugs des Mädchens wirklich erschrecken? War es nicht besser, einfach darüber hinwegzusehen? Er hätte natürlich auch selbst das Haus verlassen und das Mädchen zurückholen können. Aber stand ihm dieses Recht zu? Konnte January nicht hingehen, wo sie wollte, ohne ihn erst um Erlaub‐ nis fragen zu müssen? Unschlüssig stand er am Fenster, während January sich immer mehr der schwarzen Kapelle näherte. Wenig später hatte sie sie erreicht. Und dann verschwand sie zwischen den schwar‐ zen Mauerfragmenten ... January blieb keuchend stehen. Ein verklärtes Lä‐ cheln lag auf ihren schönen Zügen. Sie breitete die Arme aus. »Hier bin ich, Hyram Delmy. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Ich mußte war‐ ten, bis alle schliefen.« Ein tierhaftes Knurren war die Antwort. Über den Boden züngelten bläuliche Flammen. Sie krochen auf January zu, bildeten eine Hand mit fünf Fin‐ gern, die sich unter ihr Nachthemd schob und an ihren nackten Beinen heiß nach oben glitt. January legte den Kopf zurück und schloß die Augen. »Geliebter, o Geliebter!« stöhnte das Mädchen, während es die Liebkosungen der brennenden 144
Hand genoß. »Sie wissen es nicht, aber ich bin immer noch dein. Dein für ewig, Hyram. Mein Tun und Handeln richtet sich nur noch nach dei‐ nen Wünschen. Ich weiß, was du von mir erwar‐ test, und ich werde es tun. Wir beide werden eins werden. Ein Leben voller Glück wird uns beschie‐ den sein. O Hyram, ich kann es kaum noch erwar‐ ten, bis es soweit ist.« Januarys Züge nahmen einen gemeinen Ausdruck an. Die Flammenhand erlosch. Das Mädchen machte ein paar Schritte nach vorn. »Dieser verdammte Harry Palmer verzögert mei‐ nen Plan!« sagte sie scharf. »Ich muß warten. Er sagte, daß er drei Tage bleiben könne. Drei Tage, Hyram. Was ist das schon, gemessen an der Ewig‐ keit, die uns zur Verfügung stehen wird.« January stand vor einer hohen schwarzen Mauer. »Hyram«, flüsterte sie mit pochenden Schläfen. »Bitte, Hyram, zeig dich mir. Ich durfte dich erst einmal sehen, damals am Fenster, erinnerst du dich noch? Seither brenne ich darauf, dich wieder‐ zusehen. Es genügt mir nicht, zu wissen, wem ich verbunden bin. Ich möchte dich sehen, Hyram. Bit‐ te, erfülle mir diesen Wunsch!« 145
Die Mauer begann mit einemmal unheimlich zu knistern. Feiner Staub rieselte zu Boden. Die Luft begann vor Januarys weit geöffneten Au‐ gen zu flimmern, und in diesem Flimmern kristal‐ lisierte sich eine furchterregende Erscheinung. Ein Mann war es mit totenbleichen Zügen, gemeinen Falten um den Mund, groß, reglos, das vor ihm stehende Mädchen mit seinen glutroten Augen durchdringend anstarrend. Sein Name war Hyram Delmy. Er hatte alle Macht über dieses junge bildhübsche Mädchen, das er zu seinem grausamen Werkzeug gemacht hatte... Sie saßen alle um den Frühstückstisch beisammen. Mort Redford fragte den Gast, ob er gut geschlafen habe. Harry Palmer antwortete: »Ausgezeichnet. Nur kurz vor Mitternacht war so ein eigenartiges Tappen vor meiner Tür.« Irma blickte Harry erschrocken an. January starrte ihn wütend an. Harry Palmer fuhr schmunzelnd fort: »Ich wollte der Sache auf den Grund gehen und verließ des‐ halb mein Bett.«
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Januarys Augen schrien ihm entgegen: Sprich nicht weiter! Halt den Mund! Sag kein Wort mehr! Doch Harry setzte seinen Bericht ungerührt fort: »Ich sah January, wie sie die Treppe hinunter‐ schlich.« Mort Redford blickte seine Tochter ärgerlich an. »Was hattest du um Mitternacht noch im Haus he‐ rumzugeistern, January?« »Ich hatte Durst. Ich war in der Küche und habe mir ein Glas Milch geholt«, sagte January, wäh‐ rend sie Harry Palmer mit ihren Augen erdolchte. »Ich dachte, die Küche würde sich unter dem Gäs‐ tezimmer befinden«, sagte Harry mit einem frosti‐ gen Lächeln. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mort auf‐ horchend. »January hat das Haus verlassen«, sagte Harry ernst. Irma sah das Mädchen entsetzt an. »January, wo warst du?« »Ich war nirgends. Ich habe das Haus nicht verlas‐ sen. Ich war in der Küche. Nur in der Küche. Wenn Mr. Palmer etwas anderes behauptet, dann lügt er!«
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»January!« sagte Mort Redford rügend. »Mr. Pal‐ mer ist unser Gast, vergiß das nicht.« Irma wandte sich an Harry. »Wohin ist sie gegan‐ gen?« »Sie war bei der schwarzen Kapelle.« »January!« stieß der Filmproduzent entrüstet her‐ vor. »Du hast mir doch versprochen ...« »Ich war nicht dort! Palmer muß sich irren!« schrie January gereizt. »Ich habe das Haus nicht verlas‐ sen! Ich weiß nicht, warum er euch dieses Märchen erzählt! Vielleicht hat er’s geträumt. Ich war jeden‐ falls nicht bei der Ruine. Ich bin schließlich nicht verrückt, nachts dorthin zu gehen. Du tätest gut daran, mir das zu glauben, Pa!« Redford seufzte schwer. »Ich würde dir ja gern glauben, mein Kind, aber ...« »Gilt das Wort eines Fremden mehr als das deiner Tochter?« Um dem Streit ein Ende zu bereiten, warf Harry Palmer ein: »Vielleicht habe ich wirklich nur ge‐ träumt, daß January das Haus verlassen hat.« Er wandte sich an das Mädchen, in dessen Augen es triumphierend funkelte. »Bitte entschuldigen Sie, January. Ich glaube, ich habe da eben etwas zu fest
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behauptet, was ich in Wirklichkeit nicht ganz si‐ cher weiß.« Damit kehrte wieder Ruhe ein. Es ergab sich, daß Harry Palmer mit January nach dem Frühstück für einen Moment allein war. Das Mädchen blickte ihn keck an. »Ist Ihnen nicht leichtgefallen, der Rückzieher, was?« »Ich habe wegen Ihrer Eltern nicht auf meinem Standpunkt beharrt«, erwiderte Harry ehrlich. »Verdammt nobel von Ihnen.« »Sie waren bei der schwarzen Kapelle.« January hob aggressiv ihren Kopf. »Selbst wenn es so wäre, würde es Sie nicht das geringste angehen, Mr. Palmer. Merken Sie sich eines: Ich mag nicht, daß jemand hinter mir herspioniert, ist das klar?« »Dann schleichen Sie sich nächstens gefälligst ein bißchen leiser aus dem Haus«, gab Harry mißmu‐ tig zurück. »Was suchen Sie eigentlich in dieser abscheulichen Ruine? Was zieht Sie nachts dor‐ thin?« »Vielleicht kann ich dort finden, was mir kein Mensch zu geben vermag«, sagte January rätsel‐ haft, wandte sich um und verließ das Haus. Am Nachmittag desselben Tages kreuzte ein mächtig grober Klotz bei den Redfords auf. Irma, 149
Harry und Mort spielten gerade Karten, als der große Polizeiwagen neben Harry Palmers Jeep stoppte. Ein schwerer Mann mit Halbstiefeln, Colt und breitkrempigem Hut kam auf die Terrasse zuget‐ rabt. Er hatte zerknitterte Züge und ein Stück Kau‐ tabak zwischen den Zähnen. Seine Fäuste waren so groß, daß er damit bestimmt eine Menge Schaden anrichten konnte, und ein fester Bauch wölbte sich über dem breiten Ledergürtel. Er schob den Hut mit seinem Zeigefinger aus der Stirn. »Hallo, ich bin Sheriff Carter Jenkins. Habe gehört, daß dieses Haus hier wieder bewohnt ist.« »Guten Tag, Sheriff«, sagte Mort Redford, nach‐ dem er sich erhoben hatte. Er nannte seinen Na‐ men und stellte seine Frau und Harry Palmer vor. Irma bot ihm einen Drink an, doch Jenkins lehnte mit der Begründung ab, er würde im Dienst nie‐ mals Alkohol trinken, aber eine Tasse Kaffee wür‐ de er gern annehmen. Mort bot dem Sheriff Platz an, und der schwere Mann ließ sich in einen der Klappsessel fallen. »Herrliche Gegend, wie?« sagte Jenkins, sich um‐ sehend. »Genau das richtige für einen Mann aus New York.« 150
»Wir fühlen uns hier ganz wohl«, gab Redford zu‐ rück. Carter Jenkins stieß seinen dicken Zeigefinger in Morts Richtung. »Ich bin sicher, ich hab’ schon mal einen Ihrer Filme gesehen. Wie viele produzieren Sie denn so im Jahr? Darf man das fragen, oder fällt das in die Sparte Geschäftsgeheimnis ?« »Ich mache in der Regel nicht mehr als drei bis vier Filme jährlich«, antwortete Redford. »Kommt auch ganz schön was mit der Zeit zu‐ sammen, nicht wahr?« sagte Jenkins grinsend. Irma kam mit dem Kaffee. Carter Jenkins bedankte sich mehrmals und verbrannte sich anschließend die Lippen an der goldbraunen Flüssigkeit. In Ge‐ sellschaft von Männern hätte er einen Fluch losge‐ lassen, der es in sich gehabt hätte, doch in Irmas Gegenwart schluckte er den Fluch hinunter und ächzte nur: »Ziemlich heiß ...« Er schaute sich um. »Man hat mir gesagt, Sie hätten auch noch eine hübsche Tochter bei sich.« Mort nickte. »January. Sie treibt sich hier irgendwo in der Gegend herum. Möchten Sie sie sehen?« Carter Jenkins winkte ab. »Lassen Sie die Kleine. Soviel Natur kann ihr New York das ganze Jahr über nicht bieten.« Er legte seine schweren Tatzen 151
auf den Tisch und betrachtete sie angelegentlich. »Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll.« »Beginnen? Womit?« fragte Irma. »Nun, ich bin nicht bloß hierher gekommen, um mit ein paar netten Leuten ein kleines Schwätz‐ chen zu machen, Mrs. Redford. Ihr Kaffee schmeckt zwar wesentlich besser als der, den ich mir in meinem Office brühe, aber auch deswegen bin ich nicht hier.« »Sondern?« fragte Irma beunruhigt. Carter Jenkins fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er nahm den Hut ab und ließ ihn neben seinem Sessel auf den Boden fallen. Sein rotes Haar war so steif und struppig wie eine alte Sofa‐ füllung. »Es gibt da einen Kerl – Bryan Wilson heißt der... Also dieser Bursche hat eine ganze Menge auf dem Kerbholz, verstehen Sie? Früher waren es nur klei‐ ne Gaunereien, die kaum ins Gewicht fielen. Spä‐ ter ging er für eine Weile nach Miami Beach und stieg dort in die Hotelzimmer ein. Dabei fiel er mal von einem Balkon – und aus war’s mit der Klette‐ rei... Nun macht uns der Bursche auf eine andere Weise Kummer. Er hat einen Tankwart niederge‐ schossen und ein paar tausend Dollar geraubt. Der 152
Tankwart starb auf dem Transport ins Kranken‐ haus. Wir versuchten Wilson zu kriegen und hät‐ ten ihn auch beinahe erwischt, wenn er nicht zwei Frauen als Geiseln genommen hätte. Es gelang uns, ihn am Stadtrand von Tampa zu stellen. Als eine der beiden Geiseln in ihrer panischen Angst davonrennen wollte, hat er sie in den Rücken ge‐ schossen. Wir wissen nicht, ob die Ärzte sie wieder auf die Beine bringen werden ... Das nur zur Erläu‐ terung, was für ein übler Finger Wilson ist.« Carter Jenkins nickte mit zusammengezogenen Brauen. »Wir haben den Kerl natürlich erwischt.« »Was wurde aus der zweiten Geisel?« fragte Irma mit flatternden Augen. »Wilson wollte sie umlegen, aber wir konnten es verhindern. Heute morgen sollte er von Tampa nach Tallahassee überstellt werden, aber ...« Jen‐ kins unterbrach sich selbst, indem er sagte: »Erst noch einen Schluck Kaffee, damit mir die Galle nicht hochkommt ... Also zu meiner Schande muß ich gestehen, daß meine Leute die unfähigsten Po‐ lizisten im ganzen County sind. Stellen Sie sich vor, die haben Bryan Wilson doch tatsächlich ent‐ wischen lassen. Sie können sich nicht vorstellen, was ich die dämlichen Brüder alles geheißen habe. 153
Aber was nützt das im Grunde genommen schon? Wilson hat sich mit einer Polizeikanone in Luft aufgelöst. Wohin ich auch komme, keiner hat ihn gesehen. Ach, danach habe ich Sie noch gar nicht gefragt. Ist Ihnen ein Kerl aufgefallen, der nicht in diese Gegend paßt?« »Wir haben niemanden gesehen«, sagte Mort Red‐ ford. »Vielleicht ist das auch besser so, denn Wilson ist ein verdammt unangenehmer Zeitgenosse. Er ist groß, kräftig, dunkelhaarig ... Eigentlich kann man ihn schlecht beschreiben. So wie er sehen in Tampa bestimmt zweihundert Männer aus.« Der Sheriff trank seinen Kaffee aus. Er erhob sich, nachdem er seinen Hut aufgehoben hatte. »Vielen Dank für den herrlichen Kaffee, Ma’am«, sagte er freundlich. »Ich wollte Ihnen mit meinem Besuch keine Angst machen. Aber Sie nicht zu warnen, wäre natürlich auch nicht richtig gewesen, nicht wahr? Also wenn Ihnen ein Typ auffällt, der groß, kräftig und dun‐ kelhaarig ist, dann seien Sie vor ihm auf der Hut. Halten Sie von jetzt an ein bißchen die Augen of‐ fen, okay? Der Killer kennt dieses Haus. Er wird vermuten, daß es immer noch leersteht. Ich könnte
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mir vorstellen, daß er versucht, sich für eine Weile hier zu verkriechen.« Mort seufzte. »Na, das sind ja heitere Aussichten.« Der Sheriff zuckte mit den fleischigen Schultern. »Kann natürlich auch sein, daß er sich in eine ganz andere Richtung davongemacht hat. Ich wollte Sie nur gewarnt wissen, das war alles, Herrschaften. Ich wünsche Ihnen weiterhin einen erholsamen Urlaub.« »Wir hatten auch schon mal unbeschwertere Fe‐ rien«, sagte Irma, als Carter Jenkins bereits wieder zu seinem Wagen unterwegs war. Später sprach Mort Redford mit seiner Tochter über den Killer, damit auch sie gewarnt war. Har‐ ry Palmer fiel dabei auf, daß January sich anschei‐ nend an den Taten, die Bryan Wilson begangen hatte, delektierte. Sie schien ganz wild darauf zu sein, diesem Mann zu begegnen, obwohl sie be‐ hauptete: »Hoffentlich kommt dieser schreckliche Kerl niemals hierher.« Am nächsten Morgen stieß Irma in der Küche ei‐ nen schrillen Schrei aus. Mort und Harry sprangen sofort auf. Sie hörten das Tablett zu Boden fallen. Geschirr zerbarst auf dem Fliesenboden. Löffel und Messer klapperten. 155
Harry war vor Mort bei der Schwingtür. Er stieß sie auf, und da lehnte Irma am Kühlturm und starrte mit schockgeweiteten Augen zum Fenster hinaus. Sie war unfähig, ein Wort zu sagen. Mort packte seine Frau und schüttelte sie. »Irma! Um Himmels willen, Irma, was hast du denn? Was ist passiert? Was hat dich so sehr erschreckt?« »Er ...«, stammelte Irma bestürzt. »ER – ist – da . . . Der Killer . . . Ich habe ihn gesehen! Bryan Wilson ... Dort drüben ... O Mort, er wird uns alle umbrin‐ gen!« Die beiden Männer rannten aus dem Haus. Der Mann, den Irma gesehen hatte, war nirgendwo zu erblicken. Auf gut Glück liefen Mort Redford und Harry Palmer in die Richtung, die Irma ihnen an‐ gegeben hatte. Balderreichten sie das dichte Un‐ terholz. »Und was nun?« fragte Mort Redford keuchend. »Besser, wir trennen uns. Wir müssen ihn in die Zange nehmen. Aber seien Sie vorsichtig. Wenn das wirklich der Bursche ist, den Sheriff Jenkins sucht, ist es bestimmt verflucht gefährlich, an ihn heranzukommen. Er ist bewaffnet!« Mort bewaffnete sich mit einem armdicken Ast, der vor seinen Füßen auf dem Boden gelegen hat‐ 156
te. »Wir kriegen ihn, Harry. Uns beiden ist dieser Gangster nicht gewachsen!« Harry eilte in Richtung schwarze Kapelle weiter. Irma stand mit January am Küchenfenster und be‐ obachtete die Männer. Die Frau des Produzenten klammerte sich an ihre Stieftochter, die das Ganze ziemlich kalt zu lassen schien. January war kein bißchen aufgeregt. Irma konnte das nicht verste‐ hen, denn ihr Herz hämmerte wie wahnsinnig ge‐ gen die Rippen. Mort schlich vorsichtig durch das Dickicht. Schon nach wenigen Schritten nahm er in geringer Ent‐ fernung eine Bewegung wahr. Er umklammerte den Ast sofort etwas fester. So lautlos wie möglich glitt er von Baum zu Baum. Er duckte sich, um von dem anderen nicht entdeckt zu werden. Meter um Meter arbeitete er sich an den Mann he‐ ran. Ab und zu sah er den Kerl zwischen hellgrü‐ nen Farnen auftauchen und gleich wieder ver‐ schwinden. Wie hatte der Sheriff den Killer be‐ schrieben? Groß, kräftig, dunkelhaarig. Das war der Mann! Mort Redford wollte ihm nicht die geringste Chan‐ ce lassen, an seinen Revolver heranzukommen.
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Der schwere dicke Ast mußte Wilson früher tref‐ fen, als dieser nach seiner Kanone greifen konnte. Dadurch, daß der Verbrecher sich selbst bewegte, hörte er die Geräusche nicht, die Mort Redford verursachte. Einen kurzen Moment lang glaubte der Produzent, Harry Palmer zwischen den Bäu‐ men hindurchhuschen zu sehen. Auch der Killer schien Harry bemerkt zu haben, denn er richtete sich plötzlich zu seiner vollen Größe auf und blick‐ te in dessen Richtung. Mort fand, daß dies die beste Chance war, den Mann hinterrücks anzufallen. Er spannte seine Muskeln. Jetzt! befahl er sich, und dann rannte er mit langen Sätzen los. Sein Arm war hochgestreckt. Der Ast würde gleich herabsausen. Als der Fremde die schnellen Schritte hinter sich vernahm, zuckte er hastig herum. Doch er hatte keine Gelegenheit mehr, sich zu schützen. Mort Redford hatte ihn erreicht und schlug sofort zu. Zweimal, dreimal, viermal... Dann brach der Ast. Und der Mann kippte hinte‐ nüber zu Boden. Harry Palmer kam gelaufen. Mort stand keuchend da und regte sich nicht.
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»Hoffentlich haben Sie nicht zu fest zugeschlagen«, sagte Harry bedenklich. »Ich mußte ihn doch außer Gefecht setzen, bevor er seine Waffe ziehen konnte«, erwiderte der Film‐ produzent heiser. Harry kniete neben dem Fremden nieder. Er fühlte nach dessen Halsschlagader und sagte dann zu Mort: »Er lebt.« »Sehen Sie mal nach, was er so alles bei sich hat«, verlangte Mort. »Und nehmen Sie ihm vor allem die Kanone ab, bevor er zu sich kommt.« Harry tastete den Bewußtlosen systematisch ab. »Er ist unbewaffnet«, sagte er erstaunt. »Das gibt’s doch nicht«, stieß Mort aufgeregt her‐ vor. »Liebe Güte, vielleicht ist das gar nicht der, für den wir ihn gehalten haben.« »Durchsuchen Sie seine Taschen«, keuchte Mort. Harry war schon dabei. Als erstes fand er eine teu‐ re Pocketkamera in der Brusttasche. Dann eine Brieftasche mit Rechnungen, Banknoten, Führer‐ schein, Kreditkarte und – einen Presseausweis. Al‐ les ausgestellt auf den Namen Nick Boomer. Mit Foto, so daß kein Zweifel darüber bestehen konnte,
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daß dieser Mann nicht Bryan Wilson, der Killer, war. Mort Redford prüfte die Ausweise mit kummer‐ voller Miene. »Ach du Schreck, da hätte ich doch tatsächlich beinahe einen Reporter erschlagen. Dieser verdammte Sheriff hat mir mit seiner Kil‐ lergeschichte so stark zugesetzt, daß ich gar nicht auf die Idee kam, hier könne sich jemand anders herumtreiben.« »Wir sollten was für Mr. Boomer tun«, sagte Harry Palmer ernst. Er schob dem Mann die Papiere wieder in die Taschen. »Kommen Sie, wir tragen ihn ins Haus und sehen zu, daß er wieder zu sich kommt«, brummte Mort, dem das, was er getan hatte, in höchstem Maße unangenehm war. Sie packten den Ohnmächtigen bei Armen und Beinen und schleppten ihn aus dem Dickicht. Irma und January standen immer noch am Küchenfenster. Als Irma die Männer kommen sah, biß sie sich nervös in die Faust. January löste sich von ihr. »January, wo gehst du hin?« fragte Irma völlig durcheinander.
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»Ich will mir den Mann ansehen, den Pa erlegt hat«, gab das Mädchen mit einem seltsamen Lä‐ cheln zurück. Von weitem schon rief Mort: »Irma! Irma! Bring das Riechsalz und bereite kalte Kompressen vor!« Die Männer trugen den Bewußtlosen in die Halle und legten ihn dort aufs Sofa. January beugte sich mit glitzernden Augen über ihn. Sie sah die geröte‐ ten Stellen an Boomers Stirn und lachte in sich hi‐ nein. Was diesem Mann zugestoßen war, bereitete ihr großes Vergnügen. Sie wußte, daß sie nicht Bryan Wilson vor sich hat‐ te. Seit sie diese unselige Verbindung mit Hyram Delmy eingegangen war, wußte sie überhaupt mehr als früher. Ab und zu gelang es ihr sogar, Gedanken zu lesen. Sie hätte den Namen des Ohnmächtigen zu nennen vermocht, doch sie woll‐ te nicht verraten, daß das Böse, das sich in ihr be‐ fand, sie mit geringfügigen übersinnlichen Fähig‐ keiten ausgestattet hatte, deshalb fragte sie: »Wer ist dieser Mann?« »Ein Reporter!« knurrte Mort Redford mit finsterer Miene. Die Sache war ihm schrecklich peinlich.
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January lachte schadenfroh auf. »Du hast einen Zeitungsfritzen erschlagen?« »Er ist nicht tot. Er ist nur bewußtlos«, sagte Mort grimmig. »Geh und sieh, wo Irma so lange bleibt.« Mort schlug den Ohnmächtigen immer wieder auf die Wangen. Es half nichts. Der Mann kam nicht zu sich. »Herrgott, wenn der nicht wieder hochkommt...«, stöhnte der Produzent. Er dachte an Dee Monroe. Irgendwie hatte diese Situation hier Parallelen. Damals hatte er zu fest zugeschlagen – und dies‐ mal wieder. Damals hatte er keine Zeugen gehabt, wodurch es ihm möglich gewesen war, die Leiche fortzuschaf‐ fen und mit ihr einen Unfall vorzutäuschen. Doch diesmal ... Harry Palmer, Irma, January ... Wenn Nick Boomer nicht mehr zu sich kam, würde sich das nicht totschweigen lassen. Harry legte seine Hand wieder auf Boomers Hals‐ schlagader. Sein Gesicht war ernst. »Was ist?« fragte Mort Redford erschrocken. »Kein Puls mehr?« »Doch. Aber nur ganz schwach.«
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»Der Himmel stehe dem armen Kerl bei!« seufz‐ te Mort. Dabei meinte er aber vor allem, der Him‐ mel möge ihm beistehen. Irma kam mit den kalten Kompressen und dem Riechfläschchen, das ihr Mort sofort aus der Hand riß. Während Irma dem Bewußtlosen die kalten Tücher auf den Kopf legte, pendelte Mort mit dem Riechfläschchen unter der Nase des Mannes hin und her. »Ein Reporter ist das«, sagte Mort zu seiner Frau. »Nicht Bryan Wilson?« fragte Irma verblüfft. »Ich weiß nicht, ob ich leider nein oder zum Glück nein sagen soll«, murmelte Mort. Das Riechsalz belebte den Ohnmächtigen langsam wieder. Er verzog das Gesicht. Der unangenehme, beißende Geruch zwang ihn, den Kopf hin und her zu werfen. Er hustete und riß erschrocken die Au‐ gen auf. Als er Mort über sich gebeugt sah, stieß er einen krächzenden Schrei aus und riß die Arme zur Ab‐ wehr hoch. »Keine Angst, ich tu’ Ihnen nichts mehr, Mr. Boo‐ mer«, sagte der Filmproduzent erleichtert. Er war froh, daß Nick Boomer wieder die Augen offen hatte. January war enttäuscht darüber, daß die 163
Ohnmacht des Fremden nicht länger gedauert hat‐ te. »Woher kennen Sie meinen Namen?« fragte der Reporter verwirrt. »Wir waren so frei, uns den Inhalt Ihrer Taschen anzusehen«, sagte Harry Palmer. »Geht es Ihnen wieder besser?« Boomer wies auf Mort. »Dieser Mann hätte mich beinahe erschlagen.« »Daran sind Sie selber schuld!« sagte Mort ärger‐ lich. »Dies hier ist mein Grund und Boden. Darauf haben Sie nicht herumzuschleichen. Sie haben meine Frau zu Tode erschreckt...« »Ist das ein Grund, jeden Fremden gleich nieder‐ zuknüppeln?« fiel Boomer dem Produzenten ins Wort. »An und für sich ist das nicht meine Art. Aber ge‐ stern war Sheriff Jenkins bei uns und hat uns von einem gefährlichen Killer erzählt, der sich mögli‐ cherweise in dieser Gegend herumtreibt. Was hät‐ ten Sie an meiner Stelle getan, wenn Sie einen Mann erblickt hätten, auf den die Beschreibung, die uns der Sheriff gegeben hat, paßt? Sie kön‐ nen von Glück sagen, daß die Sache nicht schlim‐ mer für Sie ausgegangen ist, Mr. Boomer.« 164
»Sie aber auch«, gab der Reporter steif zurück. Mort nickte. »Da haben Sie allerdings recht.« Er boxte mit der geballten Rechten in die offene Lin‐ ke. »Zum Teufel, was hatten Sie dort draußen in aller Heimlichkeit zu suchen? Würden Sie die Freundlichkeit haben, uns das zu verraten?« »Ich schreibe für den ,Observer’ von Tallahassee, wie Sie aus meinen Papieren entnommen haben. Hierbei handelt es sich um eine Wochenzeitschrift, deren Auflage ehrlich gesagt nicht gerade schwin‐ delerregend hoch ist. Aber mein Chef kann von den Einnahmen anscheinend leben, sonst hätte er das Blatt längst eingestellt. Zur Zeit ist mal wieder absolut nichts los in Tallahassee und Umgebung, deshalb machte ich einen Trip nach Tampa, um mich da mal ein bißchen umzuhören. Ich hoffte, irgendwo eine brauchbare Story aufzugabeln, und da sagte mir jemand, wenn ich ’nen Stoff für eine kleine Spukgeschichte haben wolle, solle ich mir doch mal die schwarze Kapelle hier ansehen. Ich kam also hierher, hatte nicht die Absicht, Sie in ir‐ gendeiner Weise zu stören, wollte mich nur ein bißchen umsehen, um Lokalkolorit zu sammeln, und dann wieder verduften. Leider hat mich Ihre Frau schon entdeckt, bevor ich mich in der Ruine 165
noch umsehen konnte. Ich sehe ein, daß es ein Feh‐ ler war, nicht zu Ihnen zu kommen und Sie zuerst mal um Erlaubnis zu fragen, aber ich dachte, was könnten Sie schon dagegen einzuwenden haben, wenn ich mich ein bißchen zwischen dem Ge‐ mäuer herumtreibe.« Irma schüttelte den Kopf. »Sie sollten dort lieber nicht hingehen, Mr. Boomer.« Der Reporter fragte mit neugierigen Augen: »Spukt es in der schwarzen Kapelle etwa wirk‐ lich?« Er lachte gepreßt. »Das wäre ja herrlich.« Januarys Gesicht überzog sich mit einer starren Eisschicht. »Wenn Sie die Ruine betreten, werden Sie darin umkommen, Mr. Boomer.« Der Reporter lachte abermals. »Ah, die junge Da‐ me möchte mir ein bißchen Angst machen, wie? Damit stacheln Sie meine Neugier nur noch mehr an.« Er setzte sich auf und nahm die kalte Komp‐ resse ab. »Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe, Mrs....« »Redford«, sagte Irma. Boomer wandte sich an Mort. »Sind Sie Mr. Red‐ ford?« »Ja«, sagte Mort mit belegter Stimme. »Das ist meine Tochter January, und dies ist Mr. Harry 166
Palmer, ein guter Freund von uns. Hören Sie, Mr. Boomer, mir wäre wohler, wenn Sie sich nicht wei‐ ter um die schwarze Kapelle kümmern, sondern wieder nach Tallahassee zurückfahren würden.« »Es ist also doch etwas dran an den Spukgeschich‐ ten, die man sich über die Ruine erzählt.« »Bestimmt nicht«, sagte Mort grimmig. »Lassen Sie mich eine Stunde in der schwarzen Kapelle herumschnüffeln. Was macht das Ihnen denn schon aus? Ich werde Sie bestimmt nicht stö‐ ren, und meine arme neugierige Reporterseele be‐ käme ihren Frieden.« »Also gut«, seufzte Mort. »Wenn es unbedingt sein muß.« »Fühlen Sie sich denn schon wieder soweit okay?« fragte Harry Palmer. Nick Boomer griente. »Ich bin hart im Nehmen.« Er stand auf und schwankte kein bißchen. Er ver‐ abschiedete sich. Irma wollte ihm sagen, daß es ge‐ fährlich sei, die Ruine zu betreten, aber sie schwieg, weil sie wußte, daß jedes Wort überflüs‐ sig gewesen wäre. Der Reporter wäre ja doch nicht davon abzubringen gewesen, sich die schwarze Kapelle von innen anzusehen. Während Boomer das Haus verließ, begab sich Mort Redford nach oben, um sich umzuziehen, 167
denn sein schweißnasses Hemd klebte unange‐ nehm an seinem Körper. Zufällig entdeckte er den kleinen Zettel, der auf seinem Kopfkissen lag. Es stand nur ein einziges Wort darauf, aber das traf ihn mit der Wucht eines Keulenschlages. Irma mußte es geschrieben haben. Es war Irmas Hand‐ schrift. Dieses eine Wort, das Mort Redford in größte Panik versetzte, lautete: MÖRDER! Nick Boomer stolperte indessen durch das Un‐ kraut. Er machte sich in einem kleinen Büchlein Notizen, schrieb auf, was ihm im Dickicht zuges‐ toßen war, notierte, was die Leute im Haus zu ihm gesagt hatten, hielt in Stichworten fest, welchen Eindruck die schwarze Kapelle auf ihn von außen machte. Da stand unter anderem: »... irgendwie unheimlich ... Man kann sich eines gewissen beklemmenden Gefühls nicht entziehen ... Eine eigenartige Kälte geht davon aus ...« Lächelnd steckte er Kugelschreiber und Notizbuch weg. Er genoß die leichte Gänsehaut, die er über seinen Rücken krabbeln fühlte. Dieses Gefühl würde er seinen Lesern vermitteln. Er war zuver‐
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sichtlich, daß ihm damit eine sehr gute Story ge‐ lingen würde. Während er die Ruine mehrmals umrundete, machte er mit seiner Pocketkamera zahlreiche Aufnahmen. Als er dann darangehen wollte, die schwarze Kapelle zu betreten, machte sich bei ihm eine gewisse Scheu bemerkbar. Januarys Worte kamen ihm in den Sinn. Wenn er die Ruine betrete, würde er darin umkommen, hatte das kleine Lu‐ der gesagt. Boomer lachte laut. Mensch, laß dich doch von der Hexe nicht ins Bockshorn jagen, sagte er zu sich selbst und mach‐ te den ersten entschlossenen Schritt. Im nächsten Moment schon wußte er, daß er den größten Feh‐ ler seines Lebens gemacht hatte. Der Himmel über der schwarzen Kapelle überzog sich fast schlagartig mit einem häßlichen Grau. Obwohl es nirgendwo mehr Türen gab, hörte Nick Boomer ganz deutlich eine Tür in den Angeln äch‐ zen. Gleich darauf fiel sie mit einem dumpf hallenden Knall zu. Irgendwie glaubte sich Nick Boomer eingeschlos‐ sen. Er drehte sich rasch um und wollte versuchen, 169
die Ruine noch einmal zu verlassen, doch da prall‐ te er gegen ein unsichtbares Hindernis: ein Tor mit schweren Riegeln, die er zwar ertasten, aber nicht zur Seite schieben konnte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Ma‐ gen aus. Angst? Vielleicht. Aber er war noch der Meinung, mit heiler Haut davonzukommen. Okay, er hatte nicht an den Spuk geglaubt. Er hatte die Geschichten, die man ihm erzählte, für übertriebe‐ nen Humbug gehalten. Vielleicht auch für einen Trick, der auf irgendeine Weise zu durchschauen sein würde. Das unsichtbare Tor aber konnte kein Trick sein. Er zückte seine Pocketkamera und machte wieder einige Aufnahmen. Auf seinem Rundgang durch die Ruine gelangte er an ein Loch in der Mauer, das einen Durchmesser von eineinhalb Metern hat‐ te. Er wollte da hindurchschlüpfen, aber das ging nicht. Er stieß sich ziemlich heftig den Kopf an je‐ nem unsichtbaren Teil, der das Mauerloch ausfüll‐ te. Nun wurde Nick Boomer allmählich unruhig. War er tatsächlich in dieser Ruine gefangen? Wer hatte diese unsichtbaren Barrieren errichtet? Wie waren sie zu durchbrechen? Boomer blickte sich 170
seltsam berührt um. Kein Zweifel, er saß in der Falle. Diese Erkenntnis trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Er ließ seine Zunge aufgeregt über die tro‐ ckenen Lippen tanzen. Was sollte er tun? Er ent‐ schloß sich, erst mal abzuwarten. Solange er nicht angegriffen wurde versuchte er sich einzureden ‐, gab es eigentlich keinen Grund, sich zu beunruhi‐ gen. Vielleicht blieb er hier bloß für ein paar Minuten eingeschlossen. Ein Gefangener des unheimlichen Spuks. Das würde seiner Story noch mehr Würze geben. Sei unbesorgt, Nick, sagte er zu sich selbst, damit wirst du allemal noch fertig. Die Beklemmung wurde zu einem schweren Druck auf seiner Brust. Er begann aufmerksamer zu werden. Er lauschte auf jedes Geräusch. Sogar der eigene Herzschlag fiel ihm auf. Die Pumpe ar‐ beitete wesentlich schneller als sonst. Er wollte die Angst mit seiner Vernunft unterdrücken, doch die‐ ses Gefühl läßt sich nicht so einfach steuern. Bald konnte er sich des Eindrucks nicht mehr er‐ wehren, daß ihn jemand scharf beobachtete. Er wandte sich immer wieder blitzschnell um, weil er
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dachte, jemand würde hinter ihm stehen, doch niemals konnte er hinter sich jemanden entdecken. Eine unsichtbare Hand legte sich um sein Herz und drückte zu. Er japste nach Luft. Der Auf‐ enthalt in der Ruine wurde ihm allmählich unert‐ räglich. Er versuchte sie zu verlassen, doch die schwarze Kapelle ließ ihn nicht mehr frei. »Verdammt!« keuchte Nick Boomer. Er lehnte sich an eines der Mauerfragmente und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie ist so etwas möglich? Ich bin doch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Wieso kann ich diese Ruine nicht verlassen?« »Weil ich es nicht zulasse!« sagte plötzlich eine polternde Stimme. Nick Boomer gerann das Blut in den Adern. Mit einem krächzenden Schrei stemmte er sich von der Mauer ab. »Wer bist du?« fragte der Reporter erschrocken. »Ich bin Hyram Delmy«, antwortete die grollende Stimme. »Wo bist du?« »Ich bin hier!« hallte es gespenstisch durch die schwarze Kapelle. »Wo? Ich kann dich nicht sehen!«
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»Schau auf den Boden!« befahl der Spuk dem Re‐ porter. Nick Boomer senkte den Blick. Da lag ein tintiger Schatten, den niemand warf. Der Reporter hielt unwillkürlich den Atem an. Der Schatten bewegte sich. Er glitt langsam über den Boden, kam auf Boomer zu und richtete sich knapp vor ihm auf. Boomer war nicht klein. Aber der schwarze Schat‐ ten überragte ihn um einen ganzen Kopf. Der Reporter faßte sich an die Brust. »Alle Mächte ...«, stammelte er überwältigt. Er schaute zu dem riesigen Schatten auf, in dem plötzlich ein Augenpaar zu glühen begann. Dieses Glühen erhellte alsbald zum Teil ein leichenblasses Antlitz, vor dem Nick Boomer entsetzt zurück‐ wich. Der Unheimliche grinste teuflisch. »January hat dich gewarnt. Du hast nicht auf sie gehört. Also mußt du sterben!« Boomer hob abwehrend die Hände. »Aber ich – ich hab’ doch nichts getan! ’ »Du hast meine Ruhe gestört!« knurrte der Un‐ hold. 4
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»Aber – aber ich bin doch bestimmt nicht der erste, der diese Ruine betritt. Hast du alle, die vor mir hier waren, umgebracht?« »Ich verfahre hierbei nach meinem eigenen Gut‐ dünken.« »Warum willst du dann ausgerechnet mich ...« »Einfach deshalb, weil es mich nach einem Mord gelüstet«, sagte das Gespenst und machte einen schnellen Schritt auf Nick Boomer zu. Mit einem entsetzten Aufschrei sprang der Repor‐ ter zurück. Er stolperte und fiel. Keuchend rappel‐ te er sich wieder hoch. Er rannte schreiend durch die Ruine. Der Unheimliche folgte ihm ohne Eile. »Hier kommst du nicht mehr lebend raus!« sagte Delmy höhnisch. »Du sitzt in meiner magischen Falle. Du kannst sie nicht durchbrechen!« Boomer hetzte von Raum zu Raum. Immer wieder versuchte er zwischen den Mauerfragmenten ins Freie zu stürmen, doch jedesmal wurde er von den unsichtbaren Mauerteilen aufgehalten. Hyram Delmy machte sich ein höllisches Vergnü‐ gen daraus, sein Opfer bis zur völligen Erschöp‐ fung zu jagen. Boomer stand Todesängste aus. Ei‐ ne glühende Panik peitschte ihn immer wieder im
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Kreis durch die schwarze Kapelle, bis er keinen Schritt mehr tun konnte. Entkräftet sackte er zusammen. Er rollte auf den Rücken, hechelte wie ein Tier, war in Schweiß ge‐ badet, war völlig entkräftet, konnte nichts mehr tun, um sein bedrohtes Leben im allerletzten Au‐ genblick doch noch zu retten. Der schwarze Schatten kroch über ihn. Er spürte, wie sich eiskalte Hände um seine Kehle legten. Bevor diese Hände zudrückten, stieß Nick Boomer seinen letzten verzweifelten Hilfeschrei aus. Dann nahm ihm der unheimliche Mörder mit‐ leidlos das Leben ... Mort Redford starrte betroffen auf den Zettel. MÖR‐ DER! las er. Mörder. Irma hatte dieses Wort ge‐ schrieben. Sie wollte ihm auf diese Weise mitteilen, daß sie wußte, wie Dee Monroe in Los Angeles tat‐ sächlich ums Leben gekommen war. In Redfords Kopf überstürzten sich die Gedanken. Wie konnte Irma es erfahren haben? Wieso hatte sie bis jetzt geschwiegen? Wie war es überhaupt möglich, daß sie davon wußte? Niemand hatte den Totschlag miterlebt. Niemand hatte gesehen, wie 175
er, Mort, die Schauspielerin aus dem Hotel ge‐ schafft hatte. Der Filmproduzent fuhr sich verzweifelt über die Stirn. Er hatte gehofft, nicht mehr an diesen schrecklichen Tag in Los Angeles erinnert zu wer‐ den. Und nun dieser Zettel auf seinem Kopfkissen, mit dem ihm Irma zu verstehen gab, daß sie ihn durchschaut hatte. Verwirrt knüllte er den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche. Doch dort behielt er ihn nicht. Er eilte ins Bad und verbrannte ihn da. An‐ schließend zog er sich um. Seine Gedanken kreis‐ ten dabei immer um dasselbe Thema: Wie sollte er mit Irma darüber reden? Er dachte an Harry Palmer, der Irma früher sehr viel bedeutet hatte. Wieviel bedeutete ihr dieser gutaussehende Mann heute? Würde sich Irma an Sheriff Jenkins wenden, um für Harry Palmer frei zu sein? Würde es Irma wirklich fertigbringen, ihn zu verraten, der Polizei auszuliefern? Oder bezweckte sie mit diesem Zet‐ tel, daß er sich selbst der Polizei stellte? Mort fuhr sich mit dem Finger in den Hemdkra‐ gen. Eine Aussprache mit Irma schien ihm unver‐ meidbar zu sein. Aber nicht gleich. Er wollte war‐ 176
ten, bis Palmer zu seinem Geologentrupp zurück‐ gekehrt war. Dann wollte er Irma – wenn January bereits zu Bett gegangen war – die ganze Geschich‐ te beichten. Er wollte sie ihr so erzählen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatte. Er würde nicht das geringste verschweigen, und er war gespannt, wie seine Frau auf diese Beichte reagieren würde. Er kehrte in die Halle zurück. Irma sah ihn nicht an. Sie saß in einem der Sessel und zerknüllte ein weißes Taschentuch. January stand am Fenster und blickte zur schwar‐ zen Kapelle hinüber. Sie schien auf etwas zu war‐ ten. Harry Palmer hatte einen Scotch in der Hand. Mort wies darauf und bat: »Geben Sie mir auch einen.« Harry goß ein. Plötzlich gellten Schreie, in größter Todesangst ausgestoßen, über die Lichtung. Mort blickte Har‐ ry an, der die Flasche ruckartig abgesetzt hatte. »Großer Gott, das ist Boomer, der da wie am Spieß schreit!« January stieß ein schrilles Lachen aus. »Er hat ihn erwischt!« kreischte sie begeistert. »Er hat ihn er‐ wischt!«
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Mort Redford eilte zu ihr. Er packte sie grob bei den Schultern und riß sie ungestüm herum. »Wer?« schrie er seiner Tochter ins Gesicht. »Wer hat ihn erwischt?« January gab ihm keine Antwort. Mort schüttelte sie wild. »Wer? Sag mir, von wem du sprichst!« »Laß mich los, du tust mir weh!« keifte January. »Ich habe dich etwas gefragt!« »Laß mich endlich los!« »Von wem hast du gesprochen? Wer hält sich in dieser gottverdammten Ruine auf, January?« »Sieh nach, wenn es dich interessiert. Sieh doch nach, wenn du den Mut dazu aufbringst.« Das Mädchen riß sich von ihrem Vater los und rannte lachend davon. Drüben in der schwarzen Kapelle riß Boomers Schrei jäh ab. »Der Mann braucht Hilfe!« stieß Harry Palmer atemlos hervor. »Kommen Sie!« sagte Mort Redford. Irma stellte sich ihnen mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Ich flehe euch an, geht dort nicht hin!«
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»Wir müssen!« sagte Mort nervös. »Wir können den Mann doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen!« »Er wird auch euch töten!« stöhnte Irma. »Wer? Verdammt noch mal, wen meint ihr denn alle?« schrie Mort Redford wütend. »Der, von dem January besessen ist«, gab Irma hei‐ ser zurück. »Du erinnerst dich, sie war in der schwarzen Kapelle und kam völlig verwandelt zu‐ rück. Das hat er getan. Sie trägt ihn in ihrem Her‐ zen, anders kann ich mir ihre besorgniserregende Wesensänderung nicht erklären. Das Böse hat sich ihrer bemächtigt, deshalb hat sie vorhin so begeis‐ tert gelacht, als sie die Schreie hörte. Ich bitte euch, begebt euch nicht auch noch in die Gewalt des Unheimlichen.« »Hör mal, wir können doch nicht zulassen, daß der Reporter in dieser Ruine umkommt, Irma«, sagte Mort scharf. »Er ist bereits tot. Ich fühle es. Ich weiß es.« Mort drängte Irma beiseite und rannte mit Harry Palmer aus dem Haus. »Bleibt hier!« schrie Irma. Ihr Herz wollte vor Angst um die beiden Männer bersten. Sie fing zu weinen an. »So bleibt doch hier!« schluchzte sie 179
und ließ sich schwer in den Sessel fallen, aus dem sie zuvor hochgeschnellt war. Kopfschüttelnd und mit tränenerstickter Stimme sagte sie: »Ihr könnt Boomer nicht mehr helfen. Der Mann hat zuviel gewagt. Er mußte seinen Wagemut mit seinem Le‐ ben bezahlen ... Warum bleibt ihr denn nicht hier? Ich will euch nicht verlieren!« Wie von tausend Teufeln gehetzt jagten die beiden Männer über die Lichtung. Schwer keuchend er‐ reichten sie die Ruine. Ohne zu zögern stürmten sie in die schwarze Kapelle hinein. »Boomer!« schrie Mort Redford außer sich vor Sorge um den Reporter. »Mr. Boomer!« schrie auch Harry Palmer. Der Mann antwortete nicht. Mort und Harry blick‐ ten in jeden Mauerwinkel. Mit zäher Verbissenheit suchten sie nach einer Spur von Nick Boomer, doch es gab keine solche. Der Reporter war voll‐ kommen ausgelöscht worden, so als hätte es ihn nie gegeben. »Was sagen Sie dazu?« fragte Harry Palmer den Produzenten. Mort hob die Schultern. »Ich stehe vor einem Rät‐ sel.« Sie suchten den Mann hinter der Ruine und auch im 180
angrenzenden Dickicht, doch nirgendwo konnten sie eine Spur von ihm entdecken. Mort fuhr sich verwirrt durch das Haar. »Also wenn ich das allein erlebt hätte, würde ich ernstlich an meinem Verstand zweifeln.« Harry Palmer fuhr nach Tampa, um den Sheriff von je‐ nem rätselhaften Vorfall zu informieren. Anschlie‐ ßend hörte er sich bei mehreren Leuten um, die über den Spuk in der schwarzen Kapelle Bescheid wußten. Allmählich fing er nämlich doch an, an Geister zu glauben, denn eine vernünftige Erklä‐ rung für Nick Boomers Verschwinden konnte er sich nicht geben, so sehr er sich auch darum be‐ mühte. Palmer erfuhr in Tampa eine Geschichte, die ihn alarmierte. Er kehrte unverzüglich zu den Red‐ fords zurück. »Was hat der Sheriff gesagt?« wollte Mort wissen, als Harry in die Halle trat. »Er wird morgen kurz vorbeikommen«, erwiderte Harry. Er warf January einen grimmigen Blick zu. Sie schien sich immer noch über Boomers Ver‐ schwinden zu freuen. Er wandte sich an Mort und
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Irma. »Wißt ihr, wem dieses Haus mal gehört hat?« »Ja, einem verschrobenen Schriftsteller namens Lester Lancaster«, sagte der Filmproduzent. »Irrtum«, entgegnete Palmer. »Bis vor fünf Jahren gehörte dieses Haus einem Mann namens Hyram Delmy!« Harry fiel auf, wie January zusammenzuckte. Ihre Augen wurden schmal. Aber sie sagte kein Wort. »Delmy war ein grausamer Kerl. Er wohnte hier zusammen mit seiner Schwester Norma. Eines Ta‐ ges hat er sie im Verlaufe eines Streits in dieser Halle erschlagen. Genau an der Stelle, wo ihr den Blutfleck gefunden habt, der sich nicht entfernen läßt. Nachdem Delays Schwester tot war, entweih‐ te er die Kapelle, in der sie immer gebetet hatte. Es heißt, daß er von diesem Tag an Nacht für Nacht den Teufel angebetet hat. Das scheint den Himmel eines Tages so sehr gereizt zu haben, daß er zahl‐ reiche Blitze auf die Kapelle herabschleuderte, in der sich Hyram Delmy befand. Ein Brand brach augenblicklich aus und zerstörte die gesamte Ka‐ pelle. Hyram Delmy wurde von einem herabstür‐ zenden Balken erschlagen. Seither spukt er dort drüben, und die Leute sagen, daß er gern wieder 182
in dieses Haus zurückkehren würde, aber das schafft er nicht aus eigener Kraft. Norma, seine Schwester, war ein guter Mensch. Durch den Mord an ihr hat er sich gewissermaßen die Rückkehr in sein Haus verbarrikadiert. Er kann dieses Haus erst dann wieder betreten, wenn ihm ein Mensch, dessen Seele so schwarz ist wie die seine, Einlaß gewährt.« January rutschte nervös hin und her. »Blödsinn«, stieß sie krächzend hervor. »Das ist doch alles Blödsinn. Sie sollten den Leuten diese Schauer‐ märchen nicht abkaufen, Mr. Palmer. Daran ist doch nichts Wahres.« Mort wandte sich an seine Tochter. »Du hast ge‐ sagt, ,er hat ihn erwischt’, als Nick Boomer diese furchtbaren Hilfeschreie ausstieß, January. Hast du damit Hyram Delmy gemeint?« »Ich weiß es nicht, Pa.« »Du warst gleich am ersten Urlaubstag in dieser verfluchten Kapelle, January. Wem bist du dort begegnet?« »Niemandem. Ich war allein.« »Delmy hat dir das Böse ins Herz gepflanzt, damit du ihn in dieses Haus einläßt!« sagte Mort Red‐ 183
ford, der die Wesensänderung seiner Tochter end‐ lich richtig zu deuten glaubte. »Ich kenne keinen Hyram Delmy!« behauptete Ja‐ nuary trotzig. »Du steckst mit diesem verdammten Bastard unter einer Decke!« schrie Mort wütend. »Aber das eine sage ich dir: Hier kommt der Kerl nicht herein! Und dir werde ich den Teufel wieder austreiben, verlaß dich drauf.« January lachte spöttisch. »Wirst du einen Exorzis‐ ten kommen lassen, Pa?« »Ich werde Mittel und Wege finden, dich auf den richtigen Weg zurückzubringen!« Redford wußte nicht, daß er sich in dieser Hinsicht zuviel vornahm. Gegen das, was seine Tochter im Leib hatte, war er machtlos. Harry Palmer verbrachte eine weitere Nacht im Haus der Redfords. Es war eine stille Nacht ohne Vorkommnisse. Am nächsten Vormittag setzte sich Palmer in sei‐ nen Jeep, um zu seinem Geologentrupp zurückzu‐ kehren, aber er versprach, so bald wie möglich wiederzukommen. »Vielleicht«, sagte er zu Mort Redford, »fällt mir in der Zwischenzeit ein, wie wir Hyram Delmy fertigmachen können. Irgend‐ 184
wie gelingt es sicher. Diese Geister haben alle ir‐ gendwo eine Schwachstelle. Die gilt es zu finden. Sorgen Sie inzwischen dafür, daß January der schwarzen Kapelle fernbleibt.« Mort nickte mit düsterer Miene. »Worauf Sie sich verlassen können. Wenn es sein muß, fessle ich sie an die Rohre der Wasserleitung.« Irma drückte Harry zum Abschied die Hand. Er sah ihr an, daß sie am liebsten zu ihm in den Wa‐ gen gestiegen wäre. »Mach dir keine allzu großen Sorgen«, sagte er zu ihr. »Du wirst sehen, es kommt alles wieder ins rechte Lot.« Er sah die Sache ein wenig zu optimistisch, wie sich bald herausstellen sollte. Der Jeep rollte los. Als er nicht mehr zu sehen war, warf Mort einen schiefen Blick zur schwarzen Kapelle hinüber, und er knurrte: »Jetzt wissen wir wenigstens, mit wem wir es zu tun haben.« Einen Tag nach Harry Palmers Abfahrt und eine Stunde nachdem Sheriff Jenkins mit seinen Leuten unverrichteterdinge nach Tampa zurückgekehrt war, beschäftigte sich Mort Redford wieder mit je‐ nem Zettel, den ihm Irma auf sein Kopfkissen ge‐ legt hatte. Er saß auf der Terrasse und rauchte ner‐ 185
vös. Eigenartig, sie hatte nie ein Wort darüber ver‐ loren. Nicht die leiseste Andeutung hatte sie ge‐ macht. Wollte sie, daß er von sich aus damit anfing? Er quälte sich, suchte nach den passenden Worten, mit denen er beginnen sollte. Zum Teufel, warum hatte er neben Irma, dieser herrlichen Frau, unbe‐ dingt noch eine Geliebte gebraucht? Um sich selbst zu beweisen, was für ein toller Mann er war? Weil es in seinen Kreisen einfach zum guten Ton gehör‐ te, nicht nur mit der eigenen Frau zu schlafen? Heute wußte er, daß er sich von Dee Monroe nicht einwickeln hätte lassen dürfen. Doch heute war daran nichts mehr zu ändern. Dee war ein abge‐ schlossenes Kapitel. Ein unverrückbares Kapitel in seinem Leben. Darüber kam er nun nicht mehr hinweg. Irma war nach oben gegangen. Ob er ihr folgen sollte? Oder war es besser, zu warten, bis sie wie‐ der herunterkam? Er griff nach seinem Buch, in dem er sporadisch las. Er wollte abwarten, sich sammeln, wollte sich zerstreuen, indem er ein paar Zeilen las. Geiste‐ sabwesend öffnete er das Buch. Ein Zettel rutschte ihm entgegen. Dieselbe Größe wie der andere. Die‐ 186
selbe Schrift. Doch diesmal stand nicht »Mörder« auf dem Papier, sondern: Ich werde dich töten, wie du mich getötet hast. Dee Monroe. * Geschrei ließ ihn hochfahren. Er schob den Zettel in seine Hosentasche und warf das Buch auf den Tisch. Irma und January schrien hysterisch durch‐ einander. Glas klirrte. Möbel polterten. »Großer Gott, was ist denn jetzt schon wieder!« stöhnte Mort Redford geplagt. Er hastete in das Haus, rannte die Stufen hinauf und sah Irma und January. Sie wälzten sich auf dem Boden. January riß ihre Stiefmutter an den Haaren. Sie biß und kratzte sie. Sie versuchte sie ins Gesicht zu schla‐ gen. »Mort!« schrie Irma um Hilfe. »Mort, sie hat den Verstand verloren!« Irma hatte Mühe, die Fäuste des tobenden Mäd‐ chens abzufangen. »Mein Haus!« brüllte January ununterbrochen. »Das ist mein Haus! Schert euch aus meinem Haus!« »January!« herrschte Mort Redford seine Tochter an. »January hör sofort auf damit!« 187
Das Mädchen hörte nicht auf ihn. Sie trieb es nur noch toller. Mort stürzte sich auf sie. »Aufhören!« schrie er wütend. »Ich sagte, du sollst aufhören!« Er riß January von Irma weg. Die junge Frau schluchzte. Ihre Nerven konnten nicht mehr mit. Sie zitterte am ganzen Leib und schrie heiser: »Sie ist wahnsinnig, Mort. Sie ist nicht mehr bei Sinnen. Ich habe kein Wort zu ihr gesagt. Nicht einmal an‐ gesehen habe ich sie. Sie fiel ganz überraschend über mich her, schrie, das sei ihr Haus, und ich sol‐ le mich zum Teufel scheren, schlug auf mich ein ... O Mort, was ist nur aus diesem Mädchen gewor‐ den?« Irma wandte sich heulend um, rannte ins Schlaf‐ zimmer und warf die Tür krachend hinter sich zu. Redford schäumte vor Wut fast über. »So, January. Jetzt hast du genug Unfug gemacht. Nun wollen wir beide uns einmal gründlich un‐ terhalten!« Er zerrte das widerborstige Mädchen in ihr Zim‐ mer und schloß die Tür. Er gab ihr einen derben Stoß, und sie landete auf ihrem Bett. »He, Pa, möchtest du jetzt etwa den wilden Mann spielen?« kicherte January höhnisch.
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»Du wirst mir nicht zu frech, Früchtchen!« knirsch‐ te Mort Redford zornig. Er nahm seinen Hosengür‐ tel ab. »Du willst mich verdreschen, wie?« fragte January ohne Furcht. »An deiner Stelle würde ich diesen Gürtel lieber zu etwas anderem nehmen.« »Wozu denn?« fragte Redford gepreßt. Er näherte sich mit schmalen Augen dem Bett. »Du solltest dich damit aufhängen, Pa«, lachte Ja‐ nuary. »Ja, aufhängen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du eingesehen hast, daß das die beste Lösung für dich ist.« Das Mädchen streckte ab‐ wehrend die Hand aus. »Bleib stehen!« »Ich werde dich jetzt so versohlen, daß du noch in zehn Jahren daran denken wirst!« fauchte der Pro‐ duzent. January verzog verächtlich das Gesicht. »Nichts dergleichen wirst du tun, Pa.« »Diese Prügel hätte ich dir schon viel früher geben sollen.« »Du wirst mich nicht schlagen, Pa.« »O doch. Und wie ich das werde! Die Haut wird dir überall aufplatzen. Du wirst viele Tage weder sitzen noch liegen können. Ich möchte doch sehen,
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ob es dem Teufel dann noch in deinem Körper ge‐ fällt!« Er holte aus. »Willst du noch einen Mord begehen, Pa?« fragte January schneidend. »Reicht dir ein totes Mädchen noch nicht? Mußt du auch noch deine Tochter um‐ bringen?« Redford starrte January fassungslos an. »Was re‐ dest du denn da?« »Da staunst du, was?« höhnte January. »Ich weiß, was in Los Angeles passiert ist. Die Zettel, die du gefunden hast, die habe ich geschrieben. Irma hat davon keine Ahnung. Ich hoffte, du würdest ihr dein Verbrechen gestehen, aber du warst bisher zu feige dazu. Aber mit dem Gürtel auf deine Tochter einzudreschen, dafür hast du genügend Mut, was?« Mort Redford ließ verdattert den Arm sinken. Der Gürtel reichte bis auf den Boden. Stockend fragte der Produzent: »Woher‐weißt du, was in Los An‐ geles‐ passiert ist?« »Dee Monroe«, sagte January triumphierend. »Sie war deine Geliebte. Ein wildes kleines Luder im Bett...« »Sprich nicht so!«
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»Spiel nicht schon wieder den moralisch Entrüste‐ ten, denn dazu bist du am allerwenigsten geeignet, Pa. Du bist ein Killer.« »Das ist nicht wahr!« keuchte Mort Redford ent‐ setzt. »Doch, du hast Dee Monroe umgebracht!« zischte January wie eine Schlange. Und plötzlich schlüpfte sie in Dees Haut. Mort schauderte, als er hörte, wie January haargenau Dee Monroes Stimme imitierte. »Ich wußte, daß du nicht mit Anstand verlieren kannst, Mort. Du kannst es nicht haben, daß dir Jack Proby den Rang abläuft! Du würdest mich zum Abschied gern verprügeln, wie? Aber selbst dazu bist du nicht Manns genug!« January lachte aus vollem Hals. »Nicht wahr, das waren ihre Worte. Damit hat sie dich bis zur Weißglut ge‐ reizt!« »Woher weißt du das alles?« keuchte Redford er‐ schüttert. »Ich kann hellsehen, wußtest du das nicht, Pa? Du hast auf Dee Monroe eingedroschen, als sie dir sagte, daß du ihr mit deiner doppelbödigen Mo‐ ralauffassung ein für allemal gestohlen bleiben könntest. Sie fiel und landete mit dem Hinterkopf auf der Backsteineinfassung des offenen Kamins. 191
Dee war auf der Stelle tot. Soll ich dir erzählen, was du anschließend mit ihrer Leiche gemacht hast, oder kannst du dich noch daran erinnern?« Der Filmproduzent glotzte seine Tochter verzwei‐ felt an. »Was willst du von mir, du verdammte Teufelin!« »Ich will, daß du stirbst, Pa!« fauchte das Mädchen aggressiv. »Nimm deinen Gürtel und geh damit in den Keller. Irgendwo wird sich schon ein Haken finden ...« »January, du bist nicht mehr mein Kind.« »Doch. Und ich hasse dich, wie dich nur dein eigenes Fleisch und Blut hassen kann.« »Wegen der Ohr‐ feige, die ich dir gegeben habe?« »Wegen allem. Vor allem deshalb, weil du mein Vater bist.« »Das verstehe ich nicht.« »Es gibt noch viel mehr, das du nicht verstehst, Pa. Geh in den Keller. Mach Schluß mit deinem ver‐ pfuschten Leben. Oder willst du, daß ich Sheriff Jenkins erzähle, was du verbrochen hast? Könntest du die Schmach ertragen, vor Gericht gestellt und lebenslang eingelocht zu werden? Dein Name würde wochenlang durch den Dreck gezogen werden. Man würde kein gutes Haar an dir lassen. 192
Du wärst im Zuchthaus lebendig begraben, könn‐ test nichts dagegen tun, daß sich Irma immer häu‐ figer mit Harry Palmer trifft und auch die Nächte mit ihm zusammen verbringt, während du in dei‐ ner kalten Zelle hockst und von deinen Gewis‐ sensbissen ganz langsam aufgefressen wirst. Wäre dir das lieber?« Mort betrachtete seine Tochter erschüttert. »Du bist ein Scheusal in Menschengestalt, January.« »Das ist für mich eines der schönsten Komplimen‐ te, die du mir machen kannst, Pa.« Das Mädchen lachte gemein. »Sag mir, wirst du’s tun? Gehst du in den Keller?« Mort war wie gelähmt. January sprang vom Bett und lief an ihm vorbei. Sie öffnete die Tür. »Häng dich auf. Es ist die allerbeste Lösung«, sagte sie leise. Dann lief sie die Treppe hinunter, ohne daß Mort sie dran hätte hindern können. Gebro‐ chen sank er auf das Bett. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal geweint hatte, doch nun über‐ schwemmten die Tränendrüsen seine Augen, und er konnte es nicht verhindern.
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Vergnügt hüpfte January über die Lichtung. Sie lachte, tanzte im Kreis, sang fröhlich ein Lied. Ki‐ chernd stürmte sie in die schwarze Kapelle. »Hy‐ ram!« rief sie begeistert. »Hyram, hast du gehört, was ich ihm alles an den Kopf geworfen habe?«Sie drehte sich mehrmals um die eigene Achse. »Ich habe deinen Auftrag ausgeführt, Hyram. Dafür habe ich eine Belohnung verdient. Komm und nimm mich in deine Arme. Pa hat gesagt, ich wäre ein Scheusal. Ist das nicht wundervoll?« Ohne Furcht trat das Mädchen in den schattigen Alkoven. Dort wartete der Unheimliche auf sie. Er war zunächst nur ein nebelartiges Gebilde mit unscharfen, verwischten Konturen, die jedoch schnell klarer wurden und einen großen, kräftigen Körper umrahmten. Seine Haut zeigte ein Glitzern, wie wenn Mondlicht auf einen stillen See fällt. January näherte sich ihm erregt. Sie war ihm mit Haut und Haaren verfallen, und sie begrüßte das. Nichts tat sie lieber als das, was Hyram Delmy ihr auftrug, denn ein Stück von ihm befand sich seit einiger Zeit in ihr und machte sie genauso gemein und boshaft wie ihn selbst. Voll Freude berichtete sie ihm, was sie getan hatte.
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Delmy wußte längst davon, denn er hatte eine te‐ lepathische Brücke in jenes Haus, in das er gern wieder zurückkehren wollte, geschlagen, ohne daß January es bemerkt hatte. Das Mädchen kicherte. »Sie werden mir nicht mehr Herr, Hyram. Sie sind mit ihrer Weisheit am Ende. Irma ist mit den Nerven völlig fertig. Und Mort habe ich endlich auch geschafft.« Der Spuk nahm January in seine Arme. Er bestand aus kalter Luft. Es war seltsam. January konnte sich gegen ihn lehnen, konnte aber gleich‐ zeitig auch durch ihn hindurchgreifen. Die Kälte, die von ihm ausging, ließ das Mädchen frösteln, aber das machte ihr nichts aus. Sie genoß es. »Du warst sehr rege«, sagte Delmy mit hohler Stimme. »Ich habe es für dich getan, Hyram. Für uns. Weil wir eins sein sollen.« »Wir werden eins werden, January. Schon bald.« »Glaubst du, daß Pa sich das Leben nehmen wird?« »Ich bin davon überzeugt.« »Dann ist uns nur noch Irma im Weg, aber mit der werden wir spielend fertig. Die hat keine Wider‐ standskraft«, sagte January verächtlich. »Wenn du 195
ihr erscheinst, klappt sie auf der Stelle zusam‐ men.« Das Mädchen lachte. »Ich verstehe nicht, wie man sich vor dir fürchten kann. Ich bin ganz verrückt nach dir.« »Ich bin mit den Bosheiten, die du für mich getan hast, sehr zufrieden, January.« »Das freut mich. Das freut mich wirklich.« »Was hältst du davon, meine Braut zu werden?« »Jetzt gleich? O das wäre phantastisch!« jubelte Ja‐ nuary. »Ich habe die Macht, dich zu einer unsterblichen Hexe zu machen.« January riß die Augen auf. »Unsterblich? Du kannst mich wirklich unsterblich machen, Hy‐ ram?« »Das wäre mein Brautgeschenk für dich«, sagte der Unheimliche. »Wann?« fragte January aufgeregt. »Wann machst du mir dieses große Geschenk, Hyram?« »Sobald das Haus uns gehört.« In den Augen des Mädchens funkelte es ungedul‐ dig. »Ich kann es kaum noch erwarten, bis es so‐ weit ist. O Hyram, es wird wundervoll sein. Wir werden auf der ganzen Linie siegen. Wenn Mort und Irma tot sind, gehört das Haus mir, und ich werde es in alle Ewigkeit mit dir teilen.« 196
»Das wußte ich. Deshalb habe ich dir nichts zulei‐ de getan, als du gleich am ersten Tag hierher kamst.« »Hast du schon viele Menschen umgebracht — so wie Nick Boomer?« »Nur die ganz Unbelehrbaren. Die anderen habe ich nur zu Tode erschreckt und aus meiner Kapelle verjagt.« »Weißt du, wer mir ein bißchen Sorgen gemacht hat?« fragte January den Unheimlichen. »Wer?« »Harry Palmer, aber der ist zum Glück ja wieder weggefahren. Er wird zwar wiederkommen, aber bis dahin werden wir unser Werk vollendet haben, nicht wahr?« »Bestimmt«, knurrte Hyram Delmy, und in der nächsten Sekunde löste er sich in Nichts auf. January war allein. * Mort Redford war bis in die Seele hinein erschüt‐ tert. Sein Untergang hatte an jenem Tag begonnen, als er Dee Monroe kennengelernt hatte. Damals hatte er Irma anzulügen begonnen, hatte ein oft ziemlich aufreibendes Doppelleben geführt, hatte immer peinlichst darauf achten müssen, daß nie‐ mand etwas von diesem Verhältnis mitbekam, 197
denn so sehr er auch Dees Körper begehrte, so wollte er doch Irma nicht verlieren, denn sie, nur sie liebte er wirklich. Und nun ... January kannte jedes Detail jener Szene, die sich in der Hotelsuite von Los Angeles abgespielt hatte, und Mort brauchte sich nichts vorzumachen. Ja‐ nuary würde tatsächlich zum Sheriff gehen und ihm sagen, was sie wußte. Selbstverständlich konnte er die ganze Sache abstreiten. Es würde Aussage gegen Aussage stehen, aber wie lange würde er diesen Verhörstreß durchhalten? Ir‐ gendwann würde er sich in seinem eigenen Lü‐ gennetz fangen und aufgeben müssen. Das war eine Schlinge, aus der er seinen Kopf nur ziehen konnte, wenn er denselben in eine andere Schlinge steckte und Schluß machte. January hatte recht. Das war wirklich die beste Lö‐ sung. Er hielt immer noch seinen Gürtel in der Hand. Damit hatte er seine Tochter züchtigen wollen. Ja‐ nuary war nicht mehr hier. Sie hatte das Haus ver‐ lassen. Mort konnte sich vorstellen, wohin sie ge‐ gangen war. Sie befand sich jetzt bestimmt wieder
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bei diesem verdammten Teufel, um sich neue In‐ struktionen zu holen. Er hatte vollends von ihr Besitz ergriffen. Kein Mensch würde ihm das Mädchen jemals wieder entreißen können. January war verloren. »Arme January«, murmelte der Produzent. »Ich weiß, daß das alles nicht aus dir selbst kommt. Du bist zu seinem Werkzeug geworden. Warum ha‐ ben wir nicht besser auf dich aufgepaßt, dann wäre dir dieses Schicksal erspart geblieben – und ich müßte jetzt nicht aus dem Leben scheiden ...« Er betrachtete verzweifelt den Gürtel. Seufzend verließ er den Raum. Er hörte Irma nebenan schluchzen. Ob er mit ihr sprechen sollte? Er wußte nicht, was er ihr hätte sagen sollen. Daß er eine Geliebte gehabt hatte? Daß er einen Totschlag auf dem Gewissen hatte? Hätte er sie damit etwa aufrichten können? Nein, sie wäre darüber erst recht zusammengebrochen. Sein Blick hing traurig an der Tür. »Lebe wohl, Irma«, flüsterten seine bebenden Lip‐ pen. »Wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Du hast mir so viel gegeben. Mehr, als ich verdient habe. Hab Dank dafür und vergiß mich nicht.« 199
Mit schleppenden Schritten ging der Filmprodu‐ zent zur Treppe. Der Gürtel schleifte auf dem Bo‐ den. Als er die Treppe erreicht hatte, dachte er daran, was nach ihm sein würde. Irma würde keinen leichten Stand mit January ha‐ ben. Bestimmt würde sie nicht mehr länger in die‐ sem Haus, das er niemals hätte kaufen sollen, wohnen wollen. Sie würde von hier weggehen, und sie würde gut daran tun. Mit schweren Schritten ging er die Stufen hinunter. In der Halle blickte er dorthin, wo der massive Zei‐ tungsständer stand. Darunter befand sich das Blut von Norma Delmy, die an dieser Stelle von ihrem satanischen Bruder Hyram erschlagen worden war. Irma hatte von allem Anfang an eine Abneigung gegen dieses Haus gehabt. Heute wußte Mort, daß er auf seine Frau hätte hö‐ ren sollen. Doch hatte es jetzt noch einen Sinn, sich Vorwürfe zu machen? Das Rad der Zeit war nicht mehr zurückzudrehen. Was geschehen war, war nicht mehr ungeschehen zu machen. Der Produzent öffnete die Kellertür. Das Knurren des Stromaggregats war sogleich doppelt so laut. Mort Redford machte Licht. Mit hölzernen Schrit‐ 200
ten ging er die Kellerstufen hinunter, nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Immer mehr ging es in seinem Kopf rund. Bald konnte er keinen klaren Gedanken mehr fas‐ sen. Ist das der Wahnsinn, der dich nun befällt? fragte er sich. Er bewegte sich wie in Trance. In al‐ len Kellerecken glaubte er Dee Monroe stehen zu sehen. Sie schien schadenfroh zu lachen. »Habe ich dir nicht gesagt, daß ich mich rächen werde?« hörte er sie sagen. »Verzeih mir, Dee«, stöhnte er. »Zu spät, Mort«, hallte es von überallher zurück. »Zu spät...« Suchend schlich er durch den Kellerraum. Er fand eine alte Kiste, schob diese unter die Rohre, die an der Decke entlangliefen, stieg hinauf und knotete den Gürtel daran fest. Probeweise belastete er den Gürtel. Es hatte in letz‐ ter Zeit so viele Pannen gegeben, daß wenigstens das reibungslos verlaufen sollte. Ein glatter Ab‐ gang sollte es werden. Ohne viel Aufsehen. Mort wollte sich klammheimlich aus dieser Welt fort‐ stehlen.
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Er hatte genug von ihr. Da sie ihm außer einem schmachvollen Gefängnisaufenthalt nichts mehr zu geben imstande war, verabschiedete er sich auf diese Weise von ihr. Bilder aus seiner Jugend rasten an seinem geisti‐ gen Auge vorbei. Er sah seine erste Frau wieder. Sie stand plötzlich vor ihm und blickte zu ihm hoch. »Warum tust du das, Mort?« fragte sie ihn schroff. »Weil ich am Ende bin. Deine Tochter hat mich fix und fertig gemacht.« »January war immer ein braves, anständiges Mäd‐ chen.« »Ja, aber das ist sie heute nicht mehr. Heute ist sie eine verkommene Hexe!« »Du hast kein Recht, so über deine Tochter zu sprechen.« »Wenn du mir nicht glaubst, geh in die schwarze Kapelle. Dort werden dir die Augen aufgehen.« Aus Morts erster Frau wurde urplötzlich Dee Monroe. »Nun mach schon, Darling. Worauf war‐ test du denn noch? Fällt es dir so schwer, dich zu empfehlen? Komm zu mir. Wir können unsere al‐ ten Beziehungen wiederaufnehmen. Du brauchst
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dir nur die Schlinge um den Hals zu legen. Alles andere passiert von selbst.« »Nie mehr lasse ich mich mit dir ein!« schrie Mort verzweifelt. »Hörst du? Nie mehr! Du bist an allem schuld! Dir habe ich es zu verdanken, daß ich hier auf dieser Kiste stehe ...« »Wer hat wen denn totgeschlagen, he?« keifte Dee wütend. »War ich das etwa selbst?« »Du hast mich gereizt, bis ich ...« »Du hättest dich eben besser beherrschen müssen, mein Lieber. Nun mach endlich weiter. Wie lange soll ich noch auf deinen Tod warten?« »Verschwinde! Laß mich allein. Ich will allein sein, wenn ich es ...« »War ich denn allein? Hast du mir irgendeine Wahl gelassen?« fauchte Dee zornig. Im selben Moment zerrann ihr Körper. Mort blickte sich verwirrt um. Er war allein im Keller. Was er gesehen hatte, mußte ihm alles sein überreizter Geist vorgegaukelt haben. Er legte sich die Schlinge um den Hals. Kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Er hatte nicht geglaubt, daß es so schwer sein würde. Viel‐ leicht hätte er vorher etwas trinken sollen. Nick Boomer, der verschwundene Reporter, stand
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plötzlich in der gegenüberliegenden Ecke. Er lä‐ chelte und winkte herüber. »Hallo, Mr. Redford. Ich habe gehört, Sie kommen zu uns?« »Boomer!« schrie Mort fassungslos. »Boomer, wo waren Sie? Wir haben Sie gesucht. Sie waren unauffindbar.« »Delmy hat mich ins Schattenreich verbannt. Ich denke, wir werden uns da bald treffen ...« Wie wenn man einen Lichtschalter umdreht, wo‐ rauf das Licht ausgeht, so schnell war Nick Boo‐ mer wieder weg. Redford zitterte. Er stand auf der halb morschen Kiste, die unter seinem Gewicht ächzte und knarrte, hatte aber nicht den Mut, sie mit einem schnellen Tritt wegzustoßen. »Soll ich dir dabei behilflich sein, Liebling?« Schon wieder Dee. Doch diesmal konnte Mort sie nicht sehen, nur hören. Er vernahm ihre Schritte. Sie kam auf ihn zu. Plötzlich ein Krachen. Vielleicht war die Kiste un‐ ter der Belastung gebrochen. Vielleicht hatte aber auch Dee Monroe die Kiste fortgetreten. Jedenfalls spannte sich der widerstandsfähige Riemen sur‐ rend. Die Schlinge zog sich mit einem blitzschnel‐ len Ruck um Mort Redfords Hals zusammen. Der 204
Sturz brach ihm das Genick. Er war sofort ohn‐ mächtig. Sein Herz schlug noch einige Minuten lang. Dann blieb es stehen. Irma wußte nicht, wie lange sie auf dem Bett gele‐ gen und geweint hatte. Irgendwann beruhigte sie sich. Mit schleppenden Schritten ging sie ins Bad. Sie wusch sich das Gesicht gründlich und erneuer‐ te das Make‐up. Während sie mit dem Konturen‐ stift die Lippenränder nachzog, dachte sie an die Auseinandersetzung mit January. Das Mädchen hatte sich wie eine Verrückte gebär‐ det. Langsam war es ratsam, die Nacht bei abgeschlos‐ sener Tür zu verbringen. January hatte behauptet, dies wäre ihr Haus. Sie hatte ihre Stiefmutter aus dem Haus jagen wollen. Hyram Delmy fiel Irma ein, und das, was Harry Palmer über diesen grausamen Kerl erzählt hatte. Der Unheimliche wollte hierher zurückkehren, aber ein Mensch, dessen Seele genauso schwarz war wie die seine, mußte ihm Einlaß gewähren. January hatte nunmehr eine solche Seele. Sie stand ganz auf Delays Seite. Eine gefährliche Front, vor der Irma Redford sich fürchtete. Sie beschloß, Mort
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zu überreden, den Urlaub hier abzubrechen. Sie konnten die Ferien in Miami Beach fortsetzen. Vielleicht würde January wieder normal werden, wenn sie nicht mehr unter Hyram Delays unmit‐ telbarem Einfluß stand. Mehr und mehr festigte sich in Irma der Entschluß, nicht mehr länger in diesem verfluchten Haus zu bleiben. Irgendwie würde sie es schon schaffen, Mort zu überreden. Und wenn nicht, dann würde sie ihm damit dro‐ hen, mit Harry Palmer wegzufahren, sobald dieser hier wieder auftauchte, was – wie sie hoffte – recht, recht bald sein sollte. Irma rauchte eine Zigarette. Sie fühlte sich wieder einigermaßen ausgeglichen und gefestigt. Die Dämmerung setzte ein. Die kommende Nacht würde hoffentlich die letzte sein, die sie in diesem Haus verbrachten. Irma verließ das Zimmer. Sie lauschte. Totenstille herrschte im ganzen Haus. Sie begab sich nach ne‐ benan. Zaghaft klopfte sie an die Tür. »January?« Keine Antwort. »January, bist du da?« Stille. Irma öffnete die Tür und warf einen Blick in Januarys Zimmer. Ihre Stieftochter war nicht an‐
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wesend. Irma fragte sich, wo sich das Mädchen schon wieder herumtreiben mochte. »Mort!« rief sie, und sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Die Stille blieb. Ein unangenehmes Gefühl kroch der jungen Frau in die Glieder. Wo mochte Mort bloß sein? Irma erschrak plötzlich, denn sie hatte in diesem Augenblick gedacht: January, wird ihn doch nicht in die schwarze Kapelle gelockt haben. Sie lief die Treppe hinunter. »Mort!« rief sie aufge‐ regt. »Mort, wo bist du? So antworte doch!« Weiterhin Stille. Nur das leise Ticken einer Uhr war zu vernehmen. Irma kam sich schrecklich ein‐ sam und verlassen vor. Ihre Gedanken schlugen Kapriolen. Sie stellte sich vor, daß Hyram Delmy auch Mort in seine Gewalt bekommen hatte. Dann stand sie ganz allein da ‐ und ihr gegenüber befand sich das abgrundtief Böse, von dem sie vernichtet werden würde. Viel‐ leicht schon in der kommenden Nacht. Irma legte die Hand auf ihre leicht geöffneten Lip‐ pen. Sie eilte auf die Terrasse hinaus, nachdem sie im Erdgeschoß alle Räume durchsucht hatte. Von Mort und January keine Spur. Auch auf der Ter‐
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rasse nicht. Scheu blickte Irma zur schwarzen Ka‐ pelle hinüber. January kam über die Lichtung geschlendert. Sie war wieder mal da gewesen, obwohl Mort es ihr ausdrücklich verboten hatte. Das Mädchen erreich‐ te die Terrasse und blieb mit einem herausfor‐ dernden Blick vor Irma stehen. »Erwartest du, daß ich mich bei dir entschuldige?« fragte sie. »Nein«, gab Irma heiser zurück. »Sehr großzügig«, spottete January. »Du warst schon wieder in dieser verfluchten Rui‐ ne.« »Ich kann hingehen, wohin ich will. Du hast mir keine Vorschriften zu machen, Stiefmutter!« »Der Aufenthalt in der schwarzen Kapelle tut dir nicht gut, January.« »Das kannst du doch überhaupt nicht beurteilen«, erwiderte das Mädchen frostig. »Ich sehe, was aus dir geworden ist, seit du zum erstenmal da warst.« »Was ist denn aus mir geworden? Eine unabhän‐ gige Frau, die den Rat der anderen nicht mehr nö‐ tig hat. Das ist aus mir geworden.« »Du bist böse und gemein geworden.« 208
»Und aggressiv«, fügte January mit funkelnden Augen hinzu. »Solltest du die Hoffnung hegen, daß ich mich jemals wieder ändern werde, kannst du sie jetzt schon begraben. So, wie ich jetzt bin, werde ich länger bleiben, als du lebst, Irma.« Irma fröstelte bei diesen Worten, hinter denen eine gefährliche Drohung zu stecken schien. Sie hatte noch genug von Januarys vorangegangenem An‐ fall. Sie wollte das Mädchen nicht weiter provozie‐ ren, deshalb wechselte sie schnell das Thema. »Ich suche Mort. Weißt du, wo er ist?« »Ich würde mal im Keller nachsehen«, sagte Janua‐ ry mit einer Miene, die nichts Gutes verhieß. Sie gingen ins Haus. January nahm in der Halle Platz, während Irma zur Kellertür eilte. Sie öffnete und rief Morts Namen, doch ihr Mann gab keine Antwort. Irma schaute zu January zurück. Das Mädchen nickte auffordernd. »Na los. Sieh nach. Er ist be‐ stimmt unten.« »Er würde antworten, wenn er ...« »Er ist unten«, sagte January unwirsch. »Ich weiß es.« Irma tappte die Stufen hinunter. Sie wußte nicht, wovor sie sich fürchtete, aber sie hatte wahnsinni‐ 209
ge Angst. Diesmal nicht so sehr um sich selbst als um Mort. »Mort?« rief sie abermals. Es war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Der Kellergang machte ei‐ nen Knick nach links und mündete in einen großen rechteckigen Raum. Irma hatte kaum noch die Kraft weiterzugehen. Sie befürchtete die schlimmste Überraschung, die man sich vorstellen kann. »Mort?« Es klang klagend, verzweifelt. Sie hoffte so sehr, daß er ihr endlich antworten würde, doch er blieb stumm. Sie erreichte den Knick. Im selben Augenblick sah sie ihren Mann. Der Schock traf sie mit schmerzhafter Gewalt. Sie tau‐ melte und mußte sich gegen die kalte Mauer leh‐ nen, um nicht zu Boden zu gehen. Fassungslos starrte sie auf den Toten, der mitten im Kellerraum hing. »Mort!« schrie sie in ihrer furchtbaren Verzweif‐ lung. »Mort, warum hast du das getan?« Sie rannte zu ihm hin und brüllte: »Warum hast du mir das angetan? Jetzt bin ich mit diesen beiden Teufeln allein!«
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Irma jagte keuchend die Treppe hoch. »Du hast es gewußt!« schrie sie ihre Stieftochter an. »Du hast gewußt, daß ich ihn dort unten finden werde! Womit hast du ihn soweit gebracht ? Wie hast du ihn zu dieser Verzweiflungstat getrieben?« January zuckte gelassen die Schultern. »Oh, das war ganz einfach.« »Du Satan! Jetzt weiß ich erst, wie schlecht du wirklich bist. Ein Mensch, der seinen eigenen Vater in den Tod treibt, ist das verkommensten Stück Dreck, das es auf dieser Welt gibt! Warum hast du das getan? Warum?« Irma ballte in ohnmächtiger Wut die Hände. Der Schweiß rann ihr über das Gesicht und ver‐ mischte sich mit ihren Tränen. Sie zitterte am gan‐ zen Leib, fühlte sich kraftlos und befürchtete, im nächsten Augenblick umzukippen. Doch irgend etwas hielt sie auf den Beinen. Der maßlose Haß vielleicht, der ihre Brust nun ausfüllte. Die über‐ große Abscheu, den sie empfand, wenn sie ihre Stieftochter anblickte. »Pa mußte sterben, weil er mir im Weg war«, er‐ widerte January eiskalt. »Wieso war er dir denn im Weg?« »Du bist mir auch im Weg!« zischte January. 211
»Heißt das, daß du auch mich ...?« January lächelte gemein. »Natürlich. Was dachtest du denn?« »Mädchen, du bist wahnsinnig. Du gehörst in eine geschlossene Anstalt.« January erhob sich abrupt. »Ich weiß genau, was ich will. Ich werde hier mit Hyram Delmy woh‐ nen. Er wird mich glücklich machen.« »Er ist ein Spuk. Ein körperloses Wesen. Wie soll er dich denn glücklich machen? Du kannst ihn doch nicht einmal umarmen.« »Du hast ja keine Ahnung«, sagte January schnei‐ dend. »Delmy wird eine unsterbliche Hexe aus mir machen. Das hat er mir versprochen. Ich werde ewig leben. Zusammen mit meinem Geliebten. Ist das nicht jedes Opfer wert?« »January, hör auf mich, schwöre diesem Teufel ab!« sagte Irma eindringlich. »Er ist eine Geißel der Hölle!« »O ja, das ist er«, triumphierte January. »Und ich werde seine Braut sein!« Plötzlich schien jemand mit einem schweren Ei‐ senhammer gegen die Eingangstür zu schlagen. Irma zuckte herum. Ihr stockte der Atem. Das Herz spielte in ihrer Brust verrückt. Ihre Augen 212
pendelten zwischen der Tür und January hin und her. Das junge Mädchen bleckte die blitzweißen Zähne. »Das ist er!« sagte sie begeistert. »Er begehrt Ein‐ laß!« Irma stürzte sich auf das Mädchen. »Ich beschwöre dich, laß ihn nicht in dieses Haus, January! Tu das nicht! Du würdest das ewig bereuen!« »Ich bereue gar nichts!« fauchte January aggressiv. »Geh mir jetzt aus dem Weg!« »Ich laß dich nicht zur Tür!« schrie Irma verzwei‐ felt. Delmy hämmerte erneut dagegen. »Zur Seite!« zischte January. Sie packte Irma und schleuderte sie mit großer Kraft zu Boden. »January!« kreischte die junge Frau. »Du weißt nicht, was du tust!« Das Mädchen war schon bei der Tür. »January!« schrie Irma Redford in größter Panik. Da schwang die Tür auf, und Irma sah jenen un‐ heimlichen Mann wieder, der ihr schon einmal er‐ schienen war, damals im strömenden Regen, als sie hierher gekommen waren, um sich dieses Haus anzusehen. O Gott, dachte Irma bestürzt. Hätten wir das doch niemals getan! 213
* January machte einen Schritt zur Seite. »Sei mir willkommen, Geliebter. Tritt ein. Kehre zurück in dein Haus!« Der Spuk kam zur Tür herein. Irma war rasend vor Angst. Sie starrte den Schrecklichen mit weit auf‐ gerissenen Augen an. Totenblaß war er. Gemein und grausam war sein Mund geformt, und seine blutunterlaufenen Augen glühten rot wie Koksstü‐ cke im Ofen. Er wandte sich Irma zu und ließ ein feindseliges Knurren hören. »Sie lebt noch?« »Ja«, sagte January. »Aber nicht mehr lange.« Das Mädchen kicherte schadenfroh. »Sie hat soeben ih‐ ren Mann unten im Keller gefunden. Der Ärmste hat sich erhängt.« January blickte Irma an. »Wie konnte er dir das bloß antun, was?« Irmas Herz trommelte heftig gegen die Rippen. Ihr Geist versuchte verzweifelt, einen Ausweg aus dieser gefährlichen Lage zu finden. Sie war ratlos. Was sollte sie tun? Gab es einen Ort, wo sie vor diesen beiden Satans‐ braten sicher war? »Dein Ende ist nahe, Irma«, sagte January amü‐ siert. »Nach deinem Tod werde ich einen Anwalt 214
veranlassen, daß dieses Haus und Vaters Vermö‐ gen auf meinen Namen überschrieben werden. Ich werde hier mit Hyram in aller Stille und Abge‐ schiedenheit leben, und ab und zu werden wir un‐ seren Spaß mit Menschen haben, die es wagen, un‐ seren Frieden zu stören.« January kam langsam auf Irma zu. Ihre Hände sa‐ hen plötzlich wie Klauen aus. Irma wich furchtsam vor dem Teufelsmädchen zurück. Hyram Delmy lachte schaurig. »Ja!« rief er January zu. »Zeig ihr, wozu du durch mich fähig geworden bist. Im Na‐ men der Hölle, mach sie fertig!« January schnellte sich nach vorn. Irma warf sich gleichzeitig mit einem schrillen Schrei herum und stürmte durch die Halle. Sie hetzte die Treppe hinauf. January war ihr dicht auf den Fersen, aber sie schaffte es, das Schlafzimmer zu erreichen, die Tür hinter sich zuzuwerfen und den Schlüssel im Schloß herumzudrehen. »Schließ dich nicht ein!« plärrte January draußen wütend. »Das nützt dir gar nichts! Ich kriege dich so oder so.« Das Mädchen warf sich ungestüm gegen die Tür. Mochte der Himmel wissen, woher sie diese enorme Kraft nahm. Die Tür wackelte und polter‐ 215
te. Es sah nicht so aus, als würde sie Januarys Ans‐ turm lange standhalten. Wumm! Schon wieder hatte sich das Mädchen mit großer Vehemenz dagegengeworfen. Irma wich schlotternd zurück. Sie stieß gegen das Bett, wich aus, tastete sich weiter von der Tür weg. Wenn sie auch hier drinnen nicht vor January si‐ cher war, wo dann? Das Holz knirschte und knackte. Es bekam Sprün‐ ge und Risse. Der Schlüssel rutschte aus dem Schloß und klapperte auf den Boden. Irma preßte die Fäuste gegen die kreideweißen Wangen. Wie konnte sie das schreckliche Ende noch von sich abwenden? »Willst du nicht herauskommen, Irma?« schrie Ja‐ nuary mit einer bösen, fauchenden Stimme. »Laß mich in Ruhe!« gab Irma zurück. »Laß mich mei‐ ner Wege gehen! Ich werde dieses Haus verlassen. Noch heute. Du kannst es haben. Ich will es ohne‐ hin nicht. Ich brauche auch das Geld deines Vaters nicht...« »Ich kann dich nicht gehen lassen«, krächzte Ja‐ nuary vor der Tür. »Wie ich dich kenne, trommelst du einen Haufen Leute zusammen, die hierher‐ kommen und mir und Hyram eine Menge Ärger 216
machen können. Bestimmt würde auch ein Pfaffe dabeisein.« »Und wenn ich dir schwöre, daß ich nichts gegen dich und Hyram unternehmen werde?« »Steck dir deinen Schwur an den Hut. Es ist besser, du bist tot!« Wieder warf sich January gegen die Tür. Wenn sie das mit der gleichen Wucht noch drei‐, viermal machte, war die Tür kaputt. Irma blickte sich gehetzt um. Sie eilte zum Fenster. Hastig öffnete sie die Flügel. Einen Augenblick später glitt sie über die Fenster‐ bank. Ihre Füße ertasteten den Sims. Beim ersten Schritt rutschte sie beinahe ab. Sie schaffte es gera‐ de noch, wieder Halt zu finden. Die Tür brach knirschend und splitternd. January stürmte in den Raum. »Irma!« schrie sie. »Wo bist du?« Irma kletterte vorsichtig an der gegliederten Haus‐ fassade nach unten. Nie im Leben hätte sie sich so etwas zugetraut, doch nun, im Augenblick größter Gefahr, vermochte sie Dinge zu tun, die ihr beina‐ he unmöglich erschienen. Als sie unten anlangte, steckte January oben den Kopf aus dem Fenster. »Hyram!« plärrte das Mäd‐
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chen mit vollen Lungen. »Hyram, laß sie nicht ent‐ kommen!« Irma wirbelte herum und rannte los, so schnell sie konnte. Da wuchs plötzlich eine Gestalt vor ihr aus dem Boden. Sie prallte gegen einen eiskalten, eisenhar‐ ten Leib. Die Arme des Unheimlichen schlangen sich um sie und drohten sie zu erdrücken. Sie schrie verzweifelt auf, als er sie hochhob und zum Haus zurücktrug. Sie schlug mit ihren Fäus‐ ten nach seinem leichenblassen Gesicht, doch da war kein Widerstand. Ihre Fäuste droschen durch den Schädel des Spuks hindurch. Irma war nahe daran, sich selbst aufzugeben. Was half jetzt noch? Delmy schleppte sie in die Halle. January kam la‐ chend die Treppe heruntergestürmt. »Du bist verloren, Irma. Warum findest du dich nicht damit ab?« höhnte das Mädchen. Delmy warf die junge entsetzte Frau in einen Ses‐ sel. January schob einen Tisch vor Irma und knallte ei‐ nen Zettel darauf. »Hier«, sagte sie. »Dein Ab‐ schiedsbrief. Ich habe nicht das erstemal deine
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Handschrift kopiert. Sieht doch aus, als hättest du ihn selbst geschrieben, nicht wahr?« Irma starrte mit tränennassen Augen auf das Pa‐ pier. Sie sah alles verschwommen, aber das war tatsächlich haargenau ihre Handschrift. »Lies!« forderte January sie auf. »Lies vor, was du geschrieben hast!« »Ich kann nicht«, stöhnte Irma. January schlug sie ins Gesicht. »Ich sagte, du sollst lesen!« kreischte die junge He‐ xe. »Ich kann nicht und ich will nicht!« gab Irma ton‐ los zurück. »Na schön, dann will ich den Brief für dich lesen. Es sind ja nur ein paar Zeilen für die Nachwelt. Al‐ so: ,Ich kann nicht verstehen, warum mein Mann das gemacht hat. Er hat mir gegenüber niemals von Selbstmord gesprochen, und nun ist es doch geschehen. Ich weiß, daß ich über diesen Schmerz nicht hinwegkommen kann, deshalb werde ich ihm in den Tod folgen. Bitte verzeih mir, January, ich kann nicht anders’.« Das Mädchen kicherte gemein. »Na, habe ich das nicht rührend hingek‐ riegt?« January streckte Irma die Hand entgegen.
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Auf ihrer Handfläche lag eine kleine, unscheinbare Kapsel. »Hier, Irma. Schluck das.« »Was ist das?« fragte Irma heiser. »Zyankali.« »Woher hast du das Gift?« fragte Irma verblüfft. »Hyram hat es mir besorgt. Schluck es!« Irma starrte die kleine Kugel fassungslos an. Sie verkörperte den Tod. Ein schnelles, unblutiges En‐ de ... Mitten unter der Arbeit war Harry Palmer die viel‐ leicht rettende Idee gekommen. Er gab seinen Leu‐ ten für die nächsten achtundvierzig Stunden An‐ weisungen, packte anschließend alles ein, was er zu brauchen glaubte, schwang sich in den Jeep der LEWOTEX OIL COMPANY und raste los. Er stoppte den geländegängigen Wagen nach vier Stunden kurz vor der Lichtung. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten. Harry linste zur schwarzen Kapelle hinüber, und er fragte sich, ob er sich zuerst bei den Redfords blicken lassen und erst anschließend an die Arbeit gehen oder ob er gleich damit anfangen sollte. Irma würde be‐ stimmt wieder zahlreiche Einwände haben, und vielleicht würde Mort ihr sogar recht geben, des‐ 220
halb wollte Harry Palmer die Sache auf eigene Faust in die Hand nehmen. Da alarmierte ihn plötzlich Geschrei. Er lief die paar Meter bis zur Lichtung, und was er dann sah, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Irma war auf der Flucht. Sie prallte gegen einen hünenhaften Kerl, der sie hochhob und wieder ins Haus trug. Harry sah, wie Irmas Fäuste durch den Schädel des Kerls hindurchschlugen. Hyram Del‐ my. Er hatte also seine Ruine bereits verlassen. January mußte ihm die Rückkehr in sein Haus ermöglicht haben. Wo war Mort? Harry Palmer jagte auf das Haus zu. Die Eingangs‐ tür flog hinter dem Spuk zu. Palmer erreichte eines der Fenster. Er sah Irma. Ihre Miene war grenzen‐ los verzweifelt. Harry hörte, wie January den Ab‐ schiedsbrief vorlas und wußte nun, daß Mort nicht mehr lebte. Er sah, wie January ihrer Stiefmutter die Zyankali‐ kapsel hinhielt. Wie lange würde Irma sich wei‐ gern, die Kapsel zu schlucken? Würde die Zeit rei‐ chen, um drüben bei der schwarzen Kapelle die nötigen Vorbereitungen zu treffen?
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Wenn Harry jetzt in das Haus stürmte, konnte er Delmy und seine Teufelsbraut möglicherweise ver‐ treiben, aber nicht vernichten – genau das wollte Harry aber. Delmy sollte zur Hölle fahren, und mit ihm das Mädchen, das nicht mehr zu retten war, das ihm ganz verfallen war, das ihm in seiner Bos‐ heit und seiner Gemeinheit in nichts nachstand. Halte durch, Irma, dachte Harry mit heißen Schlä‐ fen. Nimm alle Kraft zusammen, die noch in dir ist und halte noch ein paar Minuten durch. Er hetzte zum Jeep zurück, holte das ganze Zeug, das er mitgebracht hatte, rannte damit über die Lichtung, erreichte die schwarze Kapelle, in der ihm im Augenblick keinerlei Gefahr drohte, weil Delmy sich in seinem Haus befand. So flink wie möglich arbeitete der Geologe. Mort und January waren verloren. Aber Irma konnte er noch retten. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das angespannte Gesicht. In großer Eile führte Harry Palmer aus, was er ge‐ plant hatte. Er war zuversichtlich, daß er damit Er‐ folg haben würde. Er riß sich die Hände an schar‐ fen Steinkanten blutig, doch er achtete nicht auf die Verletzungen.
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Irma! Er mußte Irma retten und Delmy und Janua‐ ry ein für allemal in die Hölle schicken, denn dort gehörten die beiden hin. Auf dieser Welt hatten sie nichts zu suchen. Sobald der letzte Handgriff getan war, lief Harry zum Jeep zurück, um sich mit einem silbernen Kruzifix zu bewaffnen, das er sich auf der Fahrt hierher in Tampa besorgt hatte. Das Kreuz war in Weihwasser getaucht worden, und der Priester, dem Harry sich anvertraut hatte, hatte auch ihn mit Weihwasser besprengt. Was konnte da noch schiefgehen? »Wirst du endlich die Kapsel schlucken?« fauchte January ihre Stiefmutter ungeduldig an. »Nein!« sagte Irma entschieden. »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen, daß ich Selbstmord begehe. Die Freude mache ich euch nicht!« January zuckte die Schultern. »Na schön, dann werden wir eben Gewalt anwenden müssen. Hy‐ ram, zeig ihr, was für ein lächerlicher Wurm sie ist!« Der Unheimliche starrte mit seinen glühenden Augen auf Irmas Hinterkopf. Die junge Frau spür‐ te eine schreckliche Hitze auf ihrer Kopfhaut, die gleich darauf ihre Schädeldecke durchdrang und 223
ihren Widerstand von einer Sekunde zur anderen lähmte. Irma konnte zwar noch denken, aber sie vermochte sich Januarys Befehl nicht mehr zu wi‐ dersetzen. »Mach den Mund auf!« herrschte January ihre Stiefmutter an. Irma öffnete den Mund. »So ist es brav«, spottete January. »Und nun nimm die Kapsel.« Irma griff danach. »Leg sie auf deine Zunge!« Irma tat es. »Und nun wirst du die Kapsel zerbeißen!« sagte January in gespannter Erwartung. In diesem Moment flog die Tür auf. Harry Palmer wirbelte herein. Er hielt den beiden Höllentraban‐ ten das geweihte Kruzifix mit ausgestrecktem Arm entgegen. Hyram Delmy löste die geistige Verbin‐ dung, die zwischen ihm und Irma bestand. Irma spuckte die Zyankalikapsel erschrocken aus. Delmy und January wichen fauchend vor Harry Palmer zurück. Ihre Gesichter wurden zu haßver‐ zerrten Fratzen. Hellgrüner Schaum bildete sich auf Delmys Lippen. January, in der das Böse ge‐
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nauso steckte wie in ihm, hatte das Kreuz in Pal‐ mers Hand ebenso zu fürchten wie er. Delmy erreichte die Terrassentür. Er stieß sie auf und hastete aus dem Haus. January folgte ihm mit einem schrillen Wutgeheul. Der Anblick des Kreuzes schmerzte die beiden in den Augen. Deshalb hielten sie immer wieder die ver‐ krampften Hände vors Gesicht. Irma blickte Harry Palmer lethargisch an. Sie schien noch nicht begriffen zu haben, daß sie geret‐ tet war. Sie nahm an dem, was um sie herum pas‐ sierte, keinerlei Anteil. Harry sah, daß die junge Frau sich hart am Rande einer Ohnmacht befand. Er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern. Im Moment war Delmy und seine Geisterbraut wichtiger. Palmer trieb die beiden unerschrocken vor sich her. »Pack ihn!« kreischte January wild. »Vernichte ihn, Hyram! Sei kein Feigling! Stürz dich auf ihn!« Der Unheimliche hätte das liebend gern getan, aber das silberne Kruzifix hinderte ihn daran. »Vielleicht in der schwarzen Kapelle!« raunte er seiner Braut zu. »Wir werden ihn mit einem Trick entwaffnen, und dann werden wir beide ein Blut‐ 225
fest feiern, wie es diese Ruine noch nicht gesehen hat!« Schritt um Schritt zogen sich die beiden Teufels‐ günstlinge zurück. Sie erreichten die schwarze Ka‐ pelle und verschwanden sofort zwischen den Mauerfragmenten. Dort legten sie sich auf die Lauer. Aber Harry Palmer war nicht so unvernünftig, die Ruine zu betreten. Er wußte, daß ihm die beiden dort drinnen überlegen sein würden. Blitzschnell holte er ein kleines Fläschchen aus der Jacketta‐ sche, in dem sich noch ein paar Tropfen Weihwas‐ ser befanden. Er besprengte damit das Tor der schwarzen Kapelle. Alle anderen Öffnungen hatte er bereits zuvor auf dieselbe Weise abgesichert. Jetzt saßen Hyram Delmy und das Mädchen, das ihm mit Leib und Seele gehörte, in der Falle. Es war nur noch wenig zu tun, um sie zur Hölle zu schicken. Harry rannte zu seinem Jeep. Aus dem Hand‐ schuhfach nahm er ein metallenes Ding, das nicht größer als eine Zigarettenschachtel war. Es handel‐ te sich hierbei um einen elektronischen Impulsge‐ ber.
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Hyram Delmy und January Redford waren nicht mehr in der Lage, die schwarze Kapelle zu verlas‐ sen. Sie würden nun gemeinsam mit der Ruine ihr jä‐ hes Ende finden. Das unselige Leben der beiden würde zu Ende sein, wenn Harry Palmer auf den Knopf des Im‐ pulsgebers drückte. Er hatte die schwarze Kapelle mit Dynamitpatronen vollgestopft. Die Kraft des Guten würde das Böse in dieser Rui‐ ne nun ein für allemal vernichten. Harry drückte mitleidlos auf den Knopf. Die Erde erbebte. Eine dunkelrote Glutwolke schien im Inneren der schwarzen Kapelle zu ent‐ stehen. Eine ohrenbetäubende Detonation er‐ schreckte die Natur. Gekreische im Dickicht. Auf‐ geregtes Geflatter. Als wäre der Krater eines Vul‐ kans aufgebrochen, so wurden Geröll und Ge‐ steinsmassen zum nachtschwarzen Himmel em‐ porgeschleudert. Die mächtige Druckwelle raste über die Lichtung und ließ die Fenster des Redfordschen Hauses klir‐ ren. Harry Palmer geriet in einen heulenden Sturm, der ihn beinahe von den Beinen riß. Ein vie‐ le Meter hoher Staubpilz, geschwängert vom bei‐ 227
ßenden Geruch des verbrannten Sprengstoffs, er‐ hob sich über dem Fleck, wo einst die schwarze Kapelle gestanden hatte. Sie war nicht mehr vorhanden. Die Ruine hatte sich buchstäblich in Nichts aufge‐ löst. Genauso wie Hyram Delmy und January Red‐ ford. Der geisterhafte Schrei des Mädchens zitterte, sich langsam verlierend, durch die finstere Nacht. Sie würde nach einer langen Reise dort anlangen, wo‐ hin es alle Menschen verschlug, deren Seele so schwarz war wie die ihre. Im Grunde genommen hatte January nur noch aus einer menschlichen Hülle bestanden. Der Rest in ihr war ein Teil von Hyram Delmy gewesen, der sie total ausgefüllt hatte. Nun würde sie mit ihm auf ewig vereint sein, wie sie sich das gewünscht hatte. Aber nicht auf dieser Erde, und das war ein großer Segen für die Menschheit. * Jetzt eilte Harry Palmer zum Haus. Als er es fast erreicht hatte, wankte Irma durch die Tür. Sie war so sehr entkräftet, daß sie ihm in die Arme sank. Er fing sie auf. 228
»Es ist vorbei. Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte Harry fürsorglich. »Bitte – bring mich weg von hier, Harry«, seufzte die junge Frau. Er hob sie hoch und trug sie auf seinen Armen zum Jeep. Behutsam setzte er sie auf den Beifah‐ rersitz. Ihm war klar, daß sie sehr viel Zeit brauchen wür‐ de, um über den Verlust von Mort Redford hin‐ wegzukommen, aber irgendwann einmal würde sie merken, daß er neben ihr war, und wenn sie ihn dann haben wollte, würde er mit beiden Hän‐ den zugreifen. Während er sich hinter das Lenkrad setzte, träum‐ te er von einem neuen Leben, das Irma an seiner Seite beginnen würde, doch er wußte, daß sie bei‐ de mit der schrecklichen Erinnerung an die schwarze Kapelle würden leben müssen. Nur: zu zweit trägt man eine solche Erinnerung leichter als allein. ENDE
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