Fiona Kelly
Die Spur der Attentäter Special Agents Band 03
scanned 03/2008 corrected 06/2008 Giorgio Prima, italienisc...
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Fiona Kelly
Die Spur der Attentäter Special Agents Band 03
scanned 03/2008 corrected 06/2008 Giorgio Prima, italienischer Großunternehmer und Milliardär, besucht London zu Gesprächen mit der englischen Regierung. Doch er fühlt sich von der Mafia bedroht, die, so glaubt er, einen Anschlag auf ihn plant, um seinen politischen Aufstieg in Italien zu verhindern. Die drei SPECIAL AGENTS erhalten die Aufgabe, Prima rund um die Uhr zu beschützen. Alles scheint normal zu laufen – doch dann kommen sie einem geplanten Bombenattentat auf die Spur. ISBN: 3-473-34513-X
Original: Countdown
Aus dem Englischen von: Matthias Kußmann
Verlag: Ravensburger
Erscheinungsjahr: 2002
Umschlaggestaltung: Working Partners Ltd. London
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
FIONA KELLY
Band 3
Die Spur der Attentäter Aus dem Englischen von Matthias Kußmann
Ravensburger Buchverlag
Mit besonderem Dank an
Allan Frewin Jones.
Besonderer Dank geht auch an
Ashley Jones, Geschäftsführer des Wimbledon
Museums.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich
12 3 04 03 02
© 2002 der deutschen Ausgabe
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Der englische Originaltitel lautet: Countdown
© 2002 by Fiona Kelly and Allan Frewin Jones
Working Partners Ltd. London
UMSCHLAG Working Partners Ltd. London
REDAKTION Doreen Eggert
Printed in Germany
ISBN 3-473-34513-X
www.ravensburger.de
Prolog
Kensington, London. Später Juli. Freitag, 15 Uhr. Ein Mann in einem schwarzen Anzug. Er hat sein mit Gel gestärktes dunkles Haar nach hinten gekämmt. Sein Gesicht ist ebenmäßig, wirkt aber brutal. Über eine Wange läuft quer eine tiefe Narbe. Seine Augen sind hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Er trägt einen leichten Kopfhörer mit Mikrofon, der an ein Handy angeschlossen ist. Er geht eine breite Treppe hin auf. Vier Männer folgen ihm. Hart und entschlossen. Sein Name ist Carlo Berlotti. Er ist Italiener. Er spricht in das kleine Mikrofon. »Das Herz von Italien ist am Ende der Treppe angekommen.« Er durchquert ein breites Foyer. Er bewegt sich leicht und elegant. Die Augen hinter der Sonnenbrille sind starr. Er geht auf eine Flügeltür zu. Die Tür fliegt auf. Ein Mann kauert dahinter auf dem Boden. Er hält mit beiden Händen eine Pistole umfasst – ihr Lauf richtet sich genau auf Berlottis Stirn. Der Mann ist kräftig gebaut und hat eine einge schlagene Nase. 5
Berlotti bewegt sich nicht. Er sagt nichts. Hinter ihm werden gleichzeitig vier Pistolen aus verborgenen Half tern gezogen. Vier Finger drücken auf vier Abzüge. Den Mann vor ihnen schleudert es herum. Carlo Berlotti geht durch die Tür. »Mordversuch Nummer eins neutralisiert«, sagt er. Seine Stimme ist kalt. Er macht einen Schritt über den vor ihm liegenden Mann und betritt einen geschwun genen Gang. Er wendet sich nach rechts. Die vier Männer folgen ihm. Alle ignorieren den Toten. Es ist ein altes Gebäude. Aus der Zeit der Königin Viktoria. Ein Konzerthaus im Westen Londons. Berlotti geht den Gang entlang. Er läuft jetzt schnel ler. Zu seiner Linken befinden sich mehrere Türen. Sie sind beschriftet. Er sucht nach einem bestimmten Ein gang. Ein Mann tritt aus dem Schatten. Jung. Drahtig. Ein Messer blitzt auf. Die vier Begleiter Berlottis springen nach vorn. Ihr Boss wird beiseite geschoben. Zwei Männer schützen ihn mit ihren Körpern. Der Messer stich wird von einer dicken, wattierten Weste aufge fangen. Der Mann mit dem Messer wird zu Boden ge worfen. Eine Pistole ist auf seinen Hinterkopf gerich tet. Berlotti nickt und geht weiter, jetzt eng flankiert von seinen Beschützern. Zu allem bereit. »Mordversuch Nummer zwei ebenfalls neutrali siert«, sagt er in sein Mikrofon. »Nähere mich der kö niglichen Loge.« Er steht vor einer geschlossenen Flügeltür. Einer seiner Leibwächter öffnet die Tür. Berlotti betritt die 6
königliche Loge. Er tritt nach vorn an die Brüstung und wirft einen kurzen Blick auf das große runde Au ditorium. Dann setzt er sich. »Das Herz von Italien ist angekommen«, sagt er. Die Leibwächter stellen sich rechts und links neben Berlotti, als erwarteten sie weitere Anweisungen. Er sieht sie an. Er nickt. »Geht jetzt«, sagt er zu ihnen. »Die Probe für Sig nor Primas Teilnahme am Konzert ist positiv verlau fen. Geht, bevor die britische Polizei misstrauisch wird. Geht ins Hotel zurück. Sagt Signor Prima, dass der Ort sicher ist. Ich komme nach.« Berlotti entlässt seine Leibwächter. Er lehnt sich in dem roten plüschbespannten Sessel zurück, seine Hän de auf den verzierten Armlehnen. Er sieht in das Rund aufwändig verzierter und geschmückter Ränge. Er schlägt die Beine übereinander und macht es sich im Sessel bequem. Dann wendet er langsam den Kopf und vergewissert sich, dass er tatsächlich allein ist. Er zieht ein kleines graues Plastikkästchen aus seiner Jacke. Er öffnet es. Darin befinden sich ein Viertelkiloblock Semtex, eine elektronische Schaltung mit Sprengkapsel, ein Pack Batterien und ein digitales Zeitschaltgerät. Er drückt kleine schwarze Knöpfe auf der Zeitschal tung. Ein grünes Display leuchtet auf. Es zeigt vier Nullen. Bedächtig drückt Berlotti weitere Knöpfe. Die Zahlen ändern sich. Er wirft einen Blick auf seine gol dene Rolex. 7
Es ist 15 Uhr 14.
Er stellt die digitale Uhr auf 05:16 ein.
Dann drückt er einen anderen Knopf.
Er wartet, geduldig wie eine Spinne.
Die Sechs verwandelt sich flackernd in eine Fünf.
05:15. Fünf Stunden und fünfzehn Minuten bis zur Detona tion. Berlotti klappt das Kästchen mit der Bombe zu. Er zieht eine Folie vom Rücken des Kästchens, ein Klebe streifen kommt zum Vorschein. Er beugt sich vor, langt nach unten und drückt die Bombe an die Unter seite des Sessels. Das Kästchen klebt fest am Stoff. Die Bombe hängt sicher. Er setzt sich auf und streicht sein Haar zurück. Es ist vollbracht. Er verlässt die königliche Loge, ohne sich noch einmal umzuschauen. Unten sind Angestellte mit den letzten Vorbereitun gen für die abendliche Vorstellung beschäftigt. Das Auditorium ist bis auf den Kamerakran der BBC leer. Putzfrauen bewegen sich im Parkett hin und her. In den Logen werden die Tische gedeckt. Die Ränge stei gen bis zum Balkon an. Scheinwerfer gleiten über die Bühne. Die großen Pfeifen der Orgel schimmern in der wechselnden Beleuchtung. Ein einzelner Scheinwerfer richtet sich auf die ver zierte Büste von Sir Henry Wood. Draußen kündigen Poster das kommende Ereignis an: 8
The First Night of the Proms Verdis »Requiem« Und zum ersten Mal in London:
Die hinreißende junge Sopranistin
Lucio Barbieri La Voce d’Italia – Die Stimme Italiens Auf den Postern ist ein Foto von Lucia Barbieri zu se hen. Sie ist atemberaubend schön, mit langen schwar zen Haaren und Augen wie aus Ebenholz. Genau um 19 Uhr 30 werden die ersten Takte von Verdis »Requiem« in der Konzerthalle erklingen. Das Konzert dauert neunzig Minuten. Um 20 Uhr 30 wird die Zeitschaltuhr der Bombe vier tödliche Nullen anzeigen. Es wird ein Chaos entstehen. Carlo Berlotti wird anwesend und Zeuge dieses Ereignisses sein. Carlo Berlotti – mit seiner Vorliebe für das Chaos.
9
Erstes Kapitel
Samstag. Sechs Tage zuvor. In der Zentrale der Police Investigation Command, kurz PIC. Im Londoner Centrepoint-Gebäude. Eine eigens einberufene Einsatzbesprechung. In dem langen, hell erleuchteten Raum saßen etwa zwanzig Leute. Die meisten von ihnen machten sich Notizen; die Aufmerksamkeit aller galt der Frau am Rednerpult. Section Head Susan Baxendale war bei der morgendlichen Arbeit. Sie war Ende dreißig, ihr attrak tives Gesicht wurde von langen goldblonden Haaren umrahmt. Sie war schlank, sie trug ein elegantes graues Kostüm. Ihre sanfte Stimme täuschte über ihr hartes Naturell hinweg. Die drei PIC-Trainees saßen ganz vorne. Danny Bell, Maddie Cooper und Alex Cox. Die 16-jährige Maddie machte sich auf einem Block eilig Notizen. Sie wollte möglichst genau über alles informiert sein, was in der PIC-Zentrale lief. Neben ihr notierte sich Alex nur gelegentlich ein Stichwort, um sein Gedächtnis zu trainieren. Danny schrieb überhaupt nichts auf, merkte 10
sich jedoch alles. Sein Gedächtnis war exzellent. Susan Baxendales sanfte Stimme hielt die Aufmerk samkeit aller Anwesenden aufrecht. »Punkt 9«, sagte sie und blätterte am Rednerpult in ihren Unterlagen. »Der so genannte Eiskrieg.« Ein amüsiertes Lachen ging durch den Raum. Dan ny murmelte: »Schießen die da mit Eisbomben aufei nander?« Alex warf ihm einen Blick zu und verdrehte die Augen. Maddie lächelte über ihre beiden so unterschiedli chen Kollegen. Der siebzehnjährige Danny, ein locke rer, intelligenter schwarzer Amerikaner, geboren und aufgewachsen in Chicago, den Kopf immer voller Ge danken über Computer und Elektronik. Und Alex, ein weißer Londoner aus dem East End, achtzehn, und schon jetzt so hart wie Diamant. Baxendale hob eine schmale Hand. »Ich weiß, dass einige von Ihnen die Sache für zu unbedeutend halten, als dass wir uns damit abgeben sollten«, sagte sie. »Aber Detective Chief Superintendent Cooper hat mich gebeten, den Fall während seiner Abwesenheit im Auge zu behalten – und genau das werden wir alle tun.« DCS Jack Cooper war der Chef der PICMannschaft. Sie bestand aus einer kleinen Zahl hand verlesener Agenten, die sich mit Fällen jenseits der normalen Polizeiarbeit befassten. Jack Cooper hatte einen direkten Draht zu den höchsten Regierungskrei sen und war nur der Innenministerin und dem Pre mierminister unterstellt. Er war im Augenblick unter 11
wegs und besuchte einen Internationalen Gipfel zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens in Che quers, dem Landsitz des Premierministers. Während dessen vertrat ihn Susan Baxendale. Sie berichtete den Mitarbeitern den Hintergrund des Falles. In der ganzen Hauptstadt griffen Schlägertrupps die rechtmäßigen Lizenzbesitzer von Eis-und-Hot-Dog-Wagen an; sie vertrieben sie und nahmen deren Plätze ein. Reifen waren zerstochen und Wagen zertrümmert worden. Immer mehr Händler wurden gezwungen, sich zu er geben. Und es wurde immer schlimmer. »Das größte Problem besteht darin«, fuhr Baxendale fort, »dass sich keiner der angegriffenen Händler traut, zur Polizei zu gehen. Sie haben zu große Angst.« Alex hob seinen Kugelschreiber. »Das kommt doch nicht nur vereinzelt vor, oder?«, fragte er. »Da scheint doch eine stadtweite Organisation dahinter zu stecken.« Susan Baxendale nickte. »Die Größenordnung der Operation legt nahe, dass das organisierte Verbrechen das Vorgehen finanziert. Wir müssen herausfinden, wer die brutalen Schläger auf die Händler hetzt. Aber bis eines der Opfer es wagt mit der Polizei zusammen zuarbeiten, können wir nur warten und Augen und Oh ren offen halten.« Sie zeigte mit ihrem Kuli auf sechs Leute im Raum – darunter auch Danny. »Und das heißt, dass Sie als Field-Agents zum Einsatz kommen. Sie müssen versuchen, in der Angelegenheit das Gras wachsen zu hören. Je schneller wir erste Rückmeldun gen erhalten, umso schneller können wir wirksam in den Fall einsteigen.« 12
Susan Baxendale rief einen der Agenten zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte und verließ den Raum. Sie ordnete ihre Papiere auf dem Rednerpult. »Okay, nun zu Punkt 10«, sagte sie. »Hier geht es um etwas ganz anderes. John ist gerade hinausgegan gen, um unsere Gastrednerin hereinzuholen. Sie wurde aus Italien eingeflogen. Sie heißt Cecilia Rossi und ist die Unternehmenssprecherin von Mr Giorgio Prima.« Alle im Raum kannten diesen Namen. Prima war Italiens erfolgreichster Geschäftsmann, der seine Auf merksamkeit seit neuestem auch auf die nationale Poli tik seines Heimatlandes richtete. Die Tür zum Besprechungszimmer ging auf. Eine große schlanke Frau kam herein. Maddie musterte sie prüfend. Cecilia Rossi trug ein schlichtes, aber perfekt gestyltes schwarzes Kleid. Sie hatte lange, glänzende schwarze Haare, scharf ge schnittene Wangenknochen markierten das Gesicht. Perfekte mediterrane Züge: makellose, olivebraune Haut und tiefschwarze Augen. Maddie schätzte sie auf Ende dreißig. Sie strahlte Stärke und kühle Autorität aus. Cecilia Rossi nahm Susan Baxendales Platz am Pult ein. Sie sah mit dunklen Augen unter schweren Lidern abschätzend in die Runde. Als sie zu sprechen begann, war es in perfektem Englisch, das nur eine Spur eines italienischen Akzentes verriet. »Signor Prima wird am Montagmorgen vom Mai länder Malpensa-Flughafen hierher fliegen«, sagte sie ohne Umschweife. 13
»Er landet um 11 Uhr 20 in Heathrow an Terminal 2. Signor Prima und seine Leute werden eine Etage des Londoner Hilton Hotels mieten, wo sie von Montag bis Samstag bleiben. Signor Prima fliegt dann weiter nach Paris, zu Gesprächen mit dem französischen Premier minister.« Als das Hilton erwähnt wurde, warf Alex Maddie einen Blick zu. Er hob seine Augenbrauen. Beeind ruckt. Maddie nickte. Wer für eine Woche eine ganze Etage des Hilton mieten konnte, musste über die ent sprechenden finanziellen Mittel verfügen. »Während seines Aufenthaltes in London«, fuhr Cecilia Rossi fort, »hat Signor Prima viele Verpflich tungen. Er wird mit Ihrem Premier- und Ihrem Au ßenminister zusammentreffen, weiterhin mit dem ita lienischen Botschafter und schließlich auch mit den Vertretern verschiedener Organisationen, mit denen er geschäftliche Dinge zu besprechen hat. Seine Aktivitä ten werden ein beachtliches internationales Medien interesse erregen, was – sofern es die Zeit zulässt – zu einigen kurzfristig einberufenen Pressekonferenzen führen kann. Ich werde Sie zu gegebener Zeit über die gesamte geplante Reiseroute informieren.« »Der Signor scheint ja einiges vorzuhaben«, mur melte Danny. »Frage mich nur, wann er schlafen will?« »Signor Prima wird auch eine besondere Auffüh rung von Verdis »Requiem« besuchen, während des First-Night-of-the-Prom-Konzerts in der Royal Albert Hall«, fuhr Cecilia Rossi fort. »Er wird in der königli 14
chen Loge sitzen. Das ist sein letzter Termin hier in England, am nächsten Morgen fliegt er weiter.« Susan Baxendale ergriff das Wort. »Wir werden al les tun, damit Mr Primas Aufenthalt in London so rei bungslos verläuft, wie er es wünscht«, meinte sie. »Sa gen Sie ihm bitte, dass er sich auf unsere Zusammen arbeit verlassen kann.« Cecilia Rossi lächelte kühl. »Danke«, sagte sie. »Signor Prima hat nichts anderes erwartet. Dennoch hat er mir aufgetragen, ihrer Organisation einige seiner Bedenken hinsichtlich seines sicheren Aufenthaltes in London vorzutragen.« Ihr Blick wanderte durch den Raum. Maddie hatte den Eindruck, dass eine Spur von Geringschätzung darin lag. Susan Baxendales Stimme war sanft wie immer. »Ich bin mir sicher, dass die PIC mit allen Schwierig keiten fertig wird, mit denen Mr Prima während seines Aufenthaltes konfrontiert werden könnte.« Die beiden Frauen sahen sich kurz an, wichen dann jedoch dem Blick der jeweils anderen aus. »Das erwar tet und verlangt Signor Prima auch«, sagte Cecilia Rossi schließlich. Sie hielt inne, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Wie auch immer – Signor Prima hatte in der Vergangenheit einigen Grund, die Fähig keiten ausländischer Polizeien zu bezweifeln. Darum hat er sich auch entschlossen, eine eigene Schutztruppe mitzubringen. Signor Prima wird von zwölf Leibwäch tern begleitet, die dafür sorgen, dass seine Termine ohne unvorhergesehene Zwischenfälle stattfinden kön nen.« 15
»Die Londoner Polizei ist sehr wohl in der Lage, Signor Prima zu schützen«, entgegnete Susan Baxen dale mit ruhiger Autorität. »Es ist nicht nötig, dass er eine private Armee mitbringt, Miss Rossi. In der Tat halten wir nicht viel von bewaffneten Leibwächtern in London. Ich hoffe, Sie werden Signor Prima das ver deutlichen.« Rossi hob die Hand. »Sie haben mich missverstan den«, sagte sie glatt. »Signor Primas Leibwache wird nicht bewaffnet sein. Und wenn er sein eigenes Team mitbringt, bedeutet dies in keiner Weise, dass er an Ihrer Kompetenz zweifelt. Aber ein Mann in Signor Primas Position hat viele mächtige Feinde – und er fühlt sich sicherer, wenn er weiß, dass er so gut wie möglich geschützt wird.« Susan Baxendales Gesicht blieb unbewegt. »Ich verstehe Signor Primas Sorge um sein eigenes Woh lergehen voll und ganz«, sagte sie. »Aber er muss ver stehen, dass seine Sicherheit während des Aufenthaltes in diesem Land allein Aufgabe der hiesigen Polizei ist.« »Ich werde Ihre Bedenken an Signor Prima weiter leiten«, sagte Cecilia Rossi mit etwas geneigtem Kopf. »Ein Mann, der gerade dabei ist, die unangefochtene Macht in seinem Land zu übernehmen, möchte auf keinen Fall die diplomatischen Beziehungen zu einem so hoch angesehenen ausländischen Nachbarn trüben.« Irgendwie schaffte es Cecilia Rossis Stimme jedoch, genau das Gegenteil von dem auszudrücken, was sie gerade gesagt hatte. 16
Susan Baxendale hob eine Augenbraue. »Gut«, sag te sie. »Vielen Dank, dass Sie uns über Signor Primas Bedenken unterrichtet haben. DS Jones wird Sie hi nausbegleiten.« Cecilia Rossi schaute noch einmal mit schweren Li dern in die Runde und wurde dann hinausgeführt. Die Tür schloss sich hinter ihr. Ein unzufriedenes Murmeln ging durch die Reihen. »Für wen hält sie sich eigentlich?«, fragte einer der Officers und sprach damit allen anderen aus der Seele. Susan Baxendale nahm wieder ihren Platz am Pult ein; ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Sie hält sich für das, was sie ist: die Sprecherin des Man nes, der wahrscheinlich Italiens nächster Premierminis ter wird«, sagte sie. Danny hob eine Hand. »Entschuldigung«, sagte er. »Kann mir irgendjemand Genaueres über diesen Prima sagen? Ich habe zwar schon von ihm gehört, könnte aber etwas mehr Hintergrundwissen brauchen.« Jackie Saunders, die die Kommunikationsabteilung leitete, meldete sich zuerst zu Wort. »Prima scheint halb Italien zu gehören«, begann sie. »Er ist ein Selfmade-Milliardär. Er hat mit Computer software angefangen und ein Vermögen damit ge macht, das er dazu nutzte, Fernsehsender aufzukaufen. Danach hat er Kaufhäuser, Hotels, Kinos und Verlage erworben. Dann hat er sich ein großes Stück vom Internet-Kuchen abgeschnitten. Inzwischen ist er Hauptanteilsinhaber vieler erfolgreicher DotcomGesellschaften.« 17
»Ambitionierter Typ«, sagte Danny. »Aber das war eben noch nicht alles«, fuhr Jackie Saunders fort. »Nachdem er erst einmal das Medien imperium hinter sich hatte, stürzte er sich auch in die Politik. Er hat seine eigene Partei gegründet, die Luce Italia – das Licht Italiens. Die nächsten Wahlen stehen bevor und Gerüchte besagen, dass er mit schlichtweg jeder Partei Koalitionen eingehen wird – wenn er nur Premierminister wird.« Susan Baxendale nickte. »Prima ist es in den letzten Monaten gelungen, mehrere kleinere Parteien für sich zu gewinnen. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge liegt er bereits knapp hinter dem Oppositionsblock. Jetzt braucht er nur noch einen einzigen Schub – und er kann das Land regieren.« »Wäre das gut oder schlecht?«, fragte Maddie. Susan Baxendale räusperte sich. »Das tut bei unserer Arbeit nichts zur Sache«, mein te sie. »Wir müssen seine Sicherheit gewährleisten, solange er in London ist – und das werden wir auch tun.« »Bringt er seine Familie mit?«, fragte Alex. »Das glaube ich nicht«, warf Jackie Saunders ein. »Er wurde vor zwei Jahren geschieden. Es gibt drei Kinder, zwischen 16 und 20 Jahren. Sie leben mit ihrer Mutter in einem Palazzo nahe Florenz. Prima hat sich in letzter Zeit kaum um sie gekümmert. Nicht, seit er Lucia Barbieri nahe steht.« Sie lächelte in den Kreis ihrer Kollegen. »Ich habe vor ein paar Monaten im Hello-Magazin etwas darüber gelesen. Lucia Barbieri 18
ist eine viel versprechende junge Sopranistin. Sie ist nur halb so alt wie die ehemalige Signora Prima – und obendrein sehr attraktiv. Prima unterstützt ihre Karrie re jetzt schon seit einigen Jahren und man beobachtet die Romanze – was seiner Sprecherin, Cecilia Rossi, nicht besonders schmecken dürfte. Es wird nämlich geklatscht, dass sie ihn heiraten wollte, wenn Primas Frau aus dem Weg wäre.« Jackie Saunders lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Prima nennt sich selbst Il Cuore d’Italia – das Herz Italiens«, fuhr sie fort. »Bescheidenheit gehört nicht gerade zu seinen Stärken. Und kürzlich wurde Lucia Barbieri als La Voce d’Italia bezeichnet, als die Stim me Italiens. Es ist also nicht besonders schwer zu erra ten, wer das lanciert hat. Ihr Auftritt bei der First Night of the Proms wird ihr erstes großes Engagement au ßerhalb Italiens sein. Prima hat vor, einen großen internationalen Star aus ihr zu machen.« »Man muss noch etwas über Prima wissen«, sagte Baxendale. »Er glaubt, Ziel eines Mordanschlages zu sein. Er hat immer wieder behauptet, dass die italieni sche Mafia hinter ihm her sei und die gegenwärtige Regierung nichts tue, um ihn zu schützen.« »Gibt es irgendeinen Beweis dafür?«, fragte einer der Officers. »Prima sagt, es gäbe einen Beweis«, antwortete Su san Baxendale. »Aber er hat ihn noch nicht öffentlich gemacht. Wie auch immer, es ist schon möglich, dass es einige Leute der italienischen Mafia auf ihn abgese hen haben. Er ist extrem einflussreich und ich bin si 19
cher, dass es Leute gibt, die ihn lieber von der Bildflä che verschwinden sähen. Wir sollten seine Aussagen nicht einfach deshalb ignorieren, weil er sie zu Wahl kampfzwecken missbraucht, um die amtierende Regie rung auszustechen.« Ihre Finger umschlossen die Sei ten des Pults, sie ließ den Blick durch den Raum wan dern. »Sollte auf Prima wirklich ein Attentat verübt werden, wird das garantiert nicht geschehen, solange ich das Kommando habe«, erklärte sie. »Okay?« Keine Einwände. »Okay«, sagte Baxendale. »Dann ist das vorläufig alles.« Sie sah über den Tisch zu den drei Trainees. »Maddie, Danny, Alex – ich möchte Sie noch kurz sprechen. Die anderen können gehen.« Eine Minute später war der Raum leer. »Ich übergebe Ihnen den Fall Prima«, sagte Susan Baxendale. »Danny und Alex, Sie gehen in den Außeneinsatz und versuchen so engen Kontakt wie möglich mit Mr Prima zu halten. Maddie, Sie bleiben in der Zentrale, koordinieren alles und berichten mir ständig über die neuesten Entwicklungen.« »Darf ich nicht auch in den Außeneinsatz?«, fragte Maddie. »Nein. Diesmal nicht.« Maddie war enttäuscht, die ganze Woche an den Computer gefesselt zu sein. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte mit ihrer Chefin herumzustreiten. »Es ist die Aufgabe der PIC, die Präsenz der briti schen Polizei zu zeigen – egal, ob Signor Prima das 20
gefällt oder nicht«, sagte Susan Baxendale zu ihnen. »Und sicherzustellen, dass sein Aufenthalt in London reibungslos verläuft.« »Und was ist mit dem Dutzend Leibwächter, das er mitbringt?«, fragte Alex. »Behalten Sie die Männer im Auge«, sagte Baxen dale. »Sorgen Sie dafür, dass sie sich nicht danebenbe nehmen. Eine falsche Bewegung und ich lasse ihre Abschiebung durch das Innenministerium bewirken – und zwar pronto«, fügte sie hinzu. »Und noch etwas müssen Sie wissen: Prima verfügt über Verbindungen zu DeBeers, dem Diamantenhändler. Er verhandelt gerade darüber, den berühmten Anhänger der Callas als Leihgabe zu bekommen.« »Wow!«, sagte Maddie. »Der Diamantenanhänger, der einmal Maria Callas gehörte, der Opernsängerin? Die ist doch unglaublich teuer, nicht?« »Sie ist eine halbe Million Pfund wert«, sagte Ba xendale. Danny stieß einen leisen Pfiff aus. »Prima will, dass Lucia Barbieri sie bei ihrem First-Night-Auftritt trägt«, fuhr Susan Baxendale fort. »Das ist bis jetzt eigentlich ein Geheimnis, aber solche Sachen sprechen sich manchmal eben doch herum. Ich möchte also, dass Sie am Freitag besonders wachsam sind.« Sie musterte die drei Trainees. »Und ich möchte nicht, dass Sie sich so sehr auf Prima konzentrieren, dass jemand direkt vor Ihrer Nase unbemerkt mit dem Callas-Anhänger ver schwindet. Verstanden?« »Verstanden«, sagte Alex. 21
»Gut.« Baxendale sammelte ihre Unterlagen ein und ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal um und sah sie an. »Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie mich nicht enttäuschen wer den.« Die Tür schloss sich heftig hinter ihr. Die drei Trainees warfen sich Blicke zu. »Okay«, sagte Danny grinsend. »Sieht ganz so aus, als hätten wir drei einen brandneuen Fall.«
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Zweites Kapitel Eine junge, dunkelhaarige Frau liegt wie tot am Boden. Ein junger Mann steht neben ihr. Ein anderer Mann kommt dazu. Verzweifelt. Außer sich. Er sieht seine geliebte Frau an. Tot. Rasend vor Hass und Verzweiflung zückt er ein Messer und sticht auf den ersten Mann ein. Der Mann fällt zu Boden – tödlich verwundet. Der Mörder hält kurz inne und wirft einen letzten Blick auf seine Frau. Dann stößt er sich das Messer in die eigene Brust. Auch er fällt zu Boden. Die Augenlider der jungen Frau beginnen zu flat tern. Sie ist nicht tot. Sie erwacht aus einer tiefen Be täubung. Sie starrt panisch die beiden Männer an, die neben ihr liegen. Sie entwindet der Faust ihres jungen Mannes das Messer und richtet es auf sich selbst. Sie bricht zusammen. Für einen Augenblick herrscht Stille. Es beginnt zu regnen. Große, langsame, schwere Tropfen. Der Boden wird dunkler und verwandelt sich in den Gehweg einer Stadt. Es ist Nacht. Das junge Mädchen, das da im Regen liegt, hat nun keine dunk 23
len Haare mehr. Es ist immer noch schön, aber jetzt ist es blond. Als der Regen auf die beiden Personen neben ihr fällt, beginnen sie sich zu verwandeln. Eine von ihnen wird zu einer älteren Frau; sie stirbt. Die andere verwandelt sich in einen grauhaarigen Mann. Er ist schwer verletzt. Sie wurden nicht erstochen. Man hat bei einem At tentat auf sie geschossen. Auf alle drei. Dann ertönt eine Stimme. Entfernt. Echoend. »Ein gute Nacht – von Mr Stone …« Der Regen wird stärker, wird lauter und lauter und prasselt nun dicht auf den bald schon überfluteten Ge hweg. Zu laut, um wirklich Regen zu sein. Es ist Bei fall. Jubelrufe. »Bravo!« Der strömende Regen ist Applaus. Das Auditorium applaudiert begeistert. Die Bühnenscheinwerfer werden schwächer und die Szenerie versinkt in Dunkelheit.
Auch Maddie war aufgestanden und hatte applaudiert. Ihre Augen waren feucht. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte nicht sagen, wie bewegt sie war. Sie klatschte, bis ihr die Hände wehtaten. Die Scheinwerfer gingen wieder an. Die Ballett tänzer kamen erneut auf die Bühne. Genossen ihren Applaus. Ein Stück weit vom zentralen Spot entfernt erkannte Maddie ihre Freundin Laura. Sie war eines 24
der Blumenmädchen, die im zweiten Takt Julia um tanzten. »Romeo und Julia« von Prokofjew. Dies war das erste Ballett, das Maddie seit langer Zeit besuchte. Vor dreizehn Monaten war sie selbst noch eine junge Tän zerin der Royal Ballet School gewesen. Nur einen Mo nat später waren sie und ihre Eltern auf einer Londoner Straße niedergeschossen worden. Es war ein Racheakt gewesen. Ihr Vater arbeitete in leitender Position bei der Polizei und war dafür ver antwortlich, dass einer der führenden Köpfe der Lon doner Unterwelt hinter Gitter kam. Das Attentat war die Rache dafür. Maddies Vater war seither für den Rest seines Lebens verkrüppelt. Ihre Mutter war noch am Tatort gestorben. Maddies Hoffnungen, einmal als Tänzerin zu arbeiten, wurden durch einen Schuss in ihre Hüfte zunichte gemacht. Und das war es, was Maddie am Ende des Balletts gesehen hatte – nicht Romeo und Julia, sondern sich selbst und ihre geliebten Eltern. Kein Schauspiel, sondern eine reale Tragödie auf den Straßen Lon dons. Die Tänzer und Tänzerinnen bekamen Blumen überreicht. Sie verbeugten sich und knicksten. Dann verließen sie nacheinander die Bühne. Langsam ebbte der Applaus ab. Die Lichter im Parkett gingen an. Maddie trieb in der Menge der Zuschauer zum Aus gang. Es war seltsam, nach der künstlichen Dunkelheit der Albert Hall nun in die Sonne hinauszugehen. Selt sam und schön zugleich, wieder im Licht zu sein an 25
diesem frühen Sonntagabend im Juli. – Und es sind noch fünf Tage, bis die Bombe unter dem Sessel in der königlichen Loge angebracht wird. Die Leute strömten auf die Kensington Gore hinaus. Sie gingen zu ihren Autos, zu den Bushaltestellen oder in Richtung High Street Kensington, der nächsten U Bahn-Haltestelle. Gegenüber der stark befahrenen Straße ragte das Albert Memorial wie die Verzierung einer viktorianischen Hochzeitstorte in den klaren blauen Himmel. Dahinter und daneben befanden sich die Rasenflächen, Bäume und die üppigen Blumenbee te der Kensington Gardens. Maddie hatte eigentlich auf Laura warten wollen. Aber ihr war jetzt nicht nach Gesellschaft. Ihre Gefüh le lagen bloß. Der ganze Horror jener schrecklichen Nacht war wieder in ihr hochgekommen. Sie verkroch sich in ihre Jacke, schob die Hände tief in die Taschen und schirmte sich so von der restlichen Welt ab. Sie wandte sich nach links, um die nächste UBahn in Richtung St John’s Wood und nach Hause zu nehmen. Und dann sah sie ihn. Den Wagen eines Eisverkäu fers. Hell und bunt leuchtete er in der Sonne. Er ließ sie an unwiederbringliche, sorglose Zeiten denken. Er be schwor fröhliche Erinnerungen an den letzten Sommer herauf – an eine fünfzehnjährige Maddie Cooper, die Arm in Arm mit anderen White-Lodge-Tanzschü lerinnen spazieren ging und ein rasch in der Sonne schmelzendes Eis aß. 26
Ihre Füße trugen Maddie automatisch zu dem Eis verkäufer. Sie stellte sich an. Über der Verkaufsklappe tanzten leuchtend rote Worte auf einem blauen Hintergrund. DAS BESTE EIS DER WELT – NUR FÜR DICH! Sie lächelte. Nur für mich! Ein junger Mann stand hinter der Theke. Er hatte kurze braune Haare. Ein hübsches Gesicht. Und ein nettes Lächeln. Braune Augen. Maddie fand sich plötzlich am Anfang der Schlange wieder. Sie wusste nicht, was für ein Eis sie wollte – sie hat te die ganze Zeit nur den jungen Mann angeschaut. Sie hatte sein Lächeln genossen und ihre eigene innere Düsternis darüber ganz vergessen. »Woher willst du wissen, dass es das beste Eis der Welt ist?«, platzte sie heraus und zeigte auf das Schild. Er lachte. »Es ist so, glaub mir. Ich hab sie alle ver sucht. Unseres ist definitiv das beste.« Maddie lachte ebenfalls. »Wenn das so ist, dann möchte ich eine große Waffel mit viel Sahne.« »Kommt sofort.« Doch sie bekam ihr Eis nicht. Plötzlich wurden Rufe laut. Der junge Mann in dem Eiswagen schien zuerst verwirrt – dann jedoch wütend und ängstlich. Plötzlich flog etwas an Maddie vorbei. Es prallte von der Seite des Eiswagens ab. Ein Ziegels tein. Sie wirbelte herum. Die Leute am Ende der Schlan ge stoben auseinander. 27
Es waren vier Männer. Gedrungene Typen. Gesich ter wie geballte Fäuste. Brüllend rannten sie auf den Wagen zu und stießen die Leute beiseite. Ein weiterer Stein traf den Wagen, Glas splitterte. »Hey!«, rief Maddie, als sie von einem Ellenbogen getroffen und zu Boden geworfen wurde. Sie meinte den Eisverkäufer noch sagen zu hören: »Ich habe keine Angst vor euch …« Dann sah sie, wie einer der Schlägertypen in den Wagen langte, den jungen Mann packte und mühelos durch die Luke zog. Eiskübel wurden ausgeschüttet und Sirupflaschen zerschmettert. Bunte Flüssigkeiten klatschten schwer auf den Gehweg. Der Eisverkäufer stürzte auf den Boden. Die Schlä ger johlten und pfiffen. Alle Umstehenden zogen sich immer weiter zurück, geschockt und zu ängstlich, um zu helfen. Die vier Schläger standen um den jungen Mann herum. Einer holte mit seinem schweren Stiefel aus und trat zu. Maddie begann vor Wut zu kochen. Vier gegen ei nen! Sie rappelte sich auf. In ihrem Kopf hörte sie die Stimme ihres Kampf sportlehrers: Im Ju-Jutsu kommt es nicht in erster Linie auf Kraft an. Sie stürzte sich auf den nächsten Schläger und ver suchte sich verzweifelt an ihr Training zu erinnern. Sie packte ihn am Handgelenk, drehte ihm den Arm herum und drückte dann fest auf sein Ellenbogengelenk – in nerhalb weniger Sekunden hatte sie den großen bulli gen Mann in die Knie gezwungen. 28
Ein zweiter ging auf sie los. Sie wehrte seinen Ang riff mit einem Handkantenschlag auf sein Brustbein ab und duckte sich. Er stolperte über sie. Sie verpasste ihm einen Atemi-Waza-Schlag. Er krachte auf den Rücken und kam nicht mehr hoch. Der Eisverkäufer war inzwischen wieder auf die Bei ne gekommen, wirkte jedoch zu benommen, um sich verteidigen zu können. Erinnere dich: Gleichgewicht – Hebelkraft – Ge schwindigkeit. Ein dritter Typ attackierte den jungen Mann erneut. Ein anderer stürzte sich mit fliegenden Fäusten auf Maddie. Sie hatte noch nie bei einer Auseinandersetzung ihre Ju-Jutsu-Kenntnisse angewandt. Sie hatte immer ge dacht, es nicht fertig bringen zu können, einen anderen Menschen zu schlagen. Doch als sie die brutale Wut im Gesicht ihres Angreifers sah, lernte sie etwas über sich selbst: Sie wollte kein Opfer sein. Sie wehrte einen Schlag ab und sprang zur Seite, um einem weiteren auszuweichen. Der Mann brüllte. Maddie wirbelte herum und verpasste ihm mit dem Absatz ihres Schuhs einen Tritt in den Magen. Unter drückt stöhnend sank er zusammen. Die vier Schläger starrten sie ungläubig an. So bru tal sie auch wirkten – sie waren verunsichert. Wenn das hier eine Fernsehserie gewesen wäre, hätte Maddie an dieser Stelle irgendeinen coolen Kommentar abge geben. Doch es war keine Fernsehserie. Es war die Wirklichkeit und Maddie war zu angespannt und wü tend, um etwas sagen zu können. 29
Der Eisverkäufer verpasste dem halb abgewandten Gesicht eines der Typen einen Schlag. Sein Kopf flog zurück, er ließ den Kragen des jungen Mannes los. Als sie sahen, wie Maddie sich wehrte, trauten sich nun auch einige der Umstehenden einzugreifen. Einer der Schläger deutete auf den jungen Mann. »Wir sind noch nicht fertig miteinander!«, knurrte er. »Das hier ist nicht dein Gebiet. Bleib hier weg oder wir kommen wieder.« Zwei der Schläger rappelten sich vom Boden auf. Sie halfen dem vierten beim Auf stehen und zogen sich zurück. Ein graues Auto wartete schon auf sie. Sie stiegen ein und jagten davon. Maddie fühlte sich benommen und erschöpft. Der junge Mann sank mit einem Stöhnen zu Boden. Die Umstehenden rückten näher. Maddie kniete sich neben ihn. »Bist du okay?«, fragte sie. »Ich glaub schon«, keuchte er. »Danke für die Hil fe.« Er sah sie benommen an. »Du hast Himbeersoße in den Haaren.« Maddie stieß ein atemloses Lachen aus. Plötzlich fühlten sich ihre Beine total schwach an. Ehe sie sichs versah, saß sie neben ihm auf dem Gehweg und konnte es noch kaum fassen, was sie da gerade getan hatte.
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Ein paar Minuten später. Maddie und der junge Mann waren im Laderaum des Eiswagens. Sobald klar war, dass kein wirklich schwerer Schaden entstanden war, hatte sich die kleine Gruppe von Passanten zerstreut. »Ich heiße Liam Archer«, sagte ihr Gegenüber und zupfte Maddie Himbeersoße aus ihren Haaren. »Maddie Cooper.« »Nochmals danke für die Hilfe.« Er sah ihr in die Augen. »Wie du dich auf die Typen gestürzt hast – wow! Wo lernt man so was?« »Ich besuche einen Selbstverteidigungskurs«, sagte Maddie. Liam lächelte. »Wenn du nicht da gewesen wärst, hätten sie Hackfleisch aus mir gemacht.« Maddie lächelte zurück. »Es war nicht fair«, sagte sie. »Vier gegen einen …« Liam untersuchte ihre Haare, ob er ein Fleckchen Himbeersoße übersehen hatte. »Ich glaube, das war’s«, sagte er. »Danke.« Maddie musterte ihn besorgt. »Weißt du, warum diese Typen dich angegriffen haben?« »Sie wollten mich einschüchtern«, antwortete er. »Das passiert zurzeit allen Eisverkäufern in London.« »Wirst du es der Polizei melden?« »Was hätte das für einen Sinn?«, fragte er. »Die können da auch nichts machen. Alle Eisverkäufer müs sen sich diesen Schlägern fügen. Bald wird es über haupt keine unabhängigen Verkäufer mehr geben.« Maddie biss sich auf die Unterlippe. Sollte sie Liam 31
sagen, dass sie Trainee bei der Polizei war und von dem Eiskrieg wusste? Sie entschied sich, es nicht zu tun, obwohl sie nicht genau sagen konnte, warum. Sie runzelte die Stirn. »Wenn sich niemand von euch an die Polizei wendet, kann sie euch auch nicht helfen«, meinte sie. »Was, wenn deine Angreifer zurückkom men? Du hast doch gehört, was sie sagten, als sie gin gen.« »Ach, vielleicht ist das auch nur Gerede«, sagte Liam. »Meistens geben diese Schläger klein bei, wenn man sich wirklich wehrt.« Er lächelte. »Du könntest ja immer als Leibwächterin mit mir mitfahren.« »Oh, danke, ich hab schon einen Job«, sagte Maddie lächelnd. »Wie schade«, sagte Liam. Ihre Blicke trafen sich. Es entstand ein kurzes Schweigen. Liam unterbrach es. »Hey, du hast ja dein Eis noch gar nicht bekom men!«, sagte er. »Ich mach dir eines. Zu Hause – oder doch lieber hier im Wagen?« Ein paar Minuten später saßen sie nebeneinander und aßen ihr Eis. Maddie lächelte. »Ich glaube, das ist das beste Eis, das ich seit Jahren gegessen habe.« »Hab ich dir doch gesagt!« Liam lachte. »Das Schild hat Recht. Das beste Eis der Welt!« Er sah sie an. »Ich möchte mich gern angemessen für deine Hilfe bei dir bedanken«, sagte er. »Vielleicht könnte ich dich zum Essen einladen?« Sie lächelte. »Ja«, sagte sie, »sehr gern sogar.« 32
»Hast du vielleicht morgen Zeit – zum Mittages sen?«, fragte Liam. »Ja, habe ich«, sagte Maddie. »Wie gesagt, ich komme sehr gern.«
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Drittes Kapitel
In der PIC-Zentrale. Montag, 9 Uhr 45. Maddie musste an diesem Morgen zuerst einen Be richt über den Zwischenfall vor der Royal Albert Hall schreiben und ihn allen wichtigen Leuten mailen. Zwanzig Minuten später wurde sie von Susan Ba xendale in ihr Büro gerufen. Auf ihrem Bildschirm stand Maddies Bericht. »Gute Arbeit«, sagte Susan Baxendale. »Es ist nur schade, dass Mr Archer es ablehnt zur Polizei zu ge hen.« Sie fixierte Maddie mit ihrem stählernen Blick. »Haben Sie ihm gesagt, dass Sie Police Officer sind?« »Nein«, gestand Maddie. »Ich wollte ihn nicht unter Druck setzen. Er war ziemlich aufgewühlt.« Baxendales Blick war noch immer auf Maddie ge richtet. »Verstehe«, sagte sie. Maddie machte der un verwandte Blick verlegen. Sie fragte sich, ob man ihr persönliches Interesse an Liam aus ihrem Bericht he rauslesen konnte. Sie hoffte, dass das nicht so war. Sie hatte ihre Verabredung zum Mittagessen schließlich nicht erwähnt. Sie wusste, dass Susan Baxendale das absolut unprofessionell finden würde. »Können Sie Kontakt mit Mr Archer aufnehmen?«, 34
fragte Baxendale. In dem Bericht war seine Adresse nicht angegeben. Maddie zögerte – warum wollte ihre Chefin das wissen? Dann entschied sie sich für ein ein faches: »Ja.« »Ich möchte, dass Sie sich mit ihm unterhalten«, sagte Baxendale. »Sagen Sie ihm, dass Sie für die Po lizei arbeiten. Versuchen Sie ihn zu überzeugen, dass es besser ist, den Zwischenfall offiziell zu melden. Er klären Sie ihm, dass wir diese Leute vor Gericht brin gen können, wenn er uns hilft.« »Ich werd’s versuchen«, sagte Maddie. »Gut.« Susan Baxendale warf einen Blick auf die Papiere auf ihrem Tisch. »Wie ich sehe, wollen Sie heute den Nachmittag freinehmen?«, sagte sie und schenkte Maddie eines ihrer seltenen Lächeln. »Haben Sie etwas vor?« »Ich will nur mit einem Freund essen gehen.« »Dann viel Spaß.« Maddie verließ das Büro. Sie verstand, dass es wichtig war, Liam von einer Zusammenarbeit mit der Polizei zu überzeugen. Es würde nur schwierig wer den, das in ihr Gespräch einfließen zu lassen ohne ihre gerade beginnende Beziehung zu zerstören.
Flughafen Heathrow. Terminal 2. 11 Uhr 45. 35
In der Ankunftshalle. Alex und Danny warteten darauf, dass die Passagie re des Alitalia-Fluges AZ 253 aus Mailand den Zollbe reich passierten. Das Flugzeug war pünktlich um 11 Uhr 20 gelandet. Gleich müssten die ersten Passagiere durch die Doppeltüren kommen. »Hast du eigentlich eine Ahnung, wie dieser Typ aussieht?«, fragte Danny. Alex reichte seinem Kollegen ein zusammengefalte tes Blatt Papier. Es war ein digitales Foto. Kopf und Schultern. Ein Mann Mitte fünfzig. Dunkle Haare, teilweise schon grau. Nicht besonders hübsch, dachte Danny. Aber irgendetwas an seinem kräftigen Kinn, dem entschlossenen Mund und dem ruhigen Blick sei ner tief liegenden schwarzen Augen machte deutlich, dass mit Giorgio Prima nicht zu spaßen war. »Und die Sängerin?«, fragte Danny. »Lucia. Sie ist wie alt?« »Vierundzwanzig«, sagte Alex. Danny stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hoffe, dass sich solche Frauen auch noch für mich interessie ren, wenn ich erst mal in Primas Alter bin.« »Wenn man ein paar Milliarden Lire auf dem Konto hat, ist es nicht besonders schwer, eine bestimmte Art Frau anzuziehen«, meinte Alex. »Ich hab mir eine Datei über Signora Barbieri angeschaut. Sie ist eine ambitio nierte Lady. Wahrscheinlich meint sie mit Giorgio Pri mas Hilfe noch schneller an die Spitze zu kommen.« Die Türen gingen auf und die ersten Passagiere ka men heraus. 36
Giorgio Prima war nicht zu übersehen. Umgeben von einer ganzen Gruppe von Männern in schwarzen Anzügen, ging er Arm in Arm mit einer jungen Dame. Es war Lucia Barbieri – jeder Zentimeter eine Diva. Weitere Herren in schwarzen Anzügen folgten, sie zogen mit Gepäck beladene Trolleys hinter sich her. Cecilia Rossi, die energische Sprecherin Primas, schien wie aus dem Nichts aufzutauchen. Alex und Danny hatten sie nicht warten gesehen. Sie unterhielt sich kurz mit Prima. Er nickte und die ganze Gruppe durchquerte die Halle. »Also dann, stellen wir uns vor«, sagte Alex. Doch ehe sie bis auf zwei Meter an Signor Prima herangekommen waren, stellten sich ihnen vier Män ner in den Weg. Einer von ihnen hatte eine lange Narbe auf der Wange. Er sagte etwas auf Italienisch. Es hörte sich allerdings nicht gerade an, als biete er ihnen an, sie mit nach London hineinzunehmen. »Wir würden gern kurz mit Signor Prima spre chen«, sagte Alex. Er griff in seine Jacke nach dem PIC-Ausweis. Der Mann packte ihn hart am Handge lenk und zog Alex’ Hand mit einem kräftigen Ruck aus der Jacke. Wieder sagte der Mann etwas auf Italie nisch. Es klang scharf. Wie ein Befehl oder ein Fluch. »Lassen Sie los, Mister!«, sagte Alex und riss seine Hand aus der Umklammerung. Ein dünner Mann mit einem schmalen, scharf ge schnittenen Gesicht stellte sich vor Danny hin; seine Augen blitzten wie zwei Messerklingen. Danny hob 37
seine Hände etwa auf Brusthöhe. Eine beruhigende Geste. »Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Ich bin einer von den Guten.« Weitere Herren in schwarzen Anzügen umringten sie. Dann bellte Cecilia Rossi einen kurzen italienischen Befehl und sie zogen sich augenblicklich zurück. Alex rieb sich das Handgelenk und funkelte den Mann mit der Narbe böse an. Der grinste jedoch nur höhnisch und wandte sich ab. Cecilia Rossi warf Alex und Danny einen Blick un ter schweren Lidern zu. »Was wollen Sie?«, fragte sie. Alex zog seinen Ausweis hervor. »Wir waren am Samstag bei der Besprechung in der PIC-Zentrale mit anwesend«, sagte er. Sie warf einen Blick auf den Ausweis. »Ist das so? Ich erinnere mich an keinen von Ihnen.« »Wir sind zum Schutz von Signor Prima hierher ab kommandiert worden«, fügte Danny hinzu. »Wir soll ten den Flug abpassen und uns vorstellen.« »Vorstellen ist nicht nötig«, sagte Cecilia Rossi knapp. »Ich werde Signor Prima sagen, dass Sie mich über Ihre Anwesenheit unterrichtet haben.« Sie wedel te mit der Hand. »Sie können jetzt gehen.« »Wir sollen Signor Prima zu seinem Hotel beglei ten«, sagte Alex. Es gelang ihm gerade noch, die höfli che Fassade aufrecht zu erhalten. Cecilia Rossi lächelte ihn herablassend an. »Signor Prima hat ausreichend Begleitung«, sagte sie. »Aber 38
wir sind sehr dankbar für Ihr großzügiges Angebot.« Sie drehte sich um und warf ihnen einen abschließen den Kommentar über die Schulter zu. »Wir sagen es Ihnen, wenn wir Sie brauchen.« Alex wurde noch wütender. Er wollte ihr nachge hen, aber Danny legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. Diese Frau Rossi mochte eine Nervensäge sein, aber es hatte keinerlei Sinn sich auf einen Streit mit ihr einzulassen. Also sahen die beiden PIC-Officers zu, wie Prima und seine schwarz gekleideten Leibwächter durch die Menge davongingen. »Die Lady geht mir absolut auf die Nerven«, knurr te Alex. »Die knöpfen wir uns noch vor!« Danny sah ihn fragend an, doch Alex grinste nur. Er ging los und machte Danny ein Zeichen, dass er mit kommen sollte. Sie beobachteten, wie Prima und seine Mini-Armee in eine bereits wartende Flucht schwarzer Limousinen stiegen. »Wie wäre es, wenn wir einmal prüften, wie gut Primas Leute wirklich sind?«, fragte Alex seinen Kol legen. »Ein kleiner Test, hm?« Danny sah den eleganten Limousinen nach, die mit hoher Geschwindigkeit davonfuhren. Er nickte. »Klar, warum nicht?« Sie gingen zum Parkplatz, wo Alex’ Motorrad park te. Zehn Minuten später fuhren sie auf der Autobahn M 4 in Richtung Stadtmitte.
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Es war 11 Uhr 50. Maddie stand in der PIC-Toilette vor dem Spiegel und kontrollierte ein letztes Mal vor ihrem mittäglichen Date ihr Aussehen. Sie hatte ihre Arbeitsklamotten gegen etwas Hübscheres vertauscht: ein kurzärmeliges Top und einen leichten, sommerli chen Rock. Jackie Saunders kam herein. »Sie sehen gut aus, Maddie«, sagte sie. »Danke.« »Wer ist der Typ? Jemand Besonderes?« »Ich weiß es noch nicht«, sagte Maddie. »Viel leicht.« Sie lachte. »Woher wussten Sie, dass ich mich mit einem Mann treffe?« Jackies Grinsen wurde noch breiter. »Sie haben die sen besonderen Blick drauf, als würden Sie zum ersten Date gehen.« Maddie runzelte die Stirn. »Das stimmt nicht, oder?« Sie sah wieder in den Spiegel. »Ich will schließlich nicht zu begeistert aussehen.« »Sie machen das schon richtig«, beruhigte sie Ja ckie Saunders. Dann hielt sie Maddie den Ausdruck eines digitalen Fotos hin. Eine silberne Halskette mit einem großen tränenförmigen diamantenen Anhänger. »Der berühmte Callas-Anhänger«, flüsterte Jackie. »Prima will ihn sich von DeBeers ausleihen. Wie wäre es mit so etwas für Ihr erstes Date? Umwerfend, was?« Maddie lachte. »Ich glaube nicht, dass ich mir die Versicherungsprämie leisten könnte«, sagte sie. 40
Sie schaute auf ihre Uhr. 11 Uhr 55. Sie musste los. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, strich sich eine einzelne Haarsträhne aus dem Gesicht und ging zur Tür. »Viel Spaß«, sagte Jackie Saunders lächelnd. »Ich tu mein Bestes.« Als Maddie im Aufzug stand, begannen die Schmet terlinge in ihrem Bauch zu tanzen. Sie hatte schon sehr lange keine Verabredung mehr gehabt. Über ein Jahr. Es war aufregend, aber zugleich auch etwas ängsti gend. Sie hoffte, dass alles gut gehen würde. Sie hoffte, Liam würde nicht Hals über Kopf davon laufen, wenn sie ihm sagte, dass sie bei der Polizei war. Sie hoffte, sie würde nicht zu spät kommen, ihr Ge tränk verschütten – oder, dass ihr irgendein Speiserest zwischen den Schneidezähnen stecken blieb … Aber vor allem hoffte sie, dass er sie mögen würde.
Alex parkte seine Ducati auf dem Hamilton Place und die beiden PIC-Agenten gingen zur Ecke Park Lane. In beiden Richtungen der vierspurigen Straße, die um den Hyde Park führte, herrschte starker Verkehr. Sie be fanden sich im Herzen von Mayfair. Im Süden führte die Park Lane Richtung Knightsbridge, im Norden Richtung Marble Arch und Bayswater. 41
Direkt gegenüber ragte die beeindruckende Fassade des Londoner Hilton Hotels in den Himmel. »Achtunddreißig Stockwerke«, zitierte Danny die Internetseite, die er mit seinem Handy angewählt hatte. »Dreiundfünfzig Suiten.« Er grinste. »Soll ich uns eine reservieren?« »Nur, wenn du sie bezahlst«, sagte Alex und sah an dem Gebäude hoch. »Meinst du, Susan Baxendale würde dafür auf kommen?« fragte Danny. »Du weißt schon: Unver meidliche Ausgaben und so …« »Träum weiter«, sagte Alex und eilte über die Old Park Lane zum Hotel hinüber. Danny unterbrach die Internetverbindung und folgte ihm. Auf dem großen Vorplatz wimmelte es von an kommenden und abfahrenden Autos. »Und jetzt?«, fragte Danny, der Alex eingeholt hat te. »Irgendwelche guten Ideen?« »Lass uns ausprobieren, wie nahe wir an Signor Prima herankommen, bevor wir entdeckt werden.« Alex lächelte grimmig vor sich hin. »Ich will zu gern herausfinden, wie gut seine Truppe wirklich ist.« Danny fiel der eiskalte Blick ein, den ihm der dünne Typ am Flughafen zugeworfen hatte. Er hatte das üble Gefühl, dass Primas Leute sogar sehr gut waren. Er hoffte nur, dass sie beide sich jetzt nicht mehr Ärger einhandelten, als sie vertragen konnten.
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Viertes Kapitel Liam hatte in der Brasserie auf dem Dach des Oxo Towers am Südufer der Themse einen Tisch am Fens ter reservieren lassen. Auf dem Fluss weit unter ihnen herrschte Flut. Das Wasser schlug schwer gegen das Ufer und glitt unter den Bögen der Blackfairs Bridge hindurch. Schiffe, Lastkähne und Touristenkreuzer zogen weiße Schaumspuren hinter sich her. Liam hatte Maddie zu einem wundervollen Ort für ein gemeinsames Essen gebracht – doch sie war so aufgeregt, dass sie nur den Stein in ihrem Magen fühl te. Sie konnte sich einfach nicht entspannen. Wie sollte sie es ihm nur sagen? Ach ja, Liam, ha be ich eigentlich erwähnt, dass ich bei der Polizei bin? Je länger sie es vor sich herschob, umso schwieriger wurde es. Je länger sie mit ihm zusammen war, umso weniger wollte sie ihr Date durch die bislang ver schwiegene Tatsache ruinieren. Sein unschuldiges Interesse an ihr half da auch nicht weiter. »Was arbei test du eigentlich?«, fragte er sie über sein Glas mit Blutorangensaft; Maddie trank das Gleiche. »Ach, nur ein Bürojob. Weißt du, mit Computern 43
und solchen Sachen. Nichts Aufregendes.« Sie runzelte die Stirn. »Ich war bis letzten Sommer in einer Ballettschule. Ich hatte eigentlich gehofft, Tänzerin werden zu können, aber dann – ich hatte einen Unfall. Ich war einige Zeit im Krankenhaus und musste monatelang zur Krankengymnastik.« Sie schenkte ihm ein ange deutetes trauriges Lächeln. »Und als ich wieder fit war, war es zu spät, um dorthin zurückzukehren. Ich hatte zu viel versäumt. Jetzt habe ich mir ein Jahr Zeit ge nommen, um mich zu entscheiden, was ich in Zukunft tun will.« »Was für ein Unfall war es denn?«, fragte Liam. Seine Stimme war voller Anteilnahme. Maddie senkte den Blick. »Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen«, sagte sie und sah dann wieder zu ihm hoch. »Tut mir Leid.« Liam runzelte besorgt die Stirn. Ein peinliches Schweigen entstand. »Ich habe auch ein Jahr freigenommen«, sagte er schließlich. Maddie lächelte. »Ein ganzes Jahr, um Eis zu ver kaufen? Das ist ja cool!« Sie lachten beide. »Das mache ich nur vorübergehend«, sagte Liam. »Der Wagen gehört meinem Dad, aber er ist krank ge worden und ich helfe aus. Ich übernehme bald einen Job im Dienst der Entwicklungshilfe. Kennst du die Voluntary Services Overseas? Ich warte dieser Tage auf den entscheidenden Anruf, mit dem man mir sagt, wann ich gehen werde.« 44
»Ich dachte, man brauchte eine jahrelange Ausbil dung für diese Art Arbeit«, sagte Maddie. »Wenn man im Ausland etwas Bestimmtes unter richten will, schon«, sagte Liam. »Aber ich hab einen Platz im VSO-Jugendprogramm bekommen und an einer Übungseinheit in Übersee teilgenommen. Ich werde mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen arbei ten. Wir helfen, wo wir können, und stellen den Leuten zudem die Arbeit der VSO vor. Ich gehe ein Jahr nach Rumänien und komme dann zurück an die Uni, mache meinen Abschluss – und dann …« Er breitete die Arme aus. »… wer weiß?« »Klingt gut«, sagte Maddie und sah ihn an. Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass er nicht so schicksals gläubig sein sollte – dass die Dinge auch schief gehen können. Unfälle passieren. Irgendjemand kann unver mutet all deine Pläne zerstören. Das Leben verläuft nicht immer so, wie man es gern hätte. Zum Beispiel kann man jemandem begegnen, den man wirklich gern besser kennen lernen würde. Und beim ersten Date stellt sich heraus, dass er in Kürze ein Jahr nach Rumänien geht … Maddie Coopers Glück!
»Verkleidungen«, sagte Danny, als er und Alex den Rezeptionsbereich des London Hilton betraten. »Das brauchten wir jetzt – irgendwelche guten Verkleidun gen.« Er grinste und warf Alex einen Blick zu. »Weißt 45
du was? Ich verkleide mich als Page und dann schauen wir, ob wir ein Zimmermädchenkostüm für dich fin den.« Alex schaute ihn genervt an. »Keine besseren Ideen?«, fragte er. »Okay. Wie wäre es, wenn wir uns als Room Service-Angestellte verkleiden?« Alex nickte. »Schon besser.« Ihre PIC-Ausweise brachten sie direkt zur Hotelkü che. Routineuntersuchung. Nichts Schlimmes. Einige Minuten später standen sie in einem Perso nalaufzug, der sie ins oberste Stockwerk des hohen Gebäudes brachte. In die Etage, die Giorgio Prima für die nächsten sieben Tage gemietet hatte. Ihre Uniformen bestanden aus schwarzen Hosen und weißen Hemden. Sie sagten, sie müssten auf Sig nor Primas Stockwerk, weil er Essen bestellt hätte. Sie hatten vor, Prima in seiner Privatsuite aufzusu chen und ihm dann zu eröffnen, wer sie wirklich war en. Alex freute sich schon darauf. Er hoffte, dass auch Cecilia Rossi da wäre. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn sie erfuhr, dass zwei junge PIC-Agenten die kleine private Armee schwarzer Anzüge, die Prima aus Italien mitgebracht hatte, mühelos passieren konnten. Der Aufzug hielt und die Türen glitten zur Seite. »Nett hier«, murmelte Danny, als sie den Servier wagen auf den geschmackvoll ausgestatteten Gang schoben. 46
Mehrere Türen gingen davon ab. Keine Spur von den Herren in schwarzen Anzügen. Alex lächelte grimmig. »Ich schätze, sie sind nach ihrer langen Reise müde«, sagte er. »Wahrscheinlich haben sie sich aufs Ohr gelegt. Umso besser.« Auf schmalen Tischen entlang des Gangs standen einzelne weiße Blumen, Lilien, die einen betörenden Duft ausströmten. Danny schob den Servierwagen über den dicken Teppich, mit dem der Gang ausgelegt war. Ihre Schrit te machten keinerlei Geräusch. Die beiden PICTrainees sahen sich an. »Das geht einfach zu leicht«, flüsterte Danny. Sie kamen an mehreren Türen vorbei. Dann hörten sie das gedämpfte Geräusch eines Fernsehers oder ei nes Radios. Sie näherten sich Primas Suite. Im nächsten Moment öffnete sich eine Tür hinter ihnen. Eine Stimme bellte. »Attenzione!« Sie sahen sich um. Es war einer von Primas Leib wächtern. Er war in Hemdsärmeln und lehnte sich aus einer offenen Tür. Sie hatten weiterhin Glück: Es war keiner der Ty pen, denen sie am Flughafen begegnet waren. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass er wusste, wer sie waren. Er funkelte sie wütend an und sprach dann ei nige weitere italienische Worte. Danny lächelte ihn an. »Sprechen Sie Englisch?«, fragte er. 47
Der Mann kam mit rotem Gesicht auf sie zugeeilt. Er spuckte ihnen eine weitere Salve Italienisch entge gen. Keine Frage, er war stinksauer. Alex zeigte auf die silberne Kuppel auf dem Ser vierwagen. »Essen«, sagte er und machte mit beiden Händen essende Bewegungen. »Essen für Signor Prima. Ver stehen Sie?« Der Mann sah auf den Wagen. »Mangare?« Alex und Danny warfen sich einen Blick zu. »Ja«, sagte Alex nickend. Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und ver schwand in der offenen Tür, die sich gleich darauf hin ter ihm wieder schloss. »Uff«, keuchte Danny. »Das war knapp.« »Okay, weiter«, sagte Alex. Sie waren keine zwei Meter weitergegangen, als die Tür hinter ihnen erneut geöffnet wurde. »Einen Augenblick, bitte!« Alex’ Kinnlade klappte herunter. Er erkannte die Stimme. Es war der Mann mit der Narbe. Schon war er bei ihnen. Er hob die silberne Kuppel. Das Tablett darunter war leer. »Vielleicht macht er ja Diät?«, fragte Danny. »Stupido!«, zischte der Mann. »Molto stupido!« Er drehte sich um und rief einen italienischen Befehl. Zwei Männer kamen aus dem Zimmer. Einer von ih nen war der dünne Typ mit dem schmalen, scharf ge schnittenen Gesicht. Der andere war ein gedrungener Brutalo mit einer Boxernase. 48
Danny machte einen Schritt rückwärts. Alex schob den Servierwagen zwischen sie und die drei Männer. Narbengesicht bellte Befehle. Der Hässliche griff nach dem Servierwagen und schob ihn beiseite. Das Silberbesteck fiel klappernd zu Boden. Alex machte sich auf einen Angriff gefasst. Die Augen von Narbengesicht verengten sich zu Schlitzen, als er sah, wie Alex eine breitbeinige Verteidigungs stellung einnahm. Er sagte etwas und zeigte auf Dan ny. Der Hässliche sprang vorwärts. Danny erwartete ei nen Schlag, doch der Mann versetzte ihm einen hefti gen Stoß. Danny taumelte rückwärts. Unterdessen griffen Narbengesicht und der dritte Mann Alex an. Aber Alex Cox war ein zu guter Kampfsportler, als dass er sich so leicht geschlagen gegeben hätte. Er wich Narbengesichts Ansturm ge schickt aus und verpasste ihm einen harten Schlag, als der Mann vorwärts stolperte. Ein weiterer Schlag schickte den dritten Typ ebenfalls zu Boden. Aber dort lag auch Danny schon. Der Hässliche war über ihm und drückte ihm die Knie schmerzhaft auf die Schultern. Er hatte eine Hand an Dannys Kehle gelegt und holte mit der anderen aus. Doch Alex kam Danny zu Hilfe. Ein geübter Tritt brachte den Mann aus dem Gleichgewicht, ein zweiter ließ ihn mit weit ausgestreckten Gliedern auf den Tep pich knallen. Danny setzte sich auf und schüttelte vor Schmerzen den Kopf. Dann hörte Alex ein Geräusch hinter sich. Er wir 49
belte auf dem Absatz herum, bereit sich sofort gegen einen weiteren Angriff zu wehren. Er fand sich dem hässlichen Lauf einer Automatik pistole gegenüber. Dahinter Narbengesichts eiskalter Blick. Alex sah zu dem dünnen Mann hinüber. Er hatte ebenfalls eine Waffe gezogen. Alex entspannte seine Muskeln, richtete sich auf und hob langsam seine Ar me. »Haben Sie eine Lizenz dafür?«, fragte er cool. Der hässliche Mann stand auf. Eine Sekunde später war auch auf Danny eine Waffe gerichtet. Er hob die Arme und rappelte sich langsam hoch. »Tja, das war vielleicht doch keine so gute Idee«, murmelte er. Narbengesicht ging einen Schritt vor wärts und setzte den eiskalten Lauf der Waffe auf die Mitte von Alex’ Stirn. »Finito!«, sagte er mit einem Lächeln.
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Fünftes Kapitel Maddie bestellte frittierte Waldpilze als Vorspeise. Sie waren hervorragend, aber sie war zu aufgeregt, um sie wirklich zu genießen. Liam und sie unterhielten sich während des Es sens über Alltägliches. Sie verstanden sich gut, ka men sich aber nicht wirklich näher – weit entfernt von dem, was Maddie sich erhoffte. Dann kam der Hauptgang. Gegrillter Tunfisch für Maddie, Lamm für Liam. Maddie aß mechanisch, schmeckte fast nichts. Alles lief schief. Sie sollte doch eigentlich Spaß ha ben. Dies war immerhin ein Date. Und es war garan tiert nicht der Augenblick, ihrem neuen Freund zu sa gen, dass sie bei der Polizei war und ihre Chefin woll te, dass er ihnen im Fall Eiskrieg half. Maddie sah schon lauter »Tschüss, Liam!«-Schilder vor ihrem in neren Auge auftauchen … Aber wenn sie ihm jetzt nicht die Wahrheit sagte, konnte sie genauso gut aufstehen und das Restaurant verlassen – so einfach war das. Sie ließ ihr Besteck sinken und sah von ihrem Teller auf. Liam schaute sie an. Er wirkte bedrückt. 51
»Ich muss dir etwas sagen«, fing er an. »Wegen ge stern.« »Ich dir auch«, sagte sie erleichtert. »Können wir zuerst fertig essen?« »Okay«, stimmte er zu. »Dann können wir ja auf die Aussichtsterrasse rausgehen – und erzählen uns jeweils alles, okay?« »Einverstanden.« Maddie lächelte. Schon fühlte sie sich besser.
Nach dem Kaffee gingen sie auf die Dachterrasse, hoch über der Themse. Jenseits des Ufers sah man die atemberaubende Skyline der Londoner Innenstadt. Ei ne faszinierende Mischung alter und moderner Archi tektur. St. Paul’s Cathedral, Barberian Tower und da hinter der Canary-Kai. Es war umwerfend. Nach einer kurzen Weile sahen sie sich an. Liam lächelte. Er war verlegen. »Also, es ist so«, begann er. »Ich sollte gestern eigentlich gar nicht vor der Albert Hall stehen. Mein Dad glaubt, dass ich den Eiswagen letzte Woche bereits verkauft habe.« Maddie schaute ihn fragend an. »Diese Schlägertypen bedrohen ihn schon einige Wochen«, fuhr Liam fort. »Er ist völlig fertig deswe gen, seine Nerven machen nicht mehr mit. Er wollte sogar seine Lizenz aufgeben und sich aus dem Ge 52
schäft zurückziehen. Die meisten seiner Freunde haben das auch schon getan – ihre Plätze wurden von anderen Verkäufern eingenommen. Ich dachte, dass ich viel leicht etwas tun könnte, um zu helfen.« Er lächelte traurig. »Ich hatte eine Kamera dabei. Ich wollte Fotos machen, wenn man mich angriff, und sie der Polizei geben. Aber dann ging alles viel zu schnell. Es war unmöglich.« Maddie sah ihn an. »Du hast getan, was du konn test«, sagte sie. »Machst du Witze?«, fragte Liam. »Wenn du nicht gewesen wärest, hätten sie mich zu Brei geschlagen.« »Dafür habe ich schließlich auch lange trainiert«, sagte sie. Sie machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: »Es ist ein Teil meiner Arbeit.« Sie holte tief Luft. »Ich bin Trainee bei der Polizei.« Liam starrte sie an. Er war baff. »Wow!« »Meine Chefin wollte, dass ich mit dir spreche, da mit du uns bei dem Eiskrieg-Problem hilfst.« Sie mus terte ihn. »Wir kommen nicht weiter, weil keines der Opfer sich mit uns unterhalten will.« »Ich schon«, sagte Liam. »Und ich werde alles tun, um zu helfen.« »Bist du sicher?«, fragte Maddie. »Es könnte schwierig werden.« »Wirst du auch dabei sein?«, fragte er. »Ja«, sagte sie und sah ihm dabei in die Augen. »Dann mache ich ganz sicher mit«, antwortete er, blickte ihr direkt ins Gesicht und lächelte. Maddie senkte den Blick. »Du musst noch etwas 53
anderes über mich wissen«, sagte sie. »Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, ich hätte das Tanzen wegen eines Unfalls aufgegeben?« »Ja.« »Das war nicht ganz richtig.« Stockend fing sie an von dem Attentat zu sprechen. Es war seltsam, jeman dem, den sie gerade erst kennen gelernt hatte, von so etwas Schmerzhaftem zu erzählen. Aber irgendwie schien es ihr wichtig, dass Liam davon wusste. Gegen Ende stockte sie abermals. Plötzlich spürte sie den warmen Druck von Liams Händen. »Mum wurde getötet«, flüsterte Maddie. »… und Dad muss den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Ich habe Monate im Krankenhaus verbracht und noch viel mehr bei der Krankengymnastik.« Sie sah auf, Tränen glitzerten in ihren Wimpern. Liams Gesicht war voller Anteilnahme. »Ich wusste nicht, was ich machen sollte«, sagte sie. »Da bekam Dad einen tollen neuen Job. Er zeigte mir eines Tages sein neues Büro – und plötzlich wusste ich, was ich tun wollte. So kam ich zur Polizei.« Sie lächelte – Sonnenschein nach Re gen. »Ich dachte, du solltest das wissen. Es ist inzwi schen ein wichtiger Teil von mir.« »Danke, dass du mir davon erzählt hast«, sagte Liam. Maddie zog sanft ihre Hände unter seinen hervor und wischte sich die Augen ab. »Hey! Das ist ja mal ein Mittagessen gewesen!«, sagte sie mit einem leisen Lachen. »Ich wette du bereust jetzt, dass du mich ein geladen hast!« 54
Er lächelte. »Nein, ganz im Gegenteil«, sagte er. Maddie fiel ein Stein vom Herzen. Sie lehnte sich an die Brüstung. Das Licht glitzerte und funkelte auf dem langsam dahintreibenden Wasser der Themse. Sie fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Der Lauf von Narbengesichts Waffe bohrte sich in Alex’ Stirn. »Wir sind Police Officers«, sagte Alex ruhig und sah dem Mann furchtlos in die kalten Augen. »Nehmen Sie bitte die Waffe weg. Sofort!« Narbengesicht grinste ihn kalt an. Er zog die Waffe zurück und steckte sie in ein unter seiner Jacke verbor genes Halfter. »Sie haben Glück«, sagte er in einem Englisch mit starkem, italienischem Akzent. »Sie könnten Schaden nehmen, wenn Sie solche Spielchen spielen.« Danny stand auf. Er strich sich seine Sachen glatt. So langsam erholte er sich von dem Sturz auf den Boden und begann wieder klar zu denken. Die bei den anderen Männer steckten ihre Waffen ebenfalls ein. Vor ihnen auf dem Gang wurde eine Tür geöffnet. Giorgio Prima trat heraus. »Was ist hier los?«, fragte er. Er sah den umgekipp ten Servierwagen, ging auf Alex und Danny zu und starrte ihnen ins Gesicht. 55
»Was machen Sie hier? Ich habe den Room Service nicht gerufen!« »Wir sind PIC-Officers«, sagte Alex. »Wir wollten schon am Flughafen mit Ihnen sprechen, aber Ihre Un ternehmenssprecherin hat es uns nicht erlaubt.« Prima begann wissend zu grinsen. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie haben beschlossen Hotelangestellte zu spielen, um meine Leibwächter zu testen.« Er runzelte die Stirn. »Aber Sie sind ein ernstes Risiko eingegan gen, meine Freunde – das sind keine Männer, mit de nen man scherzen sollte. Sie hätten verletzt werden können.« »Diese Typen tragen Waffen«, warf Danny ein. »Ein Anruf im Innenministerium und wir können sie allesamt abschieben lassen.« Prima starrte Narbengesicht ungläubig an. »Carlo, stimmt das?«, fragte er. »Habt ihr Waffen?« Narbengesicht nickte mit unbewegtem Gesicht. Prima wandte sich wieder Alex zu. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie Waffen bei sich tragen«, sagte er. »Bitte, kommen Sie mit.« Er spuckte eine ganze Reihe italienischer Flüche in Richtung seiner Leibwächter. Kommentarlos zogen sie sich in ihr Zimmer zurück. »Ich muss mich für diesen unglücklichen Zwischen fall entschuldigen«, sagte Prima, als er Danny und Alex in seine Suite führte. Es war ein riesiger, heller Raum. Große Fenster, drei Tische, zwei Sofas, ver schiedene Lehnstühle und vier Fernsehgeräte, in denen unterschiedliche Programme liefen. Von beiden Seiten des Raumes gingen Türen ab. 56
Auf einem Tisch an der Seite standen ein PC, ein Fax und zwei Telefone. Prima drückte vor sich auf den Knopf einer Ge gensprechanlage. »Ceci? Komm rein! Sofort!« Er wandte sich zu den beiden PIC-Officers um und breitete die Arme aus. »Es ist schrecklich!«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, dass diese Männer illegal Waffen in Ihr Land gebracht haben.« Alex sagte nichts dazu. Er sah sich den Mann genau an. Er schien tatsächlich schockiert zu sein. Aber be deutete das, dass er wirklich nichts davon gewusst hat te – oder dass er nur ein guter Schauspieler war? Danny versuchte sich ebenfalls ein Bild von Prima zu machen. Keine Frage, der Typ hatte Charme. Aber niemand wird Milliardär ohne kaltschnäuzig und rück sichtslos zu sein. Man durfte Prima also auf keinen Fall unterschätzen – oder ihm trauen, da war sich Dan ny sicher. Es wurde an die Tür geklopft. »Herein!«, bellte Prima. Cecilia Rossi kam herein. Ihre Augen verengten sich, als sie Danny und Alex erkannte. Alex blickte sie hart an. Danny grins te breit. »Eigentlich schade, dass wir uns immer unter so unglücklichen Umständen treffen«, meinte er. Sie ignorierte ihn. »Carlo, Luigi und Gino tragen Waffen«, schleuderte Prima seiner Unternehmenssprecherin hin. »Wusstest du davon?« Cecilia Rossi antwortete nicht sofort. Alex 57
hatte den Eindruck, dass sie überlegte, wie sie am bes ten auf die Frage reagieren sollte. »Nein«, sagte sie schlicht. »Ich habe klare Anweisungen gegeben«, sagte Pri ma. »Keine Waffen.« Er deutete mit dem Finger auf Cecilia Rossi. »Du hast diese Männer eingestellt. We gen dir ist jetzt der Eindruck entstanden, als würde Giorgio Prima irgendwelche Kriminelle beschäftigen.« Cecilia Rossi senkte ihren schweren Blick. »Ich werde sie sofort entlassen«, antwortete sie und sah zu Danny und Alex hinüber. »Ich entschuldige mich für diesen unglücklichen Zwischenfall«, sagte sie. »Ich übernehme die volle Verantwortung dafür. Was wer den Sie jetzt tun?« Alex wandte sich an Prima. »Unter zwei Bedingun gen tragen wir die Sache nicht weiter«, sagte er. »Sie übergeben uns sofort sämtliche Waffen – und dann bringen wir diese drei Männer persönlich zum Flugha fen Heathrow und sind anwesend, wenn sie den ersten erreichbaren Rückflug nach Italien buchen.« »Aber natürlich!«, rief Prima. Er funkelte Cecilia Rossi wütend an. »Wir sprechen uns noch, Ceci«, sagte er. »Also, hol die Waffen und gib sie diesen jungen Männern. Und dann suchst du den nächsten Flug nach Mailand heraus!«
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Sechstes Kapitel Es war ein schwülwarmer Abend. Maddies Zimmer fenster stand weit offen. Es ging nach Süden, sodass sie über das bizarre Durcheinander der Gebäude und Gehege des Londoner Zoos und weiter über den Re gent’s Park blicken konnte. Maddie telefonierte mit ihrem Vater. Er war immer noch in Chequers, um dem Premierminister bei den Verhandlungen über ein wichtiges internationales Si cherheitsprotokoll zu helfen. »Wann kommst du zurück?«, fragte sie. Die Stimme ihres Vaters klang durchs Telefon wie ein leises, liebevolles Knurren. Er hörte sich allerdings ziemlich müde an. »Vielleicht am Sonntag, wenn wir bis dahin alle überzeugt haben«, sagte er. »Wie geht es dir, Maddie? Erinnerst du dich an dein Versprechen?« »Ja, tu ich.« Das Versprechen: nichts Gefährliches tun. Keine Risiken eingehen. Sich nicht in Schwierigkeiten brin gen. Sie plauderten noch ein paar Minuten, dann kam Maddies Großmutter herein und sagte, dass das Abendessen fertig sei. Ihre Großmütter lebte bei ihnen 59
und sorgte für sie, seit Maddies Mutter bei dem Atten tat ums Leben gekommen war. »Ich muss Schluss machen. Ich lieb dich, Dad. Bis Sonntag.« Maddie ging barfuß in die Küche hinüber. Wenn nur sie beide zu Hause waren, aßen sie dort, nicht im Esszimmer. Ihre Oma saß schon am Tisch. Sie warf Maddie einen wissenden Blick zu. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte sie, als sich Maddie setzte. »Ihm was gesagt?«, fragte Maddie unschuldig. »Wegen Liam?« »Nein. Hab ich ganz vergessen.« Maddie zuckte die Achseln und hoffte, dass es möglichst sorglos wirkte. »Und überhaupt: Was ist da groß zu erzählen? Er kann jeden Tag nach Rumänien gehen.« Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. »Typisch Maddie: Du interessierst dich für einen jungen Mann, der gerade dabei ist, das Land für zwölf Monate zu verlassen!« Maddie grinste. »Tja, ich suche mir eben immer die Richtigen aus!«, sagte sie. »Wann siehst du ihn wieder?«, fragte ihre Großmut ter. »Gleich morgen früh«, antwortete Maddie. Ihre Oma hob fragen die Augenbrauen. »Das hat mit der Arbeit zu tun«, erklärte sie. »Er wird uns helfen, diese Schläger aus dem Eiskrieg-Fall zu stellen. Wir werden seinen Eiswagen in eine mobile Überwachungseinheit verwandeln!« 60
Flughafen Heathrow. In der Abflughalle. 19 Uhr 30. Carlo Berlotti lehnte sich mit übereinander geschla genen Beinen in seinem Stuhl zurück. Sein Gesicht drückte nichts als kalte Verachtung aus. Rechts neben ihm saß Luigi Russolo, dünn wie eine Messerklinge. Er starrte Danny böse an. Aber der ignorierte ihn einfach. Den Stuhl links neben Berlotti füllte der massige Gino Severini. Sein Gesichtsausdruck war düster und drohend – wie ein Gewitter kurz vor dem Ausbrechen. Alex und Danny saßen ihnen in der überfüllten Ab flughalle gegenüber. Sie erwarteten schon sehnlichst den Aufruf zu dem Flug. Dann wären sie die drei düs ter vor sich hin grübelnden Typen endlich los. Berlotti schien der Härteste von ihnen zu sein. »Aufruf für die Passagiere des Fluges LH 9057 nach Mailand, Abflug um 20 Uhr!« – Endlich. Alex stand auf. Berlotti sah ihn an. »Gehen wir«, sagte Alex. Danny und die anderen beiden Männer standen ebenfalls auf. Berlotti machte einen Schritt auf Alex zu. Er konnte seinen Atem im Gesicht spüren. »Wenn wir uns Wiedersehen, werde ich nicht zö gern. Verstehen Sie mich?« Alex sah dem Mann direkt in die dunklen Augen. Er sagte nichts. Berlotti wandte als Erster den Blick ab. 61
Luigi Russolo warf Danny einen giftigen Blick zu und murmelte etwas auf Italienisch. Danny lächelte breit und deutete zum Gate des nach Mailand abgehenden Fluges. »Nach Ihnen«, sagte er. Sie führten die drei Leibwächter durch das Gate. Dort zeigten sie ihre PIC-Ausweise vor und begleiteten die Männer zum Flugzeug. Die drei gingen die Gangway hinauf. »Gute Reise!«, rief ihnen Danny nach. Berlotti sah sich noch einmal um. Danny winkte ihm mit spötti scher Freundlichkeit zu. »Ich fange schon an Sie zu vermissen!«, rief er. Berlotti verzog das Gesicht. Dan ny kicherte. Die beiden PIC-Kollegen gingen zurück zur Ab flughalle. Die Gangway war bereits vom Flugzeug ge zogen und die Tür gesichert worden. Sie standen in der Halle und sahen durch die dicke Glasscheibe zu, wie das Flugzeug zur Startbahn rollte. Danny warf Alex einen Blick zu. »Sie mögen uns nicht besonders.« Alex lächelte grimmig. »Wirklich? Glaubst du?« Danny nickte. »Ja. Und weißt du, was ich noch glaube?«, fragte er. »Ich glaube, dass Prima von den Waffen wusste.« »Schon möglich«, antwortete Alex. »Wir müssen zurück ins Hotel und die übrigen Leibwächter überprü fen. Ich spreche es mit Susan ab.« »Für heute Abend wird sie der Aktion nicht zu stimmen«, sagte Danny. »Prima trifft noch spät mit dem Außenminister zusammen, erinnerst du dich? Da 62
darf es keine Komplikationen geben. Baxendale wird uns seine Zimmer nicht ohne seine Erlaubnis durchsu chen lassen.« »Und während wir auf grünes Licht warten«, sagte Alex grimmig, »haben Primas Jungs alle Zeit der Welt die Beweisstücke verschwinden zu lassen. Super!« Danny zuckte die Achseln. »Tja, so ist das in der internationalen Diplomatie.«
Dienstag. PIC-Zentrale. 7 Uhr 45. Maddie war in Susan Baxendales Büro. Die Chefin musterte Maddies Gesicht. »Sind Sie sicher, dass Sie das schaffen?«, fragte sie. »Ja. Sonst hätte ich nicht um den Fall gebeten.« Susan Baxendale dachte kurz nach. »Wenn ich Ih nen diesen Fall übergebe, heißt das, dass Sie alle Ent scheidungen allein treffen müssen. Es ist keine Schan de, wenn etwas schief geht.« »Ich verstehe.« »Hätten Sie sich mit der Frage auch an Ihren Vater gewandt?« »Nein«, gab Maddie zu. »Das wäre zwecklos. Er hätte niemals zugestimmt.« Sie sah in Susan Baxenda les einschüchternd ernste Augen. »Ich hoffte, Sie wür den mir eine Chance geben.« 63
Baxendale lächelte schwach. »Halten Sie mich für weicher als Ihren Vater?« »Nein. Überhaupt nicht. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht verstehen würden, warum es mir so viel be deutet, einen Fall allein zu bearbeiten.« Eine weitere lange Pause. »Okay«, sagte Baxendale schließlich. »Sie bekom men den Fall, Maddie. Sie können gehen.«
8 Uhr 23. Harlesden. Ein Raum von der Größe einer Garage. Wände aus rohen Ziegelsteinen. Der einzige Eingang bestand aus einem herunterklappbaren Wellblechtor. An den Wän den befanden sich Werkbänke und Werkzeugregale. In der Mitte des Raumes stand der Eiswagen. Darin arbeiteten Techniker. Sie brachten Überwachungsgerä te an, dafür nutzten sie jede unauffällige Stelle. Wer nicht genau wusste, wofür sie gut waren, würde sie nicht beachten. Einige Techniker waren an einer Werkbank be schäftigt, die mit elektronischer Hardware beladen war. Liam war beeindruckt. Neben ihm stand Maddie; sie nippte an einem Plas tikbecher mit heißem Kaffee. »Ich hatte eigentlich nur ein verstecktes Mikrofon 64
und irgendeine Art Videokamera erwartet«, sagte er. »Diese Sachen sind wirklich erstaunlich.« An der Decke des Laderaumes wurde gerade eine winzige Satellitenkamera angebracht. Sie war mit einer Kontrolleinheit verbunden, welche Livebilder direkt in die Überwachungsabteilung der PIC-Zentrale schickte. »Ich werde den ganzen Morgen brauchen, um über haupt zu kapieren, wie das ganze Zeug funktioniert«, sagte Liam. »Das ist kein Problem«, meinte Maddie. »Ich kom me ja mit.« Liams Augen leuchteten auf. Maddie lächelte. »Eigentlich müssen wir die ganze Apparatur nur einschalten, das ist alles. Der Rest läuft automatisch. Aber ich würde trotzdem gern mitfahren – wenn das okay ist.« »Solange du mir bei der Kundschaft hilfst …« »Das krieg ich schon hin«, sagte sie. »Okay«, rief einer der Techniker. »Maddie? Kom men Sie bitte für einen Test?« Liam und Maddie gingen zu einer Bank, auf der ein Monitor stand. »Anschalten!«, rief der Mann. Ein Bild erschien auf dem Schirm. Ein Ausschnitt der Garage, gerahmt von den Seiten der Verkaufstheke des Wagens. Der Mann bewegte einen kleinen Joystick und der Blickwinkel änderte sich. Er drückte einen Knopf und die Kamera richtete sich in einer Zoomauf nahme auf die Ziegelsteinwand. »Test, Test«, kam die Stimme durch den Computer. 65
»Laut und klar«, sagte der Techniker. Er sah zu Maddie hoch. »Das war’s. Wir sind fertig.« Sie nickte. Es konnte losgehen.
Liam und Maddie kletterten in die Fahrerkabine. Liam drehte den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor sprang an, er dröhnte. »Also, gehen wir Eis verkaufen«, sagte Maddie, »… und die bösen Jungs schnappen.« Der Wagen rollte aus der Garage. Es war ein heller Sommermorgen. Die Wettervor hersage hatte einen wolkenlosen Himmel versprochen. Maddie war bester Laune. Nicht nur, weil sie in ei nem eigenen Fall unterwegs war, sondern auch, weil sie dabei mit Liam zusammen sein konnte. Geschäft und Spaß – eine tolle Kombination! Liam steuerte den Wagen durch die schmalen Stra ßen von Harlesden. Er bog nach Westen in die Harrow Road ein und fuhr dann nach Süden, die Scrubbs Lane entlang. Zu ihrer Rechten erschienen kurz die hohen Mauern des Wormwood-Scrubs-Gefängnisses. Maddie schaute weg. Irgendwo hinter diesen Mauern war der Mann eingesperrt, der den Auftrag gegeben hatte, ihr Leben zu zerstören. Sie wollte jetzt nicht daran denken. 66
Wieder eine Abzweigung westlich und sie fuhren in Richtung Acton, wo Liam die Vorräte für den Tag kau fen wollte. Sie brauchten nur ein paar Minuten, um die nötigen Schachteln, Kübel und Flaschen in den Wagen zu la den. Etwa um zehn Uhr waren sie fertig. Sie konnten an die Arbeit gehen. Als sie das Warendepot verließen, folgte ihnen eine graue, viertürige Limousine. Liam und Maddie be merkten sie nicht. Die Männer darin waren Profis. Professionelle Schläger. Die Typen, die sie vor der Albert Hall verjagt hat ten. Doch dieses Mal hatten die Männer Schießeisen da bei. Dieses Mal würde die Auseinandersetzung anders verlaufen. Sie wollten sich rächen.
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Siebtes Kapitel
Alex und Danny waren im Büro der Chefin. Sie hatte ihren Bericht gelesen. »Hielten Sie es nicht für besser, mit mir Rückspra che zu halten, bevor Sie diese Männer außer Landes schickten?«, fragte sie. Alex blieb ruhig. »Wir hatten die Lage unter Kont rolle.« Susan Baxendale warf einen weiteren Blick auf den Bericht. »Sie hätten darauf bestehen sollen, die gesam te Etage zu durchsuchen«, sagte sie. »Wenn die drei Leibwächter bewaffnet waren, sollte man davon aus gehen können, dass es die anderen ebenfalls waren.« »Das haben wir uns auch gedacht«, sagte Danny. »Aber wir wollten keinen diplomatischen Zwischenfall provozieren.« Er zuckte die Achseln. »Prima meinte, er hätte nichts von den Waffen gewusst. Also entschie den wir uns erst einmal, von einer kompletten Durch suchung abzusehen. Aber wenigstens sind wir die drei Typen losgeworden, die uns angegriffen haben.« »Und unterdessen konnte Prima alle übrigen Waf fen verstecken, die seine Leute dabeihatten«, sagte Ba xendale. 68
»Er wäre verrückt, wenn er es jetzt noch erlaubte, dass sie Waffen tragen dürfen«, meinte Alex. Susan Baxendale nickte. »Stimmt.« Sie griff nach ihrem Telefon. »Ich rufe den Außenminister an und informiere ihn über die Angelegenheit. Währenddessen gehen Sie beide zurück ins Hilton. Bleiben Sie cool, aber so nahe wie möglich an Prima dran. Machen Sie ihm klar, dass man einen PIC-Officer nicht so einfach loswerden kann.« Sie nickte kurz. »Das ist alles.«
Alex und Danny erhielten sofort Zutritt zu Giorgio Primas Suite. Als sie den großen mittleren Raum betra ten, stand Prima gerade an einem Tisch und telefonier te. Er winkte ihnen zu und deutete auf ein Tablett mit einer Kanne Kaffee, Tassen und Keksen. Er beendete das Telefonat und hängte ein. »Gentle men, ich habe Sie erwartet. Bitte, nehmen Sie doch einen Kaffee!« Er lächelte. »Ich habe gerade einen überaus charmanten Anruf Ihres Außenministers erhal ten. Es ist mir gelungen, seine Bedenken zu zerstreuen, dass sich bei meinen Leuten noch weitere Waffen fin den könnten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, diese drei Idioten haben das Land ohne weitere Zwischenfäl le verlassen?« »Haben sie«, sagte Alex. Prima musterte ihn genau. »Ahhh«, sagte er dann. »Ich verstehe. Sie befürchten, dass sich hier noch mehr 69
Waffen befinden.« Er nickte nachdenklich. »Ja, ein guter Police Officer darf nichts für bare Münze neh men.« Er breitete die Arme aus. »Sie haben meine Er laubnis, jedes Zimmer auf diesem Stockwerk zu durch suchen. Nein, ich bestehe sogar darauf!« Danny und Alex tauschten Blicke. Wenn Prima so gar wollte, dass sie suchten, war von vorneherein klar, dass sie nichts finden würden. Jemand klopfte an die Tür. »Herein.« Cecilia Rossi kam mit einem Blatt Papier in der Hand herein. »Eine E-Mail von Silvio Berlusconi«, sagte sie. Prima streckte die Hand aus und schnipste mit den Fingern. Sein Lächeln war wie weggeblasen. Er las den Ausdruck durch. »Das kann warten«, sagte er dann. »Ich rufe ihn später an.« »Dein nächstes Treffen findet bereits in fünfzehn Minuten statt«, sagte Cecilia Rossi. »Schon?«, fragte Prima. Er sah Danny und Alex an. Sein Lächeln kehrte zurück. »Immer diese endlosen Besprechungen«, sagte er. »Was kann ein Mann tun? Wenn ich diese Sachen nur delegieren könnte. Aber an wen?« Er warf Cecilia Rossi einen kalten Blick zu. »Wem kann Giorgio schon vertrauen? Das ist sehr schwierig. Es ist …« Er hielt plötzlich inne und hob eine Hand. »Hören Sie!« Aus einem anderen Zimmer drang der Klang einer hellen klaren Sopranstimme herüber. Prima begann zu strahlen. »Bella!«, murmelte er. 70
»Bella voce! Hören Sie sich das an – die Stimme eines Engels. Haben Sie jemals etwas so Schönes gehört?« Die Stimme hob und senkte sich, bis sie auf einem hohen klaren Ton endete, der endlos in der Luft zu schweben schien. Danny schaute zu Cecilia Rossi hinüber. Sie sah aus wie eine Katze, die einen Vogel belauert – eine Katze, die sich schon aufs Essen freut … »Ach, ich könnte meiner Lucia ewig zuhören«, seufzte Prima, als die Stimme erneut trällerte. »Aber die Geschäfte rufen, mein Gott. Heute treffe ich mich mit Leuten, deren Londoner Tageszeitung ich gerne kaufen möchte.« Er lächelte. »Und wenn Giorgio diese Zeitung gehört, wird er dafür sorgen, dass Lucias wun derschönes Gesicht jeden Tag der Woche die Titelseite schmückt.« Er lächelte Alex und Danny selig an. Als er sich noch einmal Cecilia Rossi zuwandte, änderte sich sein Ausdruck sofort. »Los, sieh nach, ob mein Wagen schon wartet«, herrschte er sie an. Cecilia Rossi verließ den Raum. Das Lächeln auf Primas Gesicht kehrte zurück. Alex gewöhnte sich so langsam an Primas plötzliche Stimmungsumschwünge. Was auch immer dieser Mann sein mochte – ein perfekter Schauspieler war er allemal. »Ich fürchte, ich muss Sie jetzt verlassen, meine Freunde«, sagte er. Er hob einen Finger. »Ich möchte, dass Sie jeden Zentimeter dieses Stockwerkes absu chen. Ich versichere Ihnen, dass ich ewig in Ihrer Schuld stehe, wenn Sie irgendetwas Unpassendes fin 71
den.« Er zeigte mit einer Hand zu der angrenzenden Tür. »Nun überlasse ich Sie dem Genuss von Lucias vollkommener Stimme«, sagte er. »Wie ich Sie benei de …« Er eilte hinaus. Sie hörten noch, wie er auf dem Gang Anweisungen gab. Danny und Alex schauten sich an. »Und?«, fragte Danny. »Suchen wir?« Alex nickte. »Wir suchen«, sagte er. »Prima hält sich für cleverer als uns. Und ich will ihm das Gegen teil beweisen.« »Das wollen wir beide«, sagte Danny und nickte zur angrenzenden Tür hinüber. Der Gesang hatte aufge hört. »Dann können wir ja auch da drin anfangen.« Er klopfte an die Tür. »Viene, tesoro«, rief eine Stimme. Sie warfen sich einen Blick zu. Alex fing an zu grinsen. »Mein Italienisch ist zwar ziemlich lausig«, meinte er. »Aber ich glaube, sie hat gerade gesagt: Komm rein, Liebling.« Danny grinste ebenfalls. »Woher kennst du gerade diesen Satz?« »Aus einem Urlaub in Rom.« »Verstehe«, sagte Danny. »Die Details kannst du mir später erzählen.« Er drückte die Klinke und schob die Tür auf. Sie kamen in ein luxuriöses Schlafzimmer. Lucia Barbieri lag in einem roten seidenen Morgenmantel auf einer Couch. Sie studierte gerade eine Partitur. 72
»Oh!«, rief sie und sprang auf. »Es tut mir Leid – ich habe nicht Sie erwartet. Ich dachte mein Jojo sei früher von seiner Besprechung zurückgekehrt, um mich zu sehen.« Sie zog den seidenen Morgenmantel eng um ihren schlanken Körper. »Sie sind die Police Officers, nicht?«, fragte sie. »Was wollen Sie?« »Signor Prima hat uns gebeten jeden Raum zu durchsuchen«, sagte Alex. »Aber wir können auch spä ter noch einmal vorbeikommen.« »Nein. Ich gehe. Tun Sie, was Sie müssen.« Lucia Barbieri rauschte durch eine andere Tür hi naus. Danny grinste Alex an. »Jojo?«, sagte er. Alex nickte. »Wie nett.« »Und ist dir noch etwas aufgefallen?«, fragte Dan ny. »Bilde ich mir das nur ein, oder sieht Lucia exakt wie eine jüngere Version von Cecilia Rossi aus?« »Tja, jetzt ist eben sie angesagt«, meinte Alex. »Das heißt, Signora Rossi wird nicht nur von Primas neuer Freundin beiseite gedrängt. Sie muss zudem auch noch dafür geradestehen, dass die Privatarmee ihres Bosses in flagranti mit Waffen erwischt wurde.« »Ich glaube, Jojo handelt sich auf diese Weise eine ganze Menge Ärger ein«, sagte Danny. »Ich möchte nicht unbedingt dabei sein, wenn Cecilia ausrastet.« Alex sah sich in dem Raum um. »Okay, bringen wir’s hinter uns«, knurrte er. Während der nächsten Stunde durchsuchten sie sys tematisch jedes Zimmer auf dem Stockwerk. Sie fanden tatsächlich nichts. Alex wurmte am meisten, dass Prima 73
ihnen dadurch eine lange Nase gedreht hatte. Er hoffte nur, dass die Arroganz dieses Mannes ihn irgendwann unvorsichtig werden ließ. Er schien zu denken, dass die PIC nur ein Witz war. Alex war fest überzeugt, dass sich diese Überheblichkeit irgendwann rächte.
Liam hatte den Eiswagen an einer Ecke des Hamilton Place’ geparkt. Über die Verkaufstheke sah man auf der anderen Seite der breiten, stark befahrenen Park Lane die hohe, blaue Fassade des Hilton Hotels. Liam hatte diesen Platz ausgesucht, ohne Maddie zu fragen. Es war reiner Zufall, dass sie sich so nahe an Giorgio Primas Aufenthaltsort befanden. Mayfair war ein großer Touristenmagnet – und wo sich Touristen befanden, gab es mögliche Kundschaft. Ihr Verkauf lief denn auch entsprechend gut. Es war ein heißer stickiger Tag und die Sonne brannte von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Weder die schwitzenden Touristen noch die Büroangestellten der Umgebung konnten einem kühlenden Eis widerstehen. Maddie achtete genau darauf, ob sich irgendjemand verdächtig verhielt, doch zugleich machte es ihr auch Spaß, mit Liam Eis zu verkaufen. Sie reichte eine Waf fel aus dem Wagen und nahm das Geld entgegen. Das Geschäft ging lebhaft. Maddie warf einen Blick an die Wagendecke. Die winzige Videokamera bewegte sich langsam hin und 74
her. Unauffällig. Wenn man nicht wusste, dass es sie gab, bemerkte man sie nicht. In der PIC-Zentrale saß ein Agent in einem kleinen Überwachungsraum und beobachtete die Schlange vor dem Eiswagen auf einem Bildschirm, während ein DVD-Rekorder alles aufzeichnete. Es war heiß in dem Raum; der Beamte hätte auch gern ein Eis gehabt. Ein paar Straßen entfernt vom Hamilton Place park te die graue Limousine. Die vier Männer stiegen aus. Zuerst bemerkte Maddie nur, dass am Ende der Schlange ein Handgemenge entstand. Die Leute wand ten sich verwirrt und verärgert um. Zwei Männer drän gelten sich brutal vor und stießen die anderen Leute beiseite. Ein oder zwei Kunden wurden sogar zu Bo den gestoßen. Einer Frau wurde ihre Eiswaffel aus der Hand ge schlagen, einem jungen Mann ebenfalls. Das Eis klatschte auf sein Hemd und seine Hose. »Hey! Aufhören!«, rief Maddie wütend. Doch es war zu spät. Die Schlägertypen hatten schon erreicht, was sie wollten. Die Schlange löste sich auf, die Leute zogen sich ängstlich zurück. Einer der Männer funkelte Liam und Maddie böse an. »Ihr habt unseren Wink vom letzten Mal nicht ka piert, was?«, fragte er. Er deutete mit einem seiner Wurstfinger auf Liam. »Du bist aus dem Geschäft, Kleiner. Ab jetzt hast du geschlossen.« Im nächsten Moment hörte Maddie ein Geräusch 75
hinter ihrem Rücken. Sie warf einen raschen Blick über die Schulter. Einer der Männer hatte die Hecktüre des Wagens geöffnet und wollte gerade hereinsteigen. Ein anderer kletterte in die Fahrerkabine. Maddie reagierte sofort. Ein hoch angesetzter ge zielter Tritt traf den ersten Mann unterm Kinn. Er stol perte rückwärts aus dem Wagen und fiel um wie ein gefällter Baum. Auch Liam ließ sich dieses Mal nicht überraschen. Er sprang rückwärts, als kräftige braune Hände nach ihm griffen. Er schnappte sich den erstbesten Gegens tand, der ihm in die Finger kam: einen Fünfliterkanis ter Schokoladeneis. Er schwang ihn hin und her und wehrte damit die Hände ab. Dieses Mal würde er sich nicht so schnell geschlagen geben.
Der Officer in der PIC-Zentrale beobachtete die Szene angespannt. Ganz in der Nähe von Liams Wagen be fanden sich zwei Einsatzwagen der PIC. Maddie muss te nur einen Knopf drücken, wenn sie Verstärkung brauchte. Es war vereinbart, dass erst dann eingeschrit ten würde. Allerdings hatte der Officer im Überwa chungsraum Anweisung, sofort eine spezielle Einsatz truppe zu mobilisieren, wenn es so aussah, als würde Maddie Schwierigkeiten bekommen. Seine Hand schwebte über dem Alarmknopf. Noch beobachtete er den Vorfall und wartete ab. 76
Plötzlich begann der Eiswagen zu vibrieren. Der Mann, der auf den Fahrersitz geklettert war, hatte den Motor angelassen. Maddie wurde klar, dass der Wagen entführt werden sollte. Sie tastete nach dem Alarmknopf unter der Theke. Jetzt hatten sie genug Videobeweismaterial – es war höchste Zeit Verstärkung zu rufen! Der Mann suchte nach dem richtigen Gang und der Wagen machte einen Satz vorwärts. Liam und Maddie stürzten im Laderaum zu Boden. Die Hecktür wurde aufgerissen. Ein anderer der Männer erschien in der offenen Tür. Dann hörte Maddie Bremsen quietschen. Der Eiswagen blieb mit einem Ruck stehen. Sie sah, wie der Typ in der Hecktür das Gesicht vor Wut und Frust zu einer Grimasse verzog. Er hielt et was in der Hand. Er warf es in den Wagen. Dann war er verschwunden. Maddie rappelte sich wieder auf. Der Fahrersitz war jetzt leer. Ein anderes Auto hatte sich vor dem Eiswa gen quer gestellt. Ein Polizeiauto. Dann sah sie einen großen Knallkörper auf dem Boden liegen – seine Lun te brannte zischend, direkt neben Liams Kopf! Sie kickte ihn durch die offene Hecktür hinaus. Er schlug auf die Straße und explodierte mit einem Blitz und einem gewaltigen Knall. Liam zog sich auf die Füße. Maddie schaute ihn besorgt an. »Bist du okay?« 77
»Ja. Alles klar.« Ein Polizist erschien in der offenen Hecktür. »Was geht hier vor?«, fragte er. »Wir sind von vier Schlägern angegriffen worden«, sagte Liam. »Und Sie lassen sie gerade abhauen!« Der Polizist musterte ihn abschätzend. »Kann ich Ihre Lizenz sehen, bitte?«, fragte er. »Normalerweise darf hier nichts verkauft werden. Ich nehme an, Sie wissen, dass Sie damit gegen ein Gesetz verstoßen?« Maddie langte in ihre Tasche und zog ihren PICAusweis heraus. »Das hier ist eine offizielle Überwa chungsaktion«, sagte sie. »Und Sie haben gerade alles ruiniert!« Der Polizist nahm ihren Ausweis und schaute ihn an. Er sah auf. »Wir sind lediglich zufällig hier vorbeigekommen«, sagte er, »man hätte uns vorher informieren sollen.« Sein Partner kam die Straße entlanggetrottet. »Sie sind in der Menge untergetaucht«, sagte er mit Blick auf Maddie und Liam. »Gibt es irgendwelche Proble me?«
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Achtes Kapitel
Mittwoch. Früher Morgen. Alex stand am Küchenfenster seiner Wohnung in Is lington. Er war gerade aus der Dusche gekommen. Seine Haare waren feucht, er trug einen grauen Bade mantel. Er schlürfte heißen Kaffee. So langsam wurde er wach. Er sah dem frühmorgendlichen Verkehr zu, der sich durch die City Road schob. Alex mochte die Energie und die dauernde Geschäf tigkeit seiner Stadt. Er war im lebhaften East End Lon dons geboren und brauchte den Lärm und die Eile sei ner neun Millionen Einwohner zählenden Stadt wie ein Elixier. Er hatte schon immer Police Officer werden wollen. Bei erster Gelegenheit hatte er sich im Hendon Trai ning College eingeschrieben. Alex lächelte. Er konnte sich noch gut an seine Überraschung erinnern, als ihn Jack Cooper von dort zur Police Investigation Com mand geholt hatte. Es war der beste Tag seines Lebens gewesen. In vielerlei Hinsicht hatte sein Leben damals erst richtig begonnen. Das Telefonklingeln riss ihn aus seinen Gedanken. 79
Er ging durch den Raum und nahm den Hörer vom Halter an der Wand. »Ja?« »Hallo«, sagte eine fröhliche Stimme. »Hier spricht Ihr telefonischer Weckdienst!« »Ich bin schon ’ne halbe Stunde wach, Danny. Was willst du?« »Susan Baxendale hat angerufen«, antwortete er. »Jojo alias Prima hat sich mit ihr in Verbindung ge setzt. Offenbar will er, dass wir so schnell wie möglich zu ihm kommen – ins Hotel.« »Hat sie gesagt warum?« »Ich schätze, dass es nicht unbedingt darum geht, mit uns zu frühstücken«, meinte Danny. »S. B. sagte, dass wir gar nicht erst in die Zentrale kommen, son dern direkt ins Hilton gehen sollen.« »Bist du noch zu Hause?«, fragte Alex. »Ja.« »Okay. Bleib, wo du bist. Ich komm vorbei und nehm dich mit.« Acht Minuten später saß Alex auf seiner silbern glänzenden Ducati und schlängelte sich durch den Verkehr auf der City Road. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf: War um wollte Prima sie erneut sehen? Was ging da vor sich?
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Maddie war schon sehr früh am Morgen in die PICZentrale gegangen. Susan Baxendale wartete bereits auf sie. Es war ein unangenehmes Gespräch. »Wir informieren die örtliche Polizei grundsätzlich über Undercover-Einsätze in ihrem Gebiet«, sagte Ba xendale. »Das gebietet die Höflichkeit zwischen Part nern. Und es bewahrt einen vor Situationen wie der, in die Sie gestern geraten sind.« Sie musterte Maddie. »Sie haben um diesen Fall gebeten. Also steht es in Ihrer Verantwortung, dass alles glatt läuft.« Maddie nickte. Sie presste die Lippen vor Wut auf sich selbst fest zusammen. Es war ein absolut dummer Fehler gewesen. Sie hob ihr Kinn. »Ich werde es von jetzt an besser machen«, sagte sie. Baxendale fixierte sie streng. »Passen Sie auf«, sagte sie. »Und lernen Sie aus Ih ren Fehlern, Maddie. Von jetzt an lasse ich Ihnen stän dig einen Wagen folgen. Und ich erwarte, dass Sie die Zentrale über jede neue Entwicklung auf dem Laufen den halten. Verstanden?« »Ja. Ich entschuldige mich nochmals.« »Entschuldigen Sie sich nicht – behalten Sie alles unter Kontrolle.« Baxendale nickte. »Sie können gehn.« Maddie verließ den Raum und zog sich in eine ruhi ge Ecke zurück, um erst einmal durchzuatmen. Sie war wütend auf sich selbst, Susan Baxendale enttäuscht zu haben. Das würde ihr nicht noch einmal passieren. 81
Maddie hatte sich mit Liam in dem Warenlager in Ac ton verabredet. Doch zuerst wollte sie sich die Aufnahmen der Überwachungskamera ansehen. Es gab recht gute Bil der von zweien der Männer, doch selbst eine groß an gelegte Suche durch die Computerdateien der PIC hat te nichts über sie ergeben. Die Männer waren unbe kannt. Sie mussten es noch einmal versuchen und auf ein besseres Ergebnis hoffen. Maddie fuhr mit ihrem neuen Motorroller nach Ac ton. Damit war sie nicht länger von Bussen und der Underground abhängig. Eines Tages würde sie sich ein richtiges Motorrad kaufen, eines wie Alex’ Ducati. Das wäre es doch! Liam war bereits im Depot angekommen. Er hatte schon alles eingeladen und saß wartend im Wagen. Er begann zu strahlen, als er sie in das Lager fahren sah. »Man hat dir den Fall also nicht abgenommen?«, fragte er. Am Nachmittag zuvor war Maddie noch weitgehend davon überzeugt gewesen, dass Susan Ba xendale den Fall jemand anderem übergeben würde. »Nicht ganz«, sagte sie. »Ich hab eine zweite Chan ce bekommen.« »Dann müssen wir auf jeden Fall versuchen diesmal alles richtig zu machen«, meinte er. Maddie schloss ihre Vespa ab und setzte sich neben Liam in die Fahrerkabine des Eiswagens. »Wir werden 82
von nun an den ganzen Tag von Kollegen beschattet«, sagte sie und zog ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe sie schnell an. Wo ist der Treffpunkt?« »In der Nähe von Kensington Gardens gibt es einen guten Platz«, sagte Liam. Er sah auf seine Armband uhr. »Sag ihnen, dass wir in etwa zwanzig Minuten dort sind.« Maddie gab es an den Detective Inspector weiter, der das Team im Hintergrund anführte. »Er wird da sein«, sagte Maddie zu Liam. »Und er ruft die örtliche Polizei an.« Sie lächelte. »Dieses Mal wird an alles gedacht.« Liam lenkte den Wagen aus dem Depot. Langsam fuhren sie durch verschiedene kleinere Straßen, von denen sie schließlich auf den Westway und dann ins Herz Londons kamen. »Heute schnappen wir sie uns«, sagte Maddie. »Genau«, sagte Liam. Er warf ihr einen Blick zu. »Aber wenn du sie erst mal hast, wirst du wohl nicht mehr mit mir Eis verkaufen können, oder?« »Nicht wirklich«, sagte sie. »Das hab ich mir schon gedacht«, murmelte Liam. Sie schwiegen. Maddie sah Liam lange an. »Okay«, sagte sie schließlich. »Ich weiß, was dann passieren wird. Du sagst – hast du Freitagabend etwas vor? Ich sage – nein, bis jetzt noch nicht. Dann fragst du mich, ob ich gern durch die Clubs ziehen möchte. Und ich sage – ja, wenn es mit dem richtigen Typ ist, schon. Und dann verabreden wir uns. Richtig?« 83
Liam lachte. »Richtig.« Im selben Moment schnitt ihnen ein Auto von der Seite den Weg ab. Es schien wie aus dem Nichts zu kommen. Bremsen quietschten. »Liam! Pass auf!«, schrie Maddie. Liam riss das Lenkrad herum. Der Wagen brach seitlich aus und rumpelte auf den Geh steig. Maddie hatte gar nicht darauf geachtet, wo sie sich gerade befanden. Aber nun sah sie, dass es eine enge Nebenstraße mit hohen Backsteinmauern zu beiden Seiten war. Ihr war sofort klar, dass dies der perfekte Ort für einen Überfall war. Liam trat mit voller Wucht auf die Bremse. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen, sein Kotflü gel nur wenige Zentimeter von der Mauer entfernt. Eine graue viertürige Limousine verstellte vor ihnen die Straße. Die Türen öffneten sich. Männer stiegen aus. Maddie sah Baseballschläger. Ihr wurde flau im Magen. »Fahr rückwärts!«, rief sie Liam zu. »Schnell!« Liam suchte verzweifelt den Rückwärtsgang, konn te ihn in der Hektik jedoch nicht gleich finden. Doch es war zu spät. Maddie hörte erneutes Brem senquietschen. Sie warf den Kopf herum. Ein anderes Auto schnitt ihnen den Weg nach hinten ab. Sie saßen in der Falle. Maddie schnappte sich ihr Handy und drückte die Kurzwahltaste mit der Nummer der PIC-Zentrale. Ein Mann kam zu ihrer Tür. Sie versuchte sie von innen zu verriegeln. Zu spät. Die Tür schwang auf und 84
ein Arm langte herein. Eine Hand packte ihr Handge lenk. Ein eisenharter Griff entwand ihr das Handy und schleuderte es gegen die nächste Wand. Es zerbrach in tausend Stücke. Als sie von ihrem Sitz heruntergezogen wurde, konnte sie schon hören, wie die Typen auf den Wagen einschlugen. Das Klirren von Glas. Die dumpfen Schläge von Baseballschlägern auf Metall. Sie wurde zu Boden geworfen. Ein Mann stand über ihr. Er hielt einen Baseballschläger in den Händen. Er starrte sie an. Grinsend. Als wartete er nur darauf, dass sie eine falsche Bewegung machte. Sie blieb ruhig liegen. Ihr Herz klopfte wie wild. Liam versuchte sich zu befreien, als zwei Männer ihn aus der Fahrerkabine zogen. »Liam!«, rief Maddie. »Nicht wehren!« Liam hing schwer atmend zwischen den beiden Männern. Er wirkte eher wütend als eingeschüchtert. »Lassen Sie sie in Ruhe!«, schrie er. »Rühren Sie sie nicht an!« Ein großer Typ baute sich vor ihm auf und tätschel te seine Wange. »Halt’s Maul«, sagte er nur. Er drehte sich zu den anderen Schlägern um. »Okay, Jungs. An die Arbeit.« Liam wurde zu Maddie hinübergezogen. Sie ver suchte aufzustehen, doch der Mann über ihr grunzte wütend und stieß ihr das stumpfe Ende seines Base ballschlägers in den Magen. Es tat nicht weh – es war nur eine Warnung, was sie erwartete, wenn sie sich nicht zusammennahm. Liam wurde neben ihr auf den 85
Boden geworfen. Ihre Blicke trafen sich. Sie bemerkte die Sorge in seinen Augen. »Ich bin okay«, sagte er leise. »Versuchen wir ein fach Ruhe zu bewahren. Sonst können wir sowieso nichts tun.« Zwei der Männer beobachteten Liam und Maddie. Der Anführer stand etwas abseits und rauchte eine Zi garette. Drei andere nahmen sich unterdessen den Eiswagen vor. Glasscherben flogen. Metall wurde verbeult. Sie zerstachen die Reifen. Sie rissen die Hecktür auf, war fen den Inhalt des Laderaumes auf die Straße und trampelten darauf herum. Im Wageninneren versteckt befand sich das kleine schwarze Kästchen, das die Überwachungsgeräte kontrollierte – die Mikrofone und die Kamera. Es hatte einen Kippschalter und eine rote Leuchtdiode, die glühte, wenn das Gerät eingeschaltet war und funktionierte. Der Schalter stand auf »Aus«. Die Diode leuchtete nicht. Maddie war keine Zeit geblieben das Gerät einzu schalten, als die Männer sie angriffen. Sie hatte nicht einmal mehr den Notruf-Knopf drücken können. Die Zentrale hatte also keine Ahnung, was hier vor sich ging. Der Anführer zermalmte seine Zigarette unter ei nem Absatz seiner schweren Schuhe. »Okay«, rief er seinen Leuten zu. »Das genügt.« Die Zerstörungsorgie endete. Die Männer standen mit hängenden Baseballschlägern da, sie keuchten vor Anstrengung. 86
Der Anführer kam zu Maddie und Liam herüber. Er kauerte sich neben sie auf den Boden und sah ihnen mit völlig ausdruckslosem Gesicht in die Augen. Er zeigte auf den zerstörten Wagen. »Seht ihr das?«, fragte er. Seine Stimme war von einer tödlichen Ruhe und Gefühllosigkeit. »Das seid das nächste Mal ihr.«
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Neuntes Kapitel Danny hielt Alex eine offene Packung M&Ms hin, während sie der Lift zu ihrem Treffen mit Giorgio Prima trug. Alex schüttelte den Kopf. »Frühstückst du nie?«, fragte er. »Doch«, sagte Danny kauend und grinsend. »Lass mich raten«, sagte Alex. »M&Ms?« Danny lachte. Der Aufzug kam zum Stehen. Die Türen glitten auf. Cecilia Rossi stand auf dem Gang. Sie hatte sie of fensichtlich schon erwartet. »Sie kommen spät«, sagte sie. Sie führte die beiden PIC-Trainees zu Primas Suite. »Ein M&M?«, fragte Danny und hielt ihr die offene Tüte hin. »Nein, danke«, sagte sie. Sie klopfte. Die Tür wurde augenblicklich geöffnet. Prima trug einen seidenen Morgenmantel. »Exzellent, exzellent«, sagte er und öffnete die Tür ganz. »Danke, Cecilia.« Er knallte der verdatterten Frau die Tür vor der Nase zu. 88
Er drehte den Schlüssel im Schloss. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein«, mur melte er und steckte den Schlüssel in seine Tasche. Alex und Danny warfen sich einen Blick zu. Giorgio Prima ging zu seinem Schreibtisch. Plötz lich drehte er sich mit gerunzelter Stirn zu ihnen um. »Glauben Sie, dass diese Suite abgehört wird?«, fragte er flüsternd. »Glauben Sie, dass das der Fall sein könnte?«, frag te Alex zurück. »Ich habe viele mächtige Feinde«, sagte Prima. Er winkte sie zu sich her. »Meine Leute in Mailand haben mir einige Informationen zugesandt, die mich sehr be unruhigen.« Er bedeutete ihnen, um den Tisch herum zukommen. Der Computer war eingeschaltet. Ein fri sches Blatt Papier lag in der Druckerausgabe. Ein digi tales Foto. »Sie kennen diesen Mann«, sagte er. Alex und Danny beugten sich vor. Das Foto zeigte ein Straßencafé, offenbar in Italien. Die Qualität des Fotos ließ an ein Teleobjektiv für weite Entfernungen denken. Es war ein normales Überwachungsfoto. In der Mitte des Bildes saßen zwei Männer an einem Tisch. Alex deutete mit dem Finger auf einen von ihnen. »Das ist Carlo Berlotti«, sagte er. Prima nickte. »Der andere Mann gehört zur Spitze der italienischen Mafia. Ein wichtiger Mann. Seine Feinde pflegen plötzlich und unerwartet zu sterben.« Prima schlug sich mit der offenen Hand an die Brust. »Ich glaube, er hält mich für seinen Feind. Ich bin in 89
zwischen überzeugt, dass die italienische Mafia Berlot ti hierher geschickt hat, um mich zu töten. Und es war Berlotti, der mir die beiden Leibwächter Luigi Russolo und Gino Severini empfohlen hat.« Primas Gesichts ausdruck zeigte nun eine Mischung aus Wut und Angst. »Diese Männer hätten mich umgebracht, sobald ihre Zahlmeister in der Mafia ihnen den Befehl dazu gegeben hätten.« Er legte Alex eine Hand auf die Schulter. »Wenn Sie nicht so wachsam gewesen wä ren, könnte ich schon längst tot sein.« Er begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen. »Sie haben mich vor Berlotti beschützt – aber ich glaube nicht, dass meine Feinde so schnell aufgeben werden.« »Vertrauen Sie dem Rest Ihrer Leibwächter?«, frag te Danny. »Sie sind mir gegenüber loyal, da bin ich sicher. Aber es sind nicht genug.« Er streckte die Arme in ihre Richtung. »Ich hätte gerne, dass Sie hier in diesem Ho tel bleiben, solange ich in London bin. Ich habe bereits mit Signora Baxendale gesprochen und sie hat zuges timmt.« Seine Augen verengten sich. »Aber ich warne Sie, meine Freunde. Seien Sie wachsam. Und vorsich tig. Trauen Sie niemandem.« »Was haben Sie heute vor?«, fragte ihn Alex. »Ich werde den ganzen Tag hier sein«, antwortete Prima. »Eine Menge Arbeit wartet auf mich. Heute Abend ist ein Empfang im Ballsaal des Hotels geplant. Es werden viele Leute da sein. Ich gebe Ihnen die Gäs teliste.« 90
Sie warteten, während er in einem angrenzenden Raum verschwand. Danny stieß einen leisen Pfiff aus. »Glaubst du, dass Berlotti wirklich als Killer für die italienische Ma fia arbeitet?«, fragte er. »Wenn das stimmt, wusste Prima vielleicht wirklich nichts von den Waffen«, sagte Alex. »Aber wie dem auch sei, mir gefällt das alles nicht besonders«, fügte er hinzu. »Wir müssen aufpassen.« »Wie der Typ gerade sagte: Vertrau niemandem.« »Ja. Einschließlich Prima selbst«, sagte Alex. Giorgio Prima kam ins Zimmer zurück. Er gab Alex eine Namensliste und jedem der beiden Officers einen Funkrufempfänger. Er zeigte ihnen einen Notrufknopf an einer Kordel, die er unter seinem Hemd um den Hals trug. »Kommen Sie sofort, wenn ich Ihnen das Signal gebe«, sagte er. »Verstehen Sie? Das bedeutet, dass ich in Gefahr bin.« Er drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage und rief Cecilia Rossi herein. Sie führte Alex und Danny zu einer separaten Suite mit mehreren Zim mern, in denen sich Primas Leibwächter aufhielten. Vier der Männer waren da. Sie saßen um einen Tisch herum und spielten Poker. »Sie bleiben hier, bis Sie gerufen werden«, sagte Cecilia Rossi. »Ihr Essen bekommen Sie gebracht.« Dann ging sie. Die vier Leibwächter ignorierten Alex und Danny. Eine Kanne mit Kaffee stand auf dem Tisch. Es gab 91
Zeitschriften, einige auch in Englisch. Ein großer Fern seher lief mit abgeschaltetem Ton. Eine italienische Soapopera. Aus einem anderen Zimmer drang Musik herein, unterbrochen von den schnellen Sprüchen eines Moderators. Danny warf sich auf eine breite Ledercouch. Er sah zu Alex hoch. »Super«, sagte er trocken. »Das wird sicher un glaublich spaßig.«
Alex fiel es schwer untätig herumzusitzen. Nach einer halben Stunde in diesem Raum hielt er es fast nicht mehr aus. Danny blätterte Zeitschriften durch und hör te auf seinem Walkman amerikanischen Hip-Hop. Er hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht. »Ich sehe mich mal ein bisschen um«, sagte Alex zu ihm. »Kommst du mit?« »Cecilia hat uns doch gesagt, dass wir hier bleiben sollen«, erinnerte ihn Danny. »So?« Danny warf sein Magazin hin und stand auf. Die Pokerspieler drehten sich zu ihnen um. »Sagen Sie Ce cilia, wenn sie vorbeikommt, dass wir zum Mittages sen zurück sind«, meinte er. Sie verließen den Raum und gingen den Gang ent lang. Danny lauschte an der Tür von Primas Suite. Er hörte eine einzelne Stimme. Wahrscheinlich Prima, der 92
telefoniert, dachte er. Vielleicht war er gerade dabei, neue Geschäfte abzuschließen. Sie gingen zum Ball saal hinunter. Der große Raum wurde bereits für den bevorstehenden Empfang vorbereitet. Alex zog die Gästeliste aus seiner Tasche. Es standen an die fünf hundert Namen darauf. Sie kannten einige von ihnen: Es waren überwiegend Berühmtheiten aus den Medien, Politiker und Geschäftsleute. Alex sah sich in dem Saal um. »Fünfhundert Gäs te«, murmelte er. »Und ein Dutzend Hotelangestellte. Es braucht nur eine gefälschte Einladungskarte oder jemanden, der sich als Kellner verkleidet – und zack, ist Prima tot.« »Er wäre wirklich verrückt, wenn er an dem Emp fang teilnehmen würde«, stimmte Danny zu. »Wir soll ten ihm das auf jeden Fall sagen.« Sie verließen den Ballsaal und unterhielten sich dann eine Weile mit den Sicherheitsbediensteten des Hotels. Sie wirkten sehr professionell. An allen Ein gängen und Ausgängen wie auch auf jedem Stockwerk befanden sich Überwachungskameras. Das Hotel war so sicher, wie man es sich von einem öffentlichen Gebäude nur wünschen konnte. Aber nicht einmal diese Einrichtungen konnten ga rantieren, dass kein professioneller Killer zum Zuge kam. Sie mussten Prima darauf hinweisen, in welche Ge fahr er sich begab, wenn er an dem Empfang teilnahm. Also gingen sie wieder zu seiner Etage zurück. »Wir sollten versuchen Cecilia auf unsere Seite zu 93
bringen«, sagte Alex. »Vielleicht kann sie Prima ja überreden, heute Abend nicht im Mittelpunkt zu ste hen.« Cecilia Rossis Räume lagen Primas Suite direkt ge genüber. Sie war da – zusammen mit Lucia Barbieri. Lucia trug ihren Morgenmantel. Sie saß an einem Tisch. Cecilia stand neben ihr. Es war das erste Mal, dass Alex und Danny die beiden Frauen zusammen sahen. Nun wurde eindeutig klar, dass Lucia tatsäch lich eine jüngere und überaus glamouröse Version Ce cilias war. Lucia schaute auf, als Alex hereinkam. »Kommen Sie bitte einmal her«, sagte sie. »Ich möchte gern Ihre Meinung hören.« Sie winkte sie zum Tisch herüber und deutete auf einen Stapel glänzender Porträtfotos von sich selbst. »Auf diesem Bild wirke ich kalt und hart, meinen Sie nicht auch?« Sie warf Cecilia Rossi einen wütenden Blick zu. »Ich habe ihr gesagt, welches Foto von allen, die zur Auswahl stan den, mir am besten gefällt, aber sie hat mich einfach ignoriert. Dasjenige, das ich am besten fand, hätte den Leuten mein wahres Ich gezeigt – sanft und freundlich und nett.« Sie feuerte eine italienische Wortkanonade auf Cecilia Rossi ab, die diese mit grimmigem Schweigen über sich ergehen ließ. »Ich hasse diese Fotos! Und ich werde sie nicht unterschreiben, nie mals!« »Ich fürchte, dass man das jetzt nicht mehr ändern kann, Signora Barbieri«, sagte Cecilia. Alex und Danny sahen sich das Porträt an. Lucia 94
hob darauf den Kopf, ihr Mund war ein dünner arro ganter Strich und ihre Augen schauten kalt unter halb geschlossenen Lidern hervor. Alex fand sie attraktiv, aber hochmütig und unnah bar. Danny fand, dass sie einfach aussah, als hätte sie ei nen schlechten Geruch unter der Nase. »Mir gefällt es«, sagte Alex. Lucia sah ihn stirnrunzelnd an. »Wirklich?« Danny lächelte. »Wie könnten wir Sie anlügen?«, fragte er. Lucia wandte sich an Cecila Rossi. »Also gut.« Sie seufzte. »Ich werde sie unterschreiben«, sagte sie. »Aber das nächste Mal suche ich die Fotos aus. Ist das klar?« »Si, Signora«, erwiderte Cecilia Rossi. Lucia nahm den Filzstift und begann zu signieren. Cecilia Rossi blickte Alex fragend an. »Können wir uns kurz unterhalten?«, fragte er. Sie nickte. Die drei gingen auf den Gang hinaus. »Sie meint, die Bilder ließen sie hart aussehen«, sagte Cecilia leise. »Aber ich meine: Die Kamera lügt nie.« »Wir haben uns den Ballsaal angeschaut«, wechsel te Alex das Thema. »Es wird in der Menschenmenge sehr schwer sein, Signor Prima zu schützen. Ich denke, Sie sollten ihn warnen.« »In Ordnung.« Sie ging zu Primas Tür, klopfte und wartete. Es dauerte über eine Minute, bis sie hereinge rufen wurden. 95
Prima saß an seinem Computer. Alex und Danny informierten ihn wie geplant über die mögliche Gefahr, der er sich bei dem Empfang aussetzte. Danach erklärten sie ihm, dass es völlig aus geschlossen war, bei einer Veranstaltung dieser Grö ßenordnung für seine Sicherheit zu garantieren. Prima lächelte. »Ich schätze Ihre Besorgnis sehr«, sagte er. »Aber ich fürchte, dass ich meinem eigenen Empfang nicht fernbleiben kann.« Er breitete die Hände aus. »Nebenbei möchte ich heute Abend auch etwas ganz Besonderes ankündigen. Sie erzählen bitte nie mandem davon – aber heute Abend kündige ich meine Verlobung mit meiner wundervollen kleinen Lucia an!« Danny warf Cecilia Rossi einen Blick zu. Ihr Ge sichtsausdruck war unergründlich, wie immer. Aber ihre Augen verrieten Wut und Erniedrigung. Sie hörte offensichtlich zum ersten Mal von der bevorstehenden Verlobung – und das verletzte sie tief.
Maddies Vespa brummelte leise im Leerlauf vor sich hin, als sie die Roslin Road im Stadtteil South Acton auf ihrer Straßenkarte suchte. Es war die Straße, in der Liam und sein Vater lebten. Sie fand sie und ordnete sich auf der Uxbridge Road in den Verkehr Richtung Westen ein. Sie kam gerade von einer Besprechung mit Susan Baxendale. Seit dem Angriff auf den Eiswagen heute Morgen 96
war viel geschehen. Nachdem die Schläger abgezogen waren, war es Maddie und Liam gelungen, jemanden mit einem Handy aufzutreiben. Maddie hatte ihre Kol legen angerufen. Zehn Minuten später war die Verstär kung bei ihnen. Liam und einige PIC-Agenten waren bei dem zerstörten Wagen geblieben und hatten auf einen Abschleppdienst aus Harlesden gewartet. Mad die war in die Zentrale gefahren und hatte dort ausführ lich über den Vorfall berichtet. Als sie aus Susan Baxendales Büro kam, hatte sie einen neuen Plan im Kopf. Er war riskant, Maddies Vater hätte ihm vielleicht nicht zugestimmt. Aber Maddie hatte ihre Chefin überzeugt, dass sie den Fall auch weiterhin behalten sollte und dass sie es verdien te, bis zum Schluss dabei zu sein. Maddie parkte vor dem Haus in der Roslin Road und ging zur Tür. Liam öffnete. »Wie geht’s dir?«, fragte Maddie ihn. »Ist in Har lesden alles glatt gelaufen?« »Alles okay«, antwortete Liam. »In der Werkstatt haben sie gleich mit den Reparaturen angefangen. Aber mein Vater weiß noch nichts davon. Ich glaube, das sollte auch so bleiben.« Maddie runzelte die Stirn. »Du solltest es ihm bes ser erzählen«, meinte sie. »Werde ich auch«, sagte Liam. »Aber jetzt noch nicht. Er ist krank. Es würde ihn nur aufregen.« »Was hast du ihm über mich gesagt?«, fragte sie. »Nur, dass ich dich letzten Sonntag kennen gelernt 97
habe und dass wir Freunde sind«, sagte er. »Das stimmt doch auch, oder?« Maddie lächelte. »Schon«, sagte sie. Er wirkte er leichtert. »Wie lief’s bei dir im Büro?« »Meine Chefin war froh, dass wir heil aus der An gelegenheit rausgekommen sind«, erzählte Maddie. »Sie wollte eigentlich, dass du nicht länger dabei bist, weil es zu gefährlich sei. Aber ich hab sie überzeugt, dass du die Sache durchziehen willst.« »Ich werde alles dafür tun, diese Schlägertypen end lich hinter Gittern zu sehen«, sagte Liam grimmig. »Und genau dafür haben wir uns einen neuen Plan ausgedacht«, sagte Maddie. »Ich erklär ihn dir später. Jetzt würde ich gern erst einmal deinen Dad kennen lernen. Mal sehen, ob ich rauskriege, woher du dein gutes Aussehen und deinen Charme hast …« An der Rückseite des Hauses befand sich ein Win tergarten. Mr Archer saß in einem Lehnsessel. Maddie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Auf seinem Schoß lag eine aufgeschlagene Zeitung. Er hatte die Augen ge schlossen, als sei er gerade beim Lesen eingenickt. »Dad?«, sagte Liam leise. »Das ist Maddie.« Mr Archer öffnete die Augen. Sie waren klar und freundlich, auch wenn sie müde wirkten. »Schön dich kennen zu lernen, Maddie«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Liam spricht die ganze Zeit von dir.« Maddie sah zu Liam hoch. »Stimmt das?«, fragte sie lächelnd. Liam wurde rot. »Ich gehe Kaffee ma chen«, sagte er schnell und ging hinaus. 98
Mr Archer bedeutete Maddie, dass sie sich neben ihn setzen sollte. »Liam hat erzählt, dass Sie krank waren«, sagte sie. »Geht es Ihnen inzwischen besser?« Mr Archer lächelte müde. »Nur sehr langsam.« Er runzelte die Stirn. »Es waren all diese Schikanen«, sagte er leise. »Liam weiß ja nur die Hälfte … Es sind schlimme Sachen geschehen. Sie haben gedroht, mich zusammenzuschlagen, weißt du?« Er schüttelte den Kopf. »Das alles ist so traurig«, seufzte er. »Wenn ich noch zehn Jahre jünger wäre, hätte ich mich gewehrt. Aber es geht mir nicht gut. Also habe ich aufgegeben.« Seine traurigen Augen richteten sich auf Maddies Ge sicht. »Am schlimmsten ist, dass ich Liam jetzt nicht das College finanzieren kann. Er muss für sich selbst aufkommen.« Liam kam zurück und brachte drei Kaffeebecher auf einem Tablett. Maddie lächelte ihm zu. »Oh, ich glaube, Ihr Sohn kann sehr gut für sich aufkommen«, sagte sie. Nun, da sie Liams Vater kennen gelernt hatte, war sie noch fester entschlossen die Schlägertypen zu fas sen – und ihnen heimzuzahlen, was sie diesem Mann angetan hatten.
Alex sah aus dem Hotelfenster zur Park Lane und zum Hyde Park hinüber. Er fühlte sich eingesperrt und ex 99
trem angespannt. Er musste jetzt irgendetwas tun, um seine überschüssige Energie loszuwerden. Eine schnel le Motorradfahrt oder ein Krafttraining. Irgendetwas, nur nicht dieses endlose Herumhängen. Danny hatte sich wieder auf der Couch ausgestreckt und las eine Computerzeitschrift. Mr Cool. Sie hatten das Zimmer jetzt für sich allein. Primas Leibwächter waren in den Ballsaal gerufen worden, um bei den Vorbereitungen für den Empfang zu helfen. »Ich frage mich, wie Maddie ohne uns voran kommt«, sagte Alex. »Der Eiskrieg ist der erste Fall, den sie allein verfolgt.« »Sie kriegt das schon hin«, sagte Danny. »Außer dem ist für den Notfall jede Menge Verstärkung da.« Alex drehte sich zu ihm um. »Es ist seltsam, nicht mit ihr zusammenzuarbeiten. Ich hab ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Als würde irgendetwas schief laufen.« Danny stand von der Couch auf und ging zum Fens ter. »Gar nichts läuft schief, Alex. Sie ist clever genug. Hör auf, dir Sorgen um sie zu machen.« Alex sah aus dem Fenster. »Leichter gesagt als ge tan«, murmelte er. »Wie wär’s, wenn ich uns einen Kaffee mache?«, bot Danny an. »Genau das kann ich jetzt brauchen: eine Dosis Koffein zum Ruhigwerden …«, bemerkte Alex tro cken. Danny lachte. »Warum will Prima uns hier haben?«, fragte Alex 100
nachdenklich. »Er hat neun eigene Männer hier. Der Sicherheitsdienst des Hotels steht auf Abruf bereit. Wofür braucht er uns da noch? Ich verstehe das nicht.« »Weil wir so charmant sind?«, fragte Danny. Doch bevor Alex etwas auf Dannys Witz entgegnen konnte, begannen ihre Funkrufempfänger gleichzeitig zu piepsen. Alex rannte zur Tür. Danny war nur einen Schritt hinter ihm. Endlich schien es doch etwas zu tun zu geben.
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Zehntes Kapitel
Der Gang lag verlassen da. Die Tür zu Giorgio Primas Suite stand einen Spalt offen. Alex betrat den Raum zuerst. Prima lag auf dem Boden. Halb angezogen. Hosen, Socken und ein offenes Hemd. Er hielt sich das Ge sicht. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor. Alex ließ seinen Blick durch den Raum wandern. – Außer Prima war niemand da. Danny rannte zu einer der angrenzenden Türen. Prima stützte sich schwerfällig auf einen Arm. »Nein!«, keuchte er und zeigte zur Zimmertür. »Er ist da hinaus …« »Hilf ihm«, sagte Alex zu Danny, machte auf dem Absatz kehrt und eilte auf den Flur hinaus. Nichts. Kein Anhaltspunkt, wohin der Mann ver schwunden sein konnte. In eines der vielen Zimmer auf diesem Gang? Zum Gästeaufzug und zur Treppe? Oder in die andere Richtung, zum Aufzug des Personals? Danny half unterdessen Prima auf die Füße. Er wankte zur Tür und zeigte dann zum Personalaufzug am anderen Ende des Ganges. »Er ist … da entlang …« 102
Alex nickte und sprintete los. »Sie sollten sich erst einmal hinsetzen«, sagte Dan ny. Er stützte Prima. »Sie brauchen einen Arzt.« Prima ließ sich zu einem Lehnstuhl führen und sank schwer hinein. Danny beugte sich über ihn und unter suchte die Verletzung. Prima hatte zwei lange Wunden auf seiner rechten Wange; nicht besonders tief, aber breit und stark blutend. Das Blut rann ihm übers Ge sicht und tropfte auf den Kragen seines Hemdes. Alex zog im Laufen sein Handy aus der Tasche. Er wählte die Nummer des hoteleigenen Sicherheitsdiens tes. »Alex Cox«, sagte er. »Prima ist angegriffen wor den. Schließen Sie alle Ausgänge.« Innerhalb von dreißig Sekunden wurde jeder Einund Ausgang des Hotels von einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes blockiert. Prima drückte sich ein Taschentuch auf die Wange. »Ich brauche keinen Arzt«, sagte er zu Danny. »Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit. Es war nur ein Schock, das ist alles. Mir geht es gleich wieder bes ser.« »Wer war das?«, fragte Danny. »Haben Sie ihn ge kannt?« »Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber ich bin sicher, dass er Italiener war. Er hat in meiner Sprache gesprochen. Er hat mich zuerst bedroht und dann ge schlagen. Ich versuchte mich zu wehren, aber er war stärker als ich.« Primas Augen funkelten. »Er darf nicht entkommen!« 103
»Alex wird ihn schnappen«, beruhigte ihn Danny. »Der Mann sagte mir, dass ich am Freitag nicht die Royal Albert Hall besuchen soll«, keuchte Prima. »Er sagte, dass man mich dort umbringen würde!«
Der Eiswagen war nicht so stark beschädigt, wie Mad die es befürchtet hatte. Er stand aufgebockt in der Ga rage in Harlesden, verbeult, aber noch zu reparieren. PIC-Mechaniker waren dabei, zerbrochene Scheinwer fer zu ersetzen, neue Reifen zu montieren und über haupt die schlimmsten Schäden zu beheben. Es musste schnell gehen. Der Wagen sollte schon am nächsten Tag wieder in London unterwegs sein. Liam und Maddie arbeiteten gemeinsam im Lade raum des Autos. Vor allem ging es darum, Einzelteile aufzusammeln, zu retten was noch zu retten war und eine Liste von den Dingen anzulegen, die ersetzt wer den mussten. Maddie kauerte mit einem Lappen am Boden, wischte die ausgelaufene Fruchtsoße auf und wrang den Lappen in einen Eimer aus. Liam schraubte die zerbrochene Theke auseinander. Auch sie musste repa riert werden. Maddie sah sich zu ihm um. Es verwirrte sie noch immer, wie gern sie mit ihm zusammen war. Wie lange kannten sie sich jetzt? Vier Tage. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. 104
Liam wandte sich um und bemerkte ihren Blick. Er hob fragend die Augenbrauen. Sie errötete. »Du müsstest dir doch eigentlich wün schen, mich niemals kennen gelernt zu haben«, sagte sie. »So geht es eben, wenn man wildfremde Mädchen zum Essen einlädt!« Er lachte. »Als wildfremd würde ich dich nicht ge rade bezeichnen. Ich würde eher sagen, dass du … ein fach … anders bist.« »Danke«, erwiderte Maddie. »Nichts Schöneres als ein Kompliment von einem Typ, der gerade dabei ist das Land zu verlassen. Da kommt man sich wirklich heiß begehrt vor.« Liam schaute sie nachdenklich an. »Du könntest mitkommen«, sagte er. Sie grinste. »Okay. Ruf mich einfach an, wenn es so weit ist. Ich werde da sein!« Sie lachten beide. Und dann hörten sie auf zu lachen. Maddie sah Liam direkt in die Augen, genau wie er in ihre. Irgen detwas ganz tief in ihrem Bauch begann zu zittern. Sie fühlte sich zugleich glücklich und traurig und aufgeregt und ein bisschen ängstlich. Sie mochte die ses Gefühl nicht – es machte sie verletzbar. Sie wandte den Blick ab und kümmerte sich wieder um das Durcheinander auf dem Boden. Aber sie fühlte lange Liams Blick auf sich ruhen, bis er schließlich doch an der Theke weiterarbeitete.
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Im Hilton herrschte Aufregung. Alex hatte darauf bestanden, dass Primas Leibwäch ter auf seine Etage zurückkamen und für die nächste Zeit auch dort blieben. Es hätte gerade noch gefehlt, dass die neun Gorillas jetzt im Hotel Amok liefen und den Angreifer ihres Bosses suchten. Prima hatte Alex’ Forderung widerspruchslos zugestimmt. Alex half dem hoteleigenen Sicherheitsdienst bei der Koordinierung der Suche. Keine Spur von dem Täter. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Prima hatte ihn auf den Personalaufzug zulaufen sehen – aber dort endete seine Spur. Der Mann musste ihnen ir gendwie durchs Netz geschlüpft sein. Alex ging zum Raum des Sicherheitsdienstes. Das Überwachungssys tem des Hotels beinhaltete auch eine digitale Video kamera auf jedem Stockwerk. So hätte man durch die Videoaufzeichnung wenigstens eine ungefähre Vor stellung, wie der Mann aussah. Der Chief Security Officer des Hotels legte die DVD ein, Alex sah ihm dabei über die Schulter. Der Bildschirm blieb schwarz. Der Security Officer runzelte die Stirn und drückte erneut die START-Taste. »Probleme?«, fragte Alex. »Sieht so aus, als hätte die Kamera auf diesem Stock nichts aufgezeichnet«, sagte der Mann. »Ich spu le mal ein Stück zurück.« Die schwarze Fläche auf dem Bildschirm ruckte und begann sich zu verzerren. Links unten befand sich eine digitale Zeitanzeige, die rasch rückwärts lief. 106
Plötzlich war wieder etwas auf dem Schirm zu er kennen. Der Security Officer stoppte den Rücklauf. Es war der Gang auf Primas Etage. Er war leer. Dann wurde der Schirm wieder schwarz. »Zu diesem Zeitpunkt endet die Aufzeichnung«, sagte der Security Officer. Alex notierte sich die genaue Uhrzeit. Es war rund eine halbe Stunde vor dem Angriff auf Prima. »Jemand muss die Kamera bewusst abgeschaltet haben«, sagte der Mann. Er sah zu Alex hoch. »Ver mutlich die Person, die Mr Prima attackiert hat.« Alex nickte. »Dann bleibt nur noch eine Frage«, sagte er. »Was hat er in den dreißig Minuten gemacht, nachdem er die Kamera abgeschaltet und bevor er Sig nor Prima angegriffen hat?«
Danny unterhielt sich mit Cecilia Rossi und einem Vertreter der Hotelleitung. Giorgio Prima erholte sich bereits von dem Angriff. Er verweigerte jede Hilfe ei nes Arztes und war nach wie vor entschlossen, den Empfang am Abend zu besuchen. Danny sagte ihm, dass er verrückt sei. Wenn er schon in seiner eigenen Hotelsuite verwundet werden konnte, wäre er in einem Saal voller Leute ein noch leichteres Ziel. Prima ignorierte ihn. Danny machte sich auch nicht die Mühe mit ihm zu streiten. Aber es erinnerte ihn an das, was Alex gesagt hatte: Wenn Prima sowieso nicht 107
auf ihren Rat hörte – warum wollte er dann unbedingt, dass sie im Hotel blieben? Danny überließ ihn seinem Schicksal. Er ging zum Personalaufzug und drückte den Knopf. Nichts geschah. Es wurde ihm zu blöd wei ter zu warten. Er nahm den Gästelift und fuhr ins Erd geschoss. Er zog sein Handy aus der Tasche und sprach kurz mit Alex. Die Suche war nach wie vor er folglos. Jede verlorene Sekunde erhöhte die Wahr scheinlichkeit, dass der Angreifer entkommen konnte. Als Danny unten ankam, sah er einen Mann im Overall an den offenen Türen des Personalaufzuges arbeiten. Er war überrascht. »Probleme?«, fragte er. Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur eine Routine wartung«, sagte er. »Das heißt, dieser Aufzug ist außer Betrieb?« Der Mechaniker schüttelte den Kopf. »Sehen Sie das nicht?« »Wie lange ist er schon außer Betrieb?«, fragte Danny. »Etwa fünfzehn Minuten«, sagte der Mann. Danny klopfte ihm auf die Schulter. »Danke«, sagte er und ging wieder zum Gästeaufzug hinüber. Im Gehen drückte er die Schnellwahltaste mit Alex’ Nummer. »Alex?«, sagte er. »Wir müssen uns treffen. Irgen detwas stimmt hier nicht. Du erinnerst dich doch, dass Jojo sagte, der Angreifer hätte den Personalaufzug ge nommen. Und weißt du was? Der ist schon seit einer Viertelstunde außer Betrieb! Tja, da frage ich mich doch, wie ein Typ mit einem Aufzug entkommen kann, der wegen einer Routinewartung stillgelegt ist.« 108
E l f t e s Ka pi t e l Sowohl Alex als auch Danny hatten Fragen, auf die sie noch keine Antwort wussten. Prima hatte seinen Angreifer zum Personalaufzug laufen sehen. Der Personalaufzug war außer Betrieb. Der Angriff auf Prima hatte um 15 Uhr 15 stattge funden. Die Videokamera war um 14 Uhr 47 abgeschaltet worden. Das heißt – inzwischen stand fest, dass es sich um Sabotage handelte. Alex hatte herausgefunden, dass Kabel abgeschnitten worden waren – möglicher weise von Primas Angreifer. Das war eine ziemlich lange Zeit für jemanden, der sich verstecken musste. Was hatte der Mann in den achtundzwanzig Minuten gemacht, die zwischen dem Sabotageakt und dem Angriff auf Prima lagen? »Es ist ausgeschlossen, dass er mit dem Aufzug ge flohen ist«, stellte Danny fest. »Aber in diesem Teil des Ganges gibt es keinen anderen Ausweg. Irgendet was ist faul an der Sache.« Alex nickte. Er klopfte an Giorgio Primas Tür. 109
Eine helle Stimme antwortete. Sie trafen Prima ausgestreckt auf einem Lehnstuhl an. Lucia Barbieri kniete neben ihm und hielt einen Eisbeutel an seine Wange. Ihr Gesicht war bleich und erschöpft. Alex bemerkte an der Hand, mit der sie den Eisbeu tel hielt, zwei große Ringe mit Juwelen. Und er be merkte, dass sie den Beutel in der linken Hand hielt. Sein Gehirn begann auf Hochtouren zu arbeiten. »Haben Sie ihn gefunden?«, fragte Prima. »Noch nicht«, sagte Alex. »Können Sie uns ein paar Fragen beantworten?« »Ja, natürlich, natürlich. Ich werde alles tun, um ih nen behilflich zu sein.« »Was haben Sie in der letzten halben Stunde ge macht, bevor Sie angegriffen wurden?«, fragte Alex. »An meinem Schreibtisch gearbeitet«, sagte Prima. »Allein?« »Sicher, allein. Ich bat darum, nicht gestört zu wer den.« »Verstehe.« In Alex’ Kopf nahm ein bestimmter Gedanke Gestalt an: Der Angreifer hatte sich nur so lange verstecken können, weil Prima ihn kannte. Er warf Danny einen Blick zu. »In diesem Fall stehen wir vor einem Problem, Signor Prima.« »Wurden Sie bewusstlos geschlagen?«, fragte Dan ny. »Überhaupt nicht«, sagte Prima. »Warum fragen Sie mich das?« »Weil Sie sagten, Sie hätten den Typ zum Personal 110
aufzug rennen sehen«, sagte Danny ruhig. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie das vielleicht geträumt ha ben, Signor Prima. Denn eines ist sicher: Er kann den Aufzug nicht benutzt haben. Er ist außer Betrieb.« Alex machte einen Schritt vorwärts. »Haben Sie jemanden von Ihren Leuten angewiesen, die Überwa chungskamera auf dieser Etage auszuschalten?«, fragte er. Lucia wurde grau im Gesicht. Prima setzte sich auf und schob ihre Hand weg. Sein Gesicht war wutver zerrt. »Was sagen Sie da?«, fragte er. »Ich glaube, dass es überhaupt keinen Angreifer gab«, sagte Alex ruhig. »Ich glaube, dass Sie die ganze Sache nur vorgetäuscht haben.« Prima sprang wütend von seinem Sessel auf. »Das ist doch absurd! Warum sollte ich das tun?« Er zeigte auf die Wunde in seinem Gesicht. »Halten Sie mich für so verrückt, dass ich mich ohne jeden Grund so zurich ten lasse?« »Nein, es muss ja nicht ohne Grund geschehen sein, Signor Prima«, sagte Danny lächelnd. »Möchten Sie uns den Grund nennen?« »Sie sind ja verrückt«, polterte Prima. »Sie müssen den Verstand verloren haben, wenn Sie so etwas an nehmen. Was glauben Sie – dass ich mir selbst ins Ge sicht geschlagen habe?« Plötzlich fügten sich für Alex die einzelnen Teile des Puzzles zu einem Ganzen. Er schaute Lucia Barbieri an. »Miss Barbieri, ich habe vorhin gesehen, wie Sie Porträtfotos signierten. Sie sind Linkshänderin, nicht?« 111
»Ja.« Sie sah ihn verständnislos an. »Warum?« »Signor Prima wurde auf die rechte Wange ge schlagen«, erklärte Alex. »Wenn man einem Rechts händer gegenübersteht und er zuschlägt …« – er ahmte die Bewegung eines Schlages nach – »… dann landet der Schlag auf der linken Wange. Aber nicht bei einem Linkshänder.« Er zeigte auf Lucia Barbieris linke Hand. »Und diese Ringe – die können einen ganz schönen Schaden anrichten, wenn Sie jemandem ins Gesicht schlagen, Miss Barbieri.« Er richtete seinen kühlen Blick wieder auf Prima. »Zwei Ringe an einer linken Hand. Zwei Risse auf der rechten Seite Ihres Gesichtes, Sir. Wollen Sie, dass ich Miss Barbieris Ringe gerichtsmedizinisch untersuchen lasse, oder wollen Sie mir jetzt sagen, was hier wirklich passiert ist?« Lucia Barbieri warf Prima einen panischen Blick zu. »Es spielt keine Rolle, wie sorgfältig die Ringe ge reinigt wurden«, sagte Alex. »Es befinden sich trotz dem noch Haut- und Blutspuren daran, die man identi fizieren kann.« Lucia Barbieri schlug die Hände vors Gesicht. Sie begann zu weinen. Prima setzte sich wieder auf den Sessel und legte seine Hände auf Lucias gesenkten Kopf. Er sagte etwas Beruhigendes auf Italienisch zu ihr und sah dann zu Alex hoch. »Sie sind ein cleverer junger Mann«, sagte er. »Ich habe Sie unterschätzt.« Es entstand eine Pause. Er 112
schien seine Gedanken zu ordnen. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen«, fuhr er schließlich fort. »Verzeihen Sie – es ist ein bisschen peinlich.« Sein Blick wanderte von Alex zu Danny. »Sehen Sie, die Wahrheit ist, dass Lucia und ich einen kleinen Streit hatten.« Er streichel te ihre Haare. »Wir Italiener sind heißblütige Leute. Es ging nur um eine Kleinigkeit, um nichts wirklich Wichtiges. Lucia wollte mich nicht verletzen.« Prima lächelte schief. »Sie kennt ihre eigene Stärke noch nicht. Aber es war mein Fehler. Ich war ein Narr. Ich wollte Lucia Ratschläge für ihren Gesang geben. Da wurde sie wütend.« Er deutete auf seine Wange. »Sie sehen ja das Resultat. Sie bereute ihren Angriff sofort. Sie war ganz unglücklich darüber, was sie getan hat.« Er legte ihr eine Hand unters Kinn und hob ihren Kopf. Ihr Gesicht war bleich, aber ruhig. »Ist es so gewesen, Miss?«, fragte Danny leise. Lucia Barbieri nickte langsam. »Warum dann die Geschichte mit dem Angreifer?«, fragte Alex Prima. »Dafür entschuldige ich mich«, sagte Prima. Er stand wieder auf. »Ich brauchte eine Erklärung für die Wunde. Ich hielt es nicht gerade für klug, meine Ver lobung mit Lucia anzukündigen und dabei die Wunde nach diesem dummen Streit zur Schau zu tragen.« Prima zog die junge Frau auf die Füße und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie schmiegte sich mit einem scheuen Lächeln an ihn. »Ich dachte die Erfindung eines PhantomAngreifers würde meine Wunden erklären.« Prima 113
lachte beschämt. »Ich wusste nicht, dass Sie beide so gute Detectives sind. Sie haben meine dumme Lüge sehr schnell durchschaut. Ich bin mehr als beeind ruckt.« Sein Lächeln wurde noch breiter. »Giorgio Prima fühlt sich jetzt sehr sicher. Der künftige Pre mierminister von Italien weiß nun, was für zwei intel ligente junge Männer ihn bewachen!«
Donnerstagmorgen. Die Garage in South Acton. Maddie und Liam standen vor dem Wellblechtor. Liam drehte den Schlüssel im Schloss und sie schoben zu zweit das Tor hoch. Der Eiswagen wirkte immer noch ramponiert, aber man konnte wieder mit ihm fah ren. »Ich habe gestern Abend alle Kollegen meines Va ters aus der Branche angerufen«, sagte Liam, »und ih nen gesagt, dass wir es nicht zulassen dürfen, von un seren angestammten Plätzen verjagt zu werden. Ich habe ihnen gesagt, dass wir heute wieder ganz normal Eis verkaufen fahren. Ich schätze, dass die Botschaft inzwischen zu den Schlägern durchgedrungen ist.« Er schaute sie an. »Mein Dad schlief natürlich schon. Er hat nichts davon mitbekommen.« Maddie nickte. »Wenn alles klappt, werden wir die Sache heute Abend hinter uns haben. Dann kannst du ihm ja alles erzählen. Du musst aber nicht selbst mit 114
machen«, fügte sie hinzu. »Ich kann auch einen Kolle gen bitten, den Wagen zu fahren.« »Untersteh dich«, sagte Liam. »Das ist schließlich auch meine Angelegenheit, nicht?« Er lächelte. »Au ßerdem brauchst du mich, damit ich dich beschütze.« Maddie berührte leicht seine Hand. »Okay. Wir fah ren zusammen.« Der Wagen war bereits mit allen Vorräten beladen, die sie für einen Tag auf den Straßen brauchten. Sie mussten nur noch einsteigen und in die Stadt fahren. Maddie setzte sich neben Liam. Sie sahen sich an. »Fertig?«, fragte er. Sie nickte. Liam drehte den Zündschlüssel um. »Okay. Los geht’s.« Maddie drückte seine Hand. »Es wird schon gut ge hen«, sagte sie. »Wir werden …« Der Rest ihres Satzes ging im Lärm eines heranrasenden Autos unter. Sie hörten das Quietschen von Reifen auf Asphalt. Ein dunkler Schatten kam um die Ecke. Der Wagen hielt schliddernd vor der Garage. Maddie schnürte es den Hals zu und sie bekam Herzklopfen, als sie die Gesichter der vier Männer wiedererkannte, die aus dem Wagen stiegen. Liam packte ihre Hand. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie. Panik drohte sie zu überwältigen. Einer der Männer trug eine abgesägte Schrotflinte. Er hielt die kurze tödliche Waffe in beiden Händen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte nicht ge 115
dacht, dass die Männer so weit gehen würden. Und sie hatte Liam in Gefahr gebracht! Der Mann mit der Waffe stellte sich breitbeinig vor den Eiswagen. Er stützte die Schrotflinte gegen seine Hüfte. Dann richtete er den Lauf auf die Windschutz scheibe des Wagens. »Wir haben versucht, es euch nett zu sagen«, rief er. »Aber manche Leute wissen einfach nicht, wann es genug ist.« »Ich habe keine Angst vor euch!«, rief Liam zurück. Er quetschte Maddies Hand. Seine Knöchel waren weiß. Der Mann lachte nur. Maddie sah, dass er die Schrotflinte hob und schuss fertig machte. Ihr Plan war entsetzlich schief gegangen. Bevor sie den Wagen auch nur aus der Garage gefahren hatten, konnten sie tot sein. Der Mann richtete jetzt die Flinte direkt auf Liams Gesicht. Maddie warf sich vor ihn, bereit, ihn mit ihrem eigenen Körper zu schützen. »Nein!«, schrie Liam. »Duck dich, Maddie!« Dann hörten sie ein Krachen – ein kurzes, scharfes Geräusch. Liam sah über Maddies Schulter, wie dem Mann die Waffe aus der Hand fiel. Ein Scharfschütze der Polizei hatte eine einzige, ge nau gezielte Kugel abgefeuert. Dann hörten sie eine durch ein Megafon verstärkte Stimme. »Hier spricht die Polizei. Wir sind bewaffnet und haben das Gebäude umstellt. Kommen Sie mit erhobenen Händen auf den Vorplatz heraus! Legen Sie sich auf den Boden, das Gesicht nach unten und Ihre Hände auf den Rücken!« 116
Die Schläger warfen einander überraschte, ungläu bige Blicke zu. Auf den umgebenden Dächern erschie nen dunkle Gestalten, schwarze Silhouetten, die sich gegen den hellen Himmel abhoben. Mindestens zehn Handfeuerwaffen und Gewehre waren auf den Vorplatz gerichtet. Ein Zivilauto der Polizei kam herangefahren und schnitt den Fluchtweg ab. Die Schläger gaben sofort auf und warfen sich auf den Asphalt der Straße. Es war vorbei. Liam schaute Maddie an, sein Gesicht ganz nahe an ihrem. Er hatte sie fest an sich gezogen. Jetzt, da es vorüber war, ließ der lähmende Schock nach. Er be gann zu zittern und atmete schwer. »Du hättest tot sein können«, keuchte er. Sie sah ihm in die Augen. »Hab ich dir das nicht ge sagt?«, fragte sie. »Ich komme immer irgendwie durch.« Sie zog sich aus seiner Umarmung und ließ sich er schöpft in ihrem Sitz zurückfallen. Ihre Hand zitterte, als sie ihr Handy aus der Tasche zog. »Hier Maddie«, sagte sie und streckte ihre freie Hand nach Liam aus. »Wir sind gerade dabei, vier Männer festzunehmen. Niemand wurde verletzt.« Sie lächelte Liam erleichtert an. »Alles lief nach Plan.«
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Zwöl ftes Kapitel
Am selben Tag. 14 Uhr 19. Im Sitzungszimmer der PIC-Zentrale. Danny beendete seinen Bericht über die Vorkomm nisse um Giorgio Prima. Er hatte den versammelten PIC-Officers gerade von Primas Beichte erzählt: Kein Angreifer, nur ein Streit zwischen Liebenden. Er lehnte sich gegen das Pult und ließ seinen Blick über die Zuhörer wandern. »Wir haben von weiteren Nachfragen abgesehen« , sagte Danny. »Die Wunden auf Jojos Gesicht passten mit der Geschichte überein, dass Lucia ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Wenn er gelogen haben sollte, konnten wir es jedenfalls nicht beweisen.« Er lächelte schwach. »Sie vertrauen dem Mann nicht?«, fragte Susan Ba xendale. »Nein, überhaupt nicht«, sagte Danny. »Er war vom ersten Tag an nicht ehrlich zu uns.« »Seine Erklärung sagt allerdings nichts über die Sa botage an der Videokamera aus«, warf Alex ein. »Und sie erklärt auch nicht, warum er seine Leibwächter we nige Minuten vor dem Streit ins Erdgeschoss geschickt 118
hat.« Er runzelte die Stirn. »Cecilia Rossi war eben falls unten und kümmerte sich um die letzten Vorberei tungen des abendlichen Empfanges.« »Mit anderen Worten«, sagte Susan Baxendale, »die ganze Etage war leer. Bis auf Prima, Lucia, Sie und Danny.« »Genau«, sagte Danny. »Merkwürdig«, fuhr sie fort. »Haben Sie eine Idee, was sich wirklich in dem Raum abgespielt haben könn te?« »Sie hat ihn sicherlich geschlagen«, sagte Danny. »Nur wissen wir nicht, warum.« »Ich frage mich, ob der Streit eine Art Probe für et was war, das Prima vorhatte«, sagte Baxendale. »Eine Probe, die ihm dann aber entglitt.« Sie hob ein Fax auf. »Das hier hat DeBeers, der Diamantenhändler, ge schickt«, sagte sie. »Man teilt uns mit, dass der CallasAnhänger morgen früh ins London Hilton gebracht wird, damit ihn Lucia Barbieri am Abend auf der Büh ne der Royal Albert Hall tragen kann.« Sie warf einen Blick in die Runde. »Mir fällt dazu etwas ganz anderes ein, Leute. Was, wenn das ganze Gerede über Mord versuche uns nur von etwas viel Einfacherem ablenken soll? Was, wenn es nur darum geht, dass Prima den Anhänger stehlen will?« »Der Typ ist Milliardär«, sagte Danny. »Wenn er die Halskette unbedingt haben wollte, könnte er sie einfach kaufen.« Susan Baxendale schüttelte den Kopf. »Selbst ein Milliardär ist machtlos, wenn eine Sache überhaupt 119
nicht zu verkaufen ist«, gab sie zu bedenken. »Der Cal las-Anhänger wird von DeBeers aufbewahrt, bis er in ein Museum geht. Aber reiche Leute neigen zu dem Glauben, sie könnten mit allem davonkommen, was sie sich leisten. Was, wenn Prima seiner Braut ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk machen will?« »Aber der Anhänger ist viel zu bekannt«, sagte Maddie. »Sie könnte ihn niemals öffentlich tragen.« »Eben«, sagte Alex. »Nicht in der Öffentlichkeit, aber zu Haus. Es gibt genug Geschichten über Reiche, die gestoh lene Kunstwerke bei sich verstecken: So können sie sie wenigstens privat bewundern.« »Sie denken also, Prima und Lucia haben durchges pielt, dass jemand versucht, den Anhänger zu klauen, den sie zuvor selbst …?«, fragte Danny an Baxendale gewandt. »Nur, dass Lucia eben ein wenig zu stark zurückgeschlagen hat …« Er lächelte. »So fällt natür lich ein ganz neues Licht auf die Sache.« »Das ist nur eine Vermutung«, sagte Baxendale. »Bis wir das Gegenteil beweisen können, müssen wir jeden falls weiterhin davon ausgehen, dass Primas Leben in Gefahr ist.« Sie schaute von Alex zu Danny. »Ich möch te, dass Sie nach wie vor in seiner Nähe bleiben«, sagte sie. »Achten Sie auf jede seiner Bewegungen. Wir müs sen herausfinden, warum er darauf bestanden hat, dass Sie beide im Hotel bleiben. Und wenn er Sie für irgen detwas missbrauchen will, möchte ich sicher sein, dass er es nicht schafft, verstehen Sie?« »Oh ja«, sagte Danny. »Wir verstehen.« 120
Maddie stand am Rednerpult im Besprechungszimmer. Der große Monitor hinter ihr war eingeschaltet, sodass sie die DVD-Aufnahme aus dem Eiswagen vorführen konnte. Sie war nervös. Es war das erste Mal, dass sie einem ganzen Zimmer voller PIC-Agenten einen eige nen Bericht vortrug. Ihre Handflächen waren schweiß nass. Einige ihrer Papiere waren durcheinander gera ten. Sie hatte das starke Bedürfnis sich zu räuspern. Dann bemerkte sie Dannys Blick. Er grinste und zwinkerte ihr zu. Sein freundliches Gesicht beruhigte sie. Sie riss sich zusammen und fing mit ihrem Bericht an. Sie begann mit einem kurzen Überblick über den Fall. Dann ging sie zu Details über die verschiedenen Aktionen über, die schließlich zur Festnahme der vier Schläger geführt hatten. Sie beantwortete Fragen ihrer Kollegen und fühlte sich langsam sicherer. Dies war ihr Fall. Sie hatte darum gebeten und ihn auch bekommen – und sie hatte ihn zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Das war etwas, auf das sie stolz sein durfte. »Die vier Männer werden derzeit noch verhört«, er klärte sie. »Wir erwarten, dass sie uns die Namen der Anführer nennen werden. Aber ich will betonen, dass der Fall damit noch nicht endgültig abgeschlossen ist. Wir haben bis jetzt nur einen kleinen Teil des Puzzles richtig zusammengefügt.« Sie schaute zu Susan Ba xendale hinüber. Ihre Blicke trafen sich und Baxendale nickte ihr knapp und zustimmend zu. 121
»Zum Schluss«, endete Maddie, »möchte ich Ihnen nun noch einige Proben der Aufnahmen unserer neuen Minikamera vorführen. Sie zeigen nicht viel mehr, als wir bereits wissen. Aber sie bestätigen, dass mindestens zwei der Typen, die wir in South Acton festgenommen haben, auch bei dem Angriff auf uns am Hamilton Place dabei waren.« Sie drückte einige Knöpfe der im Pult eingebauten Fernbedienung. Die Lichter wurden herab gedimmt. Sie ging einen Schritt zur Seite, sah auf den Monitor und drückte einen weiteren Knopf. Die erste Einstellung zeigte den Hinterkopf von Liam, der sich gerade über die Theke des Eiswagens beugte. Man hörte Stimmen und Verkehrslärm. Vor dem Wagen stand eine Warteschlange. Dann änderte sich der Blickwinkel. Man erkannte im Hintergrund das Erdgeschoss des Hilton Hotels. »Wie Sie sehen können, steuert einer unserer Kolle gen die Kamera aus dem Hintergrund«, erklärte Mad die. Nun sah man einen Ausschnitt des Gehweges. Die Einstellung zeigte ein Kindergesicht in Großaufnahme und ging dann wieder in die Totale. Die Officers im Besprechungszimmer beobachteten, wie die Warteschlange der Touristen von den Schlä gern durchbrochen wurde. »Das ist der Anführer«, sagte Maddie, als ein bruta les Gesicht in Großaufnahme auf dem Monitor er schien. »Er war auch derjenige, der heute Morgen die Schrotflinte dabei hatte.« Sie sahen, wie Liam den Mann mit dem schweren Eiskübel attackierte. 122
»An dieser Stelle hat sich die Sache etwas zuges pitzt«, sagte Maddie. Die nächste Einstellung war verwackelt. Es waren Rufe und dumpfe Schläge zu hören. Offenbar wurde der Wagen von den Typen angegriffen. Doch der Kampf dauerte nicht lange. »Achtung, jetzt gibt es gleich einen lauten Knall«, warnte Maddie ihre Kollegen. »Einer der Schläger hat einen Knallkörper in den Wagen geworfen, um uns einzuschüchtern. Aber ich konnte ihn aus dem Wagen kicken, bevor er explodierte.« Man hörte eine laute Explosion. »Zu diesem Zeit punkt ist dann auch die örtliche Polizei aufgetaucht«, fuhr Maddie fort. Sie warf Susan Baxendale einen Blick zu. »Es war ein Fehler von mir, sie nicht über unsere Aktion zu unterrichten.« Sie drückte einen an deren Knopf und das Bild auf dem Monitor ver schwand. »Das ist alles.« Alex stand auf. »Kannst du den letzten Teil noch mal abspielen?«, fragte er. »Welchen?« »Den, als der Knallkörper explodierte«, sagte er und wandte sich an Danny. »Achte mal genau darauf, was sich auf der anderen Straßenseite abspielt.« Maddie ließ die letzten Sekunden des Videos noch einmal laufen. Auf dem gegenüberliegenden Gehsteig standen Leute. Sie sahen so aus, als wollten sie gerade die Straße überqueren. Sie zuckten bei der Explosion zusammen. 123
»Anhalten!«, rief Alex. Er ging um den Tisch he rum und ganz nah an den Monitor heran. Er zeigte auf drei kleine Figuren. »Können wir eine digitale Vergrö ßerung dieses Ausschnittes haben?«, fragte er. »Sicher«, sagte Danny. Er ging zu einem Stuhl an dem Computer, der die DVD abspielte. Er öffnete ein Menü, gab einige Befehle ein und der Bildschirm wur de von feinen blauen Linien durchkreuzt. Der Aus schnitt, auf den Danny gedeutet hatte, wurde in schnel len Sprüngen vergrößert und füllte schließlich den ganzen Bildschirm aus. Maddie stand neben Alex. Ihre Kollegen schwiegen. Alle fragten sich, was Alex wohl gesehen hatte. Das Standbild zeigte drei Männer. Sie trugen Son nenbrillen und schwarze Anzüge. Sie waren halb der Kamera zugewandt, offenbar als Reaktion auf die Ex plosion des Knallkörpers. Der Mann in der Mitte griff gerade in seine Jacke. »Lass es jetzt bitte in Zeitlupe weiterlaufen«, sagte Alex. Danny gab die nötigen Befehle ein. Sie sahen zu, wie der mittlere Mann sehr langsam die Hand aus seiner Jacke zog. Er hielt etwas Graues in der Faust. Eine Pistole. Die beiden anderen gingen auf ihn zu und die Waffe verschwand aus dem Blickfeld. »Nur für den Fall, dass niemand von euch diese drei netten Jungs erkennen sollte«, sagte Alex. »Der Schießwütige in der Mitte heißt Carlo Berlotti. Der Dünne links von ihm Luigi Russolo und der Hässliche Gino Severini.« Er wandte sich seinen Kollegen im 124
verdunkelten Sitzungszimmer zu. »Das sind die drei Männer, die Danny und ich am Montagabend in einen Flieger nach Mailand gesetzt haben. Bleibt nur eine Frage: Wie haben sie es geschafft, am frühen Diens tagmorgen nach London zurückzukehren – und noch dazu neu bewaffnet?«
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Dreizehntes Kapitel Susan Baxendale meldete sich zuerst zu Wort. »Wir müssen herausfinden, ob Prima weiß, dass diese Män ner wieder im Land sind«, sagte sie. »Hat er sie ein schleusen lassen oder sind sie ohne seine Kenntnis hier? Danny, Alex: Sie gehen wieder ins Hilton.« Sie schaute Maddie an. »Das ist eine Spur, die zu Ihrem Fall gehört, Maddie. Sie sollten also mit dabei sein. Und ich möchte, dass Sie drei morgen Abend in der Albert Hall im Einsatz sind. Okay, das ist alles, Leute. Sie können gehen.« Maddie spürte eine angenehme Anspannung. Es war ein wichtiger Schritt für sie gewesen, zum ersten Mal eigenverantwortlich ermitteln zu dürfen. Aber es ging doch nichts über das Gefühl, einen gemeinsamen Fall mit Danny und Alex zu bearbeiten. Sie drei waren schließlich Partner. Maddie ging zwischen den beiden durch den Flur. Sie fand es aufregend und schön zugleich, dass sie nun wieder zusammenarbeiteten. Sie betraten den Aufzug. Die Türen schlossen sich. Der Lift glitt abwärts. 126
Danny sah Maddie an. »Also, dann erzähl uns mal alles Wichtige über Liam«, sagte er. »Er ist ein netter Typ«, sagte Maddie und wich sei nem Blick aus. »Alles Wichtige steht in meinem Be richt.« Danny lachte. »Wirklich alles?« »Was meinst du damit?« Alex musterte sie. »Wir hatten schlicht und einfach den Eindruck, dass du ihn magst«, sagte er. »Tu ich auch«, gab sie zu. »Ich mag viele Leute. Manchmal sogar euch beide.« Sie sah von einem zum anderen. »Nebenbei gesagt ist das keine große Sache. Er wird in den nächsten Tagen das Land verlassen.« »Das heißt, du wirst ihn nicht Wiedersehen?«, frag te Alex. »Na ja, eigentlich schon«, sagte sie. »Morgen Abend. Er ruft mich an.« Sie grinste. »Wir ziehen ein bisschen durch die Clubs.« »Am Freitagabend?«, fragte Danny. »Hoppla.« »Warum nicht?«, fragte Maddie. »Morgen ist doch die First Night of the Proms«, erinnerte sie Alex. »Du hast morgen Abend mit uns Dienst in der Royal Albert Hall, Maddie.« Das hatte sie ganz vergessen. So ein Pech! Sie konnte jetzt nicht einfach zu Susan Baxendale gehen und darum bitten, aus dem Fall Prima aussteigen zu dürfen – nur, damit sie ihr Date nicht verpasste. Aber es war noch nicht zu spät. Sie konnte ihr Date mit Liam schließlich auch verlegen. Dann würde sie eben am Samstagabend mit ihm ausgehen. 127
Giorgio Prima saß hinter seinem Schreibtisch. Mit einer Hand bediente er die Tastatur seines Computers. Ak tienwerte und Kurse liefen über den Bildschirm. In der anderen Hand hielt er ein Telefon, in das er schnell und eindringlich Italienisch sprach. Der Schreibtisch war mit Papieren, Dokumenten und Ausdrucken übersät. Cecilia Rossi führte die drei jungen PIC-Agenten zu seinem Büro. »Signor Prima ist heute sehr beschäf tigt«, sagte sie zu ihnen. »Ich hoffe, es ist wirklich wichtig.« »Oh ja, das ist es«, sagte Alex. Prima warf ihnen einen kurzen Blick zu und arbeite te dann weiter, als wären sie nicht da. Seine Stimme stieg zu einem schrillen Crescendo und er knallte den Hörer auf. Anschließend begann er Cecilia Rossi anzu schnauzen. »Signor Prima«, meldete sich Alex zu Wort. »Könnten wir bitte kurz mit Ihnen sprechen?« »Jetzt nicht«, sagte Prima. »Sehen Sie nicht, dass ich arbeite?« Alex beugte sich über den Schreibtisch. »Carlo Be rlotti ist wieder in London, Signor Prima«, sagte er. »Und die beiden anderen Männer sind ebenfalls da. Severini und Russolo.« Prima lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er war sprachlos. Maddie sah zu Cecilia Rossi hinüber. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. 128
»Woher wissen Sie das?«, flüsterte Prima schließ lich. »Wir haben die Männer auf einem Video erkannt«, sagte Danny. »Carlo hat sogar seine Waffe gezeigt.« »Wo war das?«, keuchte Prima. »Gar nicht weit von hier«, sagte Maddie. »Gerade über die Straße. Sie wurden dabei gefilmt, wie sie auf das Hotel zugingen.« Prima runzelte die Stirn. »Haben Sie sie festge nommen?«, fragte er. »Nein«, sagte Alex. »Sie wurden am Dienstag ge filmt, aber wir haben sie erst heute Morgen auf dem Video entdeckt.« Primas Miene verdüsterte sich. »Sie meinen, diese Söldner konnten während der letzten drei Tage unges tört in London herumspazieren?« Er schaute Cecilia Rossi an. »Na, was habe ich über die Polizei anderer Länder gesagt?«, fragte er. »Mein Leben ist in Gefahr und diese Leute tun nichts, um mich zu schützen!« Er brach in eine wütende Schimpfkanonade auf Italie nisch aus. Alex musste die Stimme heben, damit Prima ihn überhaupt hörte. »Ihre Sicherheit hat bei uns oberste Priorität, Sir«, sagte er. »Aber wir können unsere Ar beit erst dann gut machen, wenn uns alle Fakten vor liegen.« »Fakten?«, fragte Prima wütend. »Was denn für Fakten? Was meinen Sie damit?« Alex sah ihn unverwandt an. »Hatten Sie einen Grund anzunehmen, dass diese drei Männer nach Eng 129
land zurückkämen?«, fragte er. »Wussten Sie, dass sie wieder in London sind? Arbeiten sie auf Ihre Anwei sungen hin?« Prima funkelte ihn an. »Wie können Sie es wagen so etwas anzunehmen!« Cecilia ging langsam um den Tisch herum und flüs terte ihrem Boss etwas ins Ohr. Er beruhigte sich. »Cecilia hat mich gerade daran erinnert, dass Sie nur ihren Job machen«, murmelte er. »Manchmal müs sen Sie unverschämte Fragen stellen, um die Wahrheit herauszufinden. Ich entschuldige mich, dass mein Temperament mit mir durchgegangen ist. Ich bin ein heißblütiger Mann, wissen Sie? Und ich habe Angst um mein Leben. Meine Feinde laufen frei auf den Straßen herum und die britische Polizei tut nichts.« Er beugte sich auf seinem Stuhl vor und musterte die drei PIC-Officers der Reihe nach. »Finden Sie diese Männer«, sagte er. »Giorgio Pri ma wird nicht undankbar sein.« Dann setzte er wieder sein professionelles Politikerlächeln auf. »Ich bin ein großzügiger Mensch«, sagte er. »Ich werde Sie beloh nen.« »Das wird nicht nötig sein«, sagte Alex und sah Prima entschlossen an. »Wir werden diese Männer fin den, Signor Prima«, sagte er. »Das kann ich Ihnen ver sprechen.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Danny und Maddie folgten ihm. Als Maddie die Tür hinter sich zuzog, sah sie, wie sich Giorgio Prima und seine Spre cherin kurze Blicke zuwarfen. 130
Es waren die Blicke von Leuten, die etwas zu ver heimlichen hatten.
PIC-Zentrale. Maddie saß an ihrem Computer, Alex neben ihr. Danny hatte die Füße auf einen Tisch gelegt und sah auf Maddies Bildschirm. Sie vollzog die einzelnen Stationen der drei Italiener nach. »Sie haben am Montagabend den Achtuhrflug von Mailand nach London genommen«, sagte sie. »Das wissen wir sicher.« »Klar«, sagte Danny. »Wir haben ihnen ja schließ lich noch zum Abschied nachgewinkt.« Maddie tippte weiter auf ihre Tastatur. »Das heißt, sie sind gegen elf Uhr abends italienischer Zeit am Flughafen Malpensa angekommen. Wenn es keine Verspätung gab.« Sie öffnete ein anderes Menü und gab einige Befehle ein. Eine neue Seite erschien. »Es gab am nächsten Morgen um fünf nach sieben einen Lufthansa-Flug von Malpensa. Er landet normalerwei se um zehn nach acht unserer Zeit in Heathrow.« »Mit Carlo und seinen Kumpeln an Bord«, stimmte Alex zu. »So hätten sie genug Zeit gehabt, um nach London hineinzugelangen und schließlich auf dem Vi deo vor dem Hilton aufzutauchen.« Er runzelte nach denklich die Stirn. »Selbst wenn der Flug verspätet 131
gewesen wäre, hätten sie genug Zeit gehabt, sich noch am Morgen mit Prima zu treffen.« »Du bist also überzeugt davon, dass sie noch für Prima arbeiten?«, fragte Danny. Alex schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Aber möglich ist es allemal.« »Wenn das so ist, hat er uns perfekt etwas vorges pielt«, meinte Maddie. »Aber als wir gegangen sind, habe ich gesehen, wie sich Prima und Cecilia Rossi angeschaut haben. Da läuft irgendetwas, was wir nicht wissen sollen. Ganz sicher.« »Wenn man bedenkt, wie Jojo arbeitet, wird es eine Menge Dinge geben, von denen wir nichts wissen sol len«, sagte Danny. »Die Frage ist nur die: Arbeiten Carlo & Co für Prima oder gegen ihn?«, sagte Alex. »Wenn sie gegen ihn arbeiten, müssen wir annehmen, dass in den näch sten Tagen irgendein Anschlag auf ihn ausgeführt wird.« »Und wenn sie für ihn arbeiten?«, fragte Maddie. »Dann müssen wir herausbekommen, warum Signor Prima Carlo seine Kumpel so dringend braucht, dass er es sogar riskiert, sie direkt vor unseren Augen in unser Land zurückzubringen.« »Wie viel konnten wir bis jetzt eigentlich über sie herausfinden?«, fragte Maddie. Danny hatte im Internet recherchiert. »Sie kommen alle aus der Armee«, sagte er. »Berlotti war in einer Art Kommando-Brigade, einer Spezialeinheit, die mit versteckten Bomben und solchen Sachen arbeitet. Die 132
beiden anderen sind einfach dahergelaufene Söldner – meistbietend anzuheuern. Aber auf Berlotti muss man genauer achten. Ich habe mich mit der italienischen Polizei und mit Interpol in Verbindung gesetzt. Sie haben beide Akten über ihn.« »Glauben sie denn, dass er bereit wäre, Prima für entsprechendes Geld zu verraten?«, fragte Alex. Danny nickte. »Oh ja. Sehr bereit«, sagte Danny. »Ich denke, wir werden morgen einen interessanten Tag haben, Leute. Jojo verlässt die Stadt am Samstag morgen. Wenn Berlotti ihn also angreifen will, wäh rend er noch in London ist – dann wird das in den nächsten 36 Stunden geschehen.«
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Vi e rz e h n t es Kapitel Maddie musste an diesem Tag lange in der PICZentrale bleiben, um ihren Bericht über den Eiskrieg fertig zu schreiben. Sie konnte es kaum erwarten, ihn ihrem Vater zu zeigen. Susan Baxendale hatte ihr ver traut und ihr den Fall übergeben – und es war, abgese hen von einigen Zwischenfällen, ein voller Erfolg ge wesen. Maddie hoffte, dass dies der endgültige Beweis für ihren übervorsichtigen Vater wäre, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte. Kaum kam sie an diesem Abend nach Hause, griff sie nach dem Telefon, um Liam anzurufen und ihr Da te auf Samstag zu verlegen. Doch ihre Großmutter überraschte sie mit der Information, dass Liam schon angerufen hatte – schon dreimal. »Der junge Mann scheint unbedingt mit dir spre chen zu wollen, Maddie«, sagte ihre Großmutter lä chelnd. »Ruf ihn besser gleich zurück.« Maddie setzte sich auf eine Armlehne der Couch und drückte die Schnellwahltaste des Telefons mit Liams Nummer. Sie öffnete das Fenster und schaute über den Regent’s Park. Der Himmel war zwar extrem diesig, weil es einige Tage nicht geregnet hatte; doch 134
sie liebte diesen Blick über London bei jedem Wetter. Liam nahm schon beim ersten Klingeln ab. »Es gibt Neuigkeiten«, sagte er. »Von mir auch.« »Du zuerst.« »Ich arbeite jetzt mit Alex und Danny am Fall Pri ma«, erzählte sie ihm. »Das einzige Problem besteht darin, dass ich am Freitagabend arbeiten muss. Können wir unser Treffen vielleicht auf Samstag verlegen?« Kurzes Schweigen. »Das geht nicht«, sagte Liam. Maddie war überrascht. »Warum?« »Weil ich dann schon in einer kleinen rumänischen Stadt namens Solca sein werde«, sagte er. »Ich habe heute Nachmittag den Anruf erhalten. Sie wollen, dass ich am Samstag fliege.« Maddie fühlte sich benommen. Sie wusste, dass dies irgendwann kommen würde, hatte aber gewünscht, dass es nicht so schnell geschähe. »Klasse«, sagte sie und versuchte so begeistert wie möglich zu klingen. »Gibt es ein gutes Nachtleben in Solca?« »Das bezweifle ich«, sagte Liam. »Es liegt in den Karpaten.« Maddie riss sich so gut es ging zusammen. »Also, wann werde ich dich dann noch sehen?« »Heute Abend geht es nicht«, sagte Liam. »Ich tref fe mich mit einem Organisator der VSO. Wir müssen zusammen alle nötigen Papiere fertig machen.« »Morgen geht es bei mir nicht«, meinte Maddie. »Ich muss auch abends arbeiten. Wann fliegst du denn am Samstag?« 135
»Am frühen Nachmittag. Ich werde mittags von ei nem Wagen der VSO abgeholt.« »Also können wir uns nur am Samstagmorgen tref fen«, sagte Maddie. »Sag mir einfach, wo und wann – ich werde auf jeden Fall da sein.«
Maddie lag nachts im Dunkel ihres Zimmers wach. Es war seltsam, Liams Gesicht immer wieder vor sich zu sehen. Es kam ihr nicht fair vor, dass sie jemanden kennen lernte, um ihn im nächsten Augenblick schon wieder zu verlieren. Sie erinnerte sich an sein Lächeln und begann auch selbst zu lächeln. Na ja, ein Jahr war schließlich keine so lange Zeit. Oder?
Freitagmorgen. Das Londoner Hilton Hotel. Danny stand vor dem Gebäude. Maddie war im Foyer, Alex in Giorgio Primas Suite. Die drei hielten per Handy Kontakt miteinander. Es war genug los, um sie hier zu beschäftigen. Eine Delegation von DeBeers war erschienen, um den Cal las-Anhänger zu übergeben. Cecilia Rossi hatte einen 136
riesigen Medienrummel daraus gemacht. Überall drängten sich Reporter und Fotografen. Primas Leibwächter standen mit gefährlichen Mie nen in allen Ecken und warfen böse Blicke in die Run de. Alex vertraute keinem von ihnen. Wenn drei von Primas Leibwächtern ihn verrieten – warum nicht vier oder fünf? Oder alle? Es war eine schwierige Situation. Prima wurde der Schmuck offiziell in seiner Suite übergeben – begleitet vom Geräusch unzähliger Foto apparate und Fernsehkameras. Lucia Barbieri war an seiner Seite, glamourös wie ein Filmstar. Prima lächel te sein breites Politikerlächeln. Lucia lächelte eben falls. Auf Alex wirkte es allerdings wie ein hungriges Lächeln – wie das Zähnefletschen eines gierigen Tie res, bevor es seine Reißzähne in ein saftiges Stück Fleisch schlägt. Nur, dass es kein Fleisch war, nach dem Lucia Barbieri gierte – es war der CallasAnhänger. Alex konnte die tiefe Befriedigung in ihren Augen sehen, als Prima ihr die wertvolle Kette um den Hals legte. Sie hob ihre Hand und streichelte das riesi ge Juwel. Nachdem die Presse ihre Fotos des HighsocietyPaares im Kasten hatte, gestattete Prima eine kurze, spontan einberufene Pressekonferenz. Es wurden Fra gen nach seiner Gesichtsverletzung laut. Er nannte sie »Folgen eines Unfalls«. Es gab Fragen über die anste henden italienischen Wahlen. Er sagte, er hoffe mit einer komfortablen Mehrheit zu gewinnen, habe jedoch viele Feinde im Hintergrund, die ihn scheitern sehen wollten. 137
»Stimmt es, dass Sie sich während Ihres LondonAufenthaltes Sorgen um Ihre Sicherheit machen, Sig nor Prima?« Alex spitzte die Ohren. Der Journalist, der diese Frage gestellt hatte, war Italiener – aber er hatte sie auf Englisch gestellt. Warum? Alex sah zu Cecilia Rossi hinüber. Hatte sie die Frage aus irgendeinem Grund lanciert? »Ich habe Gründe zu glauben, dass sich in London Menschen befinden, die mir etwas antun wollen«, sag te Prima. »Ich habe die britische Polizei informiert, doch sie ist bislang nicht fähig gewesen diese Männer festzunehmen. Ich muss zugeben, dass mich das ent täuscht. Ich hatte bislang nur Gutes über die britische Polizei gehört.« Er hob die Arme und breitete sie aus. »Letztlich muss Giorgio Prima sich selbst um seinen Schutz kümmern. Wie Sie wissen, werde ich heute Abend in der Londoner Royal Albert Hall beim ersten Auftritt meines Darlings Lucia sein. Ich werde zuvor das gesamte Gebäude von meinen Leuten durchsuchen lassen. Allein dies kann meine Sicherheit garantieren.« Es wurden noch etwa eine halbe Stunde lang weite re Fragen gestellt, bis Cecilia Rossi schließlich ein schritt und die Journalisten und Fotografen zum Gehen aufforderte. Prima erhaschte Alex’ Blick. Alex versuchte gar nicht erst seine Wut zu verbergen, weil Prima die PIC so schlecht gemacht hatte. Aber der italienische Ge schäftsmann ging lächelnd auf ihn zu. »Das ist doch nur Politik«, sagte er beruhigend. »Nehmen Sie es bloß 138
nicht persönlich.« Seine Augen begannen seltsam zu flackern. »Haben Sie die Verräter inzwischen gefun den?«, fragte er. »Nein«, sagte Alex. »Aber das kommt noch, keine Sorge.« Prima zuckte die Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Er ging zu Lucia hinüber, die sich gerade in einem großen Wandspiegel bewunderte. Sie schien regelrecht hypnotisiert von dem Callas-Anhänger. Prima stellte sich neben sie. »Ein hübsches Paar, was?« Alex wandte sich um. Es war Cecilia Rossi. Ihre Stimme troff vor Wut und Hohn. Wie musste es in ihr aussehen, dass sie sich Alex gegenüber in dieser Weise äußerte! »Vielleicht verdienen sie einander auch«, antworte te Alex leise. »Die Menschen bekommen nicht immer das, was sie verdienen«, knurrte sie. »Aber Signor Prima viel leicht schon. Er ist ein großer Mann. Aber solche Männer fallen oft umso tiefer!« Bevor Alex antworten konnte, hatte sie sich umgedreht und den Raum verlas sen. Alex beobachtete, wie sich Lucia im Spiegel be wunderte. Ihre langen Finger fummelten an dem Juwel herum. Ihre Augen waren hart. Alex begann über sie nachzudenken. Prima war mehr als doppelt so alt wie sie. War er so verrückt nach ihr, dass er alles in die Wege leiten wür de, um den Anhänger für sie zu »sichern«? 139
Man hatte mehr als einmal gehört, dass Männer fortgeschrittenen Alters dumme Sachen machten, wenn sie sich in junge Frauen verliebten. Und vielleicht war en ja Carlo & Co schon da, um den Anhänger zu steh len. Wenn alle Blicke sich auf Prima richteten – wer hätte dann ein Auge auf Lucia Barbieri? Wer würde den Callas-Anhänger bewachen? Alex lächelte grimmig vor sich hin. Klare Sache: Er würde das tun.
Royal Albert Hall. Freitag, 15 Uhr. Cecilia Rossi stand vor der Glastür des Hauptein ganges. Über ihr Handy hielt sie Kontakt zu den Leu ten im Inneren des Gebäudes. Giorgio Primas Leib wächter durchkämmten gerade ein letztes Mal das Ge bäude und achteten darauf, dass alle Sicherheitsvor kehrungen eingehalten wurden. Maddie und Danny waren bei Cecilia Rossi. »Sie werden nichts finden«, sagte Danny zu ihr. »Ich hab das Gebäude heute schon zweimal durch sucht.« Er sah sie finster an. »Glauben Sie und Ihre Leute, dass ich meine Arbeit nicht richtig mache?« Cecilia Rossi reagierte cool. »Doch, da bin ich si cher«, erwiderte sie, »aber ich habe Anweisung, das Gebäude durch Signor Primas eigene Leute durchsu chen zu lassen.« 140
»Warum wollen Sie uns nicht hineinlassen?«, fragte Maddie. »Wir könnten Ihnen schließlich behilflich sein.« »Ich weiß, dass Signor Primas Leute bestimmte hoch empfindliche Geräte benutzen, Ultraschall und solche Sachen. Wenn sich noch zusätzliche Leute im Gebäude aufhalten, kann es technische Probleme ge ben.« »Welcher Art?«, fragte Danny. Cecilia Rossi zuckte die Achseln. »Ich kenne mich da nicht aus.« »Aber ich«, sagte Danny. »Ich könnte Ihnen hel fen.« Cecilia Rossi hob entschuldigend die Hände. »Es tut mir Leid. Ich habe Anweisung niemanden hineinzulas sen.« Maddie und Danny warfen sich einen Blick zu. Es nervte ganz schön, dass ihnen Cecilia Rossi einfach den Zutritt ins Innere des Konzerthauses verweigerte. Aber sie kamen nicht hinein – es sei denn, sie rann ten die Sprecherin Primas kurzerhand über den Hau fen. Alle anderen Ein- und Ausgänge waren von Pri mas Leuten vorübergehend geschlossen worden. Noch mehr nervte allerdings der Umstand, dass Danny extra ein Sicherheitsteam der Polizei zur Royal Albert Hall gerufen hatte. Und er selbst hatte das Ge bäude zusätzlich mit dem hoteleigenen hoch qualifi zierten Sicherheitsdienst zweimal durchsucht. Der Ort war absolut sauber – da war Danny sich hundertpro zentig sicher. 141
Cecilia Rossi hielt ihr Handy ans Ohr. Offenbar wurde ihr berichtet, was im Gebäude gerade vor sich ging. Von Zeit zu Zeit sprach sie leise italienisch in ihr Handy. Danny wurde immer unruhiger. Er war schließlich ein Experte in Sachen Elektronik. Wenn die Italiener da drinnen irgendeine besondere Ausrüstung hatten, wollte er die sehen. Er wollte wissen, was die Leute taten. »Hören Sie, Lady«, sagte er schließlich. »Ich habe es so langsam satt, nett zu sein. Also, Sie lassen uns jetzt entweder da hinein oder …« »Scusi!«, schnitt ihm Cecilia Rossi das Wort ab. Man hatte ihr offenbar gerade etwas Wichtiges gesagt. »Si. Si. Bene.« Sie lächelte Danny an, öffnete die Tür und trat einen Schritt zur Seite. »Signor Primas Leute haben ihre Sicherheitsoperation beendet. Sie können hinein.« Danny warf ihr einen Blick zu. »Allerherzlichsten Dank«, sagte er. Endlich durften Maddie und er das Konzerthaus be treten.
Im selben Moment wurde ein Hinterausgang des Ge bäudes geöffnet. Drei Männer in schwarzen Anzügen schlüpften hinaus. Die Tür wurde hinter ihnen ge schlossen. Sie gingen die breiten Steinstufen zum 142
Parkplatz in der Prince Consort Street hinunter. Dort wartete schon ein schwarzer Wagen auf sie. Carlo Berlotti ließ die Fensterscheibe hinunter und sah auf den halb versteckten massigen Rumpf des vik torianischen Gebäudes zurück. Er schaute auf seine Uhr. 15 Uhr 25. Unter dem Sessel in der königlichen Loge sprang das digitale Display der Bombe auf 05:05. In fünf Stunden und fünf Minuten würde der Count down bei 00:00 angekommen sein. Berlotti lächelte, als er das Fenster wieder schloss. Alles lief genau nach Plan.
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Fünfzehntes Kapitel Maddie und Danny standen im Auditorium der Royal Albert Hall. Um sie herum befand sich das zur Bühne hin offene Rund der Ränge, darüber die Logen und ganz oben der Balkon. Die Bühne war bis auf einen Flügel leer. In wenigen Stunden würde hier alles voller Konzertbesucher sein. Angefüllt mit Musik. Um halb acht Uhr würde das ovale Areal, auf dem sie gerade standen, voll von den so genannten Promenaders sein – jenen Musikbegeisterten, die der Reihe von Sommer konzerten ihren Namen verliehen. Danny zeigte zur königlichen Loge hoch. »Dort wird er sitzen«, sagte er. Er meinte Prima. »Vielleicht sollten wir noch einen letzten Blick hineinwerfen.« Sie gingen durch einen der Tunnel, die zu den Gän gen führten. Einer von Primas Leuten stand ihnen im Weg. Er sprach in sein Handy und versperrte ihnen den Weg. Er ignorierte sie einfach. »Entschuldigung?«, sagte Danny. »Dürften wir bitte vorbei?« Der Mann richtete seinen kalten Blick auf ihn. Betont langsam ging er einen Schritt zur Seite. Sie gingen durch den Tunnelausgang und gelangten auf den Gang. 144
»Nette, höfliche Jungs«, sagte Danny. »Es macht si cher viel Spaß, mit ihnen zusammenzuarbeiten.« Sie gingen die Treppe hoch und betraten die könig liche Loge. Maddie lehnte sich über die Brüstung und sah ins Auditorium hinunter. Danny hatte sich auf den mittleren Sessel gesetzt und die Beine lang ausgestreckt. »Nicht schlecht«, meinte er. »Hey, Maddie – glaubst du, Queen Victoria hat jemals in diesem Sessel gesessen?« »Das bezweifle ich«, sagte Maddie. Sie suchte nach einem besonders günstigen Punkt im Auditorium, wo sie am Abend den besten Überblick hätte. Hinter den Stühlen, die für den Chor bestimmt waren, gab es ei nen schmalen Zwischenraum. Entfernt von den meis ten Zuhörern. Mit guter Sicht auf die Loge. Ja. Perfekt. Sie wandte sich zu Danny um. Er hatte sich zurück gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Glaubst du, dass heute Abend irgendetwas vorfal len wird?«, fragte sie ihn. Danny setzte sich auf. »Ich weiß nicht«, sagte er und stand dann auf. »Vielleicht sollten wir noch einmal mit den Leuten vom Sicherheitsdienst sprechen – um sicher zu gehen, dass alle am Ball sind.« Maddie nickte. Sie verließen die Loge. Unter dem Sessel, in dem Danny gerade noch ge sessen hatte, wechselte die Zeitanzeige auf dem digita len Display erneut. 04:51.
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Das Londoner Hilton. Giorgio Prima und Cecilia Rossi waren in dem Raum, den er als Büro benutzte. Sie standen am Fens ter und sprachen über einige Dokumente, die er gerade gefaxt bekommen hatte. Sie bemerkten die silbern glänzende Ducati nicht, die den Vorplatz verließ und sich in den Verkehr auf der Park Lane einfädelte. Es war Alex. Er fuhr zu einer letzten Besprechung mit Susan Baxendale in die Zent rale. Er würde rechtzeitig wieder im Hotel sein, um Primas Fahrt zur Royal Albert Hall zu überwachen. Jemand klopfte an die Tür. Prima rief etwas auf Italienisch. Die Tür öffnete sich. Carlo Berlotti kam herein. Gino Severini und Luigi Russolo folgten ihm. Russolo schloss die Tür. Cecilia Rossi hielt sich im Hintergrund. Giorgio Prima durchmaß den langen Raum. Er lächelte und schüttele Carlo Berlotti die Hand. »Alles fertig?«, fragte er mit leuchtenden Augen. Berlotti nickte. Prima schüttelte auch den beiden anderen Männern die Hände. »Haben Sie alle Anweisungen erhalten?«, fragte er. »Ja«, sagte Berlotti. »Ausgezeichnet. Sie können gehen.« Die drei Männer verließen den Raum. Prima drehte sich zu Cecilia Rossi um und breitete lächelnd seine Arme aus. »Ist für den Auftritt heute Abend alles vorbereitet?«, fragte er. 146
Sie nickte. »Bist du sicher, dass du die Sache durch ziehen willst?«, fragte sie. Seine Augen verengten sich gefährlich. Cecilia Rossi hob ihr Kinn und sah ihn kämpferisch an. »Ich halte es für eine schlechte Idee«, sagte sie. »Wenn ich deine Meinung hören will, lasse ich es dich wissen«, gab Prima zurück. »Ich beschäftige dich, damit du tust, was ich dir sage.« Sie ließ den Kopf sinken. »Ich habe alles so ge macht, wie du es wolltest«, sagte sie leise. »Gut. Dann sprechen wir nicht länger darüber.« Eine angrenzende Tür ging auf. Lucia Barbieri stand in der Tür. »Jojo, du musst mir helfen, ein Kleid für heute Abend auszusuchen.« Lucia warf Cecilia einen Blick zu. Er war kalt und verächtlich. »Natürlich, mein Liebling«, sagte Prima und begann sofort wieder zu lächeln. Er sah Cecilia Rossi an. »Du kannst gehen«, sagte er. Cecilia eilte an Lucia Barbieri vorbei. Sie bemerkte den eisigen Blick der jungen Frau. Sie schloss die Tür leise hinter sich. Sie stand eine Weile auf dem Gang; ihr Gesichtsausdruck war besorgt und wütend. Sie hör te Lachen aus der Suite dringen. Für einen Augenblick verzerrte sich ihr Gesicht vor Schmerz. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und ging zu ihren eigenen Zimmern. An diesem Nachmittag war noch viel zu tun. Cecilia Rossi stand unter Stress. Giorgio Prima hatte es noch nicht bemerkt, aber seine Unternehmenssprecherin war am Ende ihrer Kräfte.
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Count-down 02:00. Es wurde halb sieben an diesem warmen, wolkenlo sen Juliabend. Das Publikum erschien vor der Royal Albert Hall. Einige Leute des Stammpublikums be merkten, dass dieses Mal schärfere Sicherheitsvorkeh rungen getroffen worden waren als sonst. Es schienen mehr Offizielle da zu sein, die Eintrittskarten kontrol lierten und die Leute beobachteten, die zu ihren Plät zen strömten. Maddie und Danny durchstreiften die Halle und hielten die Augen offen. Sie versuchten jedoch, so weit es ging, im Hintergrund zu bleiben – so hatten sie es zuvor mit dem Sicherheitsdienst der Royal Albert Hall abgesprochen. Sie machten sich nützlich, wo es nur ging. Sie patrouillierten an verschiedenen Stellen des Gebäudes, blieben jedoch durch ihre Handys in dauernder Verbindung. Sie trugen beide versteckte Ohrhörer und winzige Mikrofone an ihren Jacken. »Wie verhalten sich Primas Leute?«, fragte Mad die vom Balkon aus. Zwei von Primas Leibwächtern hielten im Hilton die Stellung. Sie warteten darauf, den Geschäftsmann und seine Verlobte zur Albert Hall zu bringen. Die anderen sieben waren schon dort. Maddie befürchtete, dass sie Schwierigkeiten machen würden. »Bis jetzt gut«, sagte Danny. Er stand gerade im Hintergrund der Ränge. Ein leises Piepsen machte Maddie darauf aufmerk 148
sam, dass jemand anderes mit ihr sprechen wollte. Sie wechselte den Kanal. »Maddie. Hier Alex. Sie haben jetzt gerade das Hil ton verlassen. Ich folge ihnen. Wir sind gleich da. Ich habe dafür gesorgt, dass wir unterwegs grüne Welle haben.« »Sehr gut«, sagte Maddie. »Wie sieht’s sonst bei euch aus?« »Alles cool«, antwortete Alex. »Also, bis in zehn Minuten.«
Alex beobachtete aus dem Hintergrund, wie Prima und Lucia Barbieri das Hotel verließen. Sie trug den Cal las-Anhänger. Zwei aufmerksame Leibwächter waren rechts und links an ihrer Seite. Cecilia Rossi nahm einen anderen Wagen. Sie kam Alex blass vor. Sie wirkte erschöpft. Der lange schwarze Mercedes ordnete sich in den Verkehr ein. Alex drehte den Zündschlüssel im Schloss und seine schwere 1200-ccm-Maschine er wachte zum Leben. Er folgte ihnen und schlängelte sich gekonnt durch den Verkehr. Es war nur ein kurzer Weg vom Hilton zur Royal Albert Hall. Die Limousine bog um Hyde Park Corner und fuhr auf die Knightsbridge. Nun ging es geradewegs Rich tung Kensington Gore. Und schon erschien zu ihrer 149
Linken die große, etwas von der Straße zurückgesetzte Rotunde der Royal Albert Hall. Viele Besucher beweg ten sich auf sie zu. Die First Night of the Proms war ein großes gesellschaftliches Ereignis. Der Mercedes bog auf einen Parkplatz ein, der VIPs vorbehalten war. Giorgio Prima und seine junge zu künftige Braut waren angekommen.
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Sechzehntes Kapitel Count-down 01:26. Alex schloss sein Motorrad ab und folgte Primas Begleitung in die Halle. »Er geht jetzt hinein«, sagte Alex in sein Brustmik rofon. »Okay, bleib dran«, antwortete Danny. Im Foyer schüttelten sich wichtige Leute die Hände und stellten einander eifrig vor. Fernsehcrews aus der ganzen Welt fingen ihre Gesichter und ihr Lächeln ein. Prima und Lucia wurden besonders hofiert. Der Em pfang beider dauerte etliche Minuten. Dann wurde Lucia Barbieri zu den Umkleideräu men der Künstler geführt und Giorgio Prima zur Trep pe eskortiert. »Ich sehe ihn«, sagte Danny, als sie die Treppe hi naufkamen. Er stand im oberen Foyer. Nur wenige Stunden zuvor hatte Carlo Berlotti an derselben Stelle gestanden. »Alles bestens. Maddie? Sie kommen in deine Richtung.« »Okay.« Maddie hatte in der Nähe des Eingangs der königlichen Loge Stellung bezogen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie war hyperwachsam. Sie 151
sah die kleine Gruppe um die Ecke des Gangs kom men. »So weit alles okay«, flüsterte sie. Prima ignorierte sie. Er, Cecilia Rossi und die bei den Leibwächter betraten die königliche Loge. Die Türen wurden vor Maddies Nase geschlossen. »Ich überwache den Gang vor der Loge«, sprach Danny in sein Handy. »Und ich begebe mich hinter den Chor«, fügte Maddie hinzu. »Ruft uns, wenn es irgendwelche Prob leme gibt«, warnte Alex die Freunde. »Klar«, gab Danny zurück. »Wie viel Verstärkung haben wir?« »So viel wir brauchen«, antwortete Alex. »Sie ste hen auf Abrufbereit.«
Count-down 01:01. Danny sah auf seine Uhr. Es war gleich halb acht Uhr. Das Konzert begann immer absolut pünktlich. Das Konzert wurde von der BBC weltweit live über tragen. Es gab keinen Spielraum für Verzögerungen. Der Gang war leer. Danny hörte Applaus. Er nahm an, dass irgendjemand Interessantes die Bühne betreten hatte. Vielleicht der Dirigent. Er wünschte, er hätte vorhin nicht den kurzen Strohhalm gezogen, der ihn dazu verdonnerte, vor Jojos Box Wache zu schieben. Maddie und Alex dagegen konnten alles mit ansehen. 152
Und er hatte nicht einmal seinen Walkman dabei. Tja, so konnte es gehen … Er hörte, wie die Musik anfing. Dunkle, schwere Geigen. Dann höhere Geigen. Langsam. Majestätisch und melancholisch. Der Chor setzte ein. Die Härchen auf Dannys Nacken richteten sich auf. Er war kein großer Fan klassischer Musik, aber das ging einem unter die Haut. Die Tür der königlichen Loge wurde geöffnet. Einer von Primas Leuten kam heraus. Die Lautstärke der Musik schwoll an und ließ wieder nach, als der Mann die Tür hinter sich schloss. Er nickte Danny kurz zu. Dann zog er eine Schachtel Zigaretten aus der Jacken tasche und deutete an, dass er hinausging, um zu rau chen. Der Mann lächelte und hielt Danny die offene Pa ckung hin. »Zigarette?«, fragte er. »Eher nicht«, sagte Danny. Der Mann sagte etwas auf Italienisch. Danny hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber immerhin klang es freundlich. Plötzlich bemerkte Danny aus dem Au genwinkel eine rasche Bewegung. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz über seinem linken Ohr. Er sah rote Flammen zucken und hatte das Gefühl, als stürzte er in eine tiefe schwarze Grube. Schon bevor er auf den Boden schlug, war er bewusstlos. Luigi Russolo steckte den hölzernen Schläger weg. Er stand über Danny, sein schmales Gesicht war un bewegt. Ein zweiter Mann erschien aus der Loge. Bei 153
de beugten sich hinunter und packten jeweils einen Arm Dannys. Dann zogen sie ihn außer Sicht.
Count-down 00:53. Maddie ging zum östlichen Chor hinüber. Das Orchester hatte gerade angefangen zu spielen. Sie hatte Verdis »Requiem« schon immer geliebt. Die Intensität der Musik rührte sie jedes Mal – besonders wenn der Chor und die vier Solisten gemeinsam sangen und die Pauken donnerten. Es war 19 Uhr 37. Sie fand den Eingang, den sie gesucht hatte. Sie öffnete ihn leise. Als sie durch die Tür schlüpfte, wur de die Musik lauter und klarer. Maddie befand sich direkt hinter dem Chor. Zu ihrer Linken zeigten die hohen Pfeifen der Orgel fast bis zur Decke. Das Orchester befand sich vor ihr. Die vier Solisten standen nebeneinander vorn an der Bühne. Maddie sah, wie der Dirigent mit dem Taktstock Pausen vorgab, als die Musik lauter wurde. Es war heiß in dem Gebäude. Jeder Platz war be setzt. Ganz oben in der Nähe der Kuppel konnte sie über die Brüstung der Galerie gelehnte Leute erken nen. Alex war irgendwo dort oben. Das Parkett war überfüllt. Sie sah zur königlichen Loge hinüber. Sie erkannte Giorgio Prima, Cecilia Rossi und einige andere Leute, 154
die hinter ihnen saßen. Alles schien ruhig zu sein. So weit, so gut. Hinter ihr wurde leise die Tür aufgeschoben. Nur einen Spaltbreit. Carlo Berlotti spähte hindurch. Er war zu langsam gewesen. Er hätte sie eigentlich noch auf dem Gang schnappen sollen. Aber wenigstens konnte sie da, wo sie jetzt war, keinen Schaden anrichten. Und wenn sie zurückkam, bevor es losging, würde er schon auf sie warten.
Count-down 00:43. Alex kam zur Galerie hinauf. Auch dort befanden sich viele Leute. Es gab allerdings keine Sitze. Doch wenn man sich über das Geländer beugte, hatte man eine Schwindel erregende Ansicht von der gegenüber liegenden Bühne. Alex suchte sich einen Platz und schaute sich um. Auch hier oben war es jetzt schon heiß. Fünftausend Menschen auf engstem Raum pro duzieren eine Menge Hitze. Er sah die königliche Loge. Und er konnte auch Maddie ausmachen, eine kleine schlanke Gestalt hinter dem Chor. Er blickte auf seine Uhr. 19 Uhr 48. Dann spürte er, dass ihn jemand am Ärmel zupfte. Er sah sich um. Es war einer von Primas Leuten. Er murmelte ir gendetwas und bedeutete ihm, mitzukommen. 155
Alex verließ das Geländer. »Was ist?«, fragte er. »Es ist Signor Danny«, sagte der Mann. »Schwie rigkeiten. Unfall. Schwer verletzt.« Alex griff nach seinem Handy und stellte Dannys Kanal ein. »Danny? Bist du okay?« Es war nur statisches Rauschen zu hören. Die Verbindung bestand zwar, aber Danny antwortete nicht. »Was ist passiert?«, fragte Alex. »Unfall«, sagte der Mann. »Er ist gestürzt. Schwer verletzt. Kommen Sie.« Der Mann packte Alex an der Jacke. Alex stieß seine Hand weg. »Okay. Ich komme mit. Wo ist er?« Der Mann ging schnell vor ihm die Treppe hinunter. Alex’ Gedanken rasten. Danny war verletzt. Der Mann hatte gesagt, es wäre ein Unfall. Doch was für einen Unfall konnte Danny gehabt haben? Sie kamen zum unteren Foyer. Eine Stimme drang aus dem Schatten. »So trifft man sich wieder – Tag, mein Junge!« Alex wirbelte herum, plötzlich hellwach. Er sah Gi no Severinis hässliches Gesicht aus dem Dunkel hinter der nächsten Tür auf sich zukommen. Alex hob den Arm, um einen Schlag abzuwehren. Seine andere Faust fuhr wie ein Kolben vorwärts. Severini stürzte mit ei nem Schmerzensschrei zu Boden. Dann wurde Alex 156
von hinten gepackt. Er trat nach dem Mann. Er hörte ein Stöhnen. Alex griff nach den Armen, die seine Schultern fes thielten. Er duckte sich und der Mann hinter ihm flog über seinen Rücken. Der benommene Leibwächter knallte gegen Severini und sie stürzten beide zu Boden. Schwer atmend sprang Alex rückwärts. Sein winzi ges Mikrofon am Revers hatte sich gelöst. Er tastete nach seinem Handy. Er musste unbedingt mit den an deren sprechen – er musste Verstärkung rufen! Severini schob den Leibwächter von sich. Der mas sige Körper rollte gegen die Wand und blieb dort un beweglich liegen. Severinis Hand glitt in seine Jacke. Alex blieb wie angewurzelt stehen. Severini richtete eine Waffe auf ihn. Seine Augen hinter dem tödlichen grauen Pistolenlauf waren kalt und rücksichtslos. Alex hob die Arme. Severini stand auf. Alex sah ihn an. »Und jetzt?«, fragte er. »Wir warten«, sagte Severini. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir gehen an einen ruhigen Ort – und warten.«
Count-down 00:31. Die Royal Albert Hall war mit Musik angefüllt. 157
Maddie hatte Tränen in den Augen. Drei goldene Stimmen schwebten über dem Orches ter: Tenor, Mezzosopran, Sopran. Lucia Barbieris kris tallklare Stimme stieg höher und höher. Kurze Zeit lang strahlte ihr Gesicht reine Freude aus, als sich ihre Stimme mit den anderen und der herzzerreißend schö nen Melodie des »Dies Irae« vereinigte. »Was für eine Stimme«, dachte Maddie. »Die Stimme eines Engels.« Sie schaute auf ihre Uhr. Genau 20 Uhr. Sie stellte Dannys Frequenz auf ihrem Handy ein. »Kannst du es da draußen eigentlich hören?«, fragte sie. »Du weißt gar nicht, was du verpasst!« Die einzige Antwort war ein lautes Rauschen. Maddie stellte einen anderen Kanal ein. »Alex?« Stille. Sie war alarmiert. Vielleicht stimmte ja etwas mit ihrem Handy nicht, aber das glaubte sie kaum. Sie drehte sich um und sah, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Ihre Unruhe verstärkte sich. Sie ging schnell zur Tür und schlüpfte in die Halle hinaus. Ad renalin wurde durch ihren Körper gepumpt. Sie hatte Angst. Fühlte sich allein. Gespannt bis in die Finger spitzen. Sie fand den Kanal, der sie mit der PIC-Zentrale verband. »Ich brauche Verstärkung! Schnell! Irgen detwas stimmt hier nicht!« Dann sah sie Berlotti auf sich zukommen. Bevor sie reagieren konnte, hatte er sich schon auf sie gestürzt. Sie fiel zu Boden, er auf sie. Sie begann wild um sich 158
zu schlagen. Es war wie ein Albtraum. Sie versuchte sich freizukämpfen, aber Berlotti hielt sie fest. Er griff nach ihrem Hals. Seine Finger gruben sich in ihre Keh le. Sie fühlte einen entsetzlichen Druck an ihrer Luft röhre. Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen und schwarz zu werden. Es dröhnte in ihren Ohren. Dann stieß sie mit ihrem Ellenbogen zu. Hart. Sein Griff löste sich für einen Moment. Sie trat zu und konnte sich befreien. Die Drähte ihres Hörers und Mik rofons waren weggerissen worden. Sie rappelte sich auf und ging rückwärts. Für diese wenigen schreckli chen Sekunden war sie kein PIC-Officer gewesen. Sie hatte alles vergessen, was sie über unbewaffneten Kampf gelernt hatte. Sie war einfach nur ein panisches sechzehnjähriges Mädchen, das sich gegen einen Mann zu verteidigen versuchte, der sie umbringen wollte. Sie rannte weg. Sie hatte nur einen einzigen Gedan ken: Sie musste hier weg! Doch dann setzte sich die wirkliche Maddie gegen die Panik durch. Sie konnte jetzt nicht einfach davon laufen. Berlotti war in der Halle. Prima war in Gefahr. Es war ihre Aufgabe, Prima zu schützen. Darum war sie schließlich hier. Danny war offenbar außer Gefecht. Alex auch. Es würde noch einige Minuten dauern, bis die Verstär kung da wäre. Bis dahin könnte Prima schon tot sein. Sie musste etwas tun. Schnell. Aber was? Dann sah sie es. Es gab eine Hoffnung. Einen Hoffnungsschimmer. Sie hämmerte mit dem Handballen gegen die Glas 159
scheibe des Feuermelders. Ihr Handgelenk begann zu schmerzen. Dann hörte sie den ohrenbetäubenden Alarm losge llen. Während eines schier nicht endenwollenden Au genblicks schien die Welt still zu stehen. Berlotti kam den Gang entlang gelaufen. Und dann geriet alles aus den Fugen. Türen schlugen auf und die ersten verschreckten Leute aus dem Publikum eilten auf den Gang. Als im mer mehr Leute herausströmten, verschwand Berlotti in der Menge. Maddie versuchte stehen zu bleiben, doch die pani sche Masse trug sie mit sich. Sie musste zu Prima, aber die Menge schob sie in die falsche Richtung. Sie hoffte nur, dass sie ihn hatte retten können. Sie hoffte, er wäre noch nicht tot.
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Siebzehntes Kapitel Count-down 00:27. Alex ging langsam vor dem Mann mit der Waffe her. Er war frustriert und wütend. Er wollte sich am liebsten auf ihn stürzen und zurückschlagen. Aber Se verini war ein geschulter Killer. Er würde sich nicht leicht überraschen lassen. Das hielt Alex allerdings nicht davon ab weiter zu überlegen, wie er die Ober hand erlangen könnte. Seine Chance dazu kam wie aus dem Nichts. Das plötzliche Gellen des Feueralarms. Alex reagierte sofort. Er wirbelte herum und schlug Severini mit einem gezielten Tritt die Beine weg. Als Severini erst einmal auf dem Boden lag, brauchte Alex nur ein paar Sekunden, um ihn kampfunfähig zu ma chen. Er hob die Pistole auf und steckte sie ein. Dann zog er sein Handy heraus und öffnete den Ka nal zu Maddie. Die Leitung war tot. Seine Gedanken rasten. Kein Kontakt zu Maddie – und zu Danny. Der Feueralarm. War das alles Teil ei ner Attacke auf Prima? Natürlich. So musste es sein. Alex sprintete zur königlichen Loge. 161
Count-down 00:24. Es war nicht leicht für Alex, zur Loge zu gelangen. Die Leute drängten immer noch in die Gänge und Foyers und strömten die Treppen hinunter den Aus gängen entgegen. An den Schlüsselpunkten standen Ordner, riefen Anweisungen, geleiteten die Menge zu den Ausgängen und taten ihr Bestes, um die gefährli che Situation unter Kontrolle zu bekommen. Ohne sie wäre alles völlig chaotisch verlaufen, leicht hätte je mand verletzt werden können. Alex drückte sich flach an die Wand des Gangs und wartete auf eine Möglichkeit zur königlichen Loge zu kommen. Plötzlich sah er, wie Maddie aus der entgegenge setzten Richtung auf ihn zugerannt kam. Die Türen der Loge standen offen. Die Wächter riefen etwas auf Ita lienisch. Cecilia Rossi und Prima waren noch in der Loge. Sie schienen darauf zu warten, dass der Strom der fliehenden Menschen schwächer wurde. Alex und Maddie rannten zusammen in die Loge. »Es brennt nicht«, erklärte sie atemlos. »Ich habe den Alarm ausgelöst. Berlotti ist hier im Gebäude.« Sie schaute Prima an. »Wir müssen so schnell wie möglich hier weg!« Prima sah sie verwirrt an. »Nein!«, rief er dann. »Ich muss hier bleiben.« Alex starrte ihn an. »Hier drinnen können wir nicht für Ihre Sicherheit garantieren«, meinte er. 162
»Wir müssen Sie hinausbringen.« Er packte Prima am Arm. »Nein, lassen Sie mich los, Sie Narr!«, rief Prima. »Das geht zu schnell! Sie verstehen das nicht. Aber sie werden alles ruinieren!« Alex warf Maddie einen Blick zu. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte er. Maddie verstand. Sie schnappte sich Primas anderen Arm. Er wollte sich losmachen und brüllte sie auf Ita lienisch an. Maddie hatte den Eindruck, dass er ir gendwie durchgedreht war. Etwas schien in seinem Kopf ausgesetzt zu haben – durch die Panik, die Angst. Wer weiß, was der Grund war. Jedenfalls mussten sie wie wild kämpfen, um ihn aus der Loge zu ziehen. Als sie etwa bei der Hälfte des Flures angekommen waren, ließ sein Widerstand nach. Er trottete mit düster brütendem Gesicht neben ihnen her. Doch es war nicht das Gesicht eines Mannes, den man gerade vor einem Mordversuch gerettet hatte.
Count-down 00:18. Vor der Royal Albert Hall ging es weniger chao tisch zu, als Maddie befürchtet hatte. Tausende Men schen standen verstört herum und warteten darauf, dass ihnen jemand sagte, was sie jetzt machen sollten. Doch die Panik legte sich. Auf wundersame Weise schien niemand verletzt worden zu sein. 163
Weit entfernt hörte Maddie Sirenen. Primas Limousine wartete schon auf ihn. Cecilia Rossi rannte hinter ihm her. Sie drückte auf eine Fern bedienung und riss die Beifahrertür auf. »Steigen Sie ein«, sagte sie. »Ich fahre.« Ihr Gesicht war bleich, aber ruhig. Alex und Maddie verfrachteten Prima auf den Rücksitz. »Bleib bei ihm«, sagte Alex zu seiner Kollegin. »Ich gehe zurück und suche Danny.« Seine Augen ver engten sich zu Schlitzen, als er Prima ansah. »Dann komme ich zurück und schaue nach dem CallasAnhänger, Signor Prima«, sagte er. »Und wenn er ver schwunden ist, sprechen wir uns noch.« Prima wandte ihm den Kopf zu. Seine Augen schie nen erloschen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden« murmelte er nur. »Gehen Sie und spielen Sie Ihre dummen Spiele weiter. Ich kümmere mich nicht länger darum.« Maddie setzte sich neben Prima. Sein Verhalten war einigermaßen merkwürdig, doch sie hatte jetzt keine Zeit darüber nachzudenken. Sie knallte die Tür zu. Alex rannte bereits zur Royal Albert Hall zurück. Maddie beugte sich vor. Bis sie vom Gegenteil überzeugt wurde, musste sie davon ausgehen, dass Primas Leben weiterhin in Gefahr war. »Cecilia? Ich glaube nicht, dass es gut ist, Signor Prima jetzt ins Hil ton zurückzubringen. Wir sollten zur PIC-Zentrale fah ren. Dort ist er sicherer.« Cecilia Rossi nickte. Der Motor heulte auf und der 164
Wagen fuhr mit quietschenden Reifen los. Cecilia bog um die Ecke und raste auf die Kensington Gore hinaus. Beinahe wären sie mit einem heranbrausenden Feuer wehrwagen zusammengestoßen. Maddie sah, wie Poli zeiautos mit Blaulicht und heulenden Sirenen die Stra ße entlangkamen. »Nach rechts«, sagte sie. »Ich zeige Ihnen den Weg.« Cecilia riss das Steuer nach links herum. »Nein!«, rief Maddie und beugte sich über den Bei fahrersitz nach vorne. Cecilia wandte kurz ihren Kopf zu ihr um. In ihren Augen lag ein böses hartes Leuch ten. »Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten«, sagte sie. »Ich weiß genau, was ich tue.«
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Achtzehntes Kapitel Danny wachte auf. In seinem Kopf war ein entsetzli ches Heulen und Kreischen. Hinter seinen Lidern schienen Flammen zu tanzen. Er öffnete die Augen. Rotes Licht pulsierte im Dunkel. Er stöhnte auf und versuchte sich aufzusetzen. Der Lärm in seinem Kopf hämmerte unentwegt weiter. Er berührte eine schmerzende Stelle an seinem Hinter kopf. Jemand hatte ihn niedergeschlagen. Er versuchte sich zu erinnern. Einer von Primas Leibwächtern, er hatte ihm eine Zigarette angeboten. Und dann: nichts. Lichter aus. Aber was war das für ein Lärm? Danny bemerkte, dass der Krach nicht in seinem Kopf war. Er hatte eine andere Ursache. Er kam schwankend auf die Füße und streckte die Hände aus, um sich durch das Dunkel zu tasten. Seine Füße stießen gegen etwas. Er berührte eine Wand. Re gale. Er tastete um sich. Er befand sich offenbar in ir gendeiner Art großem Schrank. Auf dem Boden erkannte er einen dünnen Streifen 166
Licht. Der untere Rand einer Tür. Er tastete nach ei nem Türgriff. Es gab keinen. Er begann zu rufen. Sein Kopf explodierte fast vor Schmerzen. Der Lärm, der von draußen hereindrang, klang wie Feueralarm! Panik durchzuckte ihn. Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. »Ich muss hier raus!« Er machte einen Schritt zurück und warf sich dann mit der Schulter gegen die Tür. Er wurde zurückgeworfen und ächzte vor Schmer zen. Aber er hatte das Gefühl, als hätte die Tür ein we nig nachgegeben. Er warf sich ein zweites Mal dagegen. Die Schmer zen reichten jetzt von seinem Kopf bis in seine Schul ter. Die Tür hielt. »Aller guten Dinge sind drei«, murmelte er und konzentrierte seine ganze Kraft auf seinen dritten Be freiungsversuch. Die Tür sprang auf und krachte auf einen leeren Gang. Danny knallte an die gegenüber liegende Wand. Er wusste nicht, wo er sich befand. Vielleicht in einem Bereich, der den Mitarbeitern des Konzerthauses vorbehalten war. Er stolperte durch den Gang. Er fand eine Treppe. Er ging hinauf. Er blieb stehen, benommen vor Schmerzen. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann ging er weiter und zog sich mit beiden Händen am Treppengeländer hoch. Er kam in einen öffentlichen Bereich. Leute rannten an ihm vorbei. 167
Eine ältere Dame stolperte. Danny streckte instink tiv den Arm aus und bewahrte sie vor einem Sturz. »Hey!«, rief er und vergaß für den Moment die Schmerzen in seinem Kopf. »Immer langsam! Jemand könnte verletzt werden!« Dann wuchs der Schmerz in seinem Kopf wieder – er blendete ihn beinahe. Doch er schaffte es, sich zusammenzureißen und die verängstigte Dame auf den Vorplatz hinauszubringen. Noch in der Tür sank er zusammen. Er war zu er schöpft, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.
Count-down 00:14. Cecilia Rossis Kommentar hatte Maddie in ihren Sitz zurückgeworfen. Cecilia fuhr wie eine Verrückte. Prima schrie sie an, eine Suada in wütendem Italie nisch. Cecilia schrie etwas zurück. Prima verstummte au genblicklich. Maddie warf ihm einen Blick zu. Er war totenbleich. Seine Augen traten hervor, sein Mund stand halb offen. »Sie hat den Verstand verloren«, keuchte er. In sei nem Blick flackerten Angst und Verzweiflung. »Tun Sie etwas. Halten Sie sie auf!« Maddie schaute ihn an. »Was hat sie gerade zu Ih nen gesagt?« 168
»Es war nichts.« Er gestikulierte herum. »Halten Sie sie auf, um Gottes willen! Bringen Sie sie dazu, dass sie anhält. Worauf warten Sie denn noch?« Die Limousine beschleunigte weiter. Cecilia fuhr irrsinnig schnell, raste die Mitte der Straße entlang und drängte andere Fahrzeuge rücksichtslos beiseite. »Sie bringt uns noch um!«, schrie Prima. »Das werde ich auch, wenn ihr versucht mich auf zuhalten!«, schrie Cecilia zurück. »Okay, wir tun nichts«, rief Maddie. Dann zwang sie sich dazu ruhig weiterzusprechen. »Bitte, Cecilia: Fahren Sie langsamer. Wir sind in Ihrer Hand, das bezweifelt hier niemand. Aber das ist kein Grund einen Unfall zu verursachen. Andere Menschen könnten ver letzt werden. Bitte überlegen Sie es sich.« Der Wagen fuhr etwas langsamer. Maddies Worte schienen zu Cecilia durchgedrungen zu sein. Maddie atmete erleichtert auf. Sie musste viel ruhiger geklun gen haben, als sie sich tatsächlich fühlte. Ihr Herz schlug in ihrer Brust wie ein Dampfhammer. »Haben Sie ein Handy?«, fragte Cecilia sie. »Ja.« »Schalten Sie es aus und werfen es auf den Beifah rersitz.« Maddie tat, wie ihr geheißen wurde. Jetzt war ihre Verbindung zu den anderen gekappt. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und nutzte die kurze Pause, um sich zu orientieren. Wohin fuhren sie? Cecilia war von der Kensington Gore links abgebogen. 169
Denk nach, Maddie! Wohin bringt sie uns? Nach Süden. Richtung Cromwell Road. Richtung Chelsea und zum Fluss. Prima schien seine Fassung zum Teil wie dererlangt zu haben. Er lehnte sich vorwärts, ganz nahe an Cecilia heran. Er begann leise und eindringlich auf sie einzureden. Sie spuckte ihm ein paar Worte hin. Er warf seine Hände in die Luft und ließ sich in seinen Sitz zurück fallen. Er machte eine Geste in Maddies Richtung, die wohl bedeuten sollte, dass seine Unternehmensspre cherin durchgedreht war. Da war sich Maddie allerdings nicht so sicher. Cecilia war wütend, das war klar. Aber trotz ihrer Aufregung schien sie zu wissen, was sie tat. Sie fuhr nicht einfach wie eine Irre durch die Gegend. Maddie ließ erst einmal einige Zeit verstreichen. So hatte Cecilia die Möglichkeit sich zu beruhigen und sie selbst konnte die Situation genau beobachten. Sie waren gerade an der Cromwell Road vorbeige kommen und fuhren jetzt südlich, Richtung Gloucester Road. Cecilia fuhr zwar etwas langsamer als zuvor, aber immer noch zu schnell – gefährlich schnell. Wenn jetzt plötzlich ein Auto aus einer Seitenstraße käme, würde das zu einer Katastrophe führen. Sie überquerten die Brompton Road. Sie fuhren also nach Chelsea. Maddie kannte diesen Stadtteil gut, ihre Freundin Laura wohnte dort. Jetzt waren sie in Cranley Gardens. Vor ihnen kreuzte die stark befahrene Ful ham Road. Cecilia würde anhalten müssen. 170
Maddie warf Prima einen Blick zu. Ob sie es schaf fen könnte, mit ihm aus dem Wagen zu springen, wäh rend Cecilia an der Kreuzung wartete? Sie hatte gar nicht erst die Möglichkeit es zu versu chen. Statt vor der Kreuzung abzubremsen, drückte Ceci lia umso mehr aufs Gas. Der Wagen brauste auf die Fulham Road zu. Sie riss das Lenkrad herum. Prima und Maddie wurden zur Seite geschleudert. Andere Autos wichen in letzter Sekunde aus, als die lange, schwarze Limou sine die Kreuzung überquerte. Reifen quietschten. Es wurde gehupt und geschrien. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem wil den, bitteren Grinsen bog Cecilia in die Fulham Road ein und brauste nach rechts weiter. Auf der Kreuzung ließ sie ein Chaos hinter sich zurück. Maddie atmete tief durch. Es war höchste Zeit mit ihr zu verhandeln. »Ich weiß nicht, wo Sie uns hinbringen«, sagte sie zu Cecilia. »Aber wenn Sie jetzt nicht endlich etwas vorsichtiger fahren, werden wir nirgends ankommen.« Sie beugte sich vor und versuchte es auf andere Weise. »Cecilia? Ich möchte wirklich nicht im Krankenhaus landen. Sie doch sicher auch nicht. Könnten Sie bitte etwas langsamer fahren?« Maddies und Cecilias Blicke trafen sich im Rück spiegel. Böse dunkle Augen. Ihr Ausdruck verursachte Maddie eine Gänsehaut. »Er glaubt, er kann tun und lassen, was er will. Es 171
ist ihm ganz egal, welchen Schaden er dabei anrichtet, auf wem er herumtrampelt. Die Folgen sind ihm völlig gleichgültig«, sagte Cecilia. »Ich werde ihm zeigen, dass das so nicht geht.« »Du bist ja verrückt«, sagte Prima. »Halt an und lass mich raus. Du kommst damit nicht davon, du När rin!« Maddie riss den Kopf herum. »Halten Sie den Mund!«, fuhr sie Prima an. »Das bringt gar nichts!« »Du bist der Narr, Giorgio«, stellte Cecilia fest. »Tu, was das Mädchen sagt – halt deinen dummen Mund. Ich mache nämlich nicht länger, was du willst. Jetzt bin ich der Boss.« Sie nahm die linke Hand von dem zitternden Lenkrad, griff in ihre Jackentasche und zog eine kleine graue Pistole heraus. Sie hielt die Waffe hoch, sodass sie deutlich zu er kennen war. In Maddies Brust schien sich eine eiskalte Faust zusammenzukrampfen. Sie hasste Waffen. Sie hasste sie mehr als alles andere auf der Welt. »Wenn du jetzt nicht genau machst, was ich dir sa ge, Giorgio«, meinte Cecilia mit ruhiger kalter Stim me, »bringe ich dich um.«
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Neunzehntes Kapitel Count-down 00:10. Alex fand Danny in einem seitlichen Eingang des Konzerthauses. »Bist du okay?«, fragte er ihn. »Nein, nicht wirklich«, antwortete Danny. »Ich bin angegriffen worden. Ich weiß aber nicht, von wem.« »Ich schätze, es war Russolo.« Alex half Danny sich aufzusetzen. »Das könnte sein. Was geht hier eigentlich vor?« Alex berichtete seinem Kollegen schnell, was zu letzt geschehen war. Während er sprach, ließ das oh renbetäubende Geheul des Feueralarms plötzlich nach. Andere Geräusche drangen in den Vordergrund: Sire nen, Stimmen, die Anweisungen riefen, eilige Schritte. Danny stand auf. Er war total erledigt. »Wie fühlst du dich?«, fragte Alex. »Oh, bestens«, gab Danny zurück. »Ich gehe zurück und suche Lucia Barbieri«, sagte Alex. »Maddie hat Verstärkung gerufen, es dürften also inzwischen noch mehr PIC-Leute da sein, auch eine Spezialeinheit. Kannst du ihnen sagen, was los ist, und eine detaillierte Beschreibung von Berlotti und 173
seinen Kumpeln rausgeben? Vielleicht können wir sie ja noch schnappen, bevor sie abtauchen.« Danny nickte. »Klar.« Alex tätschelte seine Backe. »Guter Junge«, sagte er. »Wir sehn uns später.«
Alex fand die Mitglieder des Orchesters und des Cho res im hinteren Teil des Gebäudes zusammenstehen. Sie schienen geschockt, wirkten aber ruhig. Lucia Barbieri saß auf einer der breiten Steinstufen, die zum Albert Court hinunterführten. Sie hatte ihren Mantel um die Schultern gelegt und nahm schnelle Schlucke aus einem kleinen silbernen Flachmann. Alex hockte sich vor ihr auf die Treppe. »Sind Sie okay?«, fragte er. Er sah den CallasAnhänger an ihrer Kehle funkeln. »Was ist denn los?«, murmelte sie mit leerem Blick. »Ich verstehe das nicht.« Alex roch den Alkohol in ihrem Atem. »Eine Kollegin von mir hat den Alarm ausgelöst«, erklärte er. »Es brennt nicht. Machen Sie sich keine Sorgen – Sie sind in Sicherheit.« Lucia sah ihn ausdruckslos an. »Man hat Carlo Berlotti hier gesehen«, fuhr er fort. »Wir nehmen an, dass er zu einer Verschwörergruppe gehört, die Signor Prima töten will.« »Es hat nicht gebrannt?« Lucia hob die Arme. 174
»Meine Vorstellung wurde ruiniert, obwohl es gar nicht brannte?« Sie begann auf Italienisch loszu schimpfen. Alex musterte sie. »Ihr Verlobter ist in Sicherheit«, sagte er. »Nur für den Fall, dass Sie das interessiert.« »Jojo?«, fragte sie. »Natürlich ist er in Sicherheit! Er hat immer seine kleine Armee dabei. Die hält alles von ihm fern.« Sie klopfte wütend auf ihre Brust. »Aber ich? Das ist mein erster Auftritt in diesem Land. Hunderttausende haben mich im Radio gehört. Sie hät ten mich geliebt, aber woran werden sie sich aus schließlich erinnern?« Ihre Stimme verwandelte sich in ein Geheul. »Sie werden sich nur an den Feueralarm erinnern! Es ist eine Katastrophe! Wie stehe ich jetzt da? Wie ein Idiot!« Alex stand auf. »Möchten Sie mitkommen?«, fragte er. »Ich denke, wir können einen bequemeren Platz finden – und einen sichereren.« Sie sah zu ihm hoch. »Sicherer? Was soll das hei ßen? Ich bin nicht in Gefahr.« Alex zeigte auf den Anhänger. »Es wäre keine gute Idee, mit einem unschätzbar wertvollen Juwel am Hals durch London zu gehen«, meinte er. Sie strich über den Anhänger. »Sie haben Recht«, sagte sie und stand auf. »Ich komme mit ihnen. Aber ich erlaube niemandem, mir den Anhänger zu stehlen. Lieber sterbe ich. Es ist Jojos Verlobungsgeschenk an mich.« Ihre Augen blitzten. »Er gehört mir!« Alex sagte nichts dazu. Offenbar glaubte Lucia Barbieri, dass der Callas-Anhänger ihr jetzt wirklich 175
gehörte. Er fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie herausfand, dass er nur geliehen war. Das würde ihr gar nicht gefallen.
Count-down 00:09. Danny eilte durch die verlassenen Gänge der Royal Albert Hall. Es schien höchst unwahrscheinlich, dass Berlotti oder die anderen beiden Typen noch in der Nä he waren. Aber vielleicht hatten sie ja irgendwelche Spuren hinterlassen. Er hatte sich mit anderen PICOfficers und dem Commander der Spezialeinheit unter halten. Alle suchten fieberhaft nach den drei Männern. Es war bereits ein komplexes Sicherheitsnetz einge richtet worden. Carlo Berlotti und seine Kumpel würden dieses Mal nicht außer Landes geleitet werden … Vor dem Gebäude begannen Reporter und Pressefo tografen umherzuwuseln. Die Unterbrechung der BBC-Übertragung der First Night of the Proms hatte zahlreiche Journalisten der ganzen Hauptstadt ange lockt. Schon bald würde das gesamte Gelände von ih nen belagert sein. Primas Leibwächter waren eingekreist worden. Man hatte sie erst einmal in einen Polizeiwagen verfrachtet, bis klar war, was mit ihnen geschehen sollte. Danny hatte mit Susan Baxendale gesprochen. Alex hatte ihr bereits gesagt, dass Prima in Sicherheit war und Mad 176
die ihn in die Zentrale brachte. Das Wichtigste war jetzt, Berlotti, Russolo und Severini zu finden. Danny erhielt einen Anruf von einem der PIC-Trupps, die die Umgebung durchkämmten. »Wir haben einen von ihnen. Er hat versucht einen Wagen in Ennismore Gardens aufzubrechen.« »Gut. Bringen Sie ihn her.«
Carlo Berlotti starrte Danny feindselig an. Zwei PIC-Agenten bewachten ihn. Sie hatten ihm die Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. »Sie hätten in Mailand bleiben sollen«, sagte Dan ny. »Wo sind Ihre Kumpane?« Berlotti musterte ihn spöttisch und zuckte die Ach seln. »Ich erzähle Ihnen nichts. Nicht, bevor Sie mich nicht freilassen.« Er lachte höhnisch. »Was ist daran so lustig, Carlo?«, fragte ihn Danny cool. »Sie haben alles vermasselt.« Ein kaltes Grinsen breitete sich auf Berlottis Gesicht aus. »Ich schlage Ihnen einen Handel vor«, sagte er. »Lassen Sie mich laufen und ich sage Ihnen, wo ich die Bombe angebracht habe.« Dannys Augen weiteten sich. Berlotti lachte krähend. »Sie kann jeden Moment hochgehen. Ich werde Ihnen sagen, wo sie sich befin det – und wie man sie entschärft. Aber Sie müssen mich danach gehen lassen.« 177
Danny fixierte ihn kalt. »Kein Handel«, sagte er. »Sie sind verhaftet!« Er warf den beiden Officers, die Berlotti bewachten, einen Blick zu. »Behalten Sie ihn hier«, ordnete er an. »Und geben Sie die Meldung durch, dass die gesamte Royal Albert Hall geräumt wird!« Danny rannte in das Gebäude zurück und drückte unterwegs auf eine Schnellwahltaste seines Handys. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ihm noch blieb – aber er musste die Bombe finden, bevor sie detonierte. Er konnte sich jetzt nicht einfach in Sicherheit bringen und zusehen, wie eine Explosion das berühmte Kon zerthaus zerstörte. Aber es blieb keine Zeit mehr, ein Kommando von Bombenentschärfern zu rufen. Er musste schnell handeln. Allein. Allein bis auf einen ganz besonderen Freund. Das Telefon klingelte dreimal, bevor abgehoben wurde. »Steve? Hier ist Danny.« »Oh! Lange nicht gehört«, antwortete die Stimme. »Wie steht’s um deine BombenentschärfKenntnisse?«, fragte Danny. Er rannte die Treppe zur königlichen Loge hinauf. Es schien ihm am wahr scheinlichsten, dass die Bombe dort angebracht wor den war. »Bestens«, antwortete Steve. »Gut. Ich brauche dich jetzt dringend. Du musst mir Schritt für Schritt sagen, wie ich in den nächsten Minu te eine Bombe entschärfe, bevor sie hochgeht.« »Das ist nicht besonders klug, Danny.« 178
»Ehrlich? Darauf wäre ich nicht gekommen.« Danny rannte in die Loge. Er hatte das Gebäude an diesem Tag ja bereits gründlich durchsucht. Wenn hier wirklich eine Bombe war, musste sie in den letzten Stunden angebracht worden sein. Danny sah sich nach irgendwelchen Taschen oder Behältern um. Nichts. Er ließ sich auf den Boden fallen und spähte unter die Sessel. Da war sie, unter dem mittleren Sitz. »Bingo!« »Hast du sie gefunden?«, hörte er Steve fragen. »Ja.« »Beschreib sie.« »Ein graues Kästchen. Etwa zwanzig Zentimeter lang. Es ist unter einem Sitz festgemacht.« »Weißt du, wann sie hochgehen soll?« »Nein.« »Willst du meine Expertenmeinung hören? Hau so schnell wie möglich ab, Danny!« »Das kann ich nicht.« Danny rollte sich auf den Rücken und schob sich unter den Sessel. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Sag mir einfach, was ich tun muss. Kann ich das Ding losmachen?« »Nein. Kann sein, dass es eine Vorrichtung gibt, die das Teil hochgehen lässt, wenn man es bewegt.« »Klasse«, murmelte Danny. Das Blut pochte in sei nen Ohren, sein Kopfweh wurde wieder stärker. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er hatte niemals in seinem Leben solche Angst gehabt. Es war nur seine Willenskraft, die ihn weitermachen ließ. »Also, was passiert jetzt?« »Unter normalen Umständen würden wir einen Ro 179
boter an die Bombe schicken«, sagte Steve. »Wir wür den sie röntgen, um zu sehen, was drinsteckt. Dann würden wir sie öffnen und überlegen, wie wir ihr den Saft abdrehen, bevor sie hochgeht. Wir würden keinen Menschen an so ein Teil lassen, Danny. Das ist zu ge fährlich.« »Das interessiert mich jetzt nicht«, gab Danny zu rück. »Ich mach das Ding jetzt auf.« »Danny – das ist Wahnsinn! Die Bombe kann so programmiert sein, dass sie sofort hochgeht, wenn man sie berührt!« Das mörderische Gerät hing nur wenige Zentimeter vor Dannys Gesicht. Er hob seine Hände zu dem grauen Kästchen. Er fuhr mit der Zunge über sei ne trockenen Lippen. Er keuchte vor Angst. Eines ist gut, dachte er. Wenn sie aus dieser Nähe hochgeht, bekomme ich wenigstens nichts mehr davon mit. Er musste einige Sekunden warten, bis seine Hände nicht mehr so sehr zitterten. Er war schweißgebadet. Sein Herz klopfte so stark, dass er meinte, sein Brust korb würde zerspringen. Er konnte kaum noch atmen. Er betastete vorsichtig die Ränder des Kästchens. Er fand einen kleinen Schnappverschluss. »Danny? Was ist los?« Steves Stimme klang pa nisch. »Ich mach das Ding auf …«, flüsterte Danny. »… jetzt!« Er ließ den Verschluss aufschnappen. Der Deckel schwang herunter. Er sah das Semtex. Er sah die Batte rien und ein Gewirr von Drähten. 180
Und er sah die digitale Count-down-Anzeige: 00:01.
»Oh-oh!«
Er hatte nur noch eine knappe Minute Zeit.
Doch dann, bevor er noch Atem holen konnte, fla ckerte das digitale Display – und Danny starrte in Pa nik auf vier tödliche Nullen. Der Count-down war abgelaufen.
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Zwanzigstes Kapitel Rückblick. Einige Minuten vor dem Nullpunkt. Danny war noch bei Carlo Berlotti. Der Count-down war bei 00:09 angelangt. Die schwarze Limousine fuhr auf dem Cheyne Walk Richtung Osten. Eine breite Straße. Genug Platz für Cecilia Rossi, um wieder Vollgas zu geben. Zu ih rer Rechten lag die Themse. Sie näherten sich der Bat tersea Bridge. Die kleine graue Pistole lag auf Cecilias Schoß. Ei ne stille Drohung. Seit sie die Waffe hervorgezogen hatte, hatte niemand mehr etwas gesagt. Maddie versuchte in Gedanken das Puzzle zusam menzusetzen. Cecilia hatte Carlo Berlotti und die ande ren Typen angestellt. War es also Cecilia, die wollte, dass Prima starb? Steckte sie hinter allem? Wenn das der Fall war, befand sich Maddie wirklich in Gefahr. Cecilia hätte kein Interesse an Zeugen, das war klar. Maddie hatte in ihrer Technik gelernt, bewaffnete Angreifer zu neutralisieren. Man benötigte dafür ein bis auf Sekundenbruchteile genaues Timing und abso 182
lute Präzision. Alex war ein Experte in solchen Din gen. Maddie jedoch war sich nicht sicher, ob sie es schaffen könnte. Und Cecilia würde ihr keine zweite Chance geben … Der Wagen überquerte die Battersea Bridge und fuhr dann weiter nach Südlondon. Woher kannte sich Cecilia Rossi so gut in der Stadt aus? Vorn im Wagen klingelte ein Handy. Giorgio Prima sah auf seine Armbanduhr. Sein Ge sicht nahm einen schmerzhaften Ausdruck an. Er ver barg es in seinen Händen. Maddie beobachtete ihn schweigend. Cecilia Rossi zog ein schmales Handy aus ihrer Ta sche. Sie hörte jemandem zu und sagte dann ein paar knappe italienische Worte. Sie warf das Handy auf den Beifahrersitz. Dann begann sie zu lachen. »Das war unser Büro in Madrid«, sagte sie immer noch rau la chend. »Sie haben angerufen, um uns vor einem An schlag zu warnen, den sie aufgedeckt haben. Ein An schlag auf Giorgios Leben!« Sie schaute in den Rück spiegel. »Möchtest du der jungen Lady etwas über den großen Coup erzählen, Giorgio? Möchtest du ihr etwas über die schreckliche Bombe erzählen, die deine Fein de unter deinem Sessel angebracht haben?« Prima antwortete nicht. Er hatte das Gesicht immer noch in den Händen vergraben. »Befindet sich eine Bombe in der Royal Albert Hall?«, fragte Maddie. Sie dachte sofort an Alex, Dan ny und ihre anderen PIC-Kollegen. »Oh, ja«, sagte Cecilia Rossi. »Dort ist eine Bombe. 183
Carlo hat sie heute Nachmittag dort angebracht. Aber keine Sorge – Giorgio sollte nicht sterben. Der Anruf eben sollte uns warnen, dass wir nur noch fünf Minu ten hätten. Es wäre also genug Zeit geblieben das Ge bäude zu verlassen.« Sie lachte abermals. »Es sollte Giorgios großer Augenblick werden! Der letzte Be weis, dass ihn seine politischen Feinde tatsächlich er morden wollten.« »Fünf Minuten?«, keuchte Maddie. »Sie müssen mich meine Leute warnen lassen!« »Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Cecilia. »Aber es kann sein, dass dort Menschen sterben werden!« »Die Bombe sollte überhaupt nicht hochgehen«, er klärte Cecilia. »Berlotti sollte sie mit einem nicht funk tionsfähigen Auslöser ausstatten. Diejenigen, die die Bombe später fänden, würden annehmen, dass die Mörder den Versuch einfach vermasselt hätten. Man würde Berlotti für die Bombe verantwortlich machen – und man weiß, dass Berlotti Beziehungen zur italieni schen Mafia hat. Giorgio sollte im Fernsehen auftreten und der gegenwärtigen italienischen Regierung vor werfen, sie hätte seiner Ermordung insgeheim zuges timmt. Es sollte sein großer Augenblick werden. Und es wäre der letzte große Schub gewesen, der ihm bei der kommenden Wahl einen ungeheuren Stimmenzu wachs verschafft hätte.« Maddie starrte Prima fassungslos an. »Sie waren gar nicht in Gefahr, die ganze Zeit nicht!«, flüsterte sie. »Es gab überhaupt keine Verschwörung gegen Sie. Sie 184
haben das alles nur erfunden!« Kein Wunder, dass er die königliche Loge nicht hatte verlassen wollen. Dass man ihn dort vor dem entscheidenden Anruf Cecilias hinausgebracht hatte, hatte seinen ganzen sorgfältig ausgedachten Plan zunichte gemacht. »Warum antwortest du ihr nicht, Giorgio?«, rief Ce cilia. »Wo sind denn jetzt deine cleveren Sprüche? All deine Lügen und Falschheiten!« Sie warf Maddie einen Blick im Rückspiegel zu. »Nein, er war niemals in Ge fahr. Ich habe die ganze Sache für ihn geplant, auf sei nen Befehl hin. Genau, wie ich es schon seit Jahren getan habe. Ich war immer da und habe ihm geholfen, seine Karriere weiter voranzutreiben. Aber das ist jetzt vorbei! Du bist erledigt, Giorgio, verstehst du? Du hast große Versprechungen gemacht! Und ich habe dir wirklich abgenommen, dass dir etwas an mir liegt!«, knurrte sie. »Lucia Barbieri! Ein dummes, hohlköpfi ges Püppchen! Sie wird niemals deine Frau werden, Giorgio.« Ihre Stimme verwandelte sich in ein unkont rolliertes Kreischen. »Ich werde niemals erlauben, dass sie meinen Platz einnimmt!« Dieser Ausbruch erschütterte und verwirrte Maddie. Cecilia verlor die Kontrolle. Monatelang aufgestauter Hass brach aus ihr heraus. Maddie wusste nicht, wie sie die Situation wieder entspannen könnte. »Wohin bringen Sie uns, Cecilia?«, fragte sie schließlich leise und so ruhig wie möglich. »Wir sind gleich da.« Sie hatten nun die Brücke überquert und waren in Battersea. Cecilia bog nach links ab und fuhr durch ein 185
Gewirr kleiner Seitenstraßen. Sie drosselte das Tempo und bog dann in eine schmale Abzweigung zwischen hohen nackten Mauern ein. Die Abzweigung vor ihnen endete mit einer rot-weißen Schranke. Jenseits davon befanden sich ein schwerer Rollladen aus Metall und ein großes gelbes Schild. LONDONER LAGERRÄUME. Am Straßenrand stand ein quadrati scher Metallkasten. Cecilia ließ die Fensterscheibe he runter und steckte eine Karte in den Schlitz. Die Karte kam wieder heraus. Die Schranke öffnete sich. Der schwere Rollladen begann sich vor ihnen klap pernd und rumpelnd zu heben. Cecilia fuhr den Wagen in das Gebäude. Sie kamen in einen breiten Gang, der durch lange fluoreszierende Streifen an den Wänden erhellt wurde. Zu beiden Seiten befanden sich Reihen nummerierter Eingänge, die sich ihrerseits weiter verzweigten. Ceci lia fuhr langsam den Gang entlang. Maddie sah, dass das Gebäude von einem Netz von Gängen durchschnit ten wurde, die eine riesige Anzahl einzelner Lagerräume verbanden. Cecilia hielt an. Sie stellte den Motor ab und wandte sich zu Prima um. Er hob sein Gesicht und sah sie an. Maddie hatte noch nie jemanden gesehen, der so am Boden zerstört war. »Erinnerst du dich, Giorgio?«, fragte Cecilia leise. »Du hattest vor, ein Büro in London einzurichten. Du hast mich gebeten, vorübergehend einen Lagerraum anzumieten, in dem man Akten und Möbel unterbrin gen könnte.« Sie zeigte mit einer langen schmalen 186
Hand aus dem Wagenfenster. »Ich habe einen Raum gefunden. Gefällt er dir, Giorgio? Ich hoffe es doch, denn du wirst hier viel Zeit verbringen.« Ihre Stimme wurde hart. »Steig aus.« Prima rührte sich nicht. Er schien erstarrt, wie ein nachtblindes Tier in den Scheinwerfern eines heranra senden Autos. Betäubt und ohne jede Hoffnung. Maddie schluckte. »Ich weiß nicht, was Sie vorha ben, Cecilia«, sagte sie. »Aber ich möchte gern, dass Sie nachdenken, bevor sie die Sache zu weit treiben.« Cecilia funkelte sie an. »Nachdenken?«, fragte sie. »Ich habe nichts anderes getan als nachzudenken. Und jetzt ist es genug. Es ist Zeit zu handeln.« Sie nahm die Pistole und richtete sie auf Maddie. »Aussteigen.« Maddie öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Cecilia schlüpfte auf der anderen Seite heraus. Sie riss Primas Tür auf und richtete die Waffe auf ihn. »Steig aus, Giorgio!«, rief sie. Ihre Stimme hallte in dem weitläufigen Gebäude wider. »Steig aus, oder ich erschieße dich auf der Stelle!«
Lucia Barbieri saß in einem wartenden Polizeiauto. Sie hatte noch immer ihren Mantel um die Schultern ge legt, sie zitterte. Verzögerter Schock. Alex saß neben ihr. Das Chaos vor dem Konzerthaus hatte sich gelegt. Die örtliche Polizei kümmerte sich um das verstörte Publikum. Leute gingen nach Hause, andere kamen an: 187
Journalisten, Fotografen und Filmteams der Nachrich tensender. Am Straßenrand standen noch immer zwei Feuerwehrautos. Alex schaute auf das Gebäude. Er hatte gerade ei nen Anruf erhalten, dass sich irgendwo da drinnen eine Bombe befände – und dass Danny hineingegangen war, um sie zu suchen. Alex hatte die Schnellwahltaste seines Handys mit Dannys Nummer gedrückt. Er woll te ihm sagen, dass er so schnell wie möglich da he rauskommen sollte. Aber es meldete sich nur Dannys Mailbox. »Stimmt das?«, fragte ihn Lucia und sah zu ihm hoch. »Ist da drin eine Bombe?« »Carlo Berlotti hat es gesagt«, meinte Alex. Vor Angst um Danny klang seine Stimme rau. Er schaute sie an. »Wissen Sie etwas davon?« »Ich? Natürlich nicht!« Sie klang schockiert. »Ich weiß, dass Jojo Feinde hat. Aber er ist doch immer so vorsichtig. Diese Signora Rossi hat die Leute einges tellt. Sie steckt dahinter. Sie ist eine …« Sie zischte irgendetwas auf Italienisch. Alex musterte sie prüfend. Stimmte das? Wenn ja, befand sich Maddie in Gefahr. »Ich muss Jojo anrufen«, sagte Lucia. »Ich brauche ein Telefon.« Sie stand auf. »Schnell! Ich brauche ein Telefon!« Alex sah zu einem in der Nähe stehenden PoliceOfficer hinüber. »Geben Sie ihr eines.« Lucia bekam ein Handy gereicht. Sie gab eine Nummer ein. 188
Alex zog sein eigenes Handy aus der Tasche und drückte Maddies Nummer. Sie war nicht zu erreichen. Das war unmöglich. Maddie würde in so einer Situation niemals ihr Handy ausschalten! Irgendetwas musste passiert sein, wenn sie ihr Handy nicht benutzen konnte. Wut, Angst und Frustration kamen in Alex hoch. Er schlug mit der Faust auf das Autodach. Seine engsten Kollegen waren in Gefahr – und er konnte ihnen nicht helfen.
Prima saß noch immer im Wagen. Cecilia stand davor und richtete die Waffe durch die offene Tür auf ihn. Alles stand auf Messers Schneide. Der Wagen befand sich zwischen Maddie und Cecilia. Von ihrer jetzigen Position aus konnte Maddie nichts tun. Langsam und ruhig begann sie um das Wagenheck herumzugehen. »Steig aus!«, kreischte Cecilia. »Tu das nicht, Cecilia«, sagte Prima. »Du hast alles falsch verstanden. Es ist alles ganz anders gewesen. Nimm die Waffe weg. Lass uns miteinander sprechen. Mach keine Dummheit. Tu nichts, was du später be reuen könntest. Gib mir einfach eine Chance dir zu erklären, wie alles zusammenhängt.« »Nein!« Cecilias Stimme klang eiskalt und ruhig. »Ich muss dich töten, Giorgio. Du bist ein schlechter Mensch. Du bist ein gefährlicher und korrupter Mann. 189
Du zerstörst alles, was du anrührst. Du hast auch mich kaputtgemacht. Ich weiß das jetzt. In all den Jahren hast du mich Stück für Stück kaputtgemacht. Ich habe dir geholfen, ganz nach oben zu kommen. Aber jetzt muss ich dich aufhalten. Du darfst nicht noch mehr Macht bekommen. Du wirst sie missbrauchen, Giorgio. Du bist ein bösartiger Mann und ich muss dafür sor gen, dass du keinen weiteren Schaden mehr anrichten kannst.« Prima streckte ihr seine Arme entgegen. »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte er. »Du bist wü tend. Ich verstehe das. Du meinst, ich hätte dich aufs Abstellgleis geschoben. Aber das stimmt nicht, Cecilia. Du warst immer meine starke rechte Hand: die Kraft hinter mir, meine vertrauensvollste Mitarbeiterin. Wie kannst du nur denken, dass ich jemals auch nur irgen detwas tun könnte, um dich zu verletzen?« In einer Innentasche von Giorgio Primas Jacke steckte ein leichtes schmales Handy. Daran befand sich auch eine Freisprechanlage. Prima stellte sie niemals ab – was bedeutete, dass er jederzeit telefonieren konn te und dabei die Hände frei hatte. Von der Anlage gin gen zwei dünne Drähte ab. Einer führte zu einem win zigen Mikrofon an seinem Revers, der andere zu einem kleinen Ohrhörer. Das Mikrofon war noch an seinem Ort – an Primas Jacke. Doch der Hörer hing lose he runter. Als Prima mit Gewalt aus der königlichen Loge geführt worden war, hatte der Hörer sich gelöst. So bemerkte er nicht, dass er gerade angerufen wur de. Die Freisprechanlage öffnete automatisch die Lei 190
tung zwischen Primas Telefon und dem Handy, das Lucia Barbieri sich von dem Polizisten geliehen hatte. Er hatte keinerlei Ahnung, dass seine Verlobte jedes Wort hören konnte, das er gerade sagte. Primas Stimme wurde nun sanfter und nahm einen überredenden Ton an. Er nahm all seine Kraft zu sammen, um sich irgendwie zu retten. »Cecilia. Du weißt doch, dass ich immer viel für dich empfunden habe. Du weißt das doch, oder – im Grunde deines Herzens? Du weißt, dass du die einzige Frau bist, aus der ich mir jemals etwas gemacht habe. Es warst im mer nur du, Cecilia. Ich wollte immer nur dich an meiner Seite.« »Du bist ein Lügner!«, sagte Cecilia. »Du hast mich benutzt und dann weggeworfen. Was ist aus deinen Versprechungen geworden, Giorgio? Was ist mit dem Versprechen, dass du dich von deiner Frau scheiden lassen und mich heiraten würdest? Was ist damit?« »Das kann immer noch geschehen, Cecilia«, sagte Prima. »Lucia bedeutet mir nichts. Das musst du doch schon gemerkt haben. Sie ist nur ein Spielzeug. Unsere Verlobung war ein Publicity-Gag. Nach meinem Wahlerfolg hätte ich die Verlobung gelöst. Überleg doch mal, Cecilia: Il Cuore d’Italia und La Voce d’Italia – zusammen! Überleg, was mir das für eine Aufmerksamkeit gesichert hätte! Wir wären in allen Zeitschriften gewesen, auf den Titeln aller italieni schen Zeitungen! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir aus der geistlosen kleinen Närrin etwas mache? Sie hätte dich niemals ersetzen können, Cecilia. Du 191
bist die Frau, die ich als First Lady an meiner Seite haben will, wenn ich Premierminister bin!« Maddie tastete sich weiter um den Wagen herum. Cecilias Aufmerksamkeit war ganz auf Prima gerich tet. Ihr Arm zitterte. Ihr Gesicht drückte Unsicherheit aus. Primas verzweifelte Worte hatten eindeutig eine Wirkung auf sie. »Vertrau mir, Cecilia«, fuhr Prima fort. »Es ist nicht alles nach Plan gelaufen. Aber wir beide können das hinbekommen. Wir können sagen, dass der Wagen überfallen wurde. Wir können sagen, dass wir die Leu te als Agenten der italienischen Mafia identifiziert ha ben.« Seine Stimme wurde noch dringlicher, er beugte sich aus dem Wagen. »Wir können sagen, dass du sie mit deiner Pistole verjagt hast.« »Ich verstehe nicht …«, sagte Cecilia zögernd. Sie sah zu Maddie hinüber. »Und was ist mit dem Mäd chen?« Prima stand auf. »Bring sie um«, sagte er schlicht. »Wir können behaupten, dass sie von den Banditen getötet wurde. Niemand weiß davon.« Cecilias Augen weiteten sich. Sie ging einen Schritt rückwärts, hob die Waffe und richtete sie wieder auf Primas Brust. »Ich werde nicht das Mädchen erschießen«, sagte sie leise. »Im Gegensatz zu dir hat es nichts getan, wo für es den Tod verdiente.« Ihre Hand zitterte, aber die Waffe zeigte immer noch auf Primas Herz. »Arrive derci, Giorgio«, sagte sie. 192
Lucia Barbieri stand neben dem Polizeiauto und hielt das Handy an ihr Ohr. Ihr Gesicht war bleich. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte ins Nichts. Sie hörte Primas Stimme – und hörte, wie er Cecilia Rossi anbettelte ihn am Leben zu lassen. Sie hörte, wie er Cecilia sagte, dass ihre Verlobung nicht ernst gemeint gewesen war und dass er sie lösen würde, sobald er an der Macht wäre. Sie hörte, dass sie ihm nichts bedeute te. Sie hörte benommen und schweigend zu, wie er Cecilia davon zu überzeugen versuchte, die junge PICBeamtin kaltblütig zu erschießen. Tränen liefen aus ihren dunklen Augen über ihre Wangen. Aber Cecilia weinte nicht, weil sie betrogen und verraten worden war. Es waren Tränen überwältigen der, heftigster Wut.
Danny lag in der königlichen Loge unter dem Sessel und starrte auf das Display des Zeitzünders der Bombe. 00:00. Er hatte den Atem angehalten. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Er hörte sein Herz pochen. Er war schweißgebadet. Er wartete darauf, dass alles zu Ende wäre. »Danny?«, hörte er eine Stimme in seinem Ohr. »Was ist denn los?« 193
»Äh … Ich frage mich gerade, warum ich noch nicht in eine Million winziger Fetzen zerknallt bin«, sagte er leise. »Der Count-down ist bei null angekom men, aber nichts passiert. Eigentlich müsste ich jetzt tot sein, oder?« »Es muss irgendeine Fehlfunktion gegeben haben«, sagte Steve. »Du Glückspilz!« »Da hast du verdammt Recht«, flüsterte Danny. »Und was mache ich jetzt?« »Rausgehen, du Dummie. Und dann rufst du ein Kommando echter Bombenentschärfer.« Danny schob sich unter dem Sessel hervor. Er stand auf. Seine Beine versagten ihm den Dienst. Er musste sich einige Sekunden an die Balustrade der Loge leh nen. Dann hörte er ein Piepsen im Ohr. Jemand ver suchte ihn anzurufen. »Ich muss auflegen, Steve. Danke für die Hilfe. Wir bleiben in Verbindung.« Er nahm all seine Kraft zu sammen und wankte von der Loge auf den Gang hi naus. Er stellte einen anderen Kanal ein. Es war Alex. »Ich bin okay«, sagte Danny. »Sie ist nicht hochge gangen.« »Hast du den Verstand verloren?«, brüllte Alex am anderen Ende in sein Telefon. »Es hätte dich zerreißen können!« Danny lachte. Schon gehorchten ihm seine Beine wieder. Er begann den Gang entlang zur nächsten Treppe zu gehen, die zum Ausgang führte. »Schön zu wissen, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast«, sagte er. 194
»Ich hatte um mich selbst Angst«, antwortete Alex. Da die Gefahr jetzt überstanden war, klang er wieder cool wie immer. »Weißt du wie viel Papierkram auf mich gewartet hätte, wenn du dich in die Luft gejagt hättest? Aber es gibt noch mehr Probleme, Danny. Ich bin hier bei Lucia. Sie meint, dass Cecilia Rossi hinter dem versuchten Bombenattentat stecken könnte.« Danny schaltete sofort. »Maddie ist mit ihr und Prima unterwegs«, sagte er. »Weißt du, wohin sie ge fahren sind? Hast du Kontakt zu Maddie?« »In beiden Fällen nein«, gestand Alex. »Maddies Handy ist abgeschaltet. Sie müssten eigentlich schon lange in der PIC-Zentrale sein. Aber sie sind ver schwunden.« Er versuchte sich seine Angst um ihre Kollegin nicht anmerken zu lassen. »Wir können ihr nicht helfen, Danny. Sie ist irgendwo da draußen und völlig auf sich allein gestellt.«
Die Situation im Lagerraum spitzte sich zu. Maddie musste etwas einfallen, sie musste irgendetwas tun, bevor Cecilia Prima erschoss. »Cecilia?«, sagte sie. Sie sprach leise, um sie nicht noch nervöser zu machen. »Erschießen Sie ihn nicht. Er ist es nicht wert.« Cecilias Gesicht wirkte verstei nert. Prima stand vor ihr. Er starrte wie abwesend die Pistole an, als würde er schließlich doch erkennen, dass ihn jetzt selbst alle Worte der Welt nicht mehr 195
retten konnten. Cecilia hatte eine Grenze überschritten. Er war ein toter Mann. »Hören Sie mir zu, Cecilia«, sagte Maddie. Sie war jetzt am Heck des Wagens angekommen und bewegte sich langsam immer weiter in Primas Richtung. »Ich weiß, dass Sie ihn davon abhalten wollen, weiteren Schaden anzurichten. Aber das können Sie auch, ohne ihn zu erschießen. Sie wissen alles über ihn. Sie kön nen es der Öffentlichkeit sagen. Sie können allen ganz genau erklären, was für ein Typ dieser Giorgio Prima ist. Das ist doch besser als ihn umzubringen, oder?« »Sie kennen ihn nicht.« Cecilia warf Maddie einen Blick zu. »Er wird es irgendwie schaffen, alle zu über zeugen, dass er unschuldig ist. Er wird alles tun, um davonzukommen. Die einzige Möglichkeit die Men schen vor ihm zu schützen, ist ihn zu töten.« Sie sah wieder zu Maddie hinüber. Ihr Blick war gehetzt. »Verstehen Sie das nicht? Ich habe keine andere Wahl!« Jetzt war der Augenblick gekommen – der Augenblick, auf den sich Maddie innerlich die ganze Zeit vorbereitet hatte. Sie war nahe genug an Prima und Cecilia herangekommen. Die Angst lag ihr wie ein schwerer Stein im Magen. Aber sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie ging vorwärts, zwischen Prima und die verzwei felte Frau. Sie breitete die Arme aus und sah dabei nicht auf die Waffe. Sie sah Cecilia Rossi direkt in die Augen. Ihre Stimme war klar und sicher. »Ich lasse es nicht zu, dass Sie ihn erschießen«, sag 196
te sie. Sie machte einen Schritt vorwärts und hielt Ce cilia die offene Hand hin. »Geben Sie mir die Pistole, Cecilia.« Cecilia ging rückwärts. Ihre Augen verengten sich. Ihr Finger spannte den Abzug. Maddie wusste, sie war nur noch einen Augenblick vom Tod entfernt.
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Einundzwanzigstes Kapitel Lucia Barbieri war ausgerastet. Hinter der Royal Al bert Hall stampfte sie in dem beflaggten Hof auf und ab, schrie und kreischte mit voller Lautstärke. Ihre Au gen funkelten. Ihre Arme fuhren wild und wütend durch die Luft. Alex hielt sich im Hintergrund, er wartete, dass sich der Orkan von Wut legte. Er verstand nur ein einziges Wort in Lucias Tirade: Prima. Sie spuckte es immer und immer wieder aus. Alex versuchte immer noch Maddie zu erreichen und hoffte, dass sie sich endlich meldete. Lucias Blick richtete sich auf Alex. Sie stürmte auf ihn zu. »Er ist ein Verräter, ein erbärmlicher Wurm«, schrie sie ihm entgegen. »Er glaubt, er kann mich ein fach wegwerfen, wenn ich ihm nichts mehr nütze? So werde ich mich nicht behandeln lassen!« Alex war sich nicht sicher, was genau diesen Aus bruch ausgelöst hatte. Prima musste ihr am Telefon etwas gesagt haben, das sie tief verletzt hatte. »Ich weiß vieles«, sagte Lucia düster. Ein wildes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ich wer de Ihnen alles sagen, was ich weiß.« 198
»Was wissen Sie, Lucia?«, fragte Alex sie. »Erinnern Sie sich, dass ich ihn geschlagen habe?«, fragte sie. »Im Hotel. Er nannte es einen Streit zwischen Lie benden. Das war es nicht. Es war Teil seines Planes.« Alex wurde aufmerksam. »Erzählen Sie mir von dem Plan«, sagte er. »Er wollte einen Angriff auf ihn vortäuschen – ei nen Angreifer im Hotel. Einen seiner Feinde. Es gab aber keinen Feind. Er wollte, dass es möglichst über zeugend wirkte. Er erklärte mir, wie ich mich der Überwachungskamera nähern und sie ausschalten konnte, ohne gesehen zu werden. Die Leute würden denken, dass es sein Angreifer gewesen wäre. Er bat mich, ihm ins Gesicht zu schlagen und ihn zu verwun den – als Beweis für den Angriff. Ich wollte es nicht tun, doch er bestand darauf.« Lucia hob ihre Faust. Juwelenringe funkelten an ihren Fingern. »Er hat nicht an meine Ringe gedacht«, fuhr sie fort. »Ich schlug ihn, wie er es wollte. Aber ich verletzte ihn mehr als geplant.« »Er wollte offensichtlich, dass es so aussah, als wä ren irgendwelche Leute hinter ihm her«, überlegte Alex laut. »Damit könnte er dann die italienische Re gierung in Misskredit bringen …« »Si!«, rief Lucia. »Er wollte bekannt geben, dass die derzeitige italienische Regierung vorhätte ihn umzub ringen. Auf diese Weise wollte er die Wahlen gewin nen und schließlich Premierminister werden. Aber ich helfe ihm nicht länger. Ich werde ihn verraten.« Sie 199
machte eine entschlossene Handbewegung und griff dann nach dem Anhänger an ihrer Halskette. »Und dieses Geschenk bekommt er nicht zurück«, murmelte sie. »Es gehört mir.« Alex schüttelte den Kopf. »Hat er Ihnen nicht ge sagt, dass es sich dabei nur um eine Leihgabe han delt?«, fragte er. »Sie können den Anhänger nicht be halten.« »Das ist nicht wahr!« An dieser Stelle stieß Danny zu ihnen. Er hatte die letzten Sätze des Gespräches noch mitgehört. »Ich fürchte, doch«, sagte er. »Der Callas-Anhänger geht zurück zu DeBeers.« Lucias bisherige Wut war nichts im Vergleich zu dem Wutanfall, den sie nun bekam. »Ich werde ihn erledigen!«, schrie sie. »Ich weiß vieles über ihn! Ich werde allen sagen, was ich weiß. Ich werde es der ganzen Welt erzählen! Ich werde die se schmutzige Wanze unter meinem Absatz zermal men. Ich werde ihn vernichten!«
Maddie sah Cecilia Rossi entschlossen in die Augen. Sie wich ihrem Blick nicht aus, versuchte verzweifelt die Auseinandersetzung zu einem guten Ende zu brin gen. Sie hielt der Frau noch immer die Hand hin und ging langsam auf sie zu. Cecilia öffnete den Mund, sagte aber nichts. 200
Maddie bemerkte ihren unsicheren Blick. Sie streckte die Hand noch ein wenig weiter aus und spürte das kalte Metall der Pistole an ihren Fingern. Sie schloss ihre Finger darum. Cecilias Griff lockerte sich. Maddie zog ihr die Waffe aus der Hand. Die aufgestaute Spannung fiel in sich zusammen. Maddie atmete erleichtert aus. Bis zu dieser letzten Sekunde hatte sie befürchtet, dass Cecilia ihr eine Ku gel in den Leib jagen würde. Cecilia ließ die Schultern sinken. Sie seufzte einmal tief und sank dann zu Bo den. Sie saß auf dem Boden und vergrub den Kopf in ihren Armen. »Sie muss irgendwie durchgedreht sein«, meinte Prima. »Die arme Frau!« Er sah Maddie scharf an. »Sie haben mir das Leben gerettet. Ich werde Sie be rühmt machen! Das Mädchen, das dem künftigen Pre mierminister Italiens das Leben gerettet hat!« Maddie schaute ihn ungläubig an. »Giorgio Prima wird Sie belohnen, wie Sie es nicht zu träumen wagten«, quasselte er los. »Er wird Sie reich machen. Er wird Ihnen alles geben, was Sie wol len. Sie müssen es nur sagen – schon wird es Ihnen gehören!« »Alles?«, fragte Maddie leise. Sie war erschöpft. »Si! Ja. Alles. Also, sagen Sie, was Sie wollen!« »In diesem Fall will ich, dass Sie jetzt Ihr Maul hal ten und sich hinten in den Wagen setzen«, gab sie cool zurück. »Ich muss telefonieren.« Sie beugte sich in den Wagen und griff nach ihrem Handy. Prima starrte sie verblüfft an. »Ich habe es doch 201
nicht ernst gemeint, als ich Cecilia sagte, sie soll Sie erschießen!«, meinte er. »Das verstehen Sie doch, nicht? Ich wollte sie nur so lange ins Gespräch verwi ckeln, bis wir eine Möglichkeit hätten, ihr die Waffe wegzunehmen.« Maddie funkelte ihn an. Das Telefon klingelte be reits. »Sie geben niemals auf, was?«, fragte sie. Am anderen Ende wurde abgehoben. »Jackie? Maddie hier. Stellen Sie mich bitte zu S. B. durch. Ich brauche Ver stärkung.«
Prima saß auf der Rückbank des schwarzen Mercedes. Er redete vor sich hin und gestikulierte wild. Er über legte, wie er sich aus dieser schwierigen Lage retten konnte. Machte schon Pläne für sein Come-back. Was er der Presse sagen würde. Was den italienischen Landsleuten. Wie er seine Freunde stärken und seine Feinde besiegen konnte, wenn er erst einmal Premier minister wäre. Cecilia saß noch immer zusammengekauert auf dem Boden. Maddie stand neben ihr und telefonierte mit Danny. Sie hatte das Magazin aus der Pistole gezogen und die Waffe in ihre Tasche gesteckt. Sobald ihre Kollegen wussten, wo sie sich befand, war Hilfe unterwegs. Zwei PIC-Einsatzwagen rasten zu den Lagerräumen in Battersea. Und Maddie freute sich schon darauf, Giorgio Prima endlich loszuwerden. 202
Die beiden Autos fuhren den schmalen Weg entlang, der zu den Londoner Lagerräumen führte. Sie hielten mit quietschenden Bremsen vor der Schranke. Alex stieg zuerst aus. Er rannte zu dem Gebäude, dicht ge folgt von Danny. Vier andere Agenten folgten ihnen. Sie fanden Maddie, die neben Cecilia Rossi hockte. »Es ist alles aus«, sagte Cecilia gerade. »Mein Leben ist zu Ende.« »Werden Sie gegen Signor Prima aussagen?«, fragte Maddie. Cecilia hob den Kopf. »Oh, ja«, murmelte sie. »Ich werde die Wahrheit über ihn ans Licht bringen.« Danny stand neben ihnen. »Gut gemacht, Maddie«, sagte er. Sie sah zu ihm hoch. »Das Gleiche gilt für dich«, sagte sie. Er hatte ihr bereits am Telefon von der Bombe in der Royal Albert Hall erzählt. »Ach, es war ja nur ein Blindgänger«, meinte er achselzuckend und grinste. »Das wusstest du ja nicht«, sagte Maddie und half Cecilia hoch. »Okay, gehen wir.« Alex sah durch die offene Beifahrertür in die Li mousine. Prima führte immer noch Selbstgespräche. »Signor Prima?«, sagte er. »Kommen Sie bitte he raus.« Prima sah ihn überrascht an und stieg dann aus. »Ich möchte, dass Sie mir einen Termin bei Ihrem Premierminister machen«, sagte er. »Ich habe ein wichtiges Geschäft mit ihm zu besprechen.« 203
»Der Premierminister ist gerade beschäftigt«, sagte Alex. »Drehen Sie sich um, bitte.« Prima drehte sich um. Alex zog ihm die Arme auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«, fragte Prima. Er war offensichtlich überrascht. »Was tun Sie denn da?« »Ich nehme Sie fest«, antwortete Alex. »Sie brau chen nicht auszusagen. Alles, was Sie sagen, wird auf gezeichnet und kann unter Umständen gegen Sie ver wendet werden.« »Ich will meinen Anwalt sprechen!«, polterte Prima los. »Mit Ihnen unterhalte ich mich gar nicht erst.« Cecilia Rossi blitzte ihn wütend an. »Vielleicht willst du dich nicht mit diesen Leuten unterhalten, Giorgio«, sagte sie leise und kühl. »Aber ich. Ich habe ihnen viel zu erzählen. Und wenn ich damit fertig bin, wirst du ruiniert sein. Das verspreche ich dir.« Prima öffnete den Mund – aber diesmal brachte er keinen Ton heraus.
New Scotland Yard. Mitternacht. Im Konferenzraum drängten sich Journalisten und Fernsehteams. Sobald Giorgio Primas Festnahme öf fentlich bekannt geworden war, hatten Medien aus al ler Welt ihre Londoner Mitarbeiter in das örtliche Poli 204
zeihauptquartier geschickt, um sie mit neuesten Fakten zu versorgen. Der Raum war überfüllt. Maddie, Danny und Alex saßen an einem langen Tisch. Ihnen gegenüber, in der Mitte saß Susan Baxen dale. Neben ihr Vertreter des Innenministeriums und ein Repräsentant der italienischen Botschaft. Auch Ce cilia Rossi war da, sie saß zwischen zwei Police Offi cers. Die PIC stand im Mittelpunkt. Susan Baxendale in formierte die Presse detailliert über die Ereignisse, die schließlich zu Giorgio Primas Festnahme geführt hat ten. Jetzt lobte sie gerade die Arbeit von Maddie, Alex und Danny. »Ich möchte besonders den Einsatz von Officer Madeleine Cooper und Officer Danny Bell herausstrei chen«, sagte sie. »Officer Bell hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, als er in die Royal Albert Hall ging, um die Bombe zu entschärfen, die Signor Prima dort hatte anbringen lassen. Und Officer Cooper zeigte in den Minuten vor Signor Primas Festnahme großen Mut und viel Entschlossenheit. Und jetzt, glaube ich, möchte die ehemalige Sprecherin von Mr Prima, Miss Rossi, eine Erklärung abgeben.« Susan Baxendale setzte sich. Cecilia blickte einige Sekunden schweigend auf die eng beschriebenen Notizzettel, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Dann hob sie den Kopf. »Ich habe viele Jahre lang mit Signor Prima zu 205
sammengearbeitet«, begann sie zögernd. »Ich habe mitverfolgt, wie er von einem erfolgreichen Ge schäftsmann zu einem der mächtigsten Männer Euro pas wurde.« Sie hob ihr Kinn, ihre Stimme wurde si cherer. »Ich möchte Ihnen nun in allen Einzelheiten die Geschäftspraktiken darlegen, mit denen Signor Prima an die Spitze der Macht gelangte. In vieles von dem, was ich Ihnen jetzt sagen werde, bin ich selbst tief ver strickt. Aber ich gebe Ihnen diese Informationen frei willig, ohne Zwang – und ich hoffe, dass Sie mit mei ner Hilfe erkennen werden, was für ein Mensch Signor Prima wirklich ist. Wenn mein Bekenntnis dazu bei tragen kann, dass er seine Macht verliert, will ich die Konsequenzen, die sich für mich aus der Sache erge ben, gern tragen.« Maddie schaute sie an. Diese Konsequenzen wür den wahrscheinlich ziemlich ernster Art sein. Maddie konnte nicht anders, als diese Frau zu bewundern. Es war mutig von ihr, öffentlich über Prima auszupa cken. Cecilia Rossis Enthüllungen sorgten für einige Auf regung bei den Anwesenden. Ihre Erklärung würde die Schlagzeilen der Zeitungen des folgenden Tages be stimmen. Und wenn die Menschen in Italien diese In formationen läsen, wäre Primas öffentliche Karriere beendet.
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Die Pressekonferenz war vorüber. Danny, Alex und Maddie saßen in der Kantine von New Scotland Yard. Sie tranken noch eine Tasse Kaffee zusammen, bevor sie nach Hause gingen. Es war halb ein Uhr morgens. »Ich habe mich kurz mit Signor Marinetti von der italienischen Botschaft unterhalten«, sagte Alex zu seinen beiden Kollegen. »Er ist mit dem Verlauf der Angelegenheit sehr zufrieden. Offenbar haben die ita lienischen Steuerbehörden schon seit Jahren nach ei nem Grund gesucht, gegen Primas geschäftliche Akti vitäten zu ermitteln.« Er lächelte. »Cecilias Aussage gibt ihnen nun die Möglichkeit, Untersuchungen in großem Stil durchzuführen.« »Das heißt, selbst wenn er die Vorwürfe, die Cecilia gegen ihn im Hinblick auf seine politische Laufbahn erhoben hat, irgendwie ausräumen kann, wird ihn die Steuerbehörde kriegen?«, fragte Danny. Er lachte. »Mit anderen Worten: Jetzt beginnt sein Abstieg!« »Und vergesst nicht Lucia Barbieri«, sagte Alex. »Sie wird auch gegen ihn aussagen. Ich habe gerade noch mitbekommen, dass sie eine eigene Pressekonfe renz geben will. Die sollte man sich nicht entgehen lassen.« »Absolut«, stimmte Danny zu. »Vor allem jetzt, da sie weiß, dass sie den Callas-Anhänger wieder an DeBeers zurückgeben muss.« Maddie nickte. »Ich weiß schon, worum es gehen wird«, sagte sie. »Mein Leben mit Giorgio Prima, von Lucia Barbieri – La Voce d’Italia. Die komplette Insi 207
derstory. Macht und Korruption in den höchsten Rän gen der Gesellschaft.« Sie lächelte. »Das wird ihrer Karriere einen großen Schub verleihen – besonders, wenn sie ihre Geschichte exklusiv an den Meistbieten den verkauft.« »Prima wird also durch Cecilia Rossi und Lucia Barbieri belastet«, meinte Alex mit einem angedeute ten Lächeln. »Wenn es nichts Schlimmeres gibt als die Rache einer verschmähten Frau – wie muss es einem dann erst ergehen, wenn man gleich zwei von ihnen verschmäht hat?« »Die Hölle im Quadrat«, sagte Maddie. »Nebenbei waren es aber nicht nur die beiden Frauen, sondern auch die PIC. Wenn Prima nicht versucht hätte, uns in seinen Plan einzubeziehen, wäre er wahrscheinlich noch einmal davongekommen.« »Niemand führt die PIC an der Nase herum und kommt einfach so davon!«, stellte Danny fest. Maddie hob ihren Plastikbecher. »Auf die PIC!« Ihre Kollegen taten es ihr nach. »Auf die PIC!«
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Zweiundzwanzigstes Kapitel Samstagmorgen, 6 Uhr 30. Blauer Himmel. Es war warm. Es würde ein sonni ger, heißer Tag werden. Maddie wachte nach der anstrengenden Nacht früh auf. Sie fühlte sich schlapp. Der Fall Prima war abge schlossen. Auch ihr Einsatz beim so genannten Eisk rieg war inzwischen in die Akten eingegangen und damit beendet. Maddie erwartete ihren Vater im Lauf dieses Tages von dem Treffen in Chequers zurück. Und in wenigen Stunden würde sie sich von Liam verabschieden. – Liam, den sie so sehr mochte. Der heute nach Rumänien ging. Sie klatschte sich im Badezimmer kaltes Wasser ins Gesicht und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Sie war über die Stärke ihrer Gefühle überrascht. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gefühlt. Es war irgendwie schön und beängstigend zugleich. Sie begann sich zu fragen, wie gut sie sich eigentlich selbst kannte. »Ich will nicht, dass du gehst«, sagte sie tonlos in den Spiegel. »Ich will, dass du bei mir bleibst.« Worte, die sie niemals laut aussprechen würde. 209
Sie zog sich an und verließ leise die Wohnung. Sie machte einen langen Spaziergang durch den Regent’s Park. Dachte nach. Im Tau glänzte das Gras wie Silber. Als sie nach Hause kam, waren ihre Turnschuhe nass. Ihre Großmutter machte gerade das Frühstück. Rührei und Toast.
London war voller Touristen und Spaziergänger. Die ganze Stadt war geschäftig, sie vibrierte vor Leben. Der Verkehr dröhnte, Hupen gellten, Stimmen riefen, lachten und grüßten und aus den Geschäften drang Musik auf die Gehwege. Maddie kam mit gemischten Gefühlen in Kensing ton Gardens an. Sie freute sich darauf, Liam wiederzu sehen – aber gleichzeitig wollte sie die Zeit am liebsten anhalten. Denn je schneller sie wieder mit ihm zusam men war, umso schneller würde er sie verlassen. Sie sah ihn bei der Peter-Pan-Statue stehen. Sie be obachtete ihn ein oder zwei Minuten lang aus der Ent fernung, versuchte sich zu sammeln und ein fröhliches Lächeln aufzusetzen – so, als wäre es ein ganz norma les Treffen. Sie atmete einmal tief durch und ging dann auf ihn zu. Er drehte sich um, als hätte er gespürt, dass sie ganz in der Nähe war. »Hallo«, sagte er und schenkte ihr sein umwerfen des Lächeln. 210
»Hi.« »Wie geht’s dir? Wie war es gestern Abend?« »Auftrag ausgeführt«, sagte sie mit einem Grinsen. »Ich habe vorhin in der Zeitung davon gelesen«, sagte er und sah sie an. »Zu wissen, dass du damit zu tun hattest, ist schon seltsam. Dieser Mr Prima scheint ja ein übler Ganove zu sein.« Er runzelte die Stirn. »War alles okay? Ich meine, warst du in Gefahr?« Sie schaute ihm in die Augen und sah plötzlich wie der Cecilia Rossis Waffe, deren Lauf direkt auf sie ge richtet war. Liam brauchte davon nichts zu wissen. »Nein«, sagte sie, »ich war nicht in Gefahr.« Sie lach te. »Es lief alles nach Plan.« Er wirkte erleichtert. Es entstand eine kurze Pause. »Wie lange haben wir Zeit?«, fragte sie schließlich. Liam sah auf seine Uhr. »In etwa vierzig Minuten werde ich mit dem Auto abgeholt.« »Oh. Schon?« »Tut mir Leid.« »Ist schon okay.« »Wir könnten ein bisschen gehen«, sagte er. »Ja. Gerne.« Er streckte seine Hand aus. Sie nahm sie. Sie gingen langsam durch die Kensington Gardens und sprachen leise miteinander. Sie unterhielten sich über nichts Besonderes – nicht darüber, wie sehr sie den anderen vermissen würden. Die Minuten flogen vorüber. 211
»Ich hab eine Überraschung für dich«, sagte Liam plötzlich. »Gut. Ich mag Überraschungen.« Sie gingen Hand in Hand den Weg entlang, der am Round-Pond-Teich vorbeiführt. Maddie sah in den kla ren blauen Himmel. Sie sah ein Flugzeug. »Bald wirst du in so einem Ding sitzen«, sagte sie. »Ich winke, wenn ich dich sehe«, sagte er. Sie lächelte. »Ich werde warten.« Sie blieben stehen. Sahen sich an. Schauten sich in die Augen. Es war kaum zu ertragen. Sie musste wegsehen. »Also, was ist die Überraschung?«, fragte sie. »Sie ist unten, am Ende von Broad Walk«, antwor tete Liam. »Wer zuerst dort ist, hat gewonnen!« Er ließ ihre Hand los und rannte los. »Hey!«, rief sie und rannte ihm nach. Sie holte ihn schnell ein und sie liefen nebeneinander her. Dann sahen sie den Eiswagen. Liams Dad stand hin ter der Theke und reichte den zahlreichen Kunden Eiswaffeln und Lollipops. »Ich hab ihm alles erzählt«, erklärte Liam, noch ganz atemlos vom Rennen. »Er war zuerst etwas verärgert, weil ich hinter seinem Rücken gehandelt habe. Aber dann hat er sich gefreut, dass ich den Wagen nicht ver kauft habe. Er ist ins Geschäft zurückgekehrt!« »Das ist wirklich klasse«, sagte Maddie. »Und das alles nur wegen dir«, sagte Liam. Maddies Augen leuchteten. »Ich hab nur meine Ar beit getan«, meinte sie. 212
Liams Blick richtete sich auf etwas hinter ihr und sein Lächeln verschwand. Sie drehte sich um. Ein Auto hielt an. Sie sah ihm in die Augen. »Ist es das?«, fragte sie. »Ja.« Maddie schaute auf ihre Uhr. »Er ist pünktlich«, sagte sie leise. »Super.«
Maddie half Liam sein Gepäck aus dem Eiswagen in den Kofferraum des Autos zu laden. Sie hielt sich im Hintergrund, als sich Vater und Sohn voneinander ver abschiedeten. Liams Dad entschuldigte sich bei seinen Kunden für die Unterbrechung, erzählte ihnen dann aber stolz, dass sein Sohn als ehrenamtlicher Entwick lungshelfer nach Rumänien gehe. Als Liam schließlich zu dem Auto trat, um einzusteigen, sah Maddie Tränen in den Augen seines Vaters. Das Gepäck war verstaut. Der Fahrer saß am Steuer. Liam stand an der offenen Beifahrertür. Maddie stand vor ihm. »Schreib mir«, sagte sie. »Lass mich wissen, dass du gut dort angekommen bist.« »Das werd ich. Und ich ruf dich an. Wenn es dort einen Computer gibt, maile ich dir auch.« »Liam? Wir müssen jetzt los«, sagte der Fahrer. »Wir müssen in einer Stunde am Flughafen sein. Auf der M 4 herrscht heute starker Verkehr.« 213
»Okay«, sagte Liam. »Ich komme.« Er sah Maddie an. »Ich muss gehen.« »Ja. Ich weiß.« Schweigen. Maddie lächelte. »Gibst du mir jetzt einen Ab schiedskuss?« Sie küssten sich. Zuerst kurz und sanft. Dann ein zweites Mal, ein bisschen länger. Und dann ein dritter Kuss, von dem Maddie wollte, dass er niemals endete. Ihr wurde ganz schwindlig, ihr ganzer Körper begann zu kribbeln. Sie öffnete ihre Augen und wunderte sich, dass sie beide jetzt nicht zehn Meter über dem Boden schweb ten. Liam schaute sie an. »Geh jetzt«, sagte sie. »Bevor ich etwas sage, was ich besser nicht sagen sollte.« Sie schob ihn sanft weg. Er stieg ins Auto. Sie schloss die Tür. Er ließ die Fensterscheibe hinunter. »Bevor du was sagst?«, fragte er. Sie berührte mit ihren Fingerspitzen seine Wange. »Nichts«, flüsterte sie. »Nur … viel Glück.« Sie mach te einen Schritt rückwärts. »Und vergiss mich nicht.« »Niemals!« Der Wagen fuhr an. Liam wandte sich um und winkte. Sie winkte zurück, lächelnd. Sie winkte weiter, bis der Wagen außer Sicht war. Maddie schlang ihre Arme um ihren Körper. Plötz lich war sie sehr allein. Sie drehte sich um und ging wieder zu dem Eiswagen zurück. Sie sah zu Mr Archer hoch. 214
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte sie. »Aber sicher«, sagte er. »Komm rein!«
»Entschuldigung, ich habe gerade das Schild da oben gelesen«, sagte eine bekannte Stimme. »Woher weißt du, dass es das beste Eis der Welt ist?« Maddie war so mit Bedienen beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Alex und Danny in der Kundenschlange standen – nicht, ehe beide bis zu ihr vorgerückt waren und Alex sie das fragte. Es war die gleiche Frage, die sie Liam gestellt hat te, als sie letzten Samstagnachmittag aus der Royal Albert Hall gekommen war. Die Frage, die sich auf das blau-rote Schild über der Theke bezog. War das wirklich erst eine Woche her? Es kam Maddie viel länger vor. Sie grinste ihre Kollegen an. »Es ist so, glaubt mir«, sagte sie. »Ich hab sie alle ausprobiert. Es ist definitiv das beste!« »Wenn das so ist, dann nehmen wir zwei Waffeln«, sagte Alex und reichte ihr das Geld hinauf. »Weiß dein Vater eigentlich, dass du hier schwarz arbeitest?«, fragte Danny. »Bist du sicher, dass du zwei Jobs auf einmal machen kannst?« »Das ist nur vorübergehend«, antwortete Maddie und gab ihnen die Eiswaffeln. Sie sah Mr Archer an. 215
»Das sind Alex und Danny. Ich arbeite mit ihnen zu sammen.« »Dürfen wir die Dame zum Mittagessen entfüh ren?«, fragte Alex. »Natürlich.« Maddie nahm ihre Schürze ab und stieg aus dem Wagen. »Woher wisst ihr, dass ich hier bin?«, fragte sie. »Wir haben bei dir zu Hause angerufen, um zu fra gen, wie es dir geht«, antwortete Danny. »Deine Großmutter hat uns gesagt, dass du dich hier mit Liam treffen wolltest.« Er lächelte sie mitfühlend an. »Wir dachten, du brauchtest vielleicht ein bisschen morali sche Unterstützung.« »Mir geht’s gut«, sagte Maddie. »Aber danke, dass ihr daran gedacht habt.« Sie hakte sich bei ihren beiden Kollegen unter. Schon fühlte sie sich besser. »Also, Jungs«, sagte sie, als sie zusammen über den Rasen gingen. »Wohin führt ihr mich aus?« »Kommt darauf an, was du essen willst«, meinte Alex. »Im Augenblick eigentlich so gut wie alles«, sagte Maddie lachend. »Solange es nur nicht italienisch ist!«
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