Freder van Holk Die schwarze Schnur
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelha...
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Freder van Holk Die schwarze Schnur
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 30Ü
A-5081 Anif
Abonnements- und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 Rastatt,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
Juli 1979
Scan by Brrazo 03/2006
1.
Auf dem funkelnagelneuen deutschen Schnelldamp fer »Köln« ereignete sich bereits wenige Tage nach seiner Abfahrt von Hamburg ein peinlicher Zwi schenfall. Die Schrauben des Dampfers wühlten sich noch durch das Mittelmeer, als unter den Passagieren der Ersten Klasse bereits der Skandal umging. Das Schiff war zum großen Teil von Deutschen besetzt, die allerdings mehr die Zweite Klasse und die Touristenklasse in Anspruch nahmen. In der Er sten Klasse befanden sich nur ein paar Dutzend Deutsche, alles andere waren Engländer, Holländer und Angehörige anderer Staaten, die in Southampton oder Lissabon zugestiegen waren. Fahrgäste der Ersten Klasse pflegen grundsätzlich das ganze Schiff als ihr Eigentum anzusehen. Das Vorhandensein von Fahrgästen in anderen Klassen scheint ihnen notwendiges Übel, Beziehungen zu ihnen nehmen sie nicht auf. Sie bringen kraft ihres teureren Fahrscheins ihren eigenen Stil und ihre be sonderen Ansprüche mit und erzeugen im Handum drehen auf dem fremden Schiff jene eigenartige At mosphäre, die aus Reichtum, Kultur und Snobismus geboren wird. Einige Ausländer gaben auf der »Köln« den Ton an. Die wenigen Deutschen erhoben keine Ansprü 5
che auf Beachtung. Am allerwenigsten wollte Bernhard Weser auffal len. Er hielt sich vom ersten Augenblick an abseits und vermied es, mit den anderen Fahrgästen ins Ge spräch zu kommen. Freilich konnte er nicht vermei den, daß man sich – vor allem weiblicherseits – für ihn interessierte, denn sein scharfgeschnittenes, cha rakteristisches Gesicht hob ihn nun einmal aus seiner Umgebung heraus. Dieser Bernhard Weser unternahm noch zu später Stunde – es war fast um Mitternacht – einen Spazier gang über das einsame Oberdeck. Ein Geräusch warnte ihn im letzten Moment. Er warf sich zur Seite und entging so dem Schlag, der im Dunkeln nach seinem Hinterkopf geführt wurde. Dann drehte er sich um und hieb dem Mann, der den Schlag gegen ihn geführt hatte, die Faust mit derartiger Wucht ins Gesicht, daß jener blutüberströmt zusammensackte. Weser glaubte, zwei Angreifer wahrgenommen zu haben. Er sah sich nach dem zweiten um, aber dieser schien ein paar Minuten lang völlig verschwunden. Dann erst tauchte er mit Lärm wieder auf. An seiner Seite schritt einer der Offiziere des Schiffs. Der Mann, den Weser für den zweiten Angreifer hielt, entpuppte sich als ein gewisser Aspill, ein Eng länder, der in der Ersten Klasse wohnte. »Dort ist er!« machte er den Offizier mit übertrie bener Stimmstärke aufmerksam. »Es ist unerhört, 6
daß sich etwas Derartiges auf dem Schiff ereignen kann.« Weser sah den beiden Männern etwas erstaunt entgegen, da er nicht ganz begriff, welche Rolle der Engländer spielte. Mechanisch wischte er sich mit dem Taschentuch seine blutige Hand ab. Reimers warf einen forschenden Blick auf ihn und auf die Gestalt am Boden, dann fragte er ruhig: »Was ist hier geschehen, Herr Weser?« »Ich wurde von hinten überfallen«, gab Weser zur Antwort. »Es gelang mir, dem Schlag auszuweichen und den Mann unschädlich zu machen. Eigentlich waren es zwei Angreifer. Ich muß mich wohl geirrt haben, als ich annahm, dieser Herr hier sei der ande re.« »Das ist eine Unverschämtheit!« erregte sich der Engländer. »Sie sind ein frecher Lügner. Ich habe ganz deutlich gesehen, wie Sie meinen Freund Bill water von hinten überfielen und ihn niederschlugen.« Weser lachte kurz auf. »Auch eine Lesart. Seit wann trägt Ihr Freund sein Gesicht auf dem Rücken? Sie brauchen ihn ja nur anzusehen, dann können Sie ohne weiteres feststel len, wo ihn mein Schlag getroffen hat.« »Natürlich hat er sich rechtzeitig herumgedreht, aber bevor er sich zur Wehr setzen konnte, haben Sie ihn niedergeschlagen. Mr. Reimers, ich bitte festzu stellen, ob mein Freund nicht beraubt wurde. Gleich 7
zeitig möchte ich bemerken, daß ich auf einer stren gen Bestrafung dieses Herrn bestehen werde.« »Ich bitte Sie um etwas Geduld«, erwiderte Rei mers höflich. »Ich werde den Kapitän verständigen.« Auf dem Oberdeck hatten sich trotz der späten Stunde einige Menschen versammelt, die neugierig herandrängten. Reimers gab einem Matrosen Aufträ ge. Nach einiger Zeit erschien der Schiffsarzt und bemühte sich um Billwater. »Der Herr ist nur betäubt«, stellte er fest. »Das Nasenbein ist allerdings gebrochen. Ich werde ihn einstweilen ins Lazarett schaffen lassen.« Reimers wandte sich an die beiden Männer. »Bitte, folgen Sie mir zum Kapitän.« Kapitän Köpping hörte sich ruhig an, was ihm vorgetragen wurde, und meinte dann: »Tja, meine Herren, Ihre Berichte widersprechen sich vollständig. Ich habe keinen Anlaß, Ihnen, Herr Weser, einen Überfall zuzutrauen, andererseits sehe ich bei Ihnen, Mr. Aspill, auch keinen Grund, mich anzulügen. Ich könnte höchstens vermuten, daß Sie sich bei Beob achtung der Vorgänge getäuscht haben.« »Das ist ausgeschlossen«, betonte der Engländer scharf. »Wenn es Ihnen recht ist«, fuhr der Kapitän fort, »dann wollen wir vor allem Mr. Billwater befragen.« Billwater war gerade wieder zu Bewußtsein ge kommen, als sie eintraten. Aspill eilte auf ihn zu. 8
»Lieber Freund«, sagte er, »man will mir nicht glauben, daß Mr. Weser dich überfallen und nieder geschlagen hat. Du wirst…« »Bitte, greifen Sie nicht vor«, meinte der Kapitän unmutig. »Mr. Billwater, würden Sie bitte die Lie benswürdigkeit haben, uns zu erzählen, was gesche hen ist?« Billwater blickte gehässig zu Weser hinüber. »Dieser Herr dort hat mich überfallen. Wahr scheinlich hat er es auf meine Brieftasche abgesehen. Ich wollte mich zur Wehr setzen, aber er schlug mich sofort nieder.« Bernhard Weser wurde bleich. »Das ist eine gemeine, niederträchtige Lüge«, er klärte er. »Genau umgekehrt ist es gewesen.« Der Kapitän sah nachdenklich von einem zum an deren. »Ich verstehe das Ganze nicht. Hatten die Herren einen Streit miteinander?« »Wir haben uns bisher kaum flüchtig gesehen«, antworteten beide Seiten. »Tja, dann ist mir der Vorfall erst recht unerklär lich.« »Mir nicht«, meinte Aspill. »Dieser Herr hat es eben auf die Brieftasche meines Freundes abgesehen. Sie scheinen leider nicht orientiert zu sein, Herr Ka pitän, daß auf diesem Schiff nicht alles so ist, wie es sein sollte. Erst vor einer Stunde erzählte mir einer 9
der Passagiere, ein Mr. White, daß er seine Briefta sche vermisse. Er wollte noch keine Meldung ma chen, da er es nicht für ausgeschlossen hielt, daß er sie verlegt habe. Aber vielleicht würde Mr. White besser tun, seine Brieftasche in der Kabine dieses Herrn zu suchen.« Weser trat drohend auf den Engländer zu. »Erbärmlicher Schuft«, knurrte er wütend. »Wenn Sie noch einmal wagen, etwas Derartiges zu behaup ten, dann …« Der Kapitän stellte sich dazwischen. »Bitte, beruhigen Sie sich, meine Herren. Es scheint mir, Mr. Aspill, daß Sie tatsächlich etwas zu weit gehen. Ich möchte Sie bitten, den Vorfall als erledigt zu betrachten. Sie sind alle zusammen das Opfer eines Mißverständnisses geworden, und ich …« Vor der Tür wurde eine erregte Stimme hörbar. »Ich muß aber den Kapitän sofort sprechen, unbe dingt sofort!« Die Tür wurde aufgerissen. Ein dritter Engländer trat ungestüm ein. »Ich heiße White«, sagte er laut. »Herr Kapitän, meine Brieftasche ist mir heute abend gestohlen worden. Ich muß Sie dringend bitten, eine gründliche Untersuchung des Schiffes vorzunehmen, bevor wir den Hafen anlaufen. In meiner Brieftasche befanden sich fünfhundert Pfund.« 10
Köpping konnte einen Fluch nicht unterdrücken. »Verdammt, ist denn der ganze Kasten verhext«, knurrte er in sich hinein und antwortete dann laut: »Wir werden alles tun, um Ihre Brieftasche wieder zu beschaffen. Wahrscheinlich ist sie Ihnen entfallen.« »Ich habe alles durchsucht«, behauptete White. »Sie muß mir gestohlen worden sein.« Aspill grinste hämisch. »Ich würde doch empfehlen, die Kabine von Mr. Weser zu durchsuchen. Wenn ich nicht irre, habe ich diesen Herrn heute wiederholt in der Nähe von Mr. White gesehen.« »Das ist kein Beweis«, brummte der Kapitän un gehalten. »Auf derartige Behauptungen hin kann ich unmöglich die Kabine eines Fahrgastes durchsuchen lassen.« Aspill zuckte mit den Schultern. »Mr. Weser wird selbst den größten Wert darauf legen, sich durch eine Durchsuchung seiner Kabine von dem Verdacht, der ausgesprochen wurde, zu be freien.« Alle Augen wandten sich Weser zu. Der begriff allmählich, was gespielt wurde, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu nicken. »Ich müßte allerdings darauf bestehen, selbst auf die Gefahr hin, daß man mir die Brieftasche in meine Kabine gebracht hat.« »Ah«, meinten die Engländer vielsagend. 11
Der Kapitän riß die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Herr Weser?« Bernhard Weser schüttelte den Kopf. »Ich werde Ihnen das später erklären. Kommen Sie.« Die Kabine Wesers war verschlossen. Weser selbst öffnete sie. Das Innere machte nicht den Ein druck, als sei ein Fremder dagewesen. Der Kapitän beorderte zwei seiner Offiziere, um die Kabine zu durchsuchen. Sie fanden die vermißte Brieftasche in dem kleinen Koffer Wesers. Aspill und White zeigten unverhüllt ihre Genug tuung. Weser war sehr blaß, sein starres Gesicht ver riet aber im übrigen wenig Gefühlsregungen. Der Kapitän zeigte Bestürzung und Betroffenheit. »Tja«, sagte er etwas unsicher, »das sieht böse für Sie aus, Herr Weser. Ich hätte nie gedacht, daß sich die Brieftasche hier finden würde. Es wird Ihnen schwerfallen, Ihre Unschuld zu beweisen. Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll.« Aspill meldete sich. »Es ist doch wohl selbstverständlich, daß Sie den Herrn in Port Said den Behörden überliefern. Dort mag er seine Unschuld nachweisen.« Der Kapitän zog die Brauen zusammen. »Wieso ist das selbstverständlich?« »Nun«, mischte sich White ein, »schließlich bin ich ja Engländer und Mr. Billwater ebenfalls. Außer 12
dem ist in Port Said die nächste Gelegenheit, um die Angelegenheit zu bereinigen. Wir würden selbstver ständlich mit aussteigen, um bei dem Verfahren zu gegen zu sein.« Jetzt zog der Kapitän die Stirn in Falten. »Sie verzichten ja sehr großzügig auf die Fortset zung Ihrer Reise.« »Die Gerechtigkeit geht vor«, erwiderte Aspill sal bungsvoll. »Jedenfalls werden die beiden betroffenen Herren darauf bestehen, daß Mr. Weser in Port Said den Behörden übergeben wird.« Der Kapitän sah Weser an. Dieser schüttelte den Kopf. »Ich weigere mich entschieden, meine Unschuld vor einem fremden Gericht zu beweisen. Ich bin Deutscher, und dieses Schiff ist deutscher Boden, folglich anerkenne ich nur den Spruch eines deut schen Richters. Im übrigen bitte ich Sie, Herr Kapi tän, mir anschließend eine Unterredung unter vier Augen zu gewähren.« White wandte sich an den Kapitän. »Das hieße dem Verbrechen Vorschub leisten, Captain. Dieser Herr kann sich nichts Besseres wün schen, als die ganze Weltreise noch ungeschoren mitzumachen und noch mehr Verbrechen zu bege hen. Sie müssen ihn selbstverständlich in Port Said dem Richter übergeben.« »Ich muß gar nichts«, erwiderte Köpping un 13
freundlich. »Herr Weser hat recht. Das ist ein deut sches Schiff, und er gehört vor einen deutschen Rich ter. Ich werde ihn keinesfalls einer fremden Behörde übergeben.« »Das heißt dem Verbrechen Vorschub leisten.« »Seien Sie gefälligst mit Ihren Worten vorsichti ger«, riet der Kapitän. »Herr Weser bleibt auf dem Schiff. Ich werde dafür sorgen, daß er seine Kabine nicht verläßt. Wenn wir nach Deutschland zurück kehren, liefere ich ihn den deutschen Behörden aus.« »Damit sind wir nicht einverstanden«, widersprach White heftig. »Ich bestehe auf der Auslieferung …« Der Kapitän schnitt ihm das Wort ab. »Wir streiten uns unnütz. Bitte, meine Herren, ich habe mit Herrn Weser noch unter vier Augen zu re den.« »Wir werden uns bei Ihrer Gesellschaft beschwe ren«, erklärten die Engländer zornig. »Das steht in Ihrem Belieben«, fertigte der Kapi tän sie ab. Aspill und White verließen die Kabine. Köpping schickte auch seine Leute hinaus, dann wandte er sich an Weser: »Nun?« Weser zog seine Brieftasche und entnahm ihr ein Schreiben. »Bitte, lesen Sie das, Herr Kapitän.« Köpping überflog das Schreiben, das mit Stempeln und Unterschriften bedeckt war und sogar einige 14
Fingerabdrücke aufwies. »Hm«, sagte er überrascht, »damit sehen die Din ge freilich etwas anders aus. Ich möchte zwar die Er kennungszeichen noch nachprüfen lassen, aber ich persönlich hege keinen Zweifel. Nun sagen Sie mir bloß, was dieser ganze Schlamassel bedeuten soll?« Jetzt lächelte Weser etwas. »Die Brieftaschen dieser Herren sind mir voll kommen gleichgültig. Umgekehrt ist es anders. Nach meiner Schätzung gehören diese Leute einem Nach richtendienst an. Sie ahnen oder wissen, daß ich in besonderer Mission reise.« »Da können die Herrschaften aber lange warten«, brummte Köpping. »Sie bleiben selbstverständlich auf dem Schiff. Ich werde Sie auch nicht in die Ka bine sperren, sondern Ihnen volle Bewegungsfreiheit lassen.« »Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.« * Die Vorfälle der Nacht waren am nächsten Morgen sämtlichen Fahrgästen der Ersten Klasse bekannt. Die Engländer hatten dafür gesorgt, daß jeder im Bilde war. Da der Kapitän und Weser schwiegen, lernten die Fahrgäste nur die Darstellung der Eng länder kennen und richteten sich danach. Sie waren empört, als Weser frei herumlief, tuschelten von 15
mangelndem Rechtsgefühl dieser deutschen Kapitäne und bemühten sich, Weser zu zeigen, was sie von ihm dachten. Betont und auffällig hielten sie Ab stand. Das war Bernhard Weser ziemlich gleichgültig. Es genügte ihm, daß der Schlag seiner Gegner gewis sermaßen ins Wasser gefallen war. Auf die Hochach tung der Fahrgäste legte er ohnehin wenig Wert. Port Said. Suez. Das Rote Meer. Die Sonne brannte mit unerträglicher Glut. Die Hitze lastete auf dem Schiff. Man hatte das Gefühl, daß die glühende Wärme der unendlichen Sandwü sten Arabiens und Afrikas sich über diesem schma len Meer aufeinanderschichtete, um die Menschen auszudörren. Am Horizont tauchten rechts voraus die ersten Steinklippen des Dahlak-Archipels auf, als ein Ruf über das Oberdeck ging. »Ein Flugzeug!« Von Nordwesten her schoß ein dunkler Punkt her an, vergrößerte sich schnell und wurde zu einem Flugzeug eigenartiger Konstruktion. Jetzt stand es senkrecht über dem Schiff. Die Fahrgäste drängten sich und starrten nach oben. »Wie kann sich die Maschine dort oben halten?« 16
riefen ein paar verwundert. »Sie hat doch nicht mehr Fahrt als ein Dampfer?« »Sie besitzt eine Hubschraube«, versuchte einer zu erklären. »Ach was«, entgegnete ein anderer, »die würde man sehen. Achten Sie auf die Tragflächen, meine Herrschaften, sie drehen sich. Das ist eine Spezial konstruktion, von der vor einigen Monaten so viel geschrieben wurde.« Diese Mitteilung erhöhte das Interesse ungemein. Es gab niemanden unter den Fahrgästen, der sich nicht der sensationellen Artikel entsann, und außer dem hatte noch keiner Gelegenheit gehabt, ein sol ches Flugzeug mit eigenen Augen zu sehen. Niemand achtete auf Bernhard Weser, der viel leicht noch viel stärker erregt war als die anderen Fahrgäste. Was hatte dieses Flugzeug hier zu su chen? Kapitän Köpping wurde inzwischen ärgerlich. Der Funker meldete ihm telefonisch, daß sich ein Flug zeug annähere und daß der Pilot einen Fahrgast zu sprechen wünsche. Darauf antwortete Köpping nicht gerade freundlich: »Was melden Sie mir da? Holen Sie doch den Mann heran.« »Einen Augenblick«, bat der Funker. »Das Flug zeug teilt eben mit, daß es landen will.« »Ausgeschlossen. Geben Sie Antwort, daß ich nicht berechtigt bin, das Schiff wegen einer Privat 17
angelegenheit zu stoppen.« »Jawohl.« Eine kleine Weile verging, dann meldete sich der Funker wieder. »Das Flugzeug wünscht nicht, daß der Dampfer stoppt. Es will auf dem Oberdeck landen.« »Der Kerl ist verrückt!« »Er bittet Sie, auf dem Oberdeck etwas Platz zu schaffen.« »Ich verbiete ihm sein wahnwitziges Unterneh men. Das Oberdeck ist zu kurz, um eine Landung zu ermöglichen.« Wieder verging eine kleine Weile, dann sagte der Funker: »Der Flieger wiederholt seinen Wunsch un ter Berufung auf Chiffre K 83 Ihrer Dienstanwei sung.« Köpping stand einen Augenblick steif, dann ant wortete er hastig: »Konnte er das nicht gleich sagen? Teilen Sie ihm mit, daß in fünf Minuten das Ober deck geräumt sein wird.« Die Fahrgäste der Ersten Klasse waren teils er staunt, teils entrüstet, als mehrere Schiffsoffiziere mit Matrosen anrückten und mit höflicher Entschieden heit alle Neugierigen vom Oberdeck herunterdräng ten. Das heißt, sie wollten sie ganz hinterdrängen, aber es erwies sich sehr bald als unnötig. Das Flugzeug landete bereits. Es fiel zunächst in scharfem Tempo herunter, wobei es immer genau 18
senkrecht über dem Schiff blieb, dann setzte es sich, ohne auch nur ein paar Meter zu rollen, auf die Plan ken nieder. Kapitän Köpping selbst sprang als erster heran. Die Kabinentür des Flugzeugs rollte zurück, ein hochgewachsener schlanker Jüngling mit mattleuch tendem blondem Haar sprang heraus. Durch die Menge der Fahrgäste ging ein Raunen der Bewunderung. Dieser Pilot schien noch bemer kenswerter als sein Flugzeug zu sein. Übrigens ent deckten sie kurz darauf, daß dieser Jüngling gar nicht das Flugzeug gesteuert hatte. Der Kapitän grüßte. »Kapitän Köpping.« »Sun Koh«, stellte sich der Ankömmling freund lich vor und streckte seine Hand aus. »Es freut mich. Sie kennenzulernen. Da ich Sie einmal auf eine ge wisse Chiffre aufmerksam machen mußte, bitte ich Sie, hiervon Kenntnis zu nehmen.« Er reichte dem Kapitän ein Schreiben. Köpping vergaß fast das Atmen, als er es las. »Das Schiff steht Ihnen vollkommen zur Verfü gung. Bitte, befehlen Sie.« »Danke, danke. Ich habe keinen anderen Wunsch als den, einen Ihrer Fahrgäste zu sprechen. Er heißt Bernhard Weser und muß Passagier der Ersten Klas se sein.« Der Kapitän war überrascht, erwiderte aber unver 19
züglich: »Er ist auf dem Schiff. Ich werde ihn sofort verständigen. Darf ich Ihnen meine Kabine anbie ten?« »Danke«, lehnte Sun Koh ab, »ich werde Herrn Weser im Flugzeug mitnehmen. Oben in der Luft können wir bestimmt nicht belauscht werden. Wenn unser Gespräch beendet ist, werde ich ihn wieder ab setzen. Wenn Sie ihn jetzt verständigen wollen?« Kapitän Köpping bemerkte Weser gerade unter der Menge, bat um Entschuldigung und holte ihn selbst. Eine ganze Reihe der Fahrgäste, die das beobach tet hatten, bedauerten es in diesem Augenblick zu tiefst, daß sie sich nicht anders zu Weser gestellt hat ten. Ein Mann mit solchen Bekanntschaften hatte si cher verdient, daß man sich um ihn kümmerte. Bernhard Weser folgte dem Kapitän teils erstaunt, teils unruhig. Als er dann Sun Kohs klaren Blick auf sich fühlte, kam er sich innerlich fast wie ein verle gener Schuljunge vor. »Ich bin Ihnen nachgeflogen, weil ich Sie drin gend sprechen muß«, sagte Sun Koh. »Ich heiße Sun Koh.« »Sun Koh?« entfuhr es dem jungen Deutschen unwillkürlich. Nun sah er in die Augen Sun Kohs. »Ich – ich …«, stotterte er verlegen. »Bitte, steigen Sie in das Flugzeug ein«, bat Sun Koh. »Wir müssen unsere Unterredung oben in der 20
Luft führen.« Bernhard Weser schritt auf die Maschine zu. Be vor er jedoch einsteigen konnte, erschien in der Ka binentür Hal Mervin und fragte: »Haben Sie etwas dagegen, Sir, wenn ich inzwischen hierbleibe? Ich bin nämlich schon ganz durchgeschwitzt von der Backofenglut und möchte mal wieder ein Bad neh men. Der Dampfer hat doch sicher ein Schwimm bad.« »Das hat er«, sagte der Kapitän. »Steig aus«, sagte Sun Koh. »Aber richte dich dar auf ein, daß wir nicht lange bleiben.« »Danke. Ich hole mir nur schnell meine Badeho se.« Hal stieg aus, die beiden Männer stiegen ein, dann hob sich das Flugzeug vom Deck ab. Hal ließ sich in das luxuriöse Schwimmbad führen und stürzte sich ins Wasser. Er war unangenehm überrascht, als sich das Bad in kürzester Zeit zum Bersten füllte. Sämtliche Passagiere der Ersten Klas se hatten plötzlich das dringende Bedürfnis zu schwimmen oder wenigstens im Bad herumzustehen. Hal verstand aber sehr bald, daß man aus Neugier gekommen war. Weibliche und männliche Passagiere drängten sich an ihn heran und verwickelten ihn in Gespräche. Hal Mervin fand, daß man den Menschen geben müsse, was sie brauchten. Er ließ sich zu Auskünften 21
nicht nötigen. Innerhalb weniger Minuten bildete sich um ihn eine dichtgedrängte Zuhörerschar, die andächtig seinen Worten lauschte. Der gute Münchhausen wäre vor Neid blaß ge worden, wenn er Hal hätte erzählen hören. Soviel Phantasie im Erfinden unglaublicher Ereignisse, so viel Verschwiegenheit, um nichts Tatsächliches zu verraten, und soviel Frechheit, die dicksten Lügen mit biedermännischer Miene aufzutischen, besaß nur Hal Mervin. Sun Koh saß mittlerweile mit Bernhard Weser in der Kabine des Flugzeugs. Nimba hielt die Maschine gleichmäßig einige hundert Meter über dem Damp fer. »Ich muß Sie zunächst bitten«, begann Sun Koh, »mir zu erzählen, was Sie von Ihrer Jugend und Ihrer Familie wissen.« Weser zögerte eine Weile, dann antwortete er: »Es ist nicht viel. Die offiziellen Daten werden Sie sicher haben, Geburt und so weiter. Ich verbrachte meine Jugend in einer Mietskaserne. Mein Vater reiste viel – ich war noch zu jung, daß ich mich kaum mehr an ihn erinnere – und kam nicht wieder. Er hat übrigens hier unten in Arabien gelebt und ist hier verschollen. Meine Mutter starb, wenig später auch meine einzige Schwester. Ich selbst wurde von entfernten Ver wandten aufgezogen. Sie schickten mich zuerst…« »Danke«, unterbrach Sun Koh. »die folgende Zeit 22
ist weniger wichtig. Sie erinnern sich also genau, daß Ihr Vater hier unten in Arabien war?« Weser sah ihn erstaunt an. »Gewiß.« »Darf ich Ihre rechte Kniekehle sehen?« Wortlos streifte Weser sein rechtes Hosenbein hoch. Sun Koh sah in der Kniekehle einen herzför migen Leberfleck. »Das genügt«, meinte er. »Nun will ich Ihnen die Erklärung geben. Bei mir traf vor einigen Tagen ein Schreiben ein. Es hat außerordentlich viele Umwege machen müssen, bevor es sein Ziel erreichte. Das Schreiben bestand aus zwei Briefen. Der erste war an mich gerichtet. In diesem Schreiben wurde gebeten, Nachforschungen nach Ihnen anzustellen. Das, was Sie mir eben kurz von Ihrer Familie erzählten, wurde nebst Ihren Geburtsdaten als Hinweis abgegeben, außerdem machte der Schreiber auf das Erkennungs zeichen in Ihrer rechten Kniekehle aufmerksam. Gleichzeitig wurde gebeten, den zweiten Brief Ihnen auszuhändigen. Ich wurde ermächtigt, nach Belieben von diesem Brief vorher Kenntnis zu nehmen.« Bernhard Weser verstand überhaupt nichts. In sei nen Augen lag Verwunderung. »Es gelang sehr schnell«, fuhr Sun Koh fort, »Ih ren Aufenthalt zu ermitteln. Ich stellte fest, daß Sie im Auftrag meiner Zentrale Deutschland verlassen hatten. Ich habe es für richtig gehalten, das an Sie 23
adressierte Schreiben zu öffnen. Der Inhalt schien derart bedeutungsvoll, daß ich Wert darauf legte, Sie sofort zu verständigen und Ihnen das Schreiben aus zuhändigen. Hier ist das Schreiben.« Weser nahm es nur zögernd entgegen. »Das ist sehr geheimnisvoll. Von wem ist das Schreiben?« »Von Ihrem Vater.« Weser beugte sich vor. »Von – meinem Vater?« Sun Koh nickte. »Ja. Sie werden alles Nähere aus dem Brief selbst entnehmen können. Bitte, lesen Sie ihn.« Bernhard Weser las: »Lieber Sohn! Falls Du lebst und Dich mein Brief erreicht, was ich von Herzen hoffe, wirst Du sicher sehr überrascht sein, nach so langer Zeit etwas von mir zu hören. Ich glaube, man hält mich in Deutschland für tot, jeden falls wird man mich als vermißt erklärt haben. Du kannst Dich an mich wohl kaum mehr erinnern, denn Du warst noch sehr jung, als ich in die Welt zog. Ich selbst habe keine rechte Vorstellung mehr von Dir, ja, ich muß offen gestehen, ich weiß nicht einmal mehr ganz genau, ob es stimmt, daß wir Dich auf den Namen Bernhard getauft haben. Trotzdem versichere ich Dir, daß alle meine Gedanken jetzt, wo ich Dir 24
schreibe, in innigster Liebe bei Dir sind, und daß ich mir nichts Besseres wünsche, als Dich eines Tages vor mir zu sehen. Doch nun laß Dir meine Geschich te erzählen: Deine Mutter und Deine Schwester starben. Ich hatte beide sehr lieb und zog in die Welt als ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. Ich habe den Tod oft genug herausgefordert, aber er wollte mich nicht haben. Ich kam in den späteren Jahren nach Arabien. Eines Tages wurden wir überfallen. Wir wehrten uns nach besten Kräften, aber es half uns nichts. Ich hatte schwere Verletzungen erlitten und lag halbtot in der Wüste. Die Räuber kümmerten sich nicht um mich. Ein paar Beduinen fanden mich je doch, entdeckten noch Leben in mir und nahmen sich meiner an. Ich habe von dieser Zeit nur sehr vage Erinnerun gen behalten, da ich wochenlang nicht richtig bei Be sinnung war. Der treue Kerl, der mich unbedingt ret ten wollte, schleppte mich über das Rote Meer und Ägypten hindurch und brachte mich schließlich nach Abessinien. Leidlich genesen kam ich mit meinem Retter Adj da – er ist übrigens jetzt mein bester Freund – in das Bergland von Abessinien, das für die Welt so gut wie unbekannt ist. Wir wurden beide von Ras Bajenna, einem unabhängigen Fürsten dieses Landes, gefan gengenommen. Durch verschiedene Umstände ge 25
wann ich das Vertrauen Bajennas. Im Laufe der Jahre konnte ich mich hocharbeiten, und als schließlich Bajenna starb, wurde ich sein Nachfolger. Ich bin also heute ungefähr das, was man in Deutschland einen Herzog nennt. Unter meiner Herrschaft steht einer der verwegensten Bergstämme. Offiziell heißt mein Land Shankalla und ist ein Teil dieser abessini schen Provinz, mein Volk selbst bezeichnet seine Heimat als Tulu-Wallel, mich selbst aber als Atto Errare. Näheres will ich Dir darüber nicht erzählen, da ich ja nicht weiß, ob der Brief nicht in falsche Hände gerät. Ich habe immerhin in meinem Nachbarfürsten einen mächtigen Feind, der mir gern schaden möch te. Außerdem würden manche Leute nicht abgeneigt sein, aus dem Inhalt dieses Briefes Nutzen zu ziehen. Ich komme zur Hauptsache: Mit meinen fünfzig Jahren bin ich kein junger Mann mehr. Ich muß an die Zukunft denken, denn geheiratet habe ich selbstverständlich hier nicht. Mein natürlicher Nachfolger würdest Du sein. Au ßerdem ist es mir schwer auf die Seele gefallen, daß ich mich nie um Dich gekümmert habe. Es ist tech nisch schwer möglich, von hier aus Nachrichten in die Welt zu geben, aber immerhin wäre es nicht aus geschlossen gewesen. Ich muß schon zugeben, daß ich mich an Dir etwas versündigte. Das tut mir jetzt leid, um so mehr, als ich wirklich große Sehnsucht 26
nach Dir als meinen Sohn habe. Du bist mein Fleisch und Blut, und der Zusammenhang zwischen uns bei den kann durch nichts anderes ersetzt werden. Kurz und gut, ich möchte, daß du zu mir nach Abessinien kommst. Ich weiß wohl, daß ich mir nicht allzu gro ße Hoffnungen machen darf, denn selbst wenn Du lebst, kann Dein Schicksal eine Wendung genommen haben, die es Dir nicht möglich macht, mich aufzu suchen. Ich weiß auch, daß unser Wiedersehen unter Umständen eine sehr große Enttäuschung sein könn te, denn ich müßte natürlich an meinen Nachfolger ganz bestimmte Ansprüche stellen. Wenn Du Dich aber gesund und kräftig fühlst und durch nichts ge hindert bist, dann stelle Dir vor, daß Dein Vater im wilden, verschlossenen Land auf Dich wartet, und versuche, zu mir zu kommen. Es wird Dir nicht leicht fallen, zu mir zu kommen. Abessinien ist ein verschlossenes Land. Ein Weißer, der es aufsuchen will, kann nur schwer verborgen bleiben. Mein größter Feind Ghogoli würde alles aufbieten, um Dich zu töten. Vermeide es auf alle Fälle, durch Ägypten hindurch den Nil aufwärts zu reisen. Du mußt durch das Rote Meer fahren – am besten auf einem deutschen Dampfer – und es auf irgendeine Weise fertig bringen, möglichst unauffäl lig in Suakim, Massaua oder Hanfila an Land zu kommen. Ich werde in jede der drei Städte einen Vertrauensmann senden, der Dich empfangen soll. 27
Deine Ankunft wird zwar nicht unbemerkt bleiben, aber auf alle Fälle ist es besser, wenn Du als Erken nungszeichen eine schwarze Schnur um das rechte Handgelenk trägst. Mein Vertrauensmann wird sich Dir gegenüber mit dem gleichen Erkennungszeichen oberhalb des linken Ellenbogens ausweisen. Du darfst Dich restlos auf ihn verlassen. Vermutlich werde ich sogar in jede Stadt nicht einen, sondern mehrere Leute schicken. Und nun, mein lieber Sohn, will ich schließen. Ich werde von heute an ein Jahr lang auf Dich warten, und ich bete zu Gott, daß er mir Gelegenheit gebe, Dich recht bald zu umarmen. In Liebe Dein Vater Conrad Weser.« Bernhard Weser ließ das Briefblatt sinken und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Sun Koh ließ ihm Zeit. Endlich raffte sich Weser zusammen und sagte lei se: »Mein Vater lebt also?« »Daran ist kaum zu zweifeln.« »Mir ist vorläufig noch, als ginge mich der ganze Brief gar nichts an. Es ist alles so fremd, so eigenar tig beziehungslos…« »Leicht verständlich, da Sie kaum eine innere Be ziehung zu Ihrem Vater haben werden. Das wird sich natürlich sehr schnell ändern.« 28
Weser tippte auf den Brief. »Könnte das nicht auch ein Scherz sein?« »Nein.« »Sie halten es also für möglich, Sir, daß mein Va ter ein abessinischer Fürst geworden ist, wie er schreibt?« »Es ist nicht ausgeschlossen. Der Inhalt des Brie fes klingt sehr romantisch und abenteuerlich, aber eigentlich kann man keinen Grund anführen, warum er nicht den Tatsachen entsprechen sollte. Es gibt noch seltsamere Menschenschicksale als dieses. So weit sich die Angaben nachprüfen ließen, wurden sie bereits nachgeprüft und für richtig befunden. Das Wichtigste freilich ließ sich nicht nachprüfen, da es keinerlei Verbindung mit dem inneren Abessinien gibt.« Weser schüttelte den Kopf. »Ja, aber Abessinien ist doch eigentlich kein ver schlossener Staat. Addis-Abeba ist doch für jeder mann zugänglich, und wenn ich mich recht entsinne, habe ich neulich sogar verschiedene Bilder vom kai serlichen Hof gesehen. Es gibt auch eine ganze Reihe Bücher über Abessinien, die von Europäern ge schrieben wurden.« Sun Koh nickte. »Stimmt, aber Abessinien besteht aus zwei völlig gegensätzlichen Hälften. Der Südwesten, zum größ ten Teil Flachland, ist fast ebenso bekannt wie jedes 29
andere Gebiet der Erde. Das Habesch selbst aber, ein wildes Bergland, das von schwer zugänglichen Ge birgsketten eingeschlossen wird, ist völlig unbe kannt. Das nordwestliche Abessinien wurde bisher überhaupt noch nicht von Europäern erforscht. Die Angaben der Karten sind höchst oberflächlich. Die Menschen, die dort leben, gehören zwar formell un ter die Herrschaft des abessinischen Kaisers, aber tatsächlich sind sie von ihm völlig unabhängig. Haile Selassie hat praktisch in dem gesamten Gebiet nörd lich des Bahr el Asrak nichts zu sagen.« »Demnach könnte mein Vater unabhängiger Fürst sein, wie er schreibt?« »Durchaus.« »Und ich soll zu ihm kommen?« Sun Koh antwortete nicht. Nach einer Weile sagte Weser: »Ich glaube, es ist an mir, einen Entschluß zu fassen. Ich muß offen ge stehen, daß ich augenblicklich noch nicht weiß, was ich tun soll. Ich bin in Ihrem Auftrag unterwegs und…« Sun Koh lächelte leicht. »Sie sind von diesem Augenblick an nicht mehr in meinem Auftrag unterwegs. Ihr Vertreter hat sich bereits eingeschifft.« Weser sah ihn fest an. »Das bedeutet, daß meine Aufgabe jetzt in Abes sinien liegt?« 30
»So ist es. Ihre gefühlsmäßigen Erwägungen kön nen ein Schwanken zulassen, gewisse Erwägungen aber nicht. Es bestehen wichtige Gründe, Sie zu bit ten, sofort den Ruf Ihres Vaters zu folgen.« Weser atmete auf. »Das beseitigt meine Zweifel. Ich bin ent schlossen, der Aufforderung dieses Briefes Folge zu leisten. Ich bin freilich völlig unvorbereitet. Darf ich um Ihre Anweisungen und Befehle bitten?« »Hören Sie …« 2. In flimmernder Glut lag Hanfila an der Küste des Roten Meeres. Unerträglich weiß blendeten die hel len, viereckigen Würfel der Häuser, auf denen die grelle Sonne lag. Tief schwarz schienen die Schatten in den engen Gassen zwischen den Häusern. Sie ver hießen Kühle, boten aber auch nichts anderes als dumpfe, stickige Hitze, die von unzähligen Gerüchen durchsetzt war. Still war es in Hanfila. Der Fischhändler, der am Vormittag und Spätnachmittag seine Waren unermüd lich ausschrie, lag schlafend in einer dunklen Nische. Einsam und verlassen, wie ausgestorben, lag die Straße am Ufer, und die Dschaus schwammen reglos auf dem bleifarbenen Wasser. Selbst die räudigen Hunde ließen sich um diese Stunde nicht sehen. 31
Drüben aus dem Meer ragten die rotbraunen Klip pen der Inseln, die Hanfila vorgelagert waren. Wie rostige Kulissen schlossen sie den Horizont ab. Sie schienen sich wie durchgeglühte Riegel zwischen die Stadt und das kühler atmende Meer zu schieben. Von dorther näherte sich ein Boot, schlich lang sam über das Wasser hinweg auf Hanfila zu. In diesem Boot saß Bernhard Weser. Der Schweiß lief ihm in Strömen vom Körper, und in den Schläfen preßte es derartig, daß er ernsthaft fürchtete, einen Hitzschlag zu bekommen. Natürlich hätte er um diese Stunde schon längst in Hanfila sein müssen, aber verschiedene Umstände hatten seine Abfahrt verzögert. Deswegen war er erst gegen Mittag losgefahren, obgleich die Hitze nicht gerade dazu einlud. Aber er hatte noch viel weniger Lust, einen Tag und eine Nacht lang auf jener Klip peninsel zu hocken. Endlich zog er das Boot auf den flach ansteigen den, glühenden Sandhang hinauf. Prüfend blickte er sich um. Wenn sein Vater gewünscht hatte, er möge sich möglichst unauffällig dem Land nähern, so war ihm das jetzt bestimmt gelungen. Die ganze Stadt schien zu schlafen. Es sah ganz so aus, als hätte überhaupt niemand seine Ankunft bemerkt. Vielleicht noch nicht einmal der Mann, der unbe dingt davon wissen sollte. Weser beendete seine Betrachtungen damit, daß er 32
die Schultern hob und sich allmählich wieder die Sa chen über den Leib zog, die er der Hitze wegen im Boot abgelegt hatte. Dann hängte er seine Waffe über die Schulter, nahm sein gewichtiges Päckchen, in dem er das Notwendigste verstaut hatte, in die linke Hand und stieg auf den Uferweg hinauf. Da sich nirgends ein Lebewesen sehen ließ, steuer te er direkt auf den schattigen Spalt zu, der den An fang einer Gasse bedeutete. Wenn er den Beauftrag ten seines Vaters schon nicht traf, so wollte er sich wenigstens nicht weiter in der Sonne braten lassen. Er war noch keine zehn Meter in sie eingedrungen – der Fischhändler rechts in der Nische riß eben die Augen auf –, als aus der tief eingewölbten Tür linker Hand ein Mann trat. Er war fast ganz in Weiß ge hüllt, so daß sein Gesicht im Gegensatz dazu außer ordentlich dunkel wirkte. Auf den ersten Blick glaub te Weser, einen Neger zu sehen, konnte sich aber bald überzeugen, daß der Mann außer seiner dunklen Farbe nichts Negerhaftes an sich hatte. Bernhard Weser blieb stehen, da er den Eindruck hatte, daß die Bewegung des Mannes ihm galt. Tat sächlich verbeugte sich jener tief und feierlich vor ihm und sagte in etwas gebrochenem, aber gut ver ständlichem Englisch: »Verzeiht, Herr, daß ich es wage, Euch anzusprechen. Ich sah einen weißen Herrn in einem Boot nach dieser Stadt kommen, ob wohl es keine Fremden gibt, die Hanfila für würdig 33
genug befinden, hier zu verweilen. Es gibt nur weni ge Fremde, die einen Grund haben, auf diese Weise hierherzukommen – vielleicht nur einen einzigen.« Bernhard Weser hob wie versehentlich seinen rechten Arm, so daß die schwarze Schnur am Hand gelenk sichtbar wurde. Sofort sagte der Weißgekleidete aufatmend: »Ah, das ist das Zeichen. Mein Herr, Ras Atto Errare, hat mich gesandt. Er läßt Euch grüßen und bitten, mir Vertrauen zu schenken. Ich bin beauftragt, Euch zu ihm zu führen.« Weser unterzog dem anderen einer scharfen Mu sterung. »Gab Euch Euer Herr nicht ein Zeichen mit auf dem Weg?« Der Weißgekleidete nickte lächelnd und streifte sein Gewand am linken Arm zurück. Oberhalb des Ellenbogens wurde die schwarze Schnur sichtbar. »Dies ist das Zeichen«, sagte er. »Ich heiße Rakot ti und bin Euer ergebener Diener.« »Ich sehe, daß Ihr der Mann seid, der mich erwar ten soll. Wißt Ihr, wer ich bin?« Rakotti verbeugte sich. »Ich weiß, daß der Sohn meines Herrn vor mir steht. Es wurde mir gesagt, daß ich ihn mit Mr. We ser anzureden habe, wenn ich englisch spreche.« »Dabei wird es wohl auch einstweilen bleiben, denn Deutsch sprecht Ihr wohl kaum?« 34
»Nicht viel, doch die Sprache unseres Landes …« Weser winkte ab. »Die beherrsche ich natürlich erst recht nicht.« Wieder lächelte Rakotti. »Ihr werdet sie eines Tages sprechen. Doch möch te ich Euch jetzt bitten, mir zu folgen. Es ist nicht ratsam für einen weißen Mann, in Hanfila aufzufal len, und für den Sohn meines Herrn könnte es ge fährlich sein, wenn ihn allzu viele Augen sehen.« Bernhard Weser folgte seinem Führer in das Haus, aus dem Rakotti getreten war. In dem dämmrigen Innern hockten auf dem nack ten Steinboden noch ein paar weißgekleidete Leute, die beim Eintreten Wesers aufsprangen und sich ehr erbietig verneigten. Rakotti führte ihn weiter in ein leeres Gemach, in dem sich nur eine niedrige Liege statt befand. Er bat ihn, hier die Stunden der größten Hitze zu verbringen. »Werden wir uns lange hier aufhalten?« erkundig te sich Weser. »Nein«, kam die Antwort, »wir brechen morgen früh auf. Heute ist es schon zu spät.« Bernhard Weser war kurz darauf allein. Er legte sich nieder, und da es in dem Raum immerhin ver hältnismäßig kühl war, schlief er fast sofort ein. Nach Stunden schreckte er hoch. Ringsum war es dunkel, durch das Fenster drang nur ganz matter Lichtschein. Er mußte also sehr lange geschlafen ha 35
ben. Kein Wunder nach dieser Ruderei. Er lauschte. Was hatte ihn eigentlich so plötzlich hochgerissen? War es nicht ein Knall gewesen? Ein Schuß? Da – jetzt drang ein langgezogenes, schweres Stöhnen an sein Ohr. Kurz danach hörte er Geräu sche und Schritte, die auf die Anwesenheit einer grö ßeren Anzahl Menschen in den Nebenräumen schlie ßen ließen. War hier etwas nicht in Ordnung? Bevor er sich selbst auf diese Frage hatte Antwort geben können, drangen ein halbes Dutzend Männer in den Raum ein. Ihre Gesichter konnte er nicht se hen, seine Augen fingen nur das helle Weiß der Ge wänder. »Rakotti?« rief er fragend. Ein heiseres Auflachen und eine Bemerkung in fremder Sprache antworteten ihm, während gleich zeitig die Männer auf ihn zustürzten. Da begriff er die Gefahr. Pistole heraus. Ein, zwei Schüsse peitschten den Angreifern ent gegen, dann hingen die vier Mann, die er nicht ge troffen hatte, wie eine schwere Traube an ihm und hemmten seine Bewegungen. Zwei Minuten später war er an Händen und Füßen gefesselt. Zwei der Männer nahmen ihn auf und trugen ihn hinaus in den 36
großen Raum, den er vorhin zusammen mit Rakotti durchschritten hatte. Hier standen jetzt noch rund ein Dutzend weißge kleideter Gestalten. Sie redeten durcheinander, aber sicher war er für alle der Gegenstand des Gespräches. Weser sah die dunklen Gesichter auf sich gerichtet. Die Männer legten ihn auf den Boden, einer der anderen kam mit einer brennenden Fackel und hielt sie in die Nähe seines Gesichts. Dann löste sich aus der Gruppe eine andere Gestalt und trat neben den Gefesselten. »Sei gegrüßt«, sagte der Mann mit unverkennba rem Spott. »Es freut mich, den Sohn Atto Errares vor mir zu sehen.« Weser erkannte im unsicheren Schein der Fackel ein düsteres, wildes Gesicht mit starker, auffallend gerader Nase, zu der die weichaufgeworfenen, dik ken Lippen in eigenartigem Gegensatz standen. »Was soll das bedeuten?« fragte er. »Wo ist Ra kotti?« Der Mann zeigte mit einer verächtlichen Bewe gung nach hinten. »Dort in der Ecke liegt er. Die Schakale werden ihn fressen.« »Ihr habt ihn getötet?« Der Fremde grinste. »Wer seine Feinde tötet, erleichtert sich das Le ben. Ras Ghogoli wird sich freuen, wenn ich ihm den 37
Tod dieser Männer melde.« »Ihr seid der Beauftragte von Ghogoli?« »Ich bin Kirin«, erwiderte der Fremde mit einem gewissen Stolz, »der Freund meines Herrn Ghogoli.« »Und was habt Ihr mit mir vor?« »Wir werden Euer Leben wie einen wertvollen Edelstein behüten. Atto Errare wird sehr viel dafür geben, um seinen Sohn bei meinem Herrn Ghogoli auszulösen.« »Und wie kommt es, daß Ihr hier seid?« Kirin gab bereitwilligst Auskunft. Man merkte ihm an, wieviel Genugtuung und Triumph er emp fand, sich zu rühmen. »Ghogoli und seinen Leuten entgeht nichts, was sich in Habesch ereignet. Atto Errare sandte Männer zur Küste, und wir folgten diesen, um sie zu überwa chen und um ihre Absichten zu erraten. Wir erfuhren, daß Ihr erwartet wurdet, und wir hatten nichts zu tun, als geduldig auszuharren, bis Ihr kamt. Wenn der Morgen graut, werden wir zurückkehren.« Bernhard Weser begriff nun vollkommen. Er be fand sich nicht mehr unter den Vertrauten seines Va ters, sondern in der Gewalt von Leuten, die nach den Andeutungen des Briefes erbitterte Gegner seines Vaters sein mußten. Man würde ihn als Gefangenen in das Innere des Landes schleppen und als Geisel zu allen möglichen Zwecken mißbrauchen. In aufsteigender Wut zerrte er an seinen Fesseln, 38
aber die Stricke waren zu fest, als daß er sie hätte zerreißen können. Er dachte an Sun Koh. Sobald es dunkel war, wür de der junge Mann Ausschau nach dem verabredeten Zeichen halten. Er würde lange warten. Immerhin, es war wenig wahrscheinlich, daß Sun Koh einfach zurückfliegen würde, ohne sich zu über zeugen, ob alles programmgemäß verlief. Sieher würde er versuchen, festzustellen, warum er das Zei chen nicht gegeben hatte. Bernhard Weser wurde bei diesen Überlegungen ruhiger. Noch war nichts verloren. Sun Koh würde helfen. Er war der Mann dazu, um es mit diesen Bur schen aufzunehmen. * Fast bewegungslos hing das Flugzeug über der nächtlichen Stadt Hanfila. Seit Stunden wartete Sun Koh auf das verabredete Zeichen. »Da ist bestimmt etwas schiefgegangen«, meinte Hal Mervin. »Sieht fast so aus«, antwortete Sun Koh. »Wir müssen trotzdem warten. Weser kann in eine Situati on geraten sein, die es ihm erst später ermöglicht, das Zeichen zu geben.« 39
Sie warteten die ganze Nacht hindurch. Eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang erhielt Nimba den Befehl, am Rand der Stadt zu landen. »Es ist etwas Unangenehmes geschehen«, meinte Sun Koh. »Ich will versuchen, festzustellen, was sich ereignet hat. Du steigst wieder auf und beobachtest die Stadt und die Umgebung. Gestern kann Weser die Stadt kaum verlassen haben. Wenn er sich in der Gewalt von Feinden befindet, könnten ihn diese viel leicht heute morgen aus der Stadt bringen. Achte je denfalls besonders auf Karawanen und auf Trupps. Hal mag sie mit dem Fernseher überprüfen.« »Darf ich nicht mit?« fragte Hal. »Nein, du bist am Fernseher wichtiger. Versuche festzustellen, ob Weser freiwillig oder unfreiwillig die Stadt verläßt.« »Wann werden Sie zurückkehren?« erkundigte sich Nimba. »Ich gebe euch durch die Sprechdose Bescheid.« Das Flugzeug setzte auf. Sun Koh sprang heraus, dann stieg die Maschine wieder in die Luft. Als die Sonne über die braunroten Klippen im Osten hochschoß, wanderte Sun Koh bereits durch die Gassen Hanfilas. Er näherte sich ohne zu zögern dem Haus, in dem er am gestrigen Nachmittag Bern hard Weser hatte verschwinden sehen. Das Leben in der Stadt war noch nicht richtig erwacht. Zwei oder drei Leute entdeckten den frühen Wanderer. Bevor 40
sie sich aber noch von ihrem Staunen erholt hatten, war er jeweils schon ihren Blicken entschwunden. Als Sun Koh an die hölzerne Tür des Hauses klopfte, schlurfte gerade der Fischhändler vorbei, um seinen gewöhnlichen Platz einzunehmen. Er blieb natürlich voll Neugier stehen, um den Fremden zu beobachten. Mehrmals hallte der Schlag des bronzenen Klöp pels dumpf durch das Haus, aber von drinnen kam kein Lebenszeichen zurück. Schließlich wandte sich Sun Koh an den Fischhändler, dessen narbenzerfres senes Gesicht fast seinen Arm berührte. »Freund«, sagte er in reinem Arabisch, »kannst du mir sagen, ob die Bewohner dieses Hauses so fest schlafen, daß sie mich überhören?« Der Fischhändler brauchte einige Zeit, um seine Verwunderung zu überwinden. »Fremder«, erwiderte er schließlich, »es gesche hen seltsame Dinge in dieser Welt. Nichts aber ist so seltsam, als daß zwei Ungläubige durch die Gassen von Hanfila gehen, ohne daß es die Bewohner dieser Stadt überhaupt wahrnehmen.« »Du hast außer mir noch einen Weißen gesehen?« fragte Sun Koh sofort. Der Alte nickte. »Man nannte mich einen Träumer, als ich davon erzählte, aber ich sah ihn gestern ganz deutlich in dieses Haus hineingehen. Der Mann, der es gemietet 41
hat, führte ihn selbst hinein.« »Und hast du auch gesehen, wie er es wieder ver ließ?« »Es müßte in der Nacht gewesen sein«, meinte der andere. »Dort vorn ist mein Platz, und ich sah nie mand, der aus dem Haus trat. Nur einer der Diener jenes Mannes ging, um Einkäufe zu machen. Ich er fuhr von ihm, daß er mit seinem Herrn an diesem Morgen die Stadt verlassen wolle. Ich fragte ihn we gen des Weißen, aber er lachte mich aus und sagte mir, daß ich sicher geträumt habe.« »Wie hieß der Mieter dieses Hauses?« »Er nannte sich Rakotti und behauptete, aus dem Süden zu kommen, aber ich glaube, seine Wiege stand im Habesch.« Sun Koh sah ihn nachdenklich an. »Wie erklärst du dir, daß niemand mein Klopfen hört? Ist es Sitte in Hanfila, daß man noch vor dem Morgengrauen aufbricht?« »Es ist nicht Sitte, aber vielleicht ist der Schlaf dieser Leute so fest?« Mechanisch drückte Sun Koh auf die überraschend kunstvoll geschmiedete Klinke. Die Tür gab nach. »Sie ist nicht verschlossen«, stellten die beiden Männer fast gleichzeitig fest. Sun Koh trat nach kurzem Zögern ein, der Fisch händler folgte ihm neugierig. 42
Nach wenigen Schritten überblickten sie den gro ßen Raum und sahen die Toten, die mit blutbesudel ten Gewändern auf dem Boden lagen. Der Alte stimmte nach kurzer Starre ein Zeterge schrei an und wollte hinausrennen, aber Sun Koh hielt ihn fest. »Warte und sei still«, befahl er ihm. »Sieh dir die Leute an. Wer sind diese Toten?« Scheu blickte der Fischhändler in die Gesichter. »Fremder«, klagte er, »das sind die Diener jenes Rakotti, der das Haus mietete. Und dort – dort liegt er selbst.« Sun Koh nahm den Alten am Arm mit, da ihm nichts ungelegener kommen konnte als eine Alarmie rung der ganzen Stadt, bevor er sich Klarheit ver schafft hatte. Er beugte sich zu dem toten Rakotti nieder und streifte dessen Gewand auf. Oberhalb des linken Ellenbogens entdeckte er die schwarze Schnur, die Atto Errare als Erkennungszei chen angegeben hatte. Das war also sein Beauftrag ter. Und Bernhard Weser? Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um zu erra ten, daß er sich wahrscheinlich in den Händen ir gendwelcher Feinde befand. Trotzdem unterließ es Sun Koh nicht, das Haus wenigstens flüchtig zu durchsuchen. Er fand aber nichts, was auf Weser hindeutete. 43
Als er mit dem Fischhändler zusammen wieder im unteren Raum stand, sagte er: »Höre, mein Freund, du hast gesehen, daß hier Verbrechen geschehen sind. Diese Männer wurden ermordet, und der weiße Mann, den du gestern bemerkt hast, wurde ver schleppt. Ich will ihn finden. Kannst du mir einen Hinweis geben, wo er sich aufhalten könnte?« Der Fischhändler schüttelte den Kopf. Sun Koh hielt ihm eine Handvoll Silbermünzen unter die Nase. »Das gehört dir, wenn du mir einen Hinweis gibst. Leben noch mehr Fremde in der Stadt?« Der Alte starrte gierig auf das Geld. »Fremde gibt es immer in Hanfila, aber ich weiß von vielen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich kann dir nichts sagen.« »Du sollst das Geld trotzdem haben, wenn du ver schweigst, was du hier gesehen hast.« Der Fischhändler griff eilig zu. »O Herr«, versicherte er feierlich, »ich werde schweigen.« »Dann geh und sieh zu, daß man dich nicht be merkt, wenn du aus dem Haus trittst. Ich werde spä ter folgen. Horche bei deinen Bekannten herum, ob niemand den Mann gesehen hat, den ich suche. Ver suche zu erfahren, wer diese Männer tötete. Ich wer de deine Nachrichten reichlich belohnen.« Der Fischhändler verneigte sich tief. 44
»Ich werde mich bemühen, alle diese Wünsche zu erfüllen.« Sun Koh zog die Sprechdose aus der Tasche, als er allein war. »Etwas zu berichten, Hal?« fragte er. Aus einigen tausend Metern Höhe kam die Ant wort zurück: »Von und nach der Stadt bewegen sich nur einzelne Leute, aber auch eine kleine Karawane. Sie verläßt soeben die Stadt. Ich zähle sechzehn Männer auf Kamelen, außerdem eine ganze Reihe Kamele, die mit Kisten und Ballen beladen sind. We ser ist nicht zu sehen.« »Hm, das nützt uns nicht viel. Die Karawane kann harmlos sein. Weser kann aber auch in einer der Ki sten stecken. In diesem Haus befindet er sich jeden falls nicht mehr, und der Mann mit der schwarzen Schnur ist mitsamt seinen Begleitern ermordet wor den.« »Ach, das kann ja heiter werden.« Sun Koh ging auf den Zwischenruf nicht ein. »Sag Nimba, er soll dort landen, wo ich ausgestiegen bin. Ich komme sofort hin. Ende.« Sun Koh verließ das Haus und trat auf die stille Gasse. Der Fischhändler zwinkerte ihm vertraulich zu, als er vorüberging. Die Stadt lag noch immer im Schlaf, so daß Sun Koh unangefochten das freie Ge lände erreichte, auf dem bereits das Flugzeug warte te. 45
»Die Karawane?« erkundigte er sich sofort, nach dem er eingestiegen war. »Sie zieht nach Westen«, antwortete Hal. »Die Kamele legen ein ziemliches Tempo vor. Sonst ist nichts Besonderes zu bemerken.« »Ich will später in der Stadt versuchen, Wesers Aufenthaltsort festzustellen, dabei werde ich auch wegen dieser Karawane nachfragen. Zunächst müs sen wir aber nach Massaua. Es scheint mir notwen dig zu sein, den Mann mit der schwarzen Schnur, der dort wartet, von dem Vorgefallenen zu verständigen. Der Beauftragte Atto Errares wird besser wissen als ich, wer sich Wesers bemächtigt hat und wie man ihm helfen kann. Vielleicht kommt er auch gleich mit hierher, um die frische Spur aufzunehmen. Wir als Landesfremde sind in der Bewegung zu sehr ge hemmt.« Nimba nahm ohne weiteren Befehl Kurs auf Mas saua. In Massaua herrschte reges Hafenleben. Zahlrei che Dschaus und Dampfer verschiedener Linien be fanden sich im Hafenwasser, weiter draußen lag so gar ein Kanonenboot. Auf den Hafenstraßen trieben sich trotz der frühen Stunde schon eine ganze Menge Menschen herum. Die Basare waren geöffnet, die Händler liefen rufend hin und her, halbwüchsige Jungen flitzten durch das Gedränge, buntfarbig scho ben sich die Vertreter der verschiedenen Rassen und 46
Völker durcheinander. Nur Weiße waren nicht zu sehen. Es schien für Weiße nicht gut zu sein, sich allzu sehr in den Trubel zu mischen. Sun Koh merkte deutlich, daß hinter der Neugierde, mit der man ihn betrachtete, Mißtrauen und vielleicht auch Haß steckten. Man belästigte ihn jedoch nicht, sondern wich nach Möglichkeit aus. Er ging langsam ein paarmal auf der belebten Straße auf und ab, als habe er nichts anderes zu tun, als ausgerechnet hier spazieren zu gehen. Sein Ge sicht drückte vollendeten Gleichmut aus, obgleich seine Augen scharf beobachteten. An seinem Hand gelenk war deutlich eine schwarze Schnur sichtbar. Endlich nahm ein Mann an seiner Seite Tuchfüh lung und sagte, während er neben ihm herging, in hartem Italienisch: »Bleiben Sie nicht stehen, Frem der, sondern gehen Sie weiter. Ich bin nicht so unbe scheiden, um Sie veranlassen zu wollen, nur wegen mir Ihren Spaziergang zu unterbrechen.« Sun Koh sah ein dunkelbraunes Gesicht mit scharf herausspringender Nase. Er nickte und ging weiter. »Sie tragen einen eigenartigen Schmuck am Hand gelenk, Herr«, bemerkte der Fremde wie beiläufig. »Allerdings«, erwiderte Sun Koh, »es ist ein Schmuck, der seine Bedeutung hat. Es wird in ganz Massaua wohl nur einen Mann geben, der ihn außer mir noch trägt, und auch er wird ihn – nur an einer anderen Stelle des Armes – aufzuweisen haben.« 47
Der Fremde entblößte mit einer schnellen Bewe gung seinen linken Arm. »Ich trage ihn hier«, sagte er. »Dann sind Sie der Mann, den Atto Errare gesandt hat?« »Ich bin es«, bestätigte der Fremde. »Man nennt mich El-Kaua. Ich freue mich im Namen meines Herrn, den Mann begrüßen zu dürfen, der sich au ßerdem durch ein Zeichen auf seinem Körper auszu weisen vermag.« Sun Koh begriff, daß El-Kaua auf das Mal in der Kniekehle Wesers anspielte, durch das er sich ver gewissern wollte, daß er keinen Irrtum beging. Um keine Unklarheiten auftauchen zu lassen, sagte er deshalb sofort: »Ich bin nicht der, den Sie erwarten sollen, sondern einer seiner Freunde. Ich bin herge kommen, um Sie zu sprechen. Gibt es nicht einen besseren Platz in dieser Stadt, an dem wir uns unter halten können?« El-Kaua zögerte erst, dann meinte er entschlossen: »Ich bitte Sie, mir zu folgen.« Wenige Minuten später standen sie sich, abseits vom Trubel, zwischen den großen Steinen am Ufer gegenüber. Sun Koh bemerkte erst jetzt, wie verwe gen und zugleich verschlossen das scharf geschnittene Gesicht dieses braunen Mannes war. Es drückte ebensoviel Kühnheit wie Mißtrauen aus. Sun Koh löste die schwarze Schnur an seinem 48
Handgelenk und sagte dabei: »Ich heiße Sun Koh. Der Sohn Atto Errares, der bei uns Bernhard Weser heißt, erhielt den Brief seines Vaters durch mich. Ich brachte ihn vom Schiff nach Hanfila. Dort traf er ge stern einen Mann, mit dem er zusammen in einem Haus verschwand. Ich beobachtete die Stadt vom Flugzeug aus. Ein Zeichen sollte mich verständigen, daß alles in Ordnung sei. Dieses Zeichen blieb aus. Darauf suchte ich heute jenes Haus in Hanfila auf. Ich fand den Sohn Atto Errares nicht mehr vor, wohl aber fünf Tote, darunter einen Mann, der das gleiche Zeichen trug wie Sie. Ein Fischhändler aus der Gasse verriet mir, daß sich dieser Mann Rakotti genannt habe. Da ich aus dem Schreiben Atto Errares wußte, daß einer seiner Boten auch in Massaua auf den An kömmling mit der schwarzen Schnur warten würde, fuhr ich hierher, um ihn zu verständigen und mir Rat von ihm zu holen. Das ist alles.« El-Kauas Augen waren eng zusammengezogen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bevor er langsam und schleppend sagte: »Die Worte klingen nach Wahr heit, aber wer vermag bei den Weißen die Wahrheit zu ergründen?« »Sie mißtrauen mir?« »Ich vertraue nur dem Mann, der mir zu der schwarzen Schnur ein zweites Zeichen bringt.« »Das Muttermal in der Kniekehle?« »Vielleicht. Aber das Wissen allein ist noch nicht 49
die Wahrheit. Sie reden seltsame Dinge, von denen ich nichts verstehe.« Sun Koh spürte, daß sich der Mann mißtrauisch zurückziehen wollte. Unmutig meinte er: »Seien Sie nicht töricht. Glauben Sie wirklich, daß ich Sie auf suche, um mich mit Ihnen zu unterhalten? Die Tatsa chen, die ich Ihnen erklärte, müßten doch genügen?« »Was der Mund spricht, ist nicht immer Tatsa che«, gab der andere vorsichtig zurück. »Ich habe keine Veranlassung zu lügen. Der Sohn Atto Errares befindet sich in Gefahr. Er ist von Geg nern, von Feinden, gefangen genommen worden. Wäre es nicht richtiger, ihm zu helfen, als hier her umzureden?« El-Kaua verneigte sich leicht. »Gewiß wäre es richtiger. Wenn der Sohn des Ras Errare von Feinden überfallen worden wäre, müßte man zweifellos den Ras und seinen Leuten Nachricht geben, damit sie die Feinde abfangen. Und man müß te alles tun, um dem Sohn des Ras die Freiheit zu rückzugeben.« »Nun also, gerade deshalb komme ich ja. Sie wer den besser wissen als ich, wer jene Feinde Atto Erra res sind und wo man sie finden kann.« Der Dunkelfarbige verneigte sich wieder. »Es gibt nur einen Feind des Ras Errare – Ras Ghogoli. Und man kann dessen Beauftragten nur fin den, wenn sie das Gebiet ihres Herrn noch nicht er 50
reicht haben. Deshalb werden sie sich beeilen, um ihren Gefangenen zu ihrem Herrn zu bringen.« »Und wir müßten uns beeilen, um sie zu verfol gen«, sagte Sun Koh. »Ich bin fremd im Land und dachte mir, daß Sie von Hanfila aus mit mir zusam men die Verfolgung aufnehmen würden.« El-Kaua kreuzte die Arme über die Brust. »Vielleicht wäre es richtig – wenn es einen Sohn Atto Errares gäbe und ich beauftragt wäre, mich um ihn zu kümmern.« »Was soll das heißen?« »Daß es überhaupt keinen Atto Errare gibt.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Mensch, Sie sprechen in Rätseln. Wollen Sie mich zum Narren halten? Warum zeigen Sie mir dann die schwarze Schnur?« El-Kaua lächelte. »Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß es noch mehr Leute gibt, die den gleichen seltsamen Schmuck tra gen.« »Das klingt zu sehr nach Lüge, um Wahrheit zu sein. Sie mißtrauen mir. Haben Sie sich überlegt, daß Sie dadurch das Leben des Menschen, den Atto Erra re zu sich rufen ließ, aufs Spiel setzen?« El-Kaua weitete seine Augen und sah Sun Koh fest an. »Wenn es einen Ras Errare irgendwo geben wür de«, sagte er bedeutungsvoll, »würde dieser seinen 51
Beauftragten befohlen haben, unter allen Umständen die Geheimnisse seines Landes zu wahren. Er würde ihnen befohlen haben, nur dann einem bestimmten Mann zu vertrauen, wenn dieser imstande sein wür de, alle Erkennungszeichen vorzuweisen. Er würde ihnen ferner befohlen haben, lieber den unbekannten Ankömmling in Gefahr zu lassen, als dem Verrat die Tore zu öffnen. Und wenn ein solcher Beauftragter eines Ras Errare vor Ihnen stehen würde, so könnte dieser Mann nichts anderes tun als das, was ich tue. Er könnte Sie höchstens noch wissen lassen, daß sein Herr für alle Hilfe dankbar sein würde, und daß er selbst nichts Besseres wünschen könne, als zu hof fen, daß Ihnen die Befreiung jenes Sohnes des Ras gelingen möge.« »Ich verstehe.« Damit wandte er sich um und ging. Dieser Beauftragte Atto Errares war ein treuer Diener seines Herrn. Er mißtraute, um nicht zum Verräter zu werden. Eine halbe Stunde später saß Sun Koh wieder im Flugzeug und flog nach Hanfila zurück. * Die Gassen von Hanfila wirkten jetzt, als Sun Koh zum zweitenmal durch sie ging, ganz anders als am frühen Morgen. Trotz der starken Hitze schob sich 52
eine bunte Menschenmenge durch sie hindurch und verursachte einen Lärm, als ob sich die Stadt in Auf ruhr befände. Das Erscheinen eines Fremden bedeutete hier in viel stärkerem Maße als in Massaua eine Sensation. Sun Koh wurde angestarrt. Nun stand er vor dem eintönig rufenden Fisch händler, beugte sich über dessen Ware und fragte dabei: »Nun, Freund, hast du erfahren, was ich wis sen wollte?« »Kauft Fische!« schrie der Fischhändler. »Sie schmeicheln dem Gaumen wie duftende Rosenblät ter. Kauft Fische, und ihr werdet Wohlgefallen erre gen.« Dann beugte er sich über seine verdächtig rie chenden »Rosenblätter« und murmelte: »O Fremder, ich besitze nicht tausend Ohren, um an allen Stellen der Stadt hören zu können. Die Männer liegen noch immer dort drüben. Noch niemand hat sie entdeckt.« »Wer hat sie ermordet?« »Herrliche Fische, Herr«, versicherte der Alte sehr laut. »Wunderbare Fische! Sie wurden draußen zwi schen den Inseln gefangen, wo der Brunnen der ewi gen Jugend aus dem Meer quillt. Wer von ihnen ißt, wird niemals alt.« Leise setzte er hinzu: »Schande über mich, Fremder, aber ich kann es Euch nicht sa gen. Ihr müßt Geduld mit mir haben.« »Ich habe wenig Zeit.« 53
»Geduld ist die Tugend des Propheten. Ich hörte nur, daß ein gewisser Kirin gestern in der Dunkelheit jenes Haus betreten hat.« »Wer ist das?« »Kauft diese wunderbaren Fische! – Ich weiß es nicht, Fremder. Er stammt nicht aus dieser Stadt. Wendet Euch an den gelben Ungläubigen, der im ersten Haus der nächsten Gasse wohnt. Er hat mit jenem Kirin zu tun.« »Du sprichst von einem Japaner?« »Ich kenne den Namen seines Volkes nicht. Seine Haut ist gelb wie Safran, und seine Augen sind zu sammengedrückt wie die einer Katze. Er weiß über diesen Kirin Bescheid. Man hat die beiden wieder holt zusammen gesehen.« »Danke. Und was kannst du mir sonst noch sa gen?« »Nichts, Herr.« Sun Koh legte ihm einige Silbermünzen auf das hölzerne Brett. »Allah führe Eure Schritte auf den Weg des Er folgs«, murmelte der Fischhändler und gellte dann: »Kauft Fische! Sie machen stark und mutig, und ihr werdet wie die Löwen sein, wenn …« Sun Koh ging weiter. Das bezeichnete Haus war leicht zu finden, zumal im Augenblick, als Sun Koh in die Gasse einbog, ein Japaner aus der Tür trat. Sun Koh hatte sich bereits 54
entschlossen, den kürzesten Weg zu gehen, um keine Zeit zu verlieren. Er vertrat daher dem Mann, offen sichtlich ein Diener auf dem Weg zum Einkaufen, den Weg. »Man schickt mich zu deinem Herrn«, sagte er auf Japanisch. »Geh zurück und teile ihm mit, daß ich ihn sprechen möchte.« Das Gesicht des Dieners verriet Bestürzung. Der Mann brauchte einige Zeit, bevor er sich verbeugte. »Ich werde eilen.« Er ging hastig in das Haus zurück. Sun Koh folgte ihm durch die offene Tür. Der Raum, den er betrat, trug bereits japanischen Charakter. Der Diener erschien wieder und bat Sun Koh, ihm zu folgen. Der Herr des Hauses stand mitten in einem fast leeren, im japanischen Geschmack eingerichteten Raum. Er verbeugte sich, nachdem Sun Koh seinen Namen genannt hatte, und sagte betont höflich: »Ich heiße Hiruto und bin glücklich, in dieser Einsamkeit den Besuch eines gebildeten Mannes zu empfangen. Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen?« »Bitte«, sagte Sun Koh. »Sie erlauben jedoch, daß ich meine Angelegenheit sofort zur Sprache bringe?« Der Japaner verbeugte sich abermals und wies auf einen Hocker. »Ihr Vertrauen ehrt mich. Betrachten Sie mich schon jetzt als Ihren Diener.« 55
Sun Koh nahm auf dem niedrigen Hocker Platz. »Ich suche einen Mann namens Kirin«, sagte er ohne Umschweife. »Man sagte mir, daß er ein Ge schäftsfreund von Ihnen ist.« Hiruto zog bedachtsam seine Brauen zusammen. »Kirin?« überlegte er. »Ich bitte um Verzeihung, aber ich habe eine ganze Reihe von Geschäftsfreun den. Ich kann mir die Namen ihrer Angestellten nicht alle merken.« »Sie werden sich an diesen Kirin bestimmt erin nern«, versicherte Sun Koh verbindlich. »Man hat Sie in der letzten Zeit häufig mit ihm zusammen ge sehen.« Hiruto schloß die Augen, als wollte er einschlafen, während er sich sanft beklagte: »Die Aufmerksam keit der Leute ist häufig stärker als meine eigene. Warum gaben Ihnen nicht schon jene Auskunft, die mich mit Kirin zusammen sahen?« »Sie wußten nicht mehr von ihm als seinen Na men.« »Aha!« »Und sie meinten, daß Sie mir schon alles erzäh len würden. Er kommt doch aus dem Innern des Landes?« »Vielleicht?« gab Hiruto vorsichtig zu. »Wie ich hörte, ist er der Beauftragte eines Ras aus dem Habesch, eines gewissen Ghogoli.« Der Japaner wurde noch behutsamer. 56
»Manche Menschen glauben viel zu wissen, aber niemand kann sagen, ob sie das Richtige wissen. Wer bin ich, daß ein Beauftragter des Ras Ghogoli in meinem Haus verkehren könnte?« »Wo finde ich diesen Kirin?« »Ich weiß es nicht.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie mir nicht sagen, wo ich Kirin finden kann?« »Ich kenne ihn nicht.« »Sie wollen ihn nicht kennen?« »Vielleicht?« »Warum nicht?« Hiruto lächelte freundlich. »Es gibt böse Menschen, die im Auftrag der Re gierung handeln und mir Übles nachsagen. Man hat mich sogar verdächtigt, daß ich ein Agent bin und heimlich Waffentransporte in das Innere des Landes vermittle. Man hat mir auch vorgeworfen, daß ich den Haschisch-Schmuggel nach Arabien hinüber un terstütze. Man würde mich gern beschuldigen, die sem Kirin und seinen Leuten Waffen ausgehändigt zu haben, damit er sie ins Habesch bringen kann. Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich habe keine guten Erfahrungen mit unbekannten Fremden gemacht. Vielleicht verstehen Sie, daß ich keinen Kirin kenne – und erst recht keinen Mann, der aus dem Habesch kommt und Ras Ghogoli dient.« 57
Sun Koh verstand. Der Japaner konnte ihm Aus kunft geben, wollte es aber nicht. »Ich begreife«, sagte er gelassen. »Manchmal ist es jedoch besser, einiges zu wissen und zu sagen, als beschuldigt zu werden, viel zu wissen und nichts sa gen zu wollen.« Hiruto lächelte spöttischer. Sun Koh beugte sich langsam vor. »Dann will ich Ihnen etwas sagen. Im ersten Haus der Nachbargasse liegen fünf Tote, von denen außer mir noch niemand weiß.« »Rakotti?« entfuhr es dem Japaner. »So hieß der Mieter des Hauses. Und Kirin wurde gesehen, als er gestern nach Einbruch der Dunkelheit in das Haus hineinging. Er hat mit seinen Leuten die Morde begangen. Nehmen wir einmal an, daß es nicht gelingt, Kirin in Hanfila aufzufinden. Die Be hörden werden erfahren, daß er häufig mit Ihnen zu sammen war. Wie leicht könnten die Behörden ver muten, daß er in Ihrem Auftrag handelte? Wie leicht könnte man Sie beschuldigen, der Urheber dieser Morde zu sein? Und wie leicht könnte man Sie hin richten, weil Sie sich nicht an diesen Kirin erinnern können?« Hiruto blickte ihn aus schläfrigen Augen an und schwieg. Er schwieg eine ganze Weile. Dann klatsch te er in die Hände und sagte höflich: »Erlauben Sie, daß ich den Tee kommen lasse.« 58
Der Diener mußte schon hinter der Tür gewartet haben. Er erschien fast unverzüglich und setzte den Tee vor. Nachdem er wieder gegangen war, nahm Hiruto von sich aus das Gespräch auf. »Sie erwiesen mir die Ehre, mit mir zu scherzen. Ich habe mit dem Tod dieser Leute nichts zu tun.« »Vielleicht«, sagte Sun Koh gedehnt. »Ich fürchte nur, Sie werden es den Behörden beweisen müssen.« »Ah, die Behörden! Sie sagten mir, daß nur Sie al lein von den Toten wüßten?« »Bis jetzt. Aber wenn Sie mir keine Auskunft über Kirin geben wollen …« »Ich kenne ihn nicht.« »Gut, dann mögen das die Behörden untersuchen. Das könnte Sie hart treffen.« »Zugegeben«, murmelte Hiruto. »Ich könnte in ei ne unangenehme Lage kommen. Doch – wir wollen uns den Tee nicht vergällen lassen.« Er führte seine dünne Tasse zum Mund und trank. Sun Koh folgte mechanisch seinem Beispiel. Im letzten Augenblick warnte ihn ein Glitzern in den Augen des Japaners. Er verzichtete darauf, den Tee zu trinken. »Er scheint bereits vergällt zu sein«, sagte er ernst. »Sie haben schlechte Diener. Der Tee ist bitter. Bitte, kosten Sie einmal.« Hiruto wehrte mit einer Geste ab und lächelte ent schuldigend. 59
»Oh, ich bin untröstlich. Ich werde meinen Diener bestrafen.« Sun Koh lächelte auch. »Oh, es wäre nicht recht, den Diener zu bestrafen, wenn der Fehler an meiner Zunge liegt. Vielleicht täuscht mich aus das ungewohnte Klima. Bitte, trin ken Sie diesen Tee.« Hiruto wehrte jetzt mit beiden Händen ab. »Aber bitte, wie könnte ich es wagen, eine Tasse mit meinen Lippen zu berühren, die einem Gast zu gedacht wurde?« »Wie feinfühlig! Soll ich den Tee in Ihre Tasse umschütten?« Der Japaner wurde jetzt unter den drohenden Au gen Sun Kohs doch unruhig. »Ich könnte es nie verantworten, Sie so zu bemü hen. Übrigens zweifle ich nicht an Ihrem Urteil. Der Tee ist mißraten.« Sun Koh zog eine Pistole und richtete sie auf Hiru to. Er verzichtete jetzt auf die Höflichkeit. »Sie werden diesen Tee trinken, bevor ich bis drei gezählt habe. Wenn nicht, erschieße ich Sie.« Das Gesicht Hirutos wurde merklich grauer. Er begriff, wie ernst die Situation wurde. Sein Besucher sah nicht mehr aus, als wollte er nur scherzen. »Aber ich bitte Sie …« »Eins.« »Ein grausamer Scherz«, stammelte der Japaner in 60
einem vergeblichen Versuch, sein Gesicht zu wah ren. »Sie werden doch nicht etwa im Ernst…« »Zwei.« »Sie haben kein Recht, in mein Haus …« Sun Koh setzte an, um die Drei auszusprechen. Hi ruto beeilte sich. »Erbarmen – der Tee ist vergiftet. Mein Diener! Ich werde …« »Berufen Sie sich nicht erst auf Ihren Diener«, un terbrach Sun Koh kalt. »Sie wollten mich töten. Ich werde jetzt die Behörden verständigen und dafür sorgen, daß Sie verhaftet werden. Sie wissen, was Ihnen bevorsteht.« Er erhob sich. Der Japaner beeilte sich abermals. »Bitte, bleiben Sie noch. Ich will Ihnen sagen, was ich von Kirin weiß.« »Ja?« Hiruto schluckte, rückte dann aber mit seinen Ge heimnissen heraus. »Kirin ist der Transportführer von Waffentrans porten, die zu Ras Ghogoli in den Habesch gehen. Ich habe ihm eine Ladung Maschinengewehre ver kauft. Er hat sich aus mir unbekannten Gründen län ger in der Stadt aufgehalten, als nötig gewesen wäre. Erst heute früh hat er sie verlassen. Er ließ Rakotti beobachten, und es ist möglich, daß er ihn und die anderen ermordet hat.« Sun Koh steckte seine Pistole weg. 61
»Welchen Weg hat er genommen?« »Das weiß ich nicht. Die Wege in den Habesch werden streng geheim gehalten.« »Woran erkenne ich seine Karawane? Hat sie ir gendwelche besonderen Kennzeichen?« »Er hat zwei weiße Kamele bei sich.« »Danke«, sagte Sun Koh und ging hinaus. Zwei Kamele jener Karawane, die Hal am Morgen beo bachtet hatte, waren auffallend hell gewesen. 3. Die Spur führte in den Habesch. Von Hanfila am Roten Meer führt ein unmarkier ter Karawanenpfad nach Westen auf die hohen Sperrmauern des abessinischen Hochlandes zu. Hinter Hanfila liegt eine Sand- und Steinwüste, ein. Streifen von durchschnittlich fünfzig Kilometer Breite, der sich von Masaua bis Assab hinunterzieht. Gelblich mißfarbener Sand, roter, zerrissener und in seltsamen Formen ausgeblasener Stein sowie trocke nes Dornengestrüpp vereinigen sich unter einer er barmungslos glühenden Sonne zu einem Bild grausi ger Trostlosigkeit. Nach Westen zu steigt die Wüste zu einer fast par allel zur Küste verlaufenden Schwelle an und senkt sich dann wieder, bevor sie zu den dreitausend Meter hohen Randgebirgen des Habesch hinaufgreift. 62
Sie senkt sich in einem weiten Gebiet bis unter den Meeresspiegel und bildet eine flache Mulde, in deren südwestlicher Ecke ein See blinkt. In der Nähe des Sees liegt der Ort Watulo. Er ist kleiner als eine Stadt, aber immerhin größer als eine Galla-Siedlung. Es gibt einige feste weiße Hauswürfel hier, auch einige flachgedeckte Vierecke um geräumige Innenhöfe herum. Diese bilden den Kern des Orts. Um ihn herum liegen bunt und ord nungslos die Hütten der ackerbautreibenden Galla. Zwischen diesen Hütten, die in der samtenen Dun kelheit der späten Abendstunde miteinander zu dunk len Klumpen verschmolzen, bewegten sich Sun Koh und Nimba. Sie steuerten auf den helleren Fleck der festen Gebäude zu. Ihre Gesichter verschwammen in der Nacht, aber ihre Anzüge fingen das schwache Licht, so daß sie es lieber vermieden, bemerkt zu werden. Sun Koh wollte gerade aus einer Nische heraustre ten, als er im Haus eine Stimme hörte. Ein Mann sprach. Seine Worte drangen durch ein halbgeöffne tes, erleuchtetes Fenster. Der Mann sprach Englisch in der Klangfärbung des Amerikaners. Sun Koh lauschte auf das, was der Mann sagte. Vieles verlor sich in einem unverständlichen Mur meln, aber es blieb genug übrig, was deutlich zu ver stehen war. Die Stimme klang müde und verbittert, 63
wurde plötzlich scharf und grell und versank dann wieder in Trostlosigkeit. Fast nach jedem Satz kam ein trockenes, scharfes Hüsteln. »Schon wieder eine Nacht, sagst du?« klagte der Unbekannte. »Schon wieder Nacht, ohne daß ich et was vom Tag sah. Es ist zum Verzweifeln. Man lebt und merkt nicht einmal, daß man lebt. Hätte ich nur rechtzeitig Schluß gemacht.« Eine weibliche Stimme antwortete. Die Worte wa ren nicht zu verstehen, aber sicher sollten sie trösten. Die Klage des Mannes wandelte sich zur Anklage. Er wurde lauter und leidenschaftlicher. »Ja, sicher hast du recht. Ich hätte an dieser wahnwitzigen Expedition nicht teilnehmen sollen. Es war verrückt, alle Warnungen in den Wind zu schla gen. Oh, ich Narr! Meine Augen sahen die geheim nisvolle Stadt, die versunken und verschollen ist, meine Augen sahen das Gold im Flusse blitzen und glänzen. Wozu? Jetzt – jetzt sehen sie gar nichts mehr. Gold wollte ich haben! Und jetzt – jetzt habe ich nichts!« Wieder tröstete die weiche Stimme. Matt und müde fuhr der Mann fort: »Ich habe dich – natürlich. Das ist alles, was mir von meinem Leben blieb. Vielleicht ist es viel, vielleicht nicht. Ich weiß es nicht. Ich …« Seine Worte verloren sich in Murmeln.
»Ein Amerikaner, Sir?« hauchte Nimba.
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»Es klingt so«, gab Sun Koh zurück. »Der arme Kerl scheint blind zu sein. Ich habe große Lust, mich um ihn zu kümmern. Vielleicht…« Er vollendete seinen Satz nicht, sondern ließ den Klöppel gegen das Holz der Tür schlagen. Dumpf ging der Schall nach innen. Im Haus verstummte alles. Sun Koh machte sich ein zweitesmal bemerkbar. Jetzt näherte sich ein Licht der Tür. Langsam wur de sie zurückgezogen. Vor Sun Koh stand ein Araber, ein Greis mit lan gem, weißen Bart. Er hob die Hand mit dem Licht und leuchtete damit Sun Koh an. Die Hand zuckte einen Augenblick, als der Araber erkannte, daß er einen Fremden vor sich hatte, trotzdem sagte der Al te ruhig und würdevoll: »Fremde vor meiner Tür? Was wünscht Ihr zu so später Stunde?« Sun Koh verneigte sich leicht. »Verzeiht. Ich hörte die Stimme eines Mannes, der nicht in diesem Land geboren ist. Ein Amerikaner wohnt bei Euch. Ich möchte ihn sprechen.« Der Greis schüttelte langsam den Kopf. »Oh, Fremder, der Ihr die Sprache meines Volkes sprecht – als würdet Ihr zu ihm gehören, es ist besser, wenn Ihr Eure Straße weiterzieht. Es ist nicht gut, das Leid in einem Menschen wieder aufzurühren. Laßt den Armen, der bei mir wohnt, in Frieden. Er hat schwer genug zu tragen, und Eure Ankunft könn 65
te ihn der Kraft berauben, es auch weiterhin zu tun.« Bevor Sun Koh antworten konnte, kam aus dem dunklen Innern des Hauses der ungeduldige Ruf des Amerikaners: »Warum läßt du die Fremden, die zu mir wollen, nicht herein, Omar ben Ofra?« Der Araber machte eine einladende Handbewe gung. »Er hat Euch bereits bemerkt. Bitte, tretet ein.« Auf einem niedrigen, mit Kissen überladenen Ru helager saß ein Mann in arabischer Kleidung. Sein Gesicht, das horchend den Eintretenden zugerichtet war, verriet europäische Abkunft. Das Haar war röt lich, die Haut sogar auffallend hell. An Stelle der Augen zeigte das Gesicht dieses Mannes jedoch nur ein paar dunkle, vernarbte Löcher. Er war überhaupt schrecklich zugerichtet. Beide Ohren fehlten. Man hatte sie an der Wurzel abgeschnitten, nur ein paar häßliche Narben waren an ihrer Stelle. Auch sein Ge sicht trug eine ganze Menge Narben. Quer über den Kopf liefen ein paar dicke weiße Schnittlinien, die sich an verschiedenen Stellen überkreuzten. Lippe, Kinn und Nase waren mehrfach gespalten. Irgend jemand, der nicht viel davon verstand, mußte hier entsetzliche Wunden notdürftig zusammengenäht haben, die dann entsprechend häßlich verheilt waren. Ein Wunder, daß der Mann solche Verletzungen überhaupt überstanden hatte. Omar ben Ofra wies auf ein paar Hocker. 66
Der zerfetzte Mund des Amerikaners öffnete sich zu einem ungeduldigen: »Nun, Omar ben Ofra, wer ist es, der zu mir will?« Sun Koh übernahm selbst die Antwort. »Ich heiße Sun Koh«, sagte er auf Englisch. »Ich hörte Sie sprechen, als ich mit meinem Diener hier vorüberging, und hielt es für meine Pflicht, nachzu fragen.« Der andere richtete sich steil auf. »Ah, Sie sind Engländer?« »Ja«, erwiderte Sun Koh der Kürze halber. Der Blinde atmete tief auf. »Also doch. Wie habe ich auf diesen Tag gewartet, an dem einer meiner Rasse wieder einmal vor mir sitzt. Ich bin Amerikaner, heiße Percy Patson. Ich weiß, daß Sie mich in diesem Augenblick entsetzt anstarren, aber ich versichere Ihnen, daß ich auch einmal wie ein Mensch ausgesehen habe!« Ein bitteres Auflachen beendete diesen Satz. Dann hustete Patson eine ganze Weile. Anschließend stieß er heraus: »Wie kommen Sie in dieses verlassene Nest? Sind die Engländer dabei, diese Gegend zu erobern? Wer sind Sie?« Sun Koh erwiderte behutsam: »Ich bin allein, be sitze keinerlei amtliche Eigenschaft. Einer meiner Freunde ist hierher verschleppt worden, und ich will versuchen, ihn zu befreien.« Patson beugte sich weit vor. 67
»Sie sind allein? In Watulo? Herrgott, wiederholt sich denn aller Wahnsinn dieser Welt? Doch erzählen Sie mehr.« »Ich kann Ihnen nicht viel berichten«, entschuldig te sich Sun Koh, »da ich selbst nicht viel weiß. Der Mann, den ich suche, wurde in Hanfila überfallen und verschleppt. Als Täter kommt ein gewisser Kirin mit seinen Leuten in Frage. Ich kenne weder diese noch Kirin, aber ich sah eine Karawane westwärts ziehen und vermutete, daß die Männer dieser Kara wane die gleichen seien, die ich suchte. Die Karawa ne ist heute in Watulo angekommen. Ich weiß nicht, ob sie meinen Freund bei sich hat, aber ich vermute es.« Percy Patson wandte den Kopf in die Richtung, in der bewegungslos Omar ben Ofra stand. »Omar ben Ofra?« fragte er. Dieser antwortete: »Sechzehn Männer kamen vor einigen Stunden an. Ihr Führer heißt Kirin. Es sind Leute Ghogolis.« Wie ein Schrei kam es über die Lippen des Ame rikaners. »Ah – und das sagst du mir erst jetzt?« Beruhigend entgegnete der Greis: »Es ist nicht gut, wenn du dich erregst.« Grell lachte Patson auf. »Glaubst du, daß mir noch etwas schaden kann? Wer ist jener Kirin, der den Trupp anführt?« 68
»Dein Kirin«, kam es tonlos von den Lippen des Alten. Der Amerikaner geriet in eine gräßliche Ekstase. »Mein Kirin! Also doch. Ah, kaum fünfzig Meter entfernt von mir liegt die Bestie und schläft. Wenn ich den Kerl doch mit meinen Händen greifen könn te, um ihn …« Der Husten zerriß seine Rede. Würgend und keu chend kämpfte der Amerikaner um Luft. Als der An fall vorüber war, schien auch seine Erregung ver schwunden zu sein. Matt, fast teilnahmslos murmelte er: »Kirin also, Ghogolis Mann. Wer weiß, wie oft er schon hier in meiner unmittelbaren Nähe gewesen ist. Kirin.« Sun Koh wandte sich an den Araber. »Hat die Karawane einen Gefangenen bei sich?« Omar ben Ofra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Leute Ghogolis wahren ih re Geheimnisse. Jedenfalls sah ich keinen Fremden.« Sun Koh nickte. »Ich weiß, daß er nicht unter ihnen ritt. Aber ist es nicht möglich, daß sie den Gefangenen in einer Kiste fortschleppten?« »Bei Kirin ist nichts unmöglich«, mischte sich Patson ein. »Sieh zu, Omar ben Ofra, ob du nicht er fahren kannst, was dieser Herr wissen will.« »Ich werde es versuchen«, erklärte der Greis und ging hinaus. 69
Patson seufzte. »Ein guter Kerl, ich kann ihn beschimpfen, und trotzdem tut er mir jeden Gefallen. Fatime ist genau so. Fatime ist seine Tochter. Die beiden haben es darauf abgesehen, mich am Leben zu erhalten, ob gleich ich wahrhaftig nichts dazu tue, um es zu ver dienen. Es ist…« Er mußte wieder husten. Als er fer tig war, knurrte er in ganz anderer Tonart: »Ver dammter Husten, eines Tages werde ich mir noch die Lunge herausspucken. Drei Dolchstiche durch die Brust, das überlebt so leicht keiner. Ich bin ja auch nicht wieder richtig ganz geworden. Doch sagen Sie, Sie wollen also diesem Kirin einen Gefangenen ab nehmen? Wissen Sie ungefähr, was das bedeutet? Es wird Ihnen leichter fallen, eine Seele aus der Hölle zu holen, als den Leuten Ghogolis etwas abzuneh men, was sie einmal besitzen. Wenn Sie eine Pistole zur Hand haben, dann schießen Sie sich eine Kugel in den Kopf, das ist zehnmal gescheiter als das, was Sie vorhaben. Sie sind genau so ein Narr, wie ich es vor ein paar Jahren war.« Als sein gewohnter Hustenanfall vorüber war, sag te Sun Koh: »Sie werden verstehen, wenn ich in Ih ren Reden verschiedene Unklarheiten finde. Ich ken ne die Verhältnisse nicht und verstehe nicht, worauf Sie anspielen.« Patson zog eine Grimasse. »Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen, dann 70
werden Sie begreifen, was Ihnen jetzt unerklärlich ist. Vor ein paar Jahren war ich ein junger Kerl, ganz Muskel und Sehnen, gesund, verwegen und abenteu erlustig. Ich fürchte mich nicht vor Tod und Teufel. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte ich mich in aller Herren Länder herumgetrieben und mehr erlebt als andere in der doppelten Zeit. Damals nun, vor eini gen Jahren, schloß ich mich einer Expedition an, die in den Habesch vordringen wollte. Man hatte Ge rüchte aufgefangen, wonach es im Hochland von Abessinien Gold in Mengen geben sollte, außerdem andere Dinge, die eine solche Expedition lohnend machen konnten.« Er legte eine Hustenpause ein und fuhr dann fort: »Wir waren gut ausgerüstet. Unsere Expedition be stand aus einem Dutzend Weißen und über hundert Trägern. Ganz im geheimen marschierten wir los, so vorsichtig wie nur möglich, weil wir uns bewußt wa ren, daß wir auf allerlei Widerstände stoßen würden. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, jeden falls liefen unsere Träger schon davon, als wir das eigentliche Hochland erreichten. Wir Weißen gaben jedoch nicht auf, wir wollten es erzwingen. Es waren furchtbare Wochen, aber auch wundervolle Wochen. Ich fühlte mich so richtig in meinem Element. Wir hatten Glück, kamen trotz aller Hindernisse und trotz aller Angriffe vorwärts. Wir fanden Dinge, von de nen sich die Menschheit nichts träumen läßt, zum 71
Beispiel Smaragdbergwerke, Mumiengräber, verlas sene Riesenstädte und …« Wieder mußte er ausgiebig husten, bevor er wei terredete: »Kurz und gut, eines Tages erwischten sie uns doch. Der größte Teil unseres Trupps wurde im Schlaf niedergemetzelt, die anderen, darunter ich, schleppte man als Gefangene fort. Wir waren Gefan gene des Ras Ghogoli, des größten und furchtbarsten Tyrannen, der in Abessinien herrscht. Man tötete uns nicht, aber man steckte uns zu den Sklaven und ließ uns am Wekra-Wekra Gold auswaschen. Meine drei Kameraden starben dabei. Ich selbst hielt durch. Ei nes Tages wagte ich die Flucht. Es erscheint mir heu te noch unglaublich, aber jedenfalls gelang es mir tatsächlich, bis nach Makallo zu kommen. Dort er wischten sie mich endgültig. Jener Kirin, hinter dem Sie her sind, fing mich und machte aus mir Hack fleisch. Er stach mir die Augen aus, zerschnitt mir das Gesicht, bohrte mir ein paar Löcher durch den Körper und ließ mich liegen, weil er mich für tot hielt.« Patson würgte abermals nach Luft, dann setzte er seinen Bericht fort: »Omar ben Ofra hielt sich da mals gerade in Makallo auf. Ich kannte ihn von frü her, von der Küste her. Ich kannte auch Fatime, seine Tochter. Vielleicht konnten die beiden mich gut lei den, jedenfalls fühlte sich Omar ben Ofra verpflich tet, sich meiner anzunehmen, als er mich mit einem 72
winzigen Rest von Leben in Makallo fand. Er brach te es fertig, mich wieder hochzupäppeln. Ich blieb am Leben, und als ich einigermaßen transportfähig war, brachte er mich hierher in sein Haus. Seitdem lebe ich hier.« »Sie haben Furchtbares erlebt«, sagte Sun Koh. »Hoffentlich ziehen Sie eine Lehre daraus«, erwi derte Patson. »Abessinien ist kein Land, das man un gestraft aufsucht.« »Warum kehren Sie nicht in Ihre Heimat zurück?« lenkte Sun Koh ab. Patson lachte bitter auf. »Was soll ich als Blinder in Amerika? Ich habe kein Geld, ich kann nichts sehen, müßte glatt ver hungern und außerdem zum Schrecken der Men schen herumlaufen. Auch ist meine Lunge nichts mehr wert.« Sie schwiegen eine Weile. Fast geräuschlos trat Omar ben Ofra ein. »Die Leute Ghogolis führen einen Gefangenen mit sich«, berichtete er, »einen Weißen. Er wird in einer Kiste befördert, doch soll er morgen ein Maultier besteigen.« »Also doch«, sagte Sun Koh mit Genugtuung. »Ich hoffe, daß er sich morgen früh bereits in meiner Gesellschaft befindet. Könnt Ihr mir eine Möglich keit zeigen, wie ich den Gefangenen am besten be freien kann?« 73
Patson lachte, der Araber schüttelte den Kopf. »Ihr könnt den Gefangenen nicht befreien. Sech zehn Männer bewachen ihn!« »Man kann einen Gefangenen auch aus der Mitte von sechzehn Männern herausholen.« Der Greis nickte. »Das kann man, aber wenn diese Männer Leute Ghogolis sind, dann wird man immer nur einen Toten befreien.« Sun Koh zog die Brauen zusammen. »Ihr meint, daß man den Gefangenen töten wür de?« »Ja.« »Sie kennen Ghogoli und seine Leute nicht«, krächzte Patson. »Diese Kerle werden den Gefange nen tatsächlich töten, sobald sie nur die geringste Ge fahr bemerken, daß er ihnen entrissen werden könnte. Mit Gewalt kommen Sie gegen diese Leute nicht an. Und mit List? Pah. mit List erst recht nicht.« »Aber ich kann meinen Freund unmöglich in das Innere des Landes verschleppen lassen!« erwiderte Sun Koh ungeduldig. Omar ben Ofra zuckte mit den Schultern. »Kehrt wieder um, das ist das einzige, was ich Euch raten kann.« Plötzlich wurde das Gespräch unerwartet zerris sen. Vom dunklen Spalt des halbgeöffneten Fenster her 74
gellte eine höhnische Stimme auf Arabisch: »Dein Rat ist ausgezeichnet, Omar ben Ofra.« Dann knallte ein Schuß. Sun Koh schoß fast gleichzeitig. Ein Schrei der Wut zeigte an, daß er den aufzuk kenden Arm noch erwischt hatte. Sun Koh sprang zum Fenster, sah gerade noch zwei Gestalten um die Ecke huschen. »Wir waren Narren«, sagte er finster, als er zu rücktrat, »daß wir nicht wenigstens das Fenster schlossen. Man hat uns belauscht.« »Es war Kirin«, ergänzte Omar ben Ofra bestürzt. »Nun ist Euch erst recht jede Hoffnung genommen, denn nun wird er ein paar Mann mit ständig schußbe reiter Pistole hinter dem Gefangenen reiten lassen.« »Kirin war es«, stöhnte Patson. »Oh, wenn ich …« Sun Koh und Omar ben Ofra sprangen gleichzeitig auf ihn zu. »Was ist dir?« fragte der Araber. »Sind Sie getroffen?« fragte Sun Koh. Der Amerikaner krampfte sich zusammen. Seine linke Hand zerrte an seiner Kleidung, als wollte er sie beiseite reißen. »Er hat mich noch einmal erwischt«, würgte er. »Wenn Sie nicht umkehren, dann wenden Sie sich – an…« Das Leben schien auszusetzen. Mit einer gewalt samen Anstrengung zwang sich Patson die letzten 75
Worte über die Lippen. »Danakil – Kobbo.« Er sank zur Seite, zuckte noch ein paarmal und blieb dann still. Der Schuß hatte ihn getötet. Omar ben Ofra stand mit gesenktem Haupt neben der Leiche. Seine Lippen formten halblaute Worte – eine Sure aus dem Koran. Dann wandte er sich ab und sagte in erschütterndem Tonfall: »Meine Tochter Fatime – sie wird hinter der Tür stehen – verzeiht.« Mit müden Schritten ging er hinaus. Eine Weile später drang durch die verschlossene Tür das wilde Schluchzen einer Frau. Als der Araber zurückkam, war sein Gesicht düster und traurig, aber ruhig wie vorher. Er strich sich über seinen weißen Bart. Dann sagte er nachdenklich: »Es ist unmöglich, Fremder, den Mann zu befreien. Ich kann Euch auch jetzt nur raten, umzukehren.« »Diesen Rat werde ich nicht befolgen«, erwiderte Sun Koh entschieden. »Ihr wollt Kirin folgen?« »Ja.« Der Araber lächelte bitter und wies auf den Toten. »Genügt es nicht, daß Ihr diesen Mann kennenge lernt und von seinem Schicksal gehört habt? Wollt Ihr das gleiche erleiden wie er?« »Wir werden den Gefahren zu begegnen wissen.« Der Greis nickte. 76
»Das sagte dieser Mann damals auch, bevor er in den Habesch zog. Aber ich sehe, daß Ihr fest ent schlossen seid. Euer Schicksal wartet auf Euch, und ich kann es nicht ändern.« »Vielleicht könnt Ihr uns helfen?« Bekümmert kam die Antwort: »Wie sollte ich Euch helfen können? Der Tod ist so oder so ganz gewiß. Kirin ist auf der Hut, er wird Euch sehr bald fangen oder töten. Wie wollt Ihr es fertigbringen, auf seinen Spuren zu bleiben?« »Wir haben ein Flugzeug.« »Das nützt Euch nichts, Fremder. Einige Stunden von hier beginnt der Wald. Es ist freilich nicht nötig, daß Ihr die Leute seht, denn sie reiten bestimmt über Makallo. Aber von dort aus werdet Ihr sie verlieren, denn dann können sie tausend Wege einschlagen, die Ihr vom Flugzeug aus nicht beobachten könnt.« »Dann werden wir hinter ihnen herreiten.« »Kirin wird Euch sehr bald bemerken.« »Das fürchte ich nicht!« »Es gibt keine Pferde für Euch in Watulo«, wandte Omar ben Ofra ein. »Pferde?« fragte Sun Koh verwundert. »Kirin und seine Leute benutzen Kamele.« »Die Kamele dienen nur für den Ritt bis Watulo. Die Männer werden auf Pferden und Maultieren von hier aus weiter reiten, denn Kamele könnten das Ge birge nicht erklimmen.« 77
»Und für uns bleiben keine Pferde übrig?« »Nein. Doch – wenn Ihr ein Flugzeug habt, wäre es besser für Euch, Ihr würdet nach Makallo vorausfliegen und Euch dort Pferde mieten. Ihr braucht nur zu warten, bis die Leute Ghogolis durch die Stadt ziehen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Sun Koh, »aber ich fürchte, wir würden in Makallo auffallen, wenn wir uns sehen ließen.« Der Araber überlegte. »Ihr würdet auffallen«, sagte er, »obwohl Makallo eine größere Stadt ist. Aber man würde wenig auf Euch achten, wenn Ihr die Tracht eines Arabers an nehmen würdet. Euer Begleiter könnte zur Not als Amhara gelten, wenn man seine Kleider wechselt.« »Wollt Ihr uns dazu behilflich sein?« »Ja. Ihr geht in Euren Tod, aber ich will Euch hel fen, weil dieser Mann dort es wünschen würde, wenn er noch lebte. Und ich werde Euch helfen, weil Ihr ausseht wie ein Mann, der imstande ist, Kirin zu tö ten. Erlaubt, daß ich Euch für eine Weile alleinlas se.« * Ibrahim el Dschuf repräsentierte fast den gleichen Typ wie Omar ben Ofra, nur war er etwas kleiner und wirkte nicht ganz so würdig. Dafür prüften seine Augen um so schärfer, als der fremde Araber mit 78
seinem schwarzen Diener in den Basar eintrat und ihn feierlich grüßte. Araber waren selten in Makallo. Überhaupt verlangte der Aufenthalt in dieser Stadt eine besondere Vorsicht. Überaus höflich erwiderte er den entbotenen Gruß. Sun Koh überreichte ihm ein mehrfach gefaltetes Schreiben. Ibrahim al Dschuf nahm es mit Verwunderung in Empfang, öffnete es umständlich und las es. Dann sagte er freundlich: »Omar ben Ofra empfiehlt euch als seine Freunde. Mein Haus steht zu eurer Verfü gung. Bitte, folgt mir.« Er gab seinem Gehilfen eine kurze Anweisung und ging dann den beiden voran, führte sie durch das halbdunkle Gewölbe in einen abgesonderten Raum, der wohnlich ausgestattet war. Als sie sich gegenübersaßen, eröffnete Sun Koh die Unterhaltung. »Omar ben Ofra versicherte mir. daß ich mich auf Euch verlassen könnte wie auf ihn selbst. Ich will Euch daher in meine Absichten einweihen.« »Sie werden bei mir gut bewahrt sein«, entgegnete Ibrahim würdevoll. »Es ist meine Absicht«, fuhr Sun Koh fort, »mir dieses Gebirgsland für ein Handelsunternehmen zu erschließen. Ich bin jung und besitze genügend Geld, so daß ich mich wohl an eine solche Sache wagen darf. Omar ben Ofra verriet mir, daß es im ganzen 79
Habesch keinen arabischen Händler gebe. Er warnte mich. Da ich mich aber fest entschlossen zeigte, verwies er mich an Euch. Es ist unumgänglich, daß ich mich in die hiesigen Verhältnisse einarbeite, be vor ich in das Innere des Landes vordringe. Deshalb bitte ich Euch, mich zunächst als Gehilfen aufzu nehmen und mir so Gelegenheit zu geben, Menschen und Gebräuche kennenzulernen, möglicherweise auch Beziehungen anzuknüpfen.« Ibrahim el Dschuf zögerte lange, bevor er antwor tete: »Eure Worte sind kurz und bestimmt, Osman ibn Selud. Warum laßt Ihr Euer Geld nicht dort ar beiten, wo Ihr aufgewachsen seid?« Sun Koh merkte, daß er mißtrauisch war. Viel leicht lag das in seiner Natur, denn auf die Vermu tung, daß dieser Osman ibn Selud kein Araber war, konnte er kaum gekommen sein. »Ich stamme aus Kairo«, gab er zurück. »Dort ge wöhnte ich mir die kurze Sprache der Ungläubigen an. Jene machen in Kairo die Geschäfte, deshalb zog ich fort. Ist es Euch nicht recht, daß ich zu Euch kam?« Ibrahim wich aus: »Die Freunde Omars sind auch die meinen, aber es ist unmöglich, im Innern dieses Landes Handel zu treiben. Ich versuchte es selbst und war dann froh, daß ich hier bleiben durfte.« »Ihr fürchtet, daß ich Eurem Geschäft schaden könnte?« griff Sun Koh an. 80
Ibrahim schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Euch und Omar ben Ofra enttäuschen zu müssen. Omar gab Euch schlechten Rat, weil er das Land nicht kennt. Es gibt im Innern nur zwei Herren – den Ras Ghogoli und den Ras Atto Errare. Diesen beiden sind alle anderen Häuptlinge Untertan. Beide aber verbieten es, daß Fremde das Land betre ten.« »Man kann sie um Erlaubnis bitten.« »Sie wird verweigert werden. Und selbst wenn ei ner der beiden Euch den Handel erlaubt, so wird der andere dafür sorgen, daß Ihr nicht lange davon Ge brauch macht. Die beiden sind Feinde, und einer hofft früher oder später, das Land des anderen mit zu beherrschen.« »Warum haßt man die Fremden?« Ibrahim blinzelte. »Das Land hat seine Geheimnisse, die verborgen bleiben sollen.« »Ah, erzählt mir mehr davon.« »Ich weiß nichts«, lehnte der andere schroff ab. »Dann gibt es noch keinen Handel im Gebirge?« »Doch«, erwiderte Ibrahim bereitwilliger, »nur kommen eben die Leute nach Makallo und anderen Orten am Rande des Landes. Außerdem gehen oft Karawanen in das Innere, aber sie werden von den Leuten der Ras geführt, so daß kein fremder Händler an ihnen beteiligt ist.« 81
Sun Koh seufzte. »Ihr macht mir wenig Hoffnung. Ich will meine Pläne aber jetzt noch nicht aufgeben. Nach einiger Zeit will ich einen Entschluß fassen. Erlaubt mir bis dahin, als Euer Gehilfe zu gelten.« »Es wird mir eine Freude sein«, sagte Ibrahim, »Euch und meinem Freund Omar diesen geringen Dienst zu erweisen.« So kam der Araber zu einem neuen Gehilfen und Sun Koh zu einer Gelegenheit, sich unauffällig in der Stadt zu bewegen. Zwei Tage hatte er Zeit, bevor Kirin mit seinem Gefangenen eintraf. Nach einem Tag wußte Sun Koh bereits, wo die Männer wohnen würden, und am nächsten Tag fand er genügend Gelegenheit, sich dort umzusehen. Außerdem hörte er eine ganze Menge, was sich später als wissenswert erweisen sollte. Am Abend des dritten Tages nach seiner Ankunft stand Sun Koh in der Nähe des östlichen Tores unter der Menge und beobachtete den Einzug Kirins und seiner Leute. Bernhard Weser war nicht zu sehen. Dafür trug je doch eines der Maultiere eine große Kiste. Kirin war sehr vorsichtig. Er vermied es, seinen Gefangenen zu zeigen. Der Trupp war vorbei. Der Lärm, der etwas nach gelassen hatte, schwoll wieder an. Sun Koh verließ 82
seinen Platz und schlenderte langsam hinter den Rei tern her, um dann zum Basar Ibrahims abzubiegen. Man mußte die Nacht abwarten. Die Stadt schlief schon lange, als sich Sun Koh und Nimba auf den Weg machten. Kirin und seine Leute befanden sich in einer jener weiträumigen, flachen Hausanlagen, wie man sie in Nordafrika findet. Sun Koh und Nimba verschwanden in einem Haus, das von dem Kirins durch eine schmale Gasse getrennt wurde. Wenig später kam Sun Kohs Kopf vorsichtig aus der Dachöffnung dieses Hauses hoch. »Was ist, Sir?« flüsterte Nimba neugierig. »Das Dach ist frei. Keine Wache«, gab Sun Koh Auskunft. »Kirin hat wohl gemerkt, daß niemand seinem Trupp von Watulo aus folgt und wird sich vermutlich in Sicherheit glauben.« »Dann hätte er Weser wohl kaum wieder in die Kiste gesteckt. Komm hoch, wir gehen gleichzeitig hinüber.« Nun lagen sie auf dem Dach, unter dem die Leute Ghogolis schliefen. Fünf Minuten lang blieben sie reglos liegen und lauschten. »Unbemerkt geblieben«, stellte Sun Koh erleich tert fest. »Vorwärts.« Sie näherten sich auf Zehenspitzen der nächsten 83
Öffnung im Dach und horchten dann von neuem. Unten rührte sich nichts, auch das Atmen von Schla fenden war nicht zu hören. Das Licht der Scheinwerferlampe flammte kurz hinein. Leer. Nun ließ sich Sun Koh hinunter. Nimba folgte. Bernhard Weser konnte sich eigentlich nur in ei nem einzigen Raum befinden, denn nur jener eine war wie geschaffen dafür, einen Gefangenen aufzu nehmen. Er besaß kein Fenster und keinen Ausgang außer dem einen, der auf den Hof führte. Dieser Raum lag neben jenem, in dem Sun Koh und Nimba augenblicklich standen. Sun Koh lauschte. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, flüsterte Nim ba. »Fast zu sehr«, gab Sun Koh ebenso leise zurück. »Ich hatte bestimmt mit einer Wache in diesem Raum gerechnet. Ich fürchte, daß ich mich in meinen Voraussetzungen geirrt habe und Weser woanders untergebracht ist. Bleib stehen.« Er ging auf die einfache Brettertür zu, die den Raum gegen den Hof zu abschloß, und zog sie behut sam um einige Millimeter auf. Durch die Ritze sah er das weiße Gewand eines Mannes, der seitlich neben der Tür saß und schlief oder vor sich hinstarrte. Seine Schulter stützte sich 84
gegen den Lauf seines Gewehres. Weiter drüben wurden die dunklen Klumpen lagernder Tiere sicht bar. Die Tür legte sich geräuschlos wieder an. Sun Koh zog das Ohr seines Begleiters an seinen Mund. »Vor dem Nebenraum sitzt eine Wache, also dürf te Weser sich doch dort befinden. Du wirst die Tür mit einem Ruck aufsprengen, und ich werde mich auf den Mann werfen. Bevor er seine Waffe hochge rissen hat, bin ich über ihm. Du kommst nicht nach, sondern deckst diese Tür. Es ist unser Ausgang.« »Der Mann wird schreien«, hauchte Nimba be denklich. »Das kann er tun. Es schadet nicht viel, wenn wir bemerkt werden. Die Hauptsache ist, daß wir Kirin und seine Leute von Weser trennen, so daß sie ihn nicht in der ersten Wut töten können. Mit den sech zehn Mann nehmen wir es schon auf.« »Ich bin bereit, Sir.« »Warte noch.« Sun Koh stand eine Weile reglos im Dunkeln, dann flüsterte er: »Hal ist fünfzig Meter über uns. Er wird zur Stelle sein. Fertig?« »Jawohl.« »Los!« Mit einem matten, reibenden Laut flog die Tür zu rück. 85
Sun Koh sprang mit einem mächtigen Satz durch die Öffnung auf die Wache. Er verfehlte sie jedoch. Der Mann hatte entweder schon Verdacht ge schöpft oder handelte außerordentlich schnell, jeden falls warf er sich auf das erste Geräusch hin blitz schnell nach vorn und entging so dem Schlag Sun Kohs. Dieser hätte darauf schwören mögen, daß sich der Mann noch nicht einmal nach ihm umgesehen hatte. Einen Sekundenbruchteil später feuerte die Wache schon einen Schuß hinaus und eilte dann in langen Sätzen über den Hof. Sun Koh nahm sich keine Zeit, zu stutzen und zu überlegen. Er riß den eisernen Riegel zurück, der die bewachte Tür verschloß. Licht. Auf dem niedrigen Lager an der Seitenwand lag unter einer wollenen Decke eine leicht zusammenge krümmte Gestalt, die sich eben zu regen begann. Gott sei Dank. Sun Koh wollte hineingehen, als er schon ge zwungen wurde, sich den Ereignissen im Hof zu widmen. Unter Siegesgeschrei kam eine Rotte von mehr als einem Dutzend Männer herangestürzt. Eine ganze Salve knallte los. Ah – war Kirin so gut auf der Hut, daß seine Män ner nicht einmal schliefen? 86
Sun Koh spürte zwei brennende Streifschüsse, rechts und links klatschte es in die Wand, ein Splitter riß ihm die Backe auf. Er mußte sich seiner Haut wehren. Nimba schoß bereits. Sun Kohs Pistole peitschte die Schüsse in kurzer Folge hinaus. Die anbrandende Welle stand und verschwand. Spärlich flackerte aus den Ecken und zwischen den unruhig schnaubenden und stampfenden Tieren das Mündungsfeuer auf. Schreie der Wut und des Schmerzes hallten durch die Dunkelheit. Dann kam ein höhnisches Lachen und ein scharfer Befehl über den Hof. »Aufpassen!« rief Sun Koh zu Nimba hinüber und trat zu dem Gefangenen hinein. Der saß jetzt ungeschickt auf dem Lager, so gut es seine gefesselten Hände und Füße erlaubten und blinzelte mit unsicherer Miene in das weiße Licht, das aus Sun Kohs Lampe kam. Sun Koh brauchte in diesem Augenblick alle Be herrschung. Der Gefangene war nicht Bernhard Weser, son dern ein völlig Fremder. Dieser Mann mit dem dunklen, aufgedunsenen Ge sicht, den dicken Lippen und der Sattelnase, der ihn stumpf anstierte, konnte irgendein Neger sein, aber nicht der Mann, den er hier zu finden gehofft hatte. 87
Sun Kohs Stimme klang tonlos, als er schließlich im gebräuchlichen Mischdialekt der Stadt fragte: »Wer bist du?« »Mako«, flüsterte der andere. »Seid ihr gekom men, um mich zu befreien?« »Wie kommst du hierher?« Das Gesicht des Mannes verzog sich kläglich. »Ich weiß es nicht! Man schlug mich heute abend nieder und befahl mir, ruhig unter der Decke zu blei ben, sonst…« Sun Koh zog das Messer und schnitt die Fesseln durch. Er war jetzt wieder kühl und ruhig, weil er begriff, was vorlag. Kirin hatte ihn zum Narren gehalten. Kirin erwartete diesen Befreiungsversuch und be grüßte ihn sogar, weil sich dadurch eine Gelegenheit fand, seine Verfolger zu töten. Dieser Raum war für sie eine Falle, der sie unter gewöhnlichen Umständen nicht entkommen konnten. Wenn Sun Koh und Nim ba nicht so schnell und sicher geschossen hätten, lä gen sie jetzt wahrscheinlich tot vor oder hinter der Tür. Nur – wie konnte Kirin wissen, was Sun Koh ge plant hatte? Wie konnte er überhaupt ahnen, daß die Freunde Wesers in Makallo warteten? Draußen knallten unregelmäßig die Schüsse wei ter. 88
»Das Flugzeug, Sir!« rief Nimba. Sun Koh riß die Sprechdose aus der Tasche. »Hal?« »Ja, Sir?« »Sofort wieder höher gehen, damit man dich mög lichst wenig bemerkt. Ich habe Weser nicht gefun den, sondern nur einen Ersatzmann, den Kirin unter geschoben hat. Er wollte uns in die Falle locken und andererseits seinen Gefangenen nicht aufs Spiel set zen. Ich denke, daß Weser an einem ganz anderen Fleck versteckt gehalten wird. Wir ziehen uns jetzt zurück, erwarte später weitere Anweisungen.« »Jawohl, Sir. Werden Sie herauskommen oder soll ich lieber den Hof eindecken?« »Lieber nicht, wir wollen Weser nicht gefährden.« Sun Koh befahl dem Neger zu warten. Er selbst trat hinaus und sprang zu Nimba hinüber. Sie bekamen noch einige Schüsse zu hören, als sie über das Dach liefen, wurden aber nicht getroffen. Kirin schien auf eine ernsthafte Verfolgung zu ver zichten. Viele Leute konnte er ja nicht mehr zur Ver fügung haben, wenigstens nicht viele unverwundete. Während Sun Koh und Nimba durch die Gassen wanderten, klärte Sun Koh seinen Begleiter auf. »Völlig rätselhaft ist mir«, schloß er, »wie Kirin von unseren Absichten erfahren konnte. Wenn frei lich Ibrahim el Dschuf zufällig für Kirin und Ghogoli arbeiten würde, dann brauchten wir uns nicht zu 89
wundern. Angenommen, er hätte Kirin erzählt, was er von uns weiß, dann hätte es Kirin nicht schwer gehabt, gewisse Schlüsse zu ziehen. Es passiert ja nicht alle Tage, daß ein paar Leute von Omar ben Ofra kommen.« »Sie müßten ihn fragen.« »Ich halte es für zwecklos. Wichtiger scheint mir, daß wir bis zum Morgen genügend ausgerüstet sind, um uns an Kirins Fersen zu heften. Lassen wir ihm zuviel Vorsprung, ist Weser für uns verloren. Und Kirin wird mit dem Morgengrauen aufbrechen. Hast du die Pferde gesichert?« »Ja, Sir.« »Dann wollen wir sofort alles andere erledigen. Sollte uns noch Zeit bleiben, können wir uns ja noch mit Ibrahim beschäftigen, aber einstweilen werden wir uns an unserer Schlafstätte nicht sehen lassen.« »Jawohl, Sir.« 4. Zwei Tage später. Sun Koh und Nimba schlugen sich zu Fuß durch den Urwald der Gebirgstäler. Die getroffenen Vorbereitungen, insbesondere die Bereitstellung von Pferden, hatten sich als Fehlgriff erwiesen. Kirin ließ seine Pferde in Makallo. Seine Lasten übernahmen ein paar Dutzend Träger, die an 90
einem andern Fleck der Stadt schon bereit gelegen haben mußten. Sie tauchten mit dem ersten Sonnen strahl auf, luden sich die schon vorbereiteten Packen auf und setzten sich ohne das sonst übliche Geschrei in Bewegung. Es waren fast durchgängig Galla, her kulische, halbnackte Gestalten von überraschender Disziplin. Alle waren bewaffnet – ein Beweis dafür, daß sie mehr als Träger waren. Zwischen ihnen schritt inmitten einiger unbelasteter, dafür aber um so besser bewaffneter Männer Bernhard Weser. Sun Koh beobachtete den Abzug, ließ die Kara wane ein Stück voraus und ritt dann zusammen mit Nimba hinterher. Nach wenigen Stunden zeigte sich, warum Kirin den Fußmarsch vorzog. Der Weg führte von den ver hältnismäßig freien Hängen des Randgebirges in dichten Urwald hinein, der für Reiter überhaupt nicht zugänglich war. – Man mußte froh sein, wenn man den eigenen Körper glatt durch die schmale, von Trägerkarawanen geschaffene Gasse hindurchbrach te. Die beiden Männer ließen ihre Tiere frei und folg ten Kirin und seinen Leuten zu Fuß. Ein zermürbender Marsch. Die Beanspruchung des Körpers war erträglich, obwohl die stickige, feuchte Hitze unter der grün dämmerigen Wölbung der Baumkronen unaufhörlich den Schweiß aus den Poren trieb, und obwohl das 91
ständig bewegte Gelände zahlreiche natürliche Hin dernisse bot. Viel spürbarer waren die seelischen An forderungen dieses Marsches. Kirin wußte zweifellos, daß man ihm folgte. Er hatte für seinen Gefangenen kaum etwas zu fürchten, da es fast unmöglich war, einen Bogen durch den unbekannten Wald zu schlagen und seitlich auf die Mitte seines langen Zuges zu stoßen, um dort die Wächter Wesers anzugreifen. Er konnte jedoch den Verfolgern mühelos eine Falle nach der anderen stel len. Der Wald bot tausend natürliche Hinterhalte, tausend Verstecke, in denen sich ein paar bewaffnete Männer verbergen konnten, um die Nachfolgenden abzuschießen. – Außerdem konnte Kirin sicher die Bewohner der Dörfer, die man gelegentlich passierte, anweisen, so daß diese die Fremden von hinten an griffen. Kirin unternahm nichts, aber damit konnten Sun Koh und Nimba nicht rechnen. Sie waren gezwun gen, in jeder Sekunde des Tages mit der äußersten Gefahr zu rechnen, sie mußten hinter jedem Baum und an jeder unübersichtlichen Stelle mit einem töd lichen Schuß rechnen, bei jedem Geräusch die Annä herung eines Gegners vermuten. Das kostete Nerven. Nun, die beiden Männer hatten allerhand an Ner ven zuzusetzen und befanden sich nicht zum ersten mal in einer Lage, die dauernde Aufmerksamkeit er 92
forderte. Sie überreizten sich nicht und wurden auch nicht stumpf. Dennoch fanden sie diese ereignislose Verfolgung ins Unbekannte hinein quälend. »Ich glaube«, meinte Sun Koh am Ende des zwei ten Tages bedenklich, »Kirin begnügt sich damit, uns hinter sich her immer weiter in das Innere zu locken. Er läßt uns einfach in eine Falle hineinlaufen, der wir seiner Meinung nach nicht mehr entgehen können.« »Dann hat er das Flugzeug nicht bemerkt.« »Wahrscheinlich nicht. Trotzdem – ich hatte ge hofft, schon während des Marsches Gelegenheit zu finden, an Weser heranzukommen. Unsere Lage wird schwieriger, je weiter wir vordringen, die Befreiung immer unmöglicher.« »Und unsere Vorräte gehen auch zur Neige«, er gänzte Nimba. »Wenn wir noch ein paar Tage lang so folgen müssen, haben wir nichts mehr zu essen.« Sun Koh winkte ab. »Da wird sich ein Weg finden. Aha, dort sind sie.« Vor ihnen öffnete sich der Wald zu einer Lich tung, in deren Mitte die Hütten eines Dorfes sichtbar wurden. Dort rastete die Karawane. Sie würde über Nacht hierbleiben. Gestern nacht hatte es Sun Koh versucht, sich im Schutz der Dunkelheit bis fast an die Hütte, in der Weser schlief, heranzupirschen. Er war entschlossen gewesen, das Äußerste zu wagen und war trotzdem wieder umgekehrt. Um die Hütte herum lagen vier 93
Mann mit schußbereiten Waffen, und im Innern be fanden sich zwei andere. Selbst wenn er die vier ab schoß, hatten die zwei in der Hütte genügend Zeit, um den Gefangenen für die Befreier wertlos zu ma chen. Also blieb ihnen nichts übrig, als am Rand des Waldes die Nacht so gut wie möglich zu verbringen, bis Kirin am nächsten Morgen weiterzog. Irgendwann mußte sich ja einmal eine bessere Chance bieten. Sun Koh warf einen Blick zur Seite, als er in Kopfhöhe zwei mattfunkelnde Augen bemerkte. In Sekundenschnelle riß er die Pistole heraus und feuer te in das eine Auge hinein. Nimba sprang zurück und entging dadurch mit knapper Not der schlagenden Pranke. Das Raubtier überschlug sich, krampfte ein paar mal und blieb dann still am Boden liegen. »Ein Leopard. Schnell weiter, man hat den Schuß im Dorf gehört.« Sie beeilten sich, von dem Fleck wegzukommen. Zwischen den Hütten wurde es unruhig. Nach einer Weile kamen einige Männer über die Lichtung. Natürlich waren es nur Dorfbewohner. Sun Koh hatte gestern festgestellt, daß Kirin seine Wachen unter keinen Umständen fortlocken ließ. Der Mann mußte entweder einen außerordentlichen Begriff von der Schlauheit und Gefährlichkeit der Verfolger ge 94
wonnen haben oder auf Grund sehr scharfer Anwei sungen handeln. Die Eingeborenen schleppten mit viel Geschrei das tote Raubtier über die Lichtung, dann wurde es ruhig. Sun Koh und Nimba legten sich nach kurzer Mahlzeit schlafen – abwechselnd natürlich. Einer mußte stets wachen. Am Morgen zog die Karawane nicht weit von ih rem Versteck vorüber. Bernhard Weser lief auch heute am Strick. Hinter ihm marschierten zwei Weißgekleidete mit schußbereiten Gewehren im Arm, die Finger am Abzug. Unmittelbar hinter die sen kamen zwei andere, die in gleicher Weise auf einen plötzlichen Angriff gerüstet waren. Neben We ser aber schritt Kirin selbst. Sein finsteres Gesicht zeigte ein spöttisches Lächeln, als wisse er, daß er beobachtet werde. Die Träger passierten wiegend einer hinter dem anderen. Dann kam der unbelastete Schlußmann. Sun Koh und Nimba folgten. Der Weg führte heute aufwärts. Nach Stunden war die Zone des Urwaldes überwunden, der lockere Baumbestand des Höhenwaldes zeigte sich, dann verschwanden die Bäume ganz. Kirin hielt Mittagsrast. Erst als die Karawane jenseits wieder hinabtauch te, betraten Sun Koh und Nimba das freie Felsenge 95
lände, über das der kühle, erfrischende Wind der Hö he strich. Er hatte diesmal darauf verzichtet, die Um rundung vorzunehmen. Vierundzwanzig Stunden verliefen ereignislos. Am Mittag des nächsten Tages rastete Kirin in ei nem Galla-Dorf. Sun Koh und Nimba beobachteten wie gewöhnlich aus einiger Entfernung. Sie hatten bereits die Fortsetzung des Pfades aufgesucht. Plötzlich hörten sie aus weiter Ferne gleichmäßig scharfes Tacken, ein Geräusch, das dieser Landschaft völlig fremd war. Sie lauschten. Das Tacken brach ab, setzte von neuem an, brach wieder ab … »Maschinengewehr?« flüsterte Nimba. »So klingt es.« Nach einer Weile fingen ihre Ohren das dumpfe Geräusch zahlreicher Schritte auf. Sun Koh preßte das Ohr auf den Boden. Ein größerer Trupp Menschen näherte sich von vorn. Einige Minuten vergingen, dann tauchten auf dem Pfad die ersten Ankömmlinge auf. Ihre Kleidung war ungewöhnlich. Sie trugen weiße, flache Schuhe aus Bast oder ähnlichem Material, graugrüne Leinenho sen, die vom Knöchel bis zum Knie kreuzweise überschnürt waren und gleichfarbige, reichlich lange Jacken mit kurzen Ärmeln. Die Jacken wurden nicht 96
durch Knöpfe geschlossen, sondern durch gelbbraune Kordgürtel zusammengefaßt, die an englische Mili tärkoppel erinnerten. Vom Gürtel liefen kreuzweise breite Sturmriemen über die Schultern, an den Rie men waren Patronentaschen befestigt. Am Gürtel hingen Handgranaten, Brotbeutel und Feldflasche, außerdem ein regelrechtes Seitengewehr. Die Kara biner, die die Männer in der Beuge des rechten Ar mes hielten, stammten bestimmt aus Japan. Einzelne trugen Maschinengewehrteile. Auf den schwarzen Köpfen saßen sehr flache, nur leicht gewölbte und breitrandige Strohhüte, die durch eine um das Kinn laufende Schnur gehalten wurden. Alles in allem wirkten diese Männer wie eine Mischung von Tom mies, Japanern und Negern. Im Eilmarsch strömten sie auf die Lichtung hin aus, einer nach dem anderen, insgesamt ungefähr dreihundert Mann. Kurz vor dem Dorf bildeten sie ohne besondere Anordnung eine geschlossene For mation, reihten sich ohne Geschrei neben- und hin tereinander, bis sie wie ein Trupp europäischer Sol daten straff geschlossen zusammenstanden. Dann erst ertönten Kommandos. Kirin kam zwischen den Hütten heraus und unter hielt sich mit einem der Männer, der offensichtlich den Oberbefehl hatte. »Jetzt wird es unangenehm«, murmelte Sun Koh. »Das sind Soldaten Ghogolis, die wahrscheinlich so 97
gar den Schutz des Gefangenen übernehmen sollen.« »Er war doch bis jetzt sicher genug.« »Wir hörten Maschinengewehrfeuer«, gab Sun Koh bedeutungsvoll zurück. »Vielleicht hat Atto Er rare doch erfahren, was geschehen ist, und versucht, an den Trupp heranzukommen. Ah, das gilt uns.« Kirin zeigte sehr deutlich und wiederholt nach dem Wald, während er weiter auf den Offizier ein sprach. »Wir müssen fort«, sagte Sun Koh weiter. »Wenn Kirin einen Teil der Leute auf uns hetzt, kommen wir in eine böse Lage.« »Zurück?« »Hat wenig Zweck. Wir verlieren die Verbindung mit Weser, ohne daß die Gefahr geringer wird. Wir werden weiter vordringen, falls Kirin tatsächlich Jagd auf uns machen läßt.« Bei den Hütten erklangen wieder Befehle. Ein Teil der Eingeborenen formierte sich und empfing An weisungen. Dann setzten sich die Leute in Bewegung – direkt auf die Stelle zu, an der Sun Koh und Nimba standen. »Kirin hat uns gut überwachen lassen«, murmelte Sun Koh. »Vorwärts!« Der Pfad nahm sie auf. Sie hörten die Soldaten bald hinter sich. Die Leute suchten zunächst nur den Waldrand ab, erst später gingen sie weiter vor. Dann folgte auch schon der 98
Haupttrupp mit dem Gefangenen. Die beiden Männer hielten nach Möglichkeit die Verbindung nach hinten aufrecht. Von dort drohten die wenigsten Gefahren, denn sie konnten sich dank ihrer Fähigkeit, sehr schnell zu laufen, jederzeit von den Soldaten ablösen, – Schlimm würde es erst wer den, wenn auch noch vor ihnen Gegner auftauchten. Wieder führte der Pfad aufwärts, aus der Senke heraus. Nimba kam zurückgejagt. »Bewaffnete Eingeborene vor uns. Sie liegen auf der Lauer.« »Soldaten?« »Nein, Bewohner eines Dorfes, nicht uniformiert.« »Dann schnell.« Sie schlugen sich im Eilschritt durch den verhält nismäßig lichten Wald und konnten gerade noch durch die Lücke entwischen, die zwischen den bei den Gruppen ihrer Feinde geblieben war. Im weiten Bogen umrundeten sie das Dorf und warteten dann auf den Anschluß. Sie mußten die ganze Nacht warten, denn Kirin bezog Nachtlager. Am nächsten Morgen veränderte sich das Gelände mit jeder Stunde, die sie vorankamen. Gegen Mittag standen sie inmitten einer Felsenlandschaft, die in wesentlichen Zügen an die Alpen und andere Hoch gebirge erinnerte. Unter ihren Füßen befand sich 99
nackter Fels, Geröll und dann und wann saftiges Gras. Schroffe Abstürze wechselten mit flachen Hal den, harte Spitzen und kantige Grate zeichneten sich gegen den tiefblauen Himmel ab. In der Ferne leuch tete ein schneebedeckter Gipfel. Dann erlebten sie die größte Überraschung. Sie stießen auf eine Straße, die fast wie eine mo derne Autostraße wirkte. Glatt und dicht, teilweise aus dem Felsen herausgemeißelt, teilweise künstlich aufgeschüttet, zog sie sich an den Hängen entlang. »Dort vorn, Sir!« »Rechts hinunter.« Wie die Gemsen rutschten und sprangen sie den steilen Geröllhang hinab, eingehüllt von einer Wolke von Steinsplittern und Staub. Es wurde höchste Zeit für sie, daß sie aus dem Bereich der Straße kamen. Vorn waren Bewaffnete aufgetaucht und hinter ihnen rückten die Begleitmannschaften Kirins nach. Als sie dreihundert Meter tiefer festen Fuß faßten, entdeckten sie oben auf der Straße die kleinen Ge stalten der eingeborenen Soldaten und hörten gleich zeitig das Zischen der Geschosse, die ihnen in gan zen Salven nachgeschickt wurden. Da brachten sie sich schleunigst außer Sicht. Verfolgt wurden sie zu nächst nicht, die Leute Ghogolis wagten sich wohl nicht an den Geröllhang heran. »Jetzt haben sie uns aber endgültig abgedrängt«, meinte Nimba besorgt. 100
»Wir haben nicht viel verloren«, beruhigte Sun Koh. »Kirin muß sich dicht vor seinem Ziel befin den. Ich will mal bei Hal anfragen.« Hal Mervin gab vom Flugzeug aus, das in einigen tausend Metern Höhe stand, unverzüglich Auskunft. »Die Straße führt durch einen kurzen Engpaß und gabelt sich dann. Der eine Zweig führt nach unten zu einer Ruinenstadt, die annähernd drei Marschstunden von Ihrem jetzigen Standpunkt entfernt liegt. Der andere Zweig der Straße führt geradeaus weiter über einen neuen Bergrücken hinweg in einen weiten Kessel. Dort liegt eine Stadt. Von ihr aus führen…« »Danke«, unterbrach Sun Koh, »das genügt. Wie steht’s um unseren Freund?« »Der Trupp mit Weser befindet sich bereits auf der Straße. Die ganze Stadt scheint gesichert und be wacht zu sein. Ungefähr im Meilenabstand stehen feste Gebäude an der Straße, bei denen es von Solda ten wimmelt. Ein größerer Trupp bewegt sich auf dem Seitenzweig zu den Ruinen hin. Vermutlich will man Sie abfangen, denn Sie müssen auf die Ruinen stoßen, wenn Sie nicht rechts oder links am Berg hochklettern wollen.« »Sind sonst noch Siedlungen vor uns?« »Eine halbe Marschstunde voraus ein kleines Dorf. Kurz dahinter zweigt ein Seitental ab, in dem abermals ein Dorf steckt. Das Tal endet jedoch blind. Sie müßten herausklettern. Soll ich landen?« 101
»Wird Kirin die Stadt heute noch erreichen?« »Das ist wenig wahrscheinlich, Sir.« »Gut, dann beobachte weiter. Nach Einbruch der Dunkelheit wirst du wohl landen müssen, um uns aufzunehmen. Jetzt hat es wenig Wert, da man das Flugzeug sehen würde. Schluß.« Sie marschierten weiter. »Wir könnten freilich ebensogut hier sitzen blei ben, bis es Nacht wird«, meinte Sun Koh nach einer Weile mit unverkennbarem Mißmut. »Dieser Kirin bewacht seinen Gefangenen zu gut. Und Ghogoli wird ihn dann so einsperren, daß wir überhaupt nicht an ihn herankommen. Ich hatte gehofft, vorher eine Gelegenheit zu finden.« »Heute?« deutete Nimba vorsichtig an. Sun Koh überlegte. »Es kommt darauf an«, sagte er nachdenklich, »Weser davor zu schützen, daß er bei einem Befrei ungsversuch getötet wird. Wir müßten uns also vor allem zwischen ihn und seine Wächter schieben, be vor diese Verdacht schöpfen. Dabei handelt es sich zunächst nur um die zwei, die seinen Schlafraum tei len. Wir müßten uns …« Er brach ab und beschleunigte seinen Schritt. Das Dorf, das Hal Mervin angekündigt hatte, kam in Sicht. Es fiel den beiden Männern dank der zahlreichen Felsbrocken nicht schwer, die Hütten zu umgehen, ohne daß einer der Bewohner aufmerksam wurde. 102
Erst als sie wieder freiweg laufen konnten, setzte Sun Koh seine Betrachtungen fort. »Wir müssen es eben doch noch heute versuchen. Wir werden in einiger Zeit auf Ghogolis Soldaten treffen. Wenn wir zwei von ihnen unauffällig über wältigen können, werden wir uns umziehen. In dieser wilden Soldatenuniform werden wir den Wächtern Wesers wenigstens so lange unverdächtig vorkom men, bis wir sie unschädlich machen können.« »Aber die anderen Wächter?« »Die sollen uns gar nicht bemerken. Wenn Weser in einem der üblichen Flachhäuser untergebracht wird, landen wir mit dem Flugzeug auf dem Dach und steigen von oben her ein, vorausgesetzt, daß das Dach nicht bewacht wird. Wenn wir Glück haben und uns niemand bemerkt, dann …« Nimba schob förmliche Faltengebirge auf seiner Stirn zusammen. »Es sind eine ganze Masse ›Wenns‹ dabei, Sir!« »Natürlich«, gab Sun Koh zu, »wir müssen sie aber in Kauf nehmen.« Nach einem abermaligen Gespräch mit Hal ver schärften sie ihr Tempo zum Schnellschritt. Eine Stunde später lagen die beiden Männer ein Stück oberhalb des Talbodens auf dem ansteigenden Geröllhang. Einige große Brocken gaben ihnen Dek kung. Die Leute Ghogolis hatten gerade erst eine Kette 103
gebildet, die quer über das Tal lief. Jeweils zwei Mann gingen zusammen. Das zeugte an sich von gu ter Voraussicht, aber die Leute liefen eben noch völ lig sorglos geradeaus, ohne groß zu suchen. Sun Koh und Nimba hatten Glück, daß zwei Mann in unmittelbarer Nähe ihres Verstecks vorübergin gen. Sie brauchten die beiden nur von hinten anzu springen, um sie in ihre Gewalt zu bekommen. Dann aber folgten peinliche Minuten. Wenn die beiden sofort vermißt wurden, gab es eine unange nehme Schießerei, und außerdem war der Befrei ungsversuch in den Anfängen erstickt. Die Überfallenen lagen am Boden und starrten teils verwundert, teils entsetzt ihre Überwältiger an. Sie wagten sich nicht zu rühren. Die Pistolen gaben deutliche Warnung. Die Kette schob sich langsam weiter. Kein Alarmruf. Eine Viertelstunde lang wartete Sun Koh, bis die Soldaten außer Sicht waren. Dann begann die Ver wandlung. Abermals eine Viertelstunde später hatten sich Sun Koh und Nimba eingekleidet. Die Uniform dieser Soldaten ließ eine ganze Menge Spielraum, so daß sie leidlich angepaßt werden konnte. Die beiden Opfer trugen alles mit Würde. Nimba wies auf die beiden am Boden. Sun Koh sah sich um. 104
»Hm, Fesseln haben wir nicht. Wenn wir sie mit Tuchstreifen fesseln, werden sie bald frei sein. Wir müssen ihnen ein Gefängnis bauen.« Er nahm sich den ersten vor, gab ihm einen vor sichtigen Schlag gegen die Schläfe und behandelte dann den zweiten auf die gleiche Weise. Dieser wur de etwas härter angeschlagen, da er strampelte. Als die beiden stumm am Boden lagen, trugen Sun Koh und Nimba schwere Brocken heran und bauten sie um die Betäubten herum. Sie wählten solche Stücke, an denen sie selbst schwer zu schaffen hat ten, so daß die Eingeborenen nach menschlicher Voraussicht nicht imstande sein würden, die Steine beiseite zu schieben. Als sie fertig waren, lagen die Gefangenen eng aneinandergepreßt und ohne Bewe gungsfreiheit unter einem schweren Steinhaufen, der sie festhielt, ohne ihnen zu schaden. Sun Koh und Nimba schritten nun eilig weiter. * Die Schlucht erweiterte sich zu einem Talkessel, der im Hintergrund durch einen querliegenden Bergzug abgeschlossen wurde. Einzelne, zerfallene Steinbau ten tauchten auf, und dann standen sie inmitten einer Trümmerstadt von überwältigender Großartigkeit. Das war einst eine große Stadt gewesen. Der Fels boden und die Höhenlage hatten verhindert, daß sich 105
der Urwald ihrer bemächtigte und daß der Sand sie verschüttete. Wohl lagen Teile der Stadt unter Ge röll, das sich im Laufe der Jahrtausende herabge schoben hatte, aber im großen und ganzen hatten Na turereignisse der Stadt wenig geschadet. Wenn sie trotzdem ruinenhaft wirkte, dann war das wohl mehr menschlicher Zerstörungswut zuzuschreiben. Die Anlage der Stadt war gut erkennbar. Die Häu ser füllten die Talsenke und zogen sich an den Hän gen, die diese einschlossen, hinauf. Breite Straßen führten durch den Kern der Stadt hindurch und strahlten nach verschiedenen Richtungen aus. Die toten Steinbauten atmeten bedrückende Ein samkeit. In langer, regelmäßig unterbrochener Front standen würfelförmige Hauskästen, in denen irgendwann einmal das Feuer gewütet haben mußte. »Ein seltsames Durcheinander«, bemerkte Sun Koh. »In dieser Ruinenstadt scheint so gut wie jeder Baustil des Altertums vertreten zu sein. Sieh diese barbarischen, plumpen Darstellungen, Nimba. Sie könnten aus dem Innern Afrikas stammen. Und hier gleich nebenan die vollendete Plastik eines mensch lichen Körpers wie von einem griechischen Bildhau er ausgehauen.« Nimba nickte. »Das ist ein Unterschied. Ich finde es überhaupt komisch, daß es hier solche Ruinen gibt.« »Ich auch«, erwiderte Sun Koh kurz und zog die 106
Sprechdose aus der Tasche. »Hal?« »Ja, Sir«, meldete sich Hal von oben. »Es wird gleich Nacht. Kannst du uns sehen?« »Jawohl.« »Suche dir einen Platz in der Nähe. Sobald die Sonne weg ist, landest du.« »Fünfzig Meter halbrechts vor Ihnen kommt ein freier Platz, dort werde ich landen.« »Gut, wir erwarten dich. Vergiß nicht, Weser bis zuletzt zu beobachten!« »Kirin hat schon Rast gemacht. Weser ist in eines der Wachhäuser oben an der Straße gebracht worden. Ich komme.« Im Nu war die Nacht da. Hal landete. »Drinnen steht das Essen fix und fertig. Beeil dich, Nimba, sonst mußt du hungern.« Nimba hatte sein Stichwort und sauste ins Flug zeug. Sun Koh folgte ihm, während Hal als Wache draußen blieb. Als Sun Koh wieder herauskam, stellte Hal eine ähnliche Frage wie vorhin Nimba. »Was ist das für eine Stadt, Sir?« fragte er. »Fin den Sie es nicht komisch, daß es hier mitten im In nern Abessiniens derartige Ruinen gibt?« Sun Koh nickte ihm zu. »Ja, die Ruinen waren auch für mich eine Überra schung. Die fugenlose Bearbeitung der schweren Steinblöcke erinnert an die Ägypter, wenn nicht gar 107
an die Inka. Auf ägyptische Baumeister weisen auch sonstige wesentliche Züge. Selbst Sphinxe und Schmuckpyramiden gibt es hier. Daneben stehen aber Bauten, die nur von Assyrern stammen könnten, daneben andere, die schon mehr indisch wirken. Or namentik und Skulpturen verraten alle Einflüsse ört lich und zeitlich verschiedener Stilepochen. Es ist eine merkwürdige Ruinenstadt. Ich schätze ihr Alter immerhin auf einige tausend Jahre. Die Stadt könnte eine weltberühmte und viel besuchte Handelszentrale gewesen sein – das würde die innere Verworrenheit ihrer Bauten erklären.« »Ja, aber, dann würde sie doch nicht so völlig un bekannt sein. Aber heute weiß doch die Welt über haupt nichts davon, daß es eine solche Stadt gegeben hat?« »Das will an sich nichts besagen. Die heutige Welt kennt vieles nicht, was einst berühmt war. Selbst von den großen Städten am Nil erhielt sich nur ein Ge rücht, bis man sie dann wieder auffand und aus dem Sand herauszugraben begann.« »Aber es war doch wenigstens ein Gerücht«, meinte Hal hartnäckig. »Wenn die Stadt vor ein paar tausend Jahren in der ganzen Welt bekannt war, dann müßte das Gerücht auch bei ihr der Fall sein.« »Vielleicht ist es auch der Fall«, gab Sun Koh zu rück. »Der Fehler liegt oft nicht bei der Überliefe rung, sondern bei denen, die sie hören. Diese Ruinen 108
könnten zum Beispiel die Reste der verschollenen Stadt Ophir darstellen.« »Ophir?« wiederholte Hal. »Ja. Kommt dir der Name bekannt vor?« Hal wiegte den Kopf hin und her. »Ich weiß nicht – gehört habe ich den Namen si cher schon einmal, aber ich muß mir komischerweise immer etwas Biblisches dabei vorstellen.« »Die Stadt Ophir beziehungsweise das Land Ophir werden in der Bibel wiederholt erwähnt.« »Ah.« »In der vorchristlichen Zeit wird die Stadt Ophir bei den verschiedensten Völkern genannt. Sie wird als außerordentlich prächtige Stadt geschildert, die inmit ten eines Landes voller Gold, Edelsteine und sonstiger Schätze liegt. Von ihr aus gehen die Karawanen nach allen Himmelsrichtungen und bringen die wunderbar sten Erzeugnisse fremder Welten zu den Herrschern der Völker, die damit ihre Schatzkammern füllen. Ophir ist die Stadt der Verheißung, die Krone aller Städte. Leider wird in keiner Aufzeichnung die Lage dieser Stadt angegeben. Das mag als Beweis dafür dienen, wie selbstverständlich den damaligen Men schen das Wissen um die Stadt ist. Wir würden auch nicht bei einer zufälligen Erwähnung der Stadt Lon don eine genaue Ortsbeschreibung anhängen.« »Und nun weiß man nicht mehr, wo die Stadt ge legen hat?« 109
»So ist es. Man hat sie schon an allen möglichen Stellen vermutet, ohne sich ernsthaft damit zu be schäftigen. Es gibt sogar Gelehrte, die Ophir für ein Phantom, für ein Phantasieerzeugnis halten und ge neigt sind, ihr eine ähnliche Rolle wie der Insel Thu le der germanischen Völker zuzuschieben.« »Sie nehmen an, daß diese Ruinen die Reste von Ophir sind?« Sun Koh hob die Schultern. »Es ist eine Vermutung so gut wie jede andere.« Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Hal: »Wie kommt es, daß diese Stadt Ophir so gänzlich ver schollen ist?« »Das ist eine Frage, die ebenso hundert anderen Städten gelten könnte. Es gibt zahlreiche Gründe. Ein Krieg, die Verlagerung der Handelswege, Seu chen und was noch alles können Anlaß sein, um eine Stadt zu vernichten.« »Ich sehe ein Licht, Sir«, sagte Nimba. »Wo?« »Drüben, zwischen den Ruinen.« Sun Koh schwang sich nach oben. In etwa hundert Meter Entfernung bewegte sich ein winziges Licht, als würde es von jemand über die Trümmer der Stadt getragen. »Beobachte weiter«, wies Sun Koh an. »Ich will versuchen, mit dem Fernseher Näheres festzustel len.« 110
Die Mattscheibe des Apparates zeigte das Licht aus geringer Entfernung. Es war wirklich ein Licht, aber es steckte in einer Blechlaterne, die zweifellos europäischen Ursprungs war. Sun Koh bemühte sich, etwas von ihrem Träger zu sehen, aber die Helligkeit des Lichts war gering und außerdem blendete die Rückseite der Lampe nach hinten ab. Die Nacht war dunkel, da der Mond noch nicht hochgekommen war. Doch jetzt wurde die Lampe gehoben und gleich zeitig seitlich gedreht. Für eine Sekunde sah Sun Koh das Gesicht des Mannes, der sie trug. Er sah einen wilden Bart, scharf hervortretende Knochen, einen steilen Schädel und darauf etwas wie eine dunkle Baskenmütze. Er war sich nicht klar, ob er einen Araber oder gar einen Europäer gesehen hatte. Einige Sekunden danach verschwand das Licht und tauchte nicht wieder auf. »Wollen wir nachsehen?« erkundigte sich Hal, als Sun Koh seine beiden Begleiter verständigt hatte. »Nein«, entschied Sun Koh. »Wir haben keine Zeit, den Geheimnissen dieser Ruinen auf den Grund zu gehen. In zwei Stunden wollen wir versuchen, Weser zu befreien …« Hal erhielt nun alle Anweisungen, die er brauchte. Er hatte seine Bedenken, aber er zog es vor, sie nicht zu äußern. Er spürte wohl, daß Sun Koh den Versuch 111
nur wagte, weil er wenigstens noch eine Chance bot. Wenn Kirin seinen Gefangenen einmal abgeliefert hatte, war vielleicht überhaupt nichts mehr zu ma chen. * Sun Koh hatte eine Zeit gewählt, in der der Mond noch nicht schien, andererseits aber die Wächter ei nigermaßen zur Ruhe gekommen waren. Die Straße wurde schwach sichtbar. Neben ihr zuckten einige offene Feuer als rote und gelbe Farb flecken hin und her. Sie warfen unruhiges Licht und verzerrte Schatten auf die hellen Wände eines Hau ses. Hal saß am Steuer des Flugzeuges. Er meisterte es mit vollendetem Geschick. Genau senkrecht ließ er die Maschine niedergehen. Mit einem matten Schlag setzte die Maschine auf dem flachen Dach auf. An den Feuern rekelten sich die dunklen Gestal ten. Niemand schien das Flugzeug bemerkt zu haben. Damit war viel, wenn nicht alles gewonnen. Sun Koh und Nimba stiegen geräuschlos aus. Jetzt merkten sie, daß hier oben ein gleichmäßiger Wind über die Felsen strich und alle möglichen Geräusche erzeugte. Es war verständlich, daß man das Summen des Flugzeugs überhört hatte. 112
Dort war die Luke. Eine hölzerne Fallklappe seufzte leicht, als sie ab gehoben wurde. Eine rohe, aber feste Holzleiter führte in die Tiefe. Sun Koh horchte hinunter. Aus dem Haus kamen Geräusche aller Art, aber keine, die auf Gefahr schließen ließen. Leise stiegen die beiden Männer hinunter. Alles still. Sollte Weser gar nicht in dem Haus untergebracht worden sein? Das wäre peinlich. Oder ließ man ihn diesmal gar ohne Wachen schlafen? Wohl oder übel stiegen sie über die Steinstufen in das Erdgeschoß hinunter. Der Gang war frei, aber von draußen hörte man die Stimmen der Soldaten hereindringen. Eine Tür. Ein Lichtfaden drang matt hindurch, ein Einblick war jedoch nicht möglich. Sun Koh lauschte. Atmen und gelegentliche Bewegung eines Men schen. Befand sich Weser in diesem Raum? Sun Koh öffnete die Tür und trat mit schnellen Schritten ein. Er hielt den Kopf etwas gesenkt, so daß der Schatten des breiten Hutes sein Gesicht schützte. 113
An einem niedrigen Tisch saß der Feind selbst. Kirin. Er blickte auf, als die Tür ging, zischte unwillig, aber ohne Argwohn: »Was willst du?« Sun Koh übersprang den letzten Meter und hieb zu. Kirin warf Kopf und Körper zur Seite, aber es half ihm nichts mehr. Der Schemel rutschte unter dem zusammensak kenden Körper polternd weg, dennoch stutzte keiner von den Wächtern draußen. Sun Koh beugte sich über Kirin. Der Mann war be täubt und würde es wohl für eine Weile bleiben. Mehr als einige Minuten brauchte man ja kaum mehr. Die nächste Tür. Wieder Licht, diesmal waren aber Ritzen vorhan den, durch die man hindurchsehen konnte. Am Boden hockten zwei Soldaten, an der Seiten wand ahnte man einen ausgestreckten Körper. Der Gefangene? Sun Koh öffnete die Tür und trat ein. Unmittelbar hinter ihm folgte Nimba. Die beiden Wächter sprangen auf. »Schon gut«, beruhigte Sun Koh auf Arabisch, »wir sollen den Mann nur …« Sie waren bei den Wächtern angelangt. Zwei Fäuste fuhren blitzschnell vor. Die Gewehre polterten nieder. Ein Glück, daß sich kein Schuß löste. 114
Während die Wächter zusammensackten, sprang Sun Koh bereits zur Seite. »Weser?? Gott sei Dank!« Bevor der junge Deutsche noch antworten konnte, hatte Sun Koh schon das Messer herausgerissen und die Fesseln durchschnitten. »Kein Wort. Nimba, du deckst den Rückzug!« Sun Koh hob Weser hoch, nahm ihn vor sich in seine Arme und eilte hinaus. Noch hatte niemand Verdacht geschöpft. Jetzt krachte ein Schuß. Teufel, das kam etwas zu früh. Hatte man sie doch von draußen bemerkt? Wo blieb denn Nimba? »Nimba?« Keine Antwort. Sun Koh blickte zurück, konnte seinen Begleiter aber nicht entdecken. Es war unmöglich abzustoppen. Jetzt mußte Weser erst in Sicherheit gebracht werden. Rings um das Haus tobte die Hölle auf. Die von den Feuern hochgeschreckten Soldaten vollführten einen Heidenlärm, schossen und schrien. Sun Koh sprang die Leiter hinauf. Das Flugzeug stand an seinem Platz, die Kabine war offen. Er beförderte den Befreiten hinein. »Alles in Ordnung, Sir?« erkundigte sich Hal, der losfliegen wollte. »Warte noch. Weser ist hinter dir, aber Nimba ist 115
zurückgeblieben. Ich muß mich nach ihm umsehen. Wenn wir nicht gleich wiederkommen oder die Ma schine entdeckt wird, fliegst du los. Verstanden?« »Ich werde warten!« schrie Hal wütend. »Du wirst fliegen. Wir helfen uns auch so weiter.« Sun Koh tauchte wieder in die Luke hinab. Im unteren Stockwerk wimmelte es bereits von Soldaten. Eine grenzenlos wütende Stimme über schrie den Lärm. Von Nimba war nichts zu bemerken. Als Sun Koh auf der Treppe erschien, wurde er bemerkt, Die Leute heulten förmlich auf, dann knall ten sie blindwütend los, ohne zu zielen. Sun Koh warf sich in Deckung zurück. Aus seinen Pistolenläufen zuckten die Feuerstrahlen. Nimba mußte doch dort unten sein. Vielleicht ge lang es, die Soldaten wenigstens für kurze Zeit aus dem Haus zu schrecken. Tacktacktack… Maschinengewehrfeuer? Flüche, Verwünschungen, Schreie, hetzende Rufe und Kommandos. Die Hölle tobte um die Treppe. Sun Koh fühlte Schläge gegen seinen Körper, aber sie hatten nichts zu bedeuten. Es waren herumsprit zende Steinsplitter, mehr nicht. Die Kugeln selbst konnten ihn nicht erreichen. Plötzlich ebbte der Lärm scharf zurück. Sun Koh streckte sich vor. 116
Er sah vier, fünf oder mehr Männer gleichzeitig den Arm zum Wurf zurückbeugen. Handgranaten. Schleunigst jagte er zurück in die Deckung des Ganges. Draußen tackte das Maschinengewehr. Galt das dem Flugzeug? Wartet Hal, dieser Narr, etwa immer noch? Die erste Handgranate schlug dumpf auf. Sun Koh lief noch, als es ihn plötzlich aushob. Sein schwebender Fuß fand den Boden nicht mehr. Eine mächtige Faust warf ihn gegen die Wand. Die Wand war aber nicht fest, sondern schwankte. Ein entsetzlicher Krach. Das Haus tanzte. Das Dach stürzte zusammen, die Wände fielen. Sun Koh spürte einen furchtbaren Schlag auf dem Kopf, einen zweiten auf der Schulter. Die Narren! Sie hatten ein halbes Dutzend und mehr Handgra naten gleichzeitig in diesem leichten Haus explodie ren lassen und wurden nun unter den Trümmern be graben. Wenn nur Hal fort wäre! Sun Koh dachte nicht zu Ende. Es wurde Nacht um ihn. Eingehüllt in Steine, Lehm und Balken, rutschte sein Körper in die Tiefe. *
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Fast in der gleichen Sekunde verlor Nimba ebenfalls das Bewußtsein. Nimba hatte sich nur noch vergewissert, daß die beiden Wächter für die nächste Zeit keine Lust haben würden, aufzustehen. Eine Sekunde später als Sun Koh hatte er den Raum verlassen wollen. Er hatte ihn nicht verlassen. Die Tür war niedriger als sein Kopf. Daran dachte er nicht mehr, als er hin ausstürzen wollte. Mit der ganzen Wucht seines ha stigen Anlaufs rannte er seinen Schädel gegen den oberen Türbalken. Schwer benommen prallte er zurück, hörte wie aus weiter Ferne einen Schuß, ohne die Kraft zu finden, seinen Weg fortzusetzen. Als er sich endlich zusam menriß, war es bereits zu spät. Der Flur wimmelte schon von Soldaten. Irgend jemand riß die Tür auf, erschrak und schrie. Nimba beförderte ihn in mechanischer Reaktion mit einem Tritt hinaus. Nun schossen ein paar Leute durch die Tür, etwas später fing man vom Fenster aus an zu ballern. Nim ba mußte sich in eine Ecke pressen und schießen. Er hörte die Pistole Sun Kohs und schrie. Seine Stimme ging jedoch in dem allgemeinen Lärm unter. Dann kam die Explosion. Die Wände stürzten zusammen und Nimba ver sank.
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*
Hal dachte gar nicht daran, abzufliegen. Es bedurfte nur eines Handgriffs, um die Maschine hochzurei ßen, aber er war nicht im geringsten geneigt, diesen Handgriff zu tun, bevor nicht Sun Koh und Nimba wieder in der Kabine standen. Die beiden waren im Augenblick mehr wert als tausend Wesers. Im Haus tobte die Hölle. Die Leute hatten nun das Flugzeug entdeckt und schossen gleich mit dem Maschinengewehr drauflos. Bösartig hackten die Geschosse auf den metalle nen Rumpf auf. Die konnten sich lange anstrengen, ohne Schaden anzurichten. Freilich, wenn etwa zufällig die Ausgangsstellen der Flügelschrauben getroffen wurden, dann wurde es bös. Hal Mervin sprang plötzlich auf. Da lag doch noch Weser in der offenen Kabinen tür? Hatte es ihn etwa schon erwischt, daß er keinen Ton von sich gab? Er hätte doch wahrhaftig in Dek kung kriechen können? Hal zerrte den Befreiten von der Tür weg. Verflucht und zugenäht, das war der Arm gewe sen. Als ob einer mit einem Stock darangeschlagen hätte. Hal ließ die Tür zurollen und beugte sich dann über Weser. 119
Keine Verletzung. Anscheinend nur ein Schwä cheanfall. Nun widmete er sich seinem Arm. Der Knochen war ganz, ein glatter Durchschuß des Oberarms. Das würde schnell wieder heilen. Wenn nur Sun Koh bald käme. Er rückte den Hebel ein. Die Schraubenflügel drehten sich glatt. Hoppla? Hal spürte den Ruck unter sich, dann stieß das Donnern der Explosion in seine Ohren. Die ganze Bude ging in die Luft. Das Flugzeug taumelte, sackte. Da blieb keine Wahl. Mit einem Aufschrei der Wut gab Hal Fahrt. Das Haus brach über Sun Koh und Nimba zusammen. Er flog mit Weser davon. Zwei Tote für einen Leben den, das war ein schlechter Tausch. Fort. Tacktacktack … Schossen denn die Idioten immer noch? Rrrack. Hal starrte. Jetzt hatten die Kerle doch noch getroffen. Der linke Flügel hemmte, ging nicht mehr mit. Der rechte arbeitete mit voller Kraft weiter und drehte das Flug zeug in einer engen Spirale herum. Jetzt schwieg das Maschinengewehrfeuer. 120
Hal bremste den rechten Schraubenflügel, um aus der irrsinnigen Bewegung herauszukommen. Schon setzte der linke ganz aus. Fertig. Er konnte sich nur noch ein geeignetes Plätzchen zum Landen aussuchen. Endlos flossen die Flüche über Hals Lippen. Das war das einzige, was ihn notdürftig erleichterte. Unter sich sah er im ersten Mondlicht die Ruinen, den freien Platz, auf dem das Flugzeug am Abend gestanden hatte. Hinunter. Er hängte die Maschine auf die Seite, an den rech ten Flügel, so daß dieser wie eine Hubschraube wirk te. Viel war es nicht wert, aber es milderte den Sturz. Ein kräftiger Staucher, dann saß das Flugzeug ge nau neben dem freien Platz zwischen den wildesten Trümmern. Der Ruck hatte Weser zum Bewußtsein gebracht. »Wo bin ich?« fragte er. »Ah, ich weiß, man hat mich gerettet. Ich bin frei!« Da lachte Hal Mervin wütend auf. »Frei und gerettet? Ja, das sind Sie – frei und ge rettet. Geben Sie acht, wenn der Teufel kommt und Sie dazu beglückwünscht.«
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5.
Zwischen dem Ras Daschan, dem königlichen Berg des Habesch, und dem mächtigen Tana-See zieht sich eine Gipfelkette nach Südwesten, die so unzu gänglich und wild ist, wie man sie für bestimmte Zwecke nur wünschen kann. – Mächtige Schluchten schneiden in sie ein, deren Wände aus ungangbarem Urwald fast senkrecht aufsteigen, so daß man es für unmöglich hält, hinaufzugelangen. In einer dieser Schluchten steht weit oben die Fel senburg Bajennas, jenes kühnen Berghäuptlings, der sich mit sehr viel Klugheit und einer Handvoll ver wegener Männer zu einem der stärksten Fürsten des Habesch machte. Diese Burg, die er zum größten Teil aus dem Felsen herausmeißeln ließ, war sein Zufluchtsort wie sein Ausgangspunkt. Bajenna war tot. Atto Errare hatte seine Residenz aus technischen Gründen verlegt. Die Unzulänglich keit dieser Felsenburg bereitete so viel Schwierigkei ten für die Verwaltung des Landes, daß er sie als ständigen Wohnsitz hatte aufgeben müssen. Nur dann und wann erschien Atto Errare in der still gewordenen Burg. Er hatte Unterredungen mit Männern, die sich aus guten Gründen nicht in der Nähe von Tanore sehen lassen durften, denen diese wilde, verschwiegene Einsamkeit der Burg gerade recht war. 122
Ein solcher Mann stand jetzt vor Atto Errare in dem kleinen, kaum möblierten, aber reich mit Teppi chen und Wandbehängen ausgestatteten Raum, in dem sich Bajenna am liebsten aufgehalten hatte. Ras Dajokare hatte es sich nicht nehmen lassen, im vollen Kriegsschmuck mit allen Zeichen seiner Würde zu erscheinen. Ras Dajokare war höchstens fünfunddreißig Jahre alt. Sein breit und kräftig geschnittenes Gesicht mit der etwas schweren Nase verriet besonnene Tatkraft und ruhige Entschlossenheit. Die Hautfarbe war nicht dunkler, als es hier üblich war, aber die Lippen verrieten einen leichten Einschlag von Negerblut. Ein krausgelockter, brauner Bart lief von einem Ohr zum anderen und vereinigte sich mit einem kräftigen Schnurrbart. Dajokare rechnete sich, wie seine Stammesgenos sen, zu den Amharas, den Herren des Landes. Fleckenlos lag über seiner Stirn die weiße Binde. Auf dieser saß der wichtigste Schmuck des Ras, das edelsteinbesetzte Diadem, an das die Mähne eines Löwen angearbeitet war, die dem Kopf einen starken eindrucksvollen Hintergrund gab. Von den Schultern hing die vielzipflige Attila, aus deren schwarzem Stoffgrund sich wundervoll plastisch goldene Sticke reien hoben. Dazu standen prachtvoll die roten Strei fen des langen Untergewandes, die weiße Hose und der wallende weiße Mantel, der locker zurückfiel. 123
Weiß war auch die Leibbinde, der breite Gürtel dar über jedoch rot, und Patronen-Schlaufen wiederhol ten die goldene Stickerei auf schwarzem Grund. Selbstverständlich waren die Schlaufen mit Patronen gefüllt. Das Gewehr hatte Dajokare freilich beiseite stellen müssen, aber den überreich mit Gold beschla genen Büffelschild hatte er im linken Arm hängen gelassen, und auch der zweischneidige, krumme Säbel baumelte an seiner Hüfte in goldbesetzter Scheide. Atto Errare trug sich im Gegensatz zu diesem jun gen Ras auffallend schlicht. Er trug einen ähnlichen Seemannsbart wie Dajokare, nur war er bei ihm grau. Grau war auch das Haupthaar, eher schon weiß, das dicht und stark von der Stirn und von den Schläfen aus in spröden, widerborstigen Wellen nach hinten floß. Trotz aller Bräune verriet die Haut, daß dieser Mann nicht im Äquatorgürtel geboren war. Auch die hellen Augen zeugten für seine Abstammung, viel leicht auch die schmalen Lippen, obwohl man diese auch an Amharas finden konnte. Atto Errare war Deutscher und hieß eigentlich Weser. Bajenna hatte ihn aufgenommen, dieser war sein kluger Berater, Freund und schließlich Nachfol ger geworden. Das Gesicht Errares verriet wenig von der wilden Bewegtheit seiner Vergangenheit. Die beiden Männer nahmen nach feierlicher Be grüßung auf hochlehnigen Stühlen Platz. 124
Ras Dajokare wartete, und Ras Atto Errare ließ das Schweigen wirken. Endlich sprach Errare mit klangvoller, dunkler Stimme, in der suggestive Kraft mitschwang. »Du bist gekommen, Ras Dajokare, um den letzten Auftrag deines Vaters zu erfüllen?« Dajokare nickte würdevoll. »Du sagst es, Ras Errare. Ich selbst war es, der meinen Vater zu einem Bündnis mit dir drängte und ihn soweit brachte, daß er sich kurz vor seinem Tode endlich entschloß. Darum soll meine erste Tat sein, daß ich meinen Stamm aus der Sklaverei dieses Ghogoli befreie!« »Auch Atto Errare ist ein strenger Herr«, erwiderte sein Gegenüber bedeutungsvoll. Dajokare sah ihn verwundert an. »Du? Ich habe nie gehört, daß du die jungen Män ner aus den Stämmen herausholst und sie als Sklaven nach Arabien bringen läßt, daß du die jungen Mäd chen den Soldaten zur Willkür schenkst, daß du…« Errare lächelte. »Das nicht, aber ich verlange unbedingte Treue. Du kennst die Voraussetzungen?« »Ich kenne sie und bin bereit, sie zu erfüllen. Du schützt deine Freunde und sorgst dafür, daß sie inner halb ihres Stammes in Frieden leben können – es ist nur recht und billig, daß wir es dir vergelten, wo es not tut. Eigentlich ist es Sache des Kaisers, aber…« 125
»Der Kaiser ist weit und Ghogoli nah«, vollendete Errare. »Hast du bedacht, daß du mit deinen Leuten einen Teil eurer Freiheit einbüßen wirst? Ihr müßt euch unterordnen, soweit es für das Land nötig ist.« Dajokare lächelte bitter. »Unsere Freiheit? Wir sind augenblicklich Skla ven Ghogolis. Wenn er erfährt, daß ich bei dir war, wird er mich peitschen oder töten lassen, obwohl ich ihm nie Treue geschworen habe. Doch warum tust du, als wolltest du mich zurückschrecken? Ich habe gehofft, mit offenen Armen empfangen zu werden?« »Du wirst mit offenen Armen empfangen, Ras Da jokare«, sagte Errare langsam. »Ich halte dich nur zurück, weil du nicht in der Begeisterung einer Mi nute über das entscheiden sollst, was ich ein Leben lang von dir fordere. Und dann muß ich dir noch Verschiedenes enthüllen. Du kennst zwar die Bedin gungen unseres Bündnisses, nicht aber deren Gründe und Voraussetzungen. Über diese will ich mit dir sprechen. Du bist jung und klug, so daß ich hoffe, von dir verstanden zu werden.« Dajokare verneigte sich. »Ich werde mich bemühen.« Atto Errare lehnte sich zurück und legte die Fin gerspitzen gegeneinander. Dann fuhr er fort: »Das heutige Kaiserreich Abessinien besteht aus zwei in jeder Hinsicht verschiedenen Gebieten – aus dem Gebirgsland des Habesch im Nordwesten, aus dem 126
Hügel- und Flachland im Südosten. Das Kerngebiet des Reiches ist der Habesch. Hier wurden die Amha ra einst groß, mächtig und weltberühmt. Der Nieder gang setzte in dem Augenblick ein, in dem sie das Flachland eroberten, das leicht zu regieren war, und zugleich das Bergland der Herrschsucht kleiner Stammeshäuptlinge überließen. Bis heute ist es so geblieben, daß der Kaiser von Abessinien in Wirk lichkeit nur über das südöstliche Land herrscht, wäh rend der Habesch sein eigenes Leben lebt und den Kaiser nur sehr bedingt als Oberhaupt anerkennt. Die Macht des Kaisers liegt außerhalb des Berglandes und ist nicht groß genug, um dieses ihm Untertan zu machen. Auch das ist dir bekannt?« »Gewiß. Was sollte der Kaiser gegen einen Gho goli oder gar gegen einen Atto Errare ausrichten? Er kann keinen Krieg gegen den Habesch führen.« »Es genügt ihm, daß die Fürsten des Habesch keine Fremden als Herrn anerkennen. Die fortwährende Zwietracht dieser Fürsten sichert ihn vor unliebsamen Überraschungen. Der Habesch würde seiner Macht erst dann gefährlich werden, wenn er unter der herr schenden Hand eines Mannes geeint sein würde.« »Es ist dein Ziel, alle Stämme zu einigen?« »Du sagst es, Ras Dajokare. Mit der Überwindung Ghogolis werde ich es erreicht haben.« »Und dann richtet sich deine Macht gegen den Kaiser?« 127
»Nein! Wenn das Kaiserreich Abessinien in sei nem bisherigen Zustand verharren könnte, würde ich keinen Finger rühren, um das innere Kräfteverhältnis zu verschieben, um den Habesch in meine Gewalt zu bringen. Ich würde mich mit dem zufrieden geben, was mir Bajenna hinterließ. Aber es wirken auf das Reich gewaltige Kräfte von außen ein, die es in der nächsten Zeit bereits völlig verändern würden, wenn es nicht gelänge, meine Pläne durchzuführen. – Wenn die Einigung der Gebirgsstämme nicht gelingt, ist Abessinien in einigen Jahren eine Kolonie, der Habesch ein Industrievorort und seine Bewohner Enteignete, Sklaven oder Tagelöhner.« Dajokare strengte sich an, bekannte aber schließ lich: »Du sprichst Worte, deren Sinn ich nicht zu fas sen vermag.« Atto Errare beugte sich vor. »Weißt du, womit Ghogoli die Waffen bezahlt, die er kauft?« »Mit Sklaven und Gold.« »Woher hat er das Gold?« »Er läßt es am Wekra-Wekra aus dem Fluß wa schen.« Errare nickte. »Gold ist sehr wertvoll. Wer das Gold besitzt, ist mächtig und stark, viel mehr, als du es bis jetzt ge wußt hast. Im Habesch gibt es aber sehr viel Gold. Du weißt, daß ich selbst Gold ausgraben lasse. Nun, 128
aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Habesch eines der goldreichsten Gebiete der Erde. Es ist dir ferner bekannt, daß in unseren Bergen Edelsteine gefunden werden, sogar in großer Menge. Vermutlich wird man bei näherer Nachforschung noch auf verschie dene wertvolle Metalle stoßen. Die Abenteurer und Gesindel der ganzen Welt werden hier zusammen strömen und aus dem Habesch eine wüste Schenke machen. Hinter den fremden Soldaten werden die Ingenieure und Arbeiter auftauchen. Sie werden Bergwerke, Schächte und Fabriken anlegen, in denen die Amharas dann als Tagelöhner arbeiten dürfen, wenn sie nicht verhungern wollen. Die Schätze des Landes werden hinausgehen und den Erobererstaat reich machen, während die eigentlichen Bewohner des Habesch in Armut und Elend verkommen wer den.« Dajokare hatte sicher nicht alles begriffen, be stimmt aber das Notwendigste. Sein Gesicht zeigte scharfe Anspannung, und die Augen lagen mit einer gewissen Starre auf Atto Errare. Ras Dajokare sprang auf. »Ich habe mich schon entschieden, als ich zu dir kam, doch nun will ich dir erst recht dienen. Selbst wenn Ghogoli ein besserer Herr wäre – was sollte ich noch bei ihm, nachdem du mir das alles gesagt hast? Was soll ich noch bei Ghogoli?« Errare lächelte. 129
»Es wäre denkbar, daß er dich plötzlich zu seinem Freund macht und dir mehr verspricht, als ich dir je versprechen kann.« »Hältst du mich für einen Narren?« »Nein«, erwiderte Errare gelassen, »schon deshalb nicht, weil es für solche Torheiten zu spät sein wür de. Du bist also bereit, mir den Treueschwur zu lei sten?« »Ja.« Dajokare reckte sich. »Ich …« »Warte«, unterbrach Errare, »du brauchst jetzt nicht zu schwören. Das hat Zeit, bis Ghogoli vernich tet ist. Vorläufig genügt mir dein Wort. Das, was du im Kampf gegen Ghogoli leisten wirst, wird mir mehr sagen als jeder Schwur.« »Ah, du hast Aufträge für mich?« »Ja. Du mußt das deine tun, um Ghogolis Macht zu brechen.« »Ich bin bereit dazu. Doch Ghogoli ist stark und mächtig. Wie willst du deine Pläne gegen ihn durch führen?« Errare sah ihn fest an. »Auch das sollst du wissen, soweit es nötig ist. Aber laß dir zuvor sagen, daß ein einziges unbedach tes Wort über das Folgende dir den Tod bringen wird. Du verstehst mich?« »Ja. Ich bin kein Schwätzer.« »Ich weiß es«, begütigte Errare. »Wenn du es wärst, würdest du nicht hier sitzen. Also höre: Ras 130
Ghogoli hat insgesamt elf Stämme hinter sich, oder besser unter sich, auf die er seine Macht stützt. Einen dieser Stämme vertrittst du. In der entscheidenden Stunde werden sich gleichzeitig mit deinem Stamm noch fünf andere nicht gegen mich, sondern gegen Ghogoli wenden.« »Ah.« »Das allein wird nicht genügen, um die Macht Ghogolis zu brechen. Sein Heer ist stark und gut be waffnet. Er hat ausgezeichnete Offiziere. Diese Offi ziere begreifen allmählich, daß das Schicksal des Habesch nicht zwischen Ghogoli und Atto Errare entschieden wird, sondern zwischen dem geeinigten Habesch und den Fremden.« »Das heißt…« »Das heißt«, vollendete Errare ruhig, »daß Ghogo li in der entscheidenden Stunde eine Unterredung mit seinen besten Offizieren haben wird, in der ihn diese fragen werden, ob ihm sein Harem wichtiger ist als der Habesch.« »Er wird sie alle töten lassen.« »Wenn er noch die Macht dazu besitzt. Ghogoli scheint augenblicklich noch sehr stark zu sein, in Wirklichkeit ist seine Macht jedoch nicht mehr viel wert. Meine Beauftragten sitzen in seiner unmittelba ren Nähe. Ghogoli ist ein entschlossener Kämpfer, dessen Stärke darin liegt, daß er ohne Rücksicht auf andere für sich selbst kämpft, aber ich glaube nicht, 131
daß er sich lange wird halten können. Ich habe meine Vorbereitungen sehr sorgfältig getroffen.« »Auch Ghogoli ist eifrig tätig«, gab Dajokare zu bedenken. »Er weiß, daß eines Tages die Auseinandersetzung zwischen uns beiden unvermeidlich kommen muß. Es wird ihm nicht viel helfen.« Dajokare zögerte, bevor er die nächste Frage stellte. »Es heißt – ich hörte, daß er deinen Sohn gefangen hat?« Flüchtig zuckte es wie Schmerz über das Gesicht Atto Errares, aber seine Stimme war gleichmütig, als er antwortete: »Du hast richtig gehört. Ich rief mei nen Sohn zu mir. Er lebt in dem Land, aus dem ich selbst stamme, in Deutschland. Meine Leute warteten in den Hafenstädten des Roten Meeres auf ihn. Ich weiß bis jetzt noch nicht, ob er wirklich meinem Ruf gefolgt ist, aber meine Beauftragten in Hanfila wur den ermordet. Ein Fremder erschien mit dem verein barten Zeichen in Masaua und teilte meinem dortigen Beauftragten mit, daß mein Sohn von den Leuten Ghogolis entführt worden sei. Die Nachricht kam noch am gleichen Tag zu mir. Meine Späher stellten fest, daß tatsächlich Leute Ghogolis einen Europäer durch das Land führten. Ich ließ einen Handstreich versuchen, aber Ghogoli war auf der Hut, so daß meine Leute gar nicht an den Trupp mit dem Gefan genen herankamen. Mehr konnte und wollte ich nicht 132
tun. Heute wird sich der Gefangene bereits in Gho golis Burg befinden. Ich weiß noch jetzt nicht be stimmt, ob es mein Sohn ist, aber ich denke, er wird es sein.« Dajokare war voll Neugierde und Spannung. »Ghogoli wird sehr viele Forderungen stellen, be vor er deinen Sohn freiläßt?« »Ich werde ihm keine einzige erfüllen.« »Dann wird er deinen Sohn töten.« Die Stimme Errares wurde um einen Schein dunk ler, aber sie schwankte nicht. »Wenn jener Gefangene mein Sohn ist, so wird er zu sterben wissen. Der Tod eines Menschen wiegt gering gegenüber dem Untergang eines ganzen Lan des.« »Du bist ein großer Fürst«, sagte Dajokare ehr furchtsvoll. »Doch warum willst du die Macht Gho golis nicht schon jetzt brechen, solange du deinen Sohn noch retten kannst?« »Es ist noch nicht soweit. Je länger ich warte, um so schneller wird Ghogoli fallen.« An der Tür klopfte es. »Tritt ein.« Im Türrahmen erschien Adjda, der Berber. Errare wandte ihm den Kopf zu. »Was ist, Adjda?« fragte er freundlich. Die Stimme des alten Berbers schwang vor Erre gung. 133
»Verzeih deinem Diener die Störung«, bat er. »Soeben ist eine wichtige Nachricht eingetroffen. Der Gefangene, den du für deinen Sohn hältst, ist…« »Was ist mit ihm?« »Er wurde in der letzten Nacht aus den Händen Ghogolis befreit.« Errare atmete tief. »Ah, wie war das möglich? Wer von unseren Leu ten hat das Wagnis unternommen?« »Niemand von uns. Es waren Fremde.« »Fremde? Schnell, berichte, was du weißt.« »Der Trupp mit dem Gefangenen erreichte Ghogo lis Burg nicht mehr, sondern blieb über Nacht in ei nem der Wachthäuser in der Nähe der Ruinenstadt. Noch in den Abendstunden landete ein Flugzeug auf dem Dach dieses Hauses. Ein Weißer und ein Schwarzer drangen ein und holten den Gefangenen heraus, bevor einer der Wächter es bemerkte. Dann wurden die Fremden jedoch entdeckt. Sie flohen aus unbekannten Gründen nicht sofort, sondern blieben im Haus und verteidigten sich. Die Soldaten warfen törichterweise mit Handgranaten und brachten damit das ganze Haus zum Einsturz. Die beiden Fremden wurden unter den Trümmern begraben, aber nicht getötet. Man nahm sie gefangen und brachte sie heu te zu Ghogoli.« »Und mein Sohn?« »Er muß rechtzeitig in das Flugzeug gelangt sein, 134
denn er wurde nicht unter den Trümmern gefunden. Die Leute Ghogolis haben das Flugzeug mit einem Maschinengewehr beschossen. Es flog davon, aber es ist sicher getroffen worden, denn man fand es später zertrümmert mitten in der Ruinenstadt. – Die Insas sen waren nicht aufzufinden. Dein Sohn und die Leu te, die sonst noch in dem Flugzeug waren, sind ver schwunden.« Atto Errare verharrte eine ganze Weile reglos, dann sagte er beherrscht: »Ich danke dir, Adjda. Vielleicht war es eine gute Nachricht, die du mir brachtest. Verständige unsere Leute, daß sie sich um die beiden Fremden kümmern sollen, die den Gefan genen befreiten. Und nun laß uns wieder allein. – Also höre, Ras Dajokare …« 6. »Ich bin frei!« seufzte Bernhard Weser, als das Flug zeug auf die Steinblöcke der Ruinenstadt stauchte und ihn der Ruck aus der Bewußtlosigkeit herausriß. Er hatte es kaum ausgesprochen, als sich in das matt vom Mond erhellte Rechteck des mit unzähli gen Rissen überzogenen Kabinenfensters ein dunkler Kopf schob, der sich dicht anpreßte. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, der Kopf stand als schwachgezeichnetes Schattenbild gegen den helle ren Hintergrund. Übermäßig groß standen die Ohren 135
ab, oben reckte sich ein Horn. »Da ist er schon«, murmelte Hal verblüfft. »Er scheint’s sehr eilig zu haben.« Bei diesen Worten riß er die Scheinwerferlampe heraus und ließ das weiße Licht gegen das Fenster strahlen. Eine Sekunde lang wurde ein verdrücktes Gesicht mit übergroßen Augen sichtbar, dann ver schwand es. »Das nächste Mal knalle ich dem Kerl eins in die Visage«, knurrte er. »Wie steht es mit Ihnen, Mister Weser?« Bernhard Weser hatte sich mühelos aufgerichtet. »Ich bin gerade dabei, festzustellen, ob ich noch alles beisammen habe. Die letzten Tage waren kein Vergnügen, und die Kerle hatten mich heute wieder mal ziemlich zusammengeschnürt.« »Ich werde Sie gleich durchmassieren.« »Danke, das besorge ich selbst. Wo ist Sun Koh?« »In dem Haus, aus dem er Sie befreite.« Weser erschrak. »Verflucht, ist etwas schief gegangen?« »Alles«, bestätigte Hal düster. »Man hat ihn gefangen?« »Nimba blieb aus irgendeinem Grund zurück, und Sun Koh wollte ihn holen. Es kam zu einer Schieße rei, und dann brach das Haus unter einer Explosion zusammen. Mehr weiß ich auch nicht.« »Hm, dann wäre es besser gewesen, Sun Koh hätte 136
mich dort gelassen. An mir liegt lange nicht soviel wie an ihm.« Diese Bemerkung versöhnte Hal. »Jetzt wollen wir aber schnell die notwendigsten Siebensachen zusammensuchen und uns dann aus dem Staub machen.« »Die Maschine muß aufgegeben werden?« »Darauf können Sie sich verlassen.« »Können wir nicht Licht machen?« »Nach Möglichkeit nicht. Man kann oben vom Kamm aus in die Ruinen sehen. – Hallo, was …« Er riß die Sprechdose aus der Tasche. »Hallo, hier spricht Hal Mervin!« »Sun Koh«, kam es leise zurück. »Sir!« schrie Hal auf. »Sie leben!« »Wie du hörst. Hast du Weser in Sicherheit brin gen können? Wie steht’s um dich und Weser?« Hal riß sich zusammen. »Das Flugzeug wurde durch ein Maschinengewehr beschossen. Ich stieg auf, als das Haus zusammen brach. – Der linke Schraubenflügel hemmte und ver sagte schließlich ganz. – Ich konnte die Maschine gerade noch zur Ruinenstadt bringen und dort an dem freien Platz landen. Weser ist noch erschöpft, sonst aber in Ordnung. Ich habe einen kleinen Schuß am Arm, ganz bedeutungslos. Die Maschine muß aufgegeben werden. Ich will mich mit Weser in ein Versteck zurückziehen und dann sehen, was weiter 137
zu machen ist.« »Gut, ich hatte mit noch Schlimmerem gerechnet. Die Verantwortung für Weser liegt auf dir, weil du nicht sofort aufgestiegen bist!« »Sie sind mir böse, Sir?« »Das wäre zwecklos. Ich stelle eine Tatsache fest. Du mußt unbedingt verhüten, daß Weser wieder ge fangen wird. Das soll deine Hauptaufgabe sein. Alles andere ist erst in zweiter Linie wichtig. Du darfst dich nur an Peters wenden, vergiß das nicht. Wir werden Verbindung halten, sorge dich aber nicht, wenn du nichts mehr von mir hörst.« »Wo sind Sie denn, Sir? Sind Sie verletzt, ver wundet?« »Keins von beiden, nur noch etwas benommen und ungemütlich eingeklemmt. – Ich liege irgendwo unter den Trümmern des Hauses, man ist jedoch schon dabei, mich auszugraben.« »Können Sie nicht ausreißen?« »Meine Waffen sind weg, und ich denke, daß der Trümmerhaufen gut umstellt sein wird. Außerdem weiß ich noch nicht, wie es um Nimba steht.« »Lebt er?« »Er lebt, ich höre ihn durch die Trümmer hindurch fluchen und schimpfen. Dabei fragt er mich ununter brochen, ob ich noch lebe. Auf den Gedanken, deine Welle zu schalten, ist er anscheinend noch nicht ge kommen. Ich werde anschließend mit ihm sprechen. 138
Vermutlich ist ihm auch nicht viel geschehen, aber gefangen ist er sicher. Schluß, man kommt durch.« Hal steckte die Sprechdose weg. Sein Gesicht war jetzt wieder heiter wie gewöhnlich. »Na also«, meinte er befriedigt, »habe ich’s nicht gleich gewußt, daß den beiden nicht viel passieren kann? Sie sind durch das zusammenstürzende Haus verschüttet worden und kommen nun unversehrt wieder ans Tages- oder Nachtlicht.« »Als Gefangene?« Hal zuckte mit den Schultern. »Das natürlich sowieso. Aber nun los, wir müssen fort, verduften, sonst hebt man uns hier noch aus. Was brauchen Sie? Hier ist ein Gewehr, Patronen, Pistolen…« Wenige Minuten später hatten sie alles zusam mengetragen, was für die Zukunft nötig schien. Sie bepackten sich, warfen das andere in Bündel hinein und waren endlich reisefertig. Hal wollte gerade die Tür öffnen, als der »Teufel« zum zweitenmal sein Gesicht an die Scheibe drückte. Mit einem Ruck riß Hal die Tür zurück und sprang auf den erschrocken Zurückweichenden zu. Der rutschte von dem Steinbrocken ab, auf dem er ge standen hatte, und schlug hin, so daß sich Hal nur auf ihn draufzusetzen brauchte. Mit einem kräftigen Ruck drehte er ihn auf den Rücken. Es war ein Eingeborener, der sehr jung war, mehr 139
Knabe als Mann. »Junge, Junge«, murmelte Hal überrascht, »was hast du dich denn hier herumzutreiben? Du siehst mir gerade so aus, als ob du zu Hause ausgerissen wärst. Wer bist du? Ach, du kannst mich natürlich nicht verstehen, was ich dir erzähle. Na, da wollen wir mal…« Hal geriet einigermaßen aus der Fassung, als der Eingeborene plötzlich zu reden begann und dabei die englische Sprache gebrauchte. Das Englisch klang reichlich merkwürdig, aber zur Verständigung ge nügte es. »Ich verstehe dich«, kaute er. »Was haste gesagt?« schrie Hal überrascht und gab den Brustkasten des anderen frei. »Sprichst du etwa zufällig Englisch?« »Ich gute Diener sein – sprechen alles«, verkünde te jener nicht ohne Stolz. Hal schüttelte den Kopf. »Steh auf, halte aber deine Pfoten ruhig. Wer bist du denn?« »Ich sein Saboke – ich sein Diener von Mister Goodyear – guter Freund«, kauderwelschte er. »So, so, du warst also einmal Diener bei einem Mister Goodyear?« übersetzte sich Hal. »Sehr nett, aber mein lieber Schafbock, wie kommst du denn zu dieser mitternächtlichen Stunde hierher?« »Ich sein Saboke – nicht sein Schafbock – ich sein 140
Diener von Mister Goodyear.« Bernhard Weser, der von der Tür der Kabine aus die Szene beobachtete, mischte sich ein. »Mir scheint, er will sagen, daß er jetzt noch der Diener eines Mister Goodyear ist.« Saboke nickte ihm freudig zu. Hal starrte ihn ungläubig an. »Soll das heißen, daß sich dein Herr hier in den Ruinen aufhält? Los, wir haben nicht viel Zeit. Wenn ich nicht irre, kommen dort oben schon die Leute, die uns gern die Hand schütteln möchten.« Saboke spähte nach den Fackeln am Hang. »Ghogoli sein?« fragte er. »Sie euch verfolgen?« »Also los, beeile dich mit deinen Enthüllungen, sonst müssen wir dich gefesselt in eine Ecke legen.« »Tun Sie ihm nichts«, kam eine fremde Stimme hinter einem der Steine hervor. »Er ist tatsächlich mein Diener und handelt in meinem Auftrag.« Seitlich stand jetzt ein zweiter Fremder, ein Wei ßer mit grauer Mähne und einem Knebelbart, der wie ein zerfaserter Strick am Kinn hing. Er trug Shorts, in seinem Gürtel hingen Pistolen. Er machte eine Verbeugung. »Professor Goodyear aus Sidney in Au stralien.« »Ich heiße Hal Mervin und dieser Herr Bernhard Weser. Wie kommen Sie mit diesem Javanesen aus gerechnet hierher?« Goodyear grinste etwas. 141
»Ihre Überraschung kann nicht größer sein als die meine. Übrigens ist das kein Javanese, sondern ein Danakil, der in Abessinien geboren ist. Und zweitens möchte ich mir die Frage erlauben, ob es richtig ist, daß Sie von Ghogolis Leuten gesucht werden?« »Es ist richtig, wenn ich mir die Freiheit einer Antwort nehmen darf«, sagte Hal grinsend. »Dann darf ich vorschlagen«, gab Goodyear höf lich zurück, »daß Sie sich vor allen Dingen meiner Führung anvertrauen und mir in meinen sicheren Schlupfwinkel folgen. Es wäre mir wie wohl auch Ihnen peinlich, von den Soldaten Ghogolis bemerkt zu werden.« Hal tauschte einen Blick mit Weser, dann nickte er. »Gehen wir.« Weser reichte ihm das Bündel zu, dann folgten beide dem Professor und seinem Diener. Das Flug zeug ließen sie offen stehen. Was es darin zu zerstö ren gab, hatte Hal schon vorsorglich vernichtet. Sie brauchten nicht lange zu gehen. Goodyear tauchte im Dunkel einer säulengetragenen Halle un ter. Sie schritten über gut erhaltenen Steinboden, wanderten durch dunkle, kleine, fensterlose Kam mern, hörten schließlich das Scharren eines Steins und fühlten dann steinerne Stufen unter den Füßen. »Nur einige Stufen recht vorsichtig, wenn ich bit ten darf«, sagte Goodyear. »Sobald ich die Steinplat 142
te, die mein Versteck abschließt, wieder vorgelegt habe, können wir Licht machen. – So, die Platte liegt vor. Mach Licht, Saboke.« »Streng dich nicht erst an, Schafbock«, meinte Hal und ließ die helle Scheinwerferlampe aufflammen. »Natürlich, ich habe es mir gedacht, daß du das Talg licht anbrennen willst. – Die Nachtlampe habe ich doch schon einmal gesehen, vom Flugzeug aus.« »Das war ich«, erwiderte der Professor. »Sie er lauben, daß ich nun vorangehe?« »Bitte sehr. Können Sie noch, Mister Weser?« Der junge Deutsche lachte. »Natürlich, ich bin nur zum Umfallen müde und hungrig.« »Oh«, rief Goodyear entsetzt. »Sie sind hungrig? Eile, Saboke, bereite unseren hochgeehrten Gästen ein Mahl.« Saboke zeigte grinsend sämtliche Zähne und rann te los. Der Gang dehnte sich endlos. Er war mehrere Me ter breit und an jeder Stelle hoch genug, daß man be quem aufrecht gehen konnte. Wände, Decke und Bo den bestanden aus sauber bearbeitetem gewachsenem Fels. »Ein erstaunlicher Tunnel«, meinte Hal nach einer Viertelstunde. »Ist er nicht bald zu Ende?« »Das Ende erreicht man erst in fünf Stunden.« »Du liebe Güte, da haben wir ja noch einen an 143
ständigen Marsch vor uns.« »Wir sind gleich am Ziel«, tröstete der Professor. Endlich weitete sich der Gang zu einem geräumi gen Saal. Er enthielt eine Unmasse steinerner Bruch stücke von Säulen, Skulpturen, Figuren und ande rem, die dicht nebeneinander den Boden bedeckten. Da an jedem Einzelstück ein Zettel klebte, sah es un gefähr aus wie ein Museum im Umzug. »Das ist meine Sammlung wertvoller Funde«, er klärte Goodyear mit unverkennbarem Stolz. Sie schritten durch einen kurzen Gang weiter und erreichten einen zweiten Raum, der nur die Größe eines Zimmers besaß. An ihn schloß sich, wie sie gleich darauf merkten, noch eine Reihe ähnlicher Räume an, insgesamt eine förmliche Wohnung in der Tiefe. Wohnlich waren die Zimmer erst durch die beiden Männer gemacht worden, wenigstens die beiden, die von ihnen benutzt wurden. Felle, geflochtene Matten und Decken europäischer Herkunft bedeckten den Boden und die Lager an den Wänden. In der einen Ecke stand ein steinerner Würfel, der als Tisch dien te, davor ein aus Ästen und Schilf zusammengeflick ter Stuhl. Überall lagen Gegenstände verschiedenster Art herum, vom Tropenhelm bis zu zerbeulten Kon servenbüchse. Auf dem Tisch lagen zahllose Papier bogen in Stößen aufgeschichtet, ein Teil davon war beschrieben. Im ganzen war das ein erstaunliches 144
Durcheinander, das den Dienereigenschaften Sabo kes nicht gerade ein gutes Zeugnis ausstellte, aber es wirkte unbedingt anheimelnd und wohnlich. Im Ne benraum loderte ein offenes Feuer. Dort hockte Sa boke und bereitete die aufgetragene Mahlzeit. Sie ließen sich auf den Decken nieder. Hal Mervin packte trotz des Professors sanften Protests seine ei genen Vorräte aus und gab davon Weser zu essen. Saboke brachte dazu einen heißen Trank, den man bei einigem Wohlwollen als Tee bezeichnen konnte. Weser war mit seinen Kräften am Ende, deshalb hatte er in der ganzen Zeit kaum den Mund aufge macht. Kein Wunder, daß er zugriff und dann ein schlief, bevor er noch den letzten Bissen richtig hin unter geschluckt hatte. Goodyear breitete einige Decken über ihn aus und meinte mitfühlend: »Er ist erschöpft, der Schlaf wird ihm gut tun. Wenn es Ihnen recht ist, legen Sie sich ebenfalls …« »Danke«, wehrte Hai ab, »ich habe keine Lust zum Schlafen. Außerdem bin ich viel zu neugierig und möchte erst einmal Verschiedenes von Ihnen hören. Oder sind Sie müde?« »Durchaus nicht. Unsere Wünsche begegnen sich. Es liegt mir fern, Sie etwa aushorchen zu wollen, aber immerhin scheint es mir wissenswert zu sein, wieso Sie …« Hal sah ein, daß er den Anfang übernehmen muß 145
te, und wartete deshalb gar nicht ab, bis der Professor seinen Bandwurm herausgezerrt hatte. »Unsere Geschichte wird schneller erzählt sein als die Ihre, Herr Professor. Mein Begleiter wurde in Hanfila gefangen und verschleppt. Wir, das heißt, Sun Koh, mein Kamerad Nimba und ich erfuhren davon und folgten den Entführern, ich im Flugzeug, die beiden anderen zu Fuß.« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach der andere. »Seit wann läßt Ghogoli Europäer außerhalb seines Gebietes einfangen?« »Er hatte in diesem Fall besondere Gründe, über die zu sprechen ich nicht ermächtigt bin. Sie nehmen es mir bitte nicht übel, wenn ich darüber schweige?« »Das liegt mir fern. Bitte, berichten Sie weiter.« »Wir fanden keine Gelegenheit, den Gefangenen zu befreien. Heute nacht wurde der Versuch ge macht. Es gelang im großen und ganzen, nur blieben Sun Koh und Nimba in den Händen der Wächter. Das Flugzeug wurde beschädigt, und ich konnte ge rade noch zwischen den Ruinen landen. Dort fanden Sie uns. Das wäre alles.« »Hm«, sagte Goodyear, »es ist ein seltsamer Zu fall. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich hier Besuch durch Europäer erhalten würde. Aber das Leben geht sonderbare Wege.« »Besonders wenn diese von Australien nach Abes sinien führen«, fiel Hal ein. 146
Goodyear lächelte. Hal merkte in diesem Augen blick, daß er den Mann unterschätzt hatte. »Darin liegt nichts Absonderliches«, antwortete er. »Ich bin Altertumsforscher und bearbeite ein be stimmtes Problem, daß Sie wohl kaum weiter inter essieren wird. Gewisse Hinweise zwangen mich, in Abessinien Nachforschungen anzustellen. So reiste ich hierher, letzten Endes, um diese Ruinenstadt zu entdecken, unter der wir uns befinden. Sie bemerken, daß ich sie gefunden habe.« »Das klingt sehr einfach, aber wie ist es Ihnen überhaupt gelungen, bis hierher vorzudringen, ohne Ghogoli in die Hände zu fallen?« »Ich machte es ähnlich wie Sie. Ein Flugzeug brachte mich und meinen Assistenten, der zugleich Pilot war, ungehindert ins Land. Wir entdeckten die Stadt zunächst nicht, sondern mußten in einem engen bewaldeten Tal notlanden. Dort büßte ich leider mei nen Begleiter ein. Er schoß nicht schnell genug, als ihn ein Leopard anfiel. Das gleiche Raubtier war es vielleicht, das ich einige Tage später erlegte, als es sich gerade auf Saboke stürzen wollte. Saboke war Sklave Ghogolis, hatte die Flucht gewagt und war da bei in jenes Tal geraten. Er zeigte sich für seine Ret tung sehr dankbar und wurde mein Diener. Er war es auch, der den Eingang in diese unterirdische Welt entdeckte. So gelangte ich in die gesuchte Ruinenstadt und kam zu der schönsten Stunde meines Lebens.« 147
»Das Flugzeug befindet sich noch in jenem Tal?« erkundigte sich Hal nüchtern. »Zweifellos. Wir haben es versteckt, so gut er ging, außerdem kommt so leicht kein Mensch in die abgelegene Schlucht. Ich kann natürlich nicht sagen, ob es noch benutzbar ist.« »Vielleicht bietet sich durch das Flugzeug ein Weg, eines Tages fortzukommen«, sagte Hal hoff nungsvoll. »Ich werde mir die Maschine jedenfalls einmal ansehen.« »Es wird Ihnen kaum möglich sein, aus den Bäu men heraus aufzusteigen«, dämpfte Goodyear die Erwartungen. »Ja, aber wie wollen Sie denn hier wieder fort kommen? Sind Sie schon lange hier?« »Länger als ein Jahr.« »Und Sie sind nie entdeckt worden?« »In diese Ruinen kam bis gestern nie ein Mensch.« »Aber Sie müssen doch einmal zurück?« »Darum brauche ich mich einstweilen nicht zu kümmern. Ich habe noch monatelang zu tun, bevor ich mit meiner Arbeit fertig bin. Es ist ein Glück, daß ich mir genügend Papier und Tinte mitnahm.« Hal schüttelte den Kopf und fragte offen: »Haben Sie denn wenigstens herausgekriegt, ob diese Stadt tatsächlich das alte Ophir ist?« Der Professor riß die Augen auf. »Wie bitte? Wie kommen Sie auf diese Vermutung?« 148
Hal hob überlegen die Schultern. »Gott, man hat doch so seine Gedanken.« Goodyear war etwas aus der Fassung geraten. Er rückte nervös an seiner Brille. »Man hat so seine Gedanken«, murmelte er. »Das scheint Ihnen so selbstverständlich zu sein? Ich habe immer geglaubt, daß ich der einzige Mensch sei, der jene verschollene Stadt Ophir in dieser Gegend sucht. Und nun kommt ein gewöhnlicher junger Mann – verzeihen Sie diesen Ausdruck – und fragt mich, ob das Ophir ist? Was wissen Sie eigentlich von Ophir?« Hal grinste. »Genau das, was mir Sun Koh vor einigen Stun den darüber erzählt hat. Er war es nämlich, der in diesen Ruinen Ophir vermutete.« »Ah, ist Ihr Sun Koh zufällig Altertumsforscher?« »Er denkt gar nicht daran.« »Aber wenn er solche außergewöhnlichen Vermu tungen hat?« »Er ist ein außergewöhnlicher Mensch, Herr Pro fessor. Also stimmt das mit Ophir?« »Natürlich stimmt es. Wir sitzen unter den Ruinen von Ophir, jener geheimnisvollen Stadt, die in das Dunkel der Vergessenheit tauchte. Mir blieb es vor behalten, sie aufs neue zu entdecken. – Sie ist wun derbar, einzigartig. Die gewaltige Fülle von Material, das ohne jede Ausgrabung zu gewinnen ist, dürfte 149
auf der ganzen Welt geradezu einzigartig sein. Es war ursprünglich meine Absicht, mich auf mein be sonderes Teilgebiet zu bescheiden, aber es hat sich als unmöglich erwiesen. Man muß diese Ruinen voll ständig erschließen, obwohl mir dadurch das eigent liche Ziel aus den Händen gleitet. Diese Ruinen sind zu meiner Lebensaufgabe geworden, obwohl ich ur sprünglich nur beabsichtigte, neue Beweise für mei ne Atlantis-Theorie zu sammeln.« Hal beugte sich vor. »Für was?« »Für meine Atlantis-Theorie«, wiederholte Good year. »Vor vielen tausend Jahren muß es ein Kultur reich gegeben haben, das von der heutigen Mensch heit als Atlantis bezeichnet wird. Aber das wird Sie kaum interessieren, denn sicher haben Sie von Atlan tis noch nichts gehört.« Hal lachte kurz. »Doch, eine ganze Menge sogar.« Wieder riß Goodyear die Augen auf. »Das ist erstaunlich.« »Wieso?« »Nun, es ist immerhin ein Spezialwissen, und Sie sind noch jung!« Goodyear blinzelte ihn mit aufstei gendem Mißtrauen an. »Ich könnte Ihnen jedoch ei nes zeigen – wenn es Sie interessiert und nicht zuviel Mühe macht, mir zu folgen?« »Selbstverständlich nicht.« 150
Sie gingen durch verschiedene kleine Räume hin durch zu einer Kammer, die mit allerlei gesammelten Stücken gefüllt war. In der Mitte stand ein steinerner Sarkophag. Die schwere Deckplatte lag zerbrochen daneben. »Es ist bei der Öffnung leider kaputt gegangen«, erklärte der Professor, »aber ich hoffe, daß sich die Mumie trotzdem hält. Bitte, sehen Sie sich das an.« Hal starrte auf den braunen eingeschrumpften Kopf, der sich nicht gerade appetitlich im Licht der Lampe zeigte. »Eine ägyptische Mumie?« tippte er. »Eben nicht«, triumphierte der Professor. »Sie er innert an die ägyptischen Mumien, ist aber doch wieder ganz anders. Sie stammt aus einer Zeit, die vor Beginn der ägyptischen Kultur liegt. Ihr Alter dürfte annähernd zehntausend Jahre betragen. Und die Schriftzeichen auf dem Stirnband dort sind keine ägyptischen Zeichen, sondern atlantische.« Hal beugte sich nieder. »Das dürfte zufällig stimmen«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Wissen Sie, was sie bedeuten?« »Leider nicht.« »Dann will ich’s Ihnen verraten. Sie bedeuten so viel wie: Der Leib harrt der Unendlichkeit in der Ferne, aber die Seele fliegt in die Heimat.« Der Professor packte ihn erregt am Rock. »Sie lügen!« 151
Hal machte sich energisch los. »Wieso denn?« »Sie lügen«, wiederholte Goodyear drängender. »Es gibt keinen Menschen, der diese Zeichen lesen kann.« Hal ahnte, wie stark seine Übersetzung auf den Mann wirken mußte. Er sagte deshalb beruhigend: »Sie irren sich, Herr Professor. Ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, daß meine Übersetzung stimmt. Es gibt schon Menschen, die solche Zeichen kennen. Sie sind gar nicht so selten. Wenn Sie sich einmal der Mühe unterziehen würden, die Ruinenstadt von Yu katan zu durchforschen, würden Sie öfter auf solche Zeichen stoßen. Ich habe ihre Bedeutung zufällig be halten, weil sie in der gleichen Anordnung sehr oft als Grabspruch wiederkehren.« Goodyear stützte sich auf den steinernen Rand. »Ich träume«, murmelte er. »Ich träume. Wer sind Sie?« »Der Freund eines Mannes, der ein lebhaftes In teresse an Atlantis hat.« »Ich hörte nie von einem Wissenschaftler, der die Sprache…« »Er ist kein Wissenschaftler.« »Um so schlimmer«, stöhnte Goodyear. Eine Weile stand er reglos, dann wandte er sich wortlos um und ging zu dem Wohnraum zurück. Hal folgte. 152
Als sie sich wieder auf den Decken gegenübersa ßen, hatte der Professor seine Ruhe wiedergewonnen. »Ich wäre begierig darauf«, sagte er gefaßter, »Ih ren Sun Koh kennenzulernen. Ihr Wort in Ehren, aber ich bin nicht imstande zu glauben, daß Sie jene Zeichen auf dem Stirnband richtig deuteten und übersetzten. – Außerdem würde es ja auch keinen Widerspruch zu meiner Theorie bedeuten. Vielleicht ist es voreilig, von Atlantis zu sprechen, aber zwei fellos hat hier in vorägyptischer Zeit ein hochentwik keltes Kulturvolk gelebt, auf das sich alle AtlantisGerüchte beziehen könnten.« Hal lächelte. »Daher der Name Atlantis, nicht wahr? Ich kann mich natürlich nicht mit Ihnen herumstreiten, Herr Professor, aber Sun Koh würde Ihnen sehr schnell beweisen, daß diese Mumie ein Atlante gewesen sein kann, ohne daß Atlantis hier gelegen hat. Sie graben gewissermaßen eine englische Leiche in Singapur aus und wollen behaupten, daß England in Singapur läge.« »Wie meinen Sie, bitte?« »Kennen Sie das Troano-Manuskript?« »Das einzige Maya-Dokument, das erhalten ge blieben ist?« »Eben das.« »Ich kenne es.« »Sie wissen auch, daß sein Inhalt durch die stei 153
nernen Inschriften an einem Maya-Mausoleum auf Yukatan, die durch den Gelehrten Le Plongeon ge deutet wurden, fast im Wortlaut bestätigt wird?« »Allerdings, doch woher wissen Sie …?« »Bloß aufgeschnappt!« wehrte Hal ab. »Ich wun dere mich vielleicht über Sie. In diesen Aufzeich nungen ist doch klipp und klar gesagt, daß die Maya, die sich selbst als atlantische Kolonisten bezeichnen, über den Stillen Ozean nach Westen zogen, die Kü ste Afrikas erreichten und über Abessinien hinweg ins Nildelta gelangten. Genügt Ihnen das nicht?« »Aber…« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach Hal. »Ich kann mir denken, daß Sie eine Reihe von Gegen gründen bringen wollen. Es wäre mir lieber, wenn Sie sich damit gedulden würden, bis Sie sich einmal mit Sun Koh darüber unterhalten könnten. Ich habe mein Wissen nur aufgeschnappt, und wenn ich Ihnen einen oder zwei Gründe nicht widerlege, glauben Sie schließlich doch noch, daß Ihre Theorie stimmt. Ich kann Ihnen augenblicklich nicht mehr sagen.« »Das ist es ja eben«, stürmte Goodyear los. »Aus Mangel an Beweisen …« »Nee«, unterbrach Hal, »aus Müdigkeit. Mir fallen allmählich die Augen zu.« »Oh«, entfuhr es dem andern bestürzt. »Das – dar an habe ich nicht gedacht. Ich bitte sehr um Verzei hung.« 154
»Nicht zu verzeihen«, sagte Hal gähnend, kippte auf die Seite und war weg. Er spürte nicht mehr, wie ihm Goodyear Decken überwarf. * Ghogoli. Er saß in einer Art Thronsessel, der durch seinen Körper voll ausgefüllt wurde. Er wog sicher gut sei ne drei Zentner, konnte aber nicht etwa als fett be zeichnet werden. Ghogoli war ein Fleischriese, ein Kerl mit mächtigen Muskelwülsten, der allein schon dadurch auf gewöhnliche Menschen beeindruckend wirkte. Seine Augen funkelten und glühten in Wut und Grausamkeit. Zweifellos eine Bestie – und klug wie eine solche. Ghogoli war ein Tyrann, vor dem Hunderttausende zitterten. Ghogoli ließ seinen beiden Gefangenen sehr viel Zeit zur Musterung, weil er selbst sich Zeit nahm, sich die beiden anzusehen. Sie hatten – äußerlich gesehen – schwer gelitten. Außerdem hatte das fast zwei Tage lange Beisam mensein mit der Leibgarde auch nicht gerade för dernd gewirkt. Die Kleidung der beiden war zerris sen, verschmutzt, zerdrückt und verlaust, Gesichter und Hände trugen noch die Spuren der Haustrümmer, da die beiden Männer keine Gelegenheit gefunden 155
hatten, sich zu waschen. Fein sahen sie wahrhaftig nicht aus. Auch die Fesseln an ihren Händen verbesserten den Gesamteindruck nicht. Trotzdem stand Sun Koh schlank und edel da, mit jener leichten Lässigkeit, die Überlegenheit und Gleichgültigkeit zugleich ausdrückt. Neben ihm wuchtete Nimba wie in die Erde ge mauert. Verachtung und Trotz lagen in seinem Ge sicht. Man hatte von ihm in stärkerem Maße den Eindruck, daß er im nächsten Augenblick gefährlich werden könnte. Endlich bewegte Ghogoli die Lippen. »So«, stieß er nach finsteren haßvollen Überle gungen heraus, »so, ihr seid also die beiden, die mei nen Gefangenen entführten? Wo habt ihr ihn hinge schafft? Antwortet schnell, sonst lasse ich euch aus peitschen, daß euch die Haut in Fetzen abfällt.« Er sprach Arabisch. In der gleichen Sprache ant wortete Sun Koh: »Spare dir die Drohungen, Ghogo li. Du weißt so gut wie ich, daß wir den Mann in das Flugzeug schafften, daß dieses abstürzte und die In sassen verschwanden. Woher sollten wir ihren Auf enthaltsort kennen?« Ghogoli kniff das rechte Auge zusammen. »Es genügt mir, wenn ihr ihn kennt. Euer Leben steht für den Gefangenen. Schafft ihr ihn wieder her bei, so seid ihr beide frei. Was meint ihr dazu?« 156
Sun Koh zuckte leicht mit den Schultern. »Ich würde dir ins Gesicht lachen, wenn es mir der Mühe wert schien. Selbst wenn der Sohn Atto Erra res wieder in deine Gewalt käme, würdest du nicht daran denken, uns frei zu lassen.« »Rösten werde ich dich lassen, du Hund.« »Tu deinen Gefühlen keinen Zwang an«, gab Sun Koh kalt zurück. Er machte sich wenig Hoffnung, nachdem er diesen Mann gesehen hatte. Der Ras erstickte seine Wut, ja er brachte es sogar fertig, spöttisch zu grinsen. »Du scheinst ja recht begierig darauf zu sein. Aber so eilig habe ich es nicht. Vielleicht bist du zu wert voll dazu?« »Wenn das eine Frage sein soll, so drücke dich deutlicher aus. Erhoffst du Lösegeld von mir?« »Lösegeld?« Ghogoli lachte häßlich. »Nun, du wirst noch Gelegenheit bekommen, festzustellen, daß niemand weniger Lösegeld braucht als ich. Aber vielleicht bist du ansonsten zu wertvoll, um zu rö sten. Man wagt nicht ohne Grund so viel für den Sohn Errares. Vielleicht bietet mir Errare für dich ebensoviel wie er für seinen Sohn geboten hatte, vielleicht sogar noch mehr, he?« Sun Koh hob die Schultern und ließ sie wieder fal len. Ghogoli wartete eine Weile, dann sagte er: »Du hast keine Lust, mir Antwort zu geben? Soll ich dich 157
peitschen lassen?« »Wenn es dir Vergnügen macht!« Ghogoli schloß die Augen. »Du scheinst ja deiner Sache sehr sicher zu sein? Weh dir, wenn Errare keinen Wert auf dich legt.« Sun Koh schwieg. Er verstand den Mann nicht ganz. Sobald die Wut in ihm hochschoß, riß er sich zurück. Es entsprach durchaus seiner Natur, einen Gefangenen unter der Folter zu verhören. Es war wirklich erstaunlich, daß er es nicht tat. Wieder begann Ghogoli. »Du bist ein Weißer?« Sun Koh lächelte kühl. »Ich bewundere deine Beobachtungsgabe.« »Schweig«, knurrte Ghogoli wütend. »Wie heißt du?« Sun Koh schwieg. Der Ras ballte die Faust. »Antworte!« »Ich schweige«, klang es verächtlich zurück. Flüche gurgelten zwischen den dicken Lippen her vor. »Hund, du wirst es lernen, zu reden. Man wird dir deinen Stolz abgewöhnen. Ihr beide werdet Gold auswaschen, daß euch die Knochen zerbrechen. Und der Mann, der seinen Gefangenen entweichen ließ, wird euch dabei Gesellschaft leisten. Fort mit euch!« Die Wächter, die hinter den beiden Männern stan 158
den, rissen sie herum und zogen sie hastig hinaus. Ghogoli zischte ihnen Flüche nach. Sun Koh und Nimba wurden durch verschiedene Räume der Burg hindurch wieder ins Freie gebracht, um den Rückweg zur Stadt auf dem schmalen Pfad anzutreten. Ghogoli hatte sich einen fast unangreifbaren Wohnsitz gewählt. Die Burg lag mehrere hundert Meter über der Stadt und konnte nur auf diesem schmalen Pfad erreicht werden, der von ein paar Leu ten mühelos zu verteidigen war. Langsam ging es den Pfad hinunter. – Die Wäch ter hatten es nicht eilig. An einer breiteren Aus weichstelle warteten sie geduldig, bis eine Sänfte von unten heraufkam und vorbeischwankte. In der Sänfte lag ein Mann, der sich beim Anblick des weißen Ge fangenen neugierig vorstreckte und flüchtig grinste. Ein Japaner. An der nächsten Ausweichstelle gab es einen neuen Halt. Wieder wurde eine Sänfte sichtbar. Ihr In sasse war ein Einheimischer. – Auch er starrte zuerst neugierig heraus und ließ dann aber halten und stieg aus. Die Wächter wichen zurück, als er direkt auf die Gefangenen zuschritt. – Finster musterte er sie, trat dann haarscharf heran und sagte laut: »Ihr seid also die Hunde, die den Gefangenen befreiten?« Schnell und leise setzte er auf Englisch hinzu: »Die schwarze Schnur sorgt für euch.« 159
Ohne Pause wurde er wieder laut: »Der große Ras muß eine gute Stunde gehabt haben, daß er euch am Leben ließ.« Nun trat er zurück und herrschte die Soldaten an: »Achtet sorgfältig auf sie.« Die Sänfte nahm ihn auf und trug ihn weiter. Sun Koh nahm sich Zeit, den Zwischenfall zu überdenken. Eigentlich gab es nur zwei mögliche Erklärungen. Naheliegend war, daß Ghogoli durch List versuchte, hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Seltsam schien es jedoch, daß er dazu solche Umwege wählen sollte. Wenn diese Annahme jedoch ausfiel, dann konnte dieser Mann nur ein Beauftragter Errares sein und tatsächlich die Absicht haben, helfend in ihr Ge schick einzugreifen. Nun, diese hoffnungsvolle Ver mutung hatte auch ihre Unklarheiten. Wie sollte aus gerechnet jemand, der offensichtlich am Hofe Gho golis eine wichtige Rolle spielte, im Auftrag und In teresse Atto Errares handeln? Die Stadt nahm sie auf, wenig später ihr Gefäng nis, eine dreckige, leere Steinkammer, die selbst dem Ungeziefer nicht wohnlich genug schien. Man setzte ihnen ein Essen unbekannter Herkunft vor, das sie zu sich nahmen, weil sie Hunger hatten. Als die Nacht kam, warf man ihnen ein paar alte Decken in den Raum und bedeutete ihnen, daß sie darauf schlafen dürften. 160
»Ja, wir wollen schlafen«, sagte Sun Koh zu Nim ba. »Ich glaube, das ist die beste Art, um bei Kräften zu bleiben. Wir werden sie noch sehr nötig haben, wenn wir uns auf die Flucht begeben.« »Sie halten die Flucht für möglich, Sir?« »Ich habe sie nie für unmöglich gehalten, solange wir noch Waffen erreichen konnten. Sicher, wir hät ten nur geringe Chancen.« »Dann wollen wir es heute nacht gleich versu chen?« »Nein, wir werden warten. Wenn ich Ghogoli richtig verstanden habe, werden wir zum WekraWekra gebracht, um dort Gold zu waschen. Ich neh me an, daß sich dort noch bessere Gelegenheiten zur Flucht finden werden. Schade, daß man uns mit un seren Sachen auch die Sprechdosen abgenommen hat.« »Hal wird sich Sorgen um uns machen.« »Es wird ihm an eigenen Sorgen nicht fehlen.« »Ich bin an der ganzen Sache schuld. Ich …« »Hör auf«, sagte Sun Koh kurz. »Deine Vorwürfe sind sinnlos, da sich dadurch der begangene Fehler nicht wieder gutmachen läßt. Wir wollen schlafen.« Also schliefen sie. * Der Wekra-Wekra floß durch eine Landschaft, die 161
man ihrem gesamten Aufbau nach mit einem Boot oder einem Schiffsrumpf vergleichen konnte. Die Kiellinie bildete das breite, sandige Flußbett. An die ses lehnte sich beiderseits eine flache, meist sandige Ebene an, und um diese herum schwangen sich hohe Bergrücken zu einer Ellipse zusammen. Am oberen wie am unteren Ende traten die Berge ganz dicht an den Fluß heran, so daß an diesen Stellen enge Schluchten entstanden, durch die sich der Fluß ge waltsam hindurchpreßte. Die Ausgänge des Tales konnten durch ein paar Wächter leicht bewacht wer den. Die Berge selbst waren unbesteigbar, das hatten zahlreiche mißglückte Fluchtversuche bewiesen. Der Unterschied der Temperatur war sicher, nach Graden gemessen, nicht übermäßig, aber doch groß genug, daß die Männer unter Kälteschauern zitterten und stöhnten. Zwölf Stunden später wagten sie dann vor Hitze wieder nicht zu atmen, weil sie fürchteten, flüssiges Blei in die Lungen zu ziehen. Es gab kein anderes Wasser im Tal als das des Wekra-Wekra. Es kam irgendwoher, floß durch diese Hölle und verschwand irgendwohin. Zum Tal selbst hatte es wenig Beziehung. Die Sklaven Ghogolis schwuren darauf, daß es gif tig sei. Ihre Beine, die zwölf Stunden fast am Tag im Wasser standen, bedeckten sich mit Schwären und eitrigem Ausschlag. Sie schrieben das dem Gift im Wasser zu, in Wirklichkeit waren aber unzureichende 162
Ernährung, Kleider und Wohnung in Verbindung mit allen anderen Verhältnissen schuld. Das Wasser galt als giftig, das hinderte die Gefan genen jedoch nicht, es maßlos zu trinken und sich über den Leib zu spülen, denn die Hitze des Tages war erbarmungsloser als das Gift des Goldes. Es gab keinen Schatten am Wekra-Wekra. Der spärliche Baumbestand, der die Enden des Tales zier te, war nichts für die Sklaven. Sie kamen dort nicht hin, denn diese Gebiete galten schon als Sperrzonen, und wer sich dort sehen ließ, wurde erschossen oder mindestens erbarmungslos verprügelt. Es gab auch keine Nahrung am Goldfluß. Alles, was die Sklaven brauchten, mußte von außen in das Tal geschafft werden. Das hatte für Ghogoli man cherlei Vorteile. Erstens hatte er es in der Hand, die Arbeitsleistung der Sklaven zu regulieren. Wenn sie faul wurden und zu wenig Gold herausholten, gab es einfach nichts zu essen. Ein Hungertag förderte den Fleiß außerordentlich. Die Abhängigkeit von der Le bensmittelzufuhr stellte ein ausgezeichnetes Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin dar. Es gab kei nen unter ihnen, der nicht in jeder Stunde des Tages die Lust zum Aufruhr, zur Meuterei in sich gespürt hätte. Niemals kam es jedoch zu einer geschlossenen Revolte, weil diese einfach mit Aushungern abge würgt worden wäre. Dieser Umstand verbot es den Sklaven auch, gegen ihre Aufseher vorzugehen. 163
So ungefähr sah die Beschreibung des zukünftigen Aufenthalts aus, die Sun Koh am Morgen des näch sten Tages von dem Führer der Wachabteilung er hielt. Der Mann sprach Arabisch und machte einen intelligenten Eindruck. Es lag ihm sicher nichts dar an, seine Gefangenen zu peinigen, denn er sprach ruhig und fast teilnahmsvoll. Drei Stunden nach Sonnenaufgang wurde ein zweiter Trupp von Gefangenen in den Hof eingelie fert. An ihrer Spitze ging Kirin, der Mann, der in Hanfila die Leute Atto Errares ermordet und Bern hard Weser gefangen genommen hatte. Seine Lei densgefährten waren die Männer, die mit ihm in Hanfila gewesen und in Makallo verschont geblieben waren. Ghogoli strafte hart. Dieser Kirin hatte mit seinen Kameraden wahrhaftig alles getan, was in seiner Macht gestanden hatte. Sun Koh wußte, wie gut und geschickt er Weser bewacht hatte. Aber der Gefan gene war weg, und Ghogoli ließ die Verantwortli chen dafür büßen. Am Wekra-Wekra würden sie ar beiten, bis der Tod sie erlöste. Man konnte es Kirin wahrhaftig nicht verdenken, daß er dunkel anlief, als er Sun Koh und Nimba ent deckte. Sobald die Begleitmannschaften zurücktra ten, lief er quer über den Hof auf Sun Koh zu, be schimpfte ihn mit haßerfüllten Augen und schlug blindwütig mit der Faust zu. Sie erreichte ihr Ziel 164
nicht, denn Sun Koh fing sie ab und drehte sie beisei te, daß Kirin wild auffluchte. »Du bist an allem schuld«, kreischte er. »Du un gläubiger Hund hast mich in mein Unglück gestürzt. Du hast den Gefangenen geraubt!« »Das war mein gutes Recht«, wehrte Sun Koh ab. »Du hast meinen Freund in Hanfila gefangen ge nommen und ihn weggeführt, obwohl er dir nichts getan hatte. Hättest du ihn unbehelligt gelassen, wäre dir das alles nicht geschehen.« Kirin platze bald vor Wut. »Du Hund!« heulte er, ohne von Sun Kohs Worten überhaupt Kenntnis zu nehmen. »Tausend Tode mußt du sterben, du …« Wieder schlug er zu, und abermals lenkte Sun Koh den Arm sanft beiseite, weil ihm die Erregung des Mannes nur zu gut verständlich war. Aber Kirin kam gerade dadurch zu der Auffassung, daß er der Stärke re sei. Er warf sich sofort anschließend mit seinem ganzen Körper gegen Sun Koh und fuhr ihm mit bei den Händen an die Kehle. Sun Koh duckte sich etwas, fing den Mann auf und warf ihn im Bogen über den Hof. Kirin schlug schwer auf. Er hatte sich jedoch nicht verletzt, denn er erhob sich kurz darauf langsam. Sein Puls schien jedoch durch den Sturz erheblich an Geschwindigkeit eingebüßt zu haben, denn er machte keinen weiteren Versuch, gegen Sun Koh anzugehen. Wohl aber 165
schienen seine Gefährten nicht übel Lust zu haben, seine Absichten fortzusetzen. – Jetzt mischten sich jedoch die Wächter ein und verboten eine Fortset zung der Rauferei. »Immerhin«, sagte Sun Koh leise zu Nimba, »im merhin kann es recht gemütlich werden, wenn wir in dauernder Nachbarschaft mit diesen Leuten am We kra-Wekra arbeiten müssen. Sie werden unsere schlimmsten und hinterhältigsten Feinde sein.« »Wir müssen sie uns mal gründlich vornehmen«, murmelte Nimba grinsend, »dann wird ihnen das schon vergehen.« Kirin und seine Genossen bekamen Essen vorge setzt, dann wurde der Transport zum Wekra-Wekra zusammengestellt. Alle Gefangenen wurden an Hän den und Füßen sorgfältig gefesselt. Die Fußfesseln wurden jedoch mit soviel Spielraum angelegt, daß die Gefangenen in kleinen Schritten marschieren konnten. Die Sicherung des Transportes übernahmen die bewaffneten Wächter, die Kirin gebracht hatten. Die Abteilung, die von dem freundlichen Anführer be fehligt wurde, blieb zurück. Der Mann nickte jedoch Sun Koh noch einmal aufmunternd zu, als dieser an ihm vorüber auf die Gasse hinausschritt.
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7.
Sun Koh und Nimba befanden sich seit rund vier undzwanzig Stunden am Wekra-Wekra. Sie hatten innerhalb dieses einen Tages verstehen gelernt, war um die Gefangenen diese von natürlichen, unüber steigbaren Mauern umschlossene Ebene die goldene Hölle nannten. Am Spätnachmittag kamen sie an. Sie zogen in mitten der Bewaffneten durch eine immer enger wer dende Schlucht, auf deren Grund rauschend ein Fluß in gleicher Richtung wegschäumte. Eine halbe Stunde lang durften die Gefangenen in das tobende Wasser zu ihren Füßen starren, dann wurden sie von einigen Soldaten dieser Wache wei tergeleitet. Durch die Klamm führte ein Weg. Er schlängelte sich teils durch Ausbuchtungen, die einst vom Wasser geschaffen worden waren, teils über be sorgniserregend schwankende Holzstege, die man an die senkrechte oder überschäumende Wand ange klebt hatte. Nach abermals einer halben Stunde öffnete sich vor ihnen die Schlucht, die Wände traten schnell zu rück und gaben den Blick auf das weite Tal frei, in dem sie nach dem Willen Ghogolis ihr Leben be schließen sollten. Ihr erstes Empfinden war das Gefühl, in einen Backofen zu treten. Eine höllische Hitze schlug ih 167
nen entgegen, die sie nach der Kühle der Klamm doppelt stark empfanden. Die Augen schlossen sich wie geblendet unter dem rötlich weißen, unerträglich grellen Licht, das von den ausgedehnten Sandflächen zurückstrahlte. Rechts und links verloren sich die Wände in ein glasig schimmerndes Lichtmeer hinein, das keine Konturen mehr erkennen ließ. Der Fluß selbst schien plötzlich allen feuchten Dunst, alle küh lende Kraft verloren zu haben. Dicht am Ufer entlang marschierten sie in das Tal hinein. Eine Stunde später erreichten sie die ersten Hütten und stießen zugleich auf die ersten Gefange nen. Wie ein Rudel Hunde stürzten sich die Leute auf die Ankömmlinge. Dutzendfach klang in den ver schiedensten Tonarten von der unverschämten For derung bis zum demütigen Winseln die Frage nach dem begehrtesten Artikel, nach Tabak auf. Die Soldaten schützten die Ankömmlinge vor den Zudringlichen und führten sie in das einzige feste Haus, das sichtbar war. Dort wurden sie einem Mann vorgestellt, der anscheinend die Oberaufsicht über sämtliche Gefangenen besaß. Man fragte kurz nach den Namen und brachte sie dann zu einer Hütte, die er ihnen als Schlafraum anwies. Unmittelbar darauf ging die Sonne unter. Der Aufseher war kaum hinaus, als Kirin und sei ne fünf Kameraden lebendig wurden. 168
»Jetzt haben wir euch«, knurrte Kirin und gab sei nen Freunden ein Zeichen. Gemeinsam sprangen sie Sun Koh und Nimba an. Ein paar Minuten lang wackelten die Wände der Hütte, dann flogen die fünf ins Freie hinaus, mitten zwischen die Männer, die aus verschiedenen Grün den herbeigeströmt waren. Dort hatten sie, nachdem sie wieder zu Verstand gekommen waren, unzählige Fragen über die Außenwelt zu beantworten und ver gaßen darüber ihre körperlichen und seelischen Schmerzen. Als sie später in der Hütte unterkrochen, hüteten sie sich, das Mißfallen der beiden Männer zu erregen. Sun Koh und Nimba verließen ungesehen von der Mehrzahl die Hütte, um sich in der Sklavensiedlung umzusehen. Nach einer Weile trafen sie auf eine Hütte, die ei nen anderen Eindruck machte als die Behausungen der Gefangenen. Erstens lag sie abseits, vor allem aber drang aus ihrem Innern Feuerschein ins Freie. Vor dem Eingang saßen zwei Männer. Sie wollten weiter gehen, wurden aber nach weni gen Schritten durch ein meckerndes Lachen des Alten aufgehalten. »He, he, unsere neuen Freunde sind ja sehr stolz, daß sie einfach an meiner Hütte vorübergehen wol len. Setzt euch nieder und wärmt euch den Rücken. – 169
Es ist gut am Wekra-Wekra, wenn man sich beizeiten an die Wärme gewöhnt. Erweist dem alten Kobbo die Gnade, ihm etwas Gesellschaft zu leisten.« Sun Koh stutzte, zögerte eine Sekunde und ließ sich dann auf einem der Steine, die als Sitz dienten, nieder. »Du heißt Kobbo?« »Natürlich heiße ich Kobbo. Habt ihr noch nie von dem großen Zauberer am Wekra-Wekra gehört, der die Leiden und Kümmernisse der Sklaven Ghogolis heilt? Ein einträgliches Geschäft!« Also war der erste Eindruck richtig gewesen. Kobbo war der Zauberer des Tales, Priester aller Re ligionen, die hier vertreten waren, zugleich Arzt und Totengräber, wie sich später herausstellte. Kobbo. In Sun Koh stieg eine Erinnerung auf. »Bist du zu fällig ein Danakil?« fragte Sun Koh. Kobbo stutzte und nickte. »Ich sehe, du hast doch schon von mir gehört«, sagte er langsam. »Ich habe von dir gehört«, bestätigte Sun Koh. »Es war in Watulo, im Haus des arabischen Kaufmanns Omar ben Ofra. Dort lernte ich einen Mann kennen, dessen Gesicht von Narben zerrissen war. er stammte nicht aus der Gegend, sondern aus einem fernen Land, aus Amerika. Percy Patson war sein Name.« Kobbo zuckte hoch. 170
»Ah, es ist ihm also doch gelungen …?« »Zu entfliehen«, sagte Sun Koh. »Deine Frage be stätigt mir, daß du der Mann bist, von dem er sprach. Er erzählte, daß er Gefangener Ghogolis gewesen, und daß es ihm gelungen sei, zu fliehen.« »Und dabei hat er meinen Namen genannt?« »Nein. Erst als er hörte, daß wir in das Innere des Landes wollten, als er sah, daß wir uns nicht zurück halten ließen, da nannte er deinen Namen, um uns einen letzten rettenden Anhalt zu geben, falls wir Ghogolis Gefangene werden sollten.« Der Zauberer schwieg lange. »Hm«, räusperte er sich endlich, »Patson hatte mir geschworen, nie meinen Namen zu nennen, aber es schadet nichts, wenn ihr davon wißt. Ja, ich half ihm von hier fort, obgleich ich es nicht für möglich hielt, daß er durch das Land hindurchkommen würde. Er hat es also doch geschafft. Ein mutiger, junger Mann! Doch sagt, warum blieb er in Watulo? Er müßte doch schon längst wieder in seiner Heimat sein?« »Er war blind.« »Blind?« »Die Leute Ghogolis erwischten ihn in Makallo und ließen ihn dort liegen, weil sie glaubten, er sei tot. Wie durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon, aber er blieb auf die Fürsorge Omar ben Ofras, seines Retters, angewiesen. Erst in Watulo 171
vollendete Kirin, der Beauftragte Ghogolis, sein Werk.« »Patson ist tot?« »Er wurde in meiner Gegenwart erschossen. Sein letztes Wort war dein Name.« Kobbo sah Sun Koh lange prüfend an. »Hast du soviel Mut wie der Mann, den du sterben sahst?« fragte er dann. »Ja«, gab Sun Koh zurück. »Bedeutet deine Frage, daß du uns ebenfalls zur Flucht verhelfen willst?« »Ich habe den Auftrag, alles für eure Flucht vor zubereiten.« Sun Koh beugte sich vor. »Das ist eine erstaunliche Mitteilung. Wer gab dir den Auftrag?« »Ein Mann, der von dem Zeichen der schwarzen Schnur weiß.« »Ah – der Wächter, der dich verließ?« »Nimm es an. – Die Männer der schwarzen Schnur sind überall zu finden.« »Ich hörte, daß eine Flucht aus diesem Tal unmög lich ist?« Kobbo schüttelte den Kopf. »Nichts ist unmöglich, wenn man genügend Wil len und Kraft hat. Doch dort kommt jemand, der zu mir will. Ich erwarte euch morgen abend um die gleiche Stunde, dann will ich euch mehr sagen. Bis dahin schweigt.« 172
Sun Koh und Nimba erhoben sich und schritten stumm weiter. Sie verbrachten die Nacht in der Hütte, nackten Sand unter dem Körper und ein Bündel alter schmut ziger Sachen unter dem Kopf. Mit dem ersten Sonnenstrahl wurden sie von dem Aufseher, einem vierschrötigen, finsterblickenden Burschen, herausgeholt und zu einem Haufen anderer Gefangener gewiesen. Sie bekamen einen Brotfladen zugeworfen, eine Schaufel in die Hand gedrückt, und dann zogen sie mit dem Trupp flußaufwärts. Zehn Stunden Arbeit folgten. Diese Arbeit bestand im Goldwaschen. Sun Koh wußte nicht, ob er sich über den Gold reichtum dieses Flusses oder über die primitive Art seiner Ausbeutung mehr wundern sollte. Der WekraWekra war tatsächlich ein Goldfluß, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Blickte man von oben her auf den Grund, so schimmerte es in zahllosen gelben Pünkt chen herauf. Der Kies war so stark von Goldkörn chen durchsetzt, daß man diese mit den Fingern hätte herauslesen können. – Dieser unbegreifliche Reich tum ließ sich nur so erklären, daß in der Klamm und weiter oben die Goldadern in Massen vom Wasser bewaschen wurden. Die Sklaven benutzten eine Methode, die an die ältesten Zeiten der Goldwäscherei erinnerte. Sie schaufelten Sand in einen muldenförmigen Behälter, 173
schütteten Wasser darauf und kippten dieses mit dem Sand zum größten Teil weg, wiederholten das Ver fahren mehrere Male und erhielten schließlich auf dem Grund des Gefäßes einen Haufen Goldkörner. Es machte ihnen nichts aus, daß sie Neunzehntel des Goldes mit dem Kies wieder in den Fluß geworfen hatten, denn das, was übrig blieb, war immer noch reichlich genug. Langsam und träge, unendlich widerwillig und mit viel Pausen vollzog sich die Gewinnung des Goldes. Die Hitze ließ es gar nicht anders zu. Der Aufseher, der mit Pistolen, Dolch und Gewehr bewaffnet war, lag auf einer Holzpritsche, die halb über das Wasser hinweggebaut war. Ein hölzernes Dach schützte ihn vor den sengenden Strahlen der Sonne. Trotzdem lag er den ganzen Tag wie ein Karpfen auf dem Trockenen und schnappte ächzend nach Luft. Er trieb die Sklaven nicht an, wenn er ih nen auch immer wieder Schimpfworte zuwarf, aber er wachte unerbittlich darüber, daß keiner aus dem Wasser an das Ufer trat, sofern es nicht gerade die Arbeit verlangte. – Er forderte keine bessere Arbeits leistung, aber er hielt die Leute im Wasser und er reichte, daß sie aus lauter Verzweiflung langsam, aber ununterbrochen arbeiteten. Nur in der Mittagsstunde durften sie für eine Wei le an Land. Da kamen zwei Sklaven mit Körben und verteilten ähnliche Brotfladen wie am Morgen. Das 174
mußte für die Männer genügen. Wasser konnten sie aus dem Fluß trinken, soviel sie wollten. Ihre Hauptmahlzeit bekamen sie dann erst am Abend, aber auch nur dann, wenn sie nicht unangenehm auf gefallen waren. In der Entziehung der Hauptmahlzeit bestand nämlich die wichtigste Strafe am WekraWekra. Sun Koh sollte das schon am ersten Tag am eige nen Leib erfahren. – Er leistete widerspruchslos die gleiche Arbeit wie alle anderen, litt unter der unge wohnten Hitze, hungerte und ließ sich im übrigen nichts anmerken. Insgeheim wunderte er sich dar über, daß diese Männer nicht schon alle wahnsinnig waren. Irgend etwas in seinem Wesen reizte den Aufse her. Je weiter der Tag fortschritt, um so häufiger schickte er Schimpfworte zu Sun Koh hinüber. Sun Koh nahm keine Notiz davon, das beruhigte aber den Mann nicht. Als er sich endlich gegen Sonnenunter gang erhob und die Sklaven ans Ufer rief, suchte er nach einer Gelegenheit, um die im Laufe des Tages aufgespeicherte Wut zu entladen. Genau genommen nahm er sich nicht die Mühe, erst eine Gelegenheit zu suchen. Er trat einfach an Sun Koh heran und brüllte ihn an: »Geh aus dem Weg, du weißer Hund. Siehst du nicht, daß ich komme?« Gleichzeitig stieß er seine Faust vor, um sie Sun 175
Koh in den Leib zu rennen. Der bewegte flüchtig sei nen Arm und lenkte dadurch die Faust ab, so daß sie vorbeistieß. Damit hatte er jedoch nichts gebessert. Mit einem wüsten Schimpfwort holte der Aufseher neu aus. »Du willst dich zur Wehr setzen, du Sohn einer Hündin? Ah, heute abend wird es kein Essen für dich geben, damit du erst einmal lernst, was Hunger ist. Und einstweilen nimm das da.« Der Schlag galt Sun Kohs Gesicht. Sun Koh hätte einen Zwischenfall gern vermieden, aber die nackte Brutalität des Mannes reizte ihn. Mit einem harten Griff fing er die Hand des andern ab und hielt sie fest. »Es ist besser, du läßt mich in Ruhe«, warnte er. »Ich lasse mich nicht von dir schlagen.« Der Aufseher kochte über. »Du – du …«, gurgelte er, riß seine Hand los und griff nach seiner Pistole. Die anderen Sklaven spran gen lebhaft zurück, nur Nimba blieb an Sun Kohs Seite und duckte sich zum Sprunge. »Hand von der Waffe!« forderte Sun Koh scharf. Der Aufseher lachte höhnisch und riß die Pistole heraus. Mit einem Satz war Sun Koh bei ihm, ver drehte ihm den Arm, daß er schlaff heruntersank und entledigte den Mann mit wenigen Griffen seiner sämtlichen Waffen. »Morgen, wenn du dich beruhigt hast, kannst du 176
sie wieder holen«, versprach Sun Koh. »Für heute sei froh, daß ich dich nicht zusammenschlage.« »Greift ihn, bindet ihn!« heulte der Aufseher zu den Sklaven hinüber. Diese, besonders Kirin und seine Freunde, hätten ihm vielleicht den Gefallen getan, aber Nimba nahm sofort eine so unmißverständlich drohende Haltung an, daß sie nicht den Mut dazu fanden. Der schwarze Riese war ihren geschwächten Körpern turmhoch überlegen. Der Aufseher spie Gift und Galle, erging sich in gräßlichen Verwünschungen, versprach Sun Koh alle möglichen Todesarten, wagte es aber nicht mehr, tät lich zu werden. Schließlich befahl er ein paar Leuten, seine Waffen wieder herauszufischen. Sun Koh ver bot es, und so unterblieb auch das. Schließlich tat der Aufseher das einzige, was ihm übrig blieb, er ging flußabwärts zum Dorf und überließ es den Sklaven, nachzukommen. Selbstverständlich trotteten sie hin terher. Sun Koh und Nimba schlossen sich mit eini gem Abstand an. Der Zwischenfall hatte die Rückkehr so stark ver zögert, daß die Nacht bereits heranbrach, als sie die Hütten erreichten. Der Aufseher eilte sofort dem steinernen Haus zu, die Sklaven rannten in anderer Richtung davon, um ihr Essen zu holen. Um Sun Koh und Nimba kümmerte sich niemand. Sie konn ten sich unauffällig verdrücken und standen bereits 177
vor Kobbos Hütte, bevor noch der Mond die dem Sonnenuntergang folgende Dunkelheit erhellte. »Man kümmert sich zwar augenblicklich anschei nend gar nicht um uns«, sagte Sun Koh zu dem Alten, nachdem er ihm kurz berichtet hatte, »aber ich denke, daß man uns bald scharf herannehmen wird und uns dann gründlich die geringen Aussichten für eine Flucht verbaut. Wir sind deshalb entschlossen, noch heute nacht die Flucht zu wagen.« Kobbo kicherte. »Genau wie bei Patson, er hatte es auch sehr eilig, hier wegzukommen. Ihr habt nicht viel zu fürchten. Das könnte euch so passen, in einen dunklen Raum eingesperrt zu werden, der schön kühl ist. – Nee, die Arbeit am Fluß ist schon Strafe genug. Man wird euch nicht erschießen und nicht einsperren, sondern allenfalls durchpeitschen und ein paar Tage hungern lassen.« »Selbst diese Aussichten sind nicht besonders er freulich.« »Ich weiß«, sagte Kobbo. »Ihr Weißen laßt euch nicht gern schlagen. – Aber keine Sorge, euer Aufse her findet jetzt nur einen betrunkenen Mann vor, dem er vor morgen früh sein Leid nicht klagen kann. Bis dahin habt ihr Ruhe.« »Bis dahin wollen wir fort sein.« »Das ist mir recht. Ich hätte euch nämlich sonst bitten müssen, die Flucht sofort zu wagen. Ghogoli 178
kann leicht auf den Einfall kommen, euch hier weg holen zu lassen, und dann …« Er schwieg vielsagend. »Du weißt einen Fluchtweg?« fragte Sun Koh. Kobbo wiegte den Kopf hin und her. »Ein Weg ist es nicht, aber warum sollte euch nicht gelingen, was einem andern gelang? Ihr müßt dort hinüber zu den Bergen. Verlaßt das Lager in entgegengesetzter Richtung, schlagt einen Bogen und durchschwimmt den Fluß. – Eine halbe Stunde ober halb beginnt am anderen Ufer ein nackter Felsstrei fen, auf dem ihr keine Spuren hinterlaßt. Es ist bes ser, wenn ihr die Verfolger nicht so schnell hinter euch habt. Auf dem Felsband kommt ihr bis an die Berge heran.« »Es heißt, daß sie unbesteigbar sind.« »Es heißt, es heißt, aber das will nichts besagen. Geht am Rand der aufsteigenden Wände nach Nor den zu, dann werdet ihr auf eine Stelle treffen, an der ihr ein Stück hochkommt. Es liegt ein großer Stein dort, der fast wie ein ruhender Elefant aussieht. Ihr erreicht einen schmalen Pfad, der von unten nicht sichtbar ist. Er verläuft scheinbar gegen eine Wand, in Wirklichkeit schiebt sich diese jedoch etwas vor und läßt einen Spalt, durch den der Weg weiter führt. Das ist der Anfang, alles andere müßt ihr selbst fin den, da ich es selbst nicht kenne. Patson hat es auf diesem Weg geschafft.« 179
»Dann werden wir auch über die Berge kommen. Ich danke dir.« Kobbo winkte ab. »Danke nicht. Wenn euch die Flucht gelingt, ist es euer Verdienst. Versucht vor allem nicht, die Grenze zu erreichen, also das Gebirge zu verlassen, sondern haltet euch nach Westen und versucht in das Gebiet Errares zu kommen. Dort findet ihr Schutz und Hilfe. – Die Leute Errares werden auf euch warten.« »Du gehörst auch zu ihnen?« »Ja, wie viele andere«, erwiderte der Alte kurz. Er hatte zweifellos wenig Lust, darüber mehr zu sagen. »Nehmt nun die Waffen. Ihr werdet sie gebrauchen können. Hier sind auch ein paar Brotfladen. Mehr dürft ihr nicht mitnehmen, wenn es nicht auffallen soll. Und nun lebt wohl!« Jeder der beiden Männer steckte eine Pistole und Patronen zu sich, die Kobbo nur von den Soldaten bekommen haben konnte. Die Brotfladen ver schwanden unter dem Hemd. – Dann verabschiede ten sie sich von dem Alten. Unbehelligt kamen sie aus dem Bereich der Hüt ten. Sie schlugen einen Bogen, wie Kobbo es vorge schrieben hatte, schwammen durch den Fluß und marschierten dann im Eiltempo auf dem nackten Fel sen den Bergen zu. Sie fanden den Stein, der wie ein ruhender Elefant aussah, die Aufstiegsstelle, den Pfad und den Spalt, in dem er verschwand. Soweit 180
war alles in Ordnung. Kobbo hatte den Weg gewie sen, und es war kinderleicht, ihn zurückzulegen. Aber dann. Vor ihnen stellten sich noch tausend Meter Gebir ge in senkrechten und überhängenden Wänden schier unübersteigbar in die Höhe. Der Tag kam. Die beiden Männer stiegen weiter. Etwaige Ver folger mußten schon ziemlich dicht an die Berge he rankommen, um sie zu entdecken. Vom Fluß aus konnten sie bestimmt nicht gesehen werden. Es war überhaupt nicht zu befürchten, daß jemand den Vor sprung aufholte. Wenn alles programmgemäß verlief, würde man jetzt erst ihr Verschwinden feststellen. Die paar Aufseher machten sich sicher nicht auf den Weg, um sie zu verfolgen, sondern benachrichtigten die Wachen am Ausgang des Tales. Bevor diese ernsthaft zur Tat kamen, würden wieder ein Tag ver gehen. Nein, um Verfolger sorgten sich die beiden nicht. Aber sie standen vor Felswänden, die mindestens eine anständige Kletterausrüstung erfordert hätten. Sie besaßen gar nichts, kein Seil, kein Eisen, keine Pickel, keine Schuhe. Percy Patson hatte Über menschliches geleistet, wenn er auf diesem Weg ent kommen war. Nun, Sun Koh und Nimba verfügten über Körper von außergewöhnlicher Kraft, Geschmeidigkeit und 181
Zähigkeit. Das mußte alles Fehlende ersetzen. Die Brotfladen waren verzehrt, bevor sie noch den Aufstieg begonnen hatten. Auf ihrem Weg gab es weder Fleisch noch Pflanzen. Zwei Tage rechneten sie von Anfang an für den Aufstieg, aber sie merkten bald, daß sie sich verrechnet hatten. Doch sie waren es gewöhnt zu hungern. Sie wür den ihren Körper zu voller Leistung bis zum Zu sammenbruch zwingen. Aber sie hatten in den letzten Tagen schon nicht genügend Nahrung bekommen, und die Anstrengungen waren ungewöhnlich groß. Würden sie durchhalten? Schlimm war der Durst. In diesen steilen Wänden gab es auch nicht das kläglichste Rinnsal. Nach eini gen Stunden Aufstieg klebten bereits Zunge und Gaumen. Würde der Körper den Durst aushalten? Es erwies sich bald als unmöglich, bei Tag weiter zuklettern. Die Sonne brannte derart auf das nackte Gestein, daß es förmlich glühte und die Wunden an Händen und Füßen kaum erträglich waren. Der Schweiß floß in Strömen, die Körper dörrten zuse hends aus. Sun Koh gab auf, als er merkte, daß Nimba unsi cher wurde. Man mußte den Tag verschlafen und während der Nacht beim Mondlicht klettern. Auch das war nicht angenehm, aber bei dieser Glut ging es einfach nicht weiter. Ihre harten, keuchenden Atemzüge und die Schlä 182
ge ihrer Herzen waren die einzigen Geräusche, die sich in das feine, ziehende Summen der überhitzten Luftschichten mischten. 8. Die dritte Nacht. Sun Koh und Nimba arbeiteten sich an der steilen Flanke eines Berges aufwärts. Sie kamen zügig hoch, denn erstens fehlte noch eine ganze Menge bis zur Senkrechten, und zweitens fanden Füße und Hände stets genügend Halt. Gelegentlich glatte Abbruche konnten sie bequem umgehen. Nach Stunden pausenloser Mühen standen sie ge gen Mitternacht oben. Der Wind pfiff schneidend kalt durch ihre Klei dung. Vor ihnen brach der Fels überhängend in fast hun dert Meter Tiefe ab, erst dann kam ein mit Geröll brocken durchsetzter Steinhang. Die beiden hätten Seile gebraucht, aber sie besaßen keinen Meter. Nirgends bot sich eine Aussicht hinunterzukom men. Ja, es erwies sich sogar als unmöglich, in un mittelbarer Nähe des in die Tiefe verlaufenden Gra tes am Berg abzusteigen. »Dort könnten wir weiter«, meinte Nimba und wies tief unter ihnen auf einen schmalen Sattel, der die Verbindung mit dem benachbarten Bergstock gab. 183
Sun Koh nickte und stieg abwärts. Die ganze Klet terei dieser Nacht hatte sich als sinnlos erwiesen. Sie hatten sich im Weg geirrt. Nicht den Berg hinauf führte er, sondern um den Berg herum zu jenem Sat tel hin. Eine verlorene Nacht. Sie würde vorüber sein, wenn sie ihren Ausgangspunkt wieder erreichten. Die verlorene Nacht bedeutete vierundzwanzig Stunden länger Hunger und Durst. Vielleicht entschied sie über das Leben. Wenn es wenigstens irgendwo Wasser gäbe! Ein kleiner Absturz stellte sich in ihre Laufrich tung, eine fast senkrechte Mauer von wenigen Me tern Höhe. Sun Koh beugte sich vor, sah, daß unten gutes Trittgelände war und sprang hinunter. Nimba folgte. Beim Aufsprung knickte sein linker Fuß ein. Er war auf eine kleine Stufe im Stein geraten. Sun Koh sah es, da Nimba aber nichts äußerte, hielt er es für bedeutungslos. Als er sich eine Weile später umdrehte, fiel ihm auf, daß sich sein Begleiter zurückhielt und daß er lahmte. »Was ist denn, Nimba?« erkundigte er sich. Nimba hastete heran. »Nichts, Sir, ich bin nur ein bißchen umgeknickt.« Sun Koh wies auf einen Stein. 184
»Setz dich hin, ich will mir den Fuß ansehen.« Nimbas Knöchel war bereits stark angeschwollen. Die Kleinigkeit erwies sich nach kurzer Untersu chung als regelrechte Verzerrung. Sun Koh sah ernst aus, als er sich aufrichtete. »Sechs Wochen Bettruhe und viele Umschläge mit kaltem Wasser«, sagte er. »Das ist ungefähr das, was der Arzt verschreiben würde. Leider kann ich dir we der das eine noch das andere verordnen. Wir müssen trotzdem weiter.« »Lassen Sie mich hier«, schlug Nimba vor. Sun Koh überhörte die Bemerkung. »Du wirst ein paar Streifen von deinem Kittel op fern müssen. Damit können wir das Bein in Ruhe stellung nach hinten binden. Meine zwei Beine wer den dir Ersatz für das eine bieten.« Eine Viertelstunde später setzten sie ihre Kletter partie fort. Das verletzte Bein hing in einer Schlinge, die über Nimbas Schulter verlief. Nimbas Arm lag über Sun Kohs Schulter. Sie kamen trotzdem ziemlich schnell weiter, da Nimba die Zähne zusammenbiß und Sun Koh mit seinen überlegenen Kräften einsprang, wo Schwie rigkeiten entstanden. Sie hielten nach Möglichkeit auf den Sattel zu, den sie überqueren wollten. Der Morgen kam. Erst eine Stunde später, als die Sonne begann, unangenehm zu werden, suchten sie 185
einen Schlupfwinkel. Sie entdeckten eine Stelle, an der sich der Felsen baldachinartig vorwölbte und ein natürliches Schutz dach gegen die Sonnenstrahlen bot. Als sie dicht herangekommen waren, sahen sie, daß der Unterschlupf schon mehr eine kleine Höhle darstellte. Die Rückwand schien ihren vom Licht geblendeten Augen zunächst dunkel und schwarz, aber dann … »Ein Mensch!« hauchte Nimba. Sun Koh beugte sich vor. Halb Mumie, halb Gerippe hockte ganz hinten das, was einst ein Mensch gewesen war. – Zerfetzte Klei der, die noch über der hockenden Gestalt hingen, deuteten auf einen Eingeborenen hin. Die beiden Männer schwiegen lange. Endlich sag te Sun Koh: »Ein Gefangener Ghogolis, der die Flucht wagte. Vielleicht ging es ihm wie uns, daß er ebenfalls den Weg zur Höhe nutzlos machte. Er fand wohl nicht mehr die Kraft, weiter zu wandern. – Wir wollen uns schlafen legen.« So legten sie sich dicht neben dem Toten nieder und schliefen trotz allem bald ein. * Die vierte Nacht. Eine Stunde vor Sonnenuntergang erhoben sie 186
sich. Ihre Beine und Arme waren steif und kraftlos wie abgedörrte Zweige, ihre Körper zerschlagen. Sie bissen die Zähne zusammen und machten sich ge waltsam Bewegung, bis die schmerzenden Muskeln wieder glatt spielten und die harten Gelenke ge schmeidig wurden. Mit anfänglich noch etwas stelzenden Schritten setzten sie ihre Wanderung fort, ohne weitere Worte zu wechseln. Als der Mond aufging, sahen sie zwanzig Meter vor sich den Sattel, die steinerne Brücke, die zum benachbarten Massiv hinüberführte. Wie der klobige First eines gewaltigen Satteldachs wirkte dieses Ver bindungsstück, das sich zwischen den aufsteigenden Bergen einspannte. Zwanzig Meter und ein Stück tiefer, aber der Berg riß schon unmittelbar vor ihnen jäh ab, führte mit einer überhängenden Wand auf das vorläufige Ziel zu, die auf den ersten Blick überhaupt nicht angreif bar schien. Sun Koh blickte in die Tiefe. Ja, man konnte wohl hinunter und dann den schrä gen Hang zum Sattel wieder hinauf, aber dazu wür den sie Stunden, viele Stunden und vielleicht die ganze Nacht brauchen. Menschen, die schon den vierten Tag ohne Wasser sind, haben aber keine Nacht mehr zu verlieren. Prüfend tasteten die Blicke die Wand ab. 187
Ah, dort zackte sich ein schmales Band entlang. Ein Stück über ihren Köpfen setzte es an und lief mit leichter Neigung auf den Sattel zu. Es war nicht lük kenlos, es lief auch nicht gleichmäßig. Dann und wann verschwand es, trat hinter den glatten Felsen zurück, dann und wann lag die Fortsetzung zwanzig Zentimeter tiefer und dann wieder höher. Aber – es konnte im Notfall genügen. Der Notfall war da. Freilich, mehr als fünf Zentimeter Breite hatten die langgezogenen Vorsprünge selbst im besten Falle nicht. Es war überhaupt nicht daran zu denken, etwa den Fuß darauf zu setzen. Das verbot schon die über hängende Wand. Sun Koh räusperte die harte Kruste entzwei, die Gaumen und Zunge umklammert hielt. »Wir müssen hinüber«, stellte er mit brüchiger Stimme fest. »Die Vorsprünge werden genügend Halt geben. Ich werde dich auf den Rücken neh men.« So nahm er Nimba auf den Rücken, wies ihn an, die Arme über seine Schultern zu legen. Wie vier nebeneinanderliegende Stahlhaken häng ten sich die vier Finger von Sun Kohs Hand in den ersten Vorsprung. Vorsichtig belastete er, dann grif fen die vier stählernen Haken der anderen Hand nach. Der Vorsprung schnitt nach der Wand zu tief ein, so daß die Finger günstig greifen konnten. Das 188
blieb übrigens auf der ganzen Strecke so und erleich terte das Traversieren ungemein. Zug um Zug griff Sun Koh nach. Sein Körper hing senkrecht nach unten. Nimba verhielt sich reglos. Beide wußten, daß es augenblicklich nichts Gefährli cheres für sie gab, als ins Pendeln zu kommen. Schnelle, hastige Verlagerungen des Schwergewichts hielten auch diese Finger nicht aus. Ein Meter. Fünf Meter. Zehn Meter. Sun Koh warf einen flüchtigen Blick zum Sattel hin. Herrgott, war denn diese höllische Wand immer noch nicht zu Ende? Die Unterseite der Finger bestand aus einer grauen Schmiere von Blut und Gesteinsstaub. Es mußte köstlich sein, die Finger strecken, abwischen oder gar in kaltem Wasser baden zu können. War Nimba schwerer geworden? Hatte er sich eine Rippe gebrochen, ohne es zu merken? Das stach ja wie Messer in der Lunge. Fünfzehn Meter. Nimba beobachtete mit Besorgnis, wie Sun Kohs Gesicht grau und verfallen aussah, wie der Atem keuchte, wie die Bewegungen der Hände um eine Kleinigkeit hastiger und unbestimmter wurden. Sechzehn Meter, siebzehn Meter. Achtzehn Meter. 189
Bald geschafft. Würde höchste Zeit sein, die Finger hatten schon kein Gefühl mehr. Aber was brauchten sie Gefühl, wenn sie nur so eingewinkelt blieben. Nimba war bestimmt leichter geworden, man fühl te ihn kaum mehr. Überhaupt – wo waren denn Schmerzen, Hunger und Durst? Er schwebte ja wie auf einer wohligen Wolke, die den Körper weich trug und ihm alle Beschwerden wegnahm. Wozu krümm te er eigentlich so eigensinnig seine Finger? Herrgott… Im letzten Bruchteil der Sekunde riß sich Sun Koh aus der Wolke der Bewußtlosigkeit heraus. Was da so schmeichlerisch kam, hieß Tod. Neunzehn Meter. Nur noch einige Griffe. Mechanisch schoben sich die Hände weiter. Sie besaßen kein Gefühl mehr, deshalb vermittel ten sie dem Gehirn auch keine Warnung. Kurz vor dem Ziel riß der schmale Vorsprung, an dem Sun Koh eben das doppelte Gewicht hängte, aus, löste sich als Steinbrocken aus der Wand. Nimba bemerkte es eher als Sun Koh. Mit einem Aufschrei stieß er seine rechte Hand vor, drückte sie mit voller Kraft gegen die Felswand, während sich gleichzeitig seine Beine hart um Sun Kohs Körper schlossen. Sie stürzten, aber sie fielen nicht in die grausige 190
Tiefe. Nimbas geistesgegenwärtiger Druck schleu derte die beiden Körper seitlich voraus auf den Sattel zu, der einen halben Meter vor und zwei Meter unter ihnen ansetzte. Hart prallte Nimba auf Beine und Rücken. Instink tiv hatte er während des Sturzes die Bein Sun Kohs Körper wieder gelöst und diesen mit dem linken Arm soweit herumgerissen, daß er nicht unmittelbar auf die Steine aufschlug. Ebenso instinktiv rollte er sich herum, um von dem gefährlichen Steilhang wegzu kommen und sich mit den Händen verklammern zu können. Es war trotz der geringen Entfernung ein böser, verzweifelter Sturz, aber er hatte Erfolg. Sicher lagen die beiden Männer auf dem breiten, holprigen Rük ken des Bergsattels. Sun Koh rührte sich nicht. Nach einer Weile er wachte er aus seiner Ohnmacht und fragte Nimba: »Alles in Ordnung?« »Jawohl, Sir«, sagte Nimba strahlend. »Alles gut gegangen.« »Du warst schneller als ich. Wie lange habe ich ohne Bewußtsein gelegen?« »Zwei oder drei Minuten.« »Wir wollen uns noch etwas ausruhen.« Sie blieben fast eine Stunde am gleichen Fleck. So lange brauchte der überbeanspruchte Körper, um ei nigermaßen ruhig zu werden. Sun Koh wußte selbst 191
am besten, daß er bis zur äußersten Grenze gegangen war. Und jetzt meldeten sich Hunger und Durst wieder. Endlich setzten sie ihren Weg fort. Sie hatten die größten Schrecken und Hindernisse hinter sich. Als die Sonne aufging, blickten sie über schräg abfallendes Gelände in einen fernen, grün dunklen Grund hinunter, der Wasser und Nahrung verhieß. Sie konnten sich kaum noch aufrecht halten, aber sie verzichteten bei diesem Anblick trotzdem darauf, sich zur Ruhe zu legen. Im Gegenteil, ihre Schritte wurden eher hastiger. Sun Koh und Nimba waren bereits vollkommen fertig und mußten nun trotzdem den kniezermürben den Abstieg vornehmen. Stundenlang nichts anderes als Stemmen, Stemmen und wieder Stemmen. Sie besaßen, abgesehen von Nimbas Zustand, nicht mehr die erforderliche Elastizität, um mit leichten Sprün gen hinunterzujagen. Sie stemmten sich, rutschten mit Geröllhalden in die Tiefe, ließen sich von einem hemmenden Stein block zum andern prellen und stemmten sich wieder. Dann endlich glitten ihre Hände an rauhen, kühlen Stämmen entlang, schleiften ihre Füße über erdigen Boden, sogen tausend Poren ihrer Haut den schwa chen Dunst von Wasser ein, dann endlich durchbrach ein heller, plätschernder Streifen den Nebel halber 192
Bewußtlosigkeit und dann … Dann lagen sie mit halbem Leib im kalten Rinnsal und schleckten das Wasser wie die Hunde auf. Schon im Versinken riß Sun Koh sich und Nimba zurück. »Aufhören«, schrie er, obgleich nur ein rauhes Flüstern aus seiner Kehle drang, »aufhören – nicht zuviel auf einmal – nachher …« Nimba ließ sich zurückreißen, fiel zur Seite um, mit dem Kopf auf das halbgekrümmte Knie Sun Kohs. So schliefen beide ein. * Und so fand sie Hal, nachdem es ihm gelungen war, über den Ersatzmann in Kairo Verbindung mit der Sonnenstadt zu bekommen und Flugzeuge mit Fern sehern zu beordern. Es war eine ganze Staffel von Flugzeugen, die aus Yukatan herübergeschossen kam. »Und das alles wegen dir«, sagte Hal später zu Nimba. »Ein bißchen blöde ist normal, aber so total verblödet wie du kommt selten vor.« Einen Tag später betrat Bernhard Weser zum er stenmal das Gebiet, über das sein Vater herrschte. Sun Koh und seine Begleiter sowie Professor Good year blieben einige Tage als geehrte Gäste. Als sich 193
Sun Koh verabschiedete, kehrte Professor Goodyear in die Ruinen von Ophir zurück, denn Hal hatte ihm zu einer neuen Theorie verholfen, die Professor Goodyear im Laufe der nächsten Jahre an Hand sei ner Funde zu beweisen hoffte. ENDE
Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite.
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Als SUN KOH Taschenbuch Band 20 erscheint:
Freder van Holk
Tillyt
Ein Schiff verschwindet, Professor Schunekamp will Regen machen und ein Dieb gerät in einen Eisblock. Der Mann mit der gläsernen Kugel sammelt Vermögen, Schunekamp verhandelt mit einem Toten und Hal Mervin hält einen Kof fer für den passenden Aufenthalt. Griffith zahlt falsches Geld für falsche Formeln. Es spukt in den Wetterstationen, auf Grönland brennen Atomfeuer, zwei Maler verzaubern ein Haus und das Jungfraujoch hat seine Sensation. Die Stra tosphärenschiffe tragen grüne Kämme, die Wol kenstraße schießt gegen die Strahlenbastion und Ole Jensen kommt ins Schwitzen. Sun Koh, Nimba und Hal kämpfen um zwei Menschenle ben, während die Sintflut droht. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.